Unter der Linde und vor dem Kaiser: Neue Perspektiven auf Gerichtsvielfalt und Gerichtslandschaften im Heiligen Römischen Reich [1 ed.] 9783412517229, 9783412517205

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Unter der Linde und vor dem Kaiser: Neue Perspektiven auf Gerichtsvielfalt und Gerichtslandschaften im Heiligen Römischen Reich [1 ed.]
 9783412517229, 9783412517205

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Anja Amend-Traut, Josef Bongartz, Alexander Denzler, Ellen Franke, Stefan Andreas Stodolkowitz (Hg.)

Unter der Linde und vor dem Kaiser Neue Perspektiven auf Gerichtsvielfalt und Gerichtslandschaften im Heiligen Römischen Reich

QUELLEN UND FORSCHUNGEN ZUR HÖCHSTEN GERICHTSBARKEIT IM ALTEN REICH HERAUSGEGEBEN VON ANJA AMEND-TRAUT, FRIEDRICH BATTENBERG, ALBRECHT CORDES, IGNACIO CZEGUHN, PETER OESTMANN UND WOLFGANG SELLERT

Band 73

Unter der Linde und vor dem Kaiser Neue Perspektiven auf Gerichtsvielfalt und Gerichtslandschaften im Heiligen Römischen Reich Herausgegeben von ANJA AMEND-TRAUT / JOSEF BONGARTZ / ALEXANDER DENZLER / ELLEN FRANKE / STEFAN A. STODOLKOWITZ

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung, Wetzlar

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Diebold Schilling-Chronik 1513, Eigentum Korporation Luzern (Standort: ZHB Luzern, Sondersammlung; hier: Folio 70v [142] aus e-codices unifr.ch: Korporation Luzern S 23 fol., p. 142) Satz: büro m’n, Bielefeld Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51722-9

Inhalt Vorwort  ...................................................................................................... 

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Anja Amend-­Traut/Josef Bongartz/Alexander Denzler/ Ellen Franke/Stefan A. Stodolkowitz Gerichtsvielfalt und Gerichtslandschaften Annäherungen und Perspektiven  ................................................................ 

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Dietmar Willoweit Der Respekt des Richters vor dem Recht – Über den Schutz subjektiver Rechte in Vergangenheit und Gegenwart –.

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Peter Oestmann Zur Typologie frühneuzeitlicher Gerichte – einige norddeutsche Schlaglichter  ............................................................. 

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Michael Ströhmer Kosten, Konjunkturen, Effizienz Jurisdiktionsökonomie und Gerichtsvielfalt im Nordwesten des Alten Reiches  ........................................................................................ 

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Alexander Krey  Rechtsvereinheitlichung durch Oberhöfe und die Synthese deutschen Rechts in der Forschung Zur Verschränkung spätmittelalterlicher Rechtsund Gerichtslandschaften am Beispiel Ingelheims und Lübecks  ................  101 Hendrik Baumbach Was war ein Landgerichtssprengel? Zum Verhältnis von räumlicher Zuständigkeit und Gerichtsnutzung an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit  .. ...............................................  127 Florian Dirks Streitschlichtung ohne Gericht? Zu Konfliktlösungsstrategien in Fehden zwischen Stadt und Adel auf Tagfahrten im Hanseraum des 14. und 15. Jahrhunderts  ..............  145

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Inhalt

Stefan Andreas Stodolkowitz Herrschaftsverdichtung und Institutionalisierung der Justiz Frühneuzeitliche Gerichtsvielfalt in Braunschweig-­Lüneburg  ....................  163 Alexander Denzler Versuch einer quantitativen Analyse der süddeutschen Gerichtsvielfalt  ...  183 Josef Bongartz Das Würzburger Kanzleigericht zu Beginn der Frühen Neuzeit Ein territoriales Obergericht als Schlüssel zu Gerichtsverfassung und -vielfalt  ................................................................................................  209 Michaela Grund und bringe das für ein rüg  Das Wertheimer Zentgericht in der Zeit um 1600  .....................................  227 Stefan Rohrbacher Jüdische Gerichtsbarkeit in der Frühen Neuzeit  .......................................  241 Marian Füssel Akademische Gerichtsbarkeit im Alten Reich: Normen, Verfahren, Sanktionen  ................................................................  261 Vincent Demont Gerichtsvielfalt im Gewerbealltag? Kayserlich-­privilegierte Stümper und städtische Apotheker in und um Nürnberg zu Beginn des 18. Jahrhunderts   ................................  279 Autorenverzeichnis  . . ...................................................................................  301 Register  .. .....................................................................................................  303

Vorwort Mit diesem Band legen die Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung e. V. und das Netzwerk Reichsgerichtsbarkeit Ergebnisse aktueller Forschungen zur Gerichtsbarkeit im Alten Reich vor. Er ist aus einer fruchtbaren Kooperation zwischen beiden Gremien im Rahmen einer im Jahr 2016 veranstalteten gleichnamigen Tagung entstanden. Das Thema war breiter angelegt als gewohnt, denn vorliegend wird der Bogen von der unteren Gerichtsbarkeit bis zur Reichsgerichtsbarkeit gespannt; dies darf als Novum und als Pilotprojekt der eigentlich auf die Reichsebene spezialisierten Organisatoren gelten. Besonders erfreulich ist, dass die langjährige Unterstützung des Netzwerks durch die Gesellschaft in eine gemeinsame Tagung mündete, die Nachwuchswissenschaftler und etablierte Forscher zur Gerichtsbarkeit im Heiligen Römischen Reich zusammenbrachte und einen intensiven Austausch ermöglichte. Die Gesellschaft und das Netzwerk können mittlerweile auf eine mehrere Jahrzehnte lange erfolgreiche Arbeit mit fruchtbringender Kontinuität zurückblicken. Es ist nicht selbstverständlich, dass ehrenamtlich getragene Vereine und erst recht institutionell unabhängige und informell ausgerichtete Netzwerke in der schnelllebigen Zeit des 21. Jahrhunderts auf eine derartige Tradition zurückblicken können. Ermöglicht wird dies durch den Vorstand der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung e. V., die Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats und die Forschungsstelle für Höchstgerichtsbarkeit im Alten Europa. Sie alle tragen dazu bei, Forschungen zur Gerichtsbarkeit im Heiligen Römischen Reich durch moderne Fragestellungen, durch die Einbeziehung noch ungenutzter Quellenbestände sowie die unvoreingenommene und qualitätvolle Förderung des Nachwuchses innovative Impulse zu verleihen. Hierbei ist es essenziell, rechtshistorische und geschichtswissenschaftliche Lehrstühle als verlässliche Kooperationspartner an der Seite zu wissen, aber auch kontinuierlich neue Köpfe hinzuzugewinnen. Nahezu alljährlich werden durch den wissenschaftlichen Beirat der Gesellschaft und das Netzwerk angehende Nachwuchsforscher angesprochen, um sich mit Experten der Reichsgerichts- sowie Reichsgeschichtsforschung über Thesen, Methoden, Quellen, Projekte und deren Ergebnisse auszutauschen. Auf diese Weise entsteht ein dynamischer und unschätzbar wertvoller Kreis von jungen sowie etablierten Wissenschaftlern zu Fragen der Höchst- und Reichsgerichtsbarkeit. Dies gilt auch und gerade für die Tagung 2016, für die auf der einen Seite auf einen bereits etablierten Kern an Partnern zurückgegriffen werden konnte, die bei deren Vorbereitung oder Durchführung mitgewirkt haben. Zu nennen sind diesbezüglich vor allem Prof. Dr. Anette Baumann und Prof. Dr. Albrecht Cordes (Universität Frankfurt am Main). Auf der anderen Seite danken die Herausgeber allen

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Vorwort

Referenten und Autoren, die sich mit ihren Forschungen sowohl an der Tagung als auch am Band beteiligt haben. Dass der Band in der „Grünen Reihe“ erscheinen kann, ist deren Herausgebern zu verdanken, die die Gesellschaft und das Netzwerk in der Vergangenheit auf vielfältige Weise unterstützt haben. Finanziell unterstützt wurde die Tagung 2016 vom Böhlau-­Verlag, von der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung e. V., vom Verein der Juristen Alumni Würzburg sowie von der Stadt Wetzlar. Die Drucklegung wäre ohne die Kostenübernahme durch die Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung e. V. nicht denkbar gewesen. Dafür gebührt den Genannten unser herzlichster Dank. Die Betreuung des Bandes im Böhlau-­Verlag lag in altbewährter Weise in den professionellen Händen von Frau Dorothee Rheker-­Wunsch, für deren Geduld wir uns abermals bedanken. Frau Andrea Müller als Sekretärin der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung entlastete die Tagungsorganisatoren von vielerlei logistischen Mühen. Unterstützt wurde sie dabei in dankenswerter Weise von Herrn Maximilian Arnold und Frau Rhonda-­Marie Lechner. Herzlicher Dank gebührt auch Herrn Tino Haupt für die Unterstützung bei der Erstellung der Register des vorliegenden Bandes. Ohne die tatkräftige Zusammenarbeit vieler fleißiger Köpfe und Hände sind derartige ehrenamtliche Vorhaben nicht zu bewerkstelligen. Bei aller angesprochenen Kontinuität in der Arbeit des Netzwerks und der Gesellschaft sind doch personelle Veränderungen nie ganz auszuschließen. An dieser Stelle sei daher die Gelegenheit genutzt, Frau Dr. Britta Schneider und Frau Ellen Franke, M.A., ganz herzlich für ihre langjährige gehaltvolle und kreative Arbeit im Vorstand des Netzwerks zu danken. Auf ihre bereichernden Impulse in der weiteren Vorstandsarbeit verzichten zu müssen, ist bedauerlich. Umgekehrt ist es jedoch gelungen, mit Frau Carolin Katzer, M.Ed., eine engagierte Historikerin zu finden, die bereit ist, die Arbeit des Vorstands künftig tatkräftig zu unterstützen. Hierfür und für die sorgfältige Korrektur des Manuskripts des vorliegenden Bandes sei ihr herzlich gedankt. Würzburg/Eichstätt/Berlin/Karlsruhe    

Anja Amend-­Traut Josef Bongartz Alexander Denzler Ellen Franke Stefan A. Stodolkowitz

Anja Amend-­Traut/Josef Bongartz/Alexander Denzler/ Ellen Franke/Stefan A. Stodolkowitz

Gerichtsvielfalt und Gerichtslandschaften Annäherungen und Perspektiven

1. Standortbestimmung einer Untersuchung der Gerichtsvielfalt in der Vormoderne „Unter der Linde und vor dem Kaiser“ – Mit diesem Thema sollten, so das im Untertitel ausgedrückte Ziel des vorliegenden Tagungsbandes, der auf einer im November 2016 durchgeführten gleichnamigen Tagung basiert, neue Perspektiven auf Gerichtsvielfalt und Gerichtslandschaften im Heiligen Römischen Reich eröffnet werden. Während der Kaiser die höchste Gerichtsbarkeit im Alten Reich mit seinen beiden Höchstgerichten, dem Reichskammergericht und dem Reichshofrat, repräsentiert, steht die Linde bildhaft für die unteren Ebenen der Gerichtsbarkeit, war doch die Linde nicht nur im Mittelalter, sondern teilweise auch noch in der Frühen Neuzeit ein symbolträchtiger Ort für die Ausübung von Gerichtsbarkeit vor allem auf dem Lande.1 Dörfliche Rügegerichte „unter der Linde“ gab es teilweise noch bis ins 19. Jahrhundert hinein;2 das letzte unter Bäumen abgehaltene Gericht im deutschsprachigen Raum soll erst 1870 auf der heutigen Wüstung Volkmanrode im Harz stattgefunden haben.3 Es ist nicht selbstverständlich, dass sich das Netzwerk Reichsgerichtsbarkeit und die Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung e. V. mit den unteren Ebenen der Gerichtsbarkeit im Reich auseinandersetzen, tragen sie doch explizit die „Reichsgerichtsbarkeit“ und das „Reichskammergericht“ in ihren Namen. Welcher Erkenntnisgewinn für die spätmittelalterlich-­frühneuzeitliche Gerichtsbarkeit im Alten Reich ist von der Beschäftigung mit den vielgestaltigen, gar bunten unteren Ebenen der Gerichtsbarkeit zu erwarten? Lassen sich durch den Blick aus dem 1 Vgl. Rainer Graefe, Bauten aus lebenden Bäumen. Geleitete Tanz- und Gerichtslinden. Aachen/Berlin 2014; Anette Lenzing, Gerichtslinden und Thingplätze in Deutschland. Königstein im Taunus 2005. 2 Peter Oestmann, Wege zur Rechtsgeschichte: Gerichtsbarkeit und Verfahren. Köln/Weimar/Wien 2015, S. 203 f. 3 Forstbotanischer Garten der Georg-­August-­Universität Göttingen, Thing- und Gerichtslinde, verfügbar unter http://www.uni-­goettingen.de/de/41768.html (abgerufen am 2. Januar 2019), unter Hinweis auf Doris Laudert, Mythos Baum. Geschichte – Brauchtum – 40 Baumporträts. 5. Aufl. München/Wien/Zürich 2003.

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„bunten“ Reich auf die Reichsebene (und wieder zurück) neue Erkenntnisse über die Funktionalität der Reichsgerichte einerseits und über die Funktionsweise der Gerichtsbarkeiten in der Fläche des Reiches andererseits gewinnen? Und ist es möglich, anhand dieses komplexen Themas die Abhängigkeiten der jurisdiktionellen Zahnräder zueinander sowie deren Miteinander besser zu fassen und damit die Pluralität der vormodernen Gerichtswirklichkeit besser zu verstehen? 1.1. Rückblick auf bisherige Forschungen Ähnliche Fragen hat das Netzwerk Reichsgerichtsbarkeit bereits in der Vergangenheit im Rahmen zweier Tagungen aus dem Jahr 2005 aufgeworfen.4 Die Tagung mit dem Titel „Gerichtslandschaft Altes Reich“ ging von der Überlegung aus, „das Alte Reich bei aller Heterogenität auch als einen einheitlichen, entscheidend durch die beiden obersten Reichsgerichte konturierten Rechtsraum zu betrachten und eine entsprechende Begrifflichkeit dafür zu finden“; daraus folgte die Einführung des Begriffs der „Gerichtslandschaft als Arbeitsinstrument“.5 Dieser Begriff sollte gegenüber dem etablierten Begriff des Rechtskreises eine offenere und weitgehend voraussetzungslose Vorstellung von Gericht und Recht zum Ausdruck bringen.6 Die Untersuchung sollte nicht auf die höchsten Reichsgerichte beschränkt bleiben, sondern Perspektiven auf deren Zusammenspiel mit den territorialen Gremien und Gerichten eröffnen.7 Die damalige Tagung führte zu der Erkenntnis, „dass die lokalen und regionalen Rechts- und Gerichtslandschaften im Reich weder nach oben hin abgeschlossen blieben noch unverbunden nebeneinander standen“, sondern „diese Landschaften in unterschiedlichen Abstufungen Teil eines territorienübergreifenden imperialen Rechtsraums waren, der durch Kaiser, Reichstag, R ­ eichskreise

4 Anja Amend/Anette Baumann/Stephan Wendehorst/Siegrid Westphal (Hrsg.), Gerichtslandschaft Altes Reich. Höchste Gerichtsbarkeit und territoriale Rechtsprechung. Köln/ Weimar/Wien 2007 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, künftig: QFHG , Bd. 52); Anja Amend/Anette Baumann/Stephan Wendehorst/ Steffen Wunderlich (Hrsg.), Die Reichsstadt Frankfurt als Rechts- und Gerichtslandschaft im Römisch-­Deutschen Reich. München 2008 (bibliothek altes Reich, künftig: baR, Bd. 3). 5 Anette Baumann/Anja Amend/Stephan Wendehorst, Einleitung, in: Amend/Baumann/ Wendehorst/Westphal (Hrsg.), Gerichtslandschaft Altes Reich (wie Anm. 4), S. 1 – 5 (hier S. 1). 6 Zu den mit dem Konzept der Rechtskreise verbundenen Problemen siehe den Beitrag von Alexander Krey in diesem Band. 7 Baumann/Amend/Wendehorst, Einleitung (wie Anm. 5), S. 1.

Gerichtsvielfalt und Gerichtslandschaften

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und Reichsgerichte konstituiert war“.8 Aufbauend auf diesen Erkenntnissen befasste sich die Tagung „Die Reichsstadt Frankfurt als Rechts- und Gerichtslandschaft im Römisch-­Deutschen Reich“ mit einem lokalen Ausschnitt. Damit sollte untersucht werden, inwiefern die lokalen, die territorialen und die imperialen Ebenen der Rechts- und Gerichtslandschaften zusammenhingen und horizontal sowie vertikal ineinander verzahnt waren.9 Diesen Ansatz gilt es mit dem vorliegenden Sammelband auszubauen und weiterzuverfolgen. Der Schwerpunkt der modernen Forschung zur Gerichtsbarkeit in der Frühen Neuzeit lag lange Zeit auf den höchsten Gerichten des Reiches, nämlich dem Reichskammergericht und zeitlich etwas verzögert dem Reichshofrat.10 Dem entspricht der Reihentitel des wichtigsten Publikationsorgans der Höchstgerichtsbarkeitsforschung, der „Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich“. Beide Reichsgerichte sind denn auch mitnichten abschließend untersucht; zudem mangelt es nicht an innovativen und modernen Fragestellungen, die sich an das reichhaltige Quellenmaterial der Höchstgerichte richten lassen. Doch umso wichtiger erscheint es, beide Institutionen erneut in einen größeren Zusammenhang zu stellen und die Gerichte unterhalb der beiden Reichsgerichte, die insbesondere ihre Bedeutung als Appellationsgerichte nur im Kontext anderer Ebenen der Gerichtsbarkeit erlangen konnten, zukünftig noch stärker zu gewichten. Wichtig erscheint es weiterhin – einem Impetus der Reichskammergerichts- und Reichshofratsforschung folgend –, die Bedeutung der Gerichtsbarkeit für das Rechtsleben und für gesellschaftliche Entwicklungen zu untersuchen. Wie fruchtbar dieser Ansatz ist, zeigen schon einige Titel zentraler Studien: Bernhard Diestelkamp hielt seine bekannte Antrittsvorlesung über „Das Reichskammergericht im Rechtsleben des 16. Jahrhunderts“,11 Filippo Ranieris quantitative Analyse trägt den Titel „Recht

8 Anja Amend/Anette Baumann/Stephan Wendehorst/Steffen Wunderlich, Recht und Gericht im frühneuzeitlichen Frankfurt zwischen der Vielfalt der Vormoderne und der Einheit der Moderne, in: dies. (Hrsg.), Die Reichsstadt Frankfurt (wie Anm. 4), S. 9 – 13 (hier S. 10). 9 Ebd. 10 Zum Überblick über den Forschungsstand sei verwiesen auf Alexander Denzler/Ellen Franke/Britta Schneider, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Prozessakten, Parteien und Partikularinteressen. Höchstgerichtsbarkeit in der Mitte Europas vom 15. bis zum 19. Jahrhundert. Berlin/Boston 2015 (baR, Bd. 17), S. 1 – 29, sowie die dort, S. 4, Anm. 6, nachgewiesenen Darstellungen. 11 Bernhard Diestelkamp, Das Reichskammergericht im Rechtsleben des 16. Jahrhunderts, in: Hans-­Jürgen Becker/Gerhard Dilcher/Gunter Gudian/Ekkehard Kaufmann/Wolfgang Sellert (Hrsg.), Rechtsgeschichte als Kulturgeschichte. Festschrift für Adalbert Erler zum 70. Geburtstag. Aalen 1976, S. 435 – 480.

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und Gesellschaft im Zeitalter der Rezeption“,12 und Anette Baumanns Studie zum 17. und 18. Jahrhundert heißt „Die Gesellschaft der Frühen Neuzeit im Spiegel der Reichskammergerichtsprozesse“.13 Diese nicht auf genuin rechtshistorische Fragen beschränkten Untersuchungsziele entsprechen dem interdisziplinären Ansatz des Netzwerks Reichsgerichtsbarkeit, das gleichermaßen von Historikern und Rechtshistorikern getragen wird.14 Für das Rechtsleben waren indes die unteren Instanzen und die Gerichte der Territorien häufig bedeutender als die höchsten Gerichte des Reiches selbst. Das soll nicht heißen, dass deren Bedeutung gering gewesen wäre – doch die Masse der Rechtsfälle gelangte eben nicht nach Speyer, Wetzlar oder Wien, sondern wurde vor der bislang nur lückenhaft erforschten Vielzahl nachgeordneter Instanzen ausgetragen. Die Erkenntnis, dass sich Untersuchungen zur Gerichtsbarkeit nicht auf die höchsten Gerichte beschränken dürfen, bringt Peter Oestmann in seinem Beitrag für diesen Band mit einem treffenden Bild zum Ausdruck: „Höhenkammwanderungen sind erhebend. Aber ein Gebirge besteht nicht nur aus dem einen Gipfel.“ Der Bedeutung der Reichsgerichte tut diese Sichtweise keinen Abbruch, denn sie konnten ihre Aufgabe auch dadurch erfüllen, dass sie ihre Maßstäbe der Rechtsprechung an nachgeordnete Instanzen weitergaben.15 Allerdings begann die systematische Erforschung von Ebenen der Gerichtsbarkeit unterhalb der höchsten Reichsgerichte erst später. Zwar gibt es eine Vielzahl älterer Studien zu einzelnen Gerichten.16 Diese beschränkten sich aber meist auf Detailuntersuchungen und verzichteten auf die Analyse übergeordneter Zusammenhänge. An erster Stelle neuerer systematischer Untersuchungen von G ­ erichten 12 Filippo Ranieri, Recht und Gesellschaft im Zeitalter der Rezeption. Eine rechts- und sozialgeschichtliche Analyse der Tätigkeit des Reichskammergerichts im 16. Jahrhundert, zwei Teilbände. Köln/Wien 1985 (QFHG, Bd. 17/I–II). 13 Anette Baumann, Die Gesellschaft der Frühen Neuzeit im Spiegel der Reichskammergerichtsprozesse. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung zum 17. und 18. Jahrhundert. Köln/ Weimar/Wien 2001 (QFHG, Bd. 36). 14 Denzler/Franke/Schneider, Einleitung (wie Anm. 10), S. 1. 15 Gernot Sydow, Das Verhältnis von Landes- und Reichsgerichtsbarkeit im Heiligen Römischen Reich. Eine Neubewertung der privilegia de non appellando, in: Der Staat 41 (2002), S. 263 – 284; vgl. auch Josef Bongartz/Alexander Denzler/Ellen Franke/Britta Schneider/Stefan A. Stodolkowitz, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Was das Reich zusammenhielt. Deutungsansätze und integrative Elemente. Köln/Weimar/Wien 2017 (QFHG, Bd. 71), S. 9 – 20 (hier S. 15); Stefan Andreas Stodolkowitz, Rechtsverweigerung und Territorialjustiz. Verfahren wegen iustitia denegata vel protracta am Oberappellationsgericht Celle, in: Zeitschrift der Savigny-­Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung (künftig: ZRG GA) 131 (2014), S. 128 – 181 (hier S. 180 f.). 16 Vgl. beispielhaft die Bibliographie in Joachim Rückert/Jürgen Vortmann (Hrsg.), Niedersächsische Juristen. Ein historisches Lexikon mit einer landesgeschichtlichen Einführung und Bibliographie. Göttingen 2003, S. 529 – 542.

Gerichtsvielfalt und Gerichtslandschaften

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unterhalb der Reichsebene stehen die kursächsische Gerichtsverfassung 17 und das Wismarer Tribunal,18 das sich freilich wegen der Besonderheiten der deutschen Territorien Schwedens wiederum nicht ohne weiteres auf die Rolle eines reinen Territorialgerichts beschränken lässt.19 In der Folgezeit entstanden Studien zu anderen Gerichten unterhalb der Reichsebene.20 Als nicht auf ein einzelnes Gericht beschränkte vergleichende Untersuchung ist vor allem die umfangreiche Monographie Peter Oestmanns über die geistlichen und weltlichen Gerichte im Alten Reich hervorzuheben.21 1.2. Ziele und Fragen Zur Überwindung der „Höhenkammwanderung“ haben sich die Veranstalter der Tagung gut zehn Jahre nach den beiden erwähnten Tagungen des Netzwerks Reichsgerichtsbarkeit erneut dem unerschöpflichen Thema der Gerichtsvielfalt im Alten Reich zugewandt. Anders als 2005 sollte nunmehr nicht eine bestimmte regional abgegrenzte Gerichtslandschaft Thema der Untersuchungen sein, sondern die 17 Heiner Lück, Die kursächsische Gerichtsverfassung 1423 – 1550. Köln/Weimar/Wien 1997 (Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 17). 18 Siehe beispielhaft vor allem die Beiträge in dem Band Nils Jörn/Bernhard Diestelkamp/ Kjell Åke Modéer (Hrsg.), Integration durch Recht. Das Wismarer Tribunal (1653 – 1806). Köln/Weimar/Wien 2003 (QFHG , Bd. 47), sowie Nils Jörn, Das Wismarer Tribunal. Geschichte und Arbeitsweise des schwedischen Obergerichts im Reich sowie Verzeichnung seiner Prozeßakten, in: Friedrich Battenberg/Bernd Schildt (Hrsg.), Das Reichskammergericht im Spiegel seiner Prozessakten. Bilanz und Perspektiven der Forschung. Köln/Weimar/ Wien 2010 (QFHG, Bd. 57), S. 269 – 287. 19 Vgl. Nils Jörn, Das Wismarer Tribunal in seinen Beziehungen zu Reichskammergericht und Reichshofrat, in: Leopold Auer/Werner Ogris/Eva Ortlieb (Hrsg.), Höchstgerichte in Europa. Bausteine frühneuzeitlicher Rechtsordnungen. Köln/Weimar/Wien 2007 (QFHG, Bd. 53), S. 81 – 96. 20 Vgl. etwa Josef Bongartz, Gericht und Verfahren in der Stadt und im Hochstift Würzburg. Die fürstliche Kanzlei als Zentrum der (Appellations-)Gerichtsbarkeit bis zum Beginn des Dreißigjährigen Krieges. Im Erscheinen (QFHG); Alexander Krey, Die Praxis der spätmittelalterlichen Laiengerichtsbarkeit. Gerichts- und Rechtslandschaften des Rhein-­Main-­ Gebietes im 15. Jahrhundert im Vergleich. Köln/Weimar/Wien 2015 (Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 30); Stefan Andreas Stodolkowitz, Das Oberappellationsgericht Celle und seine Rechtsprechung im 18. Jahrhundert. Köln/Weimar/Wien 2011 (QFHG , Bd. 59); Thorsten Süss, Partikularer Zivilprozess und territoriale Gerichtsverfassung. Das weltliche Hofgericht in Paderborn und seine Ordnungen 1587 – 1720. Köln/ Weimar/Wien 2017 (QFHG, Bd. 69). 21 Peter Oestmann, Geistliche und weltliche Gerichte im Alten Reich. Zuständigkeitsstreitigkeiten und Instanzenzüge. Köln/Weimar/Wien 2012 (QFHG, Bd. 61).

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Gerichtsbarkeit im gesamten Reich in all ihrer Mannigfaltigkeit. Ein so bewusst weit gefasster Gegenstand einer Tagung bringt es mit sich, dass eine umfassende und abschließende Auseinandersetzung mit dem Thema im vorliegenden Band ebenso wenig intendiert wie möglich ist. Ziel ist es vielmehr, Zugänge und Perspektiven zur grundlegenden Erforschung der Gerichtsvielfalt in der Vormoderne zu eröffnen. Die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ in der Frühen Neuzeit, ein Topos, den Peter Oestmann auf der Tagung in seinem Einführungsvortrag aufgegriffen hat, verbietet es ohnehin, lediglich die altbekannten großen Entwicklungslinien nachzuzeichnen. Vielmehr sollten diese kritisch hinterfragt werden. Das gilt auch für die früher gängige These einer geradlinigen Entwicklung vormoderner Gerichtsstrukturen hin zu den staatlichen Gerichten des 19. Jahrhunderts mit rational festgelegten Zuständigkeitsabgrenzungen und Instanzenzügen.22 Die historischen Vorgänge sollten vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Zeit, ihres Kontexts und der berührten Interessen sowie unter Berücksichtigung der handelnden Akteure betrachtet werden. Auf diese Weise sollte die in der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ liegende Vielfalt weiter ausgelotet werden. Ein solcher Zugriff auf die scheinbar unbedeutenden Schauplätze des Reiches könnte das Klagen der Forschung über den unübersehbaren „Flickenteppich“ 23 vielleicht umkehren – hin zu einer positiveren Wertung der Vielfalt, die zeigt, wie trotz aller Verschiedenheit alles miteinander zusammenhing und – jedenfalls bis zu einem gewissen Grad – auch zusammenhielt.24 Die Vielfalt sollte zudem unter dem Gesichtspunkt einer Pluralität an Möglichkeiten von Streitbeilegung gesehen werden: Streitparteien waren oftmals nicht darauf festgelegt, sich mit ihrem Konflikt an ein bestimmtes Gericht zu wenden, sondern hatten die Wahl zwischen verschiedenartigen Gerichten. Dies korreliert mit der Vielgestaltigkeit der Rechtsgewohnheiten. Zwar konnte die Pluralität von Streitbeilegungsmöglichkeiten zu Unsicherheiten für die an Auseinandersetzungen beteiligten Personen, für Parteien ebenso wie für konkurrierende 22 Zu den mit dem Postulat geradliniger Entwicklungslinien verbundenen Gefahren vgl. Oestmann, Wege zur Rechtsgeschichte (wie Anm. 2), S. 26; siehe auch Krey, Die Praxis der spätmittelalterlichen Laiengerichtsbarkeit (wie Anm. 20), S. 20 f. 23 Joachim Whaley, Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation und seine Territorien, Bd. I: Von Maximilian I. bis zum Westfälischen Frieden 1493 – 1648. Aus dem Englischen von Michael Haupt. Darmstadt 2014, S. 57, 72 f.; Christine D. Schmidt, Sühne oder Sanktion? Die öffentliche Kirchenbuße in den Fürstbistümern Münster und Osnabrück während des 17. und 18. Jahrhunderts. Münster 2009 (Westfalen in der Vormoderne. Studien zur mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Landesgeschichte, Bd. 5), S. 140; ferner sehr quellennah Oestmann, Geistliche und weltliche Gerichte (wie Anm. 21), S. 5. 24 Zur Vielfalt der integrativen Elemente, die zum Zusammenhalt des Alten Reiches beitrugen, vgl. den Sammelband Bongartz/Denzler/Franke/Schneider/Stodolkowitz (Hrsg.), Was das Reich zusammenhielt (wie Anm. 15).

Gerichtsvielfalt und Gerichtslandschaften

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Obrigkeiten, führen. Doch stellt sich auch die Frage, ob und inwieweit es nicht gerade die Vielfalt der Gerichte war, die im Rahmen von Konfliktlösungsstrategien gezielt ausgenutzt wurde.25 Um sich dieser Zielstellung zu nähern, hatten die Tagungsinitiatoren im Vorfeld verschiedene mit einem Fragenkatalog verbundene Analyseebenen formuliert und den Referent/innen an die Hand gegeben, um eine systematisierte Auseinandersetzung mit der Gerichtsvielfalt zu unterstützen: •• Was beeinflusste die Entwicklung der Gerichtsvielfalt? •• Inwieweit erfolgte eine Institutionalisierung der Gerichtsbarkeit und wie verhielten sich hierzu althergebrachte Schlichtungsinstanzen? •• Welche Rolle spielten die gelehrten Juristen in diesem Prozess? •• Welche Institutionen waren an der Rechtsprechung neben den eigentlichen Gerichten beteiligt (Oberhöfe und Schöppenstühle, Juristenfakultäten oder auch der Landesherr selbst)? •• Welche Zäsuren ergaben sich etwa durch Appellationsprivilegien, Herrscherwechsel, Erbteilungen oder Kriege in den jeweiligen Territorien? •• Wie war der Instanzenzug ausgestaltet? •• Wie ist das Verhältnis von Justizkanzleien und Hofgerichten methodisch zu greifen? •• Wo, das heißt an welchen Gerichtsorten und in welchen Gerichtsgebäuden, wurde Recht gesprochen? •• Wer hatte Zugang zu den Gerichten? •• Wie entwickelten sich klar abgrenzbare Zuständigkeiten? •• Welche Verfahrensgrundsätze und Gerichtsordnungen gab es und wie verlief das Verfahren tatsächlich? •• Welche Verfahrensformen können, etwa mit Blick auf die ordentliche Gerichtsbarkeit im Verhältnis zur Schiedsgerichtsbarkeit, als Bestandteil der „Justiz“ aufgefasst werden? •• Inwieweit waren Gerichtsbarkeit und Verfahren durch normative Rechtsquellen geprägt? Dieser – gewiss nicht abschließende – Fragenkatalog erlaubt es, die Gerichtsvielfalt strukturiert zu untersuchen. Wichtig erschien es zunächst, Vergleichsperspekti 25 Unberücksichtigt bleibt hier der Bereich der außergerichtlichen Streitbeilegung, den man als infrajudiciaire bezeichnen könnte und der „in komplementärer oder substitutiver Alternative zum formellen Justizsystem“ zur Wiederherstellung des sozialen Friedens dienen konnte, Francisca Loetz, L’infrajudiciaire. Facetten und Bedeutung eines Konzepts, in: Andreas Blauert/Gerd Schwerhoff (Hrsg.), Kriminalitätsgeschichte. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte der Vormoderne. Konstanz 2000 (Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven, Bd. 1), S. 545 – 562 (hier S. 557).

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ven zu eröffnen, da der Vergleich „die schärfste Waffe des Historikers“ ist.26 Dabei erschöpft sich die vergleichende Methode nicht in der Feststellung von Parallelen und Unterschieden. Ihr Ziel ist es vielmehr, aus dem Vergleich einzelner Untersuchungsgegenstände, etwa verschiedener konkreter Gerichte, verallgemeinerungsfähige Aussagen treffen zu können. Denn der Vergleich erlaubt es, „die Perspektivenabhängigkeit historischer Erkenntnis […] zu vermindern“.27 Die isolierte Erforschung einzelner Gerichte ist in diesem Sinne unzulänglich; ihre Erkenntnisse können für sich genommen niemals repräsentativ sein. Ein umfassender Vergleich, der erhellende Erkenntnisse versprechen könnte, ist allerdings nahezu unmöglich, weil er die Befassung mit einer kaum zu bewältigenden Vielzahl unterschiedlichster Gerichte voraussetzen würde. Ein Vergleich erlaubt es auch keineswegs, die „Grenzen der Re-­Konstruierbarkeit des Vergangenen“ zu überwinden.28 Doch ist es, will man sich jenseits der Ebene von Reichskammergericht und Reichshofrat der Aufgabe einer Erforschung der Gerichtsbarkeit im Reich stellen, unumgänglich, unter eingehender Reflexion über die Vergleichs-29 und Raumeinheiten 30 unterschiedliche Gerichte verschiedenen Typs, zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Regionen des Reiches zu beleuchten und auf dieser Grundlage vergleichende Betrachtungen anzustellen. Bei der Untersuchung der Gerichtsvielfalt im Alten Reich ist der Vergleich als Methode schon deshalb unverzichtbar, weil ohne vergleichende Betrachtungen nicht ermittelt werden kann, was die speziellen Charakteristika einzelner Gerichte oder Territorien sind und welche Merkmale demgegenüber repräsentativ und verallgemeinerungsfähig sind. Ein weiteres Ziel der Tagung war es, im Rahmen solcher vergleichender Betrachtungen den Begriff der Gerichtslandschaft als „Synonym für Vielfalt“ und für die „Gleichzeitigkeit von Einheit und Verschiedenheit“ 31 in einem größeren Kontext zu verorten und zur Diskussion zu stellen. Der im Jahr 2005 im Rahmen der erwähnten Tagungen des Netzwerks Reichsgerichtsbarkeit eingeführte Terminus soll dazu 26 Paolo Grossi, Das Recht in der europäischen Geschichte. München 2010, S. 99; vgl. mit Bezug auf die partikulare Vielfalt frühneuzeitlicher Gerichtsbarkeit Oestmann, Geistliche und weltliche Gerichte (wie Anm. 21), S. 729. 27 So das traditionelle Credo der historischen Komparatistik, vgl. etwa Matthias Middell, Konjunkturen vergleichender Geschichtswissenschaft, in: Waltraud Schreiber (Hrsg.), Der Vergleich – Eine Methode zur Förderung historischer Kompetenzen. Neuried 2005 (Eichstätter Kontaktstudium zum Geschichtsunterricht, Bd. 5), S. 11 – 30 (hier S. 21). 28 Waltraud Schreiber, Durch Vergleiche lernen – vergleichen lernen, in: dies. (Hrsg.), Der Vergleich (wie Anm. 27), S. 31 – 59 (hier S. 41). 29 Middell, Konjunkturen (wie Anm. 27), S. 26. 30 Franz Irsigler, Vergleichende Landesgeschichte, in: Carl-­Hans Hauptmeyer (Hrsg.), Landesgeschichte heute. Göttingen 1987, S. 35 – 54. 31 Baumann/Amend/Wendehorst, Einleitung (wie Anm. 5), S. 2.

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dienen, „die Vielfalt als eine für die Rechts- und Gerichtsverfassung der Frühen Neuzeit charakteristische Eigenschaft zu betonen“.32 Aufbauend auf dieser Einsicht hat die Tagung das Ziel verfolgt, mit zwei Tagungsschwerpunkten Zugänge zu Vergleichsebenen zu eröffnen. Zunächst sollte die Gerichtsvielfalt im Spiegel einzelner Personengruppen untersucht werden. Dabei sollten besondere Personengruppen betrachtet werden, die Zugang zu einer eigenen Gerichtsbarkeit hatten, wie etwa Juden, der Klerus, Kaufleute, Handwerker oder Angehörige des Militärs, des Adels, der Zünfte oder der Universitäten. Vor allem aber waren verschiedenartige Spruchkörper von Interesse, die speziell für diese Personengruppen zuständig waren. Diese Perspektive nehmen in diesem Band die Beiträge von Stefan Rohrbacher für die jüdische Gerichtsbarkeit, von Marian Füssel für die akademische Gerichtsbarkeit und von Vincent Demont für die Angehörigen von Handwerk und Gewerbe ein. Einen zweiten Schwerpunkt bildete der Zugriff über die Hoheitsträger und Territorien. Es war zu erwarten, dass die unterschiedlichen Entwicklungsgeschwindigkeiten in den einzelnen Territorien, die verschiedenartigen Herrschaftskonstellationen sowie die Ausformung spezifischer Instanzenzüge, oftmals unter Beibehaltung der früheren Spruchgremien (ordentliche Gerichte, Schöppenstühle oder andere Schlichtungsinstanzen), interessante Einblicke in die jeweiligen Staatsbildungsprozesse und den damit verbundenen Wandel von Gerichtsvielfalt offenbaren würden. Nicht selten bestanden hergebrachte Spruchgremien parallel zum herrschaftlichen Instanzenzug über Jahrzehnte, mitunter Jahrhunderte weiter oder wurden in den neuen Instanzenzug eingepasst, indem sie den neuen Erfordernissen entsprechend mit modernen Inhalten gefüllt wurden. Der Zugriff über Territorien und Herrschaftsträger liegt den Beiträgen von Josef Bongartz über die Gerichtsbarkeit im Hochstift Würzburg, Alexander Denzler zur quantitativen Analyse der süddeutschen Gerichtsvielfalt und Stefan A. Stodolkowitz zur Gerichtsvielfalt in Braunschweig-­Lüneburg zugrunde. Eine auf einen bestimmten Raum bezogene Perspektive nehmen auch die Beiträge von Hendrik Baumbach zur Gerichtslandschaft im Südwesten Deutschlands im Spätmittelalter und von Michaela Grund über das Wertheimer Zentgericht ein. Abschließende Antworten auf diese Fragen sollen und können mit dem vorliegenden Sammelband nicht gegeben werden. Beim Versuch, den Fragenkatalog auch nur annähernd zu beantworten und im Rahmen vergleichender Betrachtungen Erkenntnisse über die unterhalb von Reichskammergericht und Reichshofrat gelegenen Ebenen der Justiz zu gewinnen, müssen vielmehr zunächst die Schwierigkeiten reflektiert werden, mit denen solche Untersuchungen verbunden sind und die sich unmittelbar aus dem Untersuchungsgegenstand, der Vielfalt der Gerichtsbarkeit, ergeben: 32 Amend/Baumann/Wendehorst/Wunderlich, Recht und Gericht (wie Anm. 8), S. 11.

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Die Verhältnisse in den unterschiedlichen Regionen, Territorien, Städten und Herrschaften des Reiches waren so unterschiedlich, dass es auf den ersten – freilich nur auf den ersten – Blick nicht viele Gemeinsamkeiten zu geben scheint. Sodann gab es auch innerhalb eines Herrschaftsbereiches kaum einen aus heutiger Sicht systematisch nachvollziehbaren Aufbau des Gerichtswesens und vor allem keine klar gegeneinander abgegrenzten Zuständigkeiten von Gerichten. Die Gerichtsbarkeit unterlag zudem, auch wenn viele ihrer Grundlagen – wie etwa Gerichtsorte, vor allem aber die Prozessordnungen und Herrschaftszugehörigkeiten – konstant blieben, einem ständigen zeitlichen Wandel. Schließlich verlief die zeitliche Entwicklung in den verschiedenen Territorien und Herrschaften des Reiches wiederum nicht einheitlich. Wenn die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ mit Reinhart Koselleck als „Grunderfahrung aller Geschichte“ 33 angesehen wird, gilt dies auch für die Gerichtsvielfalt im Alten Reich. Diese Schwierigkeiten sollten aber kein Anlass sein, von der angestrebten vergleichenden Betrachtung Abstand zu nehmen und die aufgeworfenen Fragen jenseits konkreter Erkenntnisse zu einzelnen Gerichten als unbeantwortbar anzusehen. Die Einsicht, dass abschließende Antworten nicht möglich sind, weil es ein am Ende aller Untersuchungen stehendes großes Gesamtbild nicht gibt und auch nicht geben kann,34 steht dem Versuch nicht entgegen, durch Annäherungen Parallelen und alternative Handlungsstränge zu offenbaren. Darüber hinaus kann sich die Diskussion über die Gerichtsvielfalt in der Frühen Neuzeit nicht in dem Bestreben erschöpfen, Gemeinsamkeiten und verallgemeinerungsfähige Entwicklungslinien festzustellen. Dass es diese vielfach nicht gab, charakterisiert gerade die bunte Vielfalt der Rechte und Gerichtsbarkeiten.

2. Ergebnisse und Perspektiven Folgende verallgemeinerungsfähige Erkenntnisse lassen sich aus den Beiträgen und als Tagungsergebnisse festhalten:

33 Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M. 1979, S. 325. 34 Vgl. Oestmann, Geistliche und weltliche Gerichte (wie Anm. 21), S. 728, 737.

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2.1. Die Verdichtung der Landesherrschaften ging einher mit der Ausweitung der Gerichtsvielfalt Die Gerichtsvielfalt im römisch-­deutschen Reich wurde zunächst durch eine politisch-­dynastische Vielgestaltigkeit des Reiches begünstigt, die lange Zeit als „Flickenteppich“ missverstanden wurde 35 und mittlerweile wertneutraler als Teil eines komplexen, aber funktionsfähigen, „sich über mehrere Ebenen erstreckenden gemeinsamen Handlungs- und Erfahrungsraum[es] seiner Akteure“ gesehen wird.36 Das Gerichtswesen im römisch-­deutschen Reich war dementsprechend durch eine Ordnung geprägt, die „jeder an Einheit, Widerspruchsfreiheit und Symmetrie orientierten Vorstellung Hohn sprach, sondern sich vielmehr durch Pluralität der Rechtsquellen, Polyzentrismus, Konkurrenz der Gerichtsforen, Kompetenzüberschneidungen und mangelnde hierarchische Zuordnungen sowie allenthalben spürbare Zwänge zu Verhandlung und Vergleich auszeichnete.“ 37 Die Vielfalt beschränkte sich bekanntermaßen nicht allein auf die großen Schienen weltliche und geistliche Gerichtsbarkeit. Vielmehr war sie auf diesen beiden Zentralebenen in sich immens differenziert. Neben der Hoch- und Niedergerichtsbarkeit fallen die personen-, standes-, berufs- und religionsbezogenen Gerichte in den Blick. Als wenige Beispiele sei auf die ausdifferenzierte Universitätsgerichtsbarkeit (Füssel) verwiesen, ferner auf die immense Vielfalt im Fürstbistum Paderborn (Ströhmer), im Herzogtum Bayern (Denzler) oder im Fürstbistum Würzburg (Bongartz). Derartige Vielfalt als Resultat von Kompromissen kostete viel Geld, das auch in der Vergangenheit knapp war (erneut Ströhmer). Die Voraussetzungen für die Entwicklung der Gerichtsbarkeit waren demnach in den verschiedenen Herrschaftsgebieten des Reiches sehr unterschiedlich. Während in den Städten wegen der weitreichenden Ratsautonomie genossenschaftliche Strukturen besondere Bedeutung behielten, war in den größeren fürstlichen Territorien die Gerichtsbarkeit häufig stärker auf landesherrliche Gerichte orientiert. Doch auch hier waren die Bedingungen, unter denen der Ausbau einer landesherrlichen Gerichtsbarkeit stattfand, recht verschieden. Während in den weltlichen Territorien häufig eine dynastische Herrschaftsfolge etabliert werden konnte, die möglicherweise den Ausbau einer zentral organisierten Gerichtsbarkeit erleichterte, 35 Johannes Burkhardt, Vollendung und Neuorientierung des frühmodernen Reiches 1648 – 1763. Stuttgart 2006 (Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte, 10. Aufl., Bd. 11), S. 33. 36 Falk Bretschneider/Christophe Duhamelle, Fraktalität. Raumgeschichte und soziales Handeln im Alten Reich, in: Zeitschrift für Historische Forschung 43 (2016), S. 703 – 746 (hier S. 721). 37 Ebd., S. 715.

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wenn nicht etwa stärker landständisch orientierte Herrschaftsverhältnisse diesen erschwerten, kam in den geistlichen Wahlfürstentümern den Domkapiteln ein politisches Gewicht zu, dem auch im Rahmen der Gerichtslandschaft Rechnung getragen werden musste.38 Daneben steht die landesherrlich angestrebte Verdichtung der Territorien in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der erfolgreichen Verstärkung der landesherrlichen Gerichtsbarkeit. Mit der frühneuzeitlichen Rezeption des Römischen Rechts ging eine zunehmende Professionalisierung der Rechtsprechung im Laufe der Frühen Neuzeit einher. Der Einzug der gelehrten Juristen führte zu einem Innovationsschub innerhalb der Spruchkörper, der sich auch materiell- und prozessrechtlich niederschlug und daher, bei aller Unterschiedlichkeit der Gerichte im Detail, jedenfalls auf Ebene der höheren Gerichte zu einer gewissen Vereinheitlichung führte. Diesbezüglich wirkte nicht zuletzt auch die Reichsgerichtsbarkeit als integrierender Faktor einer einheitlichen Rechtsentwicklung im Reich.39 Gleichzeitig entstanden aufgrund der Ausbildung von herrschaftsbezogenen Instanzenzügen in den verschiedenen Territorien sowie durch Universitätsneugründungen zusätzlich neue Spruchkörper. Mit den Instanzenzügen entstanden Hierarchien zwischen verschiedenen Ebenen der Gerichtsbarkeit, an deren Spitze in aller Regel Gerichte standen, die zu einem wesentlichen Teil mit gelehrten Juristen besetzt waren. Diese Entwicklung ist vor allem auf das Rechtsmittel der Appellation zurückzuführen, das die Überprüfung und Abänderung gerichtlicher Entscheidungen durch höhere Gerichte ermöglichte.40 Die Vielzahl der Gerichte war dabei nicht nur unermesslich, sie bestand zudem über Jahrhunderte hin fort – und dies, obwohl sich innerhalb der Territorien bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts tendenziell eine zentrale herrschaftliche Gewalt ausgebildet hatte. Der Frage, wie diese Vorgänge in den verschiedenen Territorien vonstattengingen und wie sie – freilich in unterschiedlicher Intensität und mit abweichenden 38 Ernst Schubert, Fürstliche Herrschaft und Territorium im späten Mittelalter. 2. Aufl. München 2006 (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 35), S. 8. 39 Vgl. diesbezüglich Bongartz/Denzler/Franke/Schneider/Stodolkowitz (Hrsg.), Was das Reich zusammenhielt (wie Anm. 15). 40 Bernhard Diestelkamp, Vom einstufigen Gericht zur obersten Rechtsmittelinstanz. Die deutsche Königsgerichtsbarkeit und die Verdichtung der Reichsverfassung im Spätmittelalter. Köln/Weimar/Wien 2014 (QFHG, Bd. 64), S. 146 – 148; Peter Oestmann, Ludolf Hugo und die gemeinrechtliche Appellation, in: Ludolf Hugo, Vom Missbrauch der Appellation, hrsg. v. Peter Oestmann. Wien/Köln/Weimar 2012 (QFHG, Bd. 62), S. 1 – 43 (hier S. 4 – 10); Leopold Auer/Eva Ortlieb (Hrsg.), Appellation und Revision im Europa des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. Wien 2013 (Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs, Jg. 3, Bd. 1), verfügbar unter http://hw.oeaw.ac.at/7432-5inhalt?frames=yes (abgerufen am 8. April 2019).

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Geschwindigkeiten – vollzogen wurden, widmet sich die Mehrzahl der vorliegenden Beiträge. Hierzu wurden sowohl institutionelle, quantitative, räumliche als auch mikrohistorische Zugänge gewählt. So beleuchtet der Beitrag von Hendrik Baumbach, wie die gerichtliche Zuständigkeit kaiserlicher Landgerichtssprengel noch an der Schwelle zur Frühen Neuzeit dem Personalitätsprinzip folgte und somit nicht durch die territoriale Reichweite von Herrschaft, sondern durch die Gerichts-/Justiznutzer konstituiert wurde. Dass eine derartige Überlagerung von Gerichtszuständigkeiten, die sich noch nicht an dem sich erst in späterer Zeit durchsetzenden Territorialitätsprinzip orientierten, zu Konflikten führen musste, versteht sich von selbst und wurde bereits angedeutet. Hier zeigt sich aber andererseits auch die Fähigkeit zu einem Neben- und Miteinander, das räumliche Kategorien bezogen auf die ohnehin keineswegs klar umgrenzten Territorien 41 vernachlässigt und sich in erster Linie an Personen, deren Stand (und wahrscheinlich auch an deren Kompetenzen, Autorität sowie Vertrauen) orientiert. Dieses Phänomen ist zur gleichen Zeit in ähnlicher Form im hansisch geprägten Norden des Alten Reiches anzutreffen, wie der Beitrag von Florian Dirks erhellt. Die hansischen Kaufleute, die unterschiedlichen Herrschaftsbereichen und städtischen Rechtskreisen angehörten, waren gezwungen, überörtliche und auch überregionale Strukturen zur Konfliktbereinigung zu entwickeln. Dazu dienten etwa die von Dirks untersuchten Tagfahrten als Mittel außergerichtlicher Streitbeilegung, aber auch jenseits sogenannter ordentlicher Gerichtsbarkeit eingesetzte Autoritäten, die einzelfallbezogen als Schlichter oder Vermittler agierten. 2.2. Was ist ein Gericht? Historische Annäherungen Dies führt zu der wohl nicht abschließend zu beantwortenden Frage, welche Streitschlichtungs- und Streitentscheidungsstellen als Gerichte angesehen werden können. Denn mit Schlichtungsforen und Tagfahrten sind Felder der außergerichtlichen Konfliktlösung angesprochen. Wie sich derartige außergerichtliche Strukturen zu den sich verdichtenden und vervielfältigenden institutionellen Gerichtsstrukturen verhalten, gehört zu den jüngeren Forschungsfragen der Rechtsgeschichte 42 und 41 Andreas Rutz, Die Beschreibung des Raums. Territoriale Grenzziehungen im Heiligen Römischen Reich. Köln/Weimar/Wien 2018 (Norm und Struktur, Bd. 47). 42 Vgl. hierzu etwa die Beiträge in Albrecht Cordes (Hrsg.), Mit Freundschaft oder mit Recht? Inner- und außergerichtliche Alternativen zur kontroversen Streitentscheidung im 15.–19. Jahrhundert. Köln/Weimar/Wien 2015 (QFHG , Bd. 65), die aufzeigen, welche Alternativen dazu verhalfen, weitergehende Konflikte vor den ordentlichen Gerichten zu vermeiden. Ferner ebenso Anja Amend-­Traut, Konfliktlösung bei streitigen Wechseln im Alten Reich. Der Kaufmannstand zwischen der Suche nach Alternativen zur gerichtlichen

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verspricht noch immensen Erkenntnisgewinn. Vieles spricht dafür, dass letztlich die Gerichtsnutzer die Bedeutung eines Gerichts konstituierten. Diese Annahme stützt der Beitrag von Alexander Krey, der die Freiwilligkeit der Oberhofwahl in Lübeck betont. Das deckt sich mit der Beobachtung von Hendrik Baumbach, der auf „verschränkte Gerichtsbarkeiten“ hinweist, und lenkt den Blick richtiger Weise auf die Verfahrensbeteiligten. Letztere sind es, die den Gerichten ihre jeweilige Bedeutung beimaßen, so dass sie zu erstrangigen Werkzeugen der Herrschaftsträger werden konnten – zum entscheidenden Hebel, die eigenen Herrschaftsbereiche zu verdichten. Die Frage, was als Gericht anzusehen ist, stellt sich auch bei den Universitäten, deren Juristenfakultäten im Wege der Aktenversendung in so großem Umfang in gerichtliche Verfahren eingebunden waren, dass sie geradezu als reguläre gerichtliche Instanzen angesehen wurden. Sie stehen damit in der Tradition der mittelalterlichen Oberhofzüge und des Rechtsrats durch spätmittelalterliche italienische Rechtsgelehrte.43 Die Universitäten arbeiteten Entscheidungsvorschläge aus, die das jeweilige Gericht regelmäßig unverändert als eigenes Urteil übernahm. Durch die Verkündung war ein solches Urteil eine Entscheidung des Gerichts, von dem die Aktenversendung ausgegangen war. Der geistige Urheber der Entscheidung war jedoch nicht dieses Gericht, sondern die Juristenfakultät. Zum Grenzbereich dessen, was als Gerichtsbarkeit anzusehen ist, gehören schließlich die mit der Entscheidung von Streitigkeiten befassten E ­ inzelpersonen. Geltendmachung von Forderungen und strategischer Justiznutzung, in: Rolf Lieberwirth/ Heiner Lück (Hrsg.), Akten des 36. Deutschen Rechtshistorikertages Halle an der Saale. Stuttgart 2008, S. 153 – 175. Zur, der ordentlichen Gerichtsbarkeit obligatorisch vorgeschalteten, gütlichen Einigung etwa Eva-­Christine Frentz, Das hamburgische Admiralitätsgericht (1623 – 1811). Prozess und Rechtsprechung. Frankfurt a. M./Bern/New York 1985 (Rechtshistorische Reihe, Bd. 43), oder Anja Amend-­Traut, Kaufmännische Gutachten Nürnberger Provenienz. Wege zur Normativität? in: dies./Hans-­Georg Hermann (Hrsg.), Handel, Recht und Gericht in Mittelalter und Neuzeit. Die Reichsstadt Nürnberg im regionalen und europäischen Kontext. Im Erscheinen (Nürnberger Forschungen). Ferner zu dem parteilich vereinbarten Ausschluss der ordentlichen Gerichtsbarkeit etwa dies., Brüder unter sich – die Handelsgesellschaft Brentano vor Gericht. Elemente privater Konfliktlösung im Reichskammergerichtsprozess, in: Albrecht Cordes/Serge Dauchy (Hrsg.), Eine Grenze in Bewegung: Öffentliche und private Justiz im Handels- und Seerecht. Justice privée et justice publique en matières commerciales et maritimes. München 2013 (Schriften des Historischen Kollegs, Bd. 81), S. 91 – 116 m. w. N., und dies., Der Reichshofrat und die Kapitalgesellschaften. Die Bemühungen um eine Handelskompanie zwischen den Hansestädten und Spanien, in: dies./Albrecht Cordes/Wolfgang Sellert (Hrsg.), Geld, Handel, Wirtschaft. Höchste Gerichte im Alten Reich als Spruchkörper und Institution. Berlin/Boston 2013 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, NF., Bd. 23), S. 61 – 89. 43 Oestmann, Wege zur Rechtsgeschichte (wie Anm. 2), S. 191; siehe im Übrigen die ebd., S. 328, nachgewiesene weiterführende Literatur.

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Zu nennen sind hier zunächst die im Rahmen gerichtlicher Verfahren eingesetzten Kommissare, aber auch andere Personen, die etwa als die Gerichtsgewalt innehabende Würdenträger Entscheidungen trafen. Wenn solche Einzelpersonen in Verfahren des Reichskammergerichts als Vorinstanzen in Erscheinung traten, wurden sie wohl als Gerichte betrachtet, deren Entscheidungen mit Rechtsmitteln angefochten werden konnten. Eine derartige Einbindung von Einzelpersonen in gerichtliche Entscheidungsprozesse belegt der Beitrag von Alexander Denzler, der auf einer quantitativen Auswertung der in Reichskammergerichtsakten erwähnten Gerichte beruht. Der Sammelband kann somit – auch dies ist als eigenständige Perspektive für die weitere Erforschung der Gerichtsvielfalt zu begreifen – keine klaren Trennlinien zwischen dem benennen, was (noch) ein Gericht war und was nicht (mehr). Die bereits angesprochenen Ungleichzeitigkeiten und Mehrdeutigkeiten legen es jedoch nahe, unter dem Begriff „Gericht“ weniger eine Institution „mit bestimmtem Gebäude, fest angestelltem und ständig präsentem Stab von Amtsträgern und einem Ensemble von Sacharbeitsmitteln“ zu verstehen.44 Ein Gericht in der Vormoderne lässt sich vielmehr ergebnisoffener entsprechend der zeitgenössischen Wortbedeutung als ein „Ereignis und Handlungsablauf“ zwischen den Gerichtspersonen als Entscheidungsträgern (insbesondere Richter und Urteiler) und den Verfahrensbeteiligten (vor allem Kläger und Beklagter) begreifen.45 Ein solch weitgefasstes Begriffsverständnis fordert dazu auf, zu spezifizieren, was zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlichen Räumen (aus der Perspektive der Justiznutzer) als ein Gericht galt. Der Sammelband leistet einen Beitrag zur Konkretisierung, ohne freilich die Gerichtspluralität dergestalt systematisieren zu können, wie es bereits, wenn auch nur überblicksartig, geschehen ist.46 44 Thomas Simon, Art. Gericht, in: Enzyklopädie der Neuzeit (künftig: EdN), Bd. 4. Stuttgart 2006, Sp. 514 – 524 (hier Sp. 514). 45 Ebd. 46 So lassen sich mit Heiner Lück, Art. Gericht, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (künftig: HRG), Bd. 2. 2. Aufl. Berlin 2012, Sp. 131 – 143 (hier Sp. 132 f.), „Benennungen ausmachen, die an verschiedene Aspekte des jeweiligen Gerichts anknüpfen: an den Gerichtsherren (z. B. Königsgerichte, Landesherrliche Gerichte, Stadtgericht […]), an die sachliche Zuständigkeit (z. B. […] Berggericht, Holzgericht, Wassergericht […]), an die funktionale (oft mit territorialer u. personeller Zuständigkeit gekoppelte) Kompetenz (Oberappellationsgericht […]); an die personelle Zuständigkeit (Militärgerichte […], Akademische Gerichtsbarkeit, Bauerngerichte), an die strafrechtlich und fiskalisch relevanten Kompetenzbereiche (Hochgerichtsbarkeit, Niedergericht, Halsgericht […]). An die räumliche Zuständigkeit (Landesgerichte, Feldgerichte), an die Binnenstruktur (z. B. Schwurgericht, Schöffengericht, Kollegialgericht), an die Gerichtszeiten (z. B. Quatembergericht […], Jahrgericht), an den Gerichtsort bzw. an die topographische Lage (z. B. Brückengericht, Berggericht, Talgericht […]), an die Stellung im Instanzenzug (z. B. erst-

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2.3. Das Territorialitätsprinzip setzt sich gegenüber dem Personalitätsprinzip durch Mit der Entstehung und Verfestigung von Institutionen trat das hergebrachte personalistische Verständnis von Herrschaft, das vor allem im Lehnswesen des Reiches zum Ausdruck kam, allmählich in den Hintergrund, während die Bedeutung des territorialen Fundaments der Herrschaft zunahm. Dieser Wandel vom älteren Personalitäts- zum neueren Territorialitätsprinzip wird, wie Peter Oestmann in seinem Beitrag hervorhebt, auch in der Gerichtsbarkeit sichtbar. Er ist prägend für die Gerichtsvielfalt in der Frühen Neuzeit. In der älteren Zeit war eine Person in erster Linie der Gerichtsbarkeit dessen unterworfen, dessen unmittelbarer Herrschaft sie unterstand, was sie (freilich abhängig von der jeweiligen Untersuchungsepoche) nicht davon abhalten musste, nach alternativen Streitschlichtungsmöglichkeiten Ausschau zu halten (siehe oben). Darüber hinaus war die Gerichtsbarkeit häufig von einer genossenschaftlichen Struktur geprägt, beruhte auf einem freien Zusammenschluss von Personen und drückte daher eine gleichheitlich-­horizontale Rechts- und Sozialbeziehung aus.47 So gehörte in weltlichen Angelegenheiten der Bauer vor das Gericht des Gutsherrn oder des Dorfes, der Handwerker vor das Gericht der Zunft, der Student vor das Gericht der Universität, der Militärangehörige vor das Militärgericht, der Stadtbürger vor das Gericht des städtischen Rates und die Kameralperson vor das Reichskammergericht. Nach dem neueren Territorialitätsprinzip, dessen Durchsetzung für die Entstehung verfestigter territorialer Herrschaftsgewalt unverzichtbar war, und zwar auch und gerade deshalb, weil die Gerichtsbarkeit – nicht nur die höchste – ein so wichtiges Herrschaftsrecht war, sollte jeder vor dem Gericht des Territoriums stehen, dem er angehörte. Mit der allmählichen Einführung von Appellationsgerichten im Rahmen der weltlichen Gerichtsbarkeit vor allem im Übergang vom

instanzliches Gericht […]), an den Zustand, in dem die Gerichtsherrschaft agierte (Kriegsgericht), an das Gerichtsgebäude (Rota Romana).“ [Die Abkürzungen im vorstehenden Zitat wurden der Lesbarkeit wegen aufgelöst]. 47 Franz-­Josef Arlinghaus, Genossenschaft, Gericht und Kommunikationsstruktur. Zum Zusammenhang von Vergesellschaftung und Kommunikation vor Gericht, in: ders./Ingrid Baumgärtner/Vincenzo Colli/Susanne Lepsius/Thomas Wetzstein (Hrsg.), Praxis der Gerichtsbarkeit in europäischen Städten des Spätmittelalters. Frankfurt a. M. 2006 (Rechtsprechung. Materialien und Studien, Bd. 23), S. 155 – 188 (hier S. 161); Gerhard Dilcher, Zur Geschichte und Aufgabe des Begriffs Genossenschaft, in: ders./Bernhard Diestelkamp (Hrsg.), Recht, Gericht, Genossenschaft und Policey. Studien zu Grundbegriffen der germanistischen Rechtshistorie. Symposion für Adalbert Erler. Berlin 1986, S. 114 – 123 (hier S. 117).

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Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit 48 ergab sich fast zwangsläufig eine Hierarchie im Verhältnis verschiedener Foren zueinander, die mit diesem Territorialitätsprinzip korrespondierte. Die Appellationszüge im Rahmen der weltlichen Gerichtsbarkeit in den Territorien liefen daher häufig bei der landesherrlichen Obrigkeit zusammen. Da die persönlichen Zugehörigkeiten mit ihren eigenen Gerichten durch die Verfestigung territorialer Herrschaft nicht aufgehoben wurden, standen nicht selten verschiedene Gerichtsbarkeiten mit unterschiedlichen – personellen und territorialen – Anknüpfungspunkten nebeneinander, die eine mögliche Ursache für Jurisdiktionsstreitigkeiten bieten konnten. Schließlich ging die Entwicklung vom Personalitäts- zum Territorialitätsprinzip Hand in Hand mit der Entstehung moderner Instanzenzüge mit klar gegeneinander abgegrenzten Zuständigkeitsbereichen unterschiedlicher Gerichte. Davon unberührt bleibt, dass die Institutionalisierung und Professionalisierung der Justiz nicht als ein geradliniger, widerspruchsfreier Prozess mit klaren Endpunkten gesehen werden darf. Vielmehr ist neuerlich die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zu konstatieren und damit verbunden eine Gerichtspluralität, die von Wandlungen und Mehrdeutigkeiten geprägt war. 2.4. Fehlende klar abgegrenzte Zuständigkeiten beschleunigen den Vervielfältigungsprozess Mit der Verdichtung der Landesherrschaften, die durch den Sieg des Territorialitätsprinzips über das Personalitätsprinzip begünstigt wurde, ging das Fehlen klar gegeneinander abgegrenzter Zuständigkeiten einher, wie sie in einer modernen Gerichtsverfassung selbstverständlich sind. Eine, freilich nicht die einzige, Ursache hierfür liegt darin, dass Herrschaften und Territorien oftmals selbst nicht klar begrenzt waren. An die Stelle einer an normativen Kriterien ausgerichteten Feststel 48 So ab Mitte des 15. Jahrhunderts etwa in den Kurfürstentümern Köln und Trier, der Kurpfalz, der Markgrafschaft Baden oder der Grafschaft Württemberg, Jürgen Weitzel, Wege zu einer hierarchisch strukturierten Gerichtsverfassung im 15. und 16. Jahrhundert, in: Dieter Simon (Hrsg.), Akten des 26. Deutschen Rechtshistorikertages. Frankfurt a. M., 22. bis 26. September 1986 (Ius Commune Sonderhefte, Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte, Bd. 30). Frankfurt a. M. 1987, S. 333 – 345 (hier S. 335 f.), oder im Hochstift Würzburg, vgl. hierzu den Beitrag von Josef Bongartz in diesem Band. Ebenso entwickelte sich zum Ende des 15. Jahrhunderts hin die Appellation unter quantitativen Gesichtspunkten zum dominierenden Verfahren am königlichen Kammergericht, Jürgen Weitzel, Art. Appellation, in: HRG, Bd. 1. 2. Aufl. Berlin 2008, Sp. 268 – 271 (hier Sp. 269). Mit Abweichungen im Detail ebenso Diestelkamp, Vom einstufigen Gericht (wie Anm. 40), S. 61.

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lung, welches Gericht für die Entscheidung eines bestimmten Streitfalls zuständig war, muss daher die an der Gerichtspraxis orientierte Beobachtung treten, welchen tatsächlichen Wirkungskreis ein Gericht hatte. Dies gilt im Übrigen nicht nur in räumlicher Hinsicht. Denn auch innerhalb eines bestimmten Gebiets oder Territoriums gab es meist eine Vielzahl unterschiedlicher und auch in ihren Strukturen verschiedenartiger Gerichte, deren Wirkungsbereiche einander überschnitten. Da es eindeutige Zuständigkeitsabgrenzungen nicht gab, entstand über die Zuständigkeit von Gerichten häufig Streit.49 Hier liegt eine Ursache der Jurisdiktionsstreitigkeiten, die es in großer Anzahl gab und die für die Gerichtsvielfalt in der Frühen Neuzeit charakteristisch sind. Die Bedeutung derartiger Streitigkeiten geht zudem über die Interessen der unmittelbar am Streit Beteiligten weit hinaus: Denn die Gerichtsgewalt galt als „Inbegriff aller Herrschaftsrechte“ 50 und die Konsolidierung gerichtlicher Zuständigkeiten wirkte sich deshalb auf die Festigung von Herrschaft und die Entstehung territorialer Staatlichkeit aus. 2.5. Bedeutung der subjektiven Rechte Herrschaftliche Interessen und die daraus resultierenden Anpassungen und Entwicklungen innerhalb der Gerichtsbarkeit, die sich auch in den ausufernden Zuständig 49 Im Hinblick auf die schwierige Abgrenzung zwischen geistlicher und weltlicher Gerichtsbarkeit und die kaum eindeutige Trennlinie zwischen weltlichen und geistlichen Gerichten siehe die auf umfassenden Quellenstudien beruhende Untersuchung von Oestmann, Geistliche und weltliche Gerichte (wie Anm. 21), insbes. S. 716, 737. 50 Barbara Stollberg-­Rilinger, Des Kaisers alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches. München 2008, S. 28. Siehe hierzu auch Heiner Lück, „Dass ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält …“. Gericht und Verfahren als Zentralkategorien im Werk von Wolfgang Sellert, in: Eva Schumann (Hrsg.), Justiz und Verfahren im Wandel der Zeit. Gelehrte Literatur, gerichtliche Praxis und bildliche Symbolik. Festgabe für Wolfgang Sellert zum 80. Geburtstag. Berlin/Boston 2017 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, NF., Bd. 44), S. 1 – 18 (hier S. 3), Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart. 3. Aufl. München 2003, S. 281 f., Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 1: Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600 bis 1800. München 1988, sowie Dietmar Willoweit, Rechtsgrundlagen der Territorialgewalt. Landesobrigkeit, Herrschaftsrechte und Territorium in der Rechtswissenschaft der Neuzeit. Köln/Wien 1975 (Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 11), S. 17 – 47, 186 – 213; ders., Einführung: Rechtsprechung und Justizhoheit, in: Volker Friedrich Drecktrah/ders. (Hrsg.), Rechtsprechung und Justizhoheit. Festschrift für Götz Landwehr zum 80. Geburtstag von Kollegen und Doktoranden. Köln/Weimar/Wien 2016, S. 11 – 19 (hier S. 12): „iurisdictio als Inbegriff der herrschaftlichen Rechte“; ders., Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Rechtsprechung im Alten Reich, in: ebd., S. 177 – 196 (hier S. 187 f.).

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keitsstreitigkeiten widerspiegeln, bilden die eine – etatistische – Seite der Medaille bei dem Versuch, die Gerichtsvielfalt im Alten Reich ansatzweise zu deuten. Jenseits der Top-­Down-­Perspektive ist allerdings die andere Seite der Medaille zu beachten, die sich aus der Sicht der Gesellschaft oder der Bottom-­Up-­Perspektive speist. Historische Entwicklungen sind weder einseitig noch geradlinig, so dass angenommen werden muss, dass weitere systemimmanente Ursachen existierten, die diese Komplexität im Rechtsleben des Alten Reiches rechtfertigten. Zur Erhellung dieses Problemfeldes gibt Dietmar Willoweit in seinem Beitrag wichtige Impulse, indem er die Bedeutung der subjektiven Rechte für die Rechtsprechung und die Rechtsfortbildung vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart skizziert und vergleicht. Auf diese Weise schlägt er nicht nur einen beeindruckenden Bogen vom 9. Jahrhundert bis in die Gegenwart, vielmehr gelingt ihm gleichzeitig der Perspektivwechsel auf die Parteienebene, ohne die richterliches Handeln zu keiner Zeit denkbar war (und ist). Die von Willoweit herausgearbeitete entwicklungsgeschichtliche Dominanz des Schutzes individueller Rechte sowie das hohe Gut der alten hergekommenen beziehungsweise wohlerworbenen Rechte,51 dem sich Richter bis weit in die Frühe Neuzeit (bis ca. 1800) wie selbstverständlich unterwarfen und denen sie den Vorrang vor einer mit objektivem Geltungsanspruch versehenen abstrakten Rechtsordnung einräumten, öffnet eine weitere Tür zum besseren Verständnis der historischen Gerichtsvielfalt. Wird an dieser Stelle die häufig bestehende Möglichkeit des Klägers mit einbezogen, seinen Gerichtsort frei zu wählen (Baumbach, Krey), was freilich nicht immer dazu führte, dass sich der Beklagte vor diesem Gericht auch verantwortete, verdichtet sich das Bild von individuell ausgestalteten Gerichtsbarkeiten, die vom Stand, der Obrigkeit sowie der zur Verfügung stehenden eigenen Finanzkraft abhängig waren. In diesem Zusammenhang ist ferner auf sogenannte „Dienstleistungsangebote“ zahlreicher Gerichte hinzuweisen, die Rechtsanfragen Privater,52 Suppliken von Untertanen 53

51 Thomas Olechowski, Art. Jura quaesita, in: HRG, Bd. 2. 2. Aufl. Berlin 2012, Sp. 1424 – 1426 (hier Sp. 1424); Willoweit, Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Rechtsprechung (wie Anm. 50), S. 190. 52 Ein Aufgabenfeld frühneuzeitlicher Gerichtstätigkeit bildete die Beantwortung privater Rechtsanfragen. Als ein Beispiel unter vielen siehe eine Bitte um private Rechtsauskunft an den Leipziger Schöffenstuhl, in: Ellen Franke, Wie es gehalten werden soll. Recht und Rechtspflege in Lübben und der Niederlausitz vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin 2014 (Studien zur brandenburgischen und vergleichenden Landesgeschichte, Bd. 14), S. 109 f. 53 Siehe die Projektbeschreibung unter http://www-­gewi.uni-­graz.at/suppliken/de (abgerufen am 2. Januar 2019) sowie die Beiträge in dem Band Gabriele Haug-­Moritz/Sabine Ullmann (Hrsg.), Frühneuzeitliche Supplikationspraxis und monarchische Herrschaft in europäischer

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oder Promotoriale 54 zu bearbeiten hatten. Der wenig ausgebaute bis kaum vorhandene Dienstleistungssektor (Notare, Rechtsanwälte, Steuer- und Finanzberater etc.), wie wir ihn heute kennen, verlagerte solche Hilfebegehren direkt an die Gerichte. Auch vor diesem Hintergrund verstärkt sich erneut die Schwierigkeit, frühneuzeitliche Gerichte zu definieren. 2.6. Neuer Wein in alten Schläuchen Mit der Professionalisierung der Rechtsprechung infolge der Rezeption des gelehrten Rechts ging der Fortbestand alter Gerichtsstrukturen, gefüllt mit zeitgemäßen Rechts- und Prozessinhalten, einher. Dies zeigen die Beiträge von Peter Oestmann und Stefan A. Stodolkowitz am Beispiel des Fortlebens der dinggenossenschaftlichen Gerichte. Solche traditionellen Gerichte – etwa das Würzburger Landgericht (Bongartz) – blieben zwar oftmals erhalten, wandelten sich aber und wurden in die modernen Instanzenzüge integriert. Nicht selten war der Tod von Gerichtsherren oder Amtsträgern der Auslöser für Reformen, in denen alte Strukturen behutsam mit neuen Elementen angereichert und auf diese Weise sukzessive modernen Erfordernissen angepasst wurden. Auch der Lübecker Oberhof wuchs „im 16. Jahrhundert in die Rolle einer Instanz hinein“, wie Alexander Krey in seinem Beitrag verdeutlicht. 2.7. Die finanziellen Zwänge Nicht zuletzt stellten die finanziellen Zwänge einen wichtigen Faktor bei der Umgestaltung der frühneuzeitlichen Gerichtsverfassungen dar, war doch die Beschaffung der stets knappen finanziellen Mittel, die für eine funktionierende Gerichtsbarkeit notwendig waren, ein wesentliches Hindernis innerhalb des TransformationsproPerspektive. Wien 2015 (Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs, Jg. 5, Bd. 2), verfügbar unter http://www.austriaca.at/7867-5inhalt?frames=yes (abgerufen am 8. April 2019). 54 So sahen sich bspw. der Reichshofrat sowie das Reichskammergericht mit zahlreichen Bitten um Ausstellung sogenannter Beförderungsschreiben konfrontiert. Darin ersuchten die Bittsteller die Reichsgerichte, die unteren Gerichte anzuweisen, das Verfahren zu beschleunigen. Beim Reichshofrat konnten derartige Beförderungsschreiben auch gegenüber dem Reichskammergericht beantragt werden. Im Bestand Reichshofrat sind solche Schreiben in einer eigenen Unterreihe innerhalb der Gratialserie zusammengefasst (Österreichisches Staatsarchiv, Haus-, Hof- und Staatsarchiv, RHR, Gratialia et Feudalia, Promotoriales). Auch in der Serie Judicialia (ebd., Judicialia) finden sich derartige Promotorialschreiben. Erste Recherchen sind online über das Archivinformationssystem des ÖStA möglich unter http://archivinformationssystem.at/archivplansuche.aspx (abgerufen am 8. April 2019).

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zesses.55 Dabei standen einerseits die Stände als Geldgeber in der Pflicht. Andererseits trugen die Parteien durch die von ihnen zu zahlenden Verfahrenskosten zum Funktionieren der Rechtsprechung bei. Zumeist reichte der Geldfluss lediglich zur Aufrechterhaltung des laufenden Betriebs. Waren Reformen intendiert, mussten neue Finanzquellen erschlossen werden, die nicht selten allein in der ständischen Verantwortung lagen.56 Im Gegenzug nahmen die Stände oftmals Einfluss auf die Ausgestaltung der Gerichtsbarkeit.57 Zur Frage der ständischen Finanzierung der territorialen Gerichtsverfassungen bezieht im vorliegenden Band Michael Ströhmer Stellung. Mit Blick auf die kleinen Grafschaften Schaumburg-­Lippe und Hessen-­ Schaumburg sowie das Hochstift Paderborn kann er verdeutlichen, wie der zähe Widerstand der Stände im Hochstift Paderborn die Entwicklung einer zentralisierten Gerichtsorganisation verhinderte. Ohne die Einbeziehung der Stände, den Konsens oder die erfolgreiche Auseinandersetzung mit ihnen waren Reformpläne der Landesherrschaften nicht umsetzbar – auch andernorts.58 Die Stände, die die Gerichte finanzierten und zugleich dem Ansinnen des Landesherrn misstrauten, 55 Vgl. zum Reichskammergericht Sigrid Jahns, Das Reichskammergericht und seine Richter. Verfassung und Sozialstruktur eines höchsten Gerichts im Alten Reich, Teil I: Darstellung. Köln/Weimar/Wien 2011 (QFHG, Bd. 26/I), S. 264 – 269; zum Wismarer Tribunal Nils Jörn, Stand und Aufgaben bei der Erforschung der Geschichte des Wismarer Tribunals. Kjell Åke Modéer zum 60. Geburtstag, in: ders./Michael North (Hrsg.), Die Integration des südlichen Ostseeraumes in das Alte Reich. Köln/Weimar/Wien 2000 (QFHG, Bd. 35), S. 235 – 273 (hier S. 264 – 268). 56 Franke, Wie es gehalten werden soll (wie Anm. 52), S. 35 f. 57 Vgl. zum Oberappellationsgericht Celle Stodolkowitz, Das Oberappellationsgericht Celle (wie Anm. 20), S. 24 – 26, 50 – 54. 58 Kersten Krüger weist überblicksartig auf die Ständekonflikte mit dem Landesherrn in Ostfriesland, Mecklenburg und Württemberg hin, Kersten Krüger, Die Landständische Verfassung. München 2003 (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 67), S. 29; Spezialuntersuchungen zu einzelnen Landesherrschaften sind u. a.: Ronald G. Asch, „Wie die Fledermäuse“? Die Osnabrücker Ritterschaft im 18. Jahrhundert, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 75 (2003), S. 161 – 184; Gabriele Haug-­Moritz, Württembergischer Ständekonflikt und deutscher Dualismus. Ein Beitrag zur Geschichte des Reichsverbands in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1992 (Veröffentlichungen der Kommission für Geschichtliche Landeskunde in Baden-­Württemberg. Reihe B – Forschungen, Bd. 122); Sigrid Jahns, „Mecklenburgisches Wesen“ oder absolutistisches Regiment? Mecklenburgischer Ständekonflikt und neue kaiserliche Reichspolitik (1658 – 1755), in: Paul-­Joachim Heinig/dies./Hans-­Joachim Schmidt/Rainer Christoph Schwinges/Sabine Wefers (Hrsg.), Reich, Regionen und Europa in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Peter Moraw. Berlin 2000 (Historische Forschungen, Bd. 67), S. 323 – 351; Tim Neu, Die Erschaffung der landständischen Verfassung. Kreativität, Heuchelei und Repräsentation in Hessen (1509 – 1655). Köln/Weimar/Wien 2013 (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne).

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ihre alten hergebrachten Rechte durch neue Instanzenzüge beschneiden zu lassen, verfestigten die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ und damit die Vielfalt. Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt Josef Bongartz am Beispiel des Würzburger Hochstifts. Zwar wirkt die Schaffung des Würzburger Kanzleigerichts bereits 1474 auf den ersten Blick innovativ, doch blickt man auf die im frühen 16. Jahrhundert sich herausbildenden Instanzenzüge im Territorium, die von großer Unübersichtlichkeit gekennzeichnet waren, werden die dahinterstehenden Beharrungskämpfe des Adels deutlich. Je schwächer die Landesherrschaft und je stärker die Stände in einem Territorium waren, um so vielfältiger und unübersichtlicher scheint die Gerichtsverfassung ausgestaltet gewesen zu sein – eine Vermutung, die sich bei der Lektüre der vorliegenden Beiträge aufdrängt, aber noch verifiziert werden müsste. Auf der anderen Seite weist Michael Ströhmer im vorliegenden Band 59 auf den nicht zu unterschätzenden Faktor Gerichtsgebühren und Strafsätze hin – ein Feld, das wiederum von zwei Komponenten geprägt wurde. Für die Parteien besaß der Aspekt der Kostenminimierung oberste Priorität, wohingegen es das Interesse der Gerichtsherren war, kostendeckend, bestenfalls gewinnbringend zu agieren, schließlich konnten Gerichtsrechte kostenpflichtig und prestigeträchtig verlehnt werden. Die Parteien wussten zu gut, welche Gebühren an welchem Gericht zu zahlen waren. Bei der grundsätzlich freien Gerichtswahl durch die Parteien, die in diesem Band angesprochen wird (Baumbach, Krey), dürfte dieser Aspekt bei der Wahl des Spruchkörpers (soweit eine Auswahl vorhanden und die Vielfalt groß war) eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt haben. Inwieweit bei den Parteien der zu erwartende Tenor des Spruchkörpers ein Auswahlkriterium gewesen sein dürfte, ist beim gegenwärtigen Forschungsstand eine offene Frage.60 Alles in 59 Vgl. darüber hinaus auch Michael Ströhmer, Jurisdiktionsökonomie im Fürstbistum Paderborn. Institutionen – Ressourcen – Transaktionen (1650 – 1800). Münster 2013 (Westfalen in der Vormoderne, Bd. 17, Paderborner Historische Forschungen, Bd. 17), S. 266, 276 – 279. 60 Vgl. Oestmann, Geistliche und weltliche Gerichte (wie Anm. 21), S. 724. Immerhin für die jüdische Klientel ist erforscht, dass diese in erheblichem Umfang am kaiserlichen Reichshofrat Recht suchte, vgl. bereits Oswald von Gschliesser, Der Reichshofrat. Bedeutung und Verfassung, Schicksal und Besetzung einer obersten Reichsbehörde von 1559 bis 1806. Wien 1942, S. 35, und ferner etwa Verena Kasper-­Marienberg, „vor Euer Kayserlichen Mayestät Justiz-­Thron“. Die Frankfurter jüdische Gemeinde am Reichshofrat in josephinischer Zeit (1765 – 1790). Innsbruck 2012 (Schriften des Centrums für Jüdische Studien, Bd. 19), S. 37, Tobias Schenk, „…domit Ich solchs bösenn ungetzieffers endlich loß würde“. Der Reichshofrat und die Vertreibung der Juden aus Berlin und der Mark Brandenburg (1573 – 1574), in: Medaon 12 (2013), S. 1 – 13, Barbara Staudinger, Juden am Reichshofrat. Jüdische Rechtsstellung und Judenfeindschaft am Beispiel der österreichischen, böhmischen und mährischen Juden 1559 – 1670. Wien 2001 (unveröffentl. Diss.), S. 188 f., und dies., Von den Rechtsnormen zur Rechtspraxis. Eine Stellungnahme zu einem Forschungsvor-

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allem verstärkt sich das bereits gewonnene Bild einer etwa in politischer, ständischer, sozialer oder eben finanzieller Hinsicht vielfach abhängigen, gleichzeitig jedoch notwendiger Weise flexibel agierenden Justiz, deren oberstes Ziel zwar die Wiederherstellung und Bewahrung des Friedens für alle beteiligten Seiten war (Parteien, Richter und Schöffen, Gerichtsherren, soziales Umfeld und Gesellschaft). Doch eingedenk der finanziell beschränkten Mittel stellte dies für sie sicherlich einen beachtlichen Balanceakt dar.

3. Ausblick und offene Fragen Selbstredend konnten nicht alle Facetten beleuchtet werden; auch blieben zahlreiche der tagungsvorbereitend formulierten Fragen unbeantwortet. Zu komplex ist das gewählte Tagungsthema. Gleichwohl gelang es, Impulse zu setzen und vielleicht Schneisen in das undurchsichtige Dickicht der vielfältigen Gerichtsbarkeit im Alten Reich zu schlagen. Von den zahlreichen Fragen, die blieben, sollen an dieser Stelle vier wichtige Problemfelder angesprochen werden, um weitere Per­ spektiven zu eröffnen. So weist – erstens – Peter Oestmann in seinem Beitrag auf einen sehr interessanten Aspekt hin, dem nachzuspüren lohnend wäre. „Die ehemals dinggenossenschaftlichen Gerichte aus der mittelalterlichen Zeit waren weiträumig nicht etwa förmlich abgeschafft oder aufgehoben. Sie bestanden weiter, machten aber umfassende Änderungen durch. Gerade über diese Änderungen sind wir erstaunlich schlecht unterrichtet. […] Einige Zäsuren […] fallen in die Jahre um 1650. Ob das Zufall ist oder nicht, lässt sich zur Zeit nicht ernsthaft entscheiden. Möglicherweise ging der Neuaufbau der Territorien nach dem Dreißigjährigen Krieg aber mit einem Modernisierungsschub im Bereich der Gerichtsbarkeit vor sich. Auch auf der Reichsebene verkündete der Jüngste Reichabschied eine neue Gerichtsordnung.61 Der Reichshofrat erhielt ebenfalls 1654 seine wichtigste und umfang-

haben zur Rechtsgeschichte der Juden im Heiligen Römischen Reich, in: Aschkenas 13 (2003), S. 107 – 115 (hier S. 114). Ein bedeutender Grund hierfür mag in dem besonderen Vertrauen liegen, das die jüdischen Kläger dem kaiserlichen Gericht entgegenbrachten; so André Griemert, Jüdische Klagen gegen Reichsadelige. Prozesse am Reichshofrat in den Herrschaftsjahren Rudolfs  II. und Franz I. Stephans. München 2015 (baR, Bd. 16), S. 180, 187. 61 Jüngster Reichsabschied 1654, in: Johann Jacob Schmauß/Heinrich Christian von Senckenberg (Hrsg.), Neue und vollständigere Sammlung der Reichs-­Abschiede. Frankfurt 1747, ND Osnabrück 1967, Bd. III, S. 640 – 690 (zur Gerichtsbarkeit: §§ 8 – 169, S. 643 – 671).

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reichste Prozessordnung.62 Es muss daher nicht verwundern, wenn in derselben Zeit auch vermehrt territoriale Reformen stattfanden. Das genaue Zusammenspiel zwischen der Reichsebene und den Veränderungen in den Territorien bleibt aber zur Zeit noch unklar.“ 63 Zweitens erscheint es wichtig, den vielfach beklagten Mangel an Generalisierungsmöglichkeiten (den zu befürchtenden Verlust des roten Fadens) als Forschungschance zu begreifen. Einen wichtigen Impuls hat Dietmar Willoweit gesetzt, indem er den Blick sehr zu Recht auf die Parteienebene gelenkt hat. Es sind die Streitenden, die den Gerichten und damit den Herrschaftsträgern die Möglichkeit verschafften, Einfluss auszuüben, Autorität auszubauen und Macht zu erhalten. Kultivierter Streit, wenngleich negativ konnotiert, war (und ist) einer der wichtigsten Motoren innerhalb von und zwischen Gesellschaften. Vor diesem Hintergrund erscheint es ratsam, die Forschungssonde zu wenden und zu schauen, welche Faktoren Gerichte stärkten oder Vertrauensgewinn beschleunigten. Welchen Einfluss hatten hierbei beispielsweise „neue Medien“ wie der Buchdruck oder der Verlust der Mündlichkeit zugunsten der Schriftlichkeit innerhalb des Verfahrens? Die Gerichtsvielfalt wandelte sich vom späten Mittelalter über die Frühe Neuzeit hinweg, nahm aber offensichtlich erst mit der Zentralität und mit dem Durchbruch des Nationalstaats ab. Den erfolgreichen Widerstand von Landständen gegen Zentralisierungs- oder Reformbestrebungen der Landesherren vom 16. bis in das 18. Jahrhundert zu beleuchten und die Rolle der Parteien dabei nicht aus dem Blick zu verlieren, erscheint ein fruchtbares Feld zur Erhellung der Praxis des Mit- und Gegeneinanders im Rahmen der Gerichtsbarkeit zu sein. Nicht zuletzt konzentrierte sich – drittens – die rechtshistorische Forschung in der Vergangenheit primär auf die Konkurrenz der Gerichte untereinander. Auch hier wäre es zielführender, den Ansatz zu wenden und nach dem Miteinander sowie dem Zusammenspiel von Gerichten (herrschaftsübergreifend) zu fragen. An dieser Stelle wäre auch der „Dienstleistungsaspekt“ stärker zu berücksichtigen, wie es beispielsweise das Supplikenprojekt für den Reichshofrat 64 unternommen hat. Auch zahlreiche Oberhöfe und territoriale Regierungen wurden mit Privatanfragen, Untertanensuppliken und Promotorialbegehren konfrontiert. Konnten den Justiznutzern zufriedenstellende Antworten gegeben werden, bestand die Chance auf Vermeidung weitergehender Konflikte vor den ordentlichen Gerichten. Ebenso

62 Moderne Edition bei Wolfgang Sellert (Hrsg.), Die Ordnungen des Reichshofrats 1550 – 1766, 2. Halbband bis 1766. Köln/Wien 1990 (QFHG, Bd. 8/II), S. 1 – 260. 63 Im vorliegenden Band S. 70. 64 Siehe Anm. 53.

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konnte die Möglichkeit des einstweiligen Rechtsschutzes 65 eine dauerhafte Streitbeilegung begünstigen. Diese „Präventionsjustiz“ unter die Lupe zu nehmen, verspricht weitere und neue Erkenntnisse zum Verhältnis von Gesellschaft und Justizwesen in ihrer jeweiligen Zeit und im jeweiligen Kontext. Als Resultat dürfte schließlich die in der (insbesondere älteren) Forschung noch vielfach beklagte Gerichtsvielfalt 66 mit ihrer Unübersichtlichkeit vermutlich weniger bedrohlich erscheinen. Der vorliegende Band bietet – viertens – auch Gelegenheit, den in der jüngeren Vergangenheit vermehrt rezipierten 67 Begriff der „Gerichtslandschaft“ stärker zu akzentuieren und auf seine Eignung zur Konzeptualisierung von Gerichtsbarkeit(en) im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit hin zu hinterfragen und gegebenenfalls fortzuentwickeln. Der 2005 in die Forschung eingeführte Begriff sollte dazu dienen, als „Synonym für Vielfalt“ die „Gleichzeitigkeit von Einheit und Verschiedenheit“ zu umschreiben.68 Der Begriff illustrierte, wie bereits angedeutet, „die Vielfalt als eine für die Rechts- und Gerichtsverfassung der Frühen Neuzeit charakteristische Eigenschaft“;69 auch die an den Rändern offenen, sich überlappenden Gerichts- und Rechtsräume sollten abgebildet werden. Zugleich sollten die gegenläufigen Momente dieser Vielfalt als „zusammenhängendes soziales Ganzes“ erkennbar werden.70 „Gerichtslandschaft“ in diesem Sinne meint die Vielfalt der Gerichtsbarkeiten in einem bestimmten, wenn auch nicht exakt abgrenzbaren, räumlichen Zusammenhang. Insofern liefert der Begriff einen Vorteil gegenüber Vorstellungen von Gerichtssystemen oder -verfassungen im Heiligen Römischen Reich, die eine Abgeschlossenheit suggerieren, die jedoch den historischen Verhältnissen nicht entspricht. In dieser Verwendung wird er in neueren rechtshistorischen Publikationen zur Beschreibung der bunten Vielfalt von Gerichtsarten in einem bestimmten Raum vor dem Hintergrund der weltlichen, geistlichen, territorialen, städtischen, dörflich/bäuerlichen, ständischen, berufs- und religionsbezogenen

65 Vgl. diesbezüglich etwa Manfred O. Hinz, Der Mandatsprozeß des Reichskammergerichts. Berlin 1966, und Manfred Uhlhorn, Der Mandatsprozess sine clausula des Reichshofrats. Köln/Wien 1990 (QFHG, Bd. 22). 66 Für das Hochstift Paderborn siehe die Belege aus der älteren Literatur in: Ströhmer, Jurisdiktionsökonomie im Fürstbistum Paderborn (wie Anm. 59), S. 43. 67 Titelgebend etwa bei Krey, Die Praxis der spätmittelalterlichen Laiengerichtsbarkeit (wie Anm. 20); ferner Ulrike Schillinger, Die Neuordnung des Prozesses am Hofgericht Rottweil 1572. Entstehungsgeschichte und Inhalt der Neuen Hofgerichtsordnung. Köln/ Weimar/Wien 2016 (QFHG, Bd. 67), etwa S. 223 – 230. 68 Baumann/Amend/Wendehorst, Einleitung (wie Anm. 5), S. 2. 69 Amend/Baumann/Wendehorst/Wunderlich, Recht und Gericht (wie Anm. 8), S. 11. 70 Baumann/Amend/Wendehorst, Einleitung (wie Anm. 5), S. 2.

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Gerichte, quasi als „Container“,71 verwendet. Bei einer derartigen Verwendung des Begriffes „Gerichtslandschaften“ erscheint es ratsam, herrschafts- oder territorial-­ politisch übergreifende Untersuchungsräume zugrunde zu legen,72 die nicht mit (erst später etablierten) Herrschaftsräumen identisch sind,73 um einer anachronistischen Betrachtungsweise vorzubeugen oder gar das Ergebnis bereits vorweg zu nehmen. Bisher noch nicht abschließend geklärt ist die Frage, inwieweit dem Konzept der Gerichtslandschaft 74 zusätzlich eine tiefergehende inhaltliche Dimension zukommen kann. Werden die konstruktivistischen Raumkonzepte, die in den Geschichtswissenschaften durch den spatial turn 75 fruchtbar geworden sind, berücksichtigt und wird der in diesem Zusammenhang „wiederentdeckte“ Terminus „Landschaft“ konstitutiver gedacht, ließe sich der bisher in Anwendung gebrachte Bedeutungsgehalt des Begriffes „Gerichtslandschaft“ erweitern. „Landschaften“ charakterisiert, dass sie nicht der territorialen, herrschaftlich-­verfassten oder staatlichen Einheit bedürfen, um als solche bezeichnet zu werden.76 Jede „Landschaft“ besitzt zudem eine gemeinsame, raumprägende Klammer. Gilt dies auch für Gerichte? Kann Gerichten eine raumkonstituierende Klammerfunktion innewohnen? „Es geht […] um die Vielfalt der Verräumlichung sozialer und sym-

71 Der Begriff „Container“ umschreibt hier den „›Raum‹ als etwas Fix-­Gegebenes, Starres, Totes […] als Bühne […], als Hintergrund oder bloße Umgebungsbedingung“, Jörg Döring, Spatial Turn, in: Stephan Günzel (Hrsg.), Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart/Weimar 2010, S. 90 – 99 (hier S. 91). Vgl. auch Matthias Middell, Der Spatial Turn und das Interesse an der Globalisierung in der Geschichtswissenschaft, in: Jörg Döring/ Tristan Thielmann (Hrsg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften (Sozialtheorie). Bielefeld 2008, S. 103 – 123 (hier S. 118). 72 Wie es Krey, Die Praxis der spätmittelalterlichen Laiengerichtsbarkeit (wie Anm. 20), unternommen hat, indem er den Untersuchungsraum anhand der Einzugsbereiche der Obergerichte Ingelheim, Frankfurt am Main und Gelnhausen gebildet hat. 73 Amend/Baumann/Wendehorst/Wunderlich, Recht und Gericht (wie Anm. 8). 74 Zur Diskussion über die Verwendung des Landschaftsbegriffs innerhalb der Geschichtswissenschaft und Geographie bereits in den 1970er Jahren siehe den Tagungsband Alfred Hartlieb von Wallthor/Heinz Quirin (Hrsg.), ›Landschaft‹ als interdisziplinäres Forschungsproblem. Münster 1977 (Veröffentlichung des Provinzialinstituts für westfälische Landes- und Volksforschung des Landschaftsverbands Westfalen-­Lippe, Reihe 1, H. 1), insbes. S. 1 – 35. 75 Martina Löw, Raumsoziologie. Frankfurt a. M. 2001 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1506); Döring/Thielmann (Hrsg.), Spatial Turn (wie Anm. 71); Döring, Spatial Turn (wie Anm. 71); Olaf Kühne, Landschaftstheorie und Landschaftspraxis. Eine Einführung aus sozial-­konstruktivistischer Perspektive. 2. Aufl. Wiesbaden 2018 (RaumFragen. Stadt – Region – Landschaft). 76 Heinrich Schmidt, Über die Anwendbarkeit des Begriffes „Geschichtslandschaft“, in: von Wallthor/Quirin (Hrsg.), ›Landschaft‹ als interdisziplinäres Forschungsproblem (wie Anm. 74), S. 25 – 35 (hier S. 26).

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bolischer Handlungen“ 77 – hier bezogen auf die Gerichte. Erkenntnisziel sollte es sein, die gerichtliche „‚Wesensstruktur‘ einer Landschaft“ 78 zu erforschen. Ausgehend von einem derartigen raumerzeugenden konstruktivistischen Verständnis könnten Räume herrschaftsübergreifend, ausschließlich hinsichtlich ihrer gerichtsspezifischen Dimension untersucht und auf ihren landschaftsbildenden Charakter hin überprüft werden. Es würden die im Gericht agierenden Personen (Parteien, Richter, Schöffen, Gerichtspersonal, Zeugen etc.) sowie die genutzten Strukturen (Verfahrensweisen, Mündlichkeit, Schriftlichkeit, Rechtsnormen etc.) erforscht – kurzum die Gerichtspraxis würde in einer Bottom-­Up-­Perspektive (siehe oben Punkt 2.5.) größere historische Bedeutung erlangen. Hoheitsträger und Gerichtsherren würden – trotz ihres institutionellen Schwergewichts – in einem gewissen Maße in den Hintergrund treten. So könnte man – wie Hendrik Baumbach in seinem Beitrag plausibel ausführt – für das späte Mittelalter und die Frühe Neuzeit „zum Forschungsterminus der „Gerichtslandschaft“ […] eher auf dem Wege der Wechselwirkungen, der Interaktionen, des Miteinanders von Gerichtsbarkeiten vorstoßen“. Wenn es gelänge, raumprägende Gerichte, Gerichtsbarkeiten und Gerichtsstrukturen herrschaftsübergreifend herauszuschälen, dürften längst verschollene und historisch überlagerte (weil später herrschaftlich besetzte, siehe oben Punkt 2.1.) Gerichtslandschaften eventuell (re‑)konstruierbar werden. Ob und inwieweit die derart (re‑)konstruierten Gerichtslandschaften mit dem zeitgenössischen Erleben korrespondierten, ist eine Frage, die insbesondere mit Blick auf die Justiznutzung untersucht werden müsste (Alexander Denzler). Es würden zudem periphere Elemente, wie etwa Galgen, Sühnekreuze, Boten, Buchdrucker, Siegelschneider oder Dienstwohnungen, ins Blickfeld rücken. Nicht zuletzt böte die Veränderung von Räumen aufgrund des Wegfalls von Gerichten interessante Forschungsansätze. Ob jene (im steten Wandel befindlichen) Gerichtslandschaften die Ausbildung von Herrschaften begünstigten, vereitelten oder neutralisierten, wäre eine sich daran anschließende interessante Frage. Auf diese Weise ließe sich der Begriff Landschaft, der „regionale und historische Gemeinsamkeiten bzw. Ganzheiten“ 79 angemessen zu beschreiben vermag, im Bereich der Gerichtsbarkeit(en) tragfähiger und fruchtbarer nutzen. Nicht zuletzt gelänge es, die von der Forschung eingeforderten Vergleiche auf den Weg zu bringen. Allerdings, und auch darauf muss an dieser Stelle hingewiesen werden, besteht die Gefahr, „vor-

77 Middell, Der Spatial Turn (wie Anm. 71), S. 118. 78 Schmidt, Über die Anwendbarkeit des Begriffes „Geschichtslandschaft“ (wie Anm. 76), S. 26. 79 Peter Blickle/Hans-­Jürgen Lüsebrink/Jörn Sieglerschmidt, Art. Landschaft, in: EdN, Bd. 7. Stuttgart/Weimar 2008, Sp. 546.

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gefasste theoretische Modelle an Gegenstände heranzutragen, die diesen grundsätzlich fremd sind.“ 80 Von der räumlich-­konstruktivistischen Dimension, die der Begriff „Gerichtslandschaft“ in sich trägt, zunächst entkoppelt, steht der Begriff „Gerichtsvielfalt“. Dieser weitaus offenere Terminus spiegelt die bunten, undurchsichtigen und individuell bestimmbaren Gerichtsbarkeiten ortsunabhängig wider. Vielfalt (oder Diversität) charakterisiert die unklaren Kompetenzbereiche mit ihren vielschichtigen und mitunter konkurrierenden Zuständigkeiten losgelöst vom Raum und unvoreingenommen. Vor dem Hintergrund, dass bereits Kernräume (beispielsweise die weltliche Gerichtsbarkeit in der kleinen Grafschaft Schaumburg-­Lippe) bezogen auf die Gerichtsbarkeit sehr heterogen und vielfältig gestaltet sein konnten, bietet der weite Terminus Vielfalt zunächst – methodisch gesehen – ergebnisoffenere Ansätze. Zwar ist es möglich, Gerichtsvielfalt ohne räumliche Zusammenhänge zu denken, doch birgt diese Offenheit die Gefahr beliebiger Zugriffe. Das gilt insbesondere dort, wo – wie häufig – verschiedene Herrschaften um Einfluss konkurrierten oder durch den Ausbau einer weltlichen Appellationsgerichtsbarkeit seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert ihren bestehenden Einfluss zu intensivieren versuchten. Dementsprechend weist Alexander Denzler in seinem Beitrag zutreffend darauf hin, „dass es entsprechend der Herrschaftsstruktur eines geographischen Raumes einerseits raumspezifische Gerichtstypen gab, die für einen bestimmten Raum prägend waren, da sie nur oder vorwiegend in diesem Raum existierten,“ während andererseits raumunspezifische Gerichtstypen „entsprechend der Herrschaftsstruktur eine raumspezifische Wirkung entfalten konnten.“ Insgesamt könnten sich „ergänzende Zugriffsweisen“,81 die den weiten Zugang über die Gerichtsvielfalt mit der räumlich-­konstruktivistischen Dimension verbinden, als tragfähig erweisen. Eine Aufgabe zukünftiger Forschungen könnte – zusammenfassend – noch stärker als bisher darin liegen, die Gerichtsbarkeit(en) nicht nur als Orte zu begreifen, die den Rahmen verschiedener geographischer oder rechtlicher Räume bilden, sondern auch deren Wirkungen auf den herrschaftlichen, sozialen, institutionellen oder personellen Rauminhalt in den Blick zu nehmen, der sich durch das Zusammenwirken, das Gegeneinander oder die Wechselbeziehung bestimmter Gerichte als konkrete Gerichtslandschaft – nicht als Landschaft aus Gerichten, sondern als Landschaft durch Gerichte – konstituiert. In Anlehnung an Gerhard Deter 82 ließen 80 Middell, Der Spatial Turn (wie Anm. 71), S. 111. 81 Gerhard Deter, Rechtsgeschichte in regionaler Perspektive. Prolegomenon zu einem Raumdiskurs in der Rechtsgeschichtswissenschaft, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 40 (2018), S. 73 – 99 (hier S. 96). 82 Ebd., S. 92 f., 95.

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sich dazu folgende Fragen formulieren: Was tragen die Gerichte in ihren vielfältigen Formen zur Konstituierung eines Raumes beziehungsweise einer Region bei? Welchen Einfluss haben regionale Eigentümlichkeiten auf die Zentralisierungsbestrebungen der jeweiligen Gerichtsherren? Wie beeinflussen die Spezifika einer Region die Gerichtswirklichkeit sowie die Gerichtspraxis? Kurzum: Sind Gerichte in ihrer historischen Dimension sowohl raumgeprägt als auch raumprägend? Ob und inwieweit sich im Anschluss daran der Begriff „Gerichtslandschaft“ als tatsächlich nützlicher Forschungsterminus erweist, der „sachlich unentbehrlich“ 83 wird, und ob er schließlich als heuristisches Instrument geeignet ist, werden zukünftige Forschungen zeigen.

83 Vgl. Schmidt, Über die Anwendbarkeit des Begriffes „Geschichtslandschaft“ (wie Anm. 76), S. 33, der zu dem Ergebnis kommt, dass für den Begriff „Geschichtslandschaft“ der „Nachweis sachlicher Unentbehrlichkeit“ (1977) nicht erfolgt sei und „seit seinem Auftauchen in der wissenschaftlichen Diskussion noch keine solide und unanfechtbare, allseits selbstverständliche Unentbehrlichkeit“ eingesetzt habe. Erst die Überprüfung des Begriffes an „konkreten Gegebenheiten“ und sein Standhalten rechtfertige seine allgemeingültige Anwendbarkeit.

Dietmar Willoweit

Der Respekt des Richters vor dem Recht – Über den Schutz subjektiver Rechte in Vergangenheit und Gegenwart –

I. Im Jahre 876 versammelte Ludwig der Deutsche in der Ingelheimer Königspfalz rund zwei Dutzend Bischöfe, Äbte und Grafen, um einen Streit zwischen dem Erzbischof von Mainz und dem Abt von Fulda über die Frage zu entscheiden, wem von beiden der kirchliche Zehnte in Thüringen zustehe. 18 namentlich genannte Vögte des Klosters Fulda bekannten daraufhin unter Eid, dass in etwa 100 aufgeführten Orten Thüringens der Zehnte dem Kloster gehöre und dass dies auch für zahlreiche Liegenschaften gelte, die Fulda in anderen Gegenden vor mindestens 30 Jahren zugewendet worden seien.1 Damit war die Sache entschieden. Die Gerichtsversammlung stellte sich offenbar gar nicht die grundsätzliche Frage, ob der Zehnte ein Recht des zuständigen Erzbischofs oder des Diözesanbischofs sei oder den Klöstern als Inhabern der Grundherrschaft zustehe. Maßgebend waren allein die tatsächlich bestehenden Verhältnisse, die sachkundige Zeugen vor Gericht als das Recht des Klosters Fulda beschworen. Mit diesem einfachen Fall befinden wir uns schon mitten in der hier interessierenden Fragestellung. Die Entscheidung eines Streitfalls auf der Grundlage des festzustellenden Rechtsherkommens ist ein bekanntes Phänomen, das nach dem Ersten Weltkrieg den Historiker Fritz Kern zu den viel zitierten Formulierungen verführte, Recht sei im Mittelalter „Gewohnheit […], ein Stück Weltordnung […], unerschütterlich“ gewesen und sei als „altes gutes Recht“ selbst dann begriffen worden, wenn es neu geschaffen wurde.2 Die Fragwürdigkeit dieser These beweist aber gerade ein Fall wie der hier vorgestellte. Den von den fränkischen Herrschern nach dem Vorbild des Alten Testaments mit dürren Worten eingeführten Kirchenzehnt mag man zwar schon als Element der neuen christlichen Weltordnung verstanden 1 MGH D reg. Germ. ex stirpe Kar I Nr. 170. 2 Fritz Kern, Recht und Verfassung im Mittelalter, in: Historische Zeitschrift 120 (1919), S. 1 – 79, ND Tübingen 1952, hrsg. von E. Anrich (Zitate nach dieser Ausgabe), S. 12, 14. Vgl. dazu Dietmar Willoweit, Vom alten guten Recht. Normensuche zwischen Erfahrungswissen und Ursprungslegenden, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs München 1997, S. 23 – 52, ND in: ders., Staatsbildung und Jurisprudenz. Spätmittelalter und frühe Neuzeit. Gesammelte Aufsätze 1974 – 2002, Bd. 1 – 2. Stockstadt 2009, Bd. 1, S. 107 – 136.

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haben.3 Aber das war nicht Gegenstand des Prozesses. Die Parteien waren sich nur über ihre eigene Berechtigung an den Zehnten nicht einig, die das Gericht – der König und die Großen des Reiches – dann im Prozess durch Ermittlung des Rechtsherkommens klärte. Mit anderen Worten: Nicht über das objektive Recht ging dieser Streit, etwa über die kirchenrechtlichen Zuständigkeiten für die Einziehung des Zehnten, sondern ausschließlich über die rechtliche Zuordnung des Zehnten, also über individuelle Rechte der Prozessparteien. Sieht man sich die älteren Urteile der königlichen Gerichtsbarkeit bis zum Ende der Stauferzeit einmal aus dieser Perspektive näher an, dann springt förmlich in die Augen, dass sie ganz überwiegend den Schutz individueller Rechte, meist an Liegenschaften, bezwecken – vielfach, weil sie den Inhabern entzogen worden sind, aber auch wegen bestehender Rechtsunsicherheit aus anderen Gründen.4 Als zuverlässiger Nachweis der Berechtigung galt im Allgemeinen die Vorlage einer Urkunde. Gab es eine solche nicht, war der Beweis durch vereidigte Zeugen zu führen. Bei diesen handelte es sich um oft namentlich genannte Männer in der Regel vornehmen Standes, die als Eideshelfer dienten, aber oft zugleich als Tatsachenzeugen.5 Es kommt auch vor, dass der Beklagte eine – vielleicht fragwürdige – Urkunde zurückweist und das eidliche Zeugnis von ihm ausgewählter Diener des Klägers verlangt.6 Wenn notwendig, werden auch einfache Leute über die wahre Rechtslage befragt. So die an dem thüringischen Flüsschen Hörsel lebenden Einwohner bei einem Streit zwischen den Klöstern Fulda und Hersfeld über deren 3 Vgl. z. B. das Kapitular von Herstal 779, MGH Cap. I c. 7: De decimis, ut unusquisque suam decimam donet, atque per iussionem pontifices dispensentur. Hans-­Jürgen Becker, Art. Zehnt, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (künftig: HRG), Bd. 5. 1. Aufl. Berlin 1998, Sp. 1629 – 1631; Raymund Kottje, Art. Zehnt, II. Historisch, in: Lexikon für Theologie und Kirche, durchgesehene Sonderausgabe der 3. Aufl., Bd. 10. Freiburg (Brsg.) 2009, Sp. 1395 – 1398; Richard Puza, Art. Zehnt, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 9. München 1998, Sp. 499 – 501; Franz Michael Permaneder/Johannes Baptist Sägmüller, Art. Zehnt, in: Heinrich Joseph Wetzer/Benedikt Welte, Kirchenlexikon, Bd. 12. Freiburg (Brsg.) 1901, Sp. 1885 – 1894. 4 Die Quellen bieten insofern ein etwas einseitiges Bild, als sie fast ausschließlich der Überlieferung kirchlicher Institutionen angehören und im Hintergrund oft der Konflikt über eine letztwillig verfügte Schenkung an eine Kirche mit den Familienerben gestanden haben dürfte. Doch auch in anders gelagerten Fällen ging es fast immer um individuelle Rechte. 5 Auf die Funktion als Eideshelfer weist die unter Einschluss des Klägers oft geforderte Siebenzahl hin, auf das gerichtliche Interesse an einem Tatsachenzeugnis das gelegentlich geforderte höhere Alter der Zeugen. Vgl. Urkundenregesten zur Tätigkeit des deutschen Königs- und Hofgerichts bis 1451, hrsg. von Bernhard Diestelkamp, Bd. 1 – 10. Köln u. a. 1986 – 2014, Bd. 1: Die Zeit von Konrad I. bis Heinrich  VI. 911 – 1197, Nr. 22 (972), 81 (1027), 110 (1056), 287 (1150), 380 (1162), 439 (1178), 451 (1180), 456 (1181), 462 (1181), 524 (1190). 6 Ebd., Bd. 1, Nr. 164 (1102).

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Schifffahrtsrechte,7 die familia eines Klosters über die Rechte des Vogts,8 sogar die Bürger Augsburgs, die Kaiser Friedrich I. darüber Auskunft geben durften, quo iure ex antiqua et legali institutione gubernari deberent.9 Gerade in den drei letztgenannten Fällen – Schifffahrtsrechte, Vogtrechte, Stadtverfassung – hätte eine einseitige Regelung durch den König ja nahe gelegen. Der neuzeitliche Mensch hätte den Erlass eines Gesetzes erwartet. Nicht so die Zeitgenossen. Der Respekt selbst des Reichsoberhauptes vor den bestehenden Rechten gebot, deren Bestand und Umfang mit den damals bekannten, als zuverlässig geltenden Methoden festzustellen. Dass dabei das Rechtsherkommen eine wesentliche Rolle spielen musste, wenn Urkunden fehlten oder zweifelhaft waren, war unvermeidbar. Aber nicht in der Orientierung an der angeblich „unerschütterlichen“ Gewohnheit liegt die Pointe dieser Gerichtspraxis, sondern im Schutz der den Reichsangehörigen zustehenden Rechte – oder sagen wir es ruhig modern: im Schutz ihrer subjektiven Rechte. Bevor wir eine Gegenprobe versuchen und nach Spuren objektiven Rechts Ausschau halten, das allen an diesen Prozessen Beteiligten verbindlich vorgegeben sein müsste, sei eine kurze Besinnung erlaubt, wie der Respekt vor den subjektiven Rechten der Prozessparteien zu erklären ist. Sie lebten in einer Rechtsordnung, die nur lückenhafte und daher für viele Materien überhaupt keine gesetzlichen Regelungen aufwies. Was in einer solchen Gesellschaft als Recht begriffen wurde, kann mangels eines Gesetzes nur aus den zwischenmenschlichen Beziehungen hervorgegangen sein. Es bedarf keiner großen Phantasie, sich unter solchen Verhältnissen die Entstehung individueller Ansprüche aus Verletzungen und Vertragsschlüssen vorzustellen und daher auch die Anerkennung der Sachherrschaft als Eigentumsrecht.10 So muss es einen entwicklungsgeschichtlichen Vorrang des subjektiven Rechts vor der Idee eines unabhängig von konkreten Individuen existierenden objektiven Rechts gegeben haben. Seit wann waren Menschen überhaupt dazu fähig, die Vielfalt individueller Rechtsverhältnisse abstrahierend als Konsequenz einer alle überwölbenden, einheitlichen, nicht schriftlich fixierten Rechtsordnung zu begreifen? Modernem Rechtsdenken fällt es sehr schwer, von der Existenz eines alle einzelnen Rechte umfassenden und legitimierenden objektiven Rechts abzusehen, mag dieses auch nur gewohnheitsrechtlicher Art sein.11 Dem steht unser heutiges Vorverständnis von Recht entgegen. Und daher geht man im Ungewissen 7 8 9 10

Ebd., Bd. 1, Nr. 36 (979). Ebd., Bd. 1, Nr. 157 (1102). Ebd., Bd. 1, Nr. 340 (1156) = MGH DD 10,1 Nr. 147. Vgl. dazu Dietmar Willoweit, Recht und Willkür. Rechtsgeschichtliche Annäherungen an den Begriff des Rechts, in: Rechtstheorie 43 (2012), S. 143 – 158. 11 Hermann Krause/Gerhard Köbler, Art. Gewohnheitsrecht, in: HRG , Bd. 2. 2. Aufl. Berlin 2012, Sp. 364 – 375 m. w. Nachw.

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auf die Suche und postuliert in den Gewohnheiten der fernen Vergangenheit ein objektives „Stück Weltordnung“, von der die sogenannten „Rechtsgenossen“ jener Epochen mutmaßlich gar nichts wussten. Die Dominanz subjektiver Rechte in den früh- und hochmittelalterlichen Quellen aber erklärt sich mit dem angedeuteten Szenario der historischen Rechtsgenese von selbst. Durch Landnahme und Usurpation, königliche und andere herrschaftliche Verleihungen oder Vereinbarungen entstandene Rechte waren schon existent, ehe sich die Rechtsordnung des fränkischen Reiches mit ihren Gerichten und ersten Gesetzen etablieren und durchsetzen konnte. Schon die Gerichtsurkunden des Merowingerreiches bezeugen fast ausschließlich Streitigkeiten über einzelne Rechte, vornehmlich an Liegenschaften.12

II. Es ließe sich einwenden, eine jedenfalls übereinstimmende Handhabung intersubjektiver Rechtsbeziehungen setze doch auch gemeinsame Rechtsvorstellungen voraus, denen die Eigenschaft objektiv gleichsam „geltenden“ Rechts dann auch nicht abgesprochen werden könne. Dass es ausdrücklich beschlossene abstrakte, generelle Regeln und in diesem Sinne „Gesetze“ gerade seit der fränkischen Zeit in großer Zahl gegeben hat, ist bekannt. Doch vor Gericht werden im Allgemeinen Sachen verhandelt, die mit dieser Gesetzgebung gar nichts zu tun haben. Unsere Frage lautet aber, in welchem Maße sich Gerichte in ihren Urteilen nicht nur vom Respekt vor den subjektiven Rechten der Prozessparteien, sondern auch von einem Geltungsanspruch objektiven Rechts leiten ließen. Einige allgemein anerkannte Rechtsüberzeugungen sind in den Gerichtsurkunden in der Tat zu erkennen und gelegentlich finden sich sogar ausdrückliche Bezugnahmen auf objektives Recht. Da ist zunächst die Existenz der Gerichte selbst, deren stets dinggenossenschaftliche Organisation mit ihren Eideshelfern und Gottesurteilen offenbar als allgemein verbindlich angesehen wurde.13 Aber dabei handelt es sich um Verfahrensrecht. Inhaltliche Maßstäbe der gerichtlichen Entscheidung, also „materielles“ objektives 12 MGH DMer Nr. 88 (657/73), 93 (659/660), 95 (660/673), 126 (682), 135 (692), 136 (692/693), 141 (694), 143 (694), 149 (697), 153 (702), 155 (709), 156 (709). 13 Jürgen Weitzel, Dinggenossenschaft und Recht. Untersuchungen zum Rechtsverständnis im fränkisch-­deutschen Mittelalter. Köln/Wien 1985 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 15/I–II), S. 198 – 214, 775 – 913; zusammenfassend ders., Die Bedeutung der Dinggenossenschaft für die Herrschaftsordnung, in: Gerhard Dilcher/Eva-­Marie Distler (Hrsg.), Leges – Gentes – Regna. Zur Rolle von germanischen Rechtsgewohnheiten und lateinischer Schrifttradition bei der Ausbildung der frühmittelalterlichen Rechtskultur. Berlin 2006, S. 351 – 366; Peter Oestmann, Wege zur Rechtsgeschichte: Gerichtsbarkeit und Verfahren. Köln/Weimar/Wien 2015, S. 37 – 42, 58 – 61.

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Recht, finden sich in den Gerichtsurkunden nur selten. So muss das Erfordernis des dreißigjährigen Besitzes in der Ingelheimer Gerichtsverhandlung von 876 und schon in merowingischer Zeit 14 auf die ebenso lange außerordentliche Ersitzungszeit des römischen Rechts zurückgeführt werden.15 Und immer wieder erwähnt die Forschung auch die Entscheidung Kaiser Ottos des Großen, den Streit um das Eintrittsrecht der Enkel an Stelle des vorverstorbenen erbberechtigten Vaters vor Gericht durch einen gerichtlichen Zweikampf zu beenden.16 Damit war eine wichtige erbrechtliche Norm mit generellem Geltungsanspruch geschaffen worden, die allerdings noch bis ins 16. Jahrhundert hinein umstritten war.17 Mehrfach bezeugt ist vor dem Königsgericht auch die Berufung auf das Beispruchsrecht der zukünftigen Erben, also deren notwendige Zustimmung zur Veräußerung von Liegenschaften durch den zukünftigen Erblasser als allgemein verbindliches Recht in Sachsen und anderswo.18 Das sind Einzelfälle objektiven materiellen Rechts in unseren Quellen. Man könnte hinzufügen: Das Prinzip, subjektive Rechte zu re­ spektieren, ist selbst schon ein objektiver Rechtssatz. Aber das ist insgesamt doch ein eher dürftiger Befund. Systematisch hat jedoch bisher noch niemand untersucht, wann und unter welchen Umständen im Mittelalter Gerichte ihren Urteilen ausdrücklich objektives Recht zugrunde legten, wann also der Respekt vor diesem allgemein geltenden Recht allmählich die irgendwie entstandenen subjektiven Rechte zu überlagern begann. Häufiger ist in den Quellen der allgemeine Hinweis auf sächsisches,19 schwäbisches,20 fränkisches Recht 21 oder noch unbestimmter auf das Recht des Landes 22 zu finden; auch die immer wieder anzutreffende Erwähnung örtlicher Gewohnheiten gehört hierher.23 Diese Quellenzeugnisse zeigen immerhin, dass es jetzt ein 14 MGH DMer Nr. 126 (682). 15 Thomas Finkenauer, Art. Ersitzung, in: HRG, Bd. 1. 2. Aufl. Berlin 2008, Sp. 1414 – 1416. 16 Urkundenregesten (wie Anm. 5), Bd. 1, Nr. 2 (938) = MGH Widukindi monachi Corbeiensis rerum gestarum Saxonicarum libri tres (Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum). Hannover 1935, Lib. II, 10 S. 73 f. Zum gerichtlichen Zweikampf vgl. ausführlich Wolfgang Schild, Art. Zweikampf, in: HRG, Bd. 5. 1. Aufl. Berlin 1998, Sp. 1835 – 1847 m. w. Nachw. 17 Christoph Becker, Art. Eintrittsrecht, in: HRG, Bd. 1. 2. Aufl. Berlin 2008, Sp. 1305 f. 18 Urkundenregesten (wie Anm. 5), Bd. 1, Nr. 53 (996), 99 (1051), 100 (1051?). 19 Ebd., Bd. 1, Nr. 54 (1027). 20 Ebd., Bd. 1, Nr. 347 (1157). 21 Ebd., Bd. 1, Nr. 54 (1027), 460 (1181). 22 Ebd., Bd. 1, Nr. 417 (1174), 521 (1190); Bd. 5, Nr. 21 (1317), 22 (1317), 35 (1318), 116 (1331), 399 (1341). In diesen Fällen aus dem 14. Jahrhundert wird der Bezug zum Landesrecht wegen zu berücksichtigender Fristen hergestellt. 23 Urkundenregesten (wie Anm. 5), z. B. Bd. 2: Die Zeit von Philipp von Schwaben bis Richard von Cornwall 1198 – 1272, Nr. 71 (1215), 87 (1217).

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Bewusstsein von der Existenz einer für größere Bevölkerungsgruppen verbindlichen Rechtsordnung gibt. Aber ihr Inhalt ist verschieden und nicht jedermann bekannt. In einem Liegenschaftsstreit sollten Schiedsrichter Recht sprechen nach dem rehten, als si ervaren hant in dem lant, da die gut gelegen sint.24 Das Reichsoberhaupt beruft sich in Einzelfällen oft auf seine kaiserlichen Rechte und dabei auf das römische Recht, so bekanntlich bei Majestätsverbrechen,25 aber auch bei anderen Gelegenheiten.26 Das Recht, einen Bischof einzusetzen, nimmt der Kaiser secundum iustitiam et consuetudinem imperii in Anspruch 27 und nicht anders versteht er die Belehnung des Grafen von Savoyen iuxta priscam imperii consuetudinem.28 Wenig überrascht auch die beginnende Berufung auf Normen des kanonischen Rechts.29 In weiteren Fällen erscheint die Rechtslage vor dem Königsgericht nur unbestimmt als nefas oder lex iniusta, aber dann doch generell als objektives Unrecht,30 während andere Verhältnisse ebenso objektiv als dem ordo iuris entsprechend charakterisiert werden.31 Zunehmend ist in den Urteilen des Königsgerichts – vor allem Kaiser Friedrichs  II. – auch die Tendenz zu erkennen, den Rechtsaussagen über den zu entscheidenden Fall hinaus generelle Verbindlichkeit zuzusprechen – oder umgekehrt, einen konkreten Rechtsfall zu simulieren, um mit der Autorität eines gerichtlichen Urteils eine allgemein verbindliche Norm zu verkünden.32 Aber im Verhältnis zur bekannten Gesamtzahl der Klagen bleiben alle diese Bezüge zur gerichtlichen Anerkennung objektiven Rechts doch eher peripher. Im Vordergrund stehen noch lange die gerichtlichen Bemühungen, den Streit um subjektive Rechte – welcher Herkunft auch immer – eingehend zu untersuchen und zu lösen, ohne dass dabei Normen objektiven Rechts helfen können. 24 Ebd., Bd. 5: Ludwig der Bayer und Friedrich der Schöne 1314 – 1347, Nr. 246 (1335). 25 Urkundenregesten (wie Anm. 5), z. B. Bd. 1, Nr. 277 (1149) und passim in Bd. 2. Ausführlich mit weiteren Nachweisen Rolf Lieberwirth, Art. Majestätsverbrechen, in: HRG, Bd. 3. 2. Aufl. Berlin 2016, Sp. 1194 – 1201. 26 Urkundenregesten (wie Anm. 5), Bd. 1, Nr. 390 (1165): Recht eines Klerikers, sein Gut noch auf dem Krankenbett ohne Zustimmung der Erben zu vergeben; Nr. 177 (1114): Recht des Kaisers, über jede Einöde frei verfügen zu dürfen. 27 Ebd., Bd. 2, Nr. 145 (1221), 147 (1221); vgl. auch Bd. 1, Nr. 400 (1167). 28 Ebd., Bd. 2, Nr. 28 (1207). 29 Ebd., Bd. 1, Nr. 23 (972), 58 (969/1001), 74 (1012), 316 (1152?). 30 Ebd., Bd. 1, Nr. 32 (976), 86 (1028), 72 (1014). 31 Ebd., Bd. 1, Nr. 270 (1149), 298 (1151). 32 Ebd., Bd. 2, Nr. 40 (1209): dass Kinder aus der Ehe eines kirchlichen Ministerialen mit einer freien Frau Kinder der Kirche sind; dass kirchliche Ministeriale keine Erb- oder Lehengüter veräußern dürfen; dass niemand ohne königliche Erlaubnis einen Zoll einrichten darf; Nr. 83 (1216): dass kein Fürstentum ohne Einverständnis des Fürsten und seiner Ministerialen auf jemand anders übertragen werden darf; vgl. ferner Nr. 59 (1214), 95 (1218), 97 (1218).

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III. Die späte Stauferzeit ist jene Epoche, in der erste Spuren der Rezeption des gelehrten Rechts in den Urkunden nicht mehr zu übersehen sind. Mit dem gelehrten Recht beginnt ein völlig neuartiges Rechtsdenken, das sich von vorneherein an vorgegebenen Normen orientiert, einerseits an aktuellen Gesetzen des Kirchenrechts, andererseits an den Textmassen des römischen Rechts, denen selbst und bald auch seinen Glossierungen und Kommentierungen eine gesetzesgleiche Autorität zugesprochen wird. Es lohnt sich, diese elementarste Grundlage der Rezeption zu bedenken, ehe man den in der Wissenschaft einst so lebhaft empfundenen Gegensatz von „römisch“ und „germanisch“ oder den neueren Aspekt der „Verwissenschaftlichung“ betont. Es besteht ein fundamentaler Unterschied zwischen einer Urteilsfindung, die überlieferte Rechtsverhältnisse in weitgehend noch schriftlosen Gesellschaften zu ergründen versucht, und einem Rechtsdenken, das sich an autoritative Rechtstexte gebunden weiß.33 Urteiler in der durch Gesetze noch nicht geregelten Welt müssen sich darum bemühen, die Wahrnehmung bestehender Rechte aufzuklären, sie anerkennen oder verwerfen. Juristen des gelehrten Typs dagegen versuchen, über die geltend gemachten Ansprüche durch Subsumtion eines festzustellenden Sachverhalts unter die ihnen zur Verfügung stehenden Normen zu entscheiden. Das Verständnis des Rechts überhaupt beginnt sich damit zu wandeln. Das spiegelt sich auch in der Rechtssprache wider. Die Forschung hat schon vor Jahrzehnten darauf hingewiesen, dass dem Wort „ius“ in älterer Zeit die Bedeutung einer subjektiven Berechtigung zukommt.34 Erst später setzt sich im Mittelalter auch „ius“ im Sinne des objektiven Rechts durch. Eben diesen Prozess hatte das Rechtswort „ius“ auch schon in der Antike durchlaufen: von der „erlaubten Freiheitsbetätigung“ und damit subjektiven Berechtigung zum objektiven Recht spätestens der römischen Zwölftafelgesetze.35 Unter den einwandernden Germanen, die ihre Rechte unter sich ausmachten und lange Zeit nicht schriftlich fixierten,

33 Vgl. auch Jürgen Weitzel, Gewohnheitsrecht und fränkisch-­deutsches Gerichtsverfahren, in: Gerhard Dilcher/Heiner Lück/Reiner Schulze/Elmar Wadle/Jürgen Weitzel/Udo Wolter (Hrsg.), Gewohnheitsrecht und Rechtsgewohnheiten im Mittelalter. Berlin 1992 (Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte, Bd. 6), S. 67 – 86. 34 Karl Kroeschell, Recht und Rechtsbegriff im 12. Jahrhundert, in: Probleme des 12. Jahrhunderts. Sigmaringen 1968 (Vorträge und Forschungen, Bd. 12), S. 309 – 335, 314 – 318; ähnlich, wenn auch einschränkend Gerhard Köbler, Das Recht im frühen Mittelalter. Untersuchungen zu Herkunft und Inhalt frühmittelalterlicher Rechtsbegriffe im deutschen Sprachgebiet. Köln/Wien 1971 (Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 7), S. 226. 35 Gottfried Schiemann, Art. Ius, in: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Ungekürzte Sonderausgabe o. J., Bd. 6. Stuttgart 2003/2012, Sp. 89 – 99.

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wiederholte sich diese Entwicklung von einem lediglich subjektiven zum objektivierenden Rechtsverständnis. Aus diesem Wandel aber ist im späten Mittelalter keineswegs sogleich eine ganz andere Rechtsprechungskultur hervorgegangen. Die gelehrten Juristen mit ihren opulenten Codices und akademischen Schriften lebten lange Zeit in einer eigenen Welt, nördlich der Alpen aktiv vor allem in der Kirche und in diplomatischen Missionen, jedoch noch kaum interessiert an den Rechtsstreitigkeiten des Adels und des gemeinen Mannes. Diese schriftgebundene, autoritätsgläubige Gelehrsamkeit tangierte daher die einheimische Rechtsprechung am Königshof und die der Schöffen in Stadt und Land zunächst nicht oder nur am Rande. Die Rechtsmitteilungen und Sprüche des Magdeburger Schöffenstuhles zum Beispiel lassen zwar klare Überzeugungen über charakteristische Merkmale des Magdeburger Rechts als einer in sich stimmig gedachten Rechtsmaterie erkennen, die unabhängig vom einzelnen Rechtsstreit existiert. Aber ausdrückliche Bezugnahmen auf schriftlich fixiertes Recht, sei es des sächsischen Rechtskreises oder des gemeinen Rechts, sind in den Rechtstexten aus Magdeburg noch außerordentlich selten und fast ausschließlich seit dem letzten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts bekannt.36 Dazu passt das Bild der Gesetzgebung zeitgenössischer Landesherren. Sie gewann ihre Dynamik mit den Policey- und Landesordnungen. Aber diese hatten weniger die Gerichte als die Untertanen im Blick. Und soweit der frühmoderne Obrigkeitsstaat schon seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert überhaupt mit Gesetzen das überkommene Recht zu ändern versuchte, ist über deren Widerhall in der Gerichtspraxis zunächst wenig zu vermelden.37 Zwar beginnt im 16. Jahrhundert die Orientierung juristischer Entscheidungen auch deutscher Praktiker an der Reichs- und Landesgesetzgebung, wie vor allem die Akten des Reichskammergerichts zeigen, aber auch in

36 Friedrich Ebel (Hrsg.), Magdeburger Recht, Bd. I: Die Rechtssprüche für Niedersachsen. Köln 1983, Eisleben Nr. 10 (Anfang 15. Jahrhundert), S. 279; Bd. II, 1 – 2: Die Rechtsmitteilungen und Rechtssprüche für Breslau. Köln 1989 – 1995, Nr. 648 (1492), 654 (1496), 660 (1501), 665 (1503), 667 (1504), 679 (1513), 682 (1515), 686 (1522), 691 (1525). 37 Dietmar Willoweit, Gesetzgebung und Recht im Übergang vom Spätmittelalter zum frühneuzeitlichen Obrigkeitsstaat, in: Okko Behrends/Christoph Link (Hrsg.), Zum römischen und neuzeitlichen Gesetzesbegriff. 1. Symposion der Kommission „Die Funktion des Gesetzes in Geschichte und Gegenwart“ vom 26. u. 27. April 1985. Göttingen 1987 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Philologisch-­Historische Klasse, 3. Folge, Bd. 157), S. 123 – 146 (hier S. 131 f.), ND in: ders., Staatsbildung und Jurisprudenz (wie Anm. 2), Bd. 2, S. 85 – 108 (hier S. 87). Dazu passt in Hinblick auf die vom Richter heranzuziehenden Rechtstexte, dass sich „ein präziser und einheitlicher Begriff der Interpretation […] bis in das frühe 17. Jahrhundert hinein nicht entwickelt [hat]“, Jan Schröder, Recht als Wissenschaft. Geschichte der juristischen Methodenlehre in der Neuzeit (1500 – 1933). 2. Aufl. München 2012, S. 56.

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Kursachsen zu beobachten ist.38 Doch diese nun allmählich zunehmenden Zitate objektiven Rechts spiegeln noch nicht jenes tiefgreifend andersartige Verständnis des Richteramtes wider, das zwei- und dreihundert Jahre später den Richter als „Mund des Gesetzes“ oder gar „Subsumtionsautomaten“ begreifen wird.39 Denn noch lange ist es der Streit um individuelle Rechtspositionen, der zum Beispiel die verschlungenen Wege der umfangreichen Konsiliartätigkeit deutscher Juristenfakultäten begleitet und lenkt, nicht etwa das Ziel, den Gesetzen Respekt zu verschaffen. Diesen Rechtsgutachten liegt das methodische Konzept der Rationes dubitandi, Rationes decidendi und Confutatio rationum dubitandum zugrunde. Nach diesem werden in Hinblick auf den zu beurteilenden Fall jeweils abzulehnende und zutreffende juristische Argumente gegenübergestellt und abgewogen. Dabei bleibt der Hinweis auf eine normative Regelung im Prinzip ein Argument unter anderen, das für den einen Fall maßgebend sein kann, für einen anderen aber zu verwerfen ist.40 Wie sich diese Methode im Einzelfall und gesamtgesellschaftlich auf die Beurteilung der zahllosen Privilegien, auf lokale Statuten und reichsrechtliche Verfassungsprinzipien ausgewirkt hat, wissen wir bisher nicht genau. Schon ein flüchtiger Blick in die Konsilien zum Beispiel der Marburger Juristenfakultät zeigt aber, dass die normative Verbindlichkeit autoritativer Rechtstexte – also von Privilegien und Gesetzen – nicht größer gewesen zu sein scheint als diejenige anerkannter juristischer Lehrsätze.41 Auf diese Weise eröffneten sich flexible Argumentationsspielräume für die Erörterung und Bewertung der verschiedenartigsten Berechtigungen. Wie ein Symbol für die Überlebenskraft überkommener individueller Rechte konnte sich die Geltendmachung subjektiver Rechte noch lange auf die Ausübung seit unvordenklicher Zeit stützen, bis zum Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches am 1. Januar 1900 und – sofern vorher entstanden – bis heute.

38 Peter Oestmann, Rechtsvielfalt vor Gericht. Rechtsanwendung und Partikularrecht im Alten Reich. Frankfurt a. M. 2002 (Rechtsprechung. Materialien und Studien, Bd. 18); Steffen Wunderlich, Über die Begründung von Urteilen am Reichskammergericht im frühen 16. Jahrhundert. Wetzlar 2010 (Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung, Bd. 38), S. 16 f.; Willoweit, Gesetzgebung und Recht (wie Anm. 37), S. 94. 39 Regina Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat? Zur Justiztheorie im 19. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1986 (Rechtsprechung. Materialien und Studien, Bd. 1). 40 Ulrich Falk, Consilia. Studien zur Praxis der Rechtsgutachten in der frühen Neuzeit. Frankfurt a. M. 2006 (Rechtsprechung. Materialien und Studien, Bd. 22). 41 Consiliorum sive responsorum doctorum et professorum Facultatis Juridici in Academia Marpurgensi Vol. I. Marburg 1606, z. B. Cons. V, IX u. ö.

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IV. Unsere Überlegungen könnten an dieser Stelle in die abschließende Feststellung einmünden, dass jedenfalls mit der Vollendung des Gesetzgebungsstaates um 1800 eine neue Epoche begonnen hat – mit den großen Kodifikationen Preußens 1794, Frankreichs 1804 und des Habsburgerreiches 1811, nicht zuletzt auch mit den nun überall regelmäßig publizierten Gesetzesblättern. Die umfassenden Gesetzgebungsaktivitäten des modernen Staates haben zunehmend die Gestaltung der öffentlichen Ordnung im Blick, also allgemeine Interessen, die einer Regelung durch jedermann bindende, eben objektive Normen bedürfen. Die Dominanz und Quantität der von den Staatsgewalten in Kraft gesetzten Gesetzesflut entfaltete seit der Wende zum 20. Jahrhundert eine solche Wirkung, dass Juristen ebenso wie andere Bürger unter dem Begriff des „Rechts“ bald wie selbstverständlich nur dessen objektive Erscheinungsform verstanden. Dazu trug auch die strikte Bindung der Gerichte an das Gesetz und dessen Legitimation durch einen demokratisch gewählten Gesetzgeber wesentlich bei. Ohne Zweifel galt nun endgültig der Respekt des Richters vor dem Recht in erster Linie dem objektiven, dem Gesetzesrecht. Dieses, gegenüber dem Rechtsdenken noch des 18. Jahrhunderts gewandelte Rechtsverständnis hat längst auch in die juristische Literatur Eingang gefunden. Lehrbücher der Rechtstheorie definieren das Recht heute als eine „Summe der geltenden Rechtsnormen“.42 Hans Kelsen, der bedeutendste Theoretiker einer solchen, allein die Normen analysierenden Rechtslehre, hat daher dem Gedanken des subjektiven Rechts nur „ideologische“ Bedeutung beigemessen.43 Nach Kelsen hängt die Existenzberechtigung subjektiver Rechte einzig und allein vom objektiven Recht ab. Dieses habe der Richter zu respektieren und danach die geltend gemachten subjektiven Rechte zu beurteilen. Und doch ist dies selbst für das 20. Jahrhundert nur die halbe Wahrheit. Denn schon die Kodifikationen der Aufklärungsepoche verdanken ihre Entstehung dem dringenden Anliegen, gegenüber der nur noch säkularen und damit übermächtig gewordenen Staatsgewalt den privaten Besitzstand zu wahren. Zentrales Anliegen des Code Civil ist bekanntlich der Schutz des Eigentums.44 Auch das auf den ersten Blick so ganz anders wirkende Allgemeine Landrecht für die preußischen

42 Bernd Rüthers unter Mitarbeit von Axel Birk, Rechtstheorie. Begriff, Geltung und Anwendung des Rechts. 3. Aufl. München 2007, Rn. 53; Klaus Adomeit/Susanne Hähnchen, Rechtstheorie für Studenten. 6. Aufl. Heidelberg 2012, Rn. 6 u. passim; Thomas Vesting, Rechtstheorie. 2. Aufl. München 2015, Rn. 30 – 33. 43 Hans Kelsen, Reine Rechtslehre. Studienausgabe der 1. Aufl. 1934. Tübingen 2008, S. 43. 44 Jean-­Louis Halpérin, Art. Code Civil, in: HRG, Bd. 1. 2. Aufl. Berlin 2008, Sp. 861 – 866.

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Staaten hatte dasselbe Ziel: den Schutz der wohlerworbenen Rechte.45 Diese iura quaesita sind eine wichtige Brücke, die von der alteuropäischen Gesellschaft zum modernen Rechtsstaat führt. Denn dieser hat die liberale Eigentumsordnung ja nicht aus dem Nichts geschaffen, wie Kelsens Normlogik nahelegt, sondern die zugrunde liegenden subjektiven Rechte vorgefunden und geschützt. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang auch an die Durchführung der bäuerlichen Grundentlastung in Preußen und in den Rheinbundstaaten, die zwischen schützenswerten „privaten“ Rechten des Adels und seinen aufzuhebenden „öffentlichen“ Berechtigungen zu unterscheiden versuchte.46 Die Verfassungen der deutschen Staaten des 19. Jahrhunderts haben von Anbeginn nicht nur dem privaten Eigentum, sondern den subjektiven privaten Rechten der Bürger überhaupt einen hohen Rang eingeräumt. So heißt es in der Verfassungsurkunde des Königreichs Bayern von 1818: Der Staat gewährt jedem Einwohner Sicherheit seiner Person, seines Eigenthums und seiner Rechte.47 Auch dort, wo das Verfassungsgesetz nicht so ausdrücklich die privaten subjektiven Rechte unter seinen Schutz gestellt hat, haben ihn die Gerichte doch gewährt. Die Einübung in die Rechtsstaatlichkeit der konstitutionellen Verfassungsstaaten des 19. Jahrhunderts war getragen vom gemeinen Recht, das seit jeher seine Aufgabe darin gesehen hatte, den Grund und die Voraussetzungen individueller Rechte festzustellen. Dass daneben auch die Genese politischer Bürgerrechte begann und im Grundrechtekatalog der Paulskirchenverfassung einen ersten Höhepunkt erreichte, ist für unser Thema vorerst nur am Rande festzuhalten – und dennoch von symptomatischem Gewicht: die Rechtsordnung insgesamt, und daher selbst das Verfassungsrecht, gewinnt ihren Sinn aus der Tatsache, dass sie in der Lage ist, die Interessen und Besitzstände der Angehörigen eines ganzen Volkes, also einer unübersehbaren Menschenmenge, zu regeln und zu bewahren. Aus der Perspektive unseres Themas stellt sich die Frage, ob nicht sogar die Anstrengungen der Gesetzgebung weiterhin den Hauptzweck hatten und haben, neben der öffentlichen Ordnung das Gewirr der subjektiven Rechte sowohl zu schützen wie auch zu begrenzen. 45 Dietmar Willoweit, Die bürgerlichen Rechte und das gemeine Wohl. Das rechtspolitische Profil des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten von 1794, in: Gemeinwohl – Freiheit – Vernunft – Rechtsstaat. 200 Jahre Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten. Symposion der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, 27.–29. Mai 1994. Berlin/New York 1995, S. 173 – 189, ND in: ders., Staatsbildung und Jurisprudenz (wie Anm. 2), Bd. 2, S. 571 – 585. 46 Zusammenfassend Dietmar Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Frankenreich bis zur Wiedervereinigung Deutschlands. 7. Aufl. München 2013, § 28 Rn. 12 – 14 m. w. Nachw. 47 Titel IV § 8, vgl. Michael Kotulla (Hrsg.), Deutsches Verfassungsrecht 1806 – 1918, Bd. 2: Bayern. Berlin 2007, 1387 – 1407.

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V. Unbeirrt von den rechtspolitischen Vorgaben des Gesetzes hat das Reichsgericht schon in den ersten Jahren nach Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) subjektive Rechte „entdeckt“ und geschützt, die dem Gesetzgeber entweder nicht regelungsbedürftig erschienen oder noch ganz unbekannt waren. Zu den ersteren, nicht ausdrücklich geregelten Ansprüchen gehören solche aus der Verletzung einer Verkehrssicherungspflicht. Das BGB erwähnt sie nicht. Ein Oberlandesgericht (OLG) hatte daher doziert, daß aus reichsrechtlichen Bestimmungen über das Eigentum nicht (unmittelbar) die Verpflichtung, für den verkehrssicheren Zustand eines dem öffentlichen Verkehr überlassenen Weges zu sorgen, sich entnehmen läßt. Das Reichsgericht hätte demgegenüber darauf hinweisen können, dass nach damals schon allgemein herrschender Rechtsüberzeugung der deliktsrechtliche Schadensersatzanspruch aus § 823 Absatz 1 BGB auch wegen einer Unterlassung der zum Handeln verpflichteten Person begründet sein konnte. Die Richter des höchsten deutschen Gerichts bemühten aber eine derart rechtspositivistische Argumentation erst gar nicht, sondern beriefen sich ausdrücklich auf den bisherigen Rechtszustand […] des gemeinen Rechts, das Ansprüche aus Verletzung einer Verkehrssicherungspflicht seit langem anerkannt hatte.48 Nicht das Gesetz, aus dem man den Anspruch erst mit weiteren Argumentationsschritten hätte herauslesen müssen, motivierte die Richter zu ihrer Entscheidung, sondern die Anerkennung solcher Schadensersatzansprüche seit jeher als umfassender Schutz der persönlichen Unversehrtheit. Wirklich kreativ erwies sich das Reichsgericht schon 1902 mit der Erfindung des bis dahin völlig unbekannten subjektiven Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb. Zwar gehörten zu den deliktsrechtlich geschützten „sonstigen Rechten“ im Sinne des § 823 Absatz 1 BGB nicht die sämtlichen […] sog. Persönlichkeits- oder Individualrechte […]. Ein bestehender selbständiger Gewerbebetrieb aber mag, wenigstens insoweit, als er durch positive Gesetzesvorschrift, namentlich durch das Gesetz zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbes vom 27. Mai 1896, besonders geschützt ist, als ein wohlerworbenes Recht anzusehen sein.49 Diese Bemerkung lässt erkennen, wie sich das Reichsgericht die Entstehung dieses subjektiven Rechts als ein „wohlerworbenes“ vorgestellt hat: nämlich als einen tatsächlichen Prozess, in dem die bloße „freie Erwerbstätigkeit“ „bereits“ zur „Einrichtung“ und 48 Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen (künftig: RGZ) (23. Februar 1903), Bd. 54, S. 53 – 60 (hier S. 56); Gottfried Schiemann, §§ 823 – 830, 840, 842 – 853. Unerlaubte Handlungen (Deliktsrecht), in: Mathias Schmoeckel/Joachim Rückert/Reinhard Zimmermann (Hrsg.), Historisch-­kritischer Kommentar zum BGB (künftig: HKK), Bd. 3: Schuldrecht: Besonderer Teil. §§ 433 – 853, 2. Teilbd.: §§ 657 – 853. Tübingen 2013, Rn. 96 f. 49 RGZ (14. Dezember 1902), Bd. 56, S. 271 – 287 (hier S. 275).

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„Ausübung“ eines Betriebes und damit zu einem rechtsbegründenden Tatbestand geführt habe.50 Genau besehen, ist diese richterliche Rechtsfortbildung nach dem Selbstverständnis des Gerichts nicht aus einer abwägenden Bewertung der Interessenlage hervorgegangen, sondern von den wirtschaftenden Rechtssubjekten durch „Einrichtung“ und „Ausübung“ des Betriebes selbst erzeugt worden.51 Noch im Kommentar der Reichsgerichtsräte zum BGB aus der Weimarer Zeit heißt es, das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb werde als verkörperter Wille zu den deliktsrechtlich geschützten sonstigen Rechten gezählt, im Gegensatz zur bloßen Freiheit der wirtschaftlichen und gewerblichen Willensbetätigung.52 Noch tiefergehend hat das Reichsgericht ebenfalls schon vor dem Ersten Weltkrieg das Rechtsschutzsystem des Bürgerlichen Gesetzbuchs erweitert, als es einen vorbeugenden, verschuldensunabhängigen Unterlassungsanspruch zur Abwehr künftiger rechtswidriger Eingriffe in alle vom Recht geschützten Lebensgüter und Interessen nicht dinglichen und ausschließlichen, sondern rein persönlichen Charakters anerkannte, um insbesondere gegenüber ehrverletzenden und kreditgefährdenden Äußerungen Schutz zu bieten, wenn eine Wiederholung drohte.53 Die Rechtsprechung habe diese Klage einem Bedürfnisse des Rechtsverkehrs entgegenkommend gewährt.54 Auch in diesem Falle rechtsfortbildender Judikatur hat das Reichsgericht allein aus der Perspektive dessen entschieden, der Rechtsschutz und damit der Sache nach die Anerkennung eines subjektiven Rechts begehrt, obwohl das Gericht die Anerkennung eines Allgemeinen Persönlichkeitsrechts noch ablehnte. In ihrer ausschließlichen Orientierung am Interesse des zu schützenden Rechtssubjekts hat diese Rechtsprechung einen wesentlichen Beitrag zum fortdauernden Schutz und Ausbau der subjektiven Rechtssphäre geleistet. Denn die weitere Geschichte der richterlichen Rechtsfortbildung im 20. Jahrhundert ist in erster Linie als die immer mutiger vorangetriebene Ausdehnung des Kreises der den Bürgern zustehenden subjektiven Rechte zu charakterisieren. Die 50 RGZ (27. Februar 1904), Bd. 58, S. 24 – 31 (hier S. 29); Schiemann, §§ 823 – 830, 840, 842 – 853 (wie Anm. 48), Rn. 95. 51 Zur höchstrichterlichen Anerkennung kaufmännischer Rechtsüberzeugungen und Rechtsgewohnheiten schon durch das Reichskammergericht und den Reichshofrat vgl. Anja Amend-­Traut, Die Akten und Beilagen von Reichskammergericht und Reichshofrat als Quellen des Handelsrechts, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 37 (2015), S. 177 – 205 (hier S. 179 f., 183 – 185, 187 – 193). 52 Friedrich Oegg, § 823, in: Das Bürgerliche Gesetzbuch mit besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des Reichsgerichts/Kommentar der Reichsgerichtsräte zum BGB (künftig: RGRK), Bd. 2. 6. Aufl. Berlin 1928, S. 560, Anm. 9. 53 Oegg, vor § 823, in:  RGRK (wie Anm. 52), S. 546, Anm.  III; RGZ (5. Januar 1905), Bd. 60, S. 6 – 9; Schiemann, §§ 823 – 830, 840, 842 – 853 (wie Anm. 48), Rn. 91. 54 Oegg, vor § 823, in: RGRK (wie Anm. 52), S. 546, Anm. III.

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vom Reichgericht so lange vermiedene Anerkennung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts als „sonstiges Recht“ im Rahmen des § 823 Absatz 1 BGB bereitete dem Bundesgerichtshof keine nennenswerte Mühe mehr.55 Die Produzentenhaftung hat mit der durch die Beweislastumkehr in Gang gesetzten Dynamik das Erfordernis des Verschuldens marginalisiert 56 und im Produkthaftungsgesetz – mit europäischer Unterstützung – von 1989 aufgegeben. Es überraschte dann schon nicht mehr, dass sich der Gesetzgeber 1979 beeilte, Schadensersatzansprüche auch wegen entgangener Urlaubsfreuden zu gewähren, nachdem zunächst Instanzgerichte solche ohne jede gesetzliche Grundlage zugesprochen hatten.57 Diese Beispiele mögen genügen, um eine Rechtsentwicklung in Erinnerung zu rufen, die man verallgemeinernd als Ausweitung der individuellen Schutzbedürftigkeit bezeichnen könnte. Sie hat mit der Schaffung eines besonderen Verbraucherprivatrechts auffallende Parallelen auch im Vertragsrecht und ist inzwischen als eine gesamteuropäische Entwicklungstendenz zu erkennen. In jüngster Zeit hat der Bundesgerichtshof (BGH ) bekanntlich mögliche Amtshaftungsansprüche von Eltern wegen nicht rechtzeitig zur Verfügung gestellter Kinderbetreuungsplätze im Gegensatz zum OLG Dresden bejaht, weil Verdienstausfallschäden der Eltern in den Schutzbereich der Amtspflicht gemäß § 839 Absatz 1 BGB fielen; das Verschulden des Amtsträgers sei durch finanzielle Engpässe der öffentlichen Hand nicht ausgeschlossen und nach dem Beweis des ersten Anscheins zu beurteilen.58 Doch die im Kinderförderungsgesetz von 2008 vorgesehenen Ergänzungen des Sozialgesetzbuches haben zwar einen „Anspruch“ des Kindes auf frühkindliche Förderung in einer Tageseinrichtung geschaffen und die Motive dafür in das Gesetz aufgenommen.59 Aber ein Schadensersatzanspruch der Eltern bei Nichtbeachtung des ja dem Kinde zustehenden Anspruchs seitens der Behörden ist im Gesetz nicht vorgesehen. Die ganze Regelung enthält eine objektive Verpflichtung der kommunalen Körperschaften, bei deren Verletzung allenfalls ein Schadensersatzanspruch des Kindes wegen Amtspflichtverletzung denkbar wäre. Wenn der BGH nun auch den Eltern einen eigenen Anspruch zubilligt, dann ist das nur ein weiterer Beleg für die historische Tendenz, dem begehrten Rechtsschutz individueller Interessen – hier der Eltern – entgegenzukommen und damit wiederum subjektive Rechte auch bisher nichtexistierender Art einzuführen. 55 Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen (künftig: BGHZ) (14. Februar 1958), Bd. 26, S. 349 – 359 (hier S. 353); Schiemann, §§ 823 – 830, 840, 842 – 853 (wie Anm. 48), Rn. 121 f. 56 BGHZ (26. November 1968), Bd. 51, S. 91 – 108; Schiemann, §§ 823 – 830, 840, 842 – 853 (wie Anm. 48), Rn. 132 – 134. 57 Thomas Simon, §§ 651a–651m. Reisevertrag, in: HKK, Bd. 3 (wie Anm. 48), 1. Teilbd.: §§ 433 – 656, Rn. 74 f. 58 BGHZ (20. Oktober 2016), Bd. 212, S. 303 – 318. 59 § 24 Abs. 2, § 22 Abs. 2 Sozialgesetzbuch (SGB) VIII.

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VI. In diesem Zusammenhang darf natürlich die rechtsschöpferische Kraft des Bundesverfassungsgerichts nicht unerwähnt bleiben, das tagtäglich mit dem Schutz von Grundrechten, also individuellen Rechten besonderen Ranges zu tun hat. Auch bei diesem Gericht gehört die Ausweitung des dem Bürger zu gewährenden Rechtsschutzes längst zur Routine. Manche Begründung des Gerichts führt annähernd zu einem déja-­vu-­Erlebnis. Wie das Reichsgericht entdeckt auch das Bundesverfassungsgericht die Wurzeln neuer subjektiver Rechte nach dem Vorbild der wohlerworbenen Rechte in ihrem eigentumsähnlichen Charakter wie auch im Verhalten des Individuums selbst. So hat es in den Schutz des Eigentums gemäß Artikel 14 Grundgesetz (GG) Ansprüche aus der gesetzlichen Rentenversicherung deshalb einbezogen, weil diese historisch von jeher eng mit dem Eigentumsgedanken verknüpft waren und ihr Umfang durch die persönliche Arbeitsleistung des Versicherten mitbestimmt wird.60 Dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit gemäß Artikel 2 Absatz 1 GG in Verbindung mit dem Schutz der Menschenwürde gemäß Artikel 1 GG entnahm das Bundesverfassungsgericht das neue Grundrecht auf „informationelle Selbstbestimmung“.61 Denn das in diesen Artikeln geschützte Allgemeine Persönlichkeitsrecht umfaßt […] auch die aus dem Gedanken der Selbstbestimmung folgende Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden […]. Individuelle Selbstbestimmung setzt […] voraus, daß dem Einzelnen Entscheidungsfreiheit über vorzunehmende oder zu unterlassende Handlungen […] gegeben ist, dies freilich nicht schrankenlos, weil der Einzelne […] eine sich innerhalb der sozialen Gemeinschaft entfaltende, auf Kommunikation angewiesene Persönlichkeit ist.62 Ähnlich wie einst das Reichsgericht aus dem vom Einzelnen selbst geschaffenen eingerichteten und ausgeübten Gewerbe ein subjektives Recht herleitete, so beurteilt nun das Bundesverfassungsgericht das Wissen eines Menschen über sich selbst als ein seiner Selbstbestimmung unterliegendes Recht, sogar als ein Grundrecht, aber natürlich – wie alle subjektiven Rechte – im Rahmen der sich demokratisch organisierenden Gesellschaft. Die tatbestandlichen Voraussetzungen des neuen Rechts – seine Daten – schafft der Berechtigte selbst, wie sich an der von den Richtern gebrauchten Semantik ablesen lässt. Wir halten die fortdauernde Anerkennung bisher unbekannter subjektiver Rechte durch das Bundesverfassungsgericht oder ein anderes höchstes Bundesge 60 Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (künftig: BVerfGE) (28. Februar 1980), Bd. 53, S. 257 – 313 (hier S. 290 f.). 61 BVerfGE (15. Dezember 1983), Bd. 65, S. 1 – 71. 62 Ebd., S. 42 f.

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richt als „Rechtsfortbildung“ längst für so selbstverständlich, dass sie uns weniger spektakulär als geradezu banal erscheint. Die Effizienz einer Rechtsordnung besteht wohl weniger in der Existenz perfekter gesetzlicher Regelungen als vielmehr in einem von der Gesetzgebung nur unterstützten, permanenten Prozess der gerichtlichen Anerkennung und Durchsetzung subjektiver Rechte. Insofern unterscheidet sich die Rechtsgeschichte der Gegenwart nicht gänzlich von der des Mittelalters. Mit Rücksicht auf das neuzeitliche Prinzip der Gewaltenteilung erscheint uns zwar die Dynamik der richterlichen Rechtsfortbildung als ausgesprochen problematisch, weil systemfremd.63 Die geschilderte Entwicklung mit der zunehmenden Anerkennung neuer subjektiver Rechte bietet aber vielleicht eine Erklärung, um auch die viel diskutierte Ausuferung der Rechtsprechung im 20. Jahrhunderts besser zu verstehen. Auf der uralten Grundlage des seit jeher respektierten Schutzes wohlerworbener Rechte mit dem Eigentum als ihrem Kern erscheint das Wachstum der subjektiven Rechte nur konsequent, seitdem sich die gesellschaftlichen Verhältnisse mit Bevölkerungswachstum und Industrialisierung sowie neuen Kommunikations- und Informationstechnologien in ungeahnter Weise verdichtet haben. In kaum noch überschaubaren „Netzwerken“ verortet, muss der Einzelne offenbar durch eine zunehmende Intensivierung des individuellen Rechtsschutzes abgesichert werden. Das gröbere Instrument der Gesetzgebung scheint dafür nicht mehr auszureichen. So schlägt sich die geschichtliche Tendenz, den Umfang des individuellen Rechtsschutzes zu beobachten und zu ergänzen, in einer äußerst kreativ voranschreitenden Rechtsprechung nieder. Sie ist einerseits kritisch zu beobachten, andererseits als ein historischer Prozess zu begreifen.

VII. Der Respekt des Richters vor dem Recht war seit dem frühen Mittelalter insofern einem erheblichen Wandel unterworfen, als die Gerichte bei ihren Entscheidungen in der Neuzeit neben dem gewohnten Schutz individueller Rechte die Autorität des gemeinen Rechts und mehr und mehr auch die der staatlichen Gesetze zu beachten und zu berücksichtigen hatten. Der Geltungsanspruch der Gesetze steht ganz außer Frage. Doch daneben blieben die Rechte des Einzelnen in seiner Lebenswelt ein stets zu respektierender Maßstab, an dem sich die Gerichte in ihren Entscheidungen orientierten. Und dies schon unmittelbar nach dem Inkrafttreten der umfassenden Kodifikation des Bürgerlichen Rechts im BGB und mit einem 63 Bernd Rüthers, Die heimliche Revolution vom Rechtsstaat zum Richterstaat. 2. Aufl. Tübingen 2016; Dietmar Willoweit, Rechtsprechung und Staatsverfassung. Zur Geschichte und Gegenwart einer ambivalenten Beziehung, in: Juristenzeitung 2016, S. 429 – 434.

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erneuten Innovationsschub bald nach dem Inkrafttreten der im Grundgesetz verkörperten Verfassungsordnung. Bei aller notwendigen Kritik an der immer wieder weit ausgreifenden Rechtsschöpfung der höchstrichterlichen Judikatur ist daher der rechtsgeschichtliche Befund zu berücksichtigen, dass seit jeher der dem Einzelnen zu gewährende Rechtsschutz das wichtigste Regulativ des Rechts in den Händen des Richters gewesen ist. Da wir alle davon profitieren, möchten wir in dieser Ausweitung des individuellen Rechtsschutzes gerne einen Beitrag zum Gemeinwohl sehen – verstanden als das Wohl der einzelnen Bürger. Doch im Hinblick auf die in der Gesellschaft erhobenen Forderungen nach Anerkennung weiterer Grundrechte sind Zweifel erlaubt, ob dieser Weg nicht in eine Sackgasse führt. Stehen zum Beispiel die Wünsche auf freien Informationszugang, auf Bestimmung der sexuellen Identität, auf Mobilität für jedermann, auf ein selbstbestimmtes Lebensende, auf spezifische Kindergrundrechte und andere erst einmal als Grundrechte im Grundgesetz, dann werden damit die politischen Gestaltungsräume eingeengt und zukünftige Generationen an die Kette heutiger Mehrheitsentscheidungen gelegt. Jedes neue Grundrecht begrenzt auch die Spielräume des demokratischen Gesetzgebers. Auch der tief in unserem Rechtsdenken verwurzelte individuelle Rechtsschutz bedarf daher unter der Herrschaft des demokratischen Prinzips immer wieder einer politischen Bewertung – weil der Respekt des Richters vor dem Recht nicht nur den subjektiven Rechten, sondern auch der Freiheit des Gesetzgebers Rechnung zu tragen hat.

Peter Oestmann

Zur Typologie frühneuzeitlicher Gerichte – einige norddeutsche Schlaglichter Dieser Überblicksbeitrag versteht sich weniger als Forschung, sondern eher als programmatischer Denkanstoß. Deswegen ist der Text knapp und meinungsfreudig gehalten. Der Ausgangspunkt ist die bekannte Erfolgsgeschichte: Seit über 30 Jahren beschäftigt sich die Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung mit der höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich. Beginnt man mit der Frankfurter Antrittsvorlesung von Bernhard Diestelkamp von 19681 oder mit der Dissertation von Wolfgang Sellert von 1965,2 steht das Reichskammergericht inzwischen seit etwa 50 Jahren im Mittelpunkt des Interesses.3 Der Reichshofrat rückte erst später ins Blickfeld.4 Mit der zunehmenden Erschließung der Reichshofratsakten in Wien 5 verringert sich jedoch das Gefälle zwischen beiden Forschungsständen immer mehr. Über beide Reichsgerichte weiß man nun viel. Dieser erhebliche Fortschritt bei der verfügbaren Quellengrundlage schärft unsere Sicht auf die höchste Gerichtsbarkeit in faszinierender Weise. Zugleich besteht hier eine Gefahr, von der nur selten die Rede ist. Der große wissenschaftliche Erfolg der Arbeiten zur Höchstgerichtsbarkeit führt nämlich zu 1 Als Aufsatz erst mit mehrjähriger Verspätung erschienen: Bernhard Diestelkamp, Das Reichskammergericht im Rechtsleben des 16. Jahrhunderts, in: Hans-­Jürgen Becker/Gerhard Dilcher/Gunter Gudian/Ekkehard Kaufmann/Wolfgang Sellert (Hrsg.), Rechtsgeschichte als Kulturgeschichte. Festschrift für Adalbert Erler zum 70. Geburtstag. Aalen 1976, S. 435 – 480; auch in: Bernhard Diestelkamp, Recht und Gericht im Heiligen Römischen Reich. Frankfurt a. M. 1999 (Ius Commune Sonderhefte, Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte, Bd. 122), S. 213 – 262. 2 Wolfgang Sellert, Über die Zuständigkeitsabgrenzung von Reichshofrat und Reichskammergericht insbesondere in Strafsachen und Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit. Aalen 1965 (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, NF., Bd. 4). 3 Verschiedene Rückblicke bei: Friedrich Battenberg/Bernd Schildt (Hrsg.), Das Reichskammergericht im Spiegel seiner Prozessakten. Bilanz und Perspektiven der Forschung. Köln/ Weimar/Wien 2010 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, künftig: QFHG, Bd. 57). 4 Grundlegend war die Habilitationsschrift von Wolfgang Sellert, Prozeßgrundsätze und Stilus Curiae am Reichshofrat im Vergleich mit den gesetzlichen Grundlagen des reichskammergerichtlichen Verfahrens. Aalen 1973 (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, NF., Bd. 18). 5 Wolfgang Sellert (Hrsg.), Die Akten des Kaiserlichen Reichshofrats. Serie I: Alte Prager Akten, 5 Bde. Berlin 2009 – 2014; Serie II: Antiqua, bisher 4 Bde. Berlin 2010 – 2017.

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einem Maß an Verfeinerung, das sich irgendwann totlaufen kann. Selbstverständlich sind die meisten Akten immer noch unbekannt, und es gibt auf lange Zeit weiterhin viele kleine und größere Fragen, über die es sich zu arbeiten lohnt. Aber all dies bewegt sich in einem seit längerem abgesteckten Rahmen, an dem sich offenbar nur wenig ändert. Irgendwann kann in allen Verästelungen ein Grad an Spezialisierung erreicht sein, bei dem die Relevanz der Ergebnisse nicht mehr klar ist. Diese Befürchtung ist nicht aus der Luft gegriffen. Schon 1994, als die große Ausstellung „Frieden durch Recht“ zum 500. Gründungsjubiläum des Reichskammergerichts stattfand, konnten aufmerksame Besucher auf dieses Problem stoßen. Im Ausstellungskatalog findet sich die Farbabbildung einer Sanduhr. Diese Uhr diente um 1750 dazu, die Redezeit im ersten Senat zu begrenzen. Wie schon der erste Satz der Bildbeschreibung den Betrachter belehrt, sind die „Nutzung und genaue Funktionsweise der Sanduhr aus dem Reichskammergericht […] noch nicht exakt erforscht“.6 Man ist sich also nicht über die generelle Funktionsweise der Sanduhr im Unklaren, sondern nur über ihre genaue Funktionsweise beim Reichskammergericht, und dazu fehlt es auch nicht an Forschungen, sondern nur an exakten Forschungen. Rechtshistoriker wie Miloš Vec, die mit dem Katalog arbeiten, ohne selbst auf diesem Gebiet zu forschen, reiben sich verwundert die Augen und schreiben eine nachdenkliche Glosse mit dem bezeichnenden Titel „Die Sanduhr“.7 Der Überspezialisierung kann man leicht erliegen, vielleicht besteht die Sorge gerade bei Editionsprojekten.8 Möglicherweise ist die Furcht unbegründet, und vielleicht gehört die ständige Verfeinerung auch notwendig zur fortlaufenden Forschung dazu. Es gibt aber einen Grenznutzen, über den sich nicht nur hier, sondern ebenso bei anderen Gegenständen wie der Hexenforschung oder der symbolischen Kommunikation sprechen lässt. Deswegen möchte der Beitrag den Blick wieder öffnen und für den größeren Rahmen der gesamten Gerichtsbarkeit weiten. Die starke Beschäftigung mit den römisch-­deutschen Reichsgerichten hat dazu geführt, dass viele Autoren den kleindeutsch-­preußischen Deutungsrahmen der frühneuzeitlichen Geschichte abgetan haben und als nationalistische Verzerrung des 19. Jahrhunderts ablehnen.9 Aber 6 Ingrid Scheurmann (Hrsg.), Frieden durch Recht. Das Reichskammergericht von 1495 bis 1806. Mainz 1994, S. 203, Nr. 160, 256. 7 Miloš Vec, Die Sanduhr, in: Rechtshistorisches Journal 15 (1996), S. 300 – 306. 8 Peter Oestmann (Hrsg.), Gemeine Bescheide. Teil 2: Reichshofrat 1613 – 1798. Köln/Weimar/Wien 2017 (QFHG, Bd. 63/II), Vorwort. 9 Knappe Überblicke von Edgar Liebmann, Die Rezeptionsgeschichte des Alten Reichs im 19. und 20. Jahrhundert, in: Stephan Wendehorst/Siegrid Westphal (Hrsg.), Lesebuch Altes Reich. München 2006 (bibliothek altes Reich, künftig: baR, Bd. 1), S. 8 – 12; ders., Reichs- und Territorialgerichtsbarkeit im Spiegel der Forschung, in: Anja Amend/

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vielleicht verfällt man in einen ähnlichen Fehler, wertet die Institutionen des Reiches ungebührlich auf und ist bereit, alle Gebrechen angeblich unvoreingenommen schönzureden.10 Die Spottverse über das Reichskammergericht haben sich nicht Historiker des 19. Jahrhunderts ausgedacht, sondern Zeitgenossen der frühen Neuzeit.11 Methodisch kann man sich aus einigen Fallstricken befreien, wenn man nicht nur den Einzelfund für sich sprechen lässt, sondern gezielt vergleicht. Das ist allerdings schwierig, weil man dann zwei Forschungsgegenstände kennen muss, um nicht sofort auf Ungleichgewichte hereinzufallen. Aber der Vergleich ist die schärfste Waffe des Historikers, wie Paolo Grossi einmal sehr klar sagte.12 Es geht im Folgenden darum, verschiedene Typen frühneuzeitlicher Gerichte zu markieren, um den Blick für die Buntheit der Gerichtsverfassung wieder stärker zu öffnen. Das Ergebnis wird ein Eindruck von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen sein, der vielleicht für die Vormoderne ganz angemessen erscheint. Oft blendet man nämlich ganze Bereiche aus, die nicht in das jeweilige Bild passen. Möglicherweise kann das in den letzten Jahren diskutierte Konzept der Gerichtslandschaft diese Vielfalt einfangen. Ursprünglich eher anspruchslos als offener Begriff und „Einladung“ zur Diskussion speziell um das Alte Reich gemeint,13 hat sich das Wort inzwischen verselbstständigt und taucht zur Beschreibung regionaler Gerichte 14 ebenso auf wie Anette Baumann/Stephan Wendehorst/Siegrid Westphal (Hrsg.), Gerichtslandschaft Altes Reich. Höchste Gerichtsbarkeit und territoriale Rechtsprechung. Köln/Weimar/Wien 2007 (QFHG, Bd. 52), S. 151 – 172. 10 So etwa Sabine Ullmann, Geschichte auf der langen Bank. Die Kommissionen des Reichshofrats unter Kaiser Maximilian  II . (1564 – 1576). Mainz 2006 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung für Universalgeschichte, Bd. 214, Beiträge zur Sozial- und Verfassungsgeschichte des Alten Reiches, Bd. 18), S. 296: Langsamkeit als systemspezifischer Lösungsansatz. 11 Nachweise dazu bei Wolfgang Sellert, Pax Europae durch Recht und Verfahren, in: Leopold Auer/Werner Ogris/Eva Ortlieb (Hrsg.), Höchstgerichte in Europa. Bausteine frühneuzeitlicher Rechtsordnungen. Köln/Weimar/Wien 2007 (QFHG, Bd. 53), S. 97 – 114 (hier S. 105); ders., Richterliche Unabhängigkeit am Reichskammergericht und am Reichshofrat, in: Okko Behrends/Ralf Dreier (Hrsg.), Gerechtigkeit und Geschichte. Beiträge eines Symposions zum 65. Geburtstag von Malte Dießelhorst. Göttingen 1996, S. 118 – 132 (hier S. 120); ders., Zur Parteilichkeit und religionsparitätischen Besetzung des Reichshofrats, in: Inge Kroppenberg/Martin Löhnig/Dieter Schwab (Hrsg.), Recht – Religion – Verfassung. Festschrift für Hans-­Jürgen Becker zum 70. Geburtstag. Bielefeld 2009, S. 225 – 238 (hier S. 232). 12 Paolo Grossi, Das Recht in der europäischen Geschichte. München 2010, S. 99. 13 Anette Baumann/Anja Amend/Stephan Wendehorst, Einleitung, in: Amend/Baumann/ Wendehorst/Westphal (Hrsg.), Gerichtslandschaft (wie Anm. 9), S. 1 – 5 (hier S. 5). 14 Anja Amend/Anette Baumann/Stephan Wendehorst/Steffen Wunderlich (Hrsg.), Die Reichsstadt Frankfurt als Rechts- und Gerichtslandschaft im Römisch-­Deutschen Reich. München 2008 (baR, Bd. 3).

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in Arbeiten zur Erforschung der spätmittelalterlichen Laiengerichtsbarkeit.15 Im frühneuzeitlichen Zusammenhang kann man sich auf diese Weise vielleicht von der Vorstellung befreien, dass ein Gericht, wenn es von den Vorgaben der Reichskammergerichtsordnung abwich, allein deswegen der „Entwicklung […] lange Zeit hinterherhinkte“.16 Ein Beispiel aus Ostfriesland zeigt, worum es geht. Die kulturgeschichtlich orientierte Verfassungsgeschichte hat sich mehrfach mit lehensrechtlichen Problemen bei der Vergabe des Herzogtums Pommern beschäftigt. Häufige Belehnungen desselben Territoriums an verschiedene Lehensnehmer führten dort zu einer kaum entwirrbaren Rechtslage.17 In der Grafschaft Ostfriesland steht man für die Jahre nach 1744 vor einem ganz ähnlichen Befund. Hier gab es nicht nur politischen Druck und eine militärische Besetzung durch Preußen, sondern auf der Reichsbühne zusätzlich Verhandlungen über die Belehnung Preußens mit der Grafschaft Ostfriesland.18 Zwei Jahre nachdem die Provinz Friedrich dem Großen gehuldigt hatte, druckte der Jurist und Preußengegner Matthias von Wicht 1746 das Ostfriesische Landrecht. Dort findet man eine umfangreiche Tabelle zum Kompositionensystem. Bei Körperverletzungen sollte man den Finger in die Wunde stecken und prüfen, wieviele Fingerglieder hineinpassten. Aus der jeweiligen Breite und Tiefe der Wunde berechnete sich sodann die Kompositionszahlung, die der Täter an den Verletzten zu leisten hatte.19 Solche Tabellen sind der Sache nach seit den 15 Alexander Krey, Die Praxis der spätmittelalterlichen Laiengerichtsbarkeit. Gerichts- und Rechtslandschaften des Rhein-­Main-­Gebietes im 15. Jahrhundert im Vergleich. Köln/Weimar/Wien 2015 (Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 30). 16 Ulrike Schillinger, Die Neuordnung des Prozesses am Hofgericht Rottweil 1572. Entstehungsgeschichte und Inhalt der Neuen Hofgerichtsordnung. Köln/Weimar/Wien 2016 (QFHG, Bd. 67), S. 229. 17 Barbara Stollberg-­Rilinger, Verfassungsgeschichte als Kulturgeschichte, in: Zeitschrift der Savigny-­Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung (künftig: ZRG GA) 127 (2010), S. 1 – 32 (hier S. 15 – 27); dies., Des Kaisers alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches. München 2008, S. 79 – 85. 18 Carl Hinrichs, Die ostfriesischen Landstände und der preußische Staat. 1744 – 1756. Ein Beitrag zur Geschichte der inneren Staatsverwaltung Friedrichs des Großen, 1. Teil: 1744 – 1748, in: Jahrbuch der Gesellschaft für bildende Kunst und vaterländische Altertümer zu Emden (Emdisches Jahrbuch) 22 (1927), S. 1 – 268; ergänzend Michael Kotulla, Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Alten Reich bis Weimar (1495 – 1934). Berlin/Heidelberg 2008, S. 187, Rn. 731 f. 19 Matthias von Wicht (Hrsg.), Das Ostfriesische Land-­Recht, Aurich (ohne Jahr = 1746), 3.  Buch, Kap.  63, S.  733; die Tabelle findet sich auch bei Wolfgang Sellert/Peter Oestmann, Nordwestdeutsche Landrechte, in: Egbert Koolman/Ewald Gäßler/Friedrich Scheele (Hrsg.), der sassen speyghel. Sachsenspiegel – Recht – Alltag, Bd. 1. Oldenburg 1995 (Veröffentlichungen des Stadtmuseums Oldenburg, Bd. 21, Schriften der Landesbibliothek Oldenburg, Bd. 29), S. 159 – 172 (hier S. 166).

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Stammesrechten der fränkischen Zeit bekannt. Das ostfriesische Landrecht selbst stammt von etwa 152520 und bekannte sich zu dieser uralten Tradition. Nach zweihundertjähriger bloß handschriftlicher Überlieferung machte der Druck durch Matthias von Wicht die Rechtsaufzeichnung jedermann zugänglich und bekräftigte möglicherweise ihre praktische Bedeutung gegenüber römisch-­gemeinem oder preußischem Recht.21 Interessant ist die Begebenheit aufgrund ihrer Entstehungsbedingungen. Matthias von Wicht arbeitete an seiner Druckausgabe in einer Art milden Inhaftierung in Greetsiel, weil er sich gegen die preußische Besetzung ausgesprochen hatte. Als Preußengegner gab ihm die Beschäftigung mit der eigenen Geschichte offenbar Rückhalt während seines Hausarrests. Nach dem Erscheinen des Buches wurde Wicht aber kurze Zeit später rehabilitiert und vom preußischen König bereits 1747 zum Regierungsrat am ostfriesischen Hofgericht ernannt. Dort arbeitete er über 20 Jahre bis zu seinem Ruhestand 1768.22 In derselben Zeit, 1750, erhielt Friedrich der Große von Kaiser Franz I. ein unbeschränktes Appellationsprivileg, ein Privilegium de non appellando illimitatum, speziell für die Grafschaft Ostfriesland.23 In der älteren Literatur liest man, das ostfriesische Hofgericht sei seit dem späten 16. Jahrhundert im deutschlandweiten Vergleich das unabhängigste Hofgericht gewesen. Die regionalen Adligen hätten hier so starken Einfluss besessen, dass die Mitsprache des Landesherrn praktisch völlig ausgeschaltet war. Die Homepage des Landgerichts Aurich bekennt sich noch heute zu dieser Ansicht, denn „weiter als irgendwo sonst“ soll die Unabhängigkeit des ostfriesischen Hofgerichts gewesen sein.24 Das mag sich in der preußischen Zeit geändert haben, denn nun wurde die 20 Walter Schulz, Studien zur Genese und Überlieferung des Ostfriesischen Landrechts, in: Jahrbuch der Gesellschaft für bildende Kunst und vaterländische Altertümer zu Emden (Emder Jahrbuch) 72 (1992), S. 81 – 169. 21 Zum Verhältnis zum preußischen Recht Wilhelm Ebel, Das Ende des friesischen Rechts in Ostfriesland, in: ders., Rechtsgeschichtliches aus Niederdeutschland. Göttingen 1978, S. 55 – 88 (hier S. 81 – 84). 22 Walter Deeters, Art. Wicht, Matthias von, in: Martin Tielke (Hrsg.), Biographisches Lexikon für Ostfriesland. Aurich 1993, Bd. 1, S. 365 f., auch online unter: http://www.ostfriesischelandschaft.de/fileadmin/user_upload/BIBLIOTHEK/BLO/Wicht_Matthias.pdf (abgerufen am 14. August 2017); ergänzend Kathrin Borrmann, Art. Wicht, Matthias von, in: Joachim Rückert/Jürgen Vortmann (Hrsg.), Niedersächsische Juristen. Ein historisches Lexikon mit einer landesgeschichtlichen Einführung und Bibliographie. Göttingen 2003, S. 436. 23 Nachgewiesen bei Ulrich Eisenhardt, Die kaiserlichen privilegia de non appellando. Köln/ Wien 1980 (QFHG, Bd. 7), Nr. 6.14, S. 75. 24 Helga Wessels, Die Geschichte der Gerichtsbarkeit in Ostfriesland, in: 175 Jahre Oberlandesgericht Oldenburg. 1814 Oberappellationsgericht, 1989 Oberlandesgericht. Köln/ Berlin/Bonn/München 1989, S. 395 – 408; auch in https://www.landgericht-­aurich.nieder-

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Appellation an das Kammergericht Berlin eingeführt.25 Aus der Warte der Reichsjustiz gehen solche Vorgänge völlig unter. Ob es sich um eine bloße Provinzposse handelt, ist nicht klar. Jedenfalls hat man es offenbar mit einem selbstbewussten Hofgericht zu tun, dessen rechtsgelehrter Hofrichter zugleich ein Experte für das Kompositionensystem war. Die letzten Spuren des Kompositionensystems lassen sich auch anderenorts bis weit ins 18. Jahrhundert hinein finden. Noch 1830 fragte Julius Weiske in einem Buchkapitel über das sächsische Strafrecht: „Bei welcher Art der Tödung wird heutzutage das Wergeld gegeben?“ Auf mehreren Seiten gab er Antworten.26 Im Nachhinein ist es leicht zu sagen, welches Grundverständnis des Rechts und welche Formen der Gerichtsbarkeit in der frühen Neuzeit wegweisend modern waren und welche nach und nach verdrängt wurden. Doch genau dies ist eine Rückschauverzerrung. Die Zeitgenossen erlebten eine Gemengelage. Sie erstreckte sich über mehrere Jahrhunderte mit ganz verschiedenen Institutionen und ihren je gegensätzlichen Verfahrensweisen. Das wird gern und oft ausgeblendet. Im Folgenden wird es um vier Bereiche gehen, nämlich um dinggenossenschaftliche Rechtspflege zwischen mittelalterlichen und neuzeitlichen Rahmenbedingungen, zweitens um Gerichte zwischen Personalitätsprinzip und Territorialitätsprinzip, sodann um Gerichte zwischen Gewaltenteilung und Gewalteneinheit und schließlich viertens um Gerichte zwischen Nähe und Distanz zum Herrscher. Der erste Punkt wird hierbei das meiste Gewicht beanspruchen. Die anderen Aspekte sollen eher knapp zur Abrundung dienen.

1. Dinggenossenschaftliche Rechtsfindung Zur Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen gehören über weite Phasen der frühen Neuzeit die weiterbestehenden dinggenossenschaftlichen Gerichte. Hierbei hansachsen.de/wir_ueber_uns/geschichte_gerichtsbarkeit_ostfriesland/80126.html, Ziffer VI. (abgerufen am 15. August 2017). 25 Findbücher zu den vorhandenen Akten von Christoph Moßig (Bearb.), Findbuch zum Bestand Preußische Regierung in Ostfriesland 1744 bis 1806. Teil 2: Zivilprozesse. Göttingen 1981 (Inventare und kleinere Schriften des Staatsarchivs Aurich, Bd. 3); Walter Deeters (Bearb.), Findbuch zum Bestand Reichskammergericht und Reichshofrat, 2 Bde. Leer 1993 (Inventare und kleinere Schriften des Staatsarchivs Aurich, Bd. 15/16); ergänzend zur Gerichtsreform Ebel, Das Ende (wie Anm. 21), S. 81. 26 Julius Weiske, Abhandlungen aus dem Gebiete des teutschen Rechts theoretischen und praktischen Inhalts. Leipzig 1830, S. 98 – 102; erwähnt auch bei Wolfgang Schild, Art. Wergeld, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (künftig: HRG), Bd. 5. 1. Aufl. Berlin 1998, Sp. 1268 – 1271 (hier Sp. 1271).

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delt es sich um die deutschrechtliche, ungelehrte Tradition.27 Aus der Warte der Reichsgerichtsbarkeit geht dieser Bereich der frühneuzeitlichen Justiz schnell verloren. Die Literatur behandelt üblicherweise und oft das Reichskammergericht und den Reichshofrat und erkennt messerscharf den Epochenschnitt um 1495.28 Das ist selbstverständlich richtig. Professionalisierte Gerichte mit studierten Richtern und einem Prozessrecht auf der Grundlage des römisch-­kanonischen Rechts waren zukunftsweisend und seit 1495 reichsweit per Gesetz vorgesehen. De facto trugen auch die Appellationsprivilegien dazu bei, diesen Typ der Justiz zu verbreiten. Die Privilegien schwächten zwar die Zuständigkeiten der Reichsgerichte in räumlicher und sachlicher Hinsicht. Zugleich folgten aber diejenigen Territorien, die ein Privileg empfangen hatten, den Maximen der Reichsgerichte. Doch auch außerhalb von Privilegien entfalteten die höchsten Gerichte faktischen Druck, dass die Verhandlungen und Entscheidungen der Untergerichte appellationsfest sein sollten. Wolfgang Prange wies für Schleswig-­Holstein nach, wie dort im frühen 16. Jahrhundert die Gerichte Schritt für Schritt die Schriftlichkeit einführten, um im Ernstfall gegenüber dem Appellationsgericht auf der Reichsebene ihr ordnungsgemäßes Verfahren belegen zu können.29 An solchen Befunden kann man nicht vorbeigehen. Trotzdem spricht sehr viel dafür, dass es bis weit ins 16. Jahrhundert hinein, vermutlich sogar deutlich darüber hinaus, zahlreiche Gerichte gab, die im Wesentlichen auf dem überkommenen dinggenossenschaftlichen Verfahren aufbauten. Der Übergang zu Prozessakten 30 und die auf den ersten Blick modernere Form der Quellenüberlieferung dürfen diesen deutlichen rechtskulturellen Befund nicht verdecken. Hier begegnet dem Betrachter eine außerordentlich große Vielfalt, deswegen ist das Bild so unübersichtlich. So fand etwa im Fürstbistum Münster 1571 eine Justizreform unter Bischof Johann von Hoya statt. Der Bischof hatte als junger Jurist selbst am Reichskammergericht gearbeitet. Jetzt führte er in seinem Ter 27 Umfassend Jürgen Weitzel, Dinggenossenschaft und Recht. Untersuchungen zum Rechtsverständnis im fränkisch-­deutschen Mittelalter. Köln/Wien 1985 (QFHG, Bd. 15/I–II). 28 Peter Oestmann, Wege zur Rechtsgeschichte: Gerichtsbarkeit und Verfahren. Köln/Weimar/Wien 2015, S. 153. 29 Wolfgang Prange, Schleswig-­Holstein und das Reichskammergericht in dessen ersten fünfzig Jahren. Wetzlar 1998 (Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung, Bd. 22). 30 Zum Übergang vom Urkundenzeitalter zum Aktenzeitalter Nikolas Rügge, Amtsprotokolle, in: Stefan Pätzold/Wilfried Reininghaus (Hrsg.), Quellenkunde zur westfälischen Geschichte vor 1800 (Online-­Ausgabe, Stand: März 2016) (Materialien der Historischen Kommission für Westfalen, Bd. 6), http://www.lwl.org/hiko-­download/HiKo-­ Materialien_006_%282016 – 03 %29.pdf (abgerufen am 15. August 2017), S. 12 – 18 (hier S. 12); auch ders., Lokale Gerichtsprotokolle, ebd., S. 65 – 73 (hier S. 66).

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ritorium die auf Reichsebene bewährten Prozessmaximen ein und gründete ein weltliches Hofgericht.31 Zuvor hatte es im Stift Münster sogenannte Gogerichte gegeben, vor allem das Gogericht zum Sandwelle. Dieses Gericht tagte außerhalb der Stadt Münster in verschiedenen kleineren Orten. Aus der Warte der Reichsjustiz kann man es kaum greifen. Im Bestand des Landesarchivs Münster gibt es angeblich nur 25 Prozessakten, die das Gogericht zum Sandwelle als Vorinstanz ausweisen. Das weltliche Hofgericht taucht dagegen 895 Mal als Vorinstanz auf, das geistliche Hofgericht 561 Mal 32. Das sieht nach einem klaren Befund aus. Mehrere Punkte machen aber stutzig. Noch 1776 wurde ein Gograf für das Gogericht zum Sandwelle bestellt, dann allerdings ein studierter Doktor juris utriusque. Es gab immerhin neun Prokuratoren und vier Obervögte. So unbedeutend kann das Gericht also kaum gewesen sein. 1796 gab es dagegen nur noch vier Prokuratoren, und den Gografen hatte man inzwischen durch einen Richter ersetzt. Eine ganz wesentliche Änderung der Gerichtsverfassung stammt also aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.33 Noch 1755 schwebte ein Appellationsprozess vor dem Reichskammergericht, der in erster Instanz vor dem Gogericht zum Sandwelle begonnen hatte. Als Zwischeninstanz arbeitete in diesem Fall das weltliche Hofgericht des Fürstbistums Münster, und während des Verfahrens fand eine Aktenversendung an die Juristenfakultät Mainz statt.34 Die Einzelheiten befinden sich in der erhaltenen Prozessakte, sind in diesem Zusammenhang aber vermutlich unerheblich. Wichtig an solch einem Schlaglicht erscheint das Zusammenwirken von Institutionen, die auf den ersten Blick traditionell organisiert waren, und solchen, die sich weitgehend an den reichsgerichtlichen Vorbildern orientierten. Die beiden sehr verschiedenen Typen von Gerichten existierten also nicht einfach nur nebeneinander in streng getrennten rechtskulturellen Welten. Vielmehr griffen sie innerhalb desselben Territoriums auch ineinander. Ob es feste Zuständigkeitsabgrenzungen gab,

31 Stefan Schumacher, Das Rechtssystem im Stift Münster in der frühen Neuzeit unter Berücksichtigung der Reformen des Fürstbischofs Johann von Hoya (1529 – 1574) von 1571. Münster 2004 (Ius Vivens, Bd. 15); kritisch dazu Peter Oestmann, Geistliche und weltliche Gerichte im Alten Reich. Zuständigkeitsstreitigkeiten und Instanzenzüge. Köln/ Weimar/Wien 2012 (QFHG, Bd. 61), S. 37 f. 32 Repertoriumsmitteilungen von Günter Aders/Helmut Richtering (Bearb.), Gerichte des Alten Reiches, 3 Teile. Münster 1966/1973 (Das Staatsarchiv Münster und seine Bestände, Bd. 2), Band 3, S. 439, 442. 33 Adolf Benkert, Das Gogericht zum Sandwelle. Nach Forschungen an Ort und Stelle. Burgsteinfurt 1929; hilfreiche Übersicht auch auf der genealogisch interessierten Internetseite http://wiki-­de.genealogy.net/Gogericht_Sandwelle (abgerufen am 15. August 2017). 34 Aders/Richtering (Bearb.), Gerichte (wie Anm. 32), lfd. Nr. 5062, Bd. 2, S. 290.

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erscheint eher zweifelhaft, weil man mit messerscharfen Zuständigkeitsregeln in der Vormoderne ohnehin nicht rechnen darf.35 Viel gewinnbringender als die Suche nach verlässlichen Trennlinien zwischen einer eher hergebrachten und einer modernen Gerichtsbarkeit ist der genauere Blick darauf, ob und in welcher Weise sich ursprünglich dinggenossenschaftlich organisierte Gerichte nach und nach ebenfalls professionalisierten. Das lässt sich im Einzelfall feststellen, erfordert aber immer sehr genaue Untersuchungen. Für ein kleines Patrimonialgericht in Heessen in der Nähe von Hamm hat die Historikerin Ursula Knäpper diesen Versuch unternommen. Sie prüft, welche Person jeweils vom adligen Gerichtsherrn als Richter eingesetzt wurde. Und hier erkennt man, dass ab den 1560er Jahren zunehmend und irgendwann ausschließlich studierte Juristen diese Aufgabe erhielten. Ganz deutlich zeigt sich an den Protokollen des Gerichts, dass der studierte Richter nach und nach vom bloßen Verhandlungsleiter zum entscheidenden Urteiler wurde. Die übrigen Honoratioren, die zunächst ein Urteilerkollegium bildeten, traten mehr und mehr in den Hintergrund, irgendwann waren sie nicht mehr beteiligt. Normative Quellen für diesen Wandel gibt es nicht. Aber innerhalb von etwa zwanzig Jahren hatte dieses Gericht seinen Charakter vollständig geändert.36 Selbst bekanntere Gerichte wie das kaiserliche Hofgericht Rottweil standen noch lange in der dinggenossenschaftlichen Tradition.37 Aus Baden ist man über genau diese Gemengelage durch die Arbeit von Wolfgang Leiser gut unterrichtet,38 und in Oldenburg wurden bei einer Gerichtsreform im späten 16. Jahrhundert die Landgerichte mit je einem gelehrten Juristen, aber zugleich mit zahlreichen Laien besetzt.39 Wenn man also versucht, die Typologie frühneuzeitlicher Gerichte festzumachen, ist die bloße Kontinuität des Namens oder der Institution ein eher schwaches Argument. Es kann sein, dass es entscheidende Veränderungen gab, die nur auf den zweiten Blick greifbar sind. Der Forschungsstand zu diesen eher regionalhistorischen Fragen ist nicht leicht zu überblicken. Es gibt zwar mehrere Quellenpublikationen, die den Zugang zu der dinggenossenschaftlich-­altertümlichen frühneuzeitlichen Gerichtsbarkeit erleich 35 Oestmann, Geistliche und weltliche Gerichte (wie Anm. 31), S. 737. 36 Ursula Knäpper, Die Hoch- und Herrlichkeit Heessen. Geschichte eines Gerichtes und seiner Jurisdiktion mit einem besonderen Blick auf die Verfahren gegen das crimen magiae (1543 – 1612). Hamm 2014, S. 97 – 109. 37 Schillinger, Die Neuordnung (wie Anm. 16), S. 229. 38 Wolfgang Leiser, Der gemeine Zivilprozeß in den Badischen Markgrafschaften. Stuttgart 1961 (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-­ Württemberg, Reihe B, Bd. 16). 39 Werner Hülle, Geschichte des höchsten Landesgerichts von Oldenburg (1573 – 1935). Göttingen/Zürich/Frankfurt a. M. 1974 (Göttinger Studien zur Rechtsgeschichte, Bd. 9), S. 16.

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tern. Doch diese Veröffentlichungen stammen oftmals von Regionalhistorikern oder Heimatfreunden und eher selten von professionellen Rechtshistorikern. Ein Beispiel ist das Gogericht auf dem Desum im Oldenburger Münsterland.40 Hier haben Geschichtsbegeisterte die alte Gerichtsstätte unter freiem Himmel wie eine Art Bodendenkmal rekonstruiert, eine Interessengemeinschaft gegründet und auch eine eigene Homepage eröffnet, die aber seit dem 1. September 2016 nicht mehr betrieben wird.41 Vor allem hat diese Interessengemeinschaft die Dingprotokolle des Gogerichts aus der Zeit zwischen 1578 und 1652 ediert und auf diese Weise im Druck zugänglich gemacht.42 Friedrich Battenberg rezensierte das Buch und meinte, gerade der zentrale Punkt, nämlich der Übergang vom alten zum neuen Stil der Gerichtsbarkeit, bleibe trotz der verdienstvollen Quellenpublikation weiterhin unklar.43 Als bisher einziger Rechtshistoriker unterzog sich Götz Landwehr der Aufgabe, mit diesen Quellen ernsthaft zu arbeiten.44 Ein heute vergessener Historiker namens Carl Heinrich Nieberding schrieb 1840 im Rahmen einer Geschichte des Niederstifts Münster, dass dieses Gericht nach der Münsteraner Justizreform von 1571 nach und nach „aufgehört“ habe, also seine Tätigkeit verringerte, sich 1652 hinter Schloss und Riegel in des Richters Haus verkroch und samt den Geschworenen alles sein Ende hatte.45 Aber ganz so einfach ist es auch hier nicht. Zunächst fand das Gericht tatsächlich bis 1652 unter freiem Himmel statt, also immerhin über 150 Jahre parallel zum Reichskammergericht. Und nach 1652 sind weiterhin Richter nachweisbar, dies sogar bis zum frühen 19. Jahrhundert. Sie hießen teilweise Gograf oder Richter, und mindestens einige von ihnen waren Lizentiaten und zugleich Richter in anderen Ortschaften. Auch hier steht man vor schleichenden Veränderungen. Zumindest mit dem gedruckten Material könnte man vergleichsweise einfach arbeiten, aber es wird eben nur selten getan. 40 Übersicht über die archivalischen Quellen zu den münsterischen Gogerichten in: Die Bestände des Landesarchivs Nordrhein-­Westfalen Abteilung Westfalen. Kurzübersicht. 5. Aufl. Düsseldorf 2009 (Veröffentlichungen des Landesarchivs Nordrhein-­Westfalen, Bd. 18), S. 29 f. 41 Letzter Hinweis auf die gelöschte Internetseite: http://www.gogericht-­auf-­dem-­desum.de/ WSB/wb/ (abgerufen am 15. August 2017). 42 Hans-­Joachim Behr/Bernhard Brockmann/Nikolaus Kokenge (Hrsg.), Das Gogericht auf dem Desum – „haubtt- und ubergericht“ des Oldenburger Münsterlandes. Oldenburg 2000. 43 Friedrich Battenberg, Besprechung von Behr/Brockmann/Kokenge (Hrsg.), Das Gogericht auf dem Desum (wie Anm. 42), in: Oldenburger Jahrbuch 101 (2001), S. 180 f. 44 Götz Landwehr, Der Gang des neuen und des alten Gerichtsverfahrens vor dem Gogericht auf dem Desum im Niederstift Münster, in: Oldenburger Jahrbuch 104 (2004), S. 27 – 6 4. 45 Carl Heinrich Nieberding, Geschichte des ehemaligen Niederstifts Münster und der angränzenden Grafschaften Diepholz, Wildeshausen etc., Bd. 1. Vechta 1840 (zitiert nach der 2. Aufl. Vechta 1967), S. 568.

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Eine ähnliche Quellenpublikation stammt noch weiter aus dem Norden. In den frühen 1990er Jahren publizierte Volkert Faltings in drei Bänden die Dingprotokolle der Westerharde Föhr und Amrum aus den Jahren 1658 bis 1671/1672.46 Die Gegend lag an der Peripherie, sie gehörte politisch halb zu Dänemark, halb zum Bistum Schleswig. Aber auch hier trifft man in der Mitte des 17. Jahrhunderts weiterhin auf dinggenossenschaftliche Strukturen, die sich anhand der Quellen rekonstruieren lassen müssten. Zur Ergänzung kann ein weiteres Beispiel aus Westfalen dienen. Denn auch bei den aus dem Mittelalter bekannten Femegerichten zeigen sich ähnliche Befunde. 2002 und 2011 erschienen zwei halbseriöse Monographien von Eberhard Fricke zur westfälischen Feme.47 Ernsthafte Arbeiten gab es seit längerer Zeit nicht.48 Allenthalben liest man, die mittelalterlichen Femegerichte hätten sich in der frühen Neuzeit zu einer Art bäuerlichen Niedergerichtsbarkeit gewandelt und auf diese Weise bis ins frühe 19. Jahrhundert überlebt.49 Aber über diese Verfallszeit weiß man wenig,50 obwohl sie rein zeitmäßig länger dauerte als die Blüte im 14. und frühen 15. Jahrhundert. Die Begrenzung der neuzeitlichen Feme auf die ländliche niedere Rechtsprechung müsste man im Einzelfall ohnehin jeweils prüfen. In Münster verurteilte ein Femegericht 1582 einen Untertanen des St. Mauritz-­Stifts zum Tode.51 Angeblich gab es deswegen Proteste des Domkapitels und Diskussionen, welche Kompetenzen die Freigerichte in sachlicher Hinsicht wahrnehmen konnten.52 Doch immerhin bewegt man sich hier bereits in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts 46 Volkert  F. Faltings (Hrsg.), Die Dingprotokolle der Westerharde Föhr und Amrum 1658 – 1671, 3 Bde. Neumünster 1990/1992 (Quellen und Forschungen zur Geschichte Schleswig-­Holsteins, Bd. 99). 47 Eberhard Fricke, Die westfälische Veme im Bild. Geschichte, Verbreitung und Einfluss der westfälischen Vemegerichtsbarkeit. Münster 2002; ders., Die westfälische Veme im Bild. Weitere Denkwürdigkeiten und Merkwürdigkeiten zur Geschichte der westfälischen Vemegerichtsbarkeit. Supplementband. Münster 2011. 48 Überblick bei Heiner Lück, Art. Feme, Femgericht, in: HRG, Bd. 1. 2. Aufl. Berlin 2008, Sp. 1535 – 1543. 49 Ebd., Sp. 1540, mit bezeichnendem Verweis auf Wilhelm Hanisch, Anmerkungen zu neueren Ansichten über die Feme, in: ZRG GA 102 (1985), S. 247 – 268 (hier S. 264), der seinerseits wiederum auf zwei andere Werke verweist. 50 Knappe Hinweise bei Albert K. Hömberg, Die Veme in ihrer zeitlichen und räumlichen Entwicklung, in: Hermann Aubin/Franz Petri (Hrsg.), Der Raum Westfalen II: Untersuchungen zu seiner Geschichte und Kultur, 1. Teil. Münster 1955, S. 139 – 170 (hier S. 169 f.). 51 Maria Zingsheim, Der Ausgang der Veme. Beilage zum Jahresbericht der Katholischen Höheren Mädchenschule zu Düren. Düren 1911, S. 26 f.; Fricke, Die westfälische Veme – Supplementband (wie Anm. 47), S. 106. 52 Hinweise auf die peinliche Gerichtsgewalt von Freigerichten im Hochstift Münster bei Hömberg, Die Veme (wie Anm. 50), S. 170, Anm. 118.

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und zwar auch innerhalb von Städten und nicht in der bäuerlichen Rechtspraxis. Die Verfallsgeschichte der Feme dürfte also durchaus verwickelt gewesen sein. Die letzte Belehnung eines Freigrafen erfolgte immerhin durch den preußischen König Friedrich Wilhelm III., und zwar im Jahre 1821.53 Aber wenn in diesem Band ganz blumig nach der Gerichtsbarkeit unter der Linde gefragt ist, geht es nicht nur ums Mittelalter. Die bäuerlichen Niedergerichte in der Zeit bis 1800 gehören zu dieser Art von Justiz zweifellos dazu. Es lohnt aber ohnehin der gezielte Blick vom Dorf in die Stadt. Städtische Ratsgerichte reichen bis weit ins Mittelalter zurück. Selbst mit einigen Reformen blieb der Rat, also das politische Führungsgremium einer Stadt, in vielen Orten bis zu den Reichsjustizgesetzen von 1879 maßgeblich an der städtischen Obergerichtsbarkeit beteiligt. Die Professionalisierung, also die Besetzung mit studierten Juristen, begann hierbei unterschiedlich früh. In Lübeck etwa gab es vier Bürgermeister. Einer von ihnen war seit dem ausgehenden Mittelalter ein Jurist, nach und nach hatte man drei studierte Juristen als Bürgermeister.54 Im 16. Jahrhundert kippte in Lübeck die Gerichtssprache vom Niederdeutschen zum Hochdeutschen.55 Aktenversendungen an Juristenfakultäten wurden zunehmend üblich. Obwohl also die Zahl studierter Juristen im Rat stieg, sank gleichzeitig der Mut, auftretende Rechtsfragen selbst zu entscheiden. Protokolle des Lübecker Obergerichts aus dem 18. Jahrhundert zeigen, dass bis zu diesem Zeitpunkt auch die Mündlichkeit weitgehend verschwunden war. Die Audienzen des Rates nannte man hier oftmals Rezess und nummerierte sie durch. Aber bei diesen Anlässen traten nur Prokuratoren auf und überreichten Schriftsätze. Falls es dann einmal hieß, der Rat habe eine Sache „in Bedenk“ genommen, deutete dies lediglich auf eine Aktenversendung hin.56 Neben dem Ratsgericht gab es in Lübeck ein Gastgericht speziell für Fremde und ein Wettegericht für Rechtsstreitigkeiten im Zusammenhang mit Märkten und speziellen Handelssachen. Hier waren teilweise auch Juristen beteiligt. Am Niedergericht der Stadt Lübeck gab es zwar ein Urteilerkollegium, das dinggenossenschaftlich über die Rechtshändel entschied. Und von Fall zu Fall wurden die Urteiler anders 53 Zingsheim, Der Ausgang (wie Anm. 51), S. 48, 64. 54 Erich Hoffmann, Lübeck im Hoch- und Spätmittelalter: Die große Zeit Lübecks, in: Antjekathrin Graßmann (Hrsg.), Lübeckische Geschichte. 4. Aufl. Lübeck 2008, S. 81 – 339 (hier S. 226); Überblick über die Ratsmitglieder und Bürgermeister bei Emil Ferdinand Fehling, Lübeckische Ratslinie von den Anfängen der Stadt bis auf die Gegenwart. Lübeck 1925 (Nachdruck 1978). 55 Ältere Untersuchung von Wilhelm Heinsohn, Das Eindringen der neuhochdeutschen Schriftsprache in Lübeck während des 16. und 17. Jahrhunderts. Lübeck 1933. 56 Quellenveröffentlichung zur Lübecker Rechtspraxis im 18. Jahrhundert von Peter Oestmann (Hrsg.), Ein Zivilprozeß am Reichskammergericht. Edition einer Gerichtsakte aus dem 18. Jahrhundert. Köln/Weimar/Wien 2009 (QFHG, Bd. 55).

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zusammengestellt. Aber es handelte sich immer um Prokuratoren. Wer also nicht selbst einen Rechtsstreit für eine Partei dort zu vertreten hatte, wechselte die Seiten und wurde selbst zum Urteiler. Die Grundsätze des dinggenossenschaftlichen und des rechtsgelehrten Verfahrens waren hier untrennbar miteinander vermischt.57 Gerade am Beispiel Lübeck lässt sich auch ein weiterer frühneuzeitlicher Befund nachvollziehen. Der angestammte Oberhofzug war nämlich zumindest teilweise noch lebendig. Wieviele derartige Fälle auch deutlich nach 1500 weiterhin vorkamen, ist unklar. Nils Jörn hat einige Schlaglichter dazu zusammengetragen.58 Soweit man dem Reichskammergerichtsrepertorium für Lübeck Glauben schenken darf, gelangte 1657 noch ein Rechtsstreit an das Reichskammergericht, der in Stralsund begonnen und dann über drei Jahre vor dem Lübecker Oberhof geschwebt hatte.59 Ähnlich wie bei dem vorhin genannten Beispiel vom Gogericht zum Sandwelle enthält auch dieser Fall die Gutachten von Juristenfakultäten, genau genommen gleich fünf Sprüche aus Helmstedt, Leipzig, Rostock, Greifswald und Nürnberg-­ Altdorf. Sieht man von der reichskammergerichtlichen Überlieferung ab, entdeckt man vermutlich noch mehr Anfragen an den Lübecker Oberhof. Angeblich soll noch 1721 eine Rechtssache aus Rostock vor den Lübecker Rat gelangt sein.60 Bei dieser Gelegenheit ist an den Schlussartikel der Constitutio Criminalis Carolina von 1532 zu erinnern. Er erklärte die Strafgerichte ausdrücklich für „schuldig“, bei Rechtszweifeln an ihren angestammten Oberhöfen um Rat nachzusuchen. Lediglich dann, wenn es keine Oberhöfe gab, konnte man bei Akkusationsverfahren die jeweilige Obrigkeit einschalten. In Inquisitionssachen sollten in diesem Fall die Juristenfakultäten zuständig sein.61 Oberhöfe, Regierungen und Universitäten 57 Grundlegend Martin Samuel Funk, Die Lübischen Gerichte. Ein Beitrag zur Verfassungsgeschichte der Freien und Hansestadt Lübeck, in: ZRG GA 26 (1905), S. 53 – 90, 27 (1906), S. 61 – 91; Hinweise auf die Quellenlage und Kurzbeschreibungen bei Ulrich Simon, Niedergericht, in: Antjekathrin Graßmann (Hrsg.), Beständeübersicht des Archivs der Hansestadt Lübeck. 2. Aufl. Lübeck 2005 (Veröffentlichungen zur Geschichte der Hansestadt Lübeck, Reihe B, Bd. 29), S. 68 f.; außerdem Antjekathrin Graßmann (Hrsg.), Das neue Lübeck-­Lexikon. Die Hansestadt von A bis Z. Lübeck 2011, S. 136 – 139. 58 Nils Jörn, Lübecker Oberhof, Reichskammergericht, Reichshofrat und Wismarer Tribunal. Forschungsstand und Perspektiven weiterer Arbeit zur letztinstanzlichen Rechtsprechung im südlichen Ostseeraum, in: Rolf Hammel-­Kiesow/Michael Hundt (Hrsg.), Das Gedächtnis der Hansestadt Lübeck. Festschrift für Antjekathrin Graßmann zum 65. Geburtstag. Lübeck 2005, S. 371 – 380. 59 Hans-­Konrad Stein-­Stegemann, Findbuch der Reichskammergerichtsakten im Archiv der Hansestadt Lübeck. Schleswig 1987 (Veröffentlichungen des Schleswig-­Holsteinischen Landesarchivs, Bd. 18 – 19), Bd. 1, S. 501 (Nr. R 5). 60 Wilhelm Ebel, Lübisches Recht, Bd. 1: Entfaltung und Blüte. Lübeck 1971, S. 44. 61 Friedrich-­Christian Schroeder (Hrsg.), Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. und des Heiligen Römischen Reichs von 1532 (Carolina). Stuttgart 2000, Art. 219, S. 127.

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standen hier auf einer Stufe, aber im Wortlaut an erster Stelle nannte das Gesetz die Oberhöfe. Damit ist es möglich, ein erstes Zwischenergebnis zu ziehen. Die ehemals dinggenossenschaftlichen Gerichte aus der mittelalterlichen Zeit waren weiträumig nicht etwa förmlich abgeschafft oder aufgehoben. Sie bestanden weiter, machten aber umfassende Änderungen durch. Gerade über diese Änderungen sind wir erstaunlich schlecht unterrichtet. Der Übergang vom Kollektivorgan zum Einzelrichter, von den sogenannten Rechtshonoratioren zum studierten Berufsrichter, von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit, von der Einstimmigkeit zum Mehrheitsprinzip und anderes mehr sind Schlagworte, die man nur ganz selten mit Inhalt oder konkreten Datierungen verbinden kann. Ganz verbreitet geht man davon aus, dass die gewandelten älteren Gerichte zugleich an Bedeutung verloren hätten. Modern gesprochen soll ihre sachliche Zuständigkeit beschränkt worden sein. Außerdem wurden diese traditionellen Gerichte in Instanzenzüge eingepasst. Die Einbindung in hierarchische Über- und Unterordnungsverhältnisse scheint hierbei deutlich früher stattgefunden zu haben als die anderen Modernisierungselemente. Einige Zäsuren, diesen Eindruck haben die beispielhaft angeführten Quellen bestärkt, fallen in die Jahre um 1650. Ob das Zufall ist oder nicht, lässt sich zur Zeit nicht ernsthaft entscheiden. Möglicherweise ging der Neuaufbau der Territorien nach dem Dreißigjährigen Krieg aber mit einem Modernisierungsschub im Bereich der Gerichtsbarkeit vor sich. Auch auf der Reichsebene verkündete der Jüngste Reichsabschied eine neue Gerichtsordnung.62 Der Reichshofrat erhielt ebenfalls 1654 seine wichtigste und umfangreichste Prozessordnung.63 Es muss daher nicht verwundern, wenn in derselben Zeit auch vermehrt territoriale Reformen stattfanden. Das genaue Zusammenspiel zwischen der Reichsebene und den Veränderungen in den Territorien bleibt aber zur Zeit noch unklar.

2. Personalitätsprinzip und Territorialitätsprinzip Nach dem Blick auf fortdauernde dinggenossenschaftliche Formen der Rechtsprechung soll im Folgenden ein zweiter Aspekt die typologischen Unterschiede zwischen frühneuzeitlichen Gerichten kennzeichnen: Es gab für längere Zeit Rechtskreise und Gerichte, die sich im Überlappungsbereich von Personalitätsprinzip 62 Jüngster Reichsabschied 1654, in: Johann Jacob Schmauß/Heinrich Christian von Senckenberg (Hrsg.), Neue und vollständigere Sammlung der Reichs-­Abschiede. Frankfurt 1747 (ND Osnabrück 1967), Bd. III, S. 640 – 690 (zur Gerichtsbarkeit: §§ 8 – 169, S. 643 – 671). 63 Moderne Edition bei Wolfgang Sellert (Hrsg.), Die Ordnungen des Reichshofrats 1550 – 1766, 2. Halbband bis 1766. Köln/Wien 1990 (QFHG, Bd. 8/II), S. 1 – 260.

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und Territorialitätsprinzip bewegten. Das Personalitätsprinzip markiert hierbei den älteren Typ. Je nach Lebenskreis gehörten die Menschen zu einer bestimmten Rechtsordnung mit ihrer je eigenen Gerichtsbarkeit.64 Im jüngeren Territorialitätsprinzip gilt das Recht dagegen in der Fläche. Hier besitzen die Gerichte geographisch abgesteckte Gerichtssprengel.65 Zu dem Personalitätsprinzip im weiteren Sinne zählten in der frühen Neuzeit die Zunftgerichtsbarkeit,66 die Universitätsgerichtsbarkeit 67 und auch die Militärgerichtsbarkeit.68 Das Territorialitätsprinzip befand sich auf dem Vormarsch, war aber oftmals noch durchlöchert. Am deutlichsten kann man diese Form von Gerichtsbarkeit bei Stadtgerichten erkennen, die im Prinzip über alle Fälle urteilten, die sich in der jeweiligen Stadt zugetragen hatten. Auf territorialer Ebene waren es die Oberappellationsgerichte, die durch ihre flächenmäßig großen Gerichtssprengel nicht unerheblich zur Staatswerdung der einzelnen Länder beitrugen. Eine interessante Mischform zwischen beiden Formen erkennt man etwa in Schleswig-­Holstein. Dort gab es ein Vierstädtegericht, das 1496 gegründet wurde. Es sollte den Rechtszug an den Lübecker Oberhof verhindern und deswegen für alle holsteinischen Städte lübischen Rechts zuständig sein. Vertreter von Kiel, Rendsburg, Itzehoe und Oldesloe bildeten das Richterkollegium. Größere Aktivitäten soll das Gericht nur bis 1669 entfaltet haben, bis 64 Hilfreich dazu Franz-­Josef Arlinghaus, Genossenschaft, Gericht und Kommunikationsstruktur. Zum Zusammenhang von Vergesellschaftung und Kommunikation vor Gericht, in: ders./Ingrid Baumgärtner/Vincenzo Colli/Susanne Lepsius/Thomas Wetzstein (Hrsg.), Praxis der Gerichtsbarkeit in europäischen Städten des Spätmittelalters. Frankfurt a. M. 2006 (Rechtsprechung. Materialien und Studien, Bd. 23), S. 155 – 186 (hier S. 156), mit Verweis auf Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. 5. Aufl. von Johannes Winckelmann. Tübingen 1972/1990, S. 418. 65 Gegenüberstellung bei Peter Oestmann, Rechtsvielfalt, in: Nils Jansen/Peter Oestmann (Hrsg.), Gewohnheit. Gebot. Gesetz. Normativität in Geschichte und Gegenwart: eine Einführung. Tübingen 2011, S. 99 – 123 (hier S. 105 – 107). 66 Zeitgenössisch: Johann Andreas Ortloff, Das Recht der Handwerker nach den allgemeinen in den deutschen Staaten geltenden Gesetzen und Zunft- und Innungsverordnungen. 2. Aufl. Erlangen 1818, S. 141 – 154; wirtschaftsgeschichtlich: Wilfried Reininghaus, Zünfte vor dem Reichskammergericht. Beispiele aus Westfalen, in: Anja Amend-­Traut/Albrecht Cordes/Wolfgang Sellert (Hrsg.), Geld, Handel, Wirtschaft. Höchste Gerichte im Alten Reich als Spruchkörper und Institution. Berlin/Boston 2013 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, NF., Bd. 23), S. 43 – 60; Schlaglichter auf Rechtsstreitigkeiten bei Philipp Nordloh, Kölner Zunftprozesse vor dem Reichskammergericht. Frankfurt a. M. 2008 (Rechtshistorische Reihe, Bd. 370). 67 Stefan Brüdermann, Göttinger Studenten und akademische Gerichtsbarkeit im 18. Jahrhundert. Göttingen 1990 (Göttinger Universitätsschriften, Reihe A, Bd. 15); hierzu auch der Beitrag von Marian Füssel im vorliegenden Band. 68 Markus Meumann, Art. Militärgerichtsbarkeit, in: HRG , Bd. 3. 2. Aufl. Berlin 2016, Sp. 1505 – 1512; hierzu bereitet Sandro Wiggerich, Münster, eine Untersuchung vor.

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es schließlich 1737 förmlich aufgelöst wurde.69 Schaut man etwas genauer hin, handelte es sich aber um ein Appellationsgericht für holsteinische Städte, eingerichtet unter maßgeblicher Regie des Landesfürsten. Dementsprechend hat man es mit dem moderneren Typ des Territorialitätsprinzips zu tun. Der angestammte Oberhofzug kam damit zu seinem Ende. Im Spannungsfeld zwischen Personalität und Territorialität ist auch die religiöse Gerichtsbarkeit anzuordnen. Bei der jüdischen Gerichtsbarkeit leuchtet das unmittelbar ein. Es handelte sich um eine Minderheit mit ihrer eigenen Gewalt über die eigenen Mitglieder.70 Etwas schwieriger ist es, die christlich-­kirchliche Gerichtsbarkeit typologisch einzuordnen. Auf der einen Seite geht es auch hier um den Zugriff einer Organisation auf ihre Mitglieder. Aber zugleich waren die meisten frühneuzeitlichen Territorien konfessionell weitgehend homogen. Die kirchliche Gerichtsgewalt erfasste innerhalb ihres geographischen Bezirks daher die Masse der Bevölkerung und nicht nur einzelne Gruppen. In prinzipieller Hinsicht sind die katholische Offizialatsjustiz und die evangelische Konsistorialtätigkeit deutlich voneinander zu unterscheiden. Die katholische Gerichtsbarkeit war in ein Instanzensystem eingebunden, das aus dem Territorium, ja sogar aus dem Alten Reich hinausführte. Zugleich arbeiteten diese Gerichte gerade in geistlichen Territorien zugleich als reguläre Zivilgerichte. Im evangelischen Bereich dagegen war der Landesherr tatsächlich der Summepiskopus. Die Konsistorialgerichte hatten damit keine außerterritoriale Instanz über sich. Der Fürst als Kirchenoberhaupt war in seiner Rolle als kirchlicher Gerichtsherr tatsächlich souverän im rechtlichen Sinne.71

3. Gewaltenteilung und Gewalteneinheit Der dritte typologische Aspekt, der für die frühneuzeitliche Gemengelage ganz bezeichnend zu sein scheint, ist die von Gericht zu Gericht verschiedene Ausprägung von Gewaltenteilung und Gewalteneinheit. Modernisierung und Beharrung lassen sich hier in derselben Zeit beobachten, ebenso wie in vielen anderen 69 Klaus-­Joachim Lorenzen-­Schmidt/Ortwin Pelc (Hrsg.), Schleswig-­Holstein-­Lexikon. 2. Aufl. Neumünster 2006, S. 596; auch online unter http://www.geschichte-­s-­h.de/vierstaedtegericht/ (abgerufen am 17. August 2017); Quellen bei Franz Gundlach (Hrsg.), Das älteste Urteilbuch des Holsteinischen Vierstädtegerichts 1497 – 1574. Kiel 1925 (Quellen und Forschungen zur Geschichte Schleswig-­Holsteins, Bd. 10). 70 Andreas Gotzmann/Stephan Wendehorst (Hrsg.), Juden im Recht. Neue Zugänge zur Rechtsgeschichte der Juden im Alten Reich. Berlin 2007 (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 39); Birgit Klein, Art. Jüdische Gerichtsbarkeit, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 6. Stuttgart 2007, Sp. 98 – 105; hierzu in diesem Band Stefan Rohrbacher. 71 Umfassend Oestmann, Geistliche und weltliche Gerichte (wie Anm. 31).

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Bereichen ältere und jüngere Formen sich überlappten. Es gab Gerichte, die ausschließlich als Gerichte arbeiteten, allen voran das Reichskammergericht.72 Und es bestanden Behörden, die zugleich andere Formen der Herrschaft praktizierten. Auf territorialer Ebene hatte man hierfür einen ganzen Strauß von Namen: Justizkanzleien, Regierungen, teilweise auch Hofgerichte. Funktional ausdifferenzierte Institutionen wie das Reichskammergericht waren vermutlich die Ausnahme, aber es gab sie. Angesichts der großen Zahl deutscher Territorien fallen die Forschungslücken in diesem Bereich sofort ins Auge. Die Gerichtsverfassung zahlreicher Territorien steht nur in groben Umrissen fest. Die Einzelheiten sind oft nicht wirklich bekannt. Aber zumindest namhafte Institutionen wie das Wismarer Tribunal oder das Oberappellationsgericht Celle waren Justizbehörden, die man speziell als Gerichte gegründet hatte und die auch vornehmlich als Gerichte arbeiteten.73 Auf der anderen Seite übten Regierungsstellen wie selbstverständlich gerichtliche Aufgaben aus. Das galt auch im kleinen Rahmen vor Amtleuten, die nicht unbedingt in der Residenz saßen, sondern dezentral über das Territorium verteilt waren.74

4. Nähe und Ferne vom Herrscher Der vierte und letzte typologische Aspekt, um den es gehen soll, betrifft die Nähe und Ferne der Gerichte zum Herrscher. Der Ausgangspunkt ist klar: Die Gerichtsgewalt, die iurisdictio, galt in der frühen Neuzeit als das wichtigste Herrschaftsrecht 72 Oestmann, Wege zur Rechtsgeschichte (wie Anm. 28), S. 168. Meinhard Schröder, Gesetzesbindung des Richters und Rechtsweggarantie im Mehrebenensystem. Tübingen 2010 (Verfassungsentwicklung in Europa, Bd. 3), S. 20, lässt die Gewaltenteilung dagegen selbst mit ihren ersten Ansätzen erst in Preußen im 18. Jahrhundert beginnen. 73 Peter Jessen, Der Einfluß von Reichshofrat und Reichskammergericht auf die Entstehung und Entwicklung des Oberappellationsgerichts Celle unter besonderer Berücksichtigung des Kampfes um das kurhannoversche Privilegium de non appellando illimitatum. Aalen 1986 (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, NF., Bd. 27); Stefan Andreas Stodolkowitz, Das Oberappellationsgericht Celle und seine Rechtsprechung im 18. Jahrhundert. Köln/Weimar/Wien 2011 (QFHG, Bd. 59); Kjell Åke Modéer, Gerichtsbarkeiten der schwedischen Krone im deutschen Reichsterritorium, Bd. 1: Voraussetzungen und Aufbau 1630 – 1657. Stockholm 1975 (Skrifter utgivna av Institutet för Rättshistorisk Forskning grundat av Gustav och Carin Olin. Serien I: Rättshistorisk Bibliotek, Bd. 24); Nils Jörn/ Bernhard Diestelkamp/Kjell Åke Modéer (Hrsg.), Integration durch Recht. Das Wismarer Tribunal (1653 – 1806). Köln/Weimar/Wien 2003 (QFHG, Bd. 47). 74 Stefan Brakensiek, Fürstendiener – Staatsbeamte – Bürger. Amtsführung und Lebenswelt der Ortsbeamten in niederhessischen Kleinstädten (1750 – 1830). Göttingen 1999 (Bürgertum, Bd. 12); Beispiel aus dem hannoverschen Bereich: Frank Weissenborn, Gerichtsbarkeit im Amt Harste bei Göttingen. Göttingen 1993.

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schlechthin.75 Deswegen versuchten zahlreiche Landesherren, die Staatswerdung ihrer Territorien voranzubringen, indem sie Gerichte gründeten oder reformierten, die eng an sie selbst angebunden waren. Den denkbar größten Gegensatz zu solchen landesherrlichen Gerichten bildeten vielleicht die Patrimonialgerichte. Sie waren besonders weit vom Herrscher entfernt und beruhten auf dem Eigentum oder zumindest der Nutzung von Grund und Boden.76 In Sachsen soll in der Zeit um 1600 etwa ein Fünftel der Rittergüter die Patrimonialgerichtsbarkeit besessen haben,77 in Schlesien erfasste die Patrimonialjustiz angeblich über 60 Prozent der Einwohner.78 Gegenüber den Patrimonialgerichten gab es in bestimmten Fällen zwar Kontroll- und Bestätigungsrechte der landesherrlichen Behörden. Aber im Kern war diese Form der Gerichtsbarkeit dem landesherrlichen Zugriff doch weithin entzogen. Über die Nähe und Ferne zum Herrscher diskutiert man in der Literatur teilweise, indem man Hofgerichte älteren und jüngeren Typs gegenüberstellt.79 Hofgerichte älteren Typs bezeichnen hierbei dinggenossenschaftliche Kollegialgerichte, die eng an die Person des Herrschers gebunden waren und teilweise mit ihm umherzogen. Der Herrscher war oftmals zugleich Gerichtsvorsitzender, wenn auch nicht Urteiler. Hofgerichte neueren Typs heißen demgegenüber Institutionen, die mit studierten Richtern besetzt waren. Tendenziell zog der Herrscher sich aus dieser Art von Gerichtstätigkeit nach und nach zurück.80 Trotz vielfacher Mischformen 75 Dietmar Willoweit, Rechtsgrundlagen der Territorialgewalt. Landesobrigkeit, Herrschaftsrechte und Territorium in der Rechtswissenschaft der Neuzeit. Köln/Wien 1975 (Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 11), S. 17 – 47, 186 – 213; Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1: Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600 – 1800. München 1988, S. 156 f.; Barbara Stollberg-­Rilinger, Des Kaisers alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches. München 2008, S. 28. 76 Monika Wienfort, Patrimonialgerichte in Preußen. Ländliche Gesellschaft und bürgerliches Recht 1770 – 1848/49. Göttingen 2001 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 148); Friedrich Ebel, Ursprünge und Entwicklungen adeliger Gerichtsbarkeit (Patrimonialgerichtsbarkeit) in Nord- und Ostdeutschland, in: ders., Unseren fruntlichen Grus zuvor. Deutsches Recht des Mittelalters im mittel- und osteuropäischen Raum. Kleine Schriften. Köln/Weimar/Wien 2004, S. 373 – 388. 77 Zahlenangaben bei Ulrike Ludwig, Das Herz der Justitia. Gestaltungspotentiale territorialer Herrschaft in der Strafrechts- und Gnadenpraxis am Beispiel Kursachsens 1548 – 1648. Konstanz 2008 (Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven, Bd. 16), S. 52, Anm. 180. 78 Dirk Blasius, Bürgerliche Gesellschaft und Kriminalität. Zur Sozialgeschichte Preußens im Vormärz. Göttingen 1976 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 22), S. 25. 79 Carl Blell, Art. Hofgericht, in: HRG, Bd. 1. 1. Aufl. Berlin 1971, Sp. 206 – 209. 80 Umfassend am Beispiel der sächsischen Hofgerichte Heiner Lück, Die kursächsische Gerichtsverfassung 1423 – 1550. Köln/Weimar/Wien 1997 (Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 17), S. 110 – 142.

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lassen sich die Grundtypen in der frühen Neuzeit leicht erkennen. Der Reichshofrat zählt eher noch zum älteren Typ. Er blieb wie das ältere Königliche Kammergericht 81 eng angebunden an die Person des Herrschers, damit zugleich funktional wenig ausdifferenziert,82 aber genau deswegen politisch einflussreich. Das Reichskammergericht hatten die Zeitgenossen dagegen räumlich und personell bewusst vom Herrscher gelöst, und genau aus diesem Grund war es als Gericht moderner, aber politisch weniger gewichtig. Eine Mischform zwischen Herrschernähe und Herrscherferne nahmen die Austrägalgerichte ein.83 Sie sollten als institutionalisierte Schiedsgerichte gerade bei Streitigkeiten zwischen und gegen Adlige im Einzelfall sinnvolle Lösungen finden. Das dafür erforderliche Vertrauen konnten sie freilich nur genießen, wenn sie in den Augen der Beteiligten nicht zu eng mit einer Seite verbunden waren. Es gab daher in einigen Gegenden das Einspruchsrecht der Parteien gegen bestimmte Mitglieder des Austrägalgerichts oder noch stärker ein Vorschlags- oder Nominierungsrecht für die Besetzung des Gerichts. Damit soll es gut sein. Die knappe Übersicht hat versucht, die Buntheit der frühneuzeitlichen Gerichtsbarkeit nicht zu harmonisieren. Vielleicht entspricht das Wimmelbild 84 tatsächlich eher der vormodernen Vielfalt als das enge Korsett eines Systems. Einige Weichenstellungen sind dennoch hilfreich, etwa in Gerichte zwischen Personalitäts- und Territorialitätsprinzip, nach dem Maß der funktional ausdifferenzierten Gewaltenteilung oder nach der Nähe und Ferne zum Herrscher. 81 Zahlreiche Hinweise auf Kaiser Friedrich III. als Gerichtsvorsitzenden in der Edition von Friedrich Battenberg/Bernhard Diestelkamp (Hrsg.), Die Protokoll- und Urteilsbücher des Königlichen Kammergerichts aus den Jahren 1465 bis 1480. Mit Vaganten und Ergänzungen, 3 Bde. Köln/Weimar/Wien 2004 (QFHG, Bd. 44). 82 Barbara Stollberg-­Rilinger, Die Würde des Gerichts. Spielten symbolische Formen an den höchsten Reichsgerichten eine Rolle?, in: Peter Oestmann (Hrsg.), Zwischen Formstrenge und Billigkeit. Forschungen zum vormodernen Zivilprozeß. Köln/Weimar/Wien 2009 (QFHG, Bd. 56), S. 191 – 216 (hier S. 213 – 215). 83 Siegrid Westphal, Austräge als Mittel der Streitbeilegung im frühneuzeitlichen Adel des Alten Reiches, in: Albrecht Cordes (Hrsg.), Mit Freundschaft oder mit Recht? Inner- und außergerichtliche Alternativen zur kontroversen Streitentscheidung im 15.–19. Jahrhundert. Köln/Weimar/Wien 2015 (QFHG, Bd. 65), S. 159 – 173; Nils Meurer, Die Entwicklung der Austrägalgerichtsbarkeit bis zur Reichskammergerichtsordnung von 1495, in: Anette Baumann/Peter Oestmann/Stephan Wendehorst/Siegrid Westphal (Hrsg.), Prozesspraxis im Alten Reich. Annäherungen – Fallstudien – Statistiken. Köln/Weimar/Wien 2005 (QFHG, Bd. 50), S. 17 – 52. 84 So Tilman Repgen, Produktive Unruhe – kein Recht ohne Form, Besprechung von Oestmann (Hrsg.), Zwischen Formstrenge (wie Anm. 82), in: Rechtsgeschichte 18 (2011), S. 233 – 235 (hier S. 233); ders., „Nur schildern, wie es war“, in: Rechtsgeschichte 23 (2015), S. 268 f. (hier S. 269).

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Vor allem kommt es darauf an, bewusst den Blick auf die Wandlungen der überkommenen dinggenossenschaftlichen Rechtspflege zu lenken. Hiervor darf man nicht die Augen verschließen. Es handelt sich bei den überkommenen Laiengerichten nicht um wenige Reste kurz vor dem Aussterben, sondern um einen wesentlichen Grundzug der frühneuzeitlichen Gerichtsverfassung mindestens bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts, ein andauerndes Spannungsgefüge, „für die Zeit unlösbar“.85 Der bloße Verweis auf Rechtsmodernisierung und Reichsgerichtsbarkeit blendet möglicherweise gerade die gerichtliche Normalität weitgehend aus. Wenn es aber um die Geschichte der Rechtspraxis geht, darf man seine eigene Fragestellung nicht ausschließlich auf die schmale Spitze des Instanzenzuges verengen. Höhenkammwanderungen sind erhebend. Aber ein Gebirge besteht nicht nur aus dem einen Gipfel.

85 Leiser, Der gemeine Zivilprozeß (wie Anm. 38), S. 131.

Michael Ströhmer

Kosten, Konjunkturen, Effizienz Jurisdiktionsökonomie und Gerichtsvielfalt im Nordwesten des Alten Reiches

Der rechtshistorischen Forschung zur Höchsten Gerichtsbarkeit sind Oberflächenphänomene wie gerichtliche (1) Angebotsvielfalt, richterliche (2) Korruption oder (3) Funktionsschwächen im Einzugsgebiet von Reichskammergericht und Reichshofrat wohlbekannt. Deren tieferliegende sozioökonomische Zusammenhänge, welche auf eine mögliche Systemimmanenz zwischen Justizfinanzierung, -organisation und -nutzung hindeuten, sind dagegen oft nur unverbunden in separaten Ansätzen untersucht worden.1 Dass sich ökonomische Faktoren wie betriebswirtschaftliche Kosten oder wechselnde Konjunkturverläufe der Volkswirtschaft mittelbar auf die Effizienz vormoderner Gerichtsorganisationen auswirkten, liegt prinzipiell auf der Hand. Auch die seit dem 16. Jahrhundert aufblühende Ausdifferenzierung der Gerichtslandschaften im Alten Reich, die zur charakteristischen Gerichtsvielfalt 2 im Zentrum Europas führte, dürfte ihre ökonomischen Ursachen gehabt haben. Vor Schwierigkeiten steht die interdisziplinäre Forschung jedoch immer dann, wenn 1 Zur Finanzierung eines der Reichsgerichte vgl. Wolfgang Sellert, Besoldungen und Einkünfte der Richter am Kaiserlichen Reichshofrat, in: Anja Amend-­Traut/Albrecht Cordes/ ders. (Hrsg.), Geld, Handel, Wirtschaft. Höchste Gerichte im Alten Reich als Spruchkörper und Institution. Berlin/Boston 2013 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, NF., Bd. 23), S. 267 – 294. Unter dem Sammelbegriff „gerichtliche Zugangsschwellen“ sind in jüngeren Feldstudien zur territorialen Straf- und Zivilrechtspflege im Alten Reich die vom Gericht erhobenen Verfahrenskosten bei den ländlichen Niedergerichten als ein „maßgeblicher“ Faktor vormoderner Justiznutzung betont worden. Dieser ökonomische Konnex, der in Teilen der Bevölkerung zwischen der individuellen Finanzierbarkeit und der Akzeptanz eines Rechtsweges hergestellt wurde, entschied nicht zuletzt über die tatsächliche Frequentierung örtlicher Gerichtsinstanzen jenseits der gesetzlichen Norm. Vgl. exemplarisch für Brandenburg Jenny Thauer, Gerichtspraxis in der ländlichen Gesellschaft. Eine mikrohistorische Untersuchung am Beispiel eines altmärkischen Patrimonialgerichts um 1700. Berlin 2001 (Berliner Juristische Universitätsschriften, Grundlagen des Rechts, Bd. 18), S. 37 – 54. Zur unterschiedlichen Frequentierung europäischer Gerichte vgl. Erhard Blankenburg (Hrsg.), Prozeßflut? Studien zur Prozeßtätigkeit europäischer Gerichte in historischen Zeitreihen und im Rechtsvergleich. Köln 1989. 2 Vgl. jüngst Thomas Olechowski/Eva Ortlieb/Christoph Schmetterer (Hrsg.), Gerichtsvielfalt in Wien. Forschungen zum modernen Gerichtsbegriff. Wien 2016 (Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs, Jg. 6, Bd. 2); Anja Amend/Anette Baumann/Stephan Wendehorst/Siegrid Westphal (Hrsg.), Gerichtslandschaft Altes Reich. Höchste Gerichtsbarkeit und territoriale Rechtsprechung. Köln/Weimar/Wien 2007 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, künftig: QFHG, Bd. 52).

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es darum geht, die vermuteten Interdependenzen zwischen Wirtschafts- und Justizentwicklung am Fallbeispiel zu konkretisieren, ja möglichst mit harten Fakten zu belegen. Bevor im Folgenden versucht werden soll, die Mechanismen einer so gedachten Jurisdiktionsökonomie an Beobachtungen aus zwei nordwestdeutschen Reichsterritorien zu skizzieren, sei zuvor ein Seitenblick auf die Doppelspitze des Alten Reiches geworfen. Hierbei werden flüchtig drei vielversprechende Anknüpfungspunkte aus der Vogelperspektive gestreift, die sich zwischen Reichs- und Territorialgerichtsbarkeit aus dem derzeitigen Forschungsstand ergeben. Ad 1 Angebotsvielfalt: Aufgrund des dualistischen Verfassungsgefüges im Reich herrschte während der gut dreihundertjährigen Koexistenz zwischen Reichskammergericht und Reichshofrat eine latente Wettbewerbssituation.3 Aus ihrer doppelten Kompetenzüberschneidung 4 in der Sache wie im Raum dürften sich die stärksten Antriebskräfte für dieses Doppelangebot entwickelt haben. Auf der obersten Reichsebene spiegelte sich damit ein typisches, wenn auch stark polarisiertes Charakteristikum von Gerichtsvielfalt wider, welches seine vielgestaltigen Entsprechungen auf der Territorial- und Kommunalebene hatte. Hinsichtlich der Kostenfrage wurden bisher vor allem die Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Verfahrensmodi an 3 Zum kontrovers diskutierten „Konkurrenz“-Begriff vgl. den Sammelband von Wolfgang Sellert (Hrsg.), Reichshofrat und Reichskammergericht. Ein Konkurrenzverhältnis. Köln/ Weimar/Wien 1999 (QFHG, Bd. 34); Peter Moraw, Art. Reichshofrat, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (künftig: HRG), Bd. 4. 1. Aufl. Berlin 1990, Sp. 630 – 638 (hier Sp. 635). Moraw mahnt allerdings im Vergleich zum Reichskammergericht auch an, die „ergänzende, parallele und gemeinschaftliche Funktion“ beider Reichsgerichte im Auge zu behalten. Siehe auch Siegrid Westphal, Kaiserliche Rechtsprechung und herrschaftliche Stabilisierung. Reichsgerichtsbarkeit in den thüringischen Territorialstaaten 1648 – 1806. Köln/Weimar/Wien 2002 (QFHG , Bd. 43), S. 6, 267; Tobias Schenk, Ein Erschließungsprojekt für die Akten des Kaiserlichen Reichshofrats, in: Archivar – Zeitschrift für Archivwesen 3 (2010), S. 285 – 290 (hier S. 286); ferner Ellen Franke, Bene appellatum et male iudicatum. Appellationen an den Reichshofrat in der Mitte des 17. Jahrhunderts an Beispielen aus dem Niedersächsisch-­Westfälischen Reichskreis, in: Leopold Auer/Eva Ortlieb (Hrsg.), Appellation und Revision im Europa des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. Wien 2013 (Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs, Jg. 3, Bd. 1), S. 121 – 145 (hier S. 131 f.), verfügbar unter http://hw.oeaw.ac.at/7432 – 5inhalt?frames=yes (abgerufen am 8. April 2019); Alexander Denzler/Ellen Franke/Britta Schneider, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Prozessakten, Parteien und Partikularinteressen. Höchstgerichtsbarkeit in der Mitte Europas vom 15. bis zum 19. Jahrhundert. Berlin/Boston 2015 (bibliothek altes Reich, Bd. 17), S. 1 – 29 (hier S. 26). 4 Zum erheblichen Spannungsverhältnis des Reichskammergerichts zwischen den „gesetzlich zugeschriebenen Wirkungsmöglichkeiten und ihrer realen Umsetzung“ vgl. Sigrid Jahns, Das Reichskammergericht und seine Richter. Verfassung und Sozialstruktur eines höchsten Gerichts im Alten Reich, Teil 1: Darstellung. Köln/Weimar/Wien 2012 (QFHG, Bd. 26/I), S. 75 – 82.

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beiden Reichsgerichten diskutiert. Hierbei standen besonders die Möglichkeiten einer Prozessbeschleunigung im Fokus, die den Parteien auf ihren Rechtswegen Zeit und Geld ersparen sollten.5 So zeichnet sich in der Reichsgerichtsforschung die These ab, dass das mobile Kommissionsverfahren des Reichshofrats gegenüber dem örtlich gebundenen Prozess, der beim Reichskammergericht ausschließlich in Speyer oder Wetzlar zu führen war, unterm Strich für die Parteien kostengünstiger gewesen sein könnte.6 Für diese Einschätzung sprechen aus wirtschaftshistorischer Sicht bekannte Mechanismen wie der wachsende Zeit-­Wege-­Widerstand bei steigenden Mobilitäts- und Säumniskosten für die streitenden Privathaushalte, dessen finanzielle Überwindung vor allem einkommensschwächeren Nutzern 7 Probleme bereiten konnte.8 Die Reichsgerichte waren sich dieses Standortnachteils offenbar schon im 16. Jahrhundert bewusst geworden, als sie all denjenigen Parteien, die in der Peripherie ihres Einzugsgebietes wohnten, distanzabhängige Ladungsfristen einräumten.9 Hier könnte der Wiener Reichshofrat mit seinen mobilen und in der 5 Vgl. hinsichtlich des Mandatsprozesses am Reichskammergericht Adolf Laufs, Art. Reichskammergericht, in: HRG, Bd. 4. 1. Aufl. Berlin 1990, Sp. 655 – 662 (hier Sp. 659). Wolfgang Sellert meint, dass das Reichshofrats-­Verfahren „weniger umständlich und daher i. d. R. schneller und effektiver als der reichskammergerichtliche Prozeß war.“ Wolfgang Sellert, Projekt einer Erschließung der Akten des Reichshofrats, in: ders. (Hrsg.), Reichshofrat und Reichskammergericht (wie Anm. 3), S. 199 – 210 (hier S. 201). 6 Vgl. mit Bezug auf den gütlichen Parteienvergleich Eva Ortlieb, Reichshofrat und kaiserliche Kommissionen in der Regierungszeit Kaiser Ferdinands III. (1637 – 1657), in: Sellert (Hrsg.), Reichshofrat und Reichskammergericht (wie Anm. 3), S. 47 – 81 (hier S. 58). 7 Für die soziale Exklusivität der meisten Streitparteien, die am Reichshofrat verhandelten, spricht die „Mehrheit der Beteiligten aus dem Hoch- und Niederadel – namentlich unter Grafen und Rittern, die jeweils mehr als 30 Prozent der Kläger und Beklagten im Zusammenhang mit kaiserlichen Kommissionen stellten.“ Ortlieb, Reichshofrat und kaiserliche Kommissionen (wie Anm. 6), S. 64. 8 So zeigt Ortlieb zum Nutzerverhalten der Parteien, dass Kommissare des Reichshofrats abgelehnt wurden, weil sie „für die Durchführung kostengünstiger und zügiger Verhandlungen zu weit von den Betroffenen entfernt ansässig waren […].“ Diesem Kostendruck dürften vor allem die finanzschwächeren Kläger und Beklagten, die „personae miserabiles“, ausgesetzt gewesen sein. Ihren Anteil schätzt Ortlieb für die Mitte des 17. Jahrhunderts auf immerhin ca. 20 Prozent der Kläger, welche sich vor allem aus Frauen und Witwen zusammensetzten. Als besonders schutzbedürftigen Personen sei Witwen und Waisen aus Sicht des Kaisers „die Ausführung eines ordentlichen Prozesses“ in Wien nicht zuzumuten gewesen. Ortlieb, Reichshofrat und kaiserliche Kommissionen (wie Anm. 6), S. 68. 9 Vgl. die entsprechenden Auszüge aus den Kammergerichtsmemorialen von 1557, 1559 und 1578, die später Aufnahme im Corpus Iuris Cameralis fanden: […] termini in den Citationen besonders, so an abgelegenen weiten orten zu verkünden, nicht zu kurtz, sondern räumlich gesetzet werden, auf daß die citierten nicht übereilet, sondern in bestimmter Zeit an dieses Gerichte gelangen mögen […]. Zitiert nach Wolfgang Sellert, Die Ladung des Beklagten vor das Reichskammergericht. Eine Auswertung von Kammerbotenberichten, in: Zeitschrift der

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Nachbarschaft 10 beauftragten Kommissaren theoretisch einen Wettbewerbsvorteil gegenüber Speyer und Wetzlar geboten haben, den Laien und Juristen durchaus kannten und auch nutzen wollten. Dieses zeitgenössische Preisbewusstsein als Prämisse voraussetzend, dürfte die für die Parteien rechtlich zwar freie, aber geographisch eben doch limitierte Gerichtswahl einen organisatorischen Anpassungsdruck auf die obersten Reichsgerichte ausgeübt haben. Ad. 2 Korruption: Einen Klassiker der Finanzierungsdebatte auf Reichsebene stellt die chronische Unterfinanzierung 11 der professionellen Kollegien am Reichskammergericht und Reichshofrat dar. Zu niedrige Saläre, deren unregelmäßige Auszahlung und repräsentative Zwänge, denen vor allem illustre Assessoren und Kammerrichter in der Standesgesellschaft ausgesetzt waren, führten an den Reichsgerichten nicht selten zu erfolgreichen Bestechungsversuchen.12 Ein weiteres Phänomen dieser Finanznot, deren Bewältigung sich im 17. und 18. Jahrhundert jedoch stets in einer rechtlichen Grauzone bewegte, stellt das Vermittlungs- und Beschleunigungsgeschäft der Sollizitanten dar. Deren zweifelhafte Erfolge haben sich bekanntlich bis auf den heutigen Tag im Stadtbild Wetzlars unter anderem im Palais Papius materialisiert.13 Weiterführend scheint hierbei die grundlegende Erkenntnis aus der aktuellen Forschungsdiskussion zu sein, dass sich der Austausch von Gabe und Gegengabe nicht allein auf der rein materiellen Ebene von Finanztransaktionen bewegen konnte. Vielmehr zeigt sich, dass sich harte Geldleistungen über beziehungsförmige Korruptionen in weiches, immaterielles Sozialkapital

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Savigny-­Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 84 (1967), S. 202 – 235 (hier S. 206). Sabine Ullmann betont, dass die „Funktionsweise“ der kaiserlichen Kommissionsarbeit auch Mitte des 16. Jahrhunderts dezidiert „als regionales Geschehen zu begreifen ist.“ Die „Wiener Gerichtsbarkeit“ habe sich „zum größten Teil in Raumdimensionen [abgespielt], die mit den verkehrstechnischen Mitteln der Zeit in wenigen Tagesreisen zu bewältigen waren.“ Letztlich bestimmten die örtlichen Verhältnisse in der „Nachbarschaft“ die „konfliktregulierende, handlungsleitende Norm“ für die Parteien. Sabine Ullmann, Geschichte auf der langen Bank. Die Kommissionen des Reichshofrates unter Kaiser Maximilian  II. (1564 – 1576). Mainz 2006 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung für Universalgeschichte, Bd. 214, Beiträge zur Sozial- und Verfassungsgeschichte des Alten Reiches, Bd. 18), S. 194 f. Jahns, Das Reichskammergericht und seine Richter, Teil 1 (wie Anm. 4), S. 88. Vgl. Maria von Loewenich, Korruption im Kammerrichteramt. Das Beispiel Karl Phillips von Hohenlohe-­Bartenstein, in: Amend-­Traut/Cordes/Sellert (Hrsg.), Geld, Handel, Wirtschaft (wie Anm. 1), S. 249 – 265. Allgemein zu diesen Fällen Bernhard Diestelkamp, Rechtsfälle aus dem Alten Reich. Denkwürdige Prozesse vor dem Reichskammergericht. München 1995, S. 21 – 23; im Speziellen mit ausdifferenzierter Begriffstrennung zwischen „Ad-­hoc-­Bestechung“ und „beziehungsförmiger Korruption“ vgl. von Loewenich, Korruption im Kammerrichteramt (wie Anm. 12), S. 254 f., 259.

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transformieren ließen – und umgekehrt. Horizonterweiternd sind ebenfalls jene finanzgeschichtlichen Erkenntnisse, die sich jenseits der Norm kaiserlicher Verordnungen kritisch mit dem Ist-­Zustand der Besoldungswirklichkeit der obersten Richterkollegien auseinandersetzen.14 Hierbei werden mögliche Zusammenhänge diskutiert, die zwischen einer chaotischen Personalfinanzierung der Wiener Hofkammer und deren wirtschaftlichen Ursachen und Auswirkungen verantwortlich gemacht werden können, kurz: es geht auch hier bereits um potentielle Abhängigkeiten einer Reichsjustiz, die in übergeordnete Wirtschaftskreisläufe eingebunden war.15 Deren saisonale Schwankungen und Konjunkturverläufe, Inflationen und Kaufkraftverluste des Goldguldens oder die zunehmende Verschuldung der kaiserlichen Hofkammer erklären zumindest mittelbar die viel beklagte Personalnot – und damit das erhöhte Bestechungspotential – der obersten Reichsgerichte.16 Ad 3 Funktionsschwächen: Im synchronen wie diachronen Vergleich nahmen die beiden Reichsgerichte aufgrund der räumlichen Überschneidungen ihrer Einzugsgebiete zahlreiche Aufgaben parallel wahr. Mangels eines zentralen und auf Dauer etablierten Gerichtsortes, dessen Einrichtung im Vorfeld der Reichsreform im 15. Jahrhundert immer wieder angedacht worden war,17 entstanden seit 1495 zwangsläufig Rivalitäten im jurisdiktionellen Gefüge des Alten Reiches. Dabei unterlagen Zuschnitt und Reichweite der Einzugsgebiete von Reichskammergericht und Reichshofrat einem konjunkturellen Wandel. Als bekanntes Beispiel sei hier nur auf die seit dem 17. Jahrhundert einsetzende Süd-­Nord-­Verschiebung im Sprengel des Reichskammergerichts verwiesen, deren klassische Klientel im königsnahen Südwesten sich offenbar bis ins 18. Jahrhundert zunehmend nach 14 Vgl. Wolfgang Sellert, Besoldungen und Einkünfte der Richter am Kaiserlichen Reichshofrat, in: Amend-­Traut/Cordes/ders. (Hrsg.), Geld, Handel, Wirtschaft (wie Anm. 1), S. 267 – 294. 15 Sigrid Jahns nennt als institutionelle Wandlungsfaktoren eher allgemeine Fundamentalprozesse der frühneuzeitlichen Wirtschafts- und Sozialgeschichte wie eine „ausdifferenzierte Geldwirtschaft“, den „Ausbau des Territorialstaates“, die zunehmende „Verschuldung des niederen Adels“ oder „innerstädtische Umstrukturierungen am Beginn der Protoindustrialisierung“. Jahns, Das Reichskammergericht und seine Richter, Teil 1 (wie Anm. 4), S. 88. 16 Auch wenn Sellert hinsichtlich des Reichshofrats zu dem Ergebnis kommt, dass es bei den Reichshofräten kaum zu signifikanten Gehaltsanpassungen aufgrund von „revolutionären Preisentwicklungen“ oder „inflatorischen Wirtschaftskrisen“ gekommen sei, bleibt freilich die Frage nach möglichen Kompensationsleistungen für die konstatierte Unterfinanzierung bestehen. Sellert, Besoldungen und Einkünfte (wie Anm. 14), S. 285. 17 Zum Problem gerichtlicher Zentralität im Kontext der Hauptstadtfrage vgl. Wilhelm Brauneder, Reichshaupt- und Residenzstadt, in: Heiner Lück (Hrsg.), Tangermünde, die Altmark und das Reichsrecht. Impulse aus dem Norden des Reiches für eine europäische Rechtskultur. Stuttgart/Leipzig 2008 (Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Philologisch-­historische Klasse, Bd. 81/1), S. 18 – 29 (hier S. 25 – 27).

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Wien orientierte.18 Zu einer weiteren räumlichen Funktionsdifferenzierung kam es dann zwischen den Reichsgerichten aufgrund der voranschreitenden Arrondierungs- und Abschließungstendenzen in den geschlossenen Territorien des Ersten und Zweiten Deutschlands. Die seit der Mitte des 18. Jahrhunderts nun auch machtpolitisch unterfütterte Durchsetzbarkeit von Exemtionen 19 führte bei beiden Reichsgerichten zu unübersehbaren Bedeutungsverlusten in der Fläche.20 Der hier sich abzeichnende Konnex zwischen politischem Wandel und abschmelzenden Einzugsgebieten dürfte auch ihre ökonomischen Ursachen gehabt haben. Eine intensivere Beleuchtung des topographischen Arguments auf Reichsebene könnte dabei helfen, die bisher statistisch erfassten Konjunkturverläufe im Nachfrageverhalten von Parteien auch auf mögliche wirtschaftliche Einflüsse hin erklären zu können. Funktionsschwächen von Justiz im geographischen Raum würden demnach immer auch auf Strukturschwächen ihres makro- wie mikroökonomischen Fundaments verweisen. Um die hier nur angedeuteten Zusammenhänge konkretisieren zu können, zu deren Klärung bisher allein Kaiser und Reich in den Zeugenstand gerufen worden sind, soll im Folgenden ein Perspektivwechsel auf die Territorialebene vollzogen werden. Wie bei den höchsten Reichsgerichten, so die These, hing auch die Effizienz von mittleren Landes- und niederen Kommunalgerichten ganz wesentlich von den jeweiligen Kosten ihrer Organisation und den Konjunkturen ihrer Nutzung, kurz, ihrer Jurisdiktionsökonomie ab.

18 Vgl. im chronologischen Überblick Laufs, Art. Reichskammergericht (wie Anm. 5), Sp. 660. Tiefergehend für das 16. Jahrhundert Filippo Ranieri, Recht und Gesellschaft im Zeitalter der Rezeption. Eine rechts- und sozialgeschichtliche Analyse der Tätigkeit des Reichskammergerichts im 16. Jahrhundert, zwei Teilbände. Köln/Wien 1985 (QFHG, Bd. 17/I–II). Zur weiteren Entwicklung vgl. Anette Baumann, Die Gesellschaft der Frühen Neuzeit im Spiegel der Reichskammergerichtsprozesse. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung zum 17. und 18. Jahrhundert. Köln/Weimar/Wien 2001 (QFHG, Bd. 36). 19 Zu den realen Umsetzungsproblemen einer nur „mittelbaren Exekutionsgewalt“ beim Reichskammergericht vgl. Jahns, Das Reichskammergericht und seine Richter, Teil 1 (wie Anm. 4), S. 83 – 85. 20 Besonders drastisch zeigte sich der Bedeutungsverlust des Reichskammergerichts im Preußen Friedrichs II., der Kammerboten, die Vorladungen im Berliner Schloss übergeben wollten, verhaften und unter Militärkommando zur Landesgrenze bringen ließ. Vgl. Sellert, Die Ladung des Beklagten (wie Anm. 9), S. 224.

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1. Jurisdiktionsökonomie – was ist das? Das Konzept der Jurisdiktionsökonomie basiert auf der Grundidee, rechts- und sozialhistorische Fragestellungen der Justiznutzung mit dem Instrumentarium der neueren Wirtschaftsgeschichte zu analysieren.21 Sie versteht sich dabei ausdrücklich als eine Ergänzung und Erweiterung des älteren Deutungskonzeptes von Justiznutzung, das vor allem von der frühneuzeitlichen Kriminalitätsforschung entwickelt und seit nunmehr gut 20 Jahren vielfach erprobt worden ist.22 Unter Anwendung wirtschaftswissenschaftlicher Prämissen und der Terminologie der sogenannten Neuen Institutionen Ökonomik (NIÖ ) untersucht die Ökonomik der Justiz dezidiert die wirtschaftlichen Aspekte von Organisation, Finanzierung und Nutzung historischer Rechtspflege.23 In Ergänzung zur klassischen Rechtsgeschichte definiert sie beispielsweise Gerichtsverfahren als einen Austauschprozess von Gütern und Dienstleistungen zwischen Justiznutzern. Dabei werden sowohl die materiellen wie immateriellen Aufwendungen der Tauschpartner berücksichtigt. Vorausgesetzt wird zudem, dass bei allen gerichtlichen Tauschprozessen sogenannte Transaktionskosten anfallen. Und deren Bilanzierung übte, so eine weitere Arbeitshypothese, eine systembildende wie -regulierende Wirkung auf das Institutionensetting von Justiz aus. Neben eindeutig quantifizierbaren Geldbeträgen wie Gerichtsgebühren, Strafsätzen, Gehaltszahlungen, Verdienstausfall oder Reisekosten fließen in die Transaktionskostenanalyse aber auch jene Ressourcen mit ein, die in der jüngeren Kulturgeschichte unter den Sammelbegriffen Sozialkapital gebündelt werden. Hierzu zählen vor allem Aufwendungen für den Erwerb und Einsatz von Sozialkapital, das sich, wenn überhaupt, nur indirekt 21 Zu den Konzeptionsgrundlagen am Beispiel eines geistlichen Staates im Nordwesten des Reiches vgl. Michael Ströhmer, Jurisdiktionsökonomie im Fürstbistum Paderborn. Institutionen – Ressourcen – Transaktionen (1650 – 1800). Münster 2013 (Westfalen in der Vormoderne, Bd. 17, Paderborner Historische Forschungen, Bd. 17), S. 11 – 32. 22 Programmatisch Martin Dinges, Justiznutzung als soziale Kontrolle in der frühen Neuzeit, in: Andreas Blauert/Gerd Schwerhoff (Hrsg.), Kriminalitätsgeschichte. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte der Vormoderne. Konstanz 2000 (Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven, Bd. 1), S. 503 – 544. 23 Ähnliche institutionsgeschichtliche Forschungsansätze verfolgte u. a. Siegrid Westphal, Does the Holy Roman Empire need a New Institutional History?, in: R. J. W. Evans/Michael Schaich/Peter H. Wilson (Hrsg.), The Holy Roman Empire 1495 – 1806. Oxford 2011, S. 77 – 94. Zur Adaption der Neuen Institutionengeschichte und ihrer Transformation in eine „kulturelle Ökonomik“ vgl. Wolfgang Reinhard, „Kein hochgemuter Mensch auf dem Erdenrund kennt nicht von klein auf Gier“. Zur anthropologischen Kritik der ökonomischen Vernunft, in: Moritz Isenmann (Hrsg.), Merkantilismus. Wiederaufnahme einer Debatte. Stuttgart 2014 (Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 228), S. 113 – 133 (hier S. 118 f.).

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in klingender Münze beziffern lässt: auf der Anbieterseite etwa die Finanzierung symbolischer Akte, die Richter und Gerichtsherren für den Erhalt von Herrschaft und Standesehre aufbringen mussten. Oder der symbolische Einsatz von Gehorsam und Widerstand auf der Nachfrageseite. Kurz: die Jurisdiktionsökonomik fragt nach der sozioökonomischen Fundierung von Justiznutzung. Sie versucht jene betriebs- und volkswirtschaftlichen Effekte zu identifizieren, die für den Aufbau und Erhalt, aber auch den Wandel von Justizorganisationen verantwortlich gewesen sein könnten.

2. Gerichtsvielfalt: geistliche und weltliche Staaten Um diesem zunächst grau erscheinenden Theorieangebot ein wenig Farbe zu verleihen, sollen im Folgenden einige Beobachtungen aus der Rechtspraxis des 17. und 18. Jahrhunderts im Nordwesten des Alten Reiches vorgestellt werden. An ihnen soll versucht werden, die Relevanz wirtschaftshistorischer Mechanismen für die Nutzung vor allem kommunaler Niedergerichte aufzuzeigen. Hierbei wird im Untersuchungsausschnitt zudem zwischen zwei territorialen Staatsmodellen unterschieden: als typischen Vertreterinnen weltlicher Staatlichkeit zwischen den kleinen Grafschaften Schaumburg-­Lippe und Hessen-­Schaumburg einerseits und dem Hochstift Paderborn andererseits, das als geistliches Territorium mittlerer Größe angesprochen werden soll. Diese Kleinstaaten stehen in ihrer jeweiligen politischen Verfasstheit für unterschiedliche Organisationsprinzipien von Herrschaft und damit mittelbar auch von Justiz. Die beiden weltlichen Grafschaften Schaumburg sollen, freilich unter den notwendigen Abstrichen, als idealtypische Verkörperung eines zentralisierten Fürstenregiments gelten. Hier herrschten, ökonomisch gesehen, starke Monopolisierungstendenzen innerhalb der Landesgrenzen vor. Der Stiftsstaat Paderborn hingegen verkörpert eine typische Adelsrepublik. Dort kondominierten neben dem Fürstbischof starke ständische Elemente aus Domkapitel, Ritterschaft und den Landstädten, welche Zentralisierungsmaßnahmen des Fürsten nach dem Dreißigjährigen Krieg oft mit Argwohn und aktivem Widerstand begegneten.24 Aus dem ungebrochenen Behauptungswillen der Stiftsstände entwickelte sich im Gegensatz zu Schaumburg eine dezidiert dezentrale Gerichtsorganisation, die

24 Zu den Ursachen dieser bemerkenswerten „Stabilität landständischer Organisation“ vgl. am Beispiel des kurkölnischen Herzogtums Westfalen jüngst Andreas Müller, Die Ritterschaft im Herzogtum Westfalen 1651 – 1803. Aufschwörung, innere Struktur und Prosopographie. Münster 2017 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen, NF., Bd. 34), S. 144 – 147.

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bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts eine pluralistische Gerichtsvielfalt auf der Untergerichtsebene konservierte.25 Aus diesen gewachsenen Strukturen heraus ergab sich im geistlichen Staat eine äußerst komplexe Ausgangssituation für die Justiznutzung. Vergleicht man etwa die Gemengelage der Untergerichtsbezirke im Oberamt Dringenberg, das Ende des 18. Jahrhunderts mit knapp 40.000 Untertanen die östliche Hälfte des Hochstifts Paderborn einnahm, mit dessen Siedlungsstruktur, so springt das erdrückende Kondominat der Stände sofort ins Auge:26 Neben den zwölf hier ansässigen Stadtmagistraten, die bis zur Säkularisation von 1802/03 zäh an ihren lokalen Jurisdiktionsrechten festhielten, dominierte mit 46 Gerichtsdörfern vor allem die Stiftsritterschaft die Untergerichtsebene auf dem platten Land. Hier konservierte sich der Einfluss des niederen Adels in einer für den Fürstbischof erdrückenden Weise; der landesherrlichen Amtsjurisdiktion blieb mit 22 Ortsherrschaften (= 25 Prozent) gerade einmal ein Viertel aller kommunalen Gerichtsbezirke. Schließt man die kirchlichen Niedergerichte der Archidiakonate noch mit ein, deren Domherren in der Regel ebenfalls dem Stiftsadel entstammten, so lässt sich von einer stratifizierten Gerichtslandschaft sprechen, deren einzelne Sprengel sich gleich in drei Schichten überlagerten. Hier, vor der eigenen Haustür des Niedergerichts, konkurrierten weltliche wie geistliche Guts- und Grundherren mit ihrem Fürsten am heftigsten um öffentliche Regelungskompetenz. Ökonomisch gewendet, blieb folglich auf der untersten Ebene der kommunalen Gerichtsbarkeiten noch bis ins 19. Jahrhundert hinein eine stabile Angebotsvielfalt erhalten. Eine wesentliche Voraussetzung für dieses permanente Kompetenzgerangel lag, ähnlich wie bei den Reichsgerichten, in den sich sachlich wie räumlich überlagernden Zuständigkeiten. So konkurrierten im Hochstift Paderborn etwa in der niederen Strafgerichtsbarkeit (Policey- und Bagatelldelikte) gleich drei Institutionen um ihr Recht, die sogenannten delicta mixta, eine Schnittmenge aus kirchlichen und weltlichen Straftatbeständen, kostenpflichtig abzuurteilen. Blutige Schlägereien am kirchlichen Feiertag, Verbalinjurien an geweihten Orten oder sexuelle Verfehlungen im Bannkreis eines Rittergutes konnten theoretisch wie praktisch simultan sowohl vom fürstlichen Amtsrichter, dem adeligen Patrimonialgericht wie auch dem kirchlichen Sendtribunal verfolgt werden. Dieser Polyzentrismus galt prinzi 25 Peter Oestmann spricht mit Blick auf die geistliche Gerichtsbarkeit in der Frühen Neuzeit allgemein von einem „bunte[n] Nebeneinander ganz verschiedener Gerichte in Städten, Dorfgemeinden, Zünften, landesherrlichen Regierungen und anderen Institutionen“. Peter Oestmann, Wege zur Rechtsgeschichte: Gerichtsbarkeit und Verfahren. Köln/Weimar/ Wien 2015, S. 194. 26 Vgl. zu den konkreten Zahlen der statistischen Bestandsaufnahme Ströhmer, Jurisdiktionsökonomie im Fürstbistum Paderborn (wie Anm. 21), S. 75 – 127.

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piell auch für die Zivilgerichtsbarkeit. Noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts pochte der Paderborner Fürstbischof Hermann Werner von Wolff-­Metternich in einem landesherrlichen Dekret vom 18. Oktober 1700 darauf, dass seinen Obergerichtern die erste instantz concurrenter [zu den ständischen Ortsgerichten, Anm. MS] ohngekrencket verbleiben sollte.27 Daher konnte sich, wiederum ökonomisch gedeutet, besonders im Paderborner Ständestaat eine Art Justizmarkt etablieren, auf dem Angebot und Nachfrage Kosten und Preise einer im Wettbewerb stehenden Rechtsprechung beeinflussten. Und diese vermeintlich chaotische Anbieterkonkurrenz, die heute so befremdlich anmutet, verstanden findige Zeitgenossen durchaus zu ihrem Vorteil zu nutzen. Denn dieser Markt 28 bot ihnen erheblich mehr Wahlmöglichkeiten, um ihre Privatinteressen im Sinne zeitgenössischer Selbsthilfeoptionen durchsetzen zu können, als dies im streng gestuften Instanzenzug des weltlichen Zentralstaates möglich war. Inwiefern jenes höhere Maß an Libertät zur Einsparung von Transaktionskosten im Gesamtsystem beitragen konnte, gilt es weiter unten zu diskutieren. In deutlich abgeschwächter Form findet sich der ständische Einfluss in den Schaumburger Grafschaften wieder.29 Hier überwog bereits im 16. Jahrhundert eindeutig die Gerichtsbarkeit der landesherrlichen Ämter. Aber dennoch blieben auch im weltlichen Territorialstaat vereinzelte Inseln exemter Gerichtsbezirke erhalten. Vor allem in größeren Städten wie Stadthagen, aber auch im kleinen Flecken Steinhude, wehte nach Aussage der fürstlichen Beamtenschaft noch im 18. Jahrhundert ein eigensinnig „republikanischer Geist“.30 Neben den Bürgern hielten auch einzelne Herren aus der Ritterschaft zäh an ihrer althergebrachten Patrimonialgerichtsbarkeit fest. Deshalb gelang es den weltlichen Landesherren 27 Zitiert nach ebd., S. 149. 28 Nach einer Interpretation Michael S. Aßländers kann der Markt nach der libertären Wirtschaftskonzeption Adam Smiths theoretisch als „Mechanismus“ wirken, der „normalerweise in der Lage ist, Gewinnsucht und Egoismus zum Wohle aller auszugleichen“. Michael S. Assländer, Adam Smith zur Einführung. Hamburg 2007, S. 146. Ob sich diese idealtypische Ausgleichsfunktion freilich auf allen Justizmärkten beobachten lässt, bleibt mangels weiterer Feldstudien vorerst unbeantwortet. Zum alternativen „Markt“-Verständnis der Historischen Anthropologie und Ethnologie vgl. Reinhard, Kein hochgemuter Mensch (wie Anm. 23), S. 125 – 127. 29 Vgl. Karl Bömers, Staatsrecht des Fürstenthums Schaumburg-­Lippe. Freiburg 1884, S. 173 – 176; Claus Dieter Bornebusch, Das Gerichtswesen in Schaumburg-­Lippe vom Wiener Kongress bis zur Reichsjustizgesetzgebung 1815 – 1879. Rinteln 1974 (Schaumburger Studien, Bd. 34), S. 3 – 31. 30 Zitiert nach Martin Fimpel, Wege aus der Schuldenfalle. Kameralismus in Schaumburg-­ Lippe in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Hubert Höing (Hrsg.), Strukturen und Konjunkturen. Faktoren der schaumburgischen Wirtschaftsgeschichte. Bielefeld 2004 (Schaumburger Studien, Bd. 63), S. 115 – 137 (hier S. 120).

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kaum, das ständische Moment gänzlich aus dem institutionellen Wettbewerb zu verdrängen – und damit die ökonomischen Effekte einer Anbieterkonkurrenz zu beseitigen. Im Gegensatz zum Hochstift Paderborn war jedoch in den Schaumburger Grafschaften die staatliche Zentralisierung auf der lokalen Ebene wesentlich weiter vorangeschritten. Zu den grenzüberschreitenden Gemeinsamkeiten zwischen weltlichen und geistlichen Justizorganisationen gehörte das stete Bemühen der Obrigkeiten, den Zugang zu ihren Gerichten möglichst allen Untertanen zu öffnen. Ökonomisch gedeutet ging es hierbei darum, das „institutionelle Vertrauen“ 31 von Justiznutzern in die Effizienz der landesherrschaftlichen Regelungskompetenz zu stärken. Denn fehlte auf der Nachfrageseite das Grundvertrauen in die Funktions- oder Durchsetzungsfähigkeit eines Tribunals, so drohte dessen Boykottierung oder eine erneute, den Prozess begleitende electio fori. Als radikalste Form des Vertrauensverlustes dürfte jedoch die außergerichtliche, meist gewaltsame Selbstjustiz gestanden haben. Über die Anzahl dieser Fälle kann die Forschung aufgrund der hohen Dunkelziffer noch nicht einmal spekulieren. Zur Veranschaulichung derartiger Vertrauensverluste folgen nun drei kleine Fallbeispiele aus der Rechtspraxis. Sie sollen die gegenseitigen sozioökonomischen Abhängigkeiten verdeutlichen, die zwischen dem institutionellen Vertrauen des einzelnen Nutzers und den Funktionsschwächen innerhalb des Justizsystems auftreten konnten.

3. Fallbeispiele: Institutionelles Vertrauen und ökonomische Tragfähigkeit 3.1. Grafschaft Hessen-­Schaumburg: Amt Sachsenhagen 1726 Die nahezu unangefochtene Monopolstellung der fürstlichen Amtsjurisdiktion ließ in den 1720er Jahren den dort ansässigen Streitparteien kaum eine Wahl bei der Suche nach einem geeigneten Richter. Ihre marktbeherrschende Stellung ausnutzend, erlaubten sich deshalb einzelne Landesbeamte nicht selten willkürliche Preisanpassungen vorzunehmen, um über das Einstreichen erhöhter Gerichtsgebühren mit einem Plus hervorzugehen. Der moralische Grundsatz von der Erhaltung eines „gerechten Preises“ 32, dessen Verletzung in den alten 31 Vgl. Ströhmer, Jurisdiktionsökonomie im Fürstbistum Paderborn (wie Anm.  21), S. 171 – 176. 32 Zur Herleitung des Begriffs aus der „moralischen Ökonomie“ vgl. Edward P. Thompson, Die „moralische Ökonomie“ der englischen Unterschichten im 18. Jahrhundert, in: Dieter Groh (Red.), Edward P. Thompson – Plebeische Kultur und moralische Ökonomie. Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1980 (Sozialgeschichtliche Bibliothek), S. 67 – 130. Bereits

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Agrargesellschaften nicht selten Abwanderungen oder gewaltsamen Aufruhr verursachte, galt jedoch auch für die Justiznutzung im Schaumburger Land. So drohten etwa 1726 Bauern im Amt Sachsenhagen,33 die sich wegen über die Gebühr […] erpreßter Ambts Sportuln und costen bei ihrem Landesherrn Friedrich I. in Kassel beschwert hatten, gleich mit Abwanderung aus dem Amtssprengel. Andere Beschwerte, wohl vor allem jüngere Männer, kündigten die Aufnahme des Militärdienstes an, was im volkswirtschaftlichen Sinne einem schädlichen Abfluss von Arbeitskräften gleichgekommen wäre.34 Urheber ihres Widerstands seien, so Volkes Stimme, der korrupte Amtsdrost und Oberforstmeister v. Münchhausen zu Reimershausen und dessen sämbtlichen Bedienten gewesen, die im Amt Sachsenhagen ihren Dienst versahen. Um die via supplicationis an den Hof gelangte Beschwerde zu überprüfen, setzte der Geheime Rat in Kassel sogleich eine Untersuchungskommission ein. Diese vernahm unter Leitung des Fiskals Lizentiat L. W. Lenderking, der für die Regierungskanzlei in Rinteln arbeitete, die Beschwerdeführer als Zeugen auf dem Amtshaus zu Sachsenhagen. Der Vertrauensverlust in die Justiz äußerte sich, so notierte es der Fiskal, bey denen Ambts Unterthanen zum Theil in einem rebellischen Mißmuth. Nicht weniger als eine Witwe und elf Männer aus den beiden Amtsdörfern Auhagen und Düdinghausen hätten bekräftigt, daß Sie, im fall denen bißherigen Ambtsproceduren nicht bald gesteuert [= obrigkeitlich reguliert, Anm. MS] würden,

in der Klassischen Ökonomie unterscheidet Adam Smith zwischen „natürlichen Preisen“ und „Marktpreisen“. Demnach war die in ein Produkt oder eine Dienstleistung investierte Arbeit der „erste Preis oder das ursprüngliche Kaufgeld“, mit dem der adäquate Tauschwert einer Ware bestimmt wurde. Unter einem gerechten Preis verstanden die Zeitgenossen im 18. Jahrhundert womöglich jenen natürlichen Ursprungspreis des reinen Arbeitsproduktes, der von dem Justizpersonal ohne Aufschläge von ungerechten Profiten anzubieten sei. Vgl. Assländer, Adam Smith (wie Anm. 28), S. 113 f. Zur moralischen Kritik am „Geschäft über Bedarf“ des eigenen Haushalts vgl. Reinhard, Kein hochgemuter Mensch (wie Anm. 23), S. 127. 33 Laut des Teilungsvertrages und dessen Bückeburger Executions Recess vom 12. Dezember 1647 gehörten zum stark verkleinerten Amtsbezirk Sachsenhagen, der an Hessen-­Kassel fiel, neben dem gräflichen Amtshaus, Vorwerk und Mühlen der namengebende Flecken Sachsenhagen mit den umliegenden Dorfschaften und Feldmarken von Auhagen und Düdinghausen. Vgl. Auszug des Exekutionsrezesses, Hauptstaatsarchiv Marburg (künftig: HStA Ma), B 5: Hessischer Geheimer Rat, Nr. 10732, fol. 141r. Zum älteren Zuschnitt des mit zehn Dörfern ungeteilten Amtes vor 1647 vgl. Günther Schmidt, Die alte Grafschaft Schaumburg. Grundlegung der historischen Geographie des Staates Schaumburg-­Lippe und des Kreises Grafschaft Rinteln. Göttingen 1920 (Studien und Vorarbeiten zum Historischen Atlas von Niedersachsen, H. 5), S. 35 f. 34 Vgl. Akte Commission zu untersuchung […], 1727 – 1731, HStA Ma, B 5: Hessischer Geheimer Rat, Nr. 5049, fol. 1r–29r (hier fol. 6r).

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theils liber emigriren, oder eine Musquete […] erwehlen wollten.35 Ob die jungen Männer ihre Drohung wahrgemacht haben, ist der Untersuchungsakte leider nicht mehr zu entnehmen. Vergleichbare Beschwerden von geprellten Justiznutzern, die sich über das selbstherrliche Finanzgebaren einer profitorientierten Beamtenschaft beschwerten, hielten im Amtsbezirk noch bis ins Jahr 1731 an.36 3.2. Hochstift Paderborn: Jahrgericht zu Bellersen 1797 Im Herbst des Jahres 1797 kam es im Hochstift Paderborn zu einer Aufsehen erregenden Sprengung einer dörflichen Gerichtssitzung in Bellersen.37 Wie der preußische Resident im fernen Lippstadt vermeldete, seien die zu Gericht sitzenden Beamten des Fürstbischofs Opfer einer bäuerlichen Empörung geworden. Mit ein paar kräftigen Ohrfeigen vom Richterstuhl geworfen, hätte ein Mob von angeblich über 300 Gerichtsgenossen den landesherrlichen Rentmeister und Gografen mit Schimpf und Schande aus dem Ort vertrieben. Zurück blieb eine triumphierende Gerichtsgemeinde, vor deren Augen die landesherrliche Strafjustiz des Bischofs versagt hatte. Als Auslöser dieses Aufstandes können im Nachhinein vor allem überzogene Preise der Justiznutzung dinghaft gemacht werden, die Vertrauen in die Redlichkeit der Amtsrichter zerstörten. Die ökonomische Ausgewogenheit bei der Rechtsfindung war der Gemeinde vor über einem Jahrhundert in einem Rezess ihrer Gutsherren, der Ritterfamilie von Haxthausen, mit der Landesherrschaft im Jahr 1663 schriftlich garantiert worden. Hierin hieß es zur vereinbarten Ressourcenschonung, dass den straffälligen Dorfbewohnern vom fürstlichen Tribunal die üblichen Geldstrafen anzusetzen seien, wie eß die maß der begangenen That erfordert undt der persohnen vermögen erleidet. Die latente Furcht der Gutsherren, dass die 35 Die Zeugenliste unter Specificatio citandorum sowie das Verhörprotokoll vom 2. April 1726 in Sachsenhagen unter HStA Ma, B 5: Hessischer Geheimer Rat, Nr. 5049, fol. 6r, 8r–8v. 36 Leider liegen für den Fall Münchhausen nur einzelne Fragmente eines mehrjährigen Korruptionsverfahrens vor, das mit weiteren Beschwerden über unberechtigte Geldforderungen von Amts wegen endet. So hat die Regierungskanzlei in Rinteln oder der Geheime Rat in Kassel offenbar eine Verordnung erlassen, gegen die der Drost von Münchhausen 1726 oder Anfang 1727 appellierte. Aufgrund einer längeren Abwesenheit des beauftragten Regierungsrates Ernst zu Rinteln und der Erkrankung von Münchhausens, der Inquisit sei noch im Spätsommer 1730 von einem Stick- oder Schlagfluß befallen, [so dass er] etliche tage sprachloß gelegen sei, zog sich das Unterverfahren über nahezu fünf Jahre dahin. Vgl. HStA Ma, B 5: Hessischer Geheimer Rat, Nr. 5049, fol. 27r–29r. 37 Hier und im Folgenden nach Ströhmer, Jurisdiktionsökonomie im Fürstbistum Paderborn (wie Anm. 21), S. 260 f.

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Produktivkräfte ihrer bäuerlichen Pachtbetriebe durch die Verhängung übermäßiger Strafgelder geschwächt werden könnten, da zahlungsunfähigen Haushalten oft nur der Weg zur Pfändung von Hausrat und Arbeitsgerät verblieb, spiegelt sich im Abschluss dieses Passus wider: […] also daß dero von Haxthausen angehöriger leute verderb dabey nicht gesucht werde, noch darauß entstehen möge. Offenbar ohne die ökonomisch angespannte Lage zahlreicher Dorfbewohner zu berücksichtigen, wollten die fürstlichen Richter 1797 turnusgemäß im Jahrgericht die üblichen Strafsätze für dörflichen Forst- und Weidefrevel verhängen. Widerstand regte sich unter der Einwohnerschaft wohl auch deshalb, weil nur drei Jahre zuvor ein verheerender Dorfbrand einen Großteil der Häuser vernichtet hatte. Darüber hinaus war die steuerliche Belastung der Haushalte durch den Ausbruch des Ersten Koalitionskrieges seit 1795 spürbar angestiegen, begleitet durch die kriegsbedingten Krisenphänomene einer regionalen Agrardepression. Diese spiegelte sich im sprunghaften Anstieg der örtlichen Brot- und Salzpreise wider. Um neue Fachwerkhäuser aufbauen zu können, hatten sich zudem die meisten Verbrannten seit 1794 bei ihrem Grund-, Kirchen- oder Landesherrn auf Jahre hin verschuldet. In der Summe stellten all diese Krisenfaktoren Existenz bedrohende Belastungen, vor allem für die kleineren, finanzschwachen Haushalte des Dorfes, dar. Als juristische Spätfolgen dieser materiellen Nöte dürfte, ohne dies jedoch in diesem Fall eindeutig belegen zu können, auch die Kleinkriminalität angestiegen sein, deren Urheber eben im Herbst 1797 vom Gogericht vergeblich abgestraft werden sollten. 3.3. Hochstift Paderborn: Driburger Forstgericht 1684 Das dritte, gut ein Jahrhundert ältere Fallbeispiel aus dem Landstädtchen Driburg verweist auf ähnliche Abhängigkeiten zwischen juristischer Effizienz und ihrem ökonomischen Umfeld. Nach gleich zwei verheerenden Stadtbränden, die 1680 und 1683 nahezu zwei Drittel der neu errichteten Häuser in Asche gelegt hatten, reiste eine Kommission der bischöflichen Hofkammer in das verwüstete Städtchen.38 Den Hofkammerräten war zuvor vermittelß allgemeinen gerüchts im Sommer 1684 zu Ohren gekommen, dass die fürstlichen Wälder, die auf städtischer 38 Vgl. hier und im Folgenden Protocollum inquisitionis das Hochfürstl. Gewäldt zur dryburg, vnd deßen Verwüstung betr., ab 31. Juli 1684, Landesarchiv Nordrhein-­Westfalen, Abteilung Münster (künftig LA Münster), Fürstbistum Paderborn, Kanzlei Nr. 546, fol. 28r–70v. Als Kommissare werden namentlich genannt die Freiherren Franz Arnold von Metternich und Dominikus von Brenken, die in Begleitung eines bürgerlichen Lizentiaten Vogelius nach Driburg reisten.

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Flur standen, von den Brandgeschädigten rücksichtslos abgeholzt würden.39 Doch seltsamer Weise schlug sich der vermehrte Holzeinschlag nicht, wie es zu erwarten gewesen wäre, in der jährlichen Rechnungslegung des Stadtvogts nieder. Offenbar waren weder die Erlöse aus dem legalen Holzverkauf noch die Einnahmen aus den Bußgeldern des Driburger Forstgerichts in den letzten Jahren merklich angestiegen.40 Was war geschehen? Wie die Inaugenscheinnahme der Kommission bestätigte, boten die Driburger Forste ein trauriges Bild. Trotz einer erst 1669 von Fürstbischof Ferdinand II. von Fürstenberg erlassenen Holz-­Ordnung, welche eine beständige, nachhaltige Bewirtschaftung der Staats- und Privatforste vorsah,41 regierte im Driburger Bischofswald offenbar der Kahlschlag. Der sichtlich entsetzte Protokollant vermerkte, dass viele hundert geblößete eichen, so auff dem Stam[m] annoch frisch anzusehen gewesen,42 heimlich geschlagen und abtransportiert worden seien. Nach einiger Zeit sei die schockierte Kommission ob der grewll und schandt im Wald des Zehlens verdrüßig und müde [ge]worden. Dem ersten Augenschein auf den Höhen der Stadt folgte in den nächsten Tagen eine intensive Zeugenvernehmung im Tal. Die als Richter angereisten Kammerräte stießen während ihrer Untersuchung vor allem auf eine makroökonomische Erklärung für das Versagen des fürstlichen Forstgerichts: Der Driburger Stadtvogt Heise, der mit seinen beiden Holzknechten die landesherrliche Aufsicht über die Waldungen führen sollte, hatte sich offenbar dem Kostendruck der Brandkatastrophen von 1680 und 1683 gebeugt. Anstatt durch die Verhängung harter Strafen einseitig den bischöflichen Forstschutz durchzusetzen, entschied sich der Lokalbeamte zur verdeckten Kooperation mit den Brandgeschädigten: er verlegte sich auf den für ihn lukrativeren Rechtshandel. Transaktionen dieser Art folgten dem bekannten Muster: Gegen kleine Gefälligkeiten wie etwa der Überlassung von Bohnen, einer Melke Sau oder der Annahme von Pflugarbeiten drückte der Beamte beim Kontrollgang durch die Waldruine beide Augen zu. Zudem verkaufte der Stadtvogt das bischöfliche Eichenholz bis zu einem Drittel unter Preis an seine Mitbürger. Somit entgingen der Hofkammer nicht nur die Strafgelder aus den offiziell verschwiegenen Forstdiebstählen. Abzuschreiben war 39 Ebd., fol. 29r. 40 Aus dem Vernehmungsprotokoll geht hervor, dass der Stadtvogt mit seinen falschen Zahlen aus den eingeschickten Brüchtenregistern konfrontiert wurde. Dabei stellte die Kommission fest, daß viele von denen Leuthen [= verhörte Zeugen, Anm. MS] gar nicht oder für wenigern preiß zur Rechnung gesetzet worden. Hinsichtlich seines Richteramts wurde er befragt, ob die Holtzdiebe, wan die ertapfet, oder außgekundtschafftet, nicht zur wroge [= Brüchte, Geldstrafe, Anm. MS] geschrieben, und abgestraffet würden. Ebd., fol. 50r. 41 Vgl. Hochfürstlich-­Paderbörnische Landesverordnungen, 4 Teile. Paderborn 1785 – 1788, Teil 1, Nr. XV, S. 156 – 194 (hier S. 157). 42 LA Münster, Fürstbistum Paderborn, Kanzlei Nr. 546, fol. 70v.

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auch das dem Bischof zustehende Stammgeld, das aus den legalen Holzverkäufen erwirtschaftet wurde. Entsprechend hart fiel 1684 das Urteil der Hofkammer aus: Der Stadtvogt und die beiden Forstknechte wurden ihres Amtes mit sofortiger Wirkung enthoben, die Bedienten zudem für zwei Wochen in Ketten in das Amtshaus nach Dringenberg gelegt. Nun könnte man diesen typischen Korruptionsfall auf den ersten Blick als persönliche Charakterschwäche eines unterbezahlten Staatsdieners interpretieren. Doch betrachtet man das Amtsgebaren seiner Nachfolger, so zeigt sich, dass es sich hierbei, wie bei den Reichsgerichten, wohl eher um ein tieferliegendes Finanzierungsproblem gehandelt hat. Denn mehrere Bestallungsurkunden des 18. Jahrhunderts belegen, dass die Paderborner Fürstbischöfe offenbar immer wieder gezwungen waren, ihre Driburger Stadtvögte und deren Holzknechte wegen fahrläßigkeit aus dem Dienst zu entlassen.43 Fasst man die Beobachtungen aus den drei Fallbeispielen zusammen, so zeigt sich exemplarisch: die Funktionalität der kommunalen Niedergerichte stieß besonders in Krisenzeiten schnell an ihre ökonomischen Grenzen; ihre Effizienz korrespondierte offenbar mit der jeweiligen Wirtschaftslage der Akteure vor Ort. Verstießen wie in Hessen-­Schaumburg allzu profitorientierte Richter gegen den jeweils auszuhandelnden „gerechten Preis“, so hatten sie mit entsprechenden Vertrauensverlusten in der Bevölkerung zu rechnen. Obrigkeitliche Ignoranz gegenüber Notlagen von einzelnen Gerichtsgemeinden konnte daher, wie im Gogericht zu Bellersen, schnell zum Teuerungsaufstand führen. Die Angst vor dem Aufruhr wiederum begünstigte offenbar die Korrumpierbarkeit des Driburger Stadtvogtes. Dieser sorgte mit seinen illegalen Preisnachlässen dafür, dass die landesherrliche Forstjurisdiktion de facto für Jahre ausfiel. In allen Fällen zeigt sich, dass die Nachfrage nach und Akzeptanz von Justizherrschaft nicht zuletzt auf der ökonomischen Tragfähigkeit von Land und Leuten gründen konnte.

43 So etwa im Fall von Gottschalck Thorwesten, der von Fürstbischof Hermann Werner von Wolff-­Metternich am 17. Juli 1700 zum Amtsnachfolger seines korrupten Vorgängers ernannt wurde. So vermerkt der Landesherr in einer Aktennotiz zur Bestallung, dass nach der Besichtigung vnsers drieburgischen Gewaldts, zu unserm höchsten mißfallen wahrgenohmmen [worden sei, Anm. MS], welcher gestalt selbiges durch fahrläßigkeit vnsers dasigen Vogten vnnd Holtzknechten sehr verhawen vnnd verwüstet vorgefunden worden sei. Vgl. LA Münster, Fürstbistum Paderborn, Domkapitel Pb 1015, Nr. 41, 48.

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4. Effizienz und Konjunkturen Aber nicht nur Brände, Kriege oder Umweltkatastrophen beeinflussten das zeitgenössische Preisbewusstsein für Justizleistungen. Auch und vor allem waren es die normalen Konjunkturzyklen einer frühneuzeitlichen Agrargesellschaft, welche das Haushalten von Justiznutzern in Stadt und Land bewegten. Erinnert sei hier nur an die bekanntesten Befunde, welche die Wirtschafts- und Bevölkerungsgeschichte in den letzten Jahrzehnten zusammengetragen hat. Charakteristisch für das vorindustrielle Wirtschaften war demnach ein im Vergleich zu heute hohes Maß an Unsicherheiten: saisonal stark schwankende Getreidepreise,44 langfristige Reallohneinbußen im Handwerk 45 oder die wachsende Schuldenlast, welche auch große Guts- und Bauernhöfe betraf, zogen in ganz Nordwestdeutschland ähnliche Hintergründe der Justiznutzung nach sich.46 So führte etwa der sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts beschleunigende Bevölkerungsanstieg vielerorts zu einer ernsthaften demographischen Versorgungskrise. Bereits Wilhelm Abel bezeichnete dieses grenzüberschreitende Phänomen treffend als zentraleuropäische Massenarmut oder frühen Pauperismus.47 Auch die Zahlen für die Grafschaft Schaumburg-­Lippe weisen im verkleinerten Maßstab den allgemeinen Trend auf. So glitt zu Beginn der 1770er Jahre, den bekanntlich letzten großen Hungerjahren im 18. Jahrhundert, nahezu ein Drittel der ländlichen wie der städtischen Einwohnerschaft in eine Existenzkrise. Von den rund 18.000 Untertanen gehörten im August 1772 knapp 31 Prozent der Bevölkerung zu den bedürftigen Haushalten, welche aus öffentlichen Kassen finanziell unterstützt werden mussten.48 44 Exemplarische Kurvenverläufe zu Getreidepreisen für Roggen, Gerste und Hafer im Münsterland 1560 – 1839 bei Christoph Reinders-­Düselder, Ländliche Bevölkerung vor der Industrialisierung. Geburt, Heirat, Tod in Steinfeld, Damme, Neuenkirchen 1650 bis 1850. Cloppenburg 1995 (Materialien und Studien zur Alltagsgeschichte und Volkskultur Niedersachsens, H. 25), Abb. 17, S. 115. 45 Vgl. zu den Reallohnverlusten im Bauhandwerk zwischen 1600 und 1800 am Beispiel Würzburgs Wilhelm Abel, Agrarkrisen und Agrarkonjunktur. Eine Geschichte der Landund Ernährungswirtschaft Mitteleuropas seit dem hohen Mittelalter. 3. Aufl. Hamburg/ Berlin 1978, S. 250. 46 Vgl. exemplarisch für die Schaumburger Agrargeschichte Karl Heinz Schneider, Die landwirtschaftlichen Verhältnisse und die Agrarreformen in Schaumburg-­Lippe im 18. und 19. Jahrhundert. Rinteln 1983 (Schaumburger Studien, H. 44), S. 17 – 53. Zum Hochstift Paderborn Friedrich-­Wilhelm Henning, Bauernwirtschaft und Bauerneinkommen im Fürstentum Paderborn. Berlin 1970 (Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 18), S. 149 – 227. 47 Vgl. Abel, Agrarkrisen und Agrarkonjunktur (wie Anm. 45), S. 241 – 257. 48 Vgl. Tab. 32 „Bedürftige Personen in der Grafschaft Schaumburg-­Lippe“ bei Schneider, Die landwirtschaftlichen Verhältnisse (wie Anm. 46), S. 132.

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Aus dieser Massenarmut dürfte sich auch ein wachsendes Potential von marktabhängigen Justiznutzern rekrutiert haben. Zogen diese besitzarmen Leute oder deren Rechtsvertreter vor Gericht, so drängten sich vor allem den mindermächtigen Gerichtsherren geradezu gewaltsam Fragen des Zugangs und der Finanzierbarkeit von Rechtswegen auf. Eine Möglichkeit zur finanziellen Entlastung bot dabei generell eine moderate Steuerpolitik. Krisenzeiten wie dem Siebenjährigen Krieg begegnete beispielsweise die Paderborner Regierung mit dem Beschluss, die fürstliche Strafgerichtsbarkeit auf dem Lande vorübergehend einzustellen.49 In den fünf Jahren zwischen 1757 und 1762 schickten die Ämter keines ihrer mobilen Jahrgerichte auf die Rundreise durch ihre Sprengel. Damit verzichtete die Hofkammer auf den Einzug von Strafgeldern, welche vermutlich ohnehin aus dem von Franzosen und Engländern besetzten Land nur schwer einzutreiben gewesen wären. Umfassendere Lösungsstrategien, die auch bei normaler Konjunktur eine Absenkung gerichtlicher Transaktionskosten im Justizsystem anstrebten, sollen abschließend skizziert werden. Sie folgten im 18. Jahrhundert nicht selten dem wirtschaftstheoretischen Leitbegriff der Ressourcenschonung, deren Realisierung bei den Privathaushalten Kameralisten auch in den kleineren Reichsterritorien anstrebten.50

5. Transaktionskosten und institutioneller Wandel In der rechtshistorischen Forschung wurden bereits des Öfteren vor allem legislative Maßnahmen zur Kostenreduzierung diskutiert, stellvertretend seien Schlagworte wie Verfahrensbeschleunigung, Prozessvermeidung durch Schlichtung, Residenzpflicht des Personals, Einführung von Gebührenobergrenzen und Säumnisgebühren genannt. Weniger Beachtung fanden bisher jedoch die infrastrukturellen Verbesserungsmaßnahmen der landesherrlichen Justizpolitik; also die Untersuchung all jener Raumbezüge von Justiznutzung, welche die ökonomischen Standortfaktoren eines Gerichtsortes bestimmten, die unter den Arbeitsbegriff des „topographischen Arguments“ subsumiert werden sollen. Wie bereits beim Vergleich zwischen Reichskammergericht und Reichshofrat angeklungen, spielte die individuelle Kalkulation der Akteure mit Distanzen und Zeitaufwand vor allem in den Köpfen minderbe 49 In den Amtsrechnungen notierte der Dringenberger Rentmeister ab 1757 wiederholt unter der Rubrik „Brüchteneinnahmen“ lapidar, dass die frey und gogerichter seynd dieses Jahr zu folge g[nädi]gst[e]r verordtnung nicht abgehalten [worden]. Zitiert nach Ströhmer, Jurisdiktionsökonomie im Fürstbistum Paderborn (wie Anm. 21), S. 328. 50 Vgl. zur aktuellen Begriffsdiskussion des Kameralismus-­Konzepts Thomas Simon, Merkantilismus und Kameralismus. Zur Tragfähigkeit des Merkantilismusbegriffs und seiner Abgrenzung zum deutschen „Kameralismus“, in: Isenmann (Hrsg.), Merkantilismus (wie Anm. 23), S. 65 – 82.

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mittelter Justiznutzer eine Rolle. Unwirtschaftliche Reisekosten und Verdienstausfälle, welche einer Gerichtsgemeinde durch überflüssige Vorladungen entstanden, erregten wie 1737 im Nieheimer Jahrgericht allgemeine Empörung.51 So rechnete der Dorfvorsteher Pelizäus seinem adeligen Gutsherrn von Spiegel vor, dass der fürstliche Rentmeister Brandt alle haußgeseßene[n] Männer ad 55 köpfe aus reiner Schikane vorgeladen habe, obwohl nuhr 4 oder 5 Man im gericht seyendt, also von Amtswegen angezeigt worden seien. Durch das seiner Ansicht nach überflüssige Auswarten von 50 Männern, die dem Gerichtstag müßig in der Stadt beigewohnt haben, sei der Gemeinde Oeynhausen ein wirtschaftlicher Schaden entstanden. Dabei kalkulierte der Ortsvorsteher den Verdienstausfall offenbar mit festen Tagessätzen zu acht Groschen pro Mann und Haushalt. Dieser Tagessatz lag interessanter Weise nur leicht unter jener Ersatzleistung von fünf Schillingen und drei Pfennigen, welche den nach Paderborn vorgeladenen Personen von geringer Condition für Weg und Versaumnuß am Hofgericht auszuzahlen war.52 Die Relevanz billiger Nutzungsgebühren betont auch der Ortsvorsteher aus Lippspringe, einer Kleinstadt des Paderborner Domkapitels, um 1800 in klaren Worten: Das hochwürdige Domkapitel war […] Oberherr und hatte die Gerichtsbarkeit, zu deren Vollziehung der Amtmann Vüllers aus Paderborn angestellt war und hier wöchentlich Gericht hielt. Die Gerichtskosten für einen Zahlungsbefehl betrugen einen guten Groschen, für einen Termin 6 gute Groschen.53 In nur zwei Sätzen bringt der Stadtchronist allgemein zum Ausdruck, welche pragmatischen Kriterien für ihn bei der Nutzung ziviler und freiwilliger Gerichtsbarkeit 54 im Vordergrund standen: die zeitliche wie finanzielle Berechenbarkeit regelmäßig abgehaltener Gerichtssitzungen am Ort. Diese Erwartungshaltung auf der Nachfrageseite korrelierte freilich mit dem ökonomischen Bedarf auf der Anbieterseite. Denn das Vergütungssystem des vormodernen Staates und der Kirchen war bis ins 18. Jahrhundert hinein darauf angelegt, dass vor allem die unteren Chargen des lokalen Justizpersonals vom Pro-

51 Vgl. hierzu und im Folgenden Ströhmer, Jurisdiktionsökonomie im Fürstbistum Paderborn (wie Anm. 21), S. 267. 52 Ebd., niedergelegt in der Taxordnung der Paderborner Hofgerichtsordnung von 1720, Tit. LXV. 53 Zitiert nach Ströhmer, Jurisdiktionsökonomie im Fürstbistum Paderborn (wie Anm. 21), S. 137. 54 In der freiwilligen Beanspruchung des Ortsrichters als Notar, der auf Parteienantrag gegen Gebühr Verträge aller Art beglaubigte, dürfte gerade im ländlichen Gerichtsalltag ein wesentliches Betätigungsfeld gelegen haben. Vgl. hierzu am Beispiel eines Paderborner Patrimonialgerichts die Lokalstudie von Frank Huismann, Das Alte Gericht in Fürstenberg. Bad Wünnenberg-­Fürstenberg 2010, S. 21 – 27.

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zessaufkommen finanziell abhängig blieben.55 Neben einer sicheren Entlohnung in Naturalien wie Getreidedeputate, Brennholzlieferungen, Kleidergeld und so weiter erhielten die fürstlichen wie ständischen Richter an den Niedergerichten vergleichsweise geringe Fixgehälter als Basisvergütung ausbezahlt.56 Den eigentlichen Zugewinn erwirtschafteten die Untergerichte daher auf Provisionsbasis durch den Einzug von Akzidenzien. Hierzu gehörten die Inrechnungstellung von Anhörungsund Verkündigungsterminen ebenso wie die diversen Schreib-, Kopier- und Siegelgebühren. Termingelder für Ortsbesichtigungen in der Feldflur wurden etwa im Gogericht Brakel nach regelrechten Entfernungspauschalen berechnet, deren Höhe nach Distanzen gestaffelt waren.57 Hierbei fiel für den Gografen für eine inspectio oculari im inneren Kreis der städtischen Flur der einfache Gebührensatz von zehn Groschen zwei Pfennigen an. Dieser vervierfachte sich für die Parteien ab einem Radius von sieben bis neun Kilometern (Luftlinie) für einen Augenschein, der in den Feldfluren der nördlich gelegenen Dörfer Bellersen, Bökendorf oder Altenbergen vorzunehmen war. Ob sich die nicht selten käufliche Übernahme einer Richterstelle lohnte, hing daher ganz wesentlich von der Fähigkeit des Stelleninhabers ab, möglichst zahlreiche Verfahren an den eigenen Gerichtsort zu ziehen – und diese gebührenpflichtig abzuschließen. Damit war die Wirtschaftlichkeit eines Standortes nicht zuletzt von der günstigen geographischen Einbindung der eigenen Gerichtsstube in die Infrastruktur des Territoriums abhängig. Derartige Interdependenzen schlugen offenbar besonders stark bei der amtlichen Zivilgerichtsbarkeit zu Buche. So lässt sich in einer Stichprobe für das Jahr 1748 für Paderborn nachweisen, dass die Attraktivität einer räumlich überdehnten Amtsjurisdiktion mit dem wachsenden Zeit-­Wege-­ Widerstand seiner Nutzer abnahm.58 Bei den 274 in Dringenberg angebrachten Zivilklagen wohnten rund 60 Prozent der Kläger und Beklagten in einem engeren Umkreis von bis zu zehn Kilometern Luftlinie zum Oberamtshaus. Rund ein Drittel der Parteien reiste aus dem mittleren Radius von zehn bis 19 Kilometern zu den Gerichtsterminen nach Dringenberg. Gerade einmal fünf Prozent der im

55 Diese finanzielle Abhängigkeit vom Auftragseingang galt im 17. Jahrhundert offenbar selbst für das päpstliche Nuntiaturgericht, wie Peter Oestmann für die frühneuzeitliche Kirchengerichtsbarkeit feststellt. Peter Oestmann, Geistliche und weltliche Gerichte im Alten Reich. Zuständigkeiten und Instanzenzüge. Köln/Weimar/Wien 2012 (QFHG, Bd. 61), S. 217 f. 56 Zu den Organisationskosten des Paderborner Untergerichtspersonals vgl. Ströhmer, Jurisdiktionsökonomie im Fürstbistum Paderborn (wie Anm. 21), S. 295 – 297. 57 Vgl. Designatio Jurium so zu Brackell hergebracht, 26. Februar 1731, ebd., S. 126. 58 Statistische Zahlen zur Wahlpräferenz der Streitparteien bei Ströhmer, Jurisdiktionsökonomie im Fürstbistum Paderborn (wie Anm. 21), S. 121 – 127.

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Protokollbuch verzeichneten Justiznutzer nahmen hingegen einen Fußweg in Kauf, der mehr als 20 Kilometer oder vier Wegstunden für eine Strecke betrug. Aufgrund des vor allem in Krisenzeiten aufkommenden Reformdrucks überrascht es wenig, dass der Paderborner Landesherr im Jahr 1763 eine Umstrukturierung seiner Amtsgerichte dekretierte.59 Diese führte neben der Abschaffung des alten bischöflichen Freigerichts zum Einschrumpfen des Oberamtssprengels in Zivilsachen, indem der Standort Dringenberg vom Obergericht zum gewöhnlichen Untergericht degradiert wurde.60 Wohl auch um die verheerenden Folgen des Siebenjährigen Krieges im Hochstift abzufangen, beschnitt Fürstbischof Wilhelm Anton von der Asseburg damit die ehemalige Machtstellung seines regionalen Oberzentrums. Teile der dort monopolisierten Zivilgerichtsbarkeit übernahmen fortan die acht fürstlichen Unterbeamten, die als Gografen, Landvögte oder Richter ihren Gerichtssitz in den anderen Städten des Oberamtsbezirks hatten. Durch diese räumliche Verteilung von Kompetenzen verkürzten sich nicht nur die Reisewege und Verdienstausfälle für die Streitparteien erheblich. Auch die Einkommenssituation der Ortsrichter dürfte sich verbessert haben, weil diese nun, wie ehedem ihr vorgesetzter Rentmeister, ebenfalls Sporteln erheben durften. Die vom Bischof beabsichtigte Reduzierung von Transaktionskosten hatte in diesem Fall offenbar nachhaltig zu einem institutionellen Strukturwandel in der kommunalen Gerichtslandschaft geführt. Dabei blieb die Stärkung der fürstlichen wie ständischen Lokalgerichtsbarkeit bis zur Säkularisation des Hochstifts Paderborn im Jahr 1802/03 unverändert bestehen. Vergleicht man nun das relativ große Einzugsgebiet des bischöflichen Oberamtes mit der eher kleinräumigen Ämterstruktur beider Schaumburger Grafschaften,61 so fällt deren Nutzerfreundlichkeit auf. Alle landesherrlichen Amtshäuser wiesen ein Einzugsgebiet auf, dessen Radius zehn Kilometer (Luftlinie) nicht überschritt. In höchstens zwei bis drei Wegstunden waren die Untergerichte fußläufig erreichbar, so dass eine gerichtliche Tagfahrt für die Untertanen in weniger als 24 Stunden zu absolvieren gewesen sein dürfte. Womöglich liegt in dieser dezentralen Flä 59 Vgl. Rescriptum Principis In betreff hiesigem Oberambts jurisdiction vom 27. Mai 1763 und dessen detaillierte Ausführung im Edict die Gerichtsbarkeit des Oberamtes Dringenberg betreffend, 6. August desselben Jahres, bei Ströhmer, Jurisdiktionsökonomie im Fürstbistum Paderborn (wie Anm. 21), S. 329. 60 Zu den Motiven und Hintergründen der Maßnahmen von 1763 vgl. Michael Ströhmer, Fürstbischöfliche Justizreformen – ein Modernisierungsparadoxon? Alternative Strategien und Deutungen lokaler Herrschaftsverdichtung des 18. Jahrhunderts im Hochstift Paderborn, in: Bettina Braun/Mareike Menne/ders. (Hrsg.), Geistliche Fürsten und Geistliche Staaten des Alten Reiches. Epfendorf a. Neckar 2008, S. 125 – 161. 61 Zur Ämtergliederung und Kartierung allgemein Schmidt, Die alte Grafschaft Schaumburg (wie Anm. 33), S. 35 f.

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chenversorgung mit ein Grund für die über dreihundertjährige Kontinuität der Schaumburger Ämterorganisation. Denn im Gegensatz zum Oberamt Dringenberg wurden an deren Zuschnitt bis ins 19. Jahrhundert hinein keine wesentlichen Veränderungen mehr vorgenommen. Dass institutioneller Wandel und betriebswirtschaftlicher Kostendruck zusammenhängen konnten, zeigt ein abschließender Blick auf die Transaktionskostenbilanz der konkurrierenden Niedergerichte im Oberamt Dringenberg.62 Vergleicht man die aufsummierten Organisationskosten,63 welche die landständischen Anbieter und das Oberamt Dringenberg vor der Zäsur von 1763 für ihren jährlichen Betriebsunterhalt aufzubringen hatten, mit den auf der Nachfrageseite korrelierenden Marktnutzungskosten 64 der Justiznutzer, welche den Gerichtsbetrieb über ihre Gebühren weitgehend refinanzierten, so fallen Unterschiede vor allem bei der Finanzierung der Personalkosten auf. Während die ständischen Gerichte in der Regel kostendeckend arbeiten konnten, weil ihre oft nebenberuflich tätigen Richter wie Bürgermeister, Ratsherren oder Kleriker ihren Unterhalt sachfremd aus dem bürgerlichen Privateinkommen oder aus Pfründen der Domkirche bestritten, war die Refinanzierung der fürstlichen Amtsjurisdiktion stärker auf den regelmäßigen Zufluss von Gebühren und Strafgeldern angewiesen. Letzteres zeigte sich in einer oft geradezu kommerziellen Grundhaltung der Landesbeamten. In Ermangelung eines fondsgestützten Grundgehalts, von dem sich standesgemäß leben ließe, suchten speziell die Fürstendiener bis in die halblegalen Grauzonen der Korruption hinein nach Wegen, um den permanenten Finanzierungsdruck aus dem laufenden Betrieb ausgleichen zu können. Dabei reichten die Beamten die höheren Unterhaltskosten, welche eine gebührenfixierte Gerichtsorganisation zwangsläufig mit sich brachte, möglichst mit Gewinnaufschlag an die Nutzer weiter. Dies zeigt sich nicht zuletzt an den bis zu 50 Prozent höheren (Markt-)Nutzungskosten, welche das Oberamt Dringenberg den Parteien und Delinquenten für seine Dienste in Rechnung stellte.65 Unter Wahrung vergleichbarer Qualitätsanforderungen an die erstinstanzliche Verfahrensgestaltung, die dem Unterrichter im einfachen Summa 62 Konkrete Zahlen bei Ströhmer, Jurisdiktionsökonomie im Fürstbistum Paderborn (wie Anm. 21), S. 276 – 302, 315 – 319. 63 Diese setzen sich für die Gerichtsherren im Wesentlichen aus den beiden umfangreichen Posten von a) Bereitstellungskosten für die Einrichtung und den Erhalt der gerichtlichen Infrastruktur und den betrieblichen b) Personalkosten für die Auszahlung von Fixgehältern und Naturaldeputaten zusammen. 64 Hierunter fallen vor allem die von den Parteien und Delinquenten aufzubringenden a) Mobilitätskosten, b) Verdienstausfälle, c) Verhandlungskosten am Gericht und dessen d) Durchsetzungskosten nach dem Urteilsspruch. Vgl. am Paderborner Beispiel Ströhmer, Jurisdiktionsökonomie im Fürstbistum Paderborn (wie Anm. 21), S. 292 – 302. 65 Ebd., S. 316.

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rischen Prozess gestellt wurden, konnten demnach einige ständische Niedergerichte mit deutlich attraktiveren Preisen aufwarten. Deren strukturelle Konservierung dürfte daher vor allem im Interesse der breiten, einkommensschwächeren Bevölkerungsschichten gelegen haben.

6. Schluss Vermeintlich exogene Faktoren wie betriebswirtschaftliche Kosten und volkswirtschaftliche Konjunkturen dürften in beiden Staatsmodellen, im weltlichen Schaumburg wie im geistlichen Paderborn, eine zentrale Rolle für die unterschiedliche Attraktivität von Gerichtsstandorten gespielt haben. Offenbar korrelierten hier Funktionalität und Effizienz der Untergerichte mit den stets schwankenden Transaktionskosten im regionalen Wirtschaftssystem der Frühen Neuzeit. Daher waren obrigkeitliche Preisanpassungen wichtige Reformschritte, um das Vertrauen der Nutzer in eine wohlfeile und damit als gerecht empfundene Justiz sicherstellen zu können. Das Ausbalancieren von Gerichtskosten, deren Taxierung sich zwischen dem verfügbaren Nutzereinkommen einerseits und der wirtschaftlichen Tragfähigkeit des Justizsystems andererseits bewegte, unterlag in Schaumburg wie in Paderborn stets den konjunkturbedingten Rahmenbedingungen. Eine adäquate Besoldung des Personals, die Festlegung von Obergrenzen bei den Nutzungsgebühren sowie das ökonomische Augenmaß bei der Strafzumessung dürften das Justizsystem in einem leidlichen Gleichgewicht gehalten haben. Ob und mit welcher Reichweite jedoch die Prinzipien einer lokalen Jurisdiktionsökonomie zur Ausbreitung von Gerichtsvielfalt im Alten Reich beigetragen haben könnten, müsste für den Großraum freilich erst noch systematisch erforscht werden.

Alexander Krey 1

Rechtsvereinheitlichung durch Oberhöfe und die Synthese deutschen Rechts in der Forschung Zur Verschränkung spätmittelalterlicher Rechts- und Gerichtslandschaften am Beispiel Ingelheims und Lübecks

1. Einleitung und Fragestellung Einheitliche vormoderne „Rechtskreise“ sind in der germanistischen Forschung lange ein wiederkehrendes Motiv gewesen. Ausgiebig genutzte Steinbrüche für diese Arbeiten waren die Bücher örtlicher Gerichte und Oberhöfe. Aus diesen Spruchsammlungen wurden fest umrissene Rechtsgewohnheiten destilliert, wenngleich deren Konturen oft nur schwer den Urteilen entnommen werden können. Aus den Weisungen, auch wenn sie zeitlich weit auseinanderlagen und zu einzelnen Themenkreisen nur in geringer Anzahl vorlagen, wurde eine geschlossene Rechtsordnung abgeleitet.2 Der durch die Schule Adalbert Erlers gut erforschte Ingelheimer Oberhof 3 wird beispielsweise teilweise zum sogenannten „fränkischen Rechtskreis“ gezählt.4 Dabei wird ein konsistenter Bestand an Rechtsgewohnheiten als Grund 1 Der Autor war wiss. Mitarbeiter im Sonderforschungsbereich 1095 in Frankfurt a. M., gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Der Aufsatz ist Ausfluss der Arbeit im Teilprojekt „Die Hanse und ihr Recht“. 2 Hierzu s. schon Alexander Krey, Fallbeispiele aus den Bereichen des Sachenrechts, Erbrechts und der Streitigkeiten mit Handwerkern, in: Werner Marzi/Regina Schäfer (Hrsg.), Alltag, Herrschaft, Gesellschaft und Gericht im Spiegel der spätmittelalterlichen Ingelheimer Haderbücher. Ein Begleitband zum Editionsprojekt „Ingelheimer Haderbücher“. Alzey 2012, S. 123 – 136 (hier S. 123). 3 S. den ausführlichen Forschungsbericht bei Alexander Krey, Die Praxis der spätmittelalterlichen Laiengerichtsbarkeit. Gerichts- und Rechtslandschaften des Rhein-­Main-­Gebietes im 15. Jahrhundert im Vergleich. Köln/Weimar/Wien 2015 (Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 30), S. 73 – 79. Zum Forschungsbegriff „Oberhof“ s. Dieter Werkmüller, Art. Oberhof, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (künftig: HRG), Bd. 3. 1. Aufl. Berlin 1984, Sp. 1134 – 1146 (hier Sp. 1134 – 1136); Jürgen Weitzel, Art. Oberhof, in: Lexikon des Mittelalters (künftig: LexMA), Bd. 6. Stuttgart/Weimar 1999, Sp. 1331 f., sowie neuerdings Alexander Krey, Art. Oberhof, in: HRG, Bd. 4, Teillieferung 25. 2. Aufl. Berlin 2017, Sp. 44 – 56 (hier Sp. 44 – 46), und ders., Die Praxis der spätmittelalterlichen Laiengerichtsbarkeit, S. 29, im Anschluss an Helmut Mertz, Der Frankfurter Oberhof. Frankfurt a. M. 1954, S. 21, 50 – 52. 4 Beispielsweise Adalbert Erler, Der Ingelheimer Oberhof, in: Johanne Autenrieth (Hrsg.), Ingelheim am Rhein. Forschungen und Studien zur Geschichte Ingelheims. Ingelheim 1964, S. 174 – 200 (hier S. 174).

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lage von dessen Rechtsprechung behauptet, deren Einheitlichkeit aber vor allem ein Konstrukt der Forschung darstellt.5 Einige der Probleme, die mit dem Konzept der „Rechtskreise“ verbunden sind, lassen sich mit der Charakterisierung der vielschichtigen Rechts- und Gerichtsverfassung des Alten Reichs als „Rechts- und Gerichtslandschaften“ 6 umgehen. Auch abseits der höchsten Reichsgerichtsbarkeit verspricht dies Gewinn für das Mittelalter und die Frühe Neuzeit. Im Gegensatz zum überkommenen Terminus „Rechtskreis“ werden keine klaren Ränder suggeriert, keine umschlossenen Bestände an Gewohnheiten. Der Begriff der „Landschaften“ – bewusst in den Plural gesetzt – betont vielmehr die Offenheit. Dabei können mit dem Terminus „Gerichtslandschaften“ die vielfältigen Einbettungen von spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gerichten in den Blick genommen werden, die sich teils ergänzten, teils aber auch miteinander konkurrierten. Die fließenden Übergänge mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Gerichtslandschaften belegen unter anderem die komplexen Geflechte an Oberhofbeziehungen. Oberhofzüge waren oft mehrgliedrig über sogenannte Zwischenhöfe ausgestaltet, führten häufig über die Herrschaftsgrenzen und Gerichtszuständigkeiten hinweg. Mitunter fragten Gerichte auch bei mehreren Oberhöfen an. In der Gerichtsvielfalt des Alten Reiches waren sie verbindende Elemente. Ein besonders plastisches Beispiel 7 kann diesen verschränkenden Aspekt der Oberhofzüge illustrieren: 1473 bat ­Eberhard  III . von Eppstein mit einem eindringlichen Appell den Rat in Frankfurt am Main um baldige Bescheidung für eines seiner Gerichte. Nachdem in einem erbrechtlichen Fall aber das gericht zu Massenheym nit geweß geweßt, die urteil an iren oberhof gein Peterwil, furter die von Peterwil solch urteile gein Mintzenberg, und von Mintzenberg uff uch als iren oberhof geschoben und noch nit ussgesprochen ist; wie dem biten wir uch gar gutlich, solch urteil nach allem furbringen ußzusprechen und nit lenger zu vertzihen, damit die armen wissen mogen woran sie sien.8

5 Zur Kritik s. schon Krey, Die Praxis der spätmittelalterlichen Laiengerichtsbarkeit (wie Anm. 3), S. 23 f. 6 Zur Konzeption s. Anja Amend/Anette Baumann/Stephan Wendehorst/Steffen Wunderlich, Recht und Gericht im frühneuzeitlichen Frankfurt zwischen der Vielfalt der Vormoderne und der Einheit der Moderne, in: dies. (Hrsg.), Die Reichsstadt Frankfurt als Rechts- und Gerichtslandschaft im Römisch-­Deutschen Reich. München 2008 (bibliothek altes Reich, Bd. 3), S. 9 – 13 (hier S. 9). 7 S. schon Krey, Die Praxis der spätmittelalterlichen Laiengerichtsbarkeit (wie Anm. 3), S. 16. 8 Institut für Stadtgeschichte Frankfurt a. M., Reichssachen-­Nachträge, Nr. 2084 = Mertz, Der Frankfurter Oberhof (wie Anm. 3), Nr. 25, S. 21 = Rudolf Jung, Inventare des Frankfurter Stadtarchivs, Bd. 2. Frankfurt a. M. 1889, Nr. 2084, S. 257.

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Offenbar hatte sich das Massenheimer Gericht an seinen Oberhof in Petterweil gewandt, der aber wiederum die Frankfurter Schöffen angerufen hatte. Gerichtsherr in Massenheim war damals Eberhard selbst.9 Herr über Petterweil war wiederum nicht er, sondern Cuno von Solms, der Ort stand aber politisch auch Frankfurt nahe.10 Hier zeigt sich ein mehrgliedriger Oberhofzug, der unterschiedliche Gerichte mit verschiedenen Gerichtsherren in Kontakt brachte. Zugleich aber hatte das komplizierte Verfahren offenbar, wenigstens in den Augen Eberhards, die Entscheidung des Rechtsstreits erheblich verzögert. Im ausgehenden 15. Jahrhundert wurden Oberhöfe immer mehr auch als Problem empfunden. Mitunter kam es dann zu einer Blüte größerer Höfe,11 die etwa personell im Hinblick auf die Urteiler eine effiziente Rechtsprechung eher garantieren konnten. In diesem Beitrag sollen die Oberhöfe unter dem verschränkenden Aspekt im Vordergrund stehen. Germanisten wie Adalbert Erler und Gunter Gudian, aber auch Wilhelm Ebel rückten die Oberhöfe ins Zentrum ihrer Suche nach dem deutschen Recht. Für Ebel hatte beispielsweise der Rat Lübecks als Oberhof zahlreicher Städte lübischen Rechts 12 eine „zentralistische Rechtschöpfungskraft“.13 Friedrich Ebel beschrieb eine „unifizierende Kraft des Oberhofrechts“.14 Drei Hypothesen stehen in diesem Beitrag im Vordergrund: 1. Die Oberhofanfrage war die Ausnahme, nicht die Regel. Die Forschung hat bisher die Bedeutung der Oberhöfe für die übergreifende Rechtsbildung überhöht. 2. Das Oberhofverfahren war für eine echte Rechtsvereinheitlichung unzureichend. Allerdings könnte es für einzelne Oberhöfe durchaus ein Wegbereiter des Instanzenzuges gewesen sein. 3. Die Forschungen zur Rechtsprechung in Ingelheim und Lübeck sind in hohem Maße 9 S. Gerd Bethke, Main-­Taunus-­Land. Historisches Ortslexikon. Frankfurt a. M. 1996 (Rad und Sparren, Bd. 26), S. 126 – 128; Christian Daniel Vogel, Beschreibung des Herzogthums Nassau. Wiesbaden 1843, S. 557. 10 S. Krey, Die Praxis der spätmittelalterlichen Laiengerichtsbarkeit (wie Anm. 3), S. 248 – 253. 11 Ebd., S. 16. 12 S. hierzu Albrecht Cordes, Art. Lübisches Recht, in: HRG, Bd. 3. 2. Aufl. Berlin 2016, Sp. 1072 – 1079; Wilhelm Ebel, Art. Lübisches Recht, in: HRG, Bd. 3. 1. Aufl. Berlin 1984, Sp. 77 – 84. Zu den historiographischen Aspekten s. Carsten Groth, Hanse und Recht. Eine Forschungsgeschichte. Berlin 2016 (Freiburger Rechtsgeschichtliche Abhandlungen. Abt. B: Abhandlungen zur Deutschen Rechtsgeschichte, NF., Bd. 74), S. 163 – 166, 288 – 290. 13 Wilhelm Ebel, Bürgerliches Rechtsleben zur Hansezeit in Lübecker Ratsurteilen. Göttingen/Frankfurt a. M./Berlin 1954 (Quellensammlung zur Kulturgeschichte, Bd. 4), S. 1 f.; ähnlich schon ders., Forschungen zur Geschichte des lübischen Rechts, T. I: Dreizehn Stücke zum Prozeß- und Privatrecht. Lübeck 1950 (Veröffentlichungen zur Geschichte der Hansestadt Lübeck, Bd. 14), S. 13, 15 f. 14 Friedrich Ebel, Statutum und ius fori im deutschen Spätmittelalter, in: Zeitschrift der Savigny-­Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung (künftig: ZRG GA) 93 (1976), S. 100 – 153 (hier S. 118).

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synthetisch. Aus oftmals wenigen Sprüchen wurde versucht, ein über lange Zeit konstant geltendes Rechtssystem abzuleiten mit den Oberhöfen als Zentralinstitutionen deutschen Rechts.

2. Oberhöfe, ihr Rechtszug und das deutsche Recht 2.1 Ausnahmecharakter der Oberhofanfragen Die Forschung hat mitunter die Bedeutung der Oberhöfe angesichts der bekannten Fallzahlen überhöht. Aus der Ingelheimer Gerichtslandschaft 15 stehen mit den Hader- und Oberhofprotokollbüchern herausragende serielle Quellen zur Verfügung.16 Für den Oberhof kann anhand des erhaltenen Protokollbuches von 1398 bis 1430, das Adalbert Erler bearbeitete,17 wie auch der gedruckten Einträge, die Hugo Loersch vorlegte,18 eine über 60 Jahre umfassende serielle Überlieferung analysiert werden. Eindrucksvoll belegt sie den Ausnahmecharakter des Rechtszuges. In den Quellen finden sich Belege für etwa 70 unterschiedliche Gerichte, die in Ingelheim anfragten, wobei sich viele aber nur ein oder zwei Mal unterweisen ließen.19 Eine größere Zahl der Anfragen entfiel zudem auf wenige unterschiedliche Gerichte. Im Protokollband ab 1398 stammen allein 26 Prozent der Anfragen von dem Kreuznacher Gericht.20 Insgesamt weist dieser Befund auf eine nur eingeschränkt mögliche rechtsvereinheitlichende Breitenwirkung der Rechtsprechung des Oberhofs hin. Zudem ist in der Forschung häufig nicht erkannt worden, dass Gerichte durchaus auch bei mehreren Oberhöfen im gleichen Zeitraum anfragen konnten. Am 22. April 1400 wurde in einer Privatanfrage beispielsweise erwähnt, dass die Kreuznacher Schöffen zu einem anderen Oberhof gezogen waren, weil 15 S. hierzu Alexander Krey, Die spätmittelalterliche Rechts- und Gerichtslandschaft des Ingelheimer Reichsgrundes, in: Franz J. Felten/Harald Müller/Regina Schäfer (Hrsg.), Die Ingelheimer Haderbücher. Mittelalterliches Prozessschriftgut und seine Auswertungsmöglichkeiten. Ingelheim 2010 (Beiträge zur Ingelheimer Geschichte, Bd. 50), S. 43 – 62. 16 S. zur Überlieferung die Auflistung bei Krey, Die Praxis der spätmittelalterlichen Laiengerichtsbarkeit (wie Anm. 3), S. 58 – 68. 17 Adalbert Erler, Die älteren Urteile des Ingelheimer Oberhofes. [Bd. I]. Frankfurt a. M. 1952, Bd. II. Frankfurt a. M. 1958, Bd. III. Frankfurt a. M. 1963; Bd. IV. Frankfurt a. M. 1963. In der Edition unberücksichtigte Urteile finden sich im Anhang bei Gunter Gudian, Ingelheimer Recht im 15. Jahrhundert. Aalen 1968 (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, NF., Bd. 10), S. 381 – 438. 18 Hugo Loersch, Der Ingelheimer Oberhof. Bonn 1885. 19 Erler, Der Ingelheimer Oberhof (wie Anm. 4), S. 182; Gudian, Ingelheimer Recht im 15. Jahrhundert (wie Anm. 17), S. 19 f. 20 Gudian, Ingelheimer Recht im 15. Jahrhundert (wie Anm. 17), S. 19 f.

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eine Prozesspartei dorthin ausgeheischt war.21 Die Quellen deuten insgesamt darauf hin, dass die Wahl des Oberhofs im Grundsatz frei war; auch das Ignorieren einer Weisung war vermutlich möglich, solange die erteilte Weisung nicht unvollständig oder unrichtig in das örtliche Verfahren einbezogen wurde.22 Dies schränkt eine „unifizierende Kraft“ im Sinne Friedrich Ebels weiter deutlich ein. Für den Lübecker Oberhof liegen keine vergleichbar detaillierten Auswertungen vor. Bekannt ist aber durch die Forschungen Wilhelm Ebels, dass nur für 35 der etwa 80 bis 10023 Städte lübischen Rechts eine Oberhofbeziehung nach Lübeck belegt ist, für eine „große Mehrzahl“ nicht,24 wobei aus Rostock und Reval 25 mit Abstand die meisten Fälle vorliegen.26 Eine Revaler Sammlung Lübecker Weisungen der Jahre 1458 bis 1515, die 1531 angelegt wurde,27 enthält lediglich 108 Oberhofsprüche.28 Auch wenn in diese Zusammenstellung möglicherweise nicht alle Oberhofweisungen übernommen wurden, deuten die Zahlen doch auf eine eher seltene Anrufung hin. Anhand des Urteilsbuches von 1515 bis 1554 mit etwa

21 Nr. 196 bei Erler, Die älteren Urteile, Bd. 1 (wie Anm. 17), S. 122. 22 S. Krey, Die Praxis der spätmittelalterlichen Laiengerichtsbarkeit (wie Anm. 3), S. 544 – 552. 23 Nils Jörn, Lübecker Oberhof, Reichskammergericht, Reichshofrat und Wismarer Tribunal. Forschungsstand und Perspektiven weiterer Arbeit zur letztinstanzlichen Rechtsprechung im südlichen Ostseeraum, in: Rolf Hammel-­Kiesow/Michael Hundt (Hrsg.), Das Gedächtnis der Hansestadt Lübeck. Festschrift für Antjekathrin Graßmann zum 65. Geburtstag. Lübeck 2005, S. 371 – 380 (hier S. 373). Er nennt die Gründe für diese Verteilung der Anfragen „weitgehend ungeklärt“. 24 Wilhelm Ebel, Lübisches Recht, Bd. 1. Lübeck 1971, S. 107. S. hierzu auch Bernhard Diestelkamp, Der Oberhof Lübeck und das Reichskammergericht. Rechtszug versus Appellation, in: Jost Hausmann/Thomas Krause (Hrsg.), „Zur Erhaltung guter Ordnung“. Beiträge zur Geschichte von Recht und Justiz. Festschrift für Wolfgang Sellert zum 65. Geburtstag. Köln/Weimar/Wien 2000, S. 161 – 182 (hier S. 166 – 176). 25 Wilhelm Ebel, Der Rechtszug nach Lübeck, in: Hansische Geschichtsblätter (künftig: HGbll.) 85 (1967), S. 1 – 37 (hier S. 29). Ders., Lübisches Recht (wie Anm. 24), S. 120, nannte „über 300“ überlieferte schriftliche Appellationen aus Reval. 144 Fälle zwischen 1421 bis 1610, die ausgelagert worden waren und von denen 62 zurückkehrten, erwähnt Ulrich Simon, Appellationen von Reval nach Lübeck. Aus zurückgekehrten Akten des Archivs der Hansestadt Lübeck, in: Robert Schweitzer/Waltraud Bastmann-­Bühner (Hrsg.), Die Stadt im europäischen Nordosten. Kulturbeziehungen von der Ausbreitung des Lübischen Rechts bis zur Aufklärung. Helsinki/Lübeck 2001 (Veröffentlichungen der Aue-­Stiftung, Bd. 12), S. 47 – 63 (hier S. 49). 26 Ebel, Der Rechtszug nach Lübeck (wie Anm. 25), S. 3; ders., Lübisches Recht (wie Anm. 24), S. 113. 27 Wilhelm Ebel, Das Revaler Ratsurteilsbuch (Register vann affsproken). 1515 – 1554. Göttingen 1952 (Der Göttinger Arbeitskreis. Veröffentlichungen, Bd. 64), S. II. 28 Hiervon sind 78 nach Ebel, Bürgerliches Rechtsleben zur Hansezeit (wie Anm. 13), S. 16, Anm. 7, auch im Cod. ord. lub. enthalten.

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1.100 Ratssprüchen Revals 29 untersuchte Tobias Kämpf die Verteilung detaillierter, wobei er nur etwa 3,5 Prozent der überlieferten Spruchtätigkeit des Rates der Oberhoftätigkeit (Vogturteile, Rechtszug aus Narva) zuordnen konnte.30 Von den 53 dokumentierten Fällen einer Schelte in dieser Zeit verweigerte der Revaler Rat in 20 den Rechtszug nach Lübeck.31 Bei aller Vorsicht scheint auch hier der Ausnahmecharakter des Oberhofzuges durch. 2.2 Oberhofverfahren Das Oberhofverfahren in Ingelheim ist eingehend in der Forschung gewürdigt worden.32 Die Details müssen nicht abermals wiederholt werden. Lediglich zwei Aspekte sollen im Hinblick auf die Frage nach der Ausbildung von Instanzenzügen und der Effektivität der Verfahrensarten im Hinblick auf die Rechtsvereinheitlichung Erwähnung finden. Das mittelalterliche Oberhofverfahren in Ingelheim bildete keine eigene In­ stanz. Dennoch versuchten die Urteiler in Ingelheim aber auf verschiedenen Wegen, ihre Weisungen verbindlich zu machen und anfragende Urteiler langfristig an ihren Oberhof zu binden. Im Ausheischverfahren, bei dem der Oberhof infolge des Begehrens der Prozesspartei(en) angerufen wurde, verlangten die Ingelheimer Schöffen von den anfragenden Urteilern ein Ausfuhrgelöbnis. Unter Eid mussten sie versprechen, auch künftig in Ingelheim Rechtsweisungen einzuholen, wenn eine Partei dies begehrte, selbst wenn sich die örtlichen Urteiler in diesem Fall für ausreichend rechtskundig hielten.33 Bereits im ältesten erhaltenen Protokollbuch des Oberhofes finden sich Hinweise auf diese Ingelheimer Gewohnheit.34 Gunter Gudian sah in den Ausfuhrgelöbnissen ein Aufschwingen Ingelheims „zu einer Art Rechtsmittelgericht“.35 Zwar dürfte die Intention der Ingelheimer Schöffen durchaus darin bestanden haben, ihre eigene Bedeutung angesichts fehlender fes 29 Ediert bei Ebel, Das Revaler Ratsurteilsbuch (wie Anm. 27). 30 Tobias Kämpf, Das Revaler Ratsurteilsbuch. Grundsätze und Regeln des Prozessverfahrens in der frühneuzeitlichen Hansestadt. Köln/Weimar/Wien 2013 (Quellen und Darstellungen zur hansischen Geschichte, NF., künftig: QuD, Bd. 66), S. 73 mit Erklärung hierzu in Anm. 56. 31 Ebd., S. 73. 32 S. etwa Gunter Gudian, Der Oberhof Ingelheim, in: ZRG  GA 81 (1964), S. 267 – 297 (hier S. 271 – 285). 33 Ebd., S. 274 f., 282 f., und Reinhard Zwerenz, Der Rechtswortschatz der Urteile des Ingelheimer Oberhofes. Gießen 1988, S. 27 f., beide mit weiteren Nachweisen. 34 S. etwa Nr. 34 bei Erler, Die älteren Urteile, Bd. 1 (wie Anm. 17), S. 58 f. 35 Gudian, Ingelheimer Recht im 15. Jahrhundert (wie Anm. 17), S. 292.

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ter Oberhofverbindungen zu stärken. Damit könnten die Ausfuhrgelöbnisse zwar den Weg zu einem Instanzenzug geebnet haben. Allerdings kann wegen fehlender serieller Ingelheimer Oberhofquellen nach 1464 kaum nachgewiesen werden, ob sich der Oberhof wirklich zu einem echten Rechtsmittelgericht entwickeln konnte. Im Mittelalter war er dies trotz der Ausfuhrgelöbnisse, anders als Gudian meinte, noch nicht. Denn auch in Ingelheim bestand wenigstens faktisch eine Freiwilligkeit der Oberhofwahl fort. Einzelne Weisungen des Oberhofs zeigen deutlich, dass vorherige Ingelheimer Sprüche nicht umgesetzt worden waren, auch wenn die Ingelheimer Schöffen sie offenbar als verbindlich erachteten. Auch die bereits angesprochenen Anrufungen anderer Oberhöfe zeigen eine wenigstens faktisch bestehende freie Oberhofwahl an.36 Neben den Ausfuhrgelöbnissen versuchten die Ingelheimer Schöffen auch über die Konstruktion eines Quasi-­Gerichtssprengels, der alle bei ihnen (regelmäßig) anfragenden Gerichte umfasste, ihren Oberhof zu festigen.37 In einer Privatanfrage vom 29. Juli 1400 teilten die Schöffen dem Fragesteller mit, ein Erbvertrag gelte bei allen Gerichten, die in Ingelheim unterwiesen würden: Dez ist gewiset: die erbeschafft habe also wole macht czu Caczinelinbogen alse czu Lauffenselden und an allin den gerichtin, die ire recht hie holen.38 In einer anderen Anfrage vom 22. April 1417 ging es um den Umfang einer Verfügung von Todes wegen: were man abir der frauwin schult schuldig gewest in andirn gerichten, die horet in dise gifft nit, iz were dann, daz daz gerichte sin recht nit hie holte.39 Beide Male war also die Oberhofverbindung nach Ingelheim das entscheidende Kriterium. Ein solcher Quasi-­ Gerichtssprengel erleichterte vermutlich das Rechtsleben. Es dürfte deshalb auch kein Zufall sein, dass die beiden obigen Quellenbeispiele Weisungen infolge von Privatanfragen darstellen. Die Ingelheimer Urteiler instrumentalisierten so vermutlich die Fragesteller, um Druck auf die örtlichen Gerichte auszuüben. Denn nur wenn diese in Ingelheim anfragten, konnten die Parteien diese Vorteile nutzen.40 Auch in anderen Anfragen wird der Weg zu einer Instanz durchaus greifbar. In einigen Fällen verwarf der Ingelheimer Oberhof ausdrücklich abweichende Gewohnheiten.41 Am 5. August 1406 erschienen etwa die Urteiler aus Kumbd vor dem Ingelheimer Gericht und schilderten, dass der geladene Beklagte zwar vor Gericht erschienen sei, sich aber nicht eingelassen habe. Sie hätten ihm daraufhin eine Bußzahlung auferlegt, denn jeder, ob arm oder reich, müsse dreimal in 36 37 38 39 40 41

Krey, Die Praxis der spätmittelalterlichen Laiengerichtsbarkeit (wie Anm. 3), S. 547. S. hierzu ebd., S. 299 f. Nr. 233 bei Erler, Die älteren Urteile, Bd. 1 (wie Anm. 17), S. 135. Nr. 2151 bei Gudian, Ingelheimer Recht im 15. Jahrhundert (wie Anm. 17), S. 435. Krey, Die Praxis der spätmittelalterlichen Laiengerichtsbarkeit (wie Anm. 3), S. 300. S. hierzu ebd., S. 546 f., 555 – 561.

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14-tägigem Abstand geladen werden.42 In Kumbd war es demnach möglich, dass der Beklagte sich trotz Ladung nicht zur Sache einließ, sondern lediglich die Buße zahlte. Dieser Gewohnheit widersprach der Oberhof entschieden. Für die Zukunft verwarfen die Ingelheimer Schöffen in ihrer Weisung die von ihrem geübten Recht abweichende Gewohnheit und beharrten auf der bei ihnen üblichen notwendigen dreimaligen Klage bei vorherigem Nichterscheinen.43 Es darf hier aber kein falscher Eindruck entstehen. Diese Fälle waren selten und die Effektivität der Maßnahme kann kaum beurteilt werden, da Gerichtsbücher von in Ingelheim anfragenden Gerichten nicht bekannt sind, also die Gegenüberlieferung fehlt.44 Allein schon die mitunter in der Ingelheimer Überlieferung auftauchenden Fälle, in denen Parteien im Rahmen von Privatanfragen auf die Nichtumsetzung früherer Weisungen hinwiesen,45 lassen einen ambivalenten Eindruck zurück. Das Verfahren des Lübecker Oberhofs ist demgegenüber deutlich schlechter erforscht. Hier überschattet vor allem der eher dogmatische Streit zwischen Jürgen Weitzel und Wilhelm Ebel um den Charakter des Rechtszuges nach Lübeck die Diskussion weithin.46 Weitzel sah eine „stadtrechtlich geprägte Form der Urteilsschelte“, bei welcher der Oberhof das gescholtene Urteil nicht vollständig ersetzt und damit kein Urteil als Instanz gesprochen habe.47 Ebel hingegen erblickte in der Urteilsschelte oder auch Appellation 48 nach Lübeck Wesenszüge einer Revi 42 43 44 45 46

Nr. 1009 bei Erler, Die älteren Urteile, Bd. 2 (wie Anm. 17), S. 96. Krey, Die Praxis der spätmittelalterlichen Laiengerichtsbarkeit (wie Anm. 3), S. 555. Ebd., S. 606. S. etwa ebd., S. 560. S. hierzu auch Werner Amelsberg, Die „samende“ im lübischen Recht. Eine Vermögensgemeinschaft zwischen Eltern und Kindern im spätmittelalterlichen Lübeck. Wien/Köln/ Weimar 2012 (QuD, Bd. 64), S. 28 – 30, und Kämpf, Das Revaler Ratsurteilsbuch (wie Anm. 30), S. 212 – 228, der Weitzel anhand der Befunde aus Reval kritisierte und dessen Konzeption als „theoretisches Konstrukt“ ansah (S. 227). Weitzels Auffassung folgte aber beispielsweise Stefan Ullrich, Untersuchungen zum Einfluss des lübischen Rechts auf die Rechte von Bergen, Stockholm und Visby. Frankfurt a. M. u. a. 2008 (Rechtshistorische Reihe, Bd. 375), S. 33, Anm. 38. 47 Jürgen Weitzel, Der Kampf um die Appellation ans Reichskammergericht. Zur politischen Geschichte der Rechtsmittel in Deutschland. Köln/Wien 1976 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 4), S. 106 – 109; ders., Über Oberhöfe, Recht und Rechtszug. Göttingen/Zürich 1981 (Göttinger Studien zur Rechtsgeschichte, Bd. 15), S. 18, 135 – 147. Zur Abgrenzung von Rechtszug und Appellation im Anschluss an Weitzel s. Bernhard Diestelkamp, Die Durchsetzung des Rechtsmittels der Appellation im weltlichen Prozeßrecht Deutschlands. Stuttgart 1998 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Geistes- und Sozialwissenschaftliche Klasse, Jahrgang 1998, Nr. 2), S. 7 – 9. 48 Die Quellenbegriffe „Schelte“ und „Appellation“ erscheinen in den Quellen synonym und dürften noch kein Hinweis auf Rezeptionsvorgänge sein, was Kämpf, Das Revaler Ratsur-

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sion, wenngleich nicht in der vollen Ausprägung des gemeinen Rechts.49 Allerdings betonte auch er, dass der Lübecker Rat keine Instanz gewesen sei, sein Urteil weiterhin der „Transformation“ in ein Urteil der Stadt, in der das Verfahren anhängig war, bedurft habe.50 Diesen Aspekt der „Transformation“ wiederum übernahm Weitzel von ihm.51 Der Disput zwischen Weitzel und Ebel scheint abseits aller dogmatischen Fragen im Hinblick auf den Gebotscharakter der Urteile in erster Linie auch eine Frage der Schwerpunktsetzung zu sein. Ebel wollte ersichtlich den Ausnahmecharakter betonen,52 was die Bedeutung des lübischen Rechts im Alten Reich unterstrich. Weitzel hingegen sah mehr die Gemeinsamkeiten des Lübecker Rechtszugs zu anderen Oberhofverfahren.53 Diese wissenschaftliche Auseinandersetzung soll hier nicht näher behandelt werden. Im Hinblick auf die Frage der Entwicklung von Instanzenzügen aus Oberhofverbindungen scheint aber ein Detail der Forschungen von Tobias Kämpf zum Revaler Urteilsbuch bedeutsam. Hiernach war die „Transformation“ der Lübecker Weisungen im Reval der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts nur noch formaler Natur; die Weisungen wurden einfach verlesen und damit in das Verfahren vor Ort einbezogen.54 Letztlich blieb die Urteilsschelte zwar ohne Devolutiveffekt, so dass der Lübecker Rat keine echte Instanz bildete, wobei der Revaler Rat dem Lübecker Oberhof aber die alleinige Entscheidung in der Sache zugestand.55 Bei aller Vorsicht könnten sich hier erste Schritte hin zu einer Instanz zeigen. Ulrich Simon macht allerdings auch darauf aufmerksam, dass der Lübecker Rat zumeist teilsbuch (wie Anm. 30), S. 15, Anm. 19, S. 50 – 53, 207 f., für die Revaler Quellen jüngst nochmals betonte. 49 S. hierzu Ebel, Der Rechtszug nach Lübeck (wie Anm. 25), S. 1 – 37; ders., Lübisches Recht (wie Anm. 24), S. 106 – 127. Ders., Bürgerliches Rechtsleben zur Hansezeit (wie Anm. 13), S. 9, sprach von einem Appellationsgericht und davon, dass der Lübecker Rat „nicht Gutachter, sondern Richter sein“ wollte (S. 16). Als einzigen Oberhofurteilen sei den Sprüchen des Rates „eine unmittelbare Rechtskraft“ eigen gewesen (ebd.). Ders., Der Rechtszug nach Lübeck (wie Anm. 25), S. 17, 22, schwächte dies aber ab. Ders., Art. Lübisches Recht (wie Anm. 12), Sp. 81, sprach von einer „Art Revisionsinstanz“. 50 Ebel, Der Rechtszug nach Lübeck (wie Anm. 25), S. 27 f., 30; ders., Lübisches Recht (wie Anm. 24), S. 119; ähnlich auch ders., Lübisches Recht im Ostseeraum, in: Carl Haase (Hrsg.), Die Stadt des Mittelalters, Bd. 2: Recht und Verfassung. Darmstadt 1976 (Wege der Forschung, Bd. 244), S. 256 f. 51 S. Weitzel, Der Kampf um die Appellation (wie Anm. 47), S. 107; ders., Über Oberhöfe, Recht und Rechtszug (wie Anm. 47), S. 136, jeweils mit Verweis auf Ebel. 52 So auch Diestelkamp, Der Oberhof Lübeck (wie Anm. 24), S. 165. 53 Auch Diestelkamp, ebd., S. 165, schreibt, dass Ebel den Ausnahmecharakter gesehen habe (wobei seine Argumente nicht voll überzeugend seien) und Weitzel nicht. 54 Kämpf, Das Revaler Ratsurteilsbuch (wie Anm. 30), S. 220 – 222. 55 Ebd., S. 226 f.

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dem Revaler Urteil ohne Änderung folgte, weshalb die scheltende Partei regelmäßig unterlegen habe.56 Die Entwicklung hin zu einer Instanz zeigt womöglich ebenso die Appellation an das Reichskammergericht direkt gegen Lübecker Oberhofurteile.57 Zunächst ging die Forschung davon aus, dass die Oberhofweisungen Lübecks meist nur inappellable Rechtsmeinungen darstellten,58 wobei aber auf die „Verschränkung“ von Oberhof und Reichskammergericht hingewiesen wurde.59 Nachdem aber deutlich mehr Reichskammergerichtsfälle mit dem Lübecker Oberhof als Vorinstanz ausfindig gemacht werden konnten, ließ sich das Bild korrigieren.60 Offenbar waren die Oberhofsprüche Lübecks einer Appellation besser zugänglich als zunächst angenommen.61 Dies deutet auf eine gewisse Verbindlichkeit der Oberhofweisung hin. Auch half sicher die Schriftlichkeit des Verfahrens. Zunächst war eine schriftliche Weisung nach schriftlicher Schelte in Lübeck nur für Elbing und Reval in Übung,62 im 16. Jahrhundert griff sie aber offenbar weiter um sich.63 Bei aller Vorsicht könnte der Befund darauf hindeuten, dass der Lübecker Oberhof im 16. Jahr 56 Simon, Appellationen von Reval nach Lübeck (wie Anm. 25), S. 50 f. 57 Kämpf, Das Revaler Ratsurteilsbuch (wie Anm. 30), S. 223 f. 58 Diestelkamp, Der Oberhof Lübeck (wie Anm. 24), S. 177 – 179, der auf zehn bekannte Reichskammergerichtssachen in Folge von Oberhofentscheidungen verwies; im Anschluss noch Tobias Freitag/Nils Jörn, Lübeck und seine Bewohner vor den obersten Reichsgerichten in der Frühen Neuzeit, in: Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde (künftig: ZVLGA) 81 (2001), S. 161 – 200 (hier S. 173). 59 Diestelkamp, Der Oberhof Lübeck (wie Anm. 24), S. 181. 60 Jörn, Lübecker Oberhof (wie Anm. 23), S. 374 – 376; Peter Oestmann, Lübisches und sächsisch-­magdeburgisches Recht in der Rechtspraxis des spätmittelalterlichen Reiches, in: Heiner Lück/Matthias Puhle/Andreas Ranft (Hrsg.), Grundlagen für ein neues Europa. Das Magdeburger und Lübecker Recht in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Köln/Weimar/ Wien 2009 (Quellen und Forschungen zur Geschichte Sachsen-­Anhalts, Bd. 6), S. 183 – 222 (hier S. 212 f.). 61 Oestmann, Lübisches und sächsisch-­magdeburgisches Recht (wie Anm. 60), S. 213, der aber dennoch die Deutung Diestelkamps als „im Großen und Ganzen zutreffend“ ansah. Kämpf, Das Revaler Ratsurteilsbuch (wie Anm. 30), S. 224, Anm. 840, zweifelt an der Interpretation Diestelkamps und meint, dass sich auch ein Vorbehalt zugunsten des lübischen Rechts ausgewirkt haben könne. 62 Amelsberg, Die „samende“ im lübischen Recht (wie Anm. 46), S. 24 – 27; Ebel, Bürgerliches Rechtsleben zur Hansezeit (wie Anm. 13), S. 16; ders., Der Rechtszug nach Lübeck (wie Anm. 25), S. 28 – 30, 33; ders., Lübisches Recht (wie Anm. 24), S. 120, 124; Ulf Peter Krause, Die Geschichte der Lübecker Gerichtsverfassung. Stadtrechtsverfassung und Justizwesen der Hansestadt Lübeck von den Anfängen im Mittelalter bis zur Reichsjustizgebung 1879. Kiel 1968, S. 153. 63 Amelsberg, Die „samende“ im lübischen Recht (wie Anm. 46), S. 27 f.; Kämpf, Das Revaler Ratsurteilsbuch (wie Anm. 30), S. 57; Simon, Appellationen von Reval nach Lübeck (wie Anm. 25), S. 51.

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hundert in die Rolle einer Instanz hineinwuchs, von der aus sogar Appellationen an das Reichskammergericht möglich waren. 2.3 Synthese in sich konsistenter Rechtsgewohnheiten Adalbert Erler hob hervor, dass der „Ingelheimer Oberhof nicht nur von lokalgeschichtlicher Bedeutung“ sei, sondern „die bedeutendste Erkenntnisquelle für das deutsche Recht im Spätmittelalter; er zeigt uns das fränkische Recht noch fast unberührt durch das römische Recht“.64 Gunter Gudian wollte im Ingelheimer Spruchmaterial ein „geschlossenes, in sich folgerichtiges und so gut wie widerspruchsfrei gehandhabtes Recht“ 65 erkennen. Wilhelm Ebel erkannte eine „bewundernswerte Kontinuität“ in den Urteilen des Lübecker Rates, eine der „Rechtsüberzeugung und -anwendung“, die auf der Selbstkooptation des Rates gefußt habe.66 Aber auch der Romanist Franz Wieacker sprach anerkennend davon, dass die Edition „der Lübecker Ratsurteile […] ein weit festeres und differenzierteres Gewebe gleichmäßig beobachteter Regeln und ein weit stärkeres Bewußtsein von der Verbindlichkeit dieser Grundsätze aufgedeckt [habe], als der herkömmlichen Auffassung entsprach.“ 67 Schon Rudolf Hübner stilisierte zudem Lübeck als Bastion gegen das römische Recht, wo das einheimische Recht entschieden verteidigt worden sei.68 Diesen Äußerungen liegt letztlich die Vorstellung zugrunde, dass die mittelalterlichen Urteiler eine konsistente, wenngleich zumeist ungeschriebene Rechtsordnung vor Augen und deren Grundsätze zum Teil überpartikulare Geltung gehabt hätten. Bereits Dietmar Willoweit sprach richtigerweise davon, dass „nicht von einem unsichtbaren corpus ungeschriebenen Gewohnheitsrechts in den Köpfen der Schöffen auszugehen“ sei. Zwar hätten sie Rechtregeln gekannt, aber 64 Erler, Der Ingelheimer Oberhof (wie Anm. 4), S. 174. 65 Gudian, Ingelheimer Recht im 15. Jahrhundert (wie Anm. 17), S. 3. 66 Ebel, Bürgerliches Rechtsleben zur Hansezeit (wie Anm. 13), S. 2. 67 Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit. Unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung. 2. Aufl. Göttingen 1967 (Jurisprudenz in Einzeldarstellungen, Bd. 7), S. 113, Anm. 44a. 68 Rudolf Hübner, Grundzüge des deutschen Privatrechts. 5. Aufl. Leipzig 1930, S. 24. Ebel, Bürgerliches Rechtsleben zur Hansezeit (wie Anm. 13), S. 17, meinte sogar, der „lübische Rechtskreis“ habe „dem Fremdrecht den stärksten und zähesten Widerstand“ geleistet. Im Gegensatz hierzu stehen die Erkenntnisse der neueren Forschung. Kämpf, Das Revaler Ratsurteilsbuch (wie Anm. 30), S. 126 – 129, findet beispielsweise im Revaler Prozess der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts römischrechtliche Elemente in Form der litis contestatio. S. zu diesem Problemkreis vor allem auch Albrecht Cordes, Kaiserliches Recht in Lübeck. Theoretische Ablehnung und praktische Rezeption, in: ZVLGA 89 (2009), S. 123 – 145.

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diese hätten „sich nicht zu einem System“ zusammengefügt.69 Das Bild genuin deutscher Rechtsgewohnheiten, die sich vom römischen Recht abgrenzen lassen und in klarer Konkurrenz hierzu standen, kulminiert letztlich in den Begriffen des deutschen Rechts 70 und des deutschen Privatrechts.71 Die Vorstellung ist gewiss aber älter. Bereits David Mevius formulierte in seinem erstmals ab 1642 erschienen Commentarius in Jus Lubecense 72 den Grundsatz, dass bei der Auslegung des Partikularrechts wenn überhaupt nur nachrangig auf das gemeine Recht zurückgegriffen werde dürfe,73 da er wissenschaftsgeschichtlich als erster das lübische Recht als ein in sich geschlossenes System auffasste.74 Bemerkenswerterweise wollte er aber noch vor dem römischen Recht Gewohnheiten und Rechte benachbarter Territorien heranziehen.75 Damit hatte er im Grundsatz den Gedanken geboren, wenngleich noch nicht klar benannt, dass sich aus einem Vergleich deutschrechtlicher Quellen heraus übergreifende Rechtssätze destillieren lassen.76 Die Editionen von Hugo Loersch 77, später dann auch von Adalbert Erler 78 und Gunter Gudian 79 zum Ingelheimer Oberhof sowie von Wilhelm Ebel 80 zum Lübecker Rat verstärkten in gewisser Weise ältere Vorstellungen vom deutschen 69 Dietmar Willoweit, Gerichtsherrschaft und Schöffenrecht am Mittelrhein im 15. Jahrhundert. Beobachtungen anhand der Urteile des Ingelheimer Oberhofes, in: Lloyd Bonfield (Hrsg.), Seigneurial Jurisdiction. Berlin 2000 (Comparative Studies in Continental and Anglo-­American Legal History, Bd. 21), S. 145 – 159 (hier S. 151). 70 S. hierzu Albrecht Cordes, Art. Deutsches Recht, in: HRG, Bd. 1. 2. Aufl. Berlin 2008, Sp. 1003 – 1007; Jürgen Weitzel, Deutsches Recht, in: LexMA , Bd. 3. Stuttgart/Weimar 1999, Sp. 777 – 781. 71 S. hierzu Klaus Luig, Art. Deutsches Privatrecht, in: HRG, Bd. 1. 2. Aufl. Berlin 2008, Sp. 993 – 1003; Karl Otto Scherner, Das „Deutsche Privatrecht“ und seine Darstellbarkeit, in: ZRG GA 118 (2001), S. 346 – 356; Hans Thieme, Art. Deutsches Privatrecht, in: HRG, Bd. 1. 1. Aufl. Berlin 1971, Sp. 702 – 709. 72 David Mevius, Commentarius in Jus Lubecense […], T. 1 und 2. Leipzig 1642, T. 3 und 4. Leipzig 1643. 73 Klaus Luig, Die Anfänge der Wissenschaft vom deutschen Privatrecht, in: Ius Commune. Zeitschrift für Europäische Rechtsgeschichte 1 (1967), S. 195 – 222 (hier S. 196 f.); s. hierzu vor allem ausführlich Nils Wurch, David Mevius und das lübische Recht. Dargestellt am Beispiel des „beneficium excussionis“. Köln/Weimar/Wien 2015 (QuD, Bd. 69), S. 46 – 80, mit weiteren Nachweisen. 74 Luig, Die Anfänge der Wissenschaft (wie Anm. 73), S. 196 f. 75 Ebd., S. 199. 76 Ebd. 77 Loersch, Der Ingelheimer Oberhof (wie Anm. 18). 78 Wie Anm. 17. 79 Ebd. 80 Wilhelm Ebel, Lübecker Ratsurteile, Bd.  1: 1421 – 1500. Göttingen/Berlin/Frankfurt a. M. 1955, Bd. 2: 1501 – 1525. Göttingen/Berlin/Frankfurt a. M. 1956, Bd. 3: 1526 – 1550.

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Recht. Sie hatten eine unbestreitbare Suggestivkraft 81, der erkennbar auch Franz Wieacker erlegen war. Gudian und Ebel intensivierten mit ihren geschlossenen Darstellungen des Lübischen 82 beziehungsweise Ingelheimer Rechts 83 diesen Eindruck noch. Während Gudian sich in seiner Destillation des Ingelheimer Rechts noch vornehmlich auf das 15. Jahrhundert beschränkte, hatte Ebel 84 keine Schwierigkeiten, Quellen des 13. bis 16. Jahrhunderts zu einer Rechtsordnung zu verdichten. Hier scheint das alte Konstanzaxiom durch. Viele Germanisten gingen zunächst unkritisch von einer überzeitlichen Gleichwertigkeit deutscher Rechtsquellen mit das gesamte deutsche Recht durchziehenden gemeinsamen Grundprinzipien aus.85 Insbesondere Gudian kritisierte zwar diesen methodischen Zugang,86 wandelte ihn letztlich aber bloß ab. Er wie auch Ebel beschränkten sich auf die Quellen eines Gerichts beziehungsweise „Rechtskreises“, gingen innerhalb dieser Betrachtungsräume aber nach wie vor von einer Einheitlichkeit in einem gewissen Zeitraum (Gudian) oder gar über längere Zeit (Ebel) aus.87 Allerdings darf aus den Editionen heraus nicht der Trugschluss entstehen, die Spruchpraxis in der aufbereiteten edierten Form ließe direkte Rückschlüsse auf Göttingen/Berlin/Frankfurt a. M. 1958, Bd. 4: Ergänzungen und Nachträge. 1297 – 1550. Göttingen/Berlin/Frankfurt a. M. 1967. 81 Im Hinblick auf die Edition der Hanserezesse sprechen auch Angela Huang/Ulla Kypta, Ein neues Haus auf altem Fundament. Neue Trends in der Hanseforschung und die Nutzbarkeit der Rezesseditionen, in: HGbll. 129 (2011), S. 213 – 229 (hier S. 214), von einer „Suggestivkraft“. 82 S. Ebel, Lübisches Recht (wie Anm. 24), aber auch seine kleineren Studien: ders., Bürgerliches Rechtsleben zur Hansezeit (wie Anm. 13); ders., Lübisches Kaufmannsrecht. Vornehmlich nach Lübecker Ratsurteilen des 15./16. Jahrhunderts. Göttingen 1952 (Der Göttinger Arbeitskreis. Veröffentlichungen, Bd. 37); ders., Kostverträge und Verwandtes nach lübischen Stadtbüchern, in: Nikolaus Grass/Werner Ogris (Hrsg.), Festschrift Hans Lentze. Zum 60. Geburtstage dargebracht. Innsbruck/München 1969 (Forschungen zur Rechts- und Kulturgeschichte, Bd. 4), S. 137 – 152; ders., Erbe, Erbgut und wohlgewonnen Gut im lübischen Recht, in: ZRG GA 97 (1980), S. 1 – 42. 83 S. Gudian, Ingelheimer Recht im 15. Jahrhundert (wie Anm. 17). 84 Ebel, Bürgerliches Rechtsleben zur Hansezeit (wie Anm. 13), S. 17 f., machte durchaus auf einen Wandel aufmerksam, griff aber dennoch zu der synthetisierenden Methode. 85 Gunter Gudian, Gemeindeutsches Recht im Mittelalter?, in: Ius Commune. Zeitschrift für Europäische Rechtsgeschichte 2 (1969), S. 33 – 42 (hier S. 36 – 38); Artur Völkl, Das Lösungsrecht von Lübeck und München. Ein Beitrag zur Geschichte der Fahrnisverfolgung. Wien/Köln/Weimar 1991 (Forschungen zur neueren Privatrechtsgeschichte, Bd. 28), S. 22. 86 S. Gudian, Gemeindeutsches Recht im Mittelalter (wie Anm. 85), S. 36 – 38. 87 S. zur Kritik an der Synthese einheitlichen Rechts in der Forschung schon Albrecht Cordes/ Philipp Höhn/Alexander Krey, Schwächediskurse und Ressourcenregime. Überlegungen zu Hanse, Recht und historischem Wandel, in: HGbll. 134 (2016), S. 167 – 203 (hier S. 178 f.); Krey, Die Praxis der spätmittelalterlichen Laiengerichtsbarkeit (wie Anm. 3), S. 77.

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die Rechtsvorstellung der Urteiler zu. Mit ihren Rechtssätze destillierenden Überschriften und einordnenden Anmerkungen sowie der leichten Zugänglichkeit durch Register spielen sie der Vorstellung einer Einheitlichkeit des Rechts in die Hände. Die Vorlagen aber waren auf diese Art der Benutzung nicht ausgerichtet. Die Ingelheimer Oberhofprotokolle sind chronologisch niedergeschrieben worden, wobei Randbemerkungen häufig nur den Ort nennen. Sie helfen dem Benutzer aber nicht, über thematische Stichpunkte vergleichbare Fallkonstellationen ausfindig zu machen. Der Kontinuität der Rechtsprechung konnten sie nicht dienen.88 In Lübeck wiederum wurden Oberhofweisungen vermischt mit allerlei anderen Einträgen, auch solchen, in denen der Rat als Stadtgerichtsbarkeit tätig wurde, in die gemischten Niederstadtbücher eingetragen. Ebels Edition enthält daher auch nicht bloß Oberhofweisungen, sondern auch Urteile der Ratsgerichtsbarkeit,89 was die Forschung gelegentlich übersehen hat.90 Offenbar wurden in die Niederstadtbücher aber nur die mündlich erteilten Weisungen 91 seit dem beginnenden 15. Jahrhundert eingetragen, nicht aber die schriftlich nach Reval gesandten.92 Ein Auffinden einzelner Weisungen anhand thematischer Gesichtspunkte war auch hier aufgrund der chronologischen Anlage der Bücher nicht möglich. In Lübeck gab es zudem wenigstens einen Folianten für Oberhofweisungen. Insgesamt enthält die 88 Ähnlich auch Krey, Die Praxis der spätmittelalterlichen Laiengerichtsbarkeit (wie Anm. 3), S. 604 f. 89 Zur Rats-, aber auch zur Niedergerichtsbarkeit Lübecks im Alten Reich s. die Zusammenfassungen bei Amelsberg, Die „samende“ im lübischen Recht (wie Anm. 46), S. 16 – 21; Erich Hoffmann, Lübeck im Hoch- und Spätmittelalter. Die große Zeit Lübecks, in: Antjekathrin Graßmann (Hrsg.), Lübeckische Geschichte. 4. Aufl. Lübeck 2008, S. 81 – 339 (hier S. 238 – 240); s. ferner Ebel, Lübisches Recht (wie Anm. 24), S. 352 – 372; Ferdinand Frensdorff, Die Stadt- und Gerichtsverfassung Lübecks im 12. und 13. Jahrhundert. Lübeck 1861; Martin Samuel Funk, Die Lübischen Gerichte. Ein Beitrag zur Verfassungsgeschichte der Freien und Hansestadt Lübeck. [T. 1], in: ZRG  GA 26 (1905), S. 53 – 90; Krause, Die Geschichte der Lübecker Gerichtsverfassung (wie Anm. 62), S. 65 – 114. 90 Jörn, Lübecker Oberhof (wie Anm. 23), S. 371, nannte missverständlich „Ebels verdienstvolle Edition der bis zum Jahre 1550 ergangenen Urteile des Lübecker Oberhofs“. Kämpf, Das Revaler Ratsurteilsbuch (wie Anm. 30), S. 11, sprach von der „Spruchpraxis des Lübecker Oberhofs“ und von einem Rechtsinstitut am „Lübecker Oberhof“ mit Verweis auf das Register der Ratsurteilsedition Ebels (S. 117), aus dem heraus sich Oberhofsprüche und Urteile des Rates als Stadtgericht aber nicht unterscheiden lassen. Aber auch Ebel, Lübisches Recht im Ostseeraum (wie Anm. 50), S. 272, schrieb missverständlich, dass er „3600 dieser Urteile“ abgeschrieben habe, wobei er davor ausdrücklich „Lübecker Oberhofurteile“ nannte. 91 Nach Ebel, Bürgerliches Rechtsleben zur Hansezeit (wie Anm. 13), S. 16, mussten die Parteien persönlich oder durch einen Bevollmächtigten vertreten in Lübeck im Oberhofverfahren vorstellig werden. 92 Ebd., S. 16.

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Handschrift hiervon 335 für 31 unterschiedliche Städte (die meisten für Reval)93 der Jahre 145594 bis 1514.95 Der Titel Codex Ordaliorum Lubecensium (Cod. ord. lub.) dürfte allerdings von Johann Carl Henrich Dreyer herrühren, der das Buch angeblich im 18. Jahrhundert bei einer öffentlichen Auktion käuflich erworben hatte, was jedoch fraglich ist.96 Der Charakter der Handschriften ist in der Literatur strittig. Wilhelm Ebel sah hier eine Privatschrift des Stadtschreibers Johannes Rode aus Stadthagen.97 Hierauf könnte vor allem eine lateinische Inschrift vorne 93 Nach Amelsberg, Die „samende“ im lübischen Recht (wie Anm. 46), S. 10, Anm. 36; Ebel, Lübisches Recht (wie Anm. 24), S. 217, Anm. 3. Andreas Ludwig Jacob Michelsen, Der ehemalige Oberhof zu Lübeck und seine Rechtssprüche. Altona 1839, S. 20, nannte bloß 329 Weisungen, Ebel, Bürgerliches Rechtsleben zur Hansezeit (wie Anm. 13), S. 16, und Ernst Pitz, Schrift und Aktenwesen der städtischen Verwaltung im Spätmittelalter. Köln – Nürnberg – Lübeck. Beitrag zur vergleichenden Städteforschung und zur spätmittelalterlichen Aktenkunde. Köln 1959 (Mitteilungen aus dem Stadtarchiv von Köln, Bd. 45), S. 360, erwähnen 331. 94 Ebel, Lübisches Recht (wie Anm. 24), S. 217, nannte fälschlich 1401, vermutlich weil das Urkundenbuch bei Michelsen, Der ehemalige Oberhof (wie Anm. 93), S. 83, mit einem Eintrag von 1401 beginnt, der aber nicht aus dem Cod. ord. lub. stammt. 95 Archiv der Hansestadt Lübeck (künftig: AHL ), Handschriften, Nr. 752 = Auszug bei Michelsen, Der ehemalige Oberhof (wie Anm. 93), S. 86 – 345 (z. T. nur Auszüge und mit Lesefehlern). Ebel druckte alle Weisungen in verbesserter Form nochmals ab, s. hierzu Ebel, Lübecker Ratsurteile, Bd. 4 (wie Anm. 80), S.  VI f.; ders., Lübisches Recht (wie Anm. 24), S. 217, Anm. 3. Der Einband ist prächtig mit Lederbezug und geprägter Ornamentik ausgestaltet. Darin finden sich sauber beschriebene Pergamentblätter. Fol. 118v–139r sind unbeschrieben, aber die Struktur der künftigen Beschriftung ist schon vorgezeichnet. Auf fol. 134r–136v folgt das Testament von Hermann Dwerges, auf fol. 137r zwei Einträge zur Testamentsvollstreckung durch den Rat Lübecks. S. auch die Beschreibung von Michelsen, Der ehemalige Oberhof (wie Anm. 93), S. 19 f. 96 S. seinen eigenhändigen Vermerk im AHL , Handschriften, Nr. 752, vor fol. 1 (neue Folierung), fol. iiv (alte Folierung) = Abdruck bei Michelsen, Der ehemalige Oberhof (wie Anm. 93), S. 20, Anm. 55. Johann Carl Henrich Dreyer, Einleitung zur Kenntniß der in Geist- Bürgerlichen- Gerichts- Handlungs- Policey- und Kammer-­Sachen von E. Hochw. Rath der Reichsstadt Lübeck […]. Lübeck 1769, S. 261, behandelte das Buch kurz. Allerdings vermerkte er nach Gustav Korlén, Kieler Bruchstücke kaufmännischer Buchführung aus dem Ende des 13. Jahrhunderts, in: Niederdeutsche Mitteilungen 5 (1949), S. 102 – 112 (hier S. 108 – 110), auch auf zwei Lübischen Stadtrechtscodizes, die aber nachweisbar zuvor in den städtischen Archiven bzw. Bibliotheken von Lübeck und Kiel aufbewahrt wurden, fälschlicherweise Hinweise auf einen angeblichen Erwerb bei Auktionen, um seine Veruntreuung bzw. seinen Diebstahl zu vertuschen. Deshalb erscheint Dreyers Vermerk im Cod. ord. lub. zum Erwerb wenig glaubhaft. 97 Ebel, Lübecker Ratsurteile, Bd. 1 (wie Anm. 80), S. X. Michelsen, Der ehemalige Oberhof (wie Anm. 93), S. 20, wies lediglich auf die Inschrift zu Beginn hin und leitete daraus die Autorschaft Johannes Rodes ab. Anders als Pitz, Schrift und Aktenwesen (wie Anm. 93), S. 360, Anm. 18, meinte, wies Hans Teske, Der Ausklang der Lübecker Rechtssprache

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im Buch hindeuten, die zwischen 1513 und 151798 entstanden sein dürfte, einen Gruß des Lübecker Stadtschreibers Johannes Rode an „seinen Gefährten, Freund und Bruder“ Bernhard Heinemann zum Gegenstand hat und auf die Überreichung hinweist.99 Die Forschung sah hier mitunter eine private Schenkung verbürgt.100 Allerdings ist der Cod. ord. lub. als Teil der offiziellen Ratsaufzeichnungen im Sinne eines Briefausgangsbuches für Oberhofsachen anzusehen. Denn Bernhard Heinemann folgte Johannes Rode im Amt nach,101 was auf eine Übergabe zu amtlichen Zwecken hindeutet. Axel Christen Højberg Christensen untersuchte zudem eingehend die Kanzleisprache Lübecks. Er sah in dem Cod. ord. lub. ein besonderes Briefbuch für Rechtsbelehrungen, das in der Mitte des 15. Jahrhunderts angelegt und zunächst von Johann Arndes (seit 1455 Stadtschreiber)102 und Johann Bracht (seit 1451 Stadtschreiber)103 geschrieben wurde.104 Darüber hinaus erwähnte Ulrich Simon anhand der in Lübeck vorhandenen Akten zu Revaler Urteilsschelten, dass der Rat ihnen nach 1446 seine eigene Antwort nicht mehr beilegte, obwohl er dies

im 16. Jahrhundert, in: Verein für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde (Hrsg.), Ehrengabe dem deutschen Juristentage. Lübeck 1931, S. 55 – 101 (hier S. 67), ebenso bloß auf diese Inschrift hin, äußerte sich aber zu der Frage, ob der Foliant privaten oder offiziellen Charakter hatte, nicht. Ihm kam es an der Stelle auf die Beteiligung von Juristen an. 98 Die Inschrift benennt Johannes Rode als Kanonikus in Lübeck und Schwerin sowie Protonotar von Lübeck, Bernhard Heinemann als ersten Sekretär Lübecks (s. Anm. 99). Laut Friedrich Bruns, Die Lübecker Syndiker und Ratssekretäre bis zur Verfassungsänderung von 1851, in: ZVLGA 29 (1938), S. 91 – 168 (hier S. 134); ders., Die Lübecker Stadtschreiber von 1350 – 1500, in: HGbll. 31 (1903), S. 43 – 102 (hier S. 77, 101 f.), war Johannes Rode seit dem 14. November 1500 Sekretär und Schreiber, wurde erstmals am 26. Juni 1513 als Domherr zu Schwerin und Lübeck bezeichnet und führte bis Ostern 1517 das Oberstadtbuch. Bernhard Heinemann wiederum war laut Bruns, Die Lübecker Syndiker, S. 134 f., seit dem 10. April 1510 Ratssekretär und seit Ostern 1517 Schreiber, offenbar als Nachfolger von Johannes Rode. 99 AHL, Handschriften, Nr. 752, vor fol. 1v (neue Folierung), fol. iiv (alte Folierung) = Abdruck bei Michelsen, Der ehemalige Oberhof (wie Anm. 93), S. 20, Anm. 54. 100 Teske, Der Ausklang der Lübecker Rechtssprache (wie Anm. 97), S. 67. Auch Michelsen, Der ehemalige Oberhof (wie Anm. 93), S. 20, ging von einer Schenkung aus. 101 Wie Anm. 97. 102 Nach Bruns, Die Lübecker Stadtschreiber (wie Anm.  98), S.  63 – 68; Axel Christen Højberg Christensen, Studier over Lybæks Kancellisprog fra c. 1300 – 1470. Kopenhagen 1918, S. 86 – 88, war er von Juni 1455 bis etwa 1480 Stadtschreiber und vertrat Johann Bracht regelmäßig zwischen 1463 und 1471. 103 Nach Bruns, Die Lübecker Stadtschreiber (wie Anm. 98), S. 63; Højberg Christensen, Studier over Lybæks Kancellisprog (wie Anm. 102), S. 88 f., wurde er am 1. Juli 1451 als Stadtschreiber verpflichtet und führte die Niederstadtbücher vom 27. Juli 1451 bis Anfang Oktober 1481, lässt sich als Stadtschreiber aber bis zu seinem Tod am 27. Januar 1487 nachweisen. 104 Højberg Christensen, Studier over Lybæks Kancellisprog (wie Anm. 102), S. 74.

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zuvor in verkürzter Form getan hatte.105 Bei aller Vorsicht könnte dieser Befund darauf hindeuten, dass der Rat vielleicht schon vor dem Cod. ord. lub. die Oberhofurteile Revals zentral sammelte, jedenfalls aber, nachdem er seit 1455 dort Abschriften seiner Antworten eintragen ließ, sie in den Akten nicht mehr benötigte. Hierfür spricht auch, dass Simon 1469 bei dem Adressfeld aus Reval erhaltener Schreiben zusätzlich noch einen Hinweis des Lübecker Schreibers auf das Datum des Oberhofurteils neben den bereits zuvor üblichen Informationen unter anderem zu den Streitparteien fand. Simon nahm an, dass dies ein Hinweis auf ein Register in Lübeck sein könnte, das sich in Lübeck aber nicht erhalten habe.106 Die von ihm beispielhaft mitgeteilten Informationen lassen sich aber mit Abschriften im Cod. ord. lub. in Verbindung bringen.107 Ernst Pitz, der das Buch nicht persönlich hatte einsehen können, sondern sich auf Auskünfte Ahasver von Brandts verlassen musste, sah vor allem wegen der wechselnden Handschriften ein fortlaufend angelegtes offizielles „Spezialregister“ des Rates für Briefe an die Appellanten in Oberhofsachen.108 Allerdings sind die Abschriften im Cod. ord. lub. nicht an die Appellanten, sondern jeweils an den Rat gerichtet. Er war von seiner Anlage her aber jedenfalls wie die Niederstadtbücher ungeeignet, eine konsistente Rechtsprechung

105 Simon, Appellationen von Reval nach Lübeck (wie Anm. 25), S. 50. Anhand des unvollständigen Aktenmaterials konnte er nicht sagen, ab wann wieder Konzepte der Oberhofweisungen in die Akten gelangten; er fand erst wieder ein Konzept von 1537 für Reval. 106 Ebd., S. 51. 107 Ebd., S. 60, Anm. 50, nennt zwei Vorgänge aus Reval von Freitag vor Galli confessoris 1469. Zu diesem Datum finden sich zwei Urteile im Cod. ord. lub., s. Nr. 41 bei Michelsen, Der ehemalige Oberhof (wie Anm. 93), S. 127 f. = Nr. 511 bei Paul Ewald Hasse, Urkundenbuch der Stadt Lübeck. T. 11: 1466 – 1470. Lübeck 1905, S. 562 f. = Nr. 695 bei Phi­ lipp Schwartz/August von Bulmerincq (Bearb.), Liv- Est- Kurländisches Urkundenbuch. Abt. 1, Bd. 12. Riga/Moskau 1910, S. 387 f. (Auszug) = Nr. 100a bei Ebel, Lübecker Rats­ urteile, Bd. 4 (wie Anm. 80), S. 80 f. (nach Revaler Überlieferung), sowie Nr. 42 bei Michelsen, Der ehemalige Oberhof (wie Anm. 93), S. 129 = Nr. 101 bei Ebel, Lübecker Ratsurteile, Bd. 4 (wie Anm. 80), S. 83 f. = Nr. 512 bei Hasse, Urkundenbuch der Stadt Lübeck, S. 563 f. Auch im Hinblick auf das bei Simon, Appellationen von Reval nach Lübeck (wie Anm. 25), S. 60, Anm. 50, genannte Urteil zu „Gerde Kalcar“ findet sich im Cod. ord. lub. eine Überlieferung, s. Nr. 40 bei Michelsen, Der ehemalige Oberhof (wie Anm. 93), S. 126 f. = Nr. 97 bei Ebel, Lübecker Ratsurteile, Bd. 4 (wie Anm. 80), S. 75 = Nr. 500 bei Hasse, Urkundenbuch der Stadt Lübeck, S. 550 = Nr. 500 bei Schwartz/von Bulmerincq, Liv- Est- Kurländisches Urkundenbuch, S. 550 (Auszug). 108 Pitz, Schrift und Aktenwesen (wie Anm. 93), S. 360; auch Amelsberg, Die „samende“ im lübischen Recht (wie Anm. 46), S. 10, Anm. 36, der allerdings irrig von einem Verlust der Handschrift ausging. Kämpf, Das Revaler Ratsurteilsbuch (wie Anm. 30), S. 55, erwähnt, dass die Lübecker Niederschriften von Oberhofurteilen „auf einer besonderen Order des Rats beruhten“, wobei aber unklar bleibt, ob er damit auch den Cod. ord. lub. meinte.

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zu befördern. Die chronologische Eintragung der Abschriften, ohne thematische Randbemerkungen 109 oder Sachregister, machte ein Auffinden einzelner Sprüche zu einer bestimmten Rechtsproblematik unmöglich. Das Problem der Synthese in sich konsistenter Rechtsgewohnheiten in der germanistischen Forschung zu Lübeck und Ingelheim soll hier an zwei Beispielsgruppen illustriert werden. Die nachfolgenden ersten beiden Quellenbeispiele sind dem Bereich des Erbrechts entnommen. Ausgangspunkt der Weisung des Ingelheimer Oberhofes vom 26. April 1403110 ist eine Privatanfrage von Cryeg von Haseloch. Seine Mutter und sein Bruder seien verstorben, wobei ein aus der Ehe des Bruders hervorgegangenes Kind einen Anspruch auf das Erbe der Mutter Cryegs, des Kindes Großmutter, erhebe. Er begehre ein Urteil bezüglich des Rechts des Enkelkindes auf seiner Großmutter Gut. Der Ingelheimer Oberhof urteilte hierauf: Wenn das Enkelkind zum Erben eingesetzt worden war, wie es Recht sei, so habe das Kind Anspruch auf das Gut. Sei dies nicht geschehen, so habe es kein Recht dazu: were daz enckeln geerbit wurden alse recht were, so hette iz recht darczu. ist iz dez nit, so had iz kein recht darczu. Gunter Gudian und Hartwig Bley analysierten unter anderem diese Weisung und folgerten, dass sich in Ingelheim das Erbrecht an der Linealgradualordnung orientiert habe, also dass zuerst die Abkömmlinge des Erblassers, dann die Eltern und deren Kinder usw. geerbt hätten. Hierbei habe ein vorangehender Erbe alle nach ihm kommenden ausgeschlossen, ohne dass es ein Eintrittsrecht der Abkömmlinge vorverstorbener Erben gegeben hätte.111 Da etwa ein Drittel aller überlieferten Ingelheimer Weisungen erbrechtliche Fragestellungen zum Inhalt haben,112 konnten Gunter Gudian und Hartwig Bley vergleichsweise viele Fälle untersuchen. Außerdem half bei der Analyse, dass die Weisung des Oberhofs dem Anschein nach einen grundsatzartigen Charakter aufweist. Allerdings waren die Weisungen des Oberhofs keineswegs so widerspruchsfrei, wie Gudian dies einmal behauptet und als Axiom seiner Untersuchung zugrunde gelegt hatte. Ebenfalls aus dem Bereich des Erbrechts von Enkelkindern stammt eine Serie von insgesamt vier Privatanfragen aus der gleichen Zeit (den Jahren 1400 bis 1404) an den Oberhof, die alle denselben Sachverhalt zum Gegenstand haben, auf die aber

109 Die vorhandenen Randvermerke sind spätere Zutaten, wie die unterschiedliche Schrift zeigt. 110 Nr. 592 bei Erler, Die älteren Urteile, Bd. 2 (wie Anm. 17), S. 28. 111 Hartwig Bley, Das Erbrecht nach den Urteilen des Ingelheimer und Neustadter Oberhofs. Frankfurt a. M. 1977, S. 45, 58 – 60; Gudian, Ingelheimer Recht im 15. Jahrhundert (wie Anm. 17), S. 75, 165 f.; so auch Anna Saalwächter, Das Recht des Ingelheimer Oberhofs. Frankfurt a. M. 1934, S. 60 – 62. 112 Erler, Der Ingelheimer Oberhof (wie Anm. 4), S. 190; Gudian, Ingelheimer Recht im 15. Jahrhundert (wie Anm. 17), S. 34.

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gleichwohl unterschiedliche Weisungen ergingen.113 Danach gab es zwei verwaiste Halbgeschwister mit gemeinsamem Vater, die Einkinder 114 waren. Der Großvater eines der beiden Kinder fragte beim Oberhof, weil er der Ansicht war, dass der Kinder Gut aufzuteilen sei und er eines der Kinder zu sich nehmen könne, wohingegen der Onkel beide Kinder aufnehmen und das Gut ungeteilt lassen wollte. Einmal betrachteten die Schöffen nun den Onkel, ein anderes Mal den Großvater als Nächsten der Kinder und urteilten schließlich auch, dass der Großvater mit den Kindern nichts zu tun habe, aber der Verwalter ihres Gutes sei.115 Diese Weisungen belegen letztlich eindrucksvoll, dass die vermeintliche Artikulierung von Grundsätzen in den Weisungen nicht in die Irre führen darf. Es ist fraglich, ob die Schöffen des Oberhofs tatsächlich einer klaren Vorstellung von der Linealgradualordnung folgten. Wilhelm Ebel beschrieb in seinen Forschungen zum lübischen Recht außerhalb der Erbschaft in ungeteilter Erbengemeinschaft 116 ebenfalls ein Erbrecht nach Klassen; zunächst erbten die ehelichen Kinder, dann die Enkel, dann die Geschwister usw.117 und Erben einer Klasse schlossen alle anderen aus.118 Ebel bezeichnete dieses Erbschaftsrecht als eine Ordnung nach konzentrischen Kreisen.119 Ein Eintrittsrecht der Enkel neben noch lebenden Erben einer höheren Klasse habe sich in Lübeck erst im Laufe des 16. Jahrhunderts durchgesetzt.120 Ebel führte hierzu unter anderem einen Eintrag aus dem Niederstadtbuch an: Der Lübecker Rat entschied am 25. November 1463121 einen Streit zwischen Hans Wittenborg als Vertreter der Kinder einer Schwester von Telseke Nigebur (Nyebur) und deren Ehemann Gottschalk Nigebur (vermutlich in Vertretung sei-

113 Nr. 300 bei Erler, Die älteren Urteile, Bd. 1 (wie Anm. 17), S. 157; Nr. 307 (I), 528, 698 bei Gudian, Ingelheimer Recht im 15. Jahrhundert (wie Anm. 17), S. 385, 387, 394 f. 114 Erbrechtliche Gleichstellung von Stiefgeschwistern kraft Vereinbarung, s. Martin Lipp, Art. Einkindschaft, in: HRG, Bd. 1. 2. Aufl. Berlin 2008, Sp. 1296 – 1298 (hier Sp. 1296). 115 S. hierzu Krey, Die Praxis der spätmittelalterlichen Laiengerichtsbarkeit (wie Anm. 3), S. 564 – 566. 116 S. hierzu Amelsberg, Die „samende“ im lübischen Recht (wie Anm. 46). 117 Ebel, Bürgerliches Rechtsleben zur Hansezeit (wie Anm. 13), S. 19 f.; s. auch Carl Wilhelm Pauli, Abhandlungen aus dem Lübischen Rechte, T. 3: Das Erbrecht der Blutsfreunde und die Testamente nach Lübischem Rechte. Lübeck 1841, S. 46 – 74. 118 Ebel, Bürgerliches Rechtsleben zur Hansezeit (wie Anm. 13), S. 20. 119 Ebd. 120 Ebd., S. 21 – 24; Pauli, Abhandlungen aus dem Lübischen Rechte (wie Anm. 117), S. 53 f. 121 AHL, Niederstadtbuch 1451 – 1465 (Urschrift), fol. 602v = Nr. 81 bei Ebel, Lübecker Rats­ urteile, Bd. 1 (wie Anm. 80), S. 55 (ohne genaue Quellenangabe nach „NStB 1463 Katharine virginis“).

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ner Ehefrau 122) um das Erbe von Geborge Schrivers, der Witwe Hans Schrivers, deren eheliche Tochter wiederum Telseke war. Nachdem ein Dritter unter Eid beschworen hatte, dass Telseke die erstgeborene Tochter der Eheleute Schrivers war, entschied der Rat, dass Telseke vorrangige Erbin sei. Bei einer ersten Lektüre liegt der Schluss nahe, dass auch der Lübecker Rat ein Erbrecht der Enkelkinder von Geborge Schrivers ablehnte, weil Erben einer höheren Klasse noch lebten. Da Telsekes Schwester, wenngleich im Urteil nicht explizit artikuliert, wohl schon verstorben war, ging für den Lübecker Rat offenbar die noch lebende Tochter der Erblasserin den Kindern eines vorverstorbenen Geschwisterteils vor. Damit deckt sich der Befund dieses Urteils zunächst mit der oben geschilderten Analyse Wilhelm Ebels für die Erbfolge außerhalb der in Gütergemeinschaft lebender Erben. Allerdings ist auffällig, dass der Lübecker Rat zur Frage, ob Telseke oder aber ihre Schwester zuerst geboren worden war, Beweis durch einen vereidigten Zeugen erheben ließ, obgleich nach dem oben beschriebenen Grundsatz ohnehin Telseke vor den Abkömmlingen ihrer Schwester erbberechtigt gewesen wäre. Sinnvoll war diese Beweiserhebung eigentlich nur, wenn die Kinder der Schwester dann erbberechtigt gewesen wären, wenn ihre Mutter zuerst geboren worden wäre. Träfe dies zu, hieße das, dass ihnen also dann ein Eintrittsrecht in die Erbrechtsposition ihres Elternteils zugestanden hätte. Ebel ging auf diesen Aspekt nicht ein, gleichsam zeigt dieser Punkt, auf welch tönernem Fundament die Beschreibung fester Grundsätze hier steht. Ein Vergleich beider Urteile auf Basis der Rechtsprechungsauswertungen Gudians und Ebels offenbart zunächst große Übereinstimmungen: Beiden Urteilen scheint ein ähnlicher Sachverhalt zugrunde zu liegen. In beiden Fällen war von wenigstens zwei Abkömmlingen nur noch einer am Leben beziehungsweise machte nur noch einer ein Erbrecht geltend. Hierbei war die Frage zu klären, ob Abkömmlingen eines vorverstorbenen Kindes der Erblasserin ein Erbrecht zustand. Ein gemeinsames Prinzip scheint beiden Urteilen in den Lesarten von Gudian und Ebel insofern innezuwohnen, als dass sie ein Erbrecht abbilden, das sich vorrangig nach den Blutverwandtschaftsgraden orientiert. In beiden Urteilen wurde nach Ebel und Gudian entschieden, dass einzig dem überlebenden Abkömmling der Erblasserin das Erbrecht in Gänze zustand. Beiden Urteilen scheint sogar ein gemeinsames Rechtsprinzip zugrunde zu liegen, das nicht bloß Ausdruck ähnlicher Interessenlagen ist. Eine solche gemeinsame Lage der Interessen dürfte gerade im Erbrecht auszuschließen sein, da es mehrere sinnvolle Lösungen der Problematik gab. So

122 S. hierzu Gerhard Henze, Das Handeln für andere vor Gericht im lübischen Recht vornehmlich des 15./16. Jahrhunderts. Göttingen 1959, S. 54, wonach die Trennlinie zwischen einer Vertretung der Ehefrau und Klage aus eigenem Recht meist kaum klar zu ziehen sei.

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kannte etwa das römische Recht ein Eintrittsrecht der Enkelkinder des Erblassers.123 Im Spätmittelalter setzte sich es sich aber nur teilweise durch.124 Derartige Vergleiche auf Grundlage der Rechtsprechung verschiedener Gerichte sind ein häufig genutzter Zugang in der Rechtsgeschichte, der aber, wie die beiden Quellenbeispiele belegen, große Probleme mit sich bringt. Zunächst geht er methodisch von der Annahme aus, die Rechtsprechung der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gerichte sei ähnlich wie die moderner Gerichte zu analysieren;125 die einzelnen Urteile könnten mithilfe der Auslegung zu einem Gesamtsystem zusammengefügt werden. Dieses Axiom wird aber bei näherer Betrachtung erschüttert, wie die erwähnte Ingelheimer Anfrageserie eindrucksvoll zeigt. Das Lübecker Urteil wiederum demonstriert, dass die Analyse zudem in den Details Schwierigkeiten bereitet, die auch mit der knappen Urteilsform, die meist keine Begründung enthält, zusammenhängen. An einem ausnahmslosen Ausschluss eines Eintrittsrechts von Enkeln, wie es Ebel sah, gibt es durchaus Zweifel. Vielmehr könnte das Urteil gerade so gelesen werden, dass der Lübecker Rat hier indirekt ein Erbrecht der Enkelkinder an Stelle ihrer Mutter anerkannte, wenn diese nicht nach ihrer Schwester geboren worden wäre. Offen bleibt zudem, ob es sich in Lübeck schon um Einflüsse des römischrechtlichen Repräsentationsprinzips handelt, das wahrscheinlich später auch in Ingelheim 126 rezipiert worden sein dürfte. Damit ist aber im Detail die deutschrechtliche Herkunft der dem Urteil des Lübecker Rates zugrunde liegenden Grundsätze unsicher. Im Ergebnis dürfte diese Art der Rechtsprechungsanalyse das Bild mehr verzerren als den Blick öffnen. Ein zweiter Beispielkomplex betrifft den Rechtssatz (das sogenannte Rechtssprichwort) „Kauf bricht Miete (nicht)“. Im 18. Jahrhundert wurde „Kauf bricht Miete nicht“ als gemeinrechtlich angesehen, da Mietverträge als römischrechtlich aufgefasst wurden.127 Im 19. Jahrhundert thematisierte dann die juristische Germanistik den Rechtssatz vielfach und rückte ihn ins Zentrum, wobei „Kauf 123 Christoph Becker, Art. Eintrittsrecht, in: HRG, Bd. 1. 2. Aufl. Berlin 2008, Sp. 1306; Bernhard Jüttner, Zur Geschichte des Grundsatzes „Kauf bricht Miete nicht“. Münster 1960, S. 20 – 32. 124 Dietmar Willoweit, Gesetzgebung und Recht im Übergang vom Spätmittelalter zum frühneuzeitlichen Obrigkeitsstaat, in: Okko Behrends (Hrsg.), Zum römischen und neuzeitlichen Gesetzesbegriff. Göttingen 1987 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologisch-­Historische Klasse, Folge 3, Bd. 157), S. 123 – 177 (hier S. 130), der allerdings auch auf ein Forschungsdesiderat hier aufmerksam machte. 125 Ähnlich schon Krey, Fallbeispiele (wie Anm. 2), S. 127 f. 126 S. hierzu Saalwächter, Das Recht des Ingelheimer Oberhofs (wie Anm. 111), S. 62. 127 Frank Ludwig Schäfer, Juristische Germanistik. Eine Geschichte der Wissenschaft vom einheimischen Privatrecht. Frankfurt a. M. 2008 (Juristische Abhandlungen, Bd. 51), S. 272 – 274.

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bricht Miete“ nun als römischrechtlich verstanden wurde.128 Die germanistische Literatur konnte hierbei schon früh ein Urteil des Lübecker Rates diskutieren, da Carl Wilhelm Pauli 1878 einen Eintrag aus dem Lübecker Niederstadtbuch vom 25. Oktober 1480 veröffentlicht hatte, den Ebel später noch zweimal mit unterschiedlichen Daten genauer, wenngleich nur in Auszügen abdrucken ließ.129 An den Lübecker Rat war ein Rechtsstreit zwischen Dietrich Huep (Hupe)130 und Peter Fleming gelangt, der eine Wohnung in einem Haus bewohnte, das Dietrich von Godeke Pleskow gekauft hatte. Peter wiederum wollte trotz Kündigung durch Dietrich am Mietvertrag festhalten und wandte ein, dass er die Wohnung nicht von ihm, sondern von Godeke gemietet habe, wobei der eine dem anderen ein halbes Jahr zuvor kündigen sollte. Der Lübecker Rat entschied, dass Kauf die Miete breche, da Dietrich zu rechter Zeit gekündigt habe: Nadem(e) Her Diderick zin hues, mit der ersc(reven) woni(n)ge, van Godeken gekoft heft, un(de) he Peter to rechter tijd heft toseggen laten, so breckt koep hure unde Peter schal em(e) de woni(n)ge rümen.131 Dieses Urteil exemplifiziert abermals die Suggestivkraft der Quellen. Pauli folgerte aus dem Urteil, dass in Lübeck der Grundsatz „Kauf bricht Miete“ gegolten habe.132 Das Urteil scheint auf den ersten Blick den Grundsatz koep [breckt] 1 28 Ebd., S. 559 f. 129 AHL, Niederstadtbuch (künftig: NStB) 1478 – 1481 (Urschrift), fol. 203r–v = Nr. 42 bei Carl Wilhelm Pauli, Lübeckische Zustände im Mittelalter. Recht und Kultur. Nebst einem Urkundenbuch, Bd.  III. Leipzig 1878, S. 128 (mit Lesefehlern, nach NStB 1480 Symonis et Jude Apostolorum) = Nr. 312 (311) bei Hugo Loersch/Richard Schröder (Hrsg.), Urkunden zur Geschichte des deutschen Privatrechtes. Für den Gebrauch bei Vorlesungen und Übungen. 3. Aufl. Bonn 1912, S. 227 (nach Paulis fehlerhaftem Abdruck) = Nr. 232 bei Ebel, Lübecker Ratsurteile, Bd. 1 (wie Anm. 80), S. 154 (z. T. regestiert und ohne Schluss, nach NStB 1480 Katharine virgine) = Nr. 172 bei Ebel, Lübecker Ratsurteile, Bd. 4 (wie Anm. 80), S. 172 (z. T. regestiert, nach NStB 1480 Symonis et Jude); der Abdruck folgt der Bruns’schen Abschrift, mitsamt Hinweis auf den Abdruck Paulis, im AHL, Handschriften, Nr. 953a,2, Bl. 123r–v; Ebel wies nur allgemein im Vorwort, S. V, darauf hin, dass er auf die Bruns’schen Abschriften z. T. zurückgriff, nicht aber in dem Eintrag 172 selbst. Im NStB ließ sich unter dem Datum Katharine virgine 1480 (fol. 209v–210v) kein solcher Eintrag finden, auch nicht für die Jahre 1478 (fol. 43v) sowie 1479 (fol. 123v–125r); die Einträge von 1481 reichen nicht bis zu diesem Datum. S. hierzu detailliert Alexander Krey/Philipp Höhn, Schwächewahrnehmungen und Stadtbucheditionen. Der Zugang zu Recht und Wirtschaft in drei Editionsansätzen des 20. Jahrhunderts, in: HGbll. 135 (2017), S. 19 – 73 (hier S. 53 – 55). 130 Zu ihm s. Emil Ferdinand Fehling, Lübeckische Ratslinie von den Anfängen der Stadt bis auf die Gegenwart. Lübeck 1925 (Veröffentlichungen zur Geschichte der Hansestadt Lübeck, Bd. 7), ND Lübeck 1978, Nr. 564, S. 81 f. 131 AHL, Niederstadtbuch 1478 – 1481 (Urschrift), fol. 203v. 132 Pauli, Lübeckische Zustände im Mittelalter (wie Anm. 129), S. 21 f.; ebenso Jüttner, Zur Geschichte des Grundsatzes (wie Anm. 123), S. 34.

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hure klar zu benennen.133 Demgegenüber meinten Richard Schröder und Hugo Loersch, dass in Lübeck „Kauf bricht nicht Miete“ bestanden habe, da die Erwähnung der Kündigung bedeute, dass der Käufer des Hauses an das durch den Verkäufer abgeschlossene Mietverhältnis gebunden gewesen sei.134 Dem folgte später unter anderen Wilhelm Ebel mit der Analyse weiterer Urteile, die alle im 16. Jahrhundert ergingen.135 Ebels Argumentation besitzt auf den ersten Blick durchaus Überzeugungskraft. Denn hätte in Lübeck der Grundsatz „Kauf bricht Miete“ gegolten, so hätte der Käufer vermutlich keine Kündigung ausgesprochen, sondern gleich die Räumung verlangt. Indem er aber kündigte, obwohl er nicht der Vertragspartner des Mieters war, wird deutlich, dass Dietrich seiner Rechtsauffassung nach in die Rechtsposition des Verkäufers gefolgt war und deshalb das Urteil zum Teil wohl missverstanden wurde.136 Ebels Schlussfolgerung, dass auch in Lübeck der Grundsatz „Kauf bricht Miete nicht“ gegolten habe, der Ausdruck breckt koep hure also nicht verallgemeinerbar, sondern nur in einem ganz bestimmten Kontext gebraucht wurde,137 ist deshalb im Grundsatz nicht falsch. Das Problem liegt hier an anderer Stelle.

133 Weitere derart suggestive Einträge finden sich aus dem 16. Jahrhundert, s. beispielsweise Urteil vom 12. September 1519: Nadem die anthwordesman de wanynge vorkofft und vor dem Ersamen Rade vorlaten, so brickt de kop de hure [Nr. 671 bei Ebel, Lübecker Rats­ urteile, Bd. 2 (wie Anm. 80), S. 351 f.]; Urteil vom 14. Dezember 1519: Nadem dat hus thwemalen vorkofft und umb geschreven vormoge des oversten bokes, und sodans bynnen jar und dage nicht is bygespraken, so brekt kop hur [Nr. 678 bei Ebel, Lübecker Ratsurteile, Bd. 2 (wie Anm. 80), S. 355]; Urteil vom 23. Juli 1522: Dat de kop hure breckt, ydt were dan de anclegersche konde bowysen, dat de antwordesman mit or oder oren manne vorwordt gehat, dar scholde ydt furder umme gan wo recht ys [Nr. 956 bei Ebel, Lübecker Ratsurteile, Bd. 2 (wie Anm. 80), S. 523]; Urteil vom 21. März 1528: Koep brickt hure [Nr. 90 bei Ebel, Lübecker Ratsurteile, Bd. 3 (wie Anm. 80), S. 61]; Urteil vom 5. März 1540 (im Vortrag): nha dem kop alle tiedt hur breke [Nr. 436 bei Ebel, Lübecker Ratsurteile, Bd. 3 (wie Anm. 80), S. 307]; Urteil vom 19. April 1545 (im Vortrag): und koep hure breckt na lubeschem rechte [Nr. 615 bei Ebel, Lübecker Ratsurteile, Bd. 3 (wie Anm. 80), S. 458]. 134 Loersch/Schröder (Hrsg.), Urkunden (wie Anm. 129), S. 227, Anm. 4. 135 Ebel, Bürgerliches Rechtsleben zur Hansezeit (wie Anm. 13), S. 144 – 149. Eine Auslegung Lübecker Ratsurteile zu dem Themenkomplex findet sich auch bei Hans Hattenhauer, Bricht Miete Kauf?, in: Joachim Jickeli/Peter Kreutz/Dieter Reuter (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Jürgen Sonnenschein. Berlin 2003, S. 163 – 166. 136 Ebel, Bürgerliches Rechtsleben zur Hansezeit (wie Anm. 13), S. 147 f. 137 Ebd., S. 147 – 149; ihm folgten beispielsweise Hattenhauer, Bricht Miete Kauf (wie Anm. 135), S. 163 – 166; Wilhelm Weizsäcker, Rechtssprichwörter als Ausdrucksform des Rechts, in: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft einschließlich der ethnologischen Rechtsforschung 58 (1955), S. 9 – 40 (hier S. 39).

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Auch Gunter Gudian rekurrierte auf „Kauf bricht Miete nicht“.138 Dem Ingelheimer Oberhof war eine Privatanfrage von Klaus von Haseloch am 28. Juni 1407139 vorgelegt worden. Jemand habe seinen Acker auf sieben Jahre vergeben, sei während dieser Zeit gestorben und seine Erben hätten nun den Acker zu dem Recht, zu dem sie ihn geerbt hatten, verkauft. Der Käufer wolle nun den Acker gleich nutzen. Der Ingelheimer Oberhof allerdings antwortete, dass er während dieser sieben Jahre nur die Gülte bekommen könne, nicht aber den Acker. Nach dieser Weisung trat der Käufer in die Rechtsstellung des Verkäufers ein und musste ein Gebrauchsüberlassungsverhältnis gegen sich wirken lassen. Ausgehend von diesem abstrakten Urteil könnte in Ingelheim der Grundsatz „Kauf bricht Miete nicht“ gegolten haben. Jedoch ist bemerkenswert, dass im Urteil eigens erwähnt wird, dass der Acker czu allem deme rechten, alse iz uff sie [die Erben] kommen waz verkauft worden war. Möglicherweise trat der Käufer also nur deshalb in das Pachtverhältnis ein, weil die Erben den Acker samt den an ihm haftenden Rechten Dritter verkauft hatten. Gudian nutzte nur diesen einen Fall zur Stützung seiner These vom Eintritt des Käufers in das bestehende Pachtverhältnis. Es muss aber letztlich zweifelhaft bleiben, ob hier ein fester Grundsatz des Ingelheimer Oberhofs sichtbar wird. Der Vergleich beider Fälle zeigt abermals, dass die Wissenschaft mit juristischer Methodik die Urteile auslegte und einen klaren Rechtssatz destillierte, jedoch nur mit größeren Unsicherheiten. Beim Ingelheimer Beispiel wird die Schwierigkeit der Abstraktion offenkundig. Gunter Gudian nahm diese ohne Weiteres aufgrund eben jenes einen Urteils vor, was hochproblematisch ist. Dass in diesem Grundsatz zum Teil ein originär deutschrechtliches Prinzip gesehen wurde,140 half hier möglicherweise. An dieser Stelle offenbart sich eine grundlegende Problematik der deutschrechtlichen Destillation fester Rechtsprinzipien, denn oftmals ist die Quellenbasis zu schmal, um sichere Aussagen über Grundprinzipien des Rechts treffen zu können.141 Neben der Destillation ist aber vor allem auch die Bezeich 138 S. Gudian, Ingelheimer Recht im 15. Jahrhundert (wie Anm. 17), S. 153, nur im Register allerdings als „Kauf bricht nicht Miete“ (S. 442). 139 Eintrag 1133 bei Erler, Die älteren Urteile, Bd. 2 (wie Anm. 17), S. 116. 140 Klaus Luig, Art. Kauf bricht nicht Miete, in: HRG, Bd. 2. 2. Aufl. Berlin 2012, Sp. 1679 f. (hier Sp. 1679); Nr. 138 f. bei Julius Hubert Hillebrand, Deutsche Rechtssprichwörter. Zürich 1858, S. 104 – 106; s. ferner Albrecht Foth, Gelehrtes römisch-­kanonisches Recht in deutschen Rechtssprichwörtern. Tübingen 1971 (Juristische Studien, Bd. 24), S. 79 f. 141 Völkl, Das Lösungsrecht (wie Anm. 85), S. 24 f., sieht dieses Problem beispielsweise bei Gudians Analyse zum Hand-­wahre-­Hand-­Grundsatz im Ingelheimer Recht, die letztlich nur auf zwei Weisungen fußte, sowie Bernd Kannowski, „is sint nicht vil wort die eynen man schuldig machen“. Der Wille als Verpflichtungsgrund nach land- und stadtrechtlichen Quellen im späten Mittelalter, in: Albrecht Cordes/Joachim Rückert/Reiner Schulze (Hrsg.), Stadt – Gemeinde – Genossenschaft. Festschrift für Gerhard Dilcher zum 70. Geburts-

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nung, das „Label“, mit all ihrer Suggestivkraft problematisch. Dies zeigt besonders das Lübecker Beispiel. Aus dem Urteil ließ sich sowohl „Kauf bricht Miete (bei rechtzeitiger Kündigung)“ oder „Kauf bricht Miete nicht (außer bei rechtzeitiger Kündigung)“ ableiten. Ebel nahm ersteres an, wobei hier möglicherweise wieder half, dass dies der deutschrechtliche Normalfall zu sein schien.

3. Schluss In diesem Beitrag standen Probleme der Rechtsvereinheitlichung durch Oberhöfe in verschränkten Gerichtslandschaften im Vordergrund. Die rechtshistorische Forschung verstellte allzu oft mit Konstruktion einheitlicher „Rechtskreise“ den Blick. Gerade die Synthesen Lübischen Rechts durch Wilhelm Ebel und Ingelheimer Rechts durch Gunter Gudian waren hier besonders wirkmächtig. Die damit verbundene und in diesem Beitrag exemplarisch belegte Problematik könnte in einer genaueren Differenzierung münden. Die Forschung sollte etwa genauer zwischen dem stadt-­lübeckischen und übergreifenden lübischen Recht trennen. Da die Oberhöfe in Lübeck und Ingelheim im Hinblick auf die Rechtsvereinheitlichung weit weniger leistungsfähig waren, als vielfach axiomatisch angenommen, kann nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden, jedes städtische Urteil sei zugleich Teil einer einheitlichen lübischen oder Ingelheimer Rechtsordnung geworden. Die Problematik der Synthese von Rechtsgrundsätzen aus den Urteilen spielt hier eine große Rolle. Oft dürfte es keine einheitlichen konturierten Gewohnheiten, nicht einmal hinter den Mauern Lübecks oder auch Ingelheims, gegeben haben. Keineswegs soll behauptet werden, dass es an mittelalterlichen Gerichten nicht auch konturierte Rechtsgewohnheiten gegeben haben kann. Dies dürfte aber vor allem Teile der prozessrechtlichen Gewohnheiten, deutlich seltener die materiellen betroffen haben.142 Die Abkehr von überkommenen germanistischen Vorstellungen könnte den Blick auf neue Fragen zur Rechtsprechung vormoderner Gerichte eröffnen.

tag. Berlin 2003, S. 45 – 66 (hier S. 50 f.), für Irrtum und Anfechtung in den Lübecker Ratsurteilen. 142 S. die Hinweise bei Krey, Die Praxis der spätmittelalterlichen Laiengerichtsbarkeit (wie Anm. 3), S. 505 – 597.

Hendrik Baumbach

Was war ein Landgerichtssprengel? Zum Verhältnis von räumlicher Zuständigkeit und Gerichtsnutzung an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit

Ob ein Konflikt von einem Gericht behandelt wurde oder nicht, diese Entscheidung hing im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit vom Handeln zweier Akteure ab: erstens den Parteien, bestimmt von Einflussgrößen wie der Aussicht auf ein positives Prozessergebnis, einem erträglichen Kostenaufwand, räumlicher Distanz, Zugang zur Gerichtsbarkeit und eventuell vorhandenen persönlichen Kontakten. Diese Entscheidung speiste sich zweitens auch aus der rechtlichen Fähigkeit und Bereitschaft des jeweiligen Gerichts, den Streitfall anzunehmen. Den rechtlichen Rahmen dafür bildeten Zuständigkeitsfestlegungen sachlicher, ständischer, auf Personenbindung bezogener oder räumlicher Art. Letztere orientieren sich am konzeptuellen Begriff der „Gerichtslandschaft“, weil dieser einen räumlichen Zugang zum Verständnis von verschränkten Gerichtsbarkeiten erlaubt, wenn nicht gar eine räumliche Dimension von Gerichtsbarkeit ganz generell impliziert. Dieser Terminus ist eingeführt worden, um eine „Vielfalt“, eine „Gleichzeitigkeit von Einheit und Verschiedenheit“, um „Polyzentrismus“ hervorzuheben, ohne die liebgewonnenen Ordnungskonzepte aufzugeben, wohl aber um sie zu hinterfragen.1 Im Zentrum dieses Beitrages steht die räumliche gerichtliche Zuständigkeit, die am Beispiel der Sprengel kaiserlicher Landgerichte 2 im ausgehenden Mittel 1 Vgl. Anette Baumann/Anja Amend/Stephan Wendehorst, Einleitung, in: Anja Amend/ Anette Baumann/Stephan Wendehorst/Siegrid Westphal (Hrsg.), Gerichtslandschaft Altes Reich. Höchste Gerichtsbarkeit und territoriale Rechtsprechung. Köln/Weimar/Wien 2007 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, künftig: QFHG, Bd. 52), S. 1 – 5 (die beiden ersten Zitate S. 2); Anja Amend/Anette Baumann/Stephan Wendehorst/Steffen Wunderlich, Recht und Gericht im frühneuzeitlichen Frankfurt zwischen der Vielfalt der Vormoderne und der Einheit der Moderne. Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Die Reichsstadt Frankfurt als Rechts- und Gerichtslandschaft im Römisch-­ Deutschen Reich. München 2008 (bibliothek altes Reich, künftig: baR, Bd. 3), S. 9 – 13 (drittes Zitat S. 9). Auf die Gerichtsbarkeiten im Rhein-­Main-­Gebiet hat dieses Konzept jüngst Alexander Krey, Die Praxis der spätmittelalterlichen Laiengerichtsbarkeit. Gerichtsund Rechtslandschaften des Rhein-­Main-­Gebietes im 15. Jahrhundert im Vergleich. Köln/ Weimar/Wien 2015 (Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 30), angewendet. 2 Grundlegend noch Hans E. Feine, Die kaiserlichen Landgerichte in Schwaben im Spätmittelalter, in: Friedrich Merzbacher (Hrsg.), Territorium und Gericht. Studien zur süddeutschen Rechtsgeschichte. Aalen 1978, S. 15 – 102, zugleich in: Zeitschrift der Savigny-­ Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung (künftig: ZRG GA) 66 (1948),

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alter und im frühen 16. Jahrhundert untersucht werden soll. Dass es im Mittelalter offenbar keine „klar geordneten Zuständigkeiten“ gegeben habe, darauf hat die jüngere rechtshistorische Forschung hingewiesen und daran ihr Konzept von Rechts- und Gerichtslandschaft geschärft.3 Wie und durch wen sind Landgerichtssprengel entstanden? Welchen Grund hatten Herrschaftsträger, ihre Gerichtsbarkeit räumlich zu umgrenzen oder vice versa bewusst eine unumgrenzte Zuständigkeit zu postulieren? Fungierten die Sprengel tatsächlich als materialisierte und von den Zeitgenossen anerkannte Zuständigkeitsräume der jeweiligen Gerichte? Diesen Fragen sei vornehmlich anhand von drei überregional tätigen Landgerichten, nämlich dem Rottweiler Hofgericht,4 dem kaiserlichen Landgericht des Burggraf-

S. 148 – 235; Wolfgang Leiser, Süddeutsche Land- und Kampfgerichte des Spätmittelalters, in: Württembergisch Franken. Jahrbuch des Historischen Vereins für Württembergisch Franken 70 (1986), S. 5 – 17; Hans-­Georg Hofacker, Kaiserliche Landgerichte in Schwaben, in: Historisches Lexikon Bayerns, http://www.historisches-­lexikon-­bayerns.de/Lexikon/Kaiserliche_Landgerichte_in_Schwaben (abgerufen am 16. Dezember 2016); Friedrich Merzbacher/Heiner Lück, Art. Landgericht, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 3. 2. Aufl. Berlin 2016, Sp. 518 – 527, Abs. III; jüngst Hendrik Baumbach, Königliche Gerichtsbarkeit und Landfriedenssorge im deutschen Spätmittelalter. Eine Geschichte der Verfahren und Delegationsformen zur Konfliktbehandlung. Köln/Weimar/ Wien 2017 (QFHG, Bd. 68), S. 113 – 123, 229 – 238, 341 – 348. 3 Amend/Baumann/Wendehorst/Wunderlich, Recht und Gericht (wie Anm. 1), S. 10. 4 Zum Hofgericht Rottweil vgl. die älteren Studien von Josef Kohler, Das Verfahren des Hofgerichts Rottweil. Berlin 1904 (Urkundliche Beiträge zur Geschichte des bürgerlichen Rechtsganges, Bd. 1); Max Speidel, Das Hofgericht zu Rottweil. Ein Beitrag zu seiner Geschichte unter der Herrschaft der Alten Hofgerichtsordnung. Rottweil 1914; Friedrich Thudichum, Geschichte der Reichsstadt Rottweil und des Kaiserlichen Hofgerichts daselbst, in: Tübinger Studien für schwäbische und deutsche Rechtsgeschichte 2, H. 4 (1911), S. 371 – 465; Hermann Etzold, Das kaiserliche Hofgericht zu Rottweil im 14. und 15. Jahrhundert. Leipzig 1924; Robert Scheyhing, Das kaiserliche Landgericht auf dem Hofe zu Rottweil, in: Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte 20 (1961), S. 83 – 95; Georg Grube, Die Verfassung des Rottweiler Hofgerichts. Stuttgart 1969 (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-­Württemberg, Reihe B: Forschungen, Bd. 55); Adolf Laufs, Die Reichsstadt Rottweil und das Kaiserliche Hofgericht, in: Hans Peter-­Becht/Bernhard Kirchgässner (Hrsg.), Residenzen des Rechts. 29. Arbeitstagung in Speyer 1990. Sigmaringen 1993 (Stadt in der Geschichte. Veröffentlichungen des Südwestdeutschen Arbeitskreises für Stadtgeschichtsforschung, Bd. 19), S. 19 – 35; Helmut Maurer, Rottweil und die Herzöge von Schwaben. Zu den hochmittelalterlichen Grundlagen des Rottweiler Hofgerichts, in: ZRG GA 85 (1968), S. 59 – 77. Mit der neuen Rottweiler Hofgerichtsordnung des Jahres 1572 hat sich Ulrike Schillinger in ihrer jüngst erschienenen Dissertation ausführlich befasst, vgl. Ulrike Schillinger, Die Neuordnung des Prozesses am Hofgericht Rottweil 1572. Entstehungsgeschichte und Inhalt der Neuen Hofgerichtsordnung. Köln/Weimar/Wien 2016 (QFHG, Bd. 67), zum Forschungsstand insbes. S. 16 f.

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tums Nürnberg 5 und dem Landgericht des Herzogtums Franken 6 nachgegangen. In den Blick kommen dabei neben den erhaltenen Landgerichtsordnungen vor allem Konflikte über ihre gerichtliche Zuständigkeit, wie sie aus den archivalischen Quellen erschlossen werden können.

1. Beschreibungen von Landgerichtssprengeln Die Sprengel kaiserlicher Landgerichte sind wie das Phänomen dieser Gerichtsbarkeit selbst bislang nur am Rande in der historischen und rechtshistorischen Forschung zur Sprache gekommen, im Vergleich zur tiefgründigen Quellenerschließung des Reichskammergerichts und des Reichshofrats geradezu marginalisiert worden. Die Frage nach dem Gerichtssprengel stellte sich aber bei den beiden genannten Höchstgerichten nicht, zumindest solange die Parteien aus dem Reich stammten und nicht etwa Besitz oder Rechte außerhalb berührt waren, weil ihre räumliche Zuständigkeit das Innere des Reiches vollständig erfasste. Allgemeine Darstellungen zu Gerichtssprengeln in Mittelalter oder Neuzeit existieren für das Heilige Römische Reich nicht; gleichfalls hat der Begriff des Sprengels in der ersten Ausgabe des Handwörterbuchs zur deutschen Rechts­geschichte gefehlt. Dabei nennen die Arbeiten zu den kaiserlichen Landgerichten den Sprengel regelmäßig im Zusammenhang mit der Kompetenz oder Zuständigkeit des jeweiligen Gerichts.

5 Mit dem Nürnberger Landgericht im Speziellen haben sich auseinandergesetzt Klaus von Andrian-­Werburg, Markgraf Albrecht Achilles von Brandenburg-­Ansbach und das Kaiserliche Landgericht Burggraftum Nürnberg, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 60 (2000), zugleich Charlotte Bühl/Peter Fleischmann (Hrsg.), Festschrift für Rudolf Endres zum 65. Geburtstag. Neustadt an der Aisch 2000, S. 56 – 66; Katrin Bourrée, Die Bedeutung des Kaiserlichen Landgerichts Nürnberg für die Herrschaftskonzeption Markgraf Albrecht Achilles. Landesherrschaftliches Instrument und reichsfürstlicher Legitimationsgenerator, in: Mario Müller (Hrsg.), Kurfürst Albrecht Achilles (1414 – 1486). Kurfürst von Brandenburg, Burggraf von Nürnberg. Ansbach 2014 (Jahrbuch des Historischen Vereins für Mittelfranken, Bd. 102), S. 265 – 285; Markus Frankl, „Der Bischof von Würzburg zankt stetig mit uns nach alter Gewohnheit“. Markgraf Albrecht Achilles von Brandenburg-­ Ansbach († 1486) und das Hochstift Würzburg. Braunach 2015. 6 Vgl. im Besonderen Friedrich Merzbacher, Iudicium provinciale ducatus franconiae. Das kaiserliche Landgericht des Herzogtums Franken-­Würzburg im Spätmittelalter. München 1956 (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte, Bd. 54). Eine Dissertation zur Gerichtsverfassung im Hochstift Würzburg am Beginn der Frühen Neuzeit hat Josef Bongartz vorgelegt – vgl. dazu auch seinen Beitrag in diesem Band.

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Musterbeispiel ist seit jeher das Rottweiler Hofgericht gewesen, von dessen Sprengel wir erstmals in seiner alten Hofgerichtsordnung 7 erfahren. Der sechste Abschnitt im ersten Teil dieser Landgerichtsordnung skizziert unter der Überschrift Wie wyt und wahin das hofgericht ze richten hat den folgenden Sprengel: Des hailigen richs hofgericht zu Rotwil het von alter her gerichtet von Rotwil bis an den first und an das Birg ienhalb Oberelses und hiedishalb dem Birg den Rin ab und ab bis gen Cöln und nit für ab und hiedishalb dem Rin wider heruf gen Franckförd und als wit Franckenland gat bis an den Düringwald und in Franken und Swainfelden bis an Payerland und hiedishalb Payern inher bis gen Augspurg an den Lech und nit über den Lech und vor dem Birg inher, was vor dem Birg lit gen Swaben zu bis gen Cur und was an demselben strich und krais umbher lit gen Appenzell, gen Swycz, gen Lucern, gen Bern, gen Friburg in Uochtland und denselben krais umbher bis gen Welschennüwenburg und da dannen inher bis gen Brunentrut, gen Mümpelgart und nit füro und daslbs wider herin bis an den first und an das Birg ienhalb Oberelses und an alle ende, so zwüschen den vorgeschriben kraisen von ainem an den andern ligend wit, lang und breit.8

Die Beschreibung des Rottweiler Sprengels in der um 1430 entstandenen alten Hofgerichtsordnung umrahmt, wie notfalls unter Zuhilfenahme einer Karte deutlich wird, tatsächlich einen in alle Richtungen nahezu geschlossenen Raum. Als Ankerpunkte dienten einzelne Orte, dazwischen behalfen sich die Zeitgenossen entsprechend der mittelalterlichen Geographie mit Gemarkungen. Während Flussläufe noch halbwegs als genaue Grenzlinien betrachtet werden können, müssen Höhenzüge als wesentlich unpräziser gelten. Wie weit dieser Raum bis an den Thüringer Wald genau reichte, war für die Verfasser dieser Ordnung offenbar nicht relevant.9 7 Für einen Druck der alten Rottweiler Hofgerichtsordnung (künftig: AHGO) siehe Wolfgang Irtenkauf (Hrsg.), Die Rottweiler Hofgerichtsordnung (um 1430). In Abbildungen aus der Handschrift HB VI 110 der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart. Göppingen 1981 (Litterae. Göppinger Beiträge zur Textgeschichte, Bd. 74). Die Forschung verwendet nicht selten den veralteten Abdruck bei Heinrich Glitsch/Karl O. Müller, Die alte Ordnung des Hofgerichts zu Rottweil (um 1435), in: ZRG GA 41 (1920), S. 281 – 369. Zur Datierung vgl. Karl O. Müller, Zur Datierung der Handschrift der alten Rottweiler Hofgerichtsordnung um 1435, in: Württembergische Zeitschrift für Landesgeschichte 31 (1922), S. 280 – 290. 8 AHGO (wie Anm. 7), Teil 1, Tit. 6. Der Sprengel ist auch Inhalt der nachmaligen Hofgerichtsordnungen im 16. Jahrhundert, vgl. Irtenkauf (Hrsg.), Die Rottweiler Hofgerichtsordnung (wie Anm. 7), S. 44 f.; Ulrike Schillinger, Die Neue Rottweiler Hofgerichtsordnung von 1572, in: Alexander Denzler/Ellen Franke/Britta Schneider (Hrsg.), Prozessakten, Parteien und Partikularinteressen. Höchstgerichtsbarkeit in der Mitte Europas vom 15. bis 19. Jahrhundert. Berlin/Boston 2015 (baR, Bd. 17), S. 55 – 69 (hier S. 57, Anm. 14); dies., Die Neuordnung (wie Anm. 4), S. 56 – 58. 9 Als Verfasser der Ordnung wird ein Jos von Pfullendorf angenommen, dessen Tod in das Jahr 1433 datiert wird. Ab 1438 ist ein Ambrosius Hermann von Pfullendorf nachgewiesen, vgl. Irtenkauf (Hrsg.), Die Rottweiler Hofgerichtsordnung (wie Anm. 7), S. 6 – 8. In diese

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Zwischen den eidgenössischen Orten Appenzell, Schwyz, Luzern, Bern und Freiburg im Üchtland wurde überhaupt nicht mehr der Versuch unternommen, den Verlauf der Sprengelgrenze zu konkretisieren. Ins Auge fällt auch die Einbindung der Stadt Köln, die nicht recht als Randpunkt des räumlichen Sprengels wahrgenommen werden kann, sondern durch die Grenzziehung entlang dem Rhein (den Rin ab bis Köln und dem Rin wider heruf) anscheinend nordwestlich außerhalb gelegen war. Den modernen Gütekriterien nach exakter Zuständigkeitsbestimmung hält diese Beschreibung also nicht stand. Es bleibt aber zu fragen, ob die Zeitgenossen eine räumliche Umgrenzung überhaupt im Sinn hatten. Noch weniger präzise fasste die etwa einhundertdreißig Jahre jüngere Landgerichtsordnung des Landgerichts Schwaben, des vormaligen kaiserlichen Landgerichts auf der Leutkircher Heide, dessen Sprengel: Erstlich biß an den Lech. Dem Lech nach hinauf gen Reitti an die Bruggen. Darnach hinüber auf Tannheim an die Grauenbündt zu Anfang des Schweizerlandes. Folgends gen Constanz auch hierüber auf Stockach. Und von dannen soweit sich der gezirch des Schwabenlandes erstrecket.10

Von Gezirken, Zirkeln oder Kreisen als Sprengel für ein Landgericht ist aber auch an anderer Stelle die Rede. Eine weitere Beschreibung die weit und die lenge deß lantgeritz der gevffschaft hirsperg daß ein lantrichter richten sal ist im Nürnberger Staatsarchiv im Bestand des kaiserlichen Landgerichts des Burggraftums Nürnberg wohl aus dem frühen 16. Jahrhundert überliefert.11 Diese Aufzeichnung dürfte im Familie dürfte ebenfalls Michael von Pfullendorf, der Schreiber im königlichen Kammergericht in den ersten Regierungsjahren Friedrichs III., gehören. 10 Ordnung des Landgerichts Schwaben von 1618, zit. n. Joachim Fischer, Das kaiserliche Landgericht in Schwaben in der Neuzeit, in: Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte 43 (1984), S. 237 – 286 (hier S. 239), und vgl. Leiser, Süddeutsche Land- und Kampfgerichte (wie Anm. 2), S. 7. Die Normen von 1618 hatten einen Vorgänger in der Ordnung von 1562, die den Sprengel gleichermaßen auswies. Dass hier nur ungenau von Schwabenland gesprochen wurde, ist schon Fischer, Das kaiserliche Landgericht in Schwaben, S. 270, aufgefallen. 11 Staatsarchiv (künftig: StA) Nürnberg, Rep. 119a: Fürstentum Brandenburg-­Ansbach. Kaiserliches Landgericht des Burggraftums Nürnberg, Akten, Nr. 59: Das Landgericht Hirschberg hebe sich an, als Laber zu Sunprug in die Donau geht, und geht der Donau hinaus so weit als amer auff amem pferedt dar ein geraithen und mit aine Spieß Erlangen mag biß gen Neyburg an daß riedt und von dem riedt iß gen pargen zu dem clastere abere daß claster ligt zu greyspach lantgericht und von dannen get es zu eine vorst der heißt der ottenberg ist des prelost zw redorff und dar nach gein oberen eystet zu daß dorff von dem dann bis gein schermfeldt zu daß dorff die yeh genante zway dorffer hein gemerckt die zwaiere lantgericht Hirschberg und Graisbach sie haben brieff von beden Landgerichten dapey da man die gemerck wais von darinde bis an den weißenburger waldt und get ymmer dar von dem hin aber der waldt gehordt zu grayspacherer landgericht und get bis gein neußling von dan piß gein dem newenhause dar nach pis gein walantingin daß dorff der die zwo pfarrer inne senne daselb dorff hat ein clain pechlein

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Zusammenhang mit Zuständigkeitsstreitigkeiten zwischen dem Nürnberger und dem Hirschberger Landgericht angefertigt worden oder nach Nürnberg in den Bestand der fränkischen Hohenzollern gelangt sein. Nicht immer aber geht es in den Quellen vordergründig um die Umgrenzung von Gerichtsbezirken, wenn solche Raumskizzen begegnen, obschon die Forschung mitunter das Gegenteil behauptet hat. Als bislang ältestes bekanntes Beispiel für eine Sprengelbeschreibung firmiert das Landgericht der Grafen von Oettingen, wie sie im um 1370 angelegten Lehenbuch der Grafen enthalten ist. Zwei sprachlich voneinander abweichende, inhaltlich aber übereinstimmende Einträge mit den Überschriften Hy sunt termini comitatus in Otingen und Nota, das sint die undermark der grafschaft zu Otingen, des lantgerichtz werden von Hans-­Georg Hofacker als schriftliche Darlegung des Landgerichtssprengels angesehen,12 der mit dem daß schaydet die zway landgericht an dem pechlein auff ein tag gesessen und haben die rück zu sammen gehort und hat yedere sein landgericht gerichtet itun von dan pis gein allten haydeck in daß dorff dar nach biß gen manck auff die rechten lantstraß die von weißenburg gein nirberg gett bis gein rot zu die rednetz und get nach der rednitz absfür Schwabach bis die ridnitz und die Schwarzach in ein andere fliessen item dar nach schwarzach auff bis pudere aichenpruck von dann für dann bis gein Rasch und für Paß in den Raschpach und geritz hin auf gein Steckelsperg durch daß dorff der lantstraß nach piß gen Crauteuchhoffen durch daß dorf von Cremershoffen geritz gain dem Cirstain von dem bis an die ferren labere und get nach der labere gantz ab bis die laber zu Sintzing wider in die Donau fließt. Zum Landgericht Hirschberg vgl. Hans Kalisch, Die Grafschaft und das Landgericht Hirschberg, in: ZRG GA 34 (1913), S. 141 – 193; Heinrich O. Müller, Das „kaiserliche Landgericht der ehemaligen Grafschaft Hirschberg“. Geschichte, Verfassung und Verfahren. Heidelberg 1911 (Deutschrechtliche Beiträge, Bd.  VII/3); Hans-­Georg Hofacker, Art. Kaiserliches Landgericht Hirschberg, in: Historisches Lexikon Bayerns, http://www.historisches-­lexikon-­bayerns.de/Lexikon/ Kaiserliches_Landgericht_Hirschberg (abgerufen am 16. Dezember 2016). 12 Vgl. Hofacker, Kaiserliche Landgerichte in Schwaben (wie Anm. 2), und für die Beschreibungen Elisabeth Grünenwald, Das älteste Lehenbuch der Grafschaft Oettingen 14. Jahrhundert bis 1477. Oettingen 1975, Nr. 471 f. und 473 f. Letztere lautet: Item der ersten zu Alten Hochsteten vindet man ain underscheid, das da haißt das Alt Gemalde, und da hebt sich dy herschaft an. Item und von demselben bis zu dem Kesselhof. Item von dem Kesselhof bis gen Ahmerdingen zu dem grossen stain, der da haißt des Roten Weychstain. Item von dem Roten Wychstain zu der kirchen an den Westergybel zu Merkingen. Item von dem Westergybel bis an das Tirn Reysach. Item von dem Tirn Reysach bis an den Eggenbuchel. Item von dem Eggenbuhel bis gen Aulun in den furt in das wasser, das da haißt der Kochen. Item dem Kochen hinab bis gen dem Mewsbrunnen. Item von dem Mewsbrunnen bis an den Eschlerbrunnen. Item von dem Eschlerbrunnen bis an das wasser, daz da heißt Zwerchwerntz. Item von der Zwerchwerntz bis an den chor gen Fuchtwang. Item von dem chor zu Fuchtwang bis gen Eberspeck. Item von demselben Eberspeck bis an den Gyrsknopf am Öselperg. Item von dem Gyrsknopf bis in den furt, genant dy Rintgaß. Item von der Rintgaßen bis in die Werntz. Item von der Werntz bis in den bach, der da heist dy Swalbe. Item von der Swalbe bis an die stat, als sie derspringt. Item von dem, als sy erspringt, bys in den Kaybach. Item von dem Kaybach bys in dy Twnaw under die

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Herrschaftsgebiet der Oettinger deckungsgleich gewesen sein soll. Ganz analog hat Gerd Leiber in seiner Monographie zum Landgericht in der Baar die Grenzen des Landgerichtssprengels aus der in einem Privileg König Maximilians I. vom 20. August 1500 enthaltenen Raumskizze der Landgrafschaft Fürstenberg gefolgert, da Landgrafschaft und Landgericht in ihrer Ausdehnung identisch gewesen seien.13 Tatsächlich illustrieren diese beiden Beispiele die in der Forschung verbreitete, aber keineswegs unproblematische Vorannahme, dass doch jedes Landgericht über einen Sprengel verfügt haben müsse, nach einem solchen also zielgerichtet in den Quellen zu suchen sei. Herrschaftsräume, die sich mit dem Gerichtsherrn assoziieren mül. Item von der Tunaw bis gen Rumpshouen. Item von Rumpshouen bis gen Alten Hochsteten wider an das Alt Gemald, das es sich angehebt hat. Eine weitere Beschreibung beinhaltet eine Urkunde König Sigismunds vom 7. August 1419, die nach dem bisherigen Kenntnisstand verloren und nurmehr abschriftlich überliefert ist (vgl. die Belege in Grünenwald, Das älteste Lehenbuch, Anm. zu Nr. 471). Sie weicht an mehreren Stellen von der Schilderung des Lehenbuches ab, umfasst mehr Ortsnennungen und erscheint auf diese Weise feingliedriger und präziser in der Darstellung der Grenzen. Zum Landgericht der Grafen von Oettingen vgl. ferner Dieter Kudorfer, Die Grafschaft Oettingen. Territorialer Bestand und innerer Aufbau (um 1140 bis 1806). München 1985 (Historischer Atlas von Bayern, Teil Schwaben, Reihe II, Bd. 3), S. 150 – 179, zur Beschreibung der Grenzen insbes. S. 156 – 158. 13 Vgl. Gerd Leiber, Das Landgericht der Baar. Verfassung und Verfahren zwischen Reichs- und Landesrecht 1283 – 1632. Allensbach 1964 (Veröffentlichungen aus dem Fürstlich Fürstenbergischen Archiv, Bd. 18), S. 51 – 53, und für die Beschreibung des Landgerichtssprengels Sigmund Riezler (Bearb.), Fürstenbergisches Urkundenbuch. Sammlung der Quellen zur Geschichte des Hauses Fürstenberg und seiner Lande in Schwaben, Bd. 4: Quellen zur Geschichte der Grafen von Fürstenberg vom Jahre 1480 – 1509. Tübingen 1879, Nr. 309: die anfahen zum Haydischen Stain auf dem Swartzwald vnd darauß bis an die letzin auf der strasse, von da dannen den nachsten in die Kurnach, dieselb Kurnach vnd furter dieselb Kurnach ab vnd daraus bis gen Kurnegkh in das burgkstall, da dannen den nachsten vber vnd durch sant Germanßwald aus gen Munchweyler in das Sudelbachlin zum bild, genannt sant Kathrinen, da dannen in hof zu Sumertzhawsen, da dannen ob Obereschach dem dorf in die Eschach vnd die Eschach ab bis gen Grannegkh zum burgkstall, da dannen in das Lenngental, das Lenngentall auf vntz gen Tochingen, von Tochingen in Neckersfurt, dauon auf Hurenpacher steig, dauon gen Trossingen, zwischen baiden dörfern in die lynnden, dauon an Schurhamer luckhen, dauon am höchsten in Lubenhart, zu der hochen Tannen genannt, von da dannen bis gen Hawsen auf Freuen, dauon die staig auf den Syttingerberg vnd den Sittingerberg ab vntz an Weyler stayg vnd den steyg ab vntz gen Weyler in pach, von Weyler den pach ab vntz zu Marxmulin, da dannen in Ottenfurt, vom selben furt das Tawbentelin auf bis in Duxbrunnen fur aus in die letzin, da dannen in die lachenden Stain, da sich die drey grafschafften vnd herrschafften Hohenburg, Nellemburg vnd Furstenberg tailen, daraus oben in das Griegertal in brunnen, fur aus gen Schopfloch in Hof, dauon gen Enngen in Mayerpach, da dannen gen Hawsen am Wallenberg, dauon gen Wattertingen an etter, furaus gen Tenngen vnder die brugken, dauon gen Haßlach in hof, dauon auf den Wynndlsperg zum krewtz, vom crewtz gen Hellißhofen in den furt, dauon auf den Randen vntz zum Hagendorn, dauon in Slattersteig gen Grymeltzhofen vnder die brugkhen in die Wuttach bis zum dritten joch […].

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lassen, bilden dann offenbar den passenden argumentativen Ausweg. Die zweifache Gleichung, Herrschaftsräume oder -grenzen könnten dem Gerichtssprengel und dieser wiederum der räumlichen Zuständigkeit entsprechen, aber sollte nicht vorschnell als richtig gegeben werden.

2. Das Verhältnis von Gerichtssprengel und räumlicher gerichtlicher Zuständigkeit Dass zwischen Gerichtssprengel und dem räumlichen Zuständigkeitsbereich eines Landgerichts nicht unbedingt Kongruenz bestanden haben kann, wird bei kritischer Lesart der Literatur deutlich. So konstatiert beispielsweise Joachim Fischer zum kaiserlichen Landgericht Schwaben, dass dessen Sprengel nicht als geschlossener Bezirk, in dem es allein und ausschließlich zuständig gewesen sei, aufgefasst werden dürfe. Es habe vielmehr mit zahlreichen anderen Gerichten in seinem Sprengel konkurriert.14 Mitzudenken vermag er dieses angebliche Konkurrenzverhältnis jedoch nicht, als er die Zuständigkeit des Landgerichts Schwaben kurz darauf verallgemeinernd auf den Punkt bringt, denn es sei „in geographischer Hinsicht zuständig gewesen bei Klagen gegen Personen und Institutionen, die in seinem Sprengel saßen“.15 Der Landgerichtssprengel bildete in dieser Perspektive die materielle Voraussetzung für räumliche gerichtliche Zuständigkeit. Von einer Existenz eines Gerichtssprengels wird ebenfalls vor dem Hintergrund der im Spätmittelalter zunehmenden privilegia de non evocando ausgegangen. Hans Erich Feine sieht in ihrer vermehrten Erteilung eine „erhebliche Einschränkung“ der „Zuständigkeit des Hofgerichtes in seinem Sprengel“,16 und damit zeichnet er das Bild einer Durchlöcherung des Rottweiler Sprengels durch die gewährten Gerichtsstandsprivilegien. In seiner Tübinger Dissertation hat Max Gut schon im Jahre 1907 verwundert gefragt, wie es denn eigentlich dazu gekommen sei, dass das Rottweiler Gericht über einen derart großen Sprengel verfügt habe, in dem noch dazu zahlreiche Landesherrschaften und andere Gerichte Platz finden mussten.17 Die 14 Vgl. Fischer, Das kaiserliche Landgericht in Schwaben (wie Anm. 10), S. 240. 15 Ebd. 16 Feine, Die kaiserlichen Landgerichte in Schwaben (wie Anm. 2), S. 20. Für die Exemtionen der habsburgischen Herrschaften ausführlich Friedrich Merzbacher, Österreich und das kaiserliche Hofgericht Rottweil, in: Historisches Jahrbuch 85 (1965), S. 50 – 63. Zur Wirkung der Gerichtsstandsprivilegien auf die kaiserlichen Landgerichte im Spätmittelalter siehe Baumbach, Königliche Gerichtsbarkeit und Landfriedenssorge (wie Anm. 2), S. 238 – 248. 17 Vgl. Max Gut, Das ehemalige kaiserliche Landgericht auf der Leutkircher Heide und in der Pirs. Eine rechts- und verfassungsgeschichtliche Untersuchung. Tübingen 1907, S. 34.

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aus universeller rechtlicher Geltung hergeleitete Materialität eines Gerichtssprengels schimmert in der Tat verschiedentlich durch, zum Beispiel in Aussagen, wie, die Zuständigkeit in Niederschwaben dürfte dem Hofgericht Rottweil zugefallen sein,18 nach dem Schwabenkrieg sei die Eidgenossenschaft aus dem Sprengel des Rottweiler Gerichts ausgeschieden,19 oder die Grenzgebiete seines Sprengels seien im 16. Jahrhundert verloren gegangen.20 Gerd Leibers Feststellung, der Sprengel des Landgerichts in der Baar habe sich innerhalb des Sprengels des Landgerichts Rottweil befunden, letzteres verknüpft mit der von zu modernen Rechtsgrundsätzen geprägten und deshalb irritierenden Folgerung, dass das Landgericht in der Baar demnach wohl gegenüber seinem größeren Pendant exemt gewesen sein müsse,21 passt in das bisweilen anachronistische Bild der Forschung vom Sprengel und von landgerichtlicher Zuständigkeit. Sämtliche dieser in der Tradition früherer Generationen von Rechtshistorikern stehenden Urteile neigen dazu, die Normativität von Landgerichtsordnungen und Privilegien überzubewerten. Von Ordnungen wie der alten Rottweiler Hofgerichtsordnung konnte aber keine universelle Geltung ausgehen, nicht allein weil sie kein königliches Siegel trug oder niemals vom Reichsoberhaupt bestätigt werden musste, sondern vor allem, weil Urheber und Begünstigter im Gerichtsherrn und dem Urteilerkreis, also den als Landrichter amtierenden Grafen von Sulz und den Bürgern der Stadt Rottweil, zusammenfielen.22 Nicht anders kann das Urteil über das Lehenbuch der Grafen von Oettingen lauten. In den angeführten Vorstellungen von räumlicher gerichtlicher Zuständigkeit im Spätmittelalter und am Beginn der Neuzeit fehlt jedoch noch ein zweites wichtiges Charakteristikum der Gerichtsbarkeit dieser Zeit, die große Bedeutung der Streit-

18 Vgl. Feine, Die kaiserlichen Landgerichte in Schwaben (wie Anm. 2), S. 31. 19 Vgl. Hofacker, Kaiserliche Landgerichte in Schwaben (wie Anm. 2). 20 Vgl. Grube, Die Verfassung des Rottweiler Hofgerichts (wie Anm. 4), S. 42. 21 Vgl. diese wenig überzeugende Sicht von Leiber, Das Landgericht der Baar (wie Anm. 13), S. 72 f. 22 Vgl. für die Stadt Jörg Leist, Reichsstadt Rottweil. Studien zur Stadt- und Gerichtsverfassung bis zum Jahre 1546. Rottweil 1962, S. 195, sowie für die Grafen von Sulz Michael Jack, Die Ehafte des Hofgerichts Rottweil vor dem Reichskammergericht. Aachen 2012 (Bochumer Forschungen zur Rechtsgeschichte, Bd. 6), S. 12; Feine, Die kaiserlichen Landgerichte in Schwaben (wie Anm. 2), S. 151. Unbedingt infrage zu stellen ist die Argumentation von Grube, Die Verfassung des Rottweiler Hofgerichts (wie Anm. 4), S. 17 f., der Sprengel sei eine auf die Begünstigung Rottweils fußende kaiserliche Kreation gewesen. Die neue Ordnung des Rottweiler Hofgerichts konfirmierte der Kaiser übrigens am 13. November 1572, vgl. Schillinger, Die Neuordnung (wie Anm. 4), S. 50 – womöglich ein Kalkül der Stadt, um die überragende Legitimität des Monarchen für eine verbesserte Geltung der niedergeschriebenen Normen zu nutzen.

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parteien bei der Konfliktbewältigung.23 Sie nämlich entschieden, welchem Gericht sie ihre Auseinandersetzung mit einer Klage zur Klärung überließen; sie trugen Sorge für den Fortgang ihres Prozesses – Gerichtsbarkeit war dabei ein Angebot, das mehrere Alternativen kannte. Für die alte Hofgerichtsordnung und den Rottweiler Sprengel wird das bisherige Verständnis nun angepasst werden können. Die Beschreibung des Sprengels entsprach der spezifisch Rottweil’schen Sicht auf ihre Gerichtsbarkeit. Insbesondere sollte deshalb von universeller Geltung nicht gesprochen werden. Illustrieren mag dies ein zweiter Artikel der Hofgerichtsordnung mit dem Titel Von der lantgericht wegen, die da übergriffend und über die richtend, über die si nit ze richten hand, die einzige Bestimmung übrigens, die auf die räumliche Zuständigkeit Bezug nahm. Für diejenigen Landgerichte, die an den enden gelegen sind, dahin das hofgericht richtet, gelte im Falle eines Übergriffs und sobald es dem Hofgericht mit Klage bekannt werde, dass besagtes Landgericht über eine Person gerichtet habe, welche in ir gericht nit gehört noch darinne gesessen ist, dass in Rottweil auf die Nichtigkeit aller Handlungen zu erkennen, das Urteil aufzuheben und ein Achtspruch aus dem Achtbuch zu tilgen sei.24 Die Abhängigkeit des Rottweiler Gerichts von der Klage einer der Streitparteien wird dabei genauso deutlich wie der Superioritätsanspruch des Gerichts über seinen selbstgeschaffenen Sprengel. Woher diese Sprengelkonstruktion stammte, wird anhand der Gerichtsnutzung und damit wieder auf dem Fundament der Streitenden, die sich für eine Klage am Rottweiler Hofgericht und nicht andernorts entschieden, plausibel. Die Sprengelbeschreibung in der Hofgerichtsordnung bildete eine Projektion der etwa um 1430 mündlich oder schriftlich tradierten Nutzung des Gerichts durch einzelne Parteien, die aus Köln, Frankfurt, Augsburg, Appenzell, Luzern, Bern, Freiburg im Üchtland, Chur und anderen genannten Orten kamen. Dies zu belegen, wäre mit Hilfe der im 15. Jahrhundert angefertigten Protokollbücher des Gerichts wohl ein Leichtes gewesen, wäre der Hauptbestand der hofgerichtlichen Überlieferung nicht im Archiv kassiert worden.25 Ein Umweg, der zugegeben ein ungleich 23 Vgl. exemplarisch für das kaiserliche Landgericht des Burggraftums Nürnberg im frühen 15. Jahrhundert Hendrik Baumbach, Die Gerichtsbarkeit als Mittel zur Erweiterung von Landesherrschaft im 15. Jahrhundert – ein Problemaufriss, in: Darmstädter Atheneforum (Hrsg.), Macht – Herrschaft – Regierung. Herrschaftslegitimation in Geschichte und Theorie. Baden-­Baden 2014, S. 171 – 189 (hier S. 177 f.), sowie allgemeiner für die Höchstgerichte der Neuzeit Peter Oestmann, Wege zur Rechtsgeschichte: Gerichtsbarkeit und Verfahren. Köln/Weimar/Wien 2015, S. 165. 24 AHGO (wie Anm. 7), Teil 8, Art. 1. 25 Nach Thudichum, Geschichte der Reichsstadt Rottweil (wie Anm. 4), S. 73, würden die Gerichtsbriefe aus dem 14. Jahrhundert belegen, dass das Rottweiler Hofgericht im Bereich des Sprengels gerichtet habe. Analog Glitsch/Müller, Die alte Ordnung (wie Anm. 7), S. 286, für das 15. Jahrhundert anhand von Gerichtsurkunden. Auf die als Sprengelgrenz-

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schwächeres Argument nur liefert, bietet sich in den Gerichtsstandsprivilegien, die Friedrich Battenberg bis zum Jahr 1451 gesammelt hat.26 Sie belegen nicht in erster Linie die Einschränkung der Rottweiler Gerichtsbarkeit – das ist sicherlich ihre langfristige Wirkung gewesen –, sie indizieren gleichermaßen die Nutzung dieses Gerichts durch die Untertanen und Bürger der jeweils mit dem Exemtionsprivileg begünstigten Herrschaften. Warum hätte es sonst eines solchen Privilegs überhaupt bedurft? Exemtionen vom Rottweiler Hofgericht vor dem Jahr 1430 sind überliefert für die Orte Appenzell, Chur, Köln, Luzern und Schwyz,27 weiterhin von auswärtigen Landgerichten im Allgemeinen zusätzlich noch für Augsburg und Bern.28 Die Klagen von und gegen Frankfurter Bürger vor dem Hofgericht Rottweil sind ohnehin erwiesen.29 Der oder die Verfasser der ältesten Hofgerichtsordnung dürften sich also bei dem Versuch, Sprengelgrenzen zu bestimmen, an der tatsächlichen Frequentierung des Gerichts orientiert haben, zumindest insoweit sie sich aus ihrem Wissen oder dem schriftlichen Niederschlag der Gerichtstätigkeit ergab. Eine wesentliche Konstruktionsleistung lag sowohl in der Auswahl der Orte, die einen möglichst weitgefassten Raum entstehen ließen, als auch in der Anordnung dieser Orte in geographisch korrekter Reihenfolge. Welche Mittel die Zeitgenossen auch verwendeten, diese beiden Herausforderungen glückten ihnen zweifelsfrei. Dass der Gerichtsnutzung der Sprengel folgte und nicht etwa umgekehrt, klingt fernerhin bereits im Subtext des Beitrags von Robert Scheyhing zum Rottweiler Gericht an, der den „Wirkungsbereich des Hofgerichts“ mit dem „Vertrauen der Rechtsuchenden“ begründet.30 Die von der Forschung für Landgerichtssprengel gehaltenen Raumskizzen in den Büchern und Urkunden der Grafen von Oettingen und Fürstenberg dürften entsprechend vorrangig als allgemeine Beschreibungen der gräflichen Herrschaft aufgefasst werden, zumal der Anteil von natürlichen Gemarkungen und Flurbezeichnungen, von denen nicht auf den Wohnort von

26 27 28 29 30

orte genannten Städte haben sich die Studien bisher nicht konzentriert. Nur Schillinger, Die Neuordnung (wie Anm. 4), S. 56, erklärt ohne Beleg, dass die aus der alten in die neue Ordnung übernommenen Grenzorte des Sprengels Städte gewesen seien, aus denen viele Streitparteien ihren Weg an das Hofgericht gefunden hätten. Vgl. Friedrich Battenberg, Die Gerichtsstandsprivilegien der deutschen Kaiser und Könige bis zum Jahr 1451, 2 Bde. Köln/Wien 1983 (QFHG, Bd. 12). Vgl. ebd., Nr. 853 (Appenzell), 864 (Luzern), 871 (Schwyz), 972 (Chur), 1169 (Köln). Einige Bestätigungen dieser Privilegien vor 1430 befinden sich ebenfalls in der Sammlung Battenbergs. Vgl. ebd., Nr. 720 (Bern) und 1043 (Augsburg). Siehe dazu den umfangreichen Bestand „Hofgericht Rottweil“ im Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main. Scheyhing, Das kaiserliche Landgericht (wie Anm. 4), S. 92. Laufs, Die Reichsstadt Rottweil (wie Anm. 4), S. 23, spricht vom „Einzugsgebiet des Gerichts“.

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den am Landgericht intervenierenden Streitparteien zurückgeschlossen werden kann, vergleichsweise hoch war. Wie enorm wichtig die Gerichtsnutzung bei allen Überlegungen zur räumlichen gerichtlichen Zuständigkeit war, kann für einzelne Beispiele vertieft werden, die nicht oder nur sehr eingeschränkt überhaupt über einen Sprengel verfügten und verfügen wollten, die Landgerichte des Burggraftums Nürnberg und des Herzogtums Franken.

3. Landgerichtsbarkeit ohne Gerichtssprengel Sowohl für das Nürnberger Landgericht der fränkischen Hohenzollern als auch für das in den Händen der Bischöfe von Würzburg befindliche Landgericht des Herzogtums Franken kann in den Quellen, wie sie für Nürnberg sehr umfangreich, für Würzburg bis auf einige Verluste im Zweiten Weltkrieg immerhin größtenteils erhalten geblieben sind, keine Sprengelbeschreibung ermittelt werden. Die in der Zeit des zunächst in Franken nach dem Tod und Verzicht seiner Brüder auch in Brandenburg regierenden zollerischen Markgrafen Albrecht Achilles angefertigten Landgerichtsordnungen vom 28. März 1447 und vom 28. Dezember 1459 hielten zwar den Prozessgang und die Gerichtsgebühren fest, um eine Bestimmung der räumlichen Zuständigkeit bemühten sich die Räte des Fürsten jedoch nicht.31 An dieser Lücke in der Verschriftlichung von Rechtsnormen schienen die markgräflichen Gerichtsherren festzuhalten, auch als das Landgericht nach seiner von den bayerischen Herzögen erwirkten Niederlegung ab 1460 um 1490 wiedereingerichtet wurde. An profundem Wissen über die Existenz von Gerichtssprengeln hat es den Hohenzollern freilich nicht gemangelt, denn neben der oben erwähnten Skizze des Hirschberger Sprengels ist ebenfalls der Herrschaftsraum der Grafen von Oettingen im Wortlaut des Lehenbuchs bei den Markgrafen abschriftlich überliefert.32 Dass ebenso das Landgericht des Herzogtums Franken keine Sprengelbeschreibung besessen habe, obschon für die fränkischen Zentgerichte genaueste Grenzen verzeichnet waren, hat bereits Friedrich Merzbacher bemerkt.33 Die aus dem 16. Jahrhundert überlieferten Landgerichtsordnungen enthalten sich jeder Bestimmung der

31 Die älteste bekannte Gerichtsordnung des Nürnberger Landgerichts findet sich abschriftlich in den Schriften des markgräflichen Rates Ludwig von Eyb d. Ä., vgl. Matthias Thumser (Hrsg.), Ludwig von Eyb der Ältere (1417 – 1502). Schriften. Neustadt an der Aisch 2002 (Veröffentlichungen der Gesellschaft für fränkische Geschichte, Reihe 1: Fränkische Chroniken, Bd. 6), S. 270 – 279, und für die zweite Ordnung S. 279 – 282. 32 Vgl. StA Nürnberg, Rep. 119a: Fürstentum Brandenburg-­Ansbach. Kaiserliches Landgericht des Burggraftums Nürnberg, Akten, Nr. 41. 33 Vgl. Merzbacher, Iudicium provinciale ducatus franconiae (wie Anm. 6), S. 32.

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räumlichen gerichtlichen Zuständigkeit.34 Referenz für die Ausübung der Gerichtsbarkeit des Landgerichts sei dagegen das von den Würzburger Bischöfen aspirierte Herzogtum Franken.35 Dass sich die Zeitgenossen dennoch mit der räumlichen Zuständigkeit der beiden Landgerichte rege und wiederholt auseinandersetzten,36 dabei die Verfahrensnutzung ein zentrales Argument in der Frage der Zuständigkeit darstellte, soll anhand der Korrespondenz zwischen Markgraf Georg von Brandenburg und seinem Amtmann zu Kitzingen gezeigt werden. Der Briefwechsel berührt einen Zuständigkeitsstreit zwischen den beiden Landgerichten Würzburg und Nürnberg über die Stadt Kitzingen, der 1536 ausbrach und bis in die 1540er Jahre hinein fortdauerte. Aus einem Antwortschreiben des Markgrafen vom 10. Mai 1536 geht hervor, dass ihm sein Amtmann zuvor die Vorladung einiger Kitzinger Bürger vor das Landgericht des Herzogtums Franken mitgeteilt hatte. Dabei seien nach dem Vernehmen Georgs die Bürger von Kitzingen nach gevallen der cleger inn sachen erbfell belanng an beide Landgerichte geladen worden, woraufhin er konzise verfügte: so lassen wir es bey demselben auch bleyben – doch in allen anderen Fällen solle mit einer Abforderung reagiert werden.37 Dazu passt eine Abschrift aus der Korrespondenz zwischen dem Amtmann 34 Vgl. die als „Neue Reformation“ bezeichnete Landgerichtsordnung von 1512 in StA Würzburg, Miscellanea, Nr. 6818, sowie die späteren Ordnungen und Ergänzungen StA Würzburg, Adm. f. 667/14843 I. 35 Vgl. Merzbacher, Iudicium provinciale ducatus franconiae (wie Anm. 6), S. 29, und zum Herzogtum Franken Ernst Mayer, Das Herzogtum des Bischofs von Würzburg und das fränkische Landgericht, in: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, NF. 1 (1898), S. 180 – 237; Eugen Rosenstock, Würzburg, das erste geistliche Herzogtum in Deutschland, in: Historische Vierteljahrschrift 16 (1913), S. 68 – 77; Alexander Coulin, Zur würzburgischen Herzogtumsfrage, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 15 (1919/20), S. 77 – 81; Erich Schrader, Vom Werden und Wesen des würzburgischen Herzogtums Franken, in: ZRG GA 80 (1963), S. 27 – 81; Johannes Merz, Fürst und Herrschaft. Der Herzog von Franken und seine Nachbarn 1470 – 1519. München 2000; Hermann Kühn, Der Bischof von Würzburg als Herzog von Franken, in: Andreas O. Weber/Wolfgang Wüst (Hrsg.), Franken und Forchheim im Mittelalter. Forchheim 2004 (An Regnitz, Aisch und Wiesent, Sonderheft 2), S. 63 – 72; Frankl, Der Bischof von Würzburg (wie Anm. 5), S. 51 – 65. 36 Zu den Zuständigkeitskonflikten mit den kaiserlichen Landgerichten im Spätmittelalter Baumbach, Königliche Gerichtsbarkeit und Landfriedenssorge (wie Anm. 2), S. 341 – 348, sowie für die Auseinandersetzung von Albrecht Achilles und Herzog Ludwig von Bayern-­ Landshut, die auch das Landgericht des Hohenzollern berührte, Bourrée, Die Bedeutung des Kaiserlichen Landgerichts (wie Anm. 5), S. 277 – 282, und zu den Konflikten zwischen Markgraf Albrecht und den Bischöfen von Würzburg um die Zuständigkeit des burggräflichen Landgerichts Frankl, Der Bischof von Würzburg (wie Anm. 5), S. 78 – 96. 37 StA Nürnberg, Rep. 119a: Fürstentum Brandenburg-­Ansbach. Kaiserliches Landgericht des Burggraftums Nürnberg, Akten, Nr. 51, fol. 21.

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Wolf von Crailsheim und Markgraf Georg, welche die Verhältnisse in Kitzingen in der genannten Form darlegte und feststellte, dass die Kitzinger in Erbsachen vor beide Landgerichte gehören.38 Daraus lassen sich Schlussfolgerungen ziehen: Ob eine Stadt zu einem Gerichtsbezirk nun zugehörig war oder nicht, entschied sich zunächst nicht anhand einer präzisen Zuständigkeitsdefinition, die wir im Falle der Landgerichte Würzburg contra Nürnberg ohnehin nicht vorliegen haben; sie entschied sich anhand der Tatsache, ob Bürger oder Bewohner dieser Stadt jemals vor dem einen oder anderen Gericht geklagt hatten. Die Zuständigkeitsfrage blieb in diesen Fällen völlig unbeachtet, wenn nicht eine Partei auf ein anderes Gericht drängte.39 In welchem Ausmaß die Untertanen, Hintersassen oder Bürger einer anderen Herrschaft oder Stadt eine andere als ihre lokale Gerichtsbarkeit anriefen, kann heute aus den Aufzeichnungen zur Gerichtstätigkeit leicht rekonstruiert werden. Schon die Zeitgenossen nutzten die Protokoll- und Urteilsbücher der Landgerichte zu eben diesem Zweck. So ist im Staatsarchiv Bamberg im Bestand „Geheimes Hausarchiv auf der Plassenburg“ ein Verzeichnis über Vorladungen und Appellationen an das Landgericht Nürnberg von außerhalb der markgräflich-­zollerischen Kernlande in Franken wohnenden Streitparteien erhalten.40 Berücksichtigt wurden ausschließlich benachbarte Herrschaften wie die bayerischen Herzogtümer (91 Fälle), die Städte Dinkelsbühl (18), Windsheim (16), Nürnberg (1) und das Bistum Eichstätt (6). Ein weiteres solches Verzeichnis liegt im Staatsarchiv Nürnberg, betreffend die Klagen aus den Stiftern Würzburg, Eichstätt und Bamberg vor dem kaiserlichen Landgericht des Burggraftums.41 Die Einträge der Listen sind von verschiedener Hand vorgenommen. Sie schließen die Gerichtsbücher von 1490, 1507, 1513 und 1524 ein und gehören somit wohl in die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts. Diese aus den Registern ermittelten Belege für das überregionale Wirken des Landgerichts ließen sich in eine rechtliche Argumentation einbetten. Bereits in einem im Sommer des Jahres 1456 vom markgräflichen Rat Gregor Heimburg erstellten Gutachten über das Landgericht des Burggraftums Nürnberg wird zu seinem Verhältnis zu den bayerischen Herzogtümern erklärt, dass Markgraf Albrecht sich zur Bestätigung der Urteile an seinem Landgericht erboten hat, kuntschafft gnugsamlich bey zu brengen, das sein landgericht gen Swoben und Beyren zu richten hab, und hab auch das gebrau-

38 Ebd., fol. 22r–23r vom Tag darauf. 39 Vgl. von Andrian-­Werburg, Markgraf Albrecht Achilles (wie Anm. 5), S. 58. 40 Vgl. StA Bamberg, Markgraftum Brandenburg-­Kulmbach-­Bayreuth, Geheimes Hausarchiv Plassenburg, Akten und Bände, Nr. 3365, fol. 2r–12v. 41 Vgl. StA Nürnberg, Rep. 119a: Fürstentum Brandenburg-­Ansbach. Kaiserliches Landgericht des Burggraftums Nürnberg, Akten, Nr. 40.

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chenlich also herbracht und des hat er dy register seins landgerichts furgebracht.42 Wohl in dem Wissen um eine zunehmend räumlich begriffene gerichtliche Zuständigkeit sollten die Landgerichtsbücher den auf ein Privileg König Rudolfs von Habsburg begründeten Anspruch der fränkischen Hohenzollern, mit ihrem Landgericht an des Kaisers statt und damit räumlich unbegrenzt richten zu können,43 belegen. Ein klar umrissener Sprengel war dafür alles andere als förderlich. Dieselbe Strategie ist für die Würzburger Bischöfe und das von ihnen stets vorgeschobene Herzogtum Franken anhand von Zuständigkeitskonflikten nachzuweisen. Herausgegriffen sei eine seit den späten 1520er Jahren schwelende Auseinandersetzung mit der Abtei Fulda um die Gerichtsbarkeit in Hammelburg, die auch das Reichskammergericht beschäftigte. Aus den von 1539 zusammengetragenen Acta geht in einer Auflistung der Klagepunkte unter drittens, die Clage des Landgerichtshalb, die rechtliche Argumentation der Würzburger Seite in zwei Schritten klar hervor: Nachdem der Stifft Wirtzpurg durch Romische Kayser und König hochbegnadet vnd gefreyet vnd in sunderhait des Landgerichts des Hertzogthumbs zu Francken dem Stifft Wirtzburg von des Hertzogthumbs wegen das zu demselbigenn bysthumb vnd Stifft gehort vnd von alter her ge­ hort hat gnediglich verliehenn vnnd gegeben der gestalt vnd maynung das nyemands von rechts wegen in dem Hertzogthumb vnd Landgericht zu Francken dann ain Bischof zu Wirtzburg der allain da Landrichter zu Francken ist sall vnd mag richten vor welichem gemelttem Landgericht zu recht sten. 44

Mit diesem Rückgriff auf die erteilten kaiserlichen und königlichen Privilegien hatten die würzburgischen Räte in einem zweiten Teil nur noch zu beweisen, dass die Stadt Hammelburg innerhalb des Herzogtums Franken liege, was angesichts der fehlenden Grenzen auf dem Wege der Gerichtsnutzung bewerkstelligt werden konnte: Nun hat aber der Stifft Wirtzburg mit seinem Landgericht des Hertzogthumbs zu Francken von x xx xxx xl l lx jaen meher ader lenger dann menschen gedenken raicht in die Stat Hamelburg […] gericht […] vnd noch dor zu [sei] die Stat Hamelburg im Bisthumb Wirtzburg vnd Hertzogthumb Francken […] [und habe] das Landgericht zu Wirtzburg des Hertzogthumbs zu Francken weither vnd fur Hamelburg hinnauß als gaim Sortenberg Reussenberg Gersfeld Roppenhausen Thann Ebersberg vnd andere meher [gerichtet].45 42 Thumser (Hrsg.), Ludwig von Eyb der Ältere (wie Anm. 31), S. 299. 43 Vgl. Rudolph von Stillfried/Traugott Märcker (Hrsg.), Monumenta Zollerana. Urkunden-­ Buch zur Geschichte des Hauses Hohenzollern, Bd.  II: Urkunden der Fränkischen Linie 1235 – 1332. Berlin 1856, Nr. 129 vom 25. Oktober 1273. 44 StA Würzburg, Standbücher, Nr. 730a, fol. 11r. 45 Ebd. Die hier vorgetragene Strategie lässt sich anhand eines ebenfalls in der Akte enthaltenen Katalogs von Artikeln nachzeichnen. So sollte Art. 8 darlegen, dass Hammelburg im Bistum Würzburg sei, Art. 9, dass es auch im Herzogtum Franken liege, Art. 13, dass sich

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Beweise für den Würzburger Standpunkt sollten neben zahlreichen für prozessrelevant gehaltenen Urkundenabschriften und Exzerpten aus Lehenbüchern die nicht weniger als 60 Blatt der Akte füllenden Auszüge aus insgesamt 38 Büchern des bischöflich-­herzoglichen Landgerichts beibringen.46 Die Anordnung der Einträge erfolgte dabei zunächst buchweise und darin dann fortlaufend. Die umfangreiche Zusammenstellung dürfte mit großer Sicherheit das Produkt eines planmäßig besorgten Rechercheauftrages des Bischofs oder seiner Räte gewesen sein. Die Auswahl der genannten Orte war Teil der Strategie und ging der Durchforstung der Landgerichtsbücher voraus, denn sie sollten allesamt geographisch zwischen der Abtei Fulda und der Stadt Hammelburg liegen und damit eine einzelfallbezogene Grenzlinie ziehen, wie weit die Tätigkeit des Landgerichts und damit das Herzogtum Franken mindestens reichte. Das Konzept der räumlichen gerichtlichen Zuständigkeit konnte demnach ganz ohne Sprengel zur Anwendung kommen. Die Nutzung des Landgerichts, die in ganz erheblichem Maße von den Streitparteien und nur nachgeordnet vom Gerichtsherrn abhing, schuf, niedergeschlagen in den Landgerichtsprotokollen, eine Vielzahl von Ankerpunkten, die wiederum im Moment strittiger Zuständigkeit als Belege dienstbar gemacht wurden. Überhaupt wurden in den Zuständigkeitskonflikten um das Landgericht des Herzogtums Franken wiederholt Extrakte der Gerichtsbücher angefertigt.47 Diese Dokumente sind ein lebendiger Beleg für die Zunahme räumlicher Zuständigkeitsfestlegungen im Alten Reich, wie sie sich, ausgehend von den spätmittelalterlichen Gerichtsstandsprivilegien, als rechtliche Argumente im 15. Jahrhundert vermehrt und dann besonders ab dem frühen 16. Jahrhundert häufig finden lassen. Die kaiserlichen Landgerichte sind aufgrund ihrer über die Kernräume der Herrschaften ihrer Herren hinausreidas Herzogtum Franken noch weiter als bis nach Hammelburg erstrecke, Art. 16, dass der bischöfliche Landrichter in zahlreichen Fällen in die Stadt Hammelburg gerichtet habe, und schließlich Art. 17, dass von selbigem Landrichter noch weiter als nur bis in die Stadt Hammelburg geurteilt worden sei (fol. 27r–29v). 46 Vgl. ebd., Nr. 730a, fol. 133v–193v. Die überlieferten Protokoll- und Registerbücher des Landgerichts des Herzogtums Franken befinden sich in StA Würzburg, Standbücher, Nr. 821a (1317 – 1331) bis Nr. 877 (1603). Ediert ist bislang nur das älteste Landgerichtsbuch aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, vgl. Michael Schäfer, Das Würzburger Landgericht in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts und seine ältesten Protokolle. Edition und Auswertung. Würzburg 2002, http://opus.bibliothek.uni-­wuerzburg.de/frontdoor/ index/index/docId/713 (abgerufen am 16. Dezember 2016). 47 Vgl. z. B. einen Band von Prozessakten des Hochstifts Würzburg wider die Herren zu Limburg aus dem Jahr 1599, für den die Landgerichtsbücher von 1373 bis 1592 exzerpiert wurden (StA Würzburg, Standbücher, Nr. 738, unfol.), das Mainzer Gebrechenbuch, II. Serie, Nr. 5, mit Auszügen aus den Protokollen von 1335 bis 1486 (StA Würzburg, Standbücher, Nr. 748, fol. 235r–359r) sowie die losen oder fragmentarischen Exzerpte in StA Würzburg, Miscellanea, Nr. 3439, 3442, 6146.

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chenden Gerichtstätigkeit prädestinierte Beispiele, dieses Phänomen zu erforschen, zumal das mit ihnen verbundene Konzept von räumlicher Zuständigkeit nicht per se dem Gedanken zueinander kongruenter Herrschafts- und Gerichtsgrenzen folgte. Das beständige Festhalten an dieser Praxis ist nicht allein die Ursache für eine große Menge von Zuständigkeitskonflikten gewesen, es dürfte langfristig in erheblichem Ausmaß den Niedergang dieses Typus von Gerichtsbarkeit im Reich bewirkt haben.

4. Zusammenfassung Die vorgestellten geographischen Beschreibungen von Landgerichtssprengeln, so wie sie vereinzelt in den Quellen seit dem Spätmittelalter begegnen, waren Kon­ struktionen räumlicher gerichtlicher Zuständigkeit, entstanden entweder aus der Perspektive der Gerichtsherren oder des Gerichts als Selbstbestimmung wie im Rottweiler Fall, oder sie gründeten auf Zuständigkeitskonflikten in der Sichtweise der Gegenseite, welche die Nichtzuständigkeit zu beweisen versuchte. Im Spätmittelalter, mit großer Wahrscheinlichkeit auch noch im 16. Jahrhundert war der Landgerichtssprengel – soweit er vorhanden war – damit kein universell gültiger materialisierter Zuständigkeitsraum. Er kann somit auch nicht vordergründig mit mangelhafter Durchsetzung von Rechtsnormen erklärt werden. Insbesondere vermochten es die Zeitgenossen, die Vorstellungen von räumlicher Zuständigkeit ohne oder gar bewusst ohne einen Gerichtssprengel zu vertreten – das allein belegen die rege Abforderungspraxis und die hundertfach erteilten Exemtionsprivilegien zur Genüge. Die Reichweite eines Landgerichts versuchten die jeweiligen Gerichtsherren aus der Nutzung heraus und damit eigentlich aus der Entscheidung der Parteien, ihre Streitfälle diesem oder jenem Gericht vorzubringen, zu bestimmen. Dass ein Herrschaftsträger über seine Hintersassen, ein Stadtgericht über seine Bürger richten sollte, wurde im Kontrast dazu ebenfalls seit dem 14. Jahrhundert sukzessive Bestandteil des herrscherlichen Selbstverständnisses und auf diesem Weg zu einem Leitprinzip, obgleich doppelte und dreifache Personenbindungen für eine Vielzahl von Untertanen erst entflochten und reduziert werden mussten. Deshalb wohl setzten sich langfristig die ambitionierten Zuständigkeitskonstruktionen der kaiserlichen Landgerichte nicht durch. Werden die Landgerichtssprengel als Strukturelemente der „Gerichtslandschaft“ des deutschen Südwestens für die Zeit vom 14. bis zum 16. Jahrhundert hergenommen, dann werden sie für greifbarer, für widerspruchsfreier gehalten, als sie es tatsächlich in ihrer Frühzeit waren. Der Vorschlag von Ulrike Schillinger, Bezeichnungen wie Gerichtssprengel oder -bezirk generell zu vermeiden und stattdessen

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besser von „Wirkungsbereich“ zu sprechen,48 befriedigt aus historischer Sicht nicht, weil Zirkel, Gezirk, Kreis etc. Quellenbegriffe sind, die nicht negiert, sondern nur erklärt werden können. Weiterführend dürfte dagegen der Ansatz sein, die Gerichtsnutzung, das räumliche Einzugsgebiet von Gerichten offenzulegen und den Weg von Einzelkonflikten zwischen den Gerichten genauer nachzuverfolgen. Berührt werden damit die sozialen Aspekte von Gerichtsbarkeit, wie sie sich auch im Konzept von „Gerichtslandschaft“ wiederfinden.49 Gerade die Zuständigkeitsfrage sollte deshalb nicht allein mit Verhältnissen, einem horizontalen Neben- oder einem als Instanzen angelegten vertikalen Übereinander, beantwortet werden und in vielleicht weniger homogene Modelle von der Gerichtsordnung im Alten Reich einmünden. Zum Forschungsterminus der „Gerichtslandschaft“ wird sich dagegen eher auf dem Wege der Wechselwirkungen, der Interaktionen, des Miteinanders von Gerichtsbarkeiten vorstoßen lassen. Das hier vorgeführte Beispiel der Landgerichtssprengel indiziert zumindest, dass die Frequentierung von Gericht und das politische Kalkül der Gerichtsherren auf der Mikroebene oft mehr Gewicht in der Ausformung der Gerichtsordnung des Reiches besaßen als der vom Thron aus oder in den Beschlüssen der Reichsversammlungen verordnete Wille der Herrschaftsträger.

48 Schillinger, Die Neuordnung (wie Anm. 4), S. 56. 49 Vgl. Baumann/Amend/Wendehorst, Einleitung (wie Anm. 1), S. 2; Amend/Baumann/ Wendehorst/Wunderlich, Recht und Gericht (wie Anm. 1), S. 12.

Florian Dirks

Streitschlichtung ohne Gericht? Zu Konfliktlösungsstrategien in Fehden zwischen Stadt und Adel auf Tagfahrten im Hanseraum des 14. und 15. Jahrhunderts

Der sogenannte Ewige Reichslandfrieden von 1495 stellt für die Führung und Beilegung von Konflikten im Heiligen Römischen Reich des Spätmittelalters eine Zäsur dar. Jedwede eigenmächtige Konfliktführung des Adels sollte fortan verboten sein. Maximilian I. verbot Fehden, mit denen der Adel seit beinahe drei Jahrhunderten sein Recht einzufordern suchte, sei es nun tatsächlich rechtmäßig oder nicht. Mit dem Reichshofrat sowie dem Reichskammergericht schufen die Habsburger zwei neue, oberste Gerichte, die fortan unter anderem in Streitsachen urteilen sollten.1 Der Beitrag befasst sich mit der Frage möglicher Konfliktlösungsstrategien in Fehden zwischen Städten und Adeligen im 14. und 15. Jahrhundert. Dabei steht ein Zitat aus einem Schreiben der niederadeligen Herren von Werle, mit dem sie sich im Herbst des Jahres 1318 in ein Bündnis mit den Grafen von Schwerin begaben, exemplarisch für den Fokus des Beitrags: „Wir sollen uns nicht mehr [aus-] sühnen, Frieden [schließen] oder Tage abhalten, es sei denn mit unseres Onkels Willen, des Grafen von Schwerin“.2 Bereits zu Beginn des 14. Jahrhunderts lässt 1 Der sogenannte Ewige Landfriede 1495 August 7, in: Karl Zeumer (Hrsg.), Quellensammlung zur Geschichte der Deutschen Reichsverfassung in Mittelalter und Neuzeit. 2. Aufl. Tübingen 1913, Nr. 173. Zu den Wirkungen siehe Elmar Wadle, Der Ewige Landfriede von 1495 und das Ende der mittelalterlichen Friedensbewegung, in: Claudia Helm/Jost Hausmann (Hrsg.), 1495. Kaiser, Reich, Reformen. Der Reichstag zu Worms. Koblenz 1995, S. 71 – 80, sowie Mattias G. Fischer, Reichsreform und „Ewiger Landfrieden“. Über die Entwicklung des Fehderechts im 15. Jahrhundert bis zum absoluten Fehdeverbot von 1495. Aalen 2007 (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, NF., Bd. 34). Bereits seit der Mitte des 15. Jahrhunderts gab es reichsweite Bestrebungen, die Fehde zu verbieten. Dazu Eberhard Isenmann, Weshalb wurde die Fehde im römisch-­deutschen Reich seit 1467 reichsgesetzlich verboten? Der Diskurs über Fehde, Friede und Gewaltmonopol im 15. Jahrhundert, in: Julia Eulenstein/Christine Reinle/Michael Rothmann (Hrsg.), Fehdeführung im spätmittelalterlichen Reich. Zwischen adeliger Handlungslogik und territorialer Verdichtung. Affalterbach 2013 (Studien und Texte zur Geistes- und Sozialgeschichte des Mittelalters, Bd. 7), S. 335 – 474. 2 Verein für mecklenburgische Geschichte und Altertumskunde (Hrsg.), Mecklenburgisches Urkundenbuch, 25 Bände. Schwerin 1863 – 1936, hier Bd. 6, Nr. 4009: We ne scolen vns nummer sonen, vreden oder daghen, we ne don dat mit vnser ome willen, der greuen van Zwerin. Zur Verwandtschaftsbeziehung zwischen den Herren von Werle und den Grafen von Schwerin siehe bereits Georg Christian Friedrich Lisch, Über die Verbindungen des fürstlichen Hauses Werle mit dem herzoglichen Hause Braunschweig-­Lüneburg, in: Jahrbücher

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sich diese Formulierung so oder ähnlich in diplomatischen Quellen nicht nur im Großraum Mecklenburg nachweisen.3 Doch was meinten die Zeitgenossen, wenn sie davon schrieben, man hätte daghen? Die Formulierung findet sich vor allem im Themenkreis der politischen Kommunikation in den entstehenden Landesherrschaften. Dabei steht einer Fülle der Überlieferung in den Quellen des norddeutschen Raumes vom beginnenden 14. Jahrhundert an ein weitgehendes Desinteresse der Forschung gegenüber. In den zumeist als Fehde ausgetragenen Konflikten zwischen Adeligen des Spätmittelalters findet sich immer wieder die Formulierung, man habe sich zu einer Tagfahrt getroffen. Bei diesen Treffen versuchten die Konfliktparteien, eine weitere Eskalation der Fehdeaktivitäten zu verhindern – und damit auch alle wirtschaftlichen Folgen einer Fehde. Konnten die Gegner auf einer Tagfahrt nicht erfolgreich das Ende ihrer Fehde herbeiführen, hatten sie vielfältige Möglichkeiten, doch noch den gerichtlichen Weg zu suchen, ein Schiedsgremium anzurufen oder ihre Fehde weiterzuführen. Da sich Tagfahrten zumeist nicht in historiographischen Quellen finden, sondern zumeist in diplomatischem Schriftgut, sind sie ein Ausdruck politischer Kommunikation. Damit ließen sie sich außerdem der nach Peter Moraw zunehmenden Verdichtung der Territorien, wie auch andererseits dem ebenso umfangreichen Thema des Fehdewesens zuordnen, da sie sich mit Ingeborg Most im Lauf des 15. Jahrhunderts zu einem Mittel der Technik fürstlicher Politik entwickelten.4 Bezogen auf die Führung und Beilegung von Konflikten, des Vereins für Mecklenburgische Geschichte und Altertumskunde 18 (1853), S. 189 – 223 (hier S. 193). 3 Für weitere Beispiele siehe etwa Mecklenburgisches Urkundenbuch (wie Anm. 2), Bd. 6, Nr. 3764, Nr. 4035 und Nr. 4114. 4 Peter Moraw, Von offener Verfassung zu gestalteter Verdichtung. Das Reich im späten Mittelalter 1250 – 1490. Berlin 1985. Zu den Instrumenten fürstlicher Politik im Spätmittelalter siehe auch Ingeborg Most, Schiedsgericht, Rechtlicheres Rechtgebot, Ordentliches Gericht, Kammergericht. Zur Technik fürstlicher Politik im 15. Jahrhundert, in: Herausgeber der Deutschen Reichstagsakten (Hrsg.), Aus Reichstagen des 15. und 16. Jahrhunderts. Göttingen 1958, S. 116 – 153. Zu Fehden im Norden des Reichs sei verwiesen auf Ulrich Andermann, Ritterliche Gewalt und bürgerliche Selbstbestimmung. Untersuchungen zur Kriminalisierung und Bekämpfung spätmittelalterlichen Raubrittertums am Beispiel norddeutscher Hansestädte. Frankfurt a. M. 1991 (Rechtshistorische Reihe, Bd. 91). Der Norden ist im Sammelband von Eulenstein/Reinle/Rothmann (Hrsg.), Fehdeführung im spätmittelalterlichen Reich (wie Anm. 1), nicht berücksichtigt. Für Schleswig und Holstein in der Frühen Neuzeit Mikkel Leth Jespersen, Die Fehdekultur in den Herzogtümern Schleswig und Holstein am Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-­Holsteinische Geschichte 134 (2009), S. 17 – 57; Christine Reinle (Hrsg.), Stand und Perspektiven der Sozial- und Verfassungsgeschichte zum römisch-­deutschen Reich. Der Forschungseinfluss Peter Moraws auf die deutsche Mediävistik. Affalterbach 2016 (Studien und Texte zur Geistes- und Sozialgeschichte des Mittelalters, Bd. 10).

Streitschlichtung ohne Gericht?

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insbesondere Fehden, bildet der Zeitrahmen von 1380 und 1480 also ein langes 15. Jahrhundert, denn die Mittel, mit denen die Fehdeführer, Adelige und auch Städte, gegeneinander vorgingen, glichen sich in dieser Zeit stark. Sie veränderten sich nur marginal. Viehraub, Brandschatzung oder tatsächliche Zerstörung durch Abbrennen sowie das Wegnehmen von Besitz oder Menschen als Geiselnahme zur Erpressung von Lösegeld sind die einschlägigen Stichwörter.5 Dessen ungeachtet ergab sich innerhalb der vielfältigen Gerichtslandschaft(en) des Heiligen Römischen Reichs immer wieder die Möglichkeit, Konflikte parallel zu Gerichtsprozessen auch außergerichtlich beizulegen. Im Hanseraum des 14. und 15. Jahrhunderts lassen sich zahlreiche Treffen sowohl zwischen städtischen Abgesandten als auch zwischen Städten und Adeligen nachweisen, die die Zeitgenossen des späten Mittelalters als Tagfahrten zu bezeichnen pflegten. Sie dienten der möglichst gütlichen Streitschlichtung ohne Gerichtsentscheidung.6 Anhand von Beispielen aus dem Norden des Reichs möchte das Folgende diese Form der Infrajustiz thematisieren. Einem Blick auf die Forschungsgeschichte (1) folgen mehrere Beispiele, um dabei nach der Relevanz der außergerichtlich-­gütlichen Lösungsmöglichkeiten für die Konfliktparteien zu fragen (2). Anschließend fragt der Beitrag danach, wie unter Berücksichtigung der Quellensprache sowie der zunehmend professionalisierten Ausbildung der mit Recht befassten Personen mögliche Bezüge zwischen Reich und Region aussahen, da auch in den jüngsten Forschungen immer wieder von einer angeblichen Reichsferne des Nordens zu lesen ist (3).7

5 Dazu nun Michael Jucker, Rauben, Plündern, Brandschatzen. Kriegs- und Fehdepraxis im Spannungsfeld von Recht, Ökonomie und Symbolik, in: Eulenstein/Reinle/Rothmann (Hrsg.), Fehdeführung im spätmittelalterlichen Reich (wie Anm. 1), S. 261 – 284, sowie Jan Rüdiger, Eine Geschichte mittelalterlichen Nehmens. Zur Einführung, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 65 (2014), S. 525 – 539. 6 Siehe die Arbeitsdefinition von Florian Dirks, Konfliktaustragung im norddeutschen Raum des 14. und 15. Jahrhunderts. Untersuchungen zu Fehdewesen und Tagfahrt. Göttingen 2015 (Nova Mediaevalia. Quellen und Studien zum europäischen Mittelalter, Bd. 14), S. 82. 7 In der Forschung zur Frühen Neuzeit geriet dieses Diktum bereits eher in die Kritik. Siehe dazu Michael North, Reich und Reichstag im 16. Jahrhundert. Der Blick aus der angeblichen Reichsferne, in: Maximilian Lanzinner/Arno Strohmeyer (Hrsg.), Der Reichstag (1486 – 1613). Kommunikation – Wahrnehmung – Öffentlichkeiten. Göttingen 2006 (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 73), S. 221 – 236; verwiesen sei zudem auf Johannes Ludwig Schipmann, Hanse und Reich im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Wie kaiserfern war die Hanse wirklich?, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 145/146 (2009/2010), S. 95 – 111.

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1. Forschungsgeschichte Die Mechanismen der Konfliktlösung waren in den letzten rund 20 Jahren ein maßgeblicher Gegenstand der Mittelalterforschung.8 Vor allem interessierten Formen möglicher symbolischer Handlungen im frühen und hohen Mittelalter. Dabei habe bei der Beilegung von Konflikten zwischen Adeligen die symbolische Kommunikation vorgeherrscht.9 Im Bereich der Konfliktlösung hätten nach Hermann Kamp allen voran hoch angesehene Vermittlerpersönlichkeiten wie Erzbischöfe und hochrangige Adelige benachbarter Herrschaftsgebiete die Funktion eines Streitschlichters übernommen. Kamp verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass Ausgleichsverhandlungen unter Vermittlung von „mindermächtigen“ Persönlichkeiten, die einer Schlichtung eines Konfliktes vorangegangen waren, nur in seltenen Fällen überliefert seien. Allenfalls hätten sich Streitigkeiten auf höchster Ebene erhalten. Daneben stellt Kamp heraus, die Schiedsgerichtsbarkeit habe „nicht allenthalben die Vermittlung in ihren Schatten“ gestellt, und macht so einen vielleicht nicht intendierten Gegensatz von Vermittlung und Schiedsgerichtsbarkeit auf.10 Neben die symbolische Kommunikation stellen viele jüngere Studien der Mittelalterforschung die politische Kommunikation. Sie sei weitgehend ohne symbolische Anteile ausgekommen. Mit der politischen Kommunikation nimmt die Forschung stattdessen eher den „operativen Vollzug politischen Handelns“ in den Blick.11 Zwar ist auch die ritualisierte Unterwerfung ein operativer Voll 8 Siehe den Überblick bei Steffen Patzold, Konflikte als Thema in der modernen Mediävistik, in: Hans-­Werner Goetz (Hrsg.), Moderne Mediävistik. Stand und Perspektiven der Mittelalterforschung. Darmstadt 1999, S. 198 – 205. Für den spätmittelalterlichen Nordwesten siehe Friedhelm Biermann, Der Weserraum im hohen und späten Mittelalter. Adelsherrschaften zwischen welfischer Hausmacht und geistlichen Territorien. Gütersloh 2006 (Veröffentlichungen des Instituts für Historische Landesforschung der Universität Göttingen, Bd. 49), S. 328 – 345; Dirks, Konfliktaustragung (wie Anm. 6), S. 21 – 67. 9 Statt vieler siehe Gerd Althoff, Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft im Mittelalter. 2. Aufl. Darmstadt 2013. Für das späte Mittelalter sind diese Thesen bislang kaum überprüft worden. 10 Hermann Kamp, Friedensstifter und Vermittler im Mittelalter. Darmstadt 2001 (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne), besonders S. 241 – 252. Dazu auch Dirks, Konfliktaustragung (wie Anm. 6), S. 39 – 43. 11 Uwe Goppold, Politische Kommunikation in den Städten der Vormoderne. Zürich und Münster im Vergleich. Köln/Weimar/Wien 2007 (Städteforschung Reihe A, Darstellungen, Bd. 74), S. 22 – 39. Zum Begriff grundlegend Luise Schorn-­Schütte, Politische Kommunikation als Forschungsfeld. Einleitende Bemerkungen, in: Angela de Benedictis (Hrsg.), Die Sprache des Politischen in actu. Zum Verhältnis von politischem Handeln und politischer Sprache von der Antike bis ins 20. Jahrhundert. Göttingen 2009 (Schriften zur politischen Kommunikation, Bd. 1), S. 7 – 18.

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zug politischen Handelns, doch die Blickrichtung des Konzepts einer politischen Kommunikation zielt eher auf Texte ab, die als Produkt aus dem operativen Vollzug politischen Handelns verstanden werden. Eine Form dieser politischen Kommunikation zeigt sich in dem politischen Tagungswesen des 14. und 15. Jahrhunderts mit seinen vielfältigen Varianten.12 Dabei hat die Forschung besonders die mit den Arbeitsbegriffen Reichstag und Tagsatzung versehenen Zusammenkünfte intensiv betrachtet und diese Begriffe in jüngerer Zeit kritisiert.13 Auch die groß angelegten Hansetage wurden in jüngeren Arbeiten kritisch untersucht. Dabei interessierten besonders die Beziehungen der Ratssendeboten als Teilnehmer- und Trägergruppe der Hansetage.14 Facetten des politischen Tagungswesens auf regionaler Ebene, also unterhalb der groß angelegten Hansetage, lassen sich bei der Betrachtung von Konflikten des Spätmittelalters feststellen. Besonders treten sie bei Fehden des Zeitraums von etwa 1380 bis 1480 im Gebiet der norddeutschen weltlichen und geistlichen Herrschaftsgebilde des Erzstifts Bremen und des Herzogtums Braunschweig-­Lüneburg auf. Hier stellten die Streitparteien oft Versuche an, sich außergerichtlich zu einigen. Sie trafen sich, vielfach auch nicht allein, sondern mit Dritten, auf sogenannten Tagfahrten. Über diese Treffen war in der Forschung jedoch bislang sehr wenig bekannt, auch wenn sich bei Elsbet Orth und Thomas Vogel Erkenntnisse zur Funktionsweise dieser Treffen in der Konfliktpraxis der Reichsstädte Frankfurt am Main und Nürnberg als sogenannte gütliche Tage finden.15 Gütliche Tage seien zumeist nur durch vermittelnde Dritte zustande gekommen, die wechselseitig die Streitenden aufgesucht hätten, um ein Treffen zu verabreden.16 Die Forschungs 12 Gabriele Annas, Hoftag – Gemeiner Tag – Reichstag. Studien zur strukturellen Entwicklung deutscher Reichsversammlungen des späten Mittelalters (1349 – 1472), 2 Bde. Köln 2004 (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 68). 13 Annas, Hoftag (wie Anm. 12); Tamara Münger, Hanse und Eidgenossenschaft. Zwei mittelalterliche Gemeinschaften im Vergleich, in: Hansische Geschichtsblätter 119 (2001), S. 5 – 48; Joachim Deeters, Reichs- und Hansetag. Eine vergleichende Betrachtung, in: Hansische Geschichtsblätter 129 (2011), S. 137 – 152. 14 Siehe die Beiträge im Band Volker Henn (Hrsg.), Die hansischen Tagfahrten zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Trier 2001 (Hansische Studien, Bd. 11), sowie Dietrich W. Poeck, Die Herren der Hanse. Delegierte und Netzwerke. Frankfurt a. M. u. a. 2010 (Kieler Werkstücke. Reihe E. Beiträge zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Bd. 8). 15 Dazu nun Dirks, Konfliktaustragung (wie Anm. 6), siehe insbesondere die Tabelle im Anhang, S. 273 – 279, mit den fassbaren Tagfahrten des askanischen Herzogsanwärters Albrecht im Lüneburger Erbfolgestreit. 16 Elsbet Orth, Die Fehden der Reichsstadt Frankfurt am Main im Spätmittelalter. Fehderecht und Fehdepraxis im 14. und 15. Jahrhundert. Wiesbaden 1973 (Frankfurter historische Abhandlungen, Bd. 6), hier besonders S. 15 – 26; Thomas Vogel, Fehderecht und

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geschichte der Streitschlichtung ohne Gericht ist also, vor allem für den Norden des römisch-­deutschen Reiches, nicht besonders lang, auch wenn sie hier nicht in aller Ausführlichkeit dargestellt werden kann.17 Zudem machten sich die zahlreichen Städte des Hanseraums sowie die Landesherren die jeweilige Deutungshoheit zu eigen. Regelmäßig sprachen die Zeitgenossen ihren Gegnern die Legitimation zum Führen einer Fehde ab.18 Letztlich ist, wiederum forschungsseitig, der Begriff der Fehde strittig.19

2. Die Relevanz alternativer Konfliktlösungen. Zum Verhältnis zwischen ordentlicher Gerichtsbarkeit und Tagfahrten Wie wohl auf dem ganzen Gebiet des Alten Reichs haben wir es auch im Hanseraum mit einer „ständige[n] Überlappung verschiedener Gerichtskreise“ zu tun.20 Dabei taucht die Hanse in den Quellen zur höchsten Gerichtsbarkeit vor dem Jahr 1495 als Partei nicht auf, wie Peter Oestmann in einem Aufsatz herausgearbeitet hat.21 Das Folgende beleuchtet Konflikte, die die Zeitgenossen weitestgehend außergerichtlich oder vor einem Schiedsgremium zu lösen suchten. Die Fallbeispiele entstammen dem Hanseraum, der in der Forschung zu spätmittelalterlichen Konflikten bislang eher unterrepräsentiert ist. Der Hanseraum kann allerdings nicht als politische Einheit zu verstehen sein, denn das Hansische war eben keine Ausformung hierarchischer Strukturen nach dem Vorbild der sich zu Territorien

Fehdepraxis im Spätmittelalter am Beispiel der Reichsstadt Nürnberg (1404 – 1438). Frankfurt a. M. 1998 (Freiburger Beiträge zur mittelalterlichen Geschichte. Studien und Texte, Bd. 11), S. 96, 230 – 238. 17 Dazu sei verwiesen auf Dirks, Konfliktaustragung (wie Anm. 6), S. 21 – 67. 18 Christine Reinle, Legitimation und Delegitimierung von Fehden in juristischen und theologischen Diskursen des Spätmittelalters, in: Gisela Naegle (Hrsg.), Frieden schaffen und sich verteidigen im Spätmittelalter. München 2012 (Pariser Historische Studien, Bd. 98), S. 83 – 120; Andermann, Ritterliche Gewalt (wie Anm. 4). 19 Christine Reinle, Einleitung, in: Eulenstein/Reinle/Rothmann (Hrsg.), Fehdeführung im spätmittelalterlichen Reich (wie Anm. 1), S. 9 – 24 (hier S. 12). 20 Peter Oestmann, Prozesse aus Hansestädten vor dem Königs- und Hofgericht in der Zeit vor 1400, in: Zeitschrift der Savigny-­Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung (künftig: ZRG GA) 128 (2011), S. 114 – 168 (hier S. 115). 21 Ebd., S. 124. Ihm ist zuzustimmen, dass man zwischen den Fällen, in denen die Städte mit ihren Bürgermeistern oder dem Rat als Partei auftreten, und solchen, in denen einzelne Kaufleute einen Prozess anstrengten, differenzieren sollte. Oestmann fragt dann nach der grundsätzlichen Parteifähigkeit der Hanse als Organisation, was hier nicht weiterverfolgt sei.

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entwickelnden Landesherrschaften.22 Das Hansische ist eher in der Zusammengehörigkeit der Kaufleute zu suchen, die auf Kooperation angewiesen waren, um ihre Interessen gegenüber mächtigen Herrschaftsträgern zu behaupten.23 In der Hanseforschung als historisch belegter „running gag“ geläufig, fragte sich bereits der englische König im 14. Jahrhundert, was denn das Wesen dieser Hanse sei, und bekam die bildhafte Beschreibung zur Antwort, es seien wie bei einem Krokodil im Wasser nur geringe Teile sichtbar, ohne dass man wüsste, wer der Kopf und wie groß das Ganze sei.24 Daher kann es lediglich ein Ziel der folgenden Ausführungen sein, nur einen Ausschnitt des ‚großen Ganzen‘ zu betrachten und danach zu fragen, wie sich die Gerichtsverfassung in Territorien des nördlichen Reichs, die in jenem Hanseraum lagen, ausgestaltete. Die Konflikte, um die es geht, versahen sowohl die Zeitgenossen selbst als auch die Forschung zumeist mit dem Etikett der Fehde.25 Die Ursachen dieser Fehden lagen meist im Verwehren vertraglich zugesicherter Rückzahlungen einmal gewährter Gelder.26 Am Beispiel des Erzstifts Bremen und des Herzogtums Braunschweig-­ Lüneburg lassen sich einige der Fragen zumindest in Ansätzen beleuchten. 22 Volker Henn, Kommunikative Beziehungen und binnenhansisches Raumgefüge, in: Rolf Hammel-­Kiesow (Hrsg.), Vergleichende Ansätze in der hansischen Geschichtsforschung. Trier 2002 (Hansische Studien, Bd. 13), S. 33 – 42; ders., Innerhansische Kommunikationsund Raumstrukturen. Umrisse einer neuen Forschungsaufgabe?, in: ders./Franz Irsigler/ Helga Irsigler/Rolf Häfele (Hrsg.), Aus rheinischer, westfälischer und hansischer Geschichte. Trier 2009, S. 233 – 244. 23 Carsten Jahnke, Die Hanse. Überlegungen zur Entwicklung des Hansebegriffes und der Hanse als Institution resp. Organisation, in: Hansische Geschichtsblätter 131 (2013), S. 1 – 32; ders., Die Hanse am Beginn des 15. Jahrhunderts. Versuch einer Beschreibung, in: Michael Hundt/Jan Lokers (Hrsg.), Hanse und Stadt. Akteure, Strukturen und Entwicklungen im regionalen und europäischen Raum. Festschrift für Rolf Hammel-­Kiesow zum 65. Geburtstag. Lübeck 2014 (Einzelveröffentlichungen des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde), S. 15 – 27. 24 Carsten Jahnke, Die Hanse. Stuttgart 2014, S. 11. 25 Reinle, Legitimation und Delegitimierung (wie Anm. 18); zu dezidiert norddeutschen Quellen städtischer Herkunft siehe Andermann, Ritterliche Gewalt (wie Anm. 4). 26 Dies führt hinein in die Diskussion nicht nur städtischer Pfandburgen oder des politischen Verhaltens von Städten gegenüber ihrem Umland, sondern allgemein in eine Diskussion der (spät-)mittelalterlichen Finanzpraxis von Adel und Stadt sowie zu adeligen Handlungsspielräumen. Siehe Reinhard Gresky, Die Finanzen der Welfen im 13. und 14. Jahrhundert. Hildesheim 1984 (Veröffentlichungen des Instituts für Historische Landesforschung der Universität Göttingen, Bd. 22). Die Beschäftigung mit Pfandburgen im Umland von Städten reicht einige Zeit zurück, siehe Hans-­Joachim Behr, Die Pfandschloßpolitik der Stadt Lüneburg im 15. und 16. Jahrhundert. Lüneburg 1964; Manfred Wilmanns, Die Landgebietspolitik der Stadt Bremen um 1400 unter besonderer Berücksichtigung der Burgenpolitik des Rates im Erzstift und in Friesland. Göttingen 1973 (Veröffentlichungen des

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Im Erzstift Bremen beeinflussten, vor allem im Lauf des 14. Jahrhunderts, die Beziehungen zwischen dem Erzbischof, dem Domkapitel, den Städten und der Ritterschaft ganz eindeutig die Gerichtsvielfalt. Der Rat der Stadt Bremen ging dazu über, immer mehr eigenmächtige Autorität auszustrahlen und diese auch mit den Gerichtsinstanzen durchzusetzen. So konnte der Rat Teile der Ritterschaft durch die Beilegung von Konflikten mittels Urfehden an sich binden.27 Die Erzbischöfe versuchten, in Gerichtsfragen ihre Stellung als Metropolit und Landesherr zu wahren, war doch eine Forderung auf den ab 1397 in mehr oder weniger loser Folge stattfindenden sogenannten Landtagen in Basdahl, die Teile des Stifts, die späterhin die Stände bilden sollten, dürften das erzbischöfliche Gericht nicht missachten und sollten auch bei Fehden immer zuerst vor den Erzstuhl treten.28 Zumindest in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts sollte dies verstärkt in den Landtagsabschieden auftauchen, was gleichwohl noch nichts über die Praxis verrät. Besonders ist hier vor allem die Beschränkung des Erzbischofs auf seine Funktion als Richter.29 Der Landesherr im Erzstift Bremen war also zumeist direkt bei Instituts für Historische Landesforschung der Universität Göttingen, Bd. 6); Oliver Auge, Handlungsspielräume fürstlicher Politik im Mittelalter. Der südliche Ostseeraum von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis in die frühe Reformationszeit. Ostfildern 2009 (Mittelalter-­ Forschungen, Bd. 28), S. 8, sieht in den Finanzen eine von fünf Kategorien fürstlichen Handelns. 27 Diedrich R. Ehmck (Hrsg.), Bremisches Urkundenbuch, Bd. 3. Bremen 1880, ND 1980, Nr. 570. Ähnliches ist bereits für den Beginn des 14. Jahrhunderts im Mecklenburgischen zu beobachten. 28 Zu den Landtagen des Erzstiftes Bremen siehe Elfriede Bachmann, Tagungsorte der Landstände im Erzstift und späteren Herzogtum Bremen, in: Stader Jahrbuch 86 (1996), S. 83 – 130; Heinrich Schmidt, Landfrieden und Landstände im Erzstift Bremen im Jahre 1397, in: Stader Jahrbuch 87/88 (1997/98), S. 37 – 51; die Landtagsabschiede sind ediert bei Arend Mindermann (Bearb.), Die Landtagsabschiede des Erzstifts Bremen und des Hochstifts Verden. Hannover 2008 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen, Bd. 244, Schriftenreihe des Landschaftsverbandes der Ehemaligen Herzogtümer Bremen und Verden, Bd. 30). Ob und inwiefern es sich dabei um Versuche einer Territorialisierung handelte, steht noch aus. Siehe jedoch Konrad Elmshäuser, Der werdende Territorialstaat der Erzbischöfe von Bremen (1236 – 1511), in: Hans-­Eckhard Dannenberg/Heinz-­Joachim Schulze (Hrsg.), Geschichte des Landes zwischen Elbe und Weser, Teilbd. 2. Stade 1995 (Schriftenreihe des Landschaftsverbandes der ehemaligen Herzogtümer Bremen und Verden, Bd. 8), S. 159 – 262; siehe auch Otto Merker, Die Ritterschaft des Erzstifts Bremen im Spätmittelalter. Herrschaft und politische Stellung als Landstand 1300 – 1500. Stade 1962 (Einzelschriften des Stader Geschichts- und Heimatvereins, Bd. 16), eine der zahlreichen durch Otto Brunner angeregten Studien, in denen dessen Thesen zu Land und Herrschaft für die nordwestdeutschen Gebiete überprüft werden sollten. 29 Siehe zum Beispiel den Landtag vom Oktober 1437, auf dem beschlossen wurde, gegen jeden vorzugehen, der ohne vorherige Klage vor dem Erzbischof eine Fehde im Erzstift beginne. Mindermann (Bearb.), Die Landtagsabschiede des Erzstifts Bremen (wie Anm. 28), Bre-

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Gerichtsprozessen beteiligt, oft ohne sich an externe gelehrte Juristen zu wenden. Gerade unter dem promovierten Erzbischof Balduin von Wenden erlebte das Erzstift eine Belebung und Festschreibung des Gewohnheitsrechts, das in den Landtagsabschieden in weiterhin geltendes Recht anhand der jeweilig vorgebrachten Streitfälle eingesetzt wurde.30 Die Erzbischöfe von Bremen waren auch eine gern in Anspruch genommene Schlichtungsinstanz, vor allem in Fehden zwischen den Grafen von Hoya und der Stadt Bremen, die sich wiederholt das ganze 14. Jahrhundert hindurch und bis in das 15. Jahrhundert hinein um die Rückgabe gräflicher Eigenleute stritten, die sich für ein Leben in der Stadt interessierten und diesem Interesse nachgegangen waren.31 Auch die Streitigkeiten der Stadt Bremen mit dem Grafen Gerhard von Oldenburg fallen in die Kategorie Fehde, die außergerichtlich beigelegt werden sollte.32 Am Ende stand auch hier ein Schiedsverfahren. Der Weg dahin war allerdings eher mühsam, wie die erhalten gebliebenen Schreiben zeigen. Mehrfach hatmen Nr. 21: Haldt Jemandt Veide int Land, unvorclaget vor dem Ertzbischop, tegen den willet se alle dohen mit live und gude. Siehe dazu auch Dirks, Konfliktaustragung (wie Anm. 6), S. 247 – 253. 30 Arend Mindermann, Einleitung, in: ders. (Bearb.), Die Landtagsabschiede des Erzstifts Bremen (wie Anm. 28). Zudem waren die Bremer Erzbischöfe selbst mit guter Rechtskenntnis ausgestattet, konnten sie doch zumindest über einschlägige Bücher verfügen. Dazu auch Hiram Kümper, „… als dat utwiset unser lantrecht“. Ein bremisch-­hoyaischer Rechtsstreit, ein welfischer Erzbischof und neue Fragen an die Bilderhandschriften, in: ders./Michaela Pastors (Hrsg.), Florilegium. Bochumer Arbeiten zur mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Geschichte. Eitorf 2006 (Schriften des Studentischen Arbeitskreises Mittelalter der Ruhr-­Universität Bochum, Bd. 2), S. 166 – 186. 31 Zum Verhältnis zwischen Bremen und Hoya siehe Wilmanns, Die Landgebietspolitik (wie Anm. 26); Bernd Ulrich Hucker, Die Grafen von Hoya. Ihre Geschichte in Lebensbildern. Hoya 1993 (Schriften des Instituts für Geschichte und Historische Landesforschung der Universität Vechta, Bd. 2); Gernot Erler, Das spätmittelalterliche Territorium Grafschaft Hoya (1202 – 1583). Göttingen 1972; Florian Dirks, Sühnen, tagen, Frieden schließen. Die Beilegung von Konflikten zwischen Weser und Elbe auf Tagfahrten 1380 – 1480, in: Ralf Lützelschwab (Hrsg.), Formen mittelalterlicher Kommunikation. Sommeruniversität des DHIP, 7.–10. Juli 2013, o. O. 2015 (discussions, Bd. 11), http://www.perspectivia. net/publikationen/discussions/11 – 2015/dirks_suehnen (abgerufen am 7. Februar 2017); André R. Köller, Entzauberung der Raubgrafen. Landesherren und Städte im Nordwesten des 15. Jahrhunderts, in: Sarah Neumann/Ines Weber/David Weiss (Hrsg.), Ad laudem et gloriam. Festschrift für Rudolf Holbach. Trier 2016, S. 313 – 341; siehe die entsprechenden Einträge in Historische Gesellschaft Bremen (Hrsg.), Bremer Bürgerbuch. 1289 – 1519, bearbeitet von Ulrich Weidinger. Bremen 2015 (Bremisches Jahrbuch. 2. Reihe, Bd. 4). 32 Franziska Nehring, Graf Gerhard der Mutige von Oldenburg und Delmenhorst (1430 – 1500). Frankfurt a. M. u. a. 2012 (Kieler Werkstücke. Reihe A. Beiträge zur schleswig-­ holsteinischen und skandinavischen Geschichte, Bd. 33); Dirks, Konfliktaustragung (wie Anm. 6), S. 157 – 177; Köller, Entzauberung der Raubgrafen (wie Anm. 31).

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ten die Ratssendeboten der Stadt Bremen versucht, die verbündeten Hansestädte zu animieren, mit ihnen gemeinsam gegen Gerhard zu ziehen und diesen militärisch in die Schranken zu weisen. Der Streit wurde, das war das gängige Verfahren, auf einem Hansetag beraten und durch den Konsens der vertretenen Städte an die Ratssendeboten Lüneburgs zur Klärung abgegeben. Diese luden im kleineren Kreis die Ratssendeboten der betroffenen Städte Bremen und Hamburg, die sich dann untereinander enger für das weitere Vorgehen abstimmten. Die Beilegung mündete in einem Schiedsverfahren, dessen Protokolle überliefert sind. In ihnen lassen sich das Verfahren und die zuvor unternommenen Schritte der beiden Streitparteien nachverfolgen.33 Fragt man also danach, welche Instanzen sich zwischen die Gerichte der Landesherren sowie der Städte und die Streitparteien schieben konnten, wird man in den Fürsten der angrenzenden Landesherrschaften fündig, ganz wie es Kamp für den Hochadel des beginnenden 14. Jahrhunderts herausgearbeitet hat – wobei auch er norddeutsche Beispiele nur ganz marginal behandelt. Sowohl der Erzbischof von Bremen als auch der Bischof von Verden sowie die Äbte der großen Klöster des Herzogtums Braunschweig-­Lüneburg als auch auf der weltlichen Seite die Herzöge von Lauenburg waren neben den Ratssendeboten der größeren Hansestädte die Instanzen, die Schiedsverfahren durchführen konnten und dies auch in großer Zahl taten. Gerade die Lüneburger Ratssendeboten sowie auch die Lauenburger Fürsten stechen für die Zeit des 15. Jahrhunderts aus der Masse hervor.34 Die Lauenburger suchten hierdurch ihre marginale Stellung in der sie umgebenden politischen Landschaft zu kompensieren – ganz im Gegenteil zu den Grafen von Hoya, die sich einen Machtzuwachs durch aktive politische sowie militärische Maßnahmen und Expertisen erhofften, um sich damit auf die große Bühne der Politik zwischen Nordsee und Weserbergland schwingen zu können.35 33 Dirks, Konfliktaustragung (wie Anm. 6), S. 157 – 177; zu den Protokollen auch ders., Sühnen (wie Anm. 31). Auch die Sicherheit spielte bei den Diskussionen zwischen den Beteiligten eine Rolle: Für die Verhandlungen mit der gräflichen Gegenseite suchte man einen Ort, der am Varrelgraben in einiger Entfernung zum Wartturm an der Nordwestgrenze des bremischen Gebietes gefunden wurde. Zuvor hatten die Ratssendeboten der Städte den Vorschlag des Grafen Gerhard, sich direkt am Turm zu treffen, abgelehnt. 34 Florian Dirks, Reisende Spezialisten in der Region. Die Lüneburger Ratssendeboten und die Beilegung von Konflikten auf Tagfahrten im 15. Jahrhundert, in: Lüneburger Blätter 35 (2016), S. 129 – 144; Poeck, Die Herren der Hanse (wie Anm. 14). 35 Zu den Herzögen von Sachsen-­Lauenburg siehe Franziska Hormuth, Fürstliche Politik im regionalen Machtbereich hansischer Städte. Die Herzöge von Sachsen-­Lauenburg, in: Oliver Auge (Hrsg.) Hansegeschichte als Regionalgeschichte. Beiträge einer internationalen und interdisziplinären Winterschule in Greifswald vom 20. bis 24. Februar 2012. Frankfurt a. M. 2012 (Kieler Werkstücke. Reihe A. Beiträge zur schleswig-­holsteinischen und skandinavischen Geschichte, Bd. 37), S. 255 – 270; zu Hoya: Hucker, Die Grafen von

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3. Reichsferner Norden versus Quellenbefund Vielfach ist in der landesgeschichtlichen Forschung seit Peter Moraw zu lesen, der Norden des Reichs sei eine reichsferne Zone gewesen, in der bis auf die Höhepunkte der Herrscherbesuche in den Reichsstädten Lübeck und Goslar der Kontakt zum Monarchen kaum vorhanden gewesen sei. Entsprechend autonom hätten sich die Landesherren und übrigen Fürsten und Herrschaftsträger verhalten und ihre eigenen Mechanismen der Wahrung und Durchsetzung ihrer Rechte entwickelt.36 Mit dem Wechsel des Monarchen zu König Ruprecht 1400 wandelte sich die Beziehung zwischen dem Oberhaupt und dem vermeintlich reichsfernen Norden. Unter Ruprecht „gerieten Streitigkeiten aus Hansestädten verstärkt ins Blickfeld der Reichsgerichtsbarkeit“.37 Diese Streitigkeiten umfassten insbesondere die zahlreichen innerstädtischen Konflikte, die in der Forschung gern als Bürgerunruhen angesprochen werden.38 Ob dies ein treffender Begriff ist, soll hier nicht weiter zur Diskussion gestellt werden, da hierüber zuletzt Bernd-­Ulrich Hergemöller in seiner handbuchartigen Übersicht Gedanken veröffentlicht hat.39 Zum Thema der möglichen Reichsferne des Nordens hat vor nicht allzu langer Zeit Arend Mindermann Argumente in die Diskussion um eine Anbindung des Nordens an das Reich sowie an den Papst eingebracht. Mindermanns Ergebnisse lassen sich außerdem an die Seite der Überlegungen Oestmanns stellen. Mindermann stellte fest, dass die Stadt Lüneburg um 1400 schlaglichtartig auf mehrfache Weise die Ebene von Reich und Papsttum betreten hatte, nachdem er im Zuge der Hoya (wie Anm. 31), sowie André R. Köller, Aufstieg der Grafen von Hoya, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 87 (2015), S. 61 – 107, mit anderer Zielsetzung. 36 Peter Moraw, Franken als königsnahe Landschaft im späten Mittelalter, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 112 (1976), S. 123 – 138, und ders., Hessen und das deutsche Königtum im späten Mittelalter, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 26 (1976), S. 43 – 95. Entsprechendes findet sich auch bei Bernhard Diestelkamp, Königsferne Regionen und Königsgerichtsbarkeit im 15. Jahrhundert, in: Gerhard Köbler/Hermann Nehlsen (Hrsg.), Wirkungen europäischer Rechtskultur. Festschrift für Karl Kroeschell zum 70. Geburtstag. München 1997, S. 151 – 162; siehe auch Martin Kaufhold, Deutsches Interregnum und europäische Politik. Konfliktlösungen und Entscheidungsstrukturen 1230 – 1280. Hannover 2000 (Monumenta Germaniae Historica Schriften, Bd. 49), S. 294 – 319, und Heinz Angermeier, Königtum und Landfriede im deutschen Spätmittelalter. München 1966, S. 33 – 37. 37 Oestmann, Prozesse (wie Anm. 20), S. 156. 38 So beispielsweise bei Klaus Brandstätter, Bürgerunruhen im mittelalterlichen Trient im Vergleich. 1407 – 1435 – 1463, in: Geschichte und Region 2,2 (1993), S. 9 – 61. 39 Bernd-­Ulrich Hergemöller, Uplop – Seditio. Innerstädtische Unruhen des 14. und 15. Jahrhunderts im engeren Reichsgebiet. Schematisierte vergleichende Konfliktanalyse. Hamburg 2012 (Studien zur Geschichtsforschung des Mittelalters, Bd. 28).

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Arbeiten am Urkundenbuch der Bischöfe von Verden die Quellen zu den Plänen für eine Verlegung des Bistums aus der Stadt Verden in die Salzstadt an der Ilmenau untersucht hatte.40 Die päpstliche Urkunde über die Verlegung des Reichsfürstensitzes, der das Bistum Verden zusätzlich war, von der Aller an die Ilmenau erwirkte Konrad III. Dieser habe über viele Jahre enge Verbindungen mit König Wenzel unterhalten, auch schon in der Zeit, bevor Wenzel König geworden war.41 Auch nachdem Konrad die Ernennung zum Bischof von Verden erhalten hatte, blieb er jedoch weiterhin am Hof Wenzels. Eigentlich müsste man in Bezug auf Konrad von Vechta eher andersherum nach seiner Anwesenheit im Bistum Verden fragen. Der Konnex zwischen dem Bistum Verden und dem Reich wird also nicht nur über den Status des Bischofs als Reichsfürst hergestellt, sondern auch über König Wenzel ermöglicht, der für fünf Jahre Markgraf von Brandenburg war (1373 – 1378).42 Damit unterstand ihm auch der östliche Teil der Diözese Verden, die einen Großteil des Herzogtums Braunschweig-­Lüneburg abdeckte. Weiterhin führten diese politischen Konstellationen hinein in die reichspolitische Seite des Lüneburger Erbfolgestreits.43 Neben den kirchenrechtlichen Aspekten um die Verlegung des Bistums Verden war Lüneburg bereits zuvor durch den sogenannten Erbfolgestreit in das Interessengebiet des Königs getreten, der über das weitere Schicksal des Herzogtums

40 Arend Mindermann, Das Bistum Lüneburg, am 19. Januar 1401 gegründet, am 13. April 1402 aufgehoben. Zur Geschichte der gescheiterten Verlegung des Bischofssitzes von Verden nach Lüneburg, in: Der Heidewanderer. Heimatbeilage der Allgemeinen Zeitung Uelzen 88/26 (30. Juni 2012); ders., Urkundenbuch der Bischöfe und des Domkapitels von Verden, bislang 3 Bde. Stade 2001 – 2012. 41 Mindermann, Das Bistum Lüneburg (wie Anm. 40). 42 Zu Wenzel siehe Ivan Hlavácek, Art. Wenzel (1378 – 1419), in: Werner Paravicini (Hrsg.), Höfe und Residenzen im spätmittelalterlichen Reich. Ein dynastisch-­topographisches Handbuch, 3 Bde. Stuttgart 2003 – 2007, hier Bd. 1, S. 315 – 318. Zu Verden siehe ­Thomas Vogtherr, Art. Verden (ecclesia Verdensis), in: Erwin Gatz (Hrsg.), Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches 1198 bis 1448. Ein biographisches Lexikon. Berlin 2001, S. 835. 43 Der Lüneburger Erbfolgestreit hat bislang keine Bearbeitung in Form einer modernen Monographie erfahren. Zuletzt befassten sich einige Aufsätze mit Phänomenen im Kontext dieses Erbschaftskonfliktes zwischen Welfen und Askaniern, darunter Heinrich Dormeier, Landesverwaltung während des Lüneburger Erbfolgekriegs. Die Vogteirechnung des Segeband Vos in Winsen an der Luhe (1381/1382), in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 83 (2011), S. 117 – 178. Die letzte Monographie von Michael Reinbold befasst sich mit den Resultaten der Schlichtungsbemühungen, der sogenannten Lüneburger Sate: Michael Reinbold, Die Lüneburger Sate. Ein Beitrag zur Verfassungsgeschichte Niedersachsens im späten Mittelalter. Hildesheim 1987 (Veröffentlichungen des Instituts für Historische Landesforschung der Universität Göttingen, Bd. 26).

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entschieden hatte.44 Die Eventualbelehnung der Askanier mündete bekanntlich in die Streitigkeiten mit den Welfen, an deren Ende die Machtbasis der Herzöge, die Lüneburg auf dem Kalkberg, aufgegeben und geschleift wurde. Die Stadt Lüneburg ging aus diesen Auseinandersetzungen zwar politisch gestärkt, finanziell allerdings äußerst geschwächt hervor. Die Herzöge verlagerten in der Folge ab 1378 ihre Residenz nach Celle, was dem askanischen Anwärter auf das Herzogtum zuzurechnen ist.45 Neben der beinahe schon allgegenwärtigen Reichsstadt Lübeck ist die Stadt Lüneburg also ein weiterer Konnex des Nordwestens zum Reich. Außer der vielleicht überraschend auftauchenden Stadt waren vor allem die Herzöge von Braunschweig-­ Lüneburg ein Bindeglied zwischen König und Region. Sie waren als Reichsfürsten oft in unmittelbarer Nähe des Königs anzutreffen und darüber hinaus auf vielfältige Weise mit den übrigen Fürstengeschlechtern verwandt.46 Zudem fällt in ihren Urkunden die sprachliche Ebene auf, mit der sie eine Verbindung zum Reich markierten. Die Herzöge bedienten sich in ihren offiziösen Dokumenten vielfach Ausdrücken, die eher dem mittelhochdeutschen Sprachgebrauch zuzurechnen waren, als dass sie im mittelniederdeutschen Sprachgebiet gebräuchlich gewesen wären.47 Auf den ersten Blick verwundert diese Feststellung. Hatten sie im Kontakt mit dem Königshof weitgehend mit mittelhochdeutscher Sprache zu tun, mussten sie 44 Gudrun Pischke, Art. Lüneburger Erbfolgekrieg, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 6. München 1993, Sp. 12 f. 45 Harm von Seggern, Die welfischen Residenzen im Spätmittelalter. Ein Überblick, in: Brigitte Streich (Hrsg.), Stadt – Land – Schloß. Celle als Residenz, Begleitband zur Ausstellung. Bielefeld 2000 (Celler Beiträge zur Landes- und Kulturgeschichte, Bd. 29), S. 11 – 33; Brigitte Streich, Celle als Residenz der Herzöge von Braunschweig-­Lüneburg, in: ebd., S. 57 – 86. 46 Dazu nun Frederieke Maria Schnack, Die Heiratspolitik der Welfen von 1235 bis zum Ausgang des Mittelalters. Frankfurt a. M./Bern/Wien 2016 (Kieler Werkstücke. Reihe A. Beiträge zur schleswig-­holsteinischen und skandinavischen Geschichte, Bd. 43). 47 Einer ähnlichen interdisziplinären Thematik, jedoch aus Mitteldeutschland, geht nach Rudolf Bentzinger, Mittelniederdeutsch und Mittelhochdeutsch in den Kanzleien Halberstadts, in: Ralf Plate (Hrsg.), Mittelhochdeutsch. Beiträge zur Überlieferung, Sprache und Literatur. Festschrift für Kurt Gärtner zum 75. Geburtstag. Berlin/Boston 2011, S. 295 – 304. Siehe für die Frühe Neuzeit auch Robert Peters, Die Rolle der Kanzleien beim Schreibsprachenwechsel vom Niederdeutschen zum (Früh‑)Neuhochdeutschen, in: Albrecht Greule/Jörg Meier/Arne Ziegler (Hrsg.), Kanzleisprachenforschung. Ein internationales Handbuch. Berlin/Boston 2012, S. 101 – 118; ders., Mittelniederdeutsche Schreibsprachen im Weserraum, in: Jahrbuch des Vereins für Niederdeutsche Sprachforschung 127 (2004), S. 23 – 44, sowie bereits Hans Teske, Das Eindringen der hochdeutschen Schriftsprache in Lüneburg. Halle (Saale) 1927, S. 83. Vgl. Dieter Möhn, Geschichte der neuniederdeutschen Mundarten, in: Gerhard Cordes/Dieter Möhn (Hrsg.), Handbuch zur niederdeutschen Sprach- und Literaturwissenschaft. Berlin 1983, S. 154 – 181 (hier S. 157).

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im Herzogtum weitestgehend mit Menschen kommunizieren, deren alltägliche Sprache, nicht zuletzt auch in ihrem Verwaltungsschriftgut, Mittelniederdeutsch war.48 Doch macht der Umstand, dass sie Reichsfürsten waren und deren Selbstverständnis bedienten, diesen Wortgebrauch durchaus plausibel. Ob dieser Befund aus den Quellen für den hier behandelten thematischen und zeitlichen Rahmen auch für andere Bereiche gelten kann, ist indessen fraglich.49 Es bleibt hier noch die Frage des Rechts zu berücksichtigen, sowohl im Hinblick auf das Auseinandergehen von Recht vor Gericht und einer mit Eigenmacht erzielten Beilegung von Streitigkeiten als auch im Hinblick auf den Faktor des gelehrten Rechts. Ab wann lässt sich im Nordwesten des Reichs ein Auseinandergehen von Recht vor Gericht und der eigenmächtigen Streitbeilegung beobachten? Karl Kroeschell ist es zu verdanken, das mittelalterliche Rechtsleben im heutigen Niedersachsen übersichtlich herausgearbeitet zu haben. In der singulären Form der Rechtsgeschichte eines heute bestehenden Bundeslandes werden Aussagen zu den hier thematisierten Fragen getroffen.50 Zunächst ist zur Eigenmacht in der Streitbeilegung zu bemerken, dass die allgemeine Rechtskenntnis in den Städten des heutigen Niedersachsens im Lauf des Spätmittelalters deutlich zunahm. Nicht nur die Stadtschreiber mussten für ihre Aufgaben, Rechtsvorgänge in die Stadtbücher einzutragen und darüber hinaus mit anderen Städten und Herrschaftsträgern bis hin zum König und Kaiser Kenntnisse in den geltenden Rechten haben, auch die in und mit den Städten lebenden Geistlichen mit ihren zumeist durch ein Studium in Italien erlangten kirchlichen Rechtskenntnissen wurden immer wichtiger. Insbesondere im 15. Jahrhundert kam es so zu einer gewissen Verflechtung der Rechtssphären, die zur Beilegung von Streitigkeiten auf der Ebene zwischen Herrschaftsträgern führte. Daher lassen sich für diese Zeit kaum scharfe Trennlinien ziehen. Bei den Grundlinien des eher eigenmächtig ausgeführten Beilegens von Streitigkeiten lassen sich aber einige grundlegende Entwicklungen ausmachen. Ohnehin gehörten Techniken, mit denen man sein Recht wiedererlangen oder herstellen konnte, zum gewohn 48 Die Stadtrechte waren mindestens seit dem sogenannten Ottonianum der Altstadt Braunschweig von 1227 in Mittelniederdeutsch abgefasst. Karl Kroeschell, recht unde unrecht der sassen. Rechtsgeschichte Niedersachsens. Göttingen 2005, S. 121. 49 Bislang liegt nach Kenntnisstand des Verfassers keine einschlägige Arbeit vor, die diese Fragen aufgreift und in diachronischer Herangehensweise anhand der überlieferten Quellen der Herzöge von Braunschweig-­Lüneburg überprüft. 50 Kroeschell, recht unde unrecht (wie Anm. 48), S. 7, bemerkt jedoch auch, dass sein Buch „die Verfassungsgeschichte weitgehend ausspart“. Dazu sei verwiesen auf Ernst Schubert, Geschichte Niedersachsens vom 9. bis zum ausgehenden 15. Jahrhundert, in: ders. (Hrsg.), Geschichte Niedersachsens, begründet von Hans Patze, Bd. 2, Teil 1: Politik, Verfassung, Wirtschaft vom 9. bis zum ausgehenden 15. Jahrhundert. Hannover 1997, S. 3 – 904.

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ten Programm landesherrlich-­fürstlichen Handelns, wie Ingeborg Most zeigte.51 Im heutigen Niedersachsen war es allerdings bereits im 14. Jahrhundert zu Kontakten zwischen Angehörigen des Adels und der städtischen Führungsgruppe und der Ausbildung in beiden Rechten gekommen. Eindrücklich zeigt dies der märkische Ritter und spätere Hofrichter Johann von Buch, der in Bologna studiert hatte und seine Kenntnisse im sogenannten Richtsteig Landrechts von 1335 sowie in der Buch’schen Glosse schriftlich festgehalten hat.52 Die dort beschriebene Praktik der „formelhaften Rede und Gegenrede“ lässt sich indessen durch mehrere Beispiele aus der Gerichtspraxis des Erzstifts Bremen belegen.53 Die am Ende des 14. Jahrhunderts eingeführten Landtage des Erzstifts Bremen sowie im Fürstentum Lüneburg lassen mehrere Beobachtungen zu dieser Frage zu, jedenfalls was die normative Forderung der Landesherren und die praktische Ausgestaltung betrifft. Dabei ist das Auseinanderdriften zwischen gerichtlichem Zwang und eigenmächtigen Aktionen, nicht nur der Adeligen, sondern auch der Städte, eine Beobachtung, die die Forschung vielfach diskutiert hat.54 Zudem sind die Bremer Erzbischöfe bereits früh hochgradig kompetent, was das kirchliche Recht sowie das Recht des Sachsenspiegels betrifft. Bereits Erzbischof Hartwig I. von Bremen besaß zwei Handschriften des um 1140 herum in Bologna entstandenen Decretum Gratiani, die er 1168 seiner Kirche vermachte.55 Ein weiterer Faktor ist der des gelehrten Rechts. Mit der zunehmenden Verbreitung des gelehrten Rechts im gesamten Reich fand es seinen Weg auch in den Norden.56 Über die Ausbildungswege der Rechtsgelehrten und ihre Kontakte untereinander konnte im Lauf des 15. Jahrhunderts ebenfalls eine Verbindung zwischen der nördlichen Region des Reichs und dem Hof hergestellt 51 Most, Schiedsgericht (wie Anm. 4). 52 Kroeschell, recht unde unrecht (wie Anm. 48), S. 102 – 106. 53 Dazu Dirks, Konfliktaustragung (wie Anm. 6), S. 245, und ders., Sühnen (wie Anm. 31), mit weiteren Nachweisen zur Fehde zwischen Bremen und Hoya in den 1350er Jahren. 54 Zusammenfassend Reinle, Einleitung (wie Anm. 19). 55 Kroeschell, recht unde unrecht (wie Anm. 48), S. 139 f. Heute ist nur eine der beiden Handschriften des Decretum Gratiani Hartwigs I. erhalten und wird in der Staats- und Universitätsbibliothek Bremen (msa 0142) aufbewahrt. Siehe auch Peter Landau, Die Anfänge der Verbreitung des klassischen kanonischen Rechts in Deutschland, in: ders., Kanones und Dekretalen. Beiträge zur Geschichte der Quellen des kanonischen Rechts. Goldbach 1997 (Bibliotheca eruditorum, Bd. 2), S. 411 – 436. 56 Klaus Wriedt, Das gelehrte Personal in der Verwaltung und Diplomatie der Hansestädte, in: Hansische Geschichtsblätter 96 (1978), S. 15 – 37; Ingrid Männl, Die gelehrten Juristen im Dienst der Territorialherren im Norden und Nordosten des Reiches von 1250 bis 1440, in: Rainer Christoph Schwinges (Hrsg.), Gelehrte im Reich. Zur Sozial- und Wirkungsgeschichte akademischer Eliten des 14. bis 16. Jahrhunderts. Berlin 1996 (Zeitschrift für historische Forschung, Beiheft 18), S. 269 – 290; Kroeschell, recht unde unrecht (wie Anm. 48), S. 148.

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werden.57 So kam nicht nur dem späteren Abt des Michaelisklosters in Lüneburg und Erzbischof von Bremen Balduin von Wenden 58 oder dem späteren Lüneburger Ratsherrn und Bürgermeister Johannes Lange59, sondern auch den gelehrten Räten des Adels eine gewichtige Rolle bei außergerichtlichen Streitbeilegungen zu. Die sächsischen Herzöge und der Erzbischof von Magdeburg entsandten ihre gelehrten Räte, die strittige Bischofswahl im Hildesheim der 1470er Jahre lösen zu helfen.60 Auch Graf Gerhard von Oldenburg und Delmenhorst beschäftigte Prokuratoren, die gegenüber Bremen und den übrigen involvierten Hansestädten seine Ansprüche zu vertreten hatten. Ihre Klageschriften folgen nun dem von Kroeschell beschriebenen Verfahren des gelehrten, schriftlichen Prozesses und weichen damit von den Schiedsprotokollen der Fehde zwischen Bremen und Hoya ab, die noch landrechtliche Rede und Gegenrede kannten. Auch die Antworten zur Verteidigung auf die Klageschriften des Rates und der Bürger Bremens reichten die Prokuratoren Gerhards von Oldenburg schriftlich ein, auf die zudem erneut geantwortet wurde. Diese Antwort vom Beginn des Monats April 1472 hefteten die Bremer an die zuvor erwähnte Klageschrift gegen Bischof Heinrich und die Stadt vom Februar desselben Jahres, beide in mittelniederdeutscher Sprache.61 Die Antwort Graf Gerhards wiederum enthält zur Beweisführung mehrere inserierte Abschriften älterer Quellen, wie zum Beispiel einen Bremischen Kaperbrief von 1471. Zudem berief sich Gerhard von Oldenburg auf eine vermeintlich bestehende Glosse zum Sachsenspiegel.62 57 Vgl. Kaufhold, Deutsches Interregnum (wie Anm. 36), S. 309 – 313. Vgl. die Diskussion um die Wege der Schiedsgerichtsbarkeit bei Dirks, Konfliktaustragung (wie Anm. 6), S. 43 – 52. 58 Kroeschell, recht unde unrecht (wie Anm. 48), S. 148; zu Balduin von Wenden auf Tagfahrten siehe Dirks, Konfliktaustragung (wie Anm. 6), S. 134, 143. 59 Kroeschell, recht unde unrecht (wie Anm. 48), S. 148. 60 Adolf Bertram, Geschichte des Bisthums Hildesheim, Bd. 1. Hildesheim 1899, S. 423 – 425; Dirks, Konfliktaustragung (wie Anm. 6), S. 196 – 222. 61 Oldenburger Verein für Altertumskunde und Landesgeschichte (Hrsg.)/Gustav Rüthning (Bearb.), Oldenburgisches Urkundenbuch, Bd. 2: Urkundenbuch der Grafschaft Oldenburg bis 1482. Oldenburg 1926, Nr. 990 und 991. Leider wird nicht klar, wer als Prokurator für den Grafen tätig war. Zum Verfahren allgemein siehe Kroeschell, recht unde unrecht (wie Anm. 48), S. 102 – 106 (Rede und Gegenrede) und S. 141 – 146 (schriftlicher Prozeß und Prokuratoren). Zu Hoya siehe oben. 62 Rüthning (Bearb.), Oldenburgisches Urkundenbuch, Bd. 2 (wie Anm. 61), Nr. 991, S. 425: en privilegium is unduchtich unde wird vorlecht, oft dat jemende schade wedder recht. Während bereits Rüthning, ebd., die Glosse nicht ausmachen konnte, ist möglich, dass es sich um eine dem sächsischen Recht entnommene sogenannte Kampfklage handelte, wie sie Schilling beschreibt. Karl Schilling, Das objektive Recht in der Sachsenspiegel-­Glosse. Berlin 1931 (Freiburger Rechtsgeschichtliche Abhandlungen, Bd. 2), S. 71, Anm. 4. Eine

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4. Zusammenfassung Die Beilegung von Konflikten im Hanseraum ist ein weites und vielschichtiges Forschungsfeld, bei dem man nicht zuletzt die Strukturen in den einzelnen sich zu Territorien entwickelnden Herrschaftsräumen beachten sollte. Fragt man nach Möglichkeiten, Streitfälle außergerichtlich beizulegen, wird man fündig. Viele als Tagfahrten bezeichnete Treffen sind überliefert, auf denen die Zeitgenossen des Spätmittelalters über eine möglichst gütliche Beilegung gesprochen haben. Dass dabei zum Teil, wie beispielsweise anhand des Erzstiftes Bremen gezeigt, das vom Landesherrn gewollte Recht in der Praxis nicht zur Umsetzung kam und damit das landesherrliche Gericht über- oder umgangen wurde, ist Ausdruck der dynamischen Eigenlogik der als Fehde geführten Konflikte zwischen Adeligen und Städten. Andererseits könnte in der außergerichtlichen Suche nach Frieden mittels der Praktik der Tagfahrt auch eine Strategie zur Reduktion entstandener Kosten zu sehen sein. In Gänze förderten sie die Kohäsion der Trägergruppen, von Adel und Bürgern. Ein Vergleich der herzoglichen Überlieferung aus Braunschweig-­Lüneburg mit der des Bistums Verden ließe weitere Schlüsse über die Gerichtslandschaft in der Region zwischen Weser und Elbe zu, steht jedoch noch aus. Leider können die Erzbischöfe von Bremen hier für das 15. Jahrhundert und den Übergang in die Reformationszeit aufgrund der schweren Archivverluste nur am Rand einbezogen werden oder Informationen müssen aus der Parallelüberlieferung gewonnen werden. Zumindest aus dem 17. Jahrhundert sind Angaben zur Gerichtspraxis im nun als Herzogtum Bremen angesprochenen ehemaligen Erzstift überliefert, in denen die oben und andernorts herausgearbeiteten Tagfahrten nach wie vor Anwendung fanden.63 Sie nahmen ihren Weg von der zeitweiligen Alternative zum Gerichtsprozess zur zunehmenden parallelen Praxis, sodann zur Notwendigkeit in einem Gerichtsverfahren, zur Bedingung für ein ordentliches Urteil, bevor sie in Teilen des Reiches zur Stärkung der Gerichte verboten wurden.64 Der sogenannte Ewige Reichslandfrieden von 1495 und die Institutionen der obersten Gerichtsbarkeit, das Reichskammergericht und der Reichshofrat, konnten die Fehde allerdings nie Suche in den MGH-Bänden zur Buch’schen Glosse lieferte kein dem Wortlaut entsprechendes Ergebnis. Siehe Frank-­Michael Kaufmann (Hrsg.), Glossen zum Sachsenspiegel-­ Landrecht. Buch’sche Glosse, Teil 1. Hannover 2002 (Monumenta Germaniae Historica. Leges, Bd. 7, Fontes Iuris Germanici Antiqui, Nova Series, Bd. 7,1), S. 357 – 362. 63 Hans-­Heinrich Jarck (Hrsg.), Urkundenbuch des Klosters Osterholz. Hildesheim 1982 (Bremer Urkundenbuch, Abteilung 8, Quellen und Untersuchungen zur Geschichte Niedersachsens im Mittelalter, Bd. 5), Nr. 465. 64 Thomas Winkelbauer, „Und sollen sich die Parteien gütlich miteinander vertragen“. Zur Behandlung von Streitigkeiten und von „Injurien“ vor den Patrimonialgerichten in Oberund Niederösterreich in der frühen Neuzeit, in: ZRG GA 109 (1992), S. 129 – 158.

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gänzlich abschaffen, auch wenn dies normativ vorgegeben war.65 Bis weit in das 16. Jahrhundert hinein kam es weiterhin zu Konflikten, die die Adeligen als Fehde führten, wie beispielsweise so bekannte Fälle wie die Fehde Franz von Sickingens gegen Trier, die Hildesheimer Stiftsfehde oder die Grumbachschen Händel.66 In Gebieten außerhalb des Reichs, für die der Ewige Landfriede keine Geltung hatte, sind Fehden durch die ganze Frühe Neuzeit hindurch bezeugt, insbesondere im Herzogtum Schleswig.67 Die Königreiche Ungarn und Polen kannten schlicht keine Fehde, brauchten somit auch keine Landfrieden, entwickelten aber dennoch ein umfassendes System außenpolitischer Verhandlungstätigkeit, insbesondere gegenüber dem Deutschen Orden.68

65 Isenmann, Weshalb wurde die Fehde (wie Anm. 1). 66 Wolfgang Breul, Sickingens Fehden, in: ders./Generaldirektion Kulturelles Erbe Rheinland-­ Pfalz (Hrsg.), Ritter! Tod! Teufel? Franz von Sickingen und die Reformation. Regensburg 2015, S. 59 – 68; Udo Stanelle, Die Hildesheimer Stiftsfehde in Berichten und Chroniken des 16. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur niedersächsischen Geschichtsschreibung. Hildesheim 1982 (Veröffentlichungen des Instituts für Historische Landesforschung der Universität Göttingen, Bd. 15); Volker Press, Wilhelm von Grumbach und die deutsche Adelskrise der 1560er Jahre, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 113 (1977), S. 396 – 431. 67 Jespersen, Die Fehdekultur (wie Anm. 4). 68 Daniel Bagí, Fehdeähnliche Privatkriege im östlichen Mitteleuropa im Mittelalter – Der Fall Ungarns, in: Eulenstein/Reinle/Rothmann (Hrsg.), Fehdeführung im spätmittelalterlichen Reich (wie Anm. 1), S. 303 – 311; zu Verhandlungen mit dem Deutschen Orden sei verwiesen auf Adam Szweda, Polen und der Deutsche Orden – Botenwesen und friedliche Verhandlungen, in: Werner Paravicini/Rimvydas Petrauskas/Grischa Vercamer (Hrsg.), Tannenberg – Grunwald – Zalgiris 1410. Krieg und Frieden im späten Mittelalter. Wiesbaden 2012 (Deutsches Historisches Institut Warschau, Bd. 26), S. 223 – 236, und Lenka Bobková, Die Verhandlungen zwischen Böhmen, Polen, dem Deutschen Orden und Ungarn in Trentschin und Visegrad im Jahre 1335, in: Stephan Flemming/Norbert Kersken (Hrsg.), Akteure mittelalterlicher Außenpolitik. Das Beispiel Ostmitteleuropas. Marburg 2017 (Tagungen zur Ostmitteleuropa-­Forschung, Bd. 35), S. 93 – 112. Für weitere Vergleichsperspektiven zu europäischen Regionen siehe Jeppe Büchert Netterstrøm (Hrsg.), Feud in Medieval and Early Modern Europe. Århus 2007, und die darin versammelten Beiträge.

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Herrschaftsverdichtung und Institutionalisierung der Justiz Frühneuzeitliche Gerichtsvielfalt in Braunschweig-­Lüneburg

Den historischen Strafkammersaal des Landgerichts Lüneburg schmückt ein großformatiges Gemälde des Genremalers Ferdinand Brütt aus dem Jahre 1925 mit dem Titel „Gogericht“.1 Es zeigt in einer Heidelandschaft eine stilisierte Gerichtsszene. Unter einem ausladenden Baum, wohl eher einer Eiche als einer Linde, tagt das Gericht. Der Richter sitzt, einen Stab in der Hand und mit einem dunkelroten Gewand bekleidet, vor dem Stamm des Baumes. Um ihn herum bilden die Urteilsfinder einen Kreis, in dessen Mitte eine Person in gebückter Haltung mit der Mütze in der Hand steht, wohl der Angeklagte. Die Gerichtsszene dürfte ohne Anspruch auf historische Genauigkeit dem ausgehenden Mittelalter zuzuordnen sein; sie zeigt ein sogenanntes Gogericht, ein genossenschaftliches Gericht der Zeit vor der Rezeption des römischen Rechts und dem Vordringen der gelehrten Rechtsprechung. Das historische Gebäude des Landgerichts, in dem sich der Saal mit diesem Gemälde befindet, ist das Ende des 17. Jahrhunderts vom Celler Herzog Georg Wilhelm errichtete Lüneburger Schloss. Damit schlägt der Saal, in dem heute vor der Darstellung des Gogerichts Hauptverhandlungen in Strafsachen abgehalten werden, die Brücke vom genossenschaftlichen Gericht des Mittelalters über den Fürstenstaat der Frühen Neuzeit zum modernen Gericht unserer Zeit. Dies ist der Hintergrund, vor dem im Folgenden die Gerichtsvielfalt und die Entwicklung der Gerichtsbarkeit in den welfischen Territorien Braunschweig-­Lüneburgs dargestellt werden sollen. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, inwiefern die Entwicklung der Gerichtsbarkeit eingebunden war in den Prozess der Verdichtung territorialer Herrschaft im Verlaufe der Frühen Neuzeit.

1. Gogerichte und Landgerichte zu Beginn der Frühen Neuzeit Am Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit war die Gerichtsbarkeit in den Territorien noch vom einstufigen Gerichtswesen geprägt, das keine Überprüfung eines Urteils durch ein höheres Gericht und damit keinen Instanzenzug kannte. Ein institutionalisiertes System landesherrlicher Gerichte sowie eine Über 1 Zu Ferdinand Brütt vgl. den Ausstellungskatalog Museum Giersch (Hrsg.), Ferdinand Brütt (1849 – 1936). Erzählung und Impression. Petersberg 2007; zum Lüneburger Gemälde siehe dort S. 218 f.

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Ferdinand Brütt, Gogericht (1925). Landgericht Lüneburg.

und Unterordnung von Gerichten verschiedener Ebenen gab es zunächst nicht.2 Über Streitigkeiten der Untertanen auf dem Lande entschieden Gogerichte und Landgerichte. Sie urteilten zudem über niedere Vergehen und übten zumindest teilweise auch die hohe Gerichtsbarkeit in Strafsachen aus.3 Derartige Gerichte sind an vielen Orten der Fürstentümer Lüneburg, Calenberg, Göttingen, Grubenhagen, der Grafschaften Hoya und Diepholz und der Bistümer Bremen und Verden nachweisbar, der Gebiete also, die später das Kurfürstentum Braunschweig-­Lüneburg bilden sollten. Sie finden sich auch in anderen Teilen Norddeutschlands wie im Braunschweigischen sowie in den Bistümern Hildesheim, Minden, Münster und Osnabrück.4 Das Gericht leitete als Richter ein sogenannter Gogrefe (Gograf ), der die dem Landesherrn zustehende Gerichtsbarkeit in dessen Namen ausübte, aber nicht selbst urteilte. Die Entscheidung der Land- und Gogerichte erging auf Grund der Urteilsfindung der die Gerichtsgemeinde bildenden Untertanen, die als

2 Peter Oestmann, Ludolf Hugo und die gemeinrechtliche Appellation, in: Ludolf Hugo, Vom Missbrauch der Appellation, hrsg. v. Peter Oestmann. Wien/Köln/Weimar 2012 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, künftig: QFHG, Bd. 62), S. 1 – 43 (hier S. 4 – 10). Zu weiteren Nachweisen, auch zur Kritik am Begriff des einstufigen Gerichtswesens, vgl. den Beitrag von Josef Bongartz in diesem Band, dort Anm. 20. 3 Götz Landwehr, Die althannoverschen Landgerichte. Hildesheim 1964 (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens, Bd. 62), S. 178, 180; vgl. Karl Kroeschell, recht unde unrecht der sassen. Rechtsgeschichte Niedersachsens. Göttingen 2005, S. 204 f.; Peter Oestmann, Die Gerichte, in: Joachim Rückert/Jürgen Vortmann (Hrsg.), Niedersächsische Juristen. Ein historisches Lexikon mit einer landesgeschichtlichen Einführung und Bibliographie. Göttingen 2003, S. XLI. 4 Landwehr, Die althannoverschen Landgerichte (wie Anm. 3), S. 144 – 155.

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Dinggenossen verpflichtet waren, an den Gerichtstagen zu erscheinen. Der Gogrefe wurde in der Regel durch die Dinggenossen gewählt und sodann vom Landesherrn bestätigt. Dieser durfte die Bestätigung eines gewählten Gogrefen ursprünglich nicht verweigern. Im Laufe der Zeit nahmen die Landesherren indes zunehmend Einfluss auf die Wahl der Gogrefen.5 Im 16. Jahrhundert waren die Gogrefen zumeist landesherrliche Beamte.6 Götz Landwehr kommt zu dem Schluss, dass damit „[d]­er einstmals durch freie Wahl berufene Richter […] zu einem Instrument der landesherrlichen Verwaltung herabgesunken“ sei.7 Diese These erscheint einseitig; schließlich ist auch denkbar, dass die Autorität der Gogrefen durch den unmittelbaren Bezug zum Landesherrn gestärkt wurde. Jedenfalls wurden die ursprünglich genossenschaftlich begründeten Gogerichte so in die Verwaltungsstrukturen des Landesherrn eingebunden. Neben den Gogerichten gab es weitere Formen genossenschaftlicher Gerichtsbarkeit auf dem Lande wie etwa die sogenannten Bauerdinge, Meierdinge und Holtinge.8 Im Einzelnen waren diese Gerichte sehr vielgestaltig, weil es eine einheitliche Gerichtsverfassung innerhalb des Territoriums ebensowenig gab wie klar gegeneinander abgegrenzte Zuständigkeiten.9 Die Gerichtsbarkeit in den Städten übte regelmäßig der Rat aus. Auch insofern ist eine allgemeingültige Darstellung nicht möglich, weil Gerichtsverfassung und Zuständigkeit von Stadt zu Stadt erhebliche Unterschiede aufwiesen.10 Ein Rechtsmittelwesen, also die Überprüfung eines Urteils durch ein von einer beschwerten Partei angerufenes höheres Gericht, gab es ursprünglich nicht. Doch konnten Rechtsstreitigkeiten vor einen Oberhof oder Schöffenstuhl gezogen werden, wenn das Gericht nicht zu einem Urteil fand oder eine Partei die Urteilsschelte erhob: Diese bewirkte, dass ein Entscheidungsvorschlag nicht die erforderliche Zustimmung der Gerichtsgemeinde erfuhr und eine Rechtsfindung durch das genossenschaftliche Gericht nicht möglich war. In solchen Fällen beantwortete ein Oberhof oder Schöffenstuhl aus besserem Rechtswissen heraus die Frage, was im konkreten Fall Recht sei; auf dieser Grundlage verkündete das Untergericht

5 Wolf Dietrich Kupsch, Das Gericht auf dem Leineberg vor Göttingen. Geschichte eines herzoglichen Landgerichts. Göttingen 1972 (Studien zur Geschichte der Stadt Göttingen, Bd. 9), S. 19 f.; Landwehr, Die althannoverschen Landgerichte (wie Anm. 3), S. 165 – 170. 6 Kupsch, Das Gericht auf dem Leineberg (wie Anm. 5), S. 21, 33; Landwehr, Die althannoverschen Landgerichte (wie Anm. 3), S. 170. 7 Landwehr, Die althannoverschen Landgerichte (wie Anm. 3), S. 170. 8 Kroeschell, recht unde unrecht (wie Anm. 3), S. 200 – 204. 9 Zu zahlreichen Unterschieden in der Verfassung einzelner Gogerichte siehe Landwehr, Die althannoverschen Landgerichte (wie Anm. 3), S. 155 – 176. 10 Kroeschell, recht unde unrecht (wie Anm. 3), S. 210.

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den Rechtsspruch des Oberhofes als eigene Entscheidung.11 Im norddeutschen Raum übten diese Funktion städtische Ratsgerichte aus, insbesondere in Lüneburg, Hameln, Braunschweig, Bremen und Goslar.12 Schon um 1400 soll gegen Urteile des Gerichts auf dem Leineberge bei Göttingen, eines dem Typus der Gogerichte zuzuordnenden genossenschaftlichen Gerichts, an den Landesherrn als Inhaber der Gerichtsbarkeit appelliert worden sein.13 Ob es sich dabei tatsächlich um eine Appellation im Sinne des gelehrten Rechts und damit um ein formelles Rechtsmittel handelte, mag dahingestellt bleiben.14 Erst mit dem Vordringen der gelehrten Rechtsprechung und der Entstehung der Hofgerichte jüngeren Typs im 16. Jahrhundert 15 setzte sich das Rechtsmittel der Appellation flächendeckend durch.

2. Die Entstehung von Hofgerichten und Justizkanzleien Zu Beginn der Frühen Neuzeit entstanden in den Territorien Hofgerichte, die auf die persönliche Ausübung der Gerichtsbarkeit durch den Landesherrn zurückgingen.16 Das erste Hofgericht in den welfischen Territorien wurde durch Herzog Erich I. von Calenberg um 1500, nur wenige Jahre nach der Reichsreform Kaiser Maximilians und der Gründung des Reichskammergerichts im Jahre 1495, in Münden errichtet.17 Ein weiteres Hofgericht entstand einige Jahrzehnte später für das ebenfalls von Erich I. regierte Fürstentum Calenberg in Ronnenberg und 11 Oestmann, Ludolf Hugo (wie Anm. 2), S. 4 – 6, mit umfangreichen weiterführenden Nachweisen. 12 Oestmann, Die Gerichte (wie Anm. 3), S. XLII; Jürgen Weitzel, Über Oberhöfe, Recht und Rechtszug. Göttingen 1981 (Göttinger Studien zur Rechtsgeschichte, Bd. 15), S. 111 – 125. 13 Kupsch, Das Gericht auf dem Leineberg (wie Anm. 5), S. 115. 14 Zu dieser Problematik siehe allgemein Oestmann, Ludolf Hugo (wie Anm. 2), S. 8. 15 Vgl. Heiner Lück, Die Kursächsische Gerichtsverfassung 1423 – 1550. Köln/Weimar/ Wien 1997 (Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 17), S. 119 f.; Peter Oestmann, Art. Hofgericht, in: Handwörterbuch der deutschen Rechtsgeschichte (künftig: HRG ), Bd. 2. 2. Aufl. Berlin 2012, Sp. 1087 – 1091. 16 Oestmann, Art. Hofgericht (wie Anm. 15); Adolf Stölzel, Die Entwicklung des gelehrten Richtertums in den deutschen Territorien. Eine rechtsgeschichtliche Untersuchung mit vorzugsweiser Berücksichtigung der Verhältnisse im Gebiet des ehemaligen Kurfürstentums Hessen, Bd. 1. Stuttgart 1872, ND  Aalen 1964, S. 246 – 251, speziell zu Braunschweig-­ Lüneburg S. 266 – 269; vgl. Dietmar Willoweit, Rechtsgrundlagen der Territorialgewalt. Landesobrigkeit, Herrschaftsrechte und Territorium in der Rechtswissenschaft der Neuzeit. Köln/Wien 1975 (Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 11), S. 188. 17 Johannes Merkel, Der Kampf des Fremdrechtes mit dem einheimischen Rechte in Braunschweig-­Lüneburg. Eine historische Skizze. Hannover/Leipzig 1904 (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens, Bd. 19), S. 33.

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wurde kurz darauf nach Pattensen verlegt.18 Dieses Hofgericht scheint aus einem Landgericht hervorgegangen zu sein, das zunächst in Lauenrode und ab 1466 in Ronnenberg abgehalten wurde.19 Das Hofgericht wurde von einem promovierten Hofrichter, also einem studierten Juristen, geleitet; Beisitzer waren zwei Prälaten, drei Vertreter der Städte, der Calenberger Landdrost, zwei Vertreter des Adels sowie drei fürstliche Räte.20 Als das Hofgericht von Ronnenberg nach Pattensen verlegt wurde, wurde auf dem Landtag seine Zusammensetzung hinsichtlich der ständischen Deputierten wie folgt festgesetzt: Ihm sollten je zwei Vertreter der Prälaten und der Ritterschaft, Bürgermeister und Sekretär der Städte Hannover und Hameln sowie die Bürgermeister der kleineren Städte angehören. Tatsächlich war seine Besetzung jedoch deutlich kleiner, und so ermahnte der Herzog die Stände im Jahre 1555, für die vollständige Besetzung des Hofgerichts Sorge zu tragen.21 Im Jahre 1544 erhielten die Hofgerichte Münden und Pattensen eine gemeinsame Gerichtsordnung,22 nach der beide Gerichte aus ehrbahren, gelehrten, erfahrnen und düchtigen Persohnen, Richtern, Urtheilern und Beysitzern bestehen sollten.23 Ob tatsächlich alle Beisitzer, auch die Vertreter der Landstände, studierte Juristen waren, ist unklar. Die Gerichtsordnung enthält eine namentliche Aufstellung der Gerichtspersonen zum Zeitpunkt ihres Erlasses. Danach bestand das Hofgericht Münden neben dem Hofrichter, einem Doktor der Rechtswissenschaft, aus einem Lizentiaten, drei Magistern und einem Adligen, so dass es zumindest mehrheitlich mit gelehrten Juristen besetzt war. Dem Hofgericht Pattensen gehörten der adlige Hofrichter sowie zwei Pröbste, ein adliger Landdrost (Vorsteher eines landesherrlichen Verwaltungsbezirks 24), ein weiterer Adliger sowie drei Vertreter der Städte an, wobei letztere rechtskundig sein sollten.25 In Pattensen scheint damit der ständische Einfluss stärker gewesen zu sein als in Münden; auch war das Hofgericht in Pattensen von der in Neustadt am Rübenberge ansässigen landesherrlichen Kanzlei 18 Kroeschell, recht unde unrecht (wie Anm. 3), S. 213 f.; Günter Scheel, Kurbraunschweig und die übrigen welfischen Lande, in: Kurt G. A. Jeserich/Hans Pohl/Georg-­Christoph von Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 1: Vom Spätmittelalter bis zum Ende des Reiches. Stuttgart 1983, S. 741 – 763 (hier S. 757). 19 Christian Ulrich Grupen, Disceptationes forenses cum observationibus. Leipzig 1737, S. 556 – 560, 570 – 572. 20 Scheel, Kurbraunschweig (wie Anm. 18), S. 757. 21 Grupen, Disceptationes (wie Anm. 19), S. 572 f., mit einem dort abgedruckten Ausschreiben Herzog Erichs aus dem Jahre 1555. 22 Abgedruckt ebd., S. 603 – 624. 23 Hofgerichtsordnung von 1544 = Grupen, Disceptationes (wie Anm. 19), S. 604. 24 Vgl. Mattias G. Fischer, Art. Drost, in: HRG, Bd. 1. 2. Aufl. Berlin 2008, Sp. 1161 f. 25 Hofgerichtsordnung von 1544 = Grupen, Disceptationes (wie Anm. 19), S. 605 f.; Stölzel, Die Entwicklung des gelehrten Richtertums (wie Anm. 16), S. 267.

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des Fürstentums Calenberg, dem Zentrum der Landesverwaltung, räumlich entfernt und tagte nicht ständig, sondern nur viermal im Jahr. In Münden hingegen tagte das Hofgericht ständig am Sitz der Kanzlei des Herzogtums Göttingen,26 so dass hier der Einfluss des Fürsten und das rechtsgelehrte Element stärker ausgeprägt gewesen sein dürften. Über geistliche Sachen und Ehestreitigkeiten sollten Gelehrte und Räte auf der Kanzlei in Münden im Beisein des Superintendenten entscheiden.27 Ein weiteres Hofgericht gab es Ende des 16. Jahrhunderts für das Herzogtum Grubenhagen in Herzberg, das von einer ebenfalls dort befindlichen landesherrlichen Kanzlei nicht streng getrennt gewesen zu sein scheint.28 Im Fürstentum Lüneburg errichtete Herzog Ernst im Jahre 1535 ein Hofgericht in Uelzen, das 1564 nach Celle in die Residenzstadt des Herzogs verlegt wurde.29 Für Uelzen als anfänglichen Sitz des Hofgerichts war entscheidend, dass Uelzen schon im Mittelalter Sitz eines wohl nicht unbedeutenden Landgerichts war, das eine besondere Zuständigkeit für Klagen gegen Adlige hatte.30 Das Hofgericht bestand – jedenfalls ab 1563 – aus drei Adligen, von denen einer als Praeses-­ Judicii (Hofrichter) fungierte, und vier gelehrten Räten, von denen zwei Hofräte des Landesherrn und zwei auswärtige Juris-­Consulti (Rechtsgelehrte) sein sollten.31 Ausweislich eines landesherrlichen Rezesses aus dem Jahre 1535 diente das Hofgericht der Handhabung Friedens und Rechtens 32 und damit, vergleichbar dem Reichskammergericht,33 der Aufrechterhaltung des Landfriedens durch Rechtsgewährung. Es tagte zunächst viermal im Jahr; ab der Verlegung nach Celle traten neben vier ordentliche Gerichtstage im Jahr vier außerordentliche.34 26 Grupen, Disceptationes (wie Anm. 19), S. 596; Hofgerichtsordnung von 1544 = ebd., S. 613 f.; Stölzel, Die Entwicklung des gelehrten Richtertums (wie Anm. 16), S. 255. 27 Hofgerichtsordnung von 1544 = Grupen, Disceptationes (wie Anm. 19), S. 614. 28 Grupen, Disceptationes (wie Anm. 19), S. 625 – 629. 29 Ebd., S. 629 – 6 43; Scheel, Kurbraunschweig (wie Anm. 18), S. 756. 30 Grupen, Disceptationes (wie Anm. 19), S. 555, 594, 633. 31 Ebd., S. 633. 32 Rezess Herzog Ernsts von 1535, abgedruckt ebd., S. 635. 33 Vgl. Wolfgang Sellert, Gewalt, Macht oder Recht? Die Reichsjustiz als Garant der Friedensordnung, in: Peter Claus Hartmann/Florian Schuller (Hrsg.), Das Heilige Römische Reich und sein Ende 1806. Zäsur in der deutschen und europäischen Geschichte. Regensburg 2006, S. 38 – 50 (hier S. 48 – 50); ders., Pax Europae durch Recht und Verfahren, in: Leopold Auer/Werner Ogris/Eva Ortlieb (Hrsg.), Höchstgerichte in Europa. Bausteine frühneuzeitlicher Rechtsordnungen. Köln/Weimar/Wien 2007 (QFHG, Bd. 53), S. 97 – 114 (hier S. 101 f.); Jürgen Weitzel, Die Rolle des Reichskammergerichts bei der Ausformung der Rechtsordnung zur allgemeinen Friedensordnung, in: Ingrid Scheurmann (Hrsg.), Frieden durch Recht. Das Reichskammergericht von 1495 bis 1806, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung. Mainz 1994, S. 40 – 48. 34 Grupen, Disceptationes (wie Anm. 19), S. 641 f.

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Die Hofgerichte in Münden und Pattensen wurden aufgelöst, als die Landesteile Calenberg und Göttingen infolge des Erlöschens der Calenberger Linie des Welfenhauses 1584 mit Braunschweig-­Wolfenbüttel vereinigt wurden. In Wolfenbüttel hatte es Appellationsentscheidungen durch den Landesherrn und seine Räte unter Beteiligung der Landstände schon vor der Gründung eines Hofgerichts gegeben;35 ein Hofgericht wurde in Wolfenbüttel 1557 durch den Kanzler Joachim Mynsinger von Frundeck errichtet, der bis 1556 Assessor am Reichskammergericht gewesen war und daher über vertiefte Kenntnisse des Gemeinen Prozessrechts verfügte.36 Die Gründung des Hofgerichts beruhte auf der durch Mynsinger von Frundeck verfassten Hofgerichtsordnung von 1556, die sich am Vorbild der Reichskammergerichtsordnung orientierte.37 Der Herzog legte die Gerichtsordnung dem Kaiser vor, der sie einer Prüfung durch kaiserliche Rechtsgelehrte unterzog und sodann bestätigte.38 Hierin zeigt sich die enge Anbindung der Territorialjustiz an die Reichsebene. Die Bestätigung durch den Kaiser galt offenbar noch in der Mitte des 18. Jahrhunderts als so bedeutsam, dass ihr Text in die im Jahre 1740 erschienene Sammlung der Landesgesetze aufgenommen wurde, obwohl die Hofgerichtsordnung von 1556 im 18. Jahrhundert keine Anwendung mehr fand und auch selbst in der Gesetzessammlung nicht abgedruckt ist. Das Hofgericht sollte viermal im Jahr zu Wolffenbüttel auf der Cantzley gehalten werden und sich aus einem adligen Hofrichter und acht Assessoren, nämlich vier Gelehrten und je zwei Vertretern der Ritterschaft und der Städte, zusammensetzen.39 Vorübergehend wurde es nach Gandersheim verlegt 40 und mehrfach an anderen

35 Beispiele ebd., S. 644 f. 36 Kroeschell, recht unde unrecht (wie Anm. 3), S. 214; Wolfgang Sellert, Art. Mynsinger von Frundeck, Joachim (1514 – 1588), in: HRG, Bd. 3. 2. Aufl. Berlin 2016, Sp. 1731 f. Zu Mynsinger von Frundeck siehe statt aller Anja Amend-­Traut, Reformer, Gelehrter, Dichter. Zum 500. Geburtstag Joachim Mynsingers von Frundeck (1514 bis 1588), in: Zeitschrift für europäisches Privatrecht 22 (2014), S. 337 – 348, sowie Sabine Schumann, Joachim Mynsinger von Frundeck (1514 – 1588). Herzoglicher Kanzler in Wolfenbüttel – Rechtsgelehrter – Humanist. Zur Biographie eines Juristen im 16. Jahrhundert. Wiesbaden 1983 (Wolfenbütteler Forschungen, Bd. 23). 37 Vgl. Bernhard Diestelkamp, Das Reichskammergericht im Rechtsleben des 16. Jahrhunderts, in: Hans-­Jürgen Becker/Gerhard Dilcher/Gunter Gudian/Eckehard Kaufmann/ Wolfgang Sellert (Hrsg.), Rechtsgeschichte als Kulturgeschichte. Festschrift für Adalbert Erler zum 70. Geburtstag. Aalen 1976, S. 435 – 480 (hier S. 450). 38 Bestätigung Kaiser Ferdinands vom 5. August 1559 = Chur-­Braunschweig-­Lüneburgische Landes-­Ordnungen und Gesetze. Zum Gebrauch der Fürstenthümer, Graf- und Herrschaften Calenbergischen Theils, Bd. 2. Göttingen 1740, S. 498 – 501. 39 Grupen, Disceptationes (wie Anm. 19), S. 651. 40 Kroeschell, recht unde unrecht (wie Anm. 3), S. 214.

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Orten abgehalten.41 Es entschied auch über Sachen aus Calenberg und Göttingen, bis diese Landesteile 1635 wieder eigenständige Fürstentümer wurden und infolgedessen für sie ein Hofgericht in der Residenzstadt Hannover gegründet wurde, für das Herzog Georg 1639 eine Hofgerichtsordnung erließ.42 In der Anfangszeit wurde das Hofgericht mehrfach nicht in Hannover, sondern in Hildesheim abgehalten. Dies zeigt, dass der Sitz des Gerichts noch nicht zwingend an einen bestimmten Ort gebunden war. Nach einigen Jahren etablierte sich das Hofgericht dauerhaft in Hannover.43 Nach dem Vorbild jener Gerichtsordnung von 1639 wurde 1685 eine neue Hofgerichtsordnung für das in Celle ansässige Hofgericht des Fürstentums Lüneburg erlassen.44 Neben den Hofgerichten etablierte sich ab dem 16. Jahrhundert eine obergerichtliche Rechtsprechung durch die Kanzleien. Diese waren die zentralen Gremien der landesherrlichen Verwaltung. In den Welfenlanden gehörten ihnen ab ungefähr 1500 zunehmend gelehrte Juristen an.45 Schon aus den Jahren um 1550 ist überliefert, dass gegen eine Entscheidung des Hofgerichts Uelzen an die landesherrlichen Räte in Celle appelliert wurde.46 Auch für das Hofgericht in Pattensen gibt es Hinweise auf eine Subordination unter die landesherrlichen Räte aus dem Jahre 1559.47 Spätestens ab Ende des 16. Jahrhunderts nahm die mit gelehrten Juristen besetzte Kanzlei neben ihren Aufgaben der landesherrlichen Verwaltung als Justizkanzlei die Funktion eines Gerichts war. In den welfischen Territorien übte die Kanzlei zumeist gleichberechtigt mit den Hofgerichten die höhere Gerichtsbarkeit aus.48 Damit folgte die Territorialjustiz dem Vorbild der Reichsgerichte: Waren die von ständischem Einfluss geprägten Hofgerichte dem Reichskammergericht nachgebildet, so entsprach die Rechtsprechung durch die Kanzlei aus dem Rat des Landesherrn dem an den Rat des Kaisers angebundenen Reichshofrat. Hofgerichte und Kanzleien standen in Zivilsachen konkurrierend nebeneinander, weil die Rechtsprechung durch die Justizkanzleien zusätzlich zu derjenigen der Hofgerichte entstand. Der Kläger oder Rechtsmittelführer konnte wählen, an welches

41 42 43 44 45 46 47 48

Grupen, Disceptationes (wie Anm. 19), S. 651. Landes-­Ordnungen, Bd. 2 (wie Anm. 38), S. 368 – 498. Grupen, Disceptationes (wie Anm. 19), S. 591. Chur-­Braunschweig-­Lüneburgische Landes-­Ordnungen und Gesetze. Zum Gebrauch des Fürstenthums Lüneburg, auch angehöriger Graf- und Herrschaften Zellischen Theils, Bd. 2. Lüneburg 1742, S. 413 – 554. Scheel, Kurbraunschweig (wie Anm. 18), S. 745. Grupen, Disceptationes (wie Anm. 19), S. 640 f. Ebd., S. 575, unter Hinweis auf ein Reskript der landesherrlichen Räte an den Hofrichter des Hofgerichts Pattensen. Scheel, Kurbraunschweig (wie Anm. 18), S. 746 – 749.

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Gericht er sich wandte.49 Die Kanzleien hatten gegenüber den Hofgerichten den für die Praxis wichtigen Vorteil, dass sie ständig tagten, während letztere zumeist nur mehrmals im Jahr zusammentraten.50 Der Gegensatz zwischen Hofgericht und Kanzlei verliert jedoch an Schärfe, wenn das Hofgericht, wie im Beispiel Mündens, eng an die Kanzlei angebunden war und regelmäßig tagte. Funktionell ist eine klare Abgrenzung zwischen Hofgericht und Kanzlei in einem solchen Fall kaum möglich, zumal es nicht selten personelle Überschneidungen zwischen Kanzleien und Hofgerichten gab.51 Die Hofgerichte ebenso wie die Justizkanzleien waren in erster Linie Appellationsgerichte. Sie entschieden nach den Grundsätzen des Gemeinen Rechts über Appellationen gegen Urteile anderer, ihnen nachgeordneter Gerichte. So bestimmte die Hofgerichtsordnung von 1544, dass keine andere, denn Appellations-­Sachen, und so per viam & modum Appellationis oder Supplicationis dahin kommen.52 Das Verfahren folgte den Grundsätzen des gemeinen Prozesses. Die Gerichtsordnung enthielt Vorschriften über Fristen und Formalien, über den Verfahrensgang, über die Beweiserhebung und die Verkündung der Urteile. Klagen und Einwendungen mussten schriftlich nach den Grundsätzen des Artikelprozesses vorgebracht werden.53 Um eine Überprüfung von Urteilen durch ein Rechtsmittelgericht zu ermöglichen, mussten sich die Untergerichte den Erfordernissen des Gemeinen Prozessrechts anpassen und auch materiell, damit ihre Urteile durch die gelehrten Gerichte nicht aufgehoben wurden, Gemeines Recht anwenden. Das hergebrachte Verfahren der Land- und Gogerichte wurde diesen Ansprüchen nicht gerecht. Die Calenbergische Hofgerichtsordnung von 1639 ordnete für diese Gerichte ein schriftliches Verfahren an, sofern die Appellationssumme von 20 Gulden erreicht und damit ein Rechtsmittel statthaft war. Zugleich schrieb sie vor, dass zunächst ein Güteverfahren vor dem landesherrlichen Amtmann durchzuführen war, bevor ein Land- oder Gogericht angerufen werden konnte.54 Diese Tätigkeit der Ämter 49 Friedrich von Bülow, Über die Verfassung, die Geschäfte und den Geschäftsgang des Königlichen und Churfürstlich Braunschweig-­Lüneburgischen Ober-­Appellations-­Gerichts zu Zelle, Bd. 1. Göttingen 1801, S. 345 f. 50 Kroeschell, recht unde unrecht (wie Anm. 3), S. 214; Ernst von Meier, Hannoversche Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte 1680 – 1866, Bd. 1: Die Verfassungsgeschichte. Leipzig 1898, ND Hildesheim 1973, S. 293. 51 Vgl. Kroeschell, recht unde unrecht (wie Anm. 3), S. 214. 52 Hofgerichtsordnung von 1544 = Grupen, Disceptationes (wie Anm. 19), S. 614. 53 Hofgerichtsordnung von 1544 = ebd., S. 615 – 622; Landwehr, Die althannoverschen Landgerichte (wie Anm. 3), S. 184; zum Artikelprozess siehe Peter Oestmann, Art. Artikelprozess, in: HRG, Bd. 1. 2. Aufl. Berlin 2008, Sp. 313 f. 54 Tit. 78 der Calenbergischen Hofgerichtsordnung von 1639 = Landes-­Ordnungen, Bd. 2 (wie Anm. 38), S. 492; Landwehr, Die althannoverschen Landgerichte (wie Anm. 3), S. 186 f.

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als Güteinstanzen entwickelte sich im Laufe des 17. Jahrhunderts zu einer eigenen Gerichtsbarkeit, die die Land- und Gogerichte allmählich weitgehend verdrängte. Die Rechtsprechung landesherrlicher Beamter war flexibler, weil sie nicht an festgesetzte Gerichtstage gebunden war. Auch organisatorisch waren die Ämter auf Grund ihrer Einbindung in die landesherrlichen Verwaltungsstrukturen den hergebrachten Gerichten überlegen. Am Ende des 17. Jahrhunderts wurde die untere Gerichtsbarkeit in den von den landesherrlichen Ämtern verwalteten Landesteilen fast ausschließlich durch die Ämter ausgeübt.55 Damit war an die Stelle genossenschaftlich fundierter Gerichte die Rechtsprechung der Beamten des Landesherrn getreten. Zuständig waren die Ämter in Zivilsachen als erste Instanz für die ihnen unterworfenen Untertanen. In Strafsachen führten sie zumeist nur die Ermittlungen;56 im Übrigen fielen Strafsachen in die erstinstanzliche Zuständigkeit der Justizkanzleien.57 In denjenigen Landesteilen, die unter adliger Gutsherrschaft standen, stand die untere Gerichtsbarkeit hingegen nicht den Ämtern, sondern den Gutsherren zu. Diese nahmen ihre Rechtsprechungsaufgaben freilich meist nicht selbst wahr, sondern durch einen gelehrten Juristen als Gerichtsverwalter oder Justitiar. Diese adligen Patrimonialgerichte waren erste Instanz in Zivilsachen für die Untertanen des jeweiligen Gutsherrn. Über Entscheidungsgewalt in Strafsachen verfügten die meisten von ihnen nicht. Einigen adligen Gerichten stand indes auch die Gerichtsbarkeit in Strafsachen bis hin zur hohen Gerichtsbarkeit zu, dem Ausspruch und der Vollstreckung von Todesurteilen. Derartige patrimoniale Hochgerichte können auf frühere Landgerichte mit entsprechender Gerichtsgewalt zurückgehen.58 In den Städten lag die untere Gerichtsbarkeit in den Händen der Stadtgerichte, deren Zuständigkeit und Verfassung im Einzelnen uneinheitlich waren.59 Damit war ab dem 16. Jahrhundert ein geregelter Instanzenzug entstanden: Ämter, Patrimonialgerichte und Stadtgerichte waren erste Instanz für die ihnen untergebenen Personenkreise; über Appellationen gegen Entscheidungen dieser Gerichte entschieden die Hofgerichte und Justizkanzleien. Diese waren erste Instanz für sogenannte eximierte Personen, also diejenigen, die nicht als Stadtbürger den Stadtgerichten oder als Untertanen der Ämter und der adligen Güter deren 55 56 57 58

Landwehr, Die althannoverschen Landgerichte (wie Anm. 3), S. 187 f. Kroeschell, recht unde unrecht (wie Anm. 3), S. 207. Von Meier, Hannoversche Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte (wie Anm. 50), S. 293. Kroeschell, recht unde unrecht (wie Anm. 3), S. 210; Wilhelm Ebel, Der Herren von Adelebsen Gerichtsordnung vom Jahre 1543, in: ders., Rechtsgeschichtliches aus Niederdeutschland. Göttingen 1978, S. 127 – 138. 59 Ausführliche Darstellung bei Georg Heinrich Oesterley, Handbuch des bürgerlichen und peinlichen Processes für das Königreich Hannover, Bd. 1: Bürgerlicher Proceß, Erste Abtheilung. Göttingen 1819, S. 262 – 292, 377 – 418, 438 – 467, 502 – 523.

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Gerichtsbarkeit unterstanden. In erster Linie betraf dies den Adel, aber auch freie Bauern machten zuweilen die Befreiung von der Gerichtsbarkeit der Ämter geltend.60 Gegen die Entscheidungen der Justizkanzleien und Hofgerichte waren Rechtsmittel an das Reichskammergericht und den Reichshofrat statthaft. Ein unbeschränktes Appellationsprivileg gab es in den Welfenlanden vor Anfang des 18. Jahrhunderts nicht; die Zulässigkeit von Rechtsmitteln an die Reichsgerichte war indes durch verschiedene beschränkte Appellationsprivilegien im Hinblick auf die Appellationssumme eingeschränkt.61

3. Das Justizwesen im 18. Jahrhundert Die Wende zum 18. Jahrhundert war in den Welfenlanden eine Zäsur auf dem Wege zur territorialen Staatlichkeit und in der Entwicklung des Justizwesens. Im Jahre 1692 erwarb Herzog Ernst August, der in Hannover die Fürstentümer Calenberg, Grubenhagen und Göttingen regierte, die Kurfürstenwürde. Mit dem Ableben seines in Celle als Fürst des Fürstentums Lüneburg regierenden Bruders Georg Wilhelm im Jahre 1705 wurden die beiden Landesteile zu einem einheitlichen Territorium vereinigt.62 Seit dem Ende des 17. Jahrhunderts gehörte das bis dahin von Herzögen aus dem Geschlecht der Askanier regierte Herzogtum Lauenburg zu Braunschweig-­Lüneburg.63 Ab 1714 waren die Kurfürsten von Braunschweig-­ Lüneburg in Personalunion Könige von Großbritannien. Schließlich wurde das Kurfürstentum 1715 vergrößert, als die Herzogtümer Bremen und Verden, die bis 60 Volker Friedrich Drecktrah, „In puncto der Gerichts-­Freyheit“. Eine Fallstudie des 17./18. Jahrhunderts aus den Herzogtümern Bremen und Verden, in: ders./Dietmar Willoweit (Hrsg.), Rechtsprechung und Justizhoheit. Festschrift für Götz Landwehr zum 80. Geburtstag. Köln/Weimar/Wien 2016, S. 197 – 212. 61 Ulrich Eisenhardt, Die kaiserlichen privilegia de non appellando. Köln/Wien 1980 (QFHG, Bd. 7), S. 77 f.; von Bülow, Über die Verfassung, Bd. 1 (wie Anm. 49), S. 1 f.; beschränkte Appellationsprivilegien von 1562, 1597 und 1638 sind abgedruckt in: Landes-­ Ordnungen, Bd. 2 (wie Anm. 38), S. 502 – 516. 62 Vgl. die bei Stefan Andreas Stodolkowitz, Das Oberappellationsgericht Celle und seine Rechtsprechung im 18. Jahrhundert. Köln/Weimar/Wien 2011 (QFHG, Bd. 59), S. 17 – 19, 125, nachgewiesene weiterführende Literatur. 63 Kersten Krüger, Der Streit um das askanische Erbe im Herzogtum Sachsen-­Lauenburg 1689, Teil 1: Erhobene Ansprüche, in: Eckardt Opitz (Hrsg.), Herrscherwechsel im Herzogtum Lauenburg. Mölln 1998 (Lauenburgische Akademie für Wissenschaft und Kultur, Stiftung Herzogtum Lauenburg, Kolloquium X), S. 81 – 90; Eckardt Opitz, Der Streit um das askanische Erbe im Herzogtum Sachsen-­Lauenburg 1689, Teil 2: Andreas Gottlieb v. Bernstorff (1649 – 1726) und der Griff der Welfen nach dem Herzogtum Sachsen-­ Lauenburg, in: ebd., S. 91 – 104.

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dahin unter schwedischer Herrschaft und damit unter der Gerichtsbarkeit des Wismarer Tribunals gestanden hatten, infolge des Großen Nordischen Krieges in den Besitz der Welfenherzöge gelangten.64 Im Jahre 1711 wurde das Oberappellationsgericht in Celle als oberstes Territorialgericht für das Kurfürstentum gegründet, und 1718 erhielt Braunschweig-­Lüneburg nach langjährigen Verhandlungen ein unbeschränktes Appellationsprivileg, das Appellationen an die Gerichte des Reiches ausschloss.65 Diese Entwicklungen kennzeichnen den Weg der welfischen Fürstentümer zum modernen Territorialstaat. Die Hofgerichte und Justizkanzleien in Celle und Hannover blieben nach der Vereinigung der Fürstentümer Lüneburg und Calenberg unverändert bestehen. Auch in den Herzogtümern Bremen und Verden sowie Lauenburg gab es weiterhin eigenständige Obergerichte.66 Für Bremen und Verden existierten Hofgericht und Justizkanzlei in Stade.67 Im Herzogtum Lauenburg bestand das Hofgericht in Ratzeburg; die Funktionen einer Justizkanzlei nahm die ebenfalls in Ratzeburg ansässige Regierung wahr. Die sachliche Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Hofgerichten und Justizkanzleien war nicht einheitlich geregelt, sondern folgte in den neu erworbenen Landesteilen früherem Herkommen. In Celle und Hannover standen Hofgerichte und Justizkanzleien in Zivilsachen konkurrierend nebeneinander. In Stade hatte die Justizkanzlei nur eingeschränkte Zuständigkeiten in eilbedürftigen Sachen; sie war keine Appellationsinstanz. Die überwiegenden obergerichtlichen Aufgaben nahm dort das Hofgericht wahr.68 In Lauenburg übte 64 Volker Friedrich Drecktrah, Die Gerichtsbarkeit in den Herzogtümern Bremen und Verden und in der preußischen Landdrostei Stade von 1715 bis 1879. Frankfurt a. M. 2002 (Rechtshistorische Reihe, Bd. 259), S. 70; ders., Die Abwicklung einer Gerichtszuständigkeit. Herrschaftswechsel in den Herzogtümern Bremen und Verden in den Jahren 1712 und 1715 und die Folgen für das Wismarer Tribunal, in: Nils Jörn/Bernhard Diestelkamp/Kjell Åke Modéer (Hrsg.), Integration durch Recht. Das Wismarer Tribunal (1653 – 1806). Köln/Weimar/Wien 2003 (QFHG, Bd. 47), S. 179 – 195 (hier S. 189); Stefan Andreas Stodolkowitz, Beziehungen zwischen dem Oberappellationsgericht Celle und dem Wismarer Tribunal, in: Nils Jörn (Hrsg.), Anpassung, Unterordnung, Widerstand?! Das Verhältnis zwischen Ur- und Neuadel im schwedischen Konglomeratstaat. Hamburg 2017 (Schriftenreihe der David-­Mevius-­Gesellschaft, Bd. 11), S. 243 – 278 (hier S. 248 – 256). 65 Peter Jessen, Der Einfluß von Reichshofrat und Reichskammergericht auf die Entstehung und Entwicklung des Oberappellationsgerichts Celle unter besonderer Berücksichtigung des Kampfes um das kurhannoversche Privilegium De Non Appellando Illimitatum. Aalen 1986 (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, NF., Bd. 27), S. 40 – 84; Stodolkowitz, Das Oberappellationsgericht (wie Anm. 62), S. 17 – 27; das Appellationsprivileg ist abgedruckt bei Eisenhardt, Die kaiserlichen privilegia (wie Anm. 61), S. 174 – 177. 66 Kroeschell, recht unde unrecht (wie Anm. 3), S. 214; von Meier, Hannoversche Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte (wie Anm. 50), S. 289 – 294. 67 Drecktrah, Die Gerichtsbarkeit (wie Anm. 64), S. 56 – 6 4. 68 Von Bülow, Über die Verfassung, Bd. 1 (wie Anm. 49), S. 346 f.

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das Hofgericht die erstinstanzliche Gerichtsbarkeit über die Angehörigen der Ritterschaft, über Gemeinden, Städte, Dörfer und Stadtmagistrate sowie über die landesherrlichen Beamten aus. In zweiter Instanz entschied es über Rechtsmittel gegen Entscheidungen der adligen Patrimonialgerichte. Die Regierung dagegen war für Rechtsmittel gegen Entscheidungen der Ämter und Stadtgerichte zuständig sowie für eilbedürftige erstinstanzliche Sachen, die außerhalb der Gerichtstage des Hofgerichts anfielen.69 Für Celle und Hannover wird die Ansicht vertreten, dass die Hofgerichte gegenüber den Justizkanzleien, die im Gegensatz zu jenen ständig tagten und enger an die landesherrliche Verwaltung angebunden waren, an praktischer Bedeutung verloren hätten und eine „absterbende Institution“ gewesen seien.70 Ob diese Annahme zutreffend ist, kann, da Verfahrensakten der Gerichte nur unvollständig überliefert sind, nicht sicher beurteilt werden. Neben den Hofgerichten und Justizkanzleien fungierten die Konsistorien, die Behörden der landesherrlichen Kirchenverwaltung des protestantischen Territoriums, als Gerichte in Streitigkeiten mit geistlichem Bezug; Konsistorien gab es für die entsprechenden Landesteile in Hannover, Stade und Ratzeburg.71 Für Zivilklagen gegen Angehörige des Militärs war als besonderes Gericht ausschließlich die Kriegsgerichtskommission in Hannover zuständig. Bestanden Zweifel über deren Zuständigkeit, so entschied über die Zuständigkeitsabgrenzung zwischen der Kriegsgerichtskommission und den ordentlichen Gerichten der Geheime Rat des Landesherrn.72 Über die bei dem Militaire vorkommenden delictis communibus et militaribus, also Vergehen mit Bezug zum Militärwesen, entschied das Generalkriegsgericht, das lediglich aus einem hohen Offizier als Richter bestand.73 69 Ebd., S. 347 f.; zum Hofgericht Art. III des Landesrezesses von 1702 = Ernst Spangenberg (Hrsg.), Sammlung der Verordnungen und Ausschreiben, welche für sämmtliche Provinzen des Hannoverschen Staats, jedoch was den Calenbergischen, Lüneburgischen, und Bremen- und Verdenschen Theil betrifft, seit dem Schlusse der in denselben vorhandenen Gesetzsammlungen bis zur Zeit der feindlichen Usurpation ergangen sind. Vierter Theil, Zweite Abtheilung, die Lauenburgischen Verordnungen bis 1739 enthaltend. Hannover 1822, S. 332 – 334. 70 Von Meier, Hannoversche Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte (wie Anm. 50), S. 293; siehe auch Kroeschell, recht unde unrecht (wie Anm. 3), S. 214; Stölzel, Die Entwicklung des gelehrten Richtertums (wie Anm. 16), S. 253 – 256. 71 Friedrich von Bülow, Über die Verfassung, die Geschäfte und den Geschäftsgang des Königlichen und Churfürstlich Braunschweig-­Lüneburgischen Ober-­Appellations-­Gerichts zu Zelle, Bd. 2. Göttingen 1804, S. 151 – 165; zum Konsistorium Stade siehe Drecktrah, Die Gerichtsbarkeit (wie Anm. 64), S. 65 – 67. 72 Friedrich von Bülow/Theodor Hagemann, Practische Erörterungen aus allen Theilen der Rechtsgelehrsamkeit, Bd. 1. 2. Aufl. Hannover 1806, S. 176 – 181. 73 Friedrich von Bülow/Theodor Hagemann, Practische Erörterungen aus allen Theilen der Rechtsgelehrsamkeit, Bd. 2. Hannover 1799, S. 181 – 183, unter Hinweis auf landesherrliche Verordnungen aus den Jahren 1732 und 1736.

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Wie auf der Ebene der Untergerichte die landesherrlichen Ämter den Patrimonialgerichten der adligen Gutsherren gegenüberstanden, waren auch die Obergerichte vom Nebeneinander landesherrlicher und ständischer Einflüsse geprägt. Die Justizkanzleien waren Kollegien der landesherrlichen Verwaltung, deren Mitglieder allein der Landesherr ernannte. In der Zusammensetzung der Hofgerichte äußerte sich hingegen der Einfluss der Landstände. So gehörten dem Hofgericht Hannover sechs ordentliche Assessoren, von denen drei der Landesherr und ebenfalls drei die Landstände bestimmten, sowie einige vom Landesherrn ernannte außerordentliche Assessoren an. Der Hofrichter wurde zwar vom Landesherrn ausgewählt, musste aber stets der Ritterschaft entstammen. Gleiches galt für den Hofrichter des Hofgerichts Celle. Diesem gehörten als Beisitzer zwei Mitglieder der Justizkanzlei an sowie fünf ordentliche Assessoren, von denen drei der König und zwei die Landstände bestimmten.74 Das Nebeneinander landesherrlicher und ständischer Elemente zeigt sich auch in der Zusammensetzung des Oberappellationsgerichts Celle. Bei diesem wählte der Landesherr die Präsidenten und Vizepräsidenten sowie rund ein Drittel der Beisitzer aus; die übrigen Beisitzer wurden durch die Landstände präsentiert. Dieser ständische Einfluss auf die Zusammensetzung des Gerichts ist im Zusammenhang mit der Finanzierung des Gerichts zu sehen; denn die Landstände trugen die gesamten personellen Kosten des Oberappellationsgerichts für die Richterschaft ebenso wie für die nichtrichterlichen Bediensteten.75 Auch die ständisch präsentierten Beisitzer wurden indes durch den Landesherrn ernannt und waren dessen Bedienstete mit dem Titel von Oberappellationsräten. Die hergebrachte Trennung zwischen einem lediglich das Verfahren leitenden Richter und den die Entscheidung treffenden Urteilern gab es am Oberappellationsgericht nicht. Dessen Präsidenten und Vizepräsidenten waren mit gleichem Stimmrecht an den Entscheidungen beteiligt wie die Beisitzer.76 Die Richterschaft war in eine gelehrte und eine adlige Bank geteilt. Die Hälfte der Beisitzer musste Familien des alten Adels entstammen, zur anderen Hälfte waren die Beisitzer nichtadlig oder gehörten, weil sie selbst oder ihre Vorfahren in den Adelsstand erhoben worden waren, dem neuen Adel an.77 Diese Trennung, die es auch am Reichshofrat sowie an anderen Territorialgerichten gab,78 spiegelte den Aufbau der Gesellschaft wider. Für 74 Von Meier, Hannoversche Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte (wie Anm. 50), S. 290. 75 Stodolkowitz, Das Oberappellationsgericht (wie Anm. 62), S. 25 f., 50 f. 76 Von Bülow, Über die Verfassung, Bd. 1 (wie Anm. 49), S. 92 f.; Stodolkowitz, Das Oberappellationsgericht (wie Anm. 62), S. 43. 77 Von Bülow, Über die Verfassung, Bd. 1 (wie Anm. 49), S. 40 – 42; Theodor Hagemann (Hrsg.), Die Ordnung des Königlichen Ober-­Appellations-­Gerichts zu Celle. Hannover 1819, S. 5 f., Anm. 1. 78 Wolfgang Sellert, Prozessgrundsätze und Stilus Curiae am Reichshofrat im Vergleich mit den gesetzlichen Grundlagen des reichskammergerichtlichen Verfahrens. Aalen 1973

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die Qualifikation der Richter war sie indes unbedeutend. Die Richter der adligen Bank mussten ebenso wie diejenigen der gelehrten Bank studierte Juristen sein.79 Insofern hatte sich das gelehrte Element in der Richterschaft des Oberappellationsgerichts vollständig durchgesetzt. Nahezu alle Gerichte des Kurfürstentums standen im Verband eines klar gegliederten Instanzenzuges. Über den Ämtern, Patrimonialgerichten und Stadtgerichten standen die Hofgerichte und Justizkanzleien. Sie entschieden insbesondere über Appellationen, aber auch über andere Rechtsmittel wie Beschwerden wegen verweigerter und verzögerter Justiz gegen die genannten Untergerichte.80 Über Rechtsmittel gegen Entscheidungen der Hofgerichte und Justizkanzleien entschied das Oberappellationsgericht Celle. Auch Entscheidungen des Konsistoriums konnten, sofern sie nicht rein innerkirchliche Angelegenheiten betrafen, mit den allgemeinen Rechtsmitteln an das Oberappellationsgericht angefochten werden.81 So waren Streitigkeiten mit kirchlichem Bezug in den allgemeinen Instanzenzug der Territorialgerichte eingebunden. Gleiches gilt für die Kriegsgerichtskommission, gegen deren Erkenntnisse ebenfalls die Appellation an das Oberappellationsgericht statthaft war. Entscheidungen des Generalkriegsgerichts bei Militärvergehen waren hingegen nicht anfechtbar.82 Appellationen gegen Entscheidungen braunschweig-­ lüneburgischer Gerichte an die Reichsgerichte waren durch das unbeschränkte Appellationsprivileg ausgeschlossen. Hiervon unberührt blieben andere Rechtsmittel als die Appellation, insbesondere die Nichtigkeitsbeschwerde bei schwerwiegenden Rechtsverletzungen und die Beschwerde wegen verweigerter und verzögerter Justiz. Diese Rechtsmittel waren indes vor allem von verfassungsrechtlicher Bedeutung, indem sie die Territorialjustiz in das Rechts- und Gerichtswesen des Reiches einbanden. In der Rechtspraxis spielten sie kaum eine Rolle, weil sich unterlegene (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, NF., Bd. 18), S. 343; allgemein David Georg Strube, Nebenstunden, Dritter Theil. Hannover 1750, S. 124 – 209. 79 T. I Tit. 1 § 6 der Oberappellationsgerichtsordnung von 1713 (künftig: OAGO) = Landes-­ Ordnungen, Bd. 2 (wie Anm. 38), S. 8 f.; Stodolkowitz, Das Oberappellationsgericht (wie Anm. 62), S. 46 f. 80 Stefan Andreas Stodolkowitz, Rechtsverweigerung und Territorialjustiz. Verfahren wegen iustitia denegata vel protracta am Oberappellationsgericht Celle, in: Zeitschrift der Savigny-­ Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 131 (2014), S. 128 – 181 (hier S. 144, 161 – 165). 81 T. II Tit. 1 § 3 OAGO = Landes-­Ordnungen, Bd. 2 (wie Anm. 38), S. 62; Stefan Andreas Stodolkowitz, Das Rechtsmittel der Appellation am Oberappellationsgericht Celle, in: Leopold Auer/Eva Ortlieb (Hrsg.), Appellation und Revision im Europa des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. Wien 2013 (Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs, Jg. 3, Bd. 1), S. 269 – 290 (hier S. 272 f.), verfügbar unter http://hw.oeaw.ac.at/7432-5inhalt?frames=yes (abgerufen am 8. April 2019). 82 Von Bülow/Hagemann, Practische Erörterungen, Bd. 2 (wie Anm. 73), S. 181 – 183.

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Parteien nur in wenigen Einzelfällen tatsächlich an das Reichskammergericht oder den Reichshofrat wandten.83 Neben den eigentlichen Gerichten waren durch das Rechtsinstitut der Aktenversendung die Juristenfakultäten der Universitäten in die Rechtsprechung eingebunden. Viele Gerichte verschickten auf Antrag einer Partei oder von Amts wegen die Akten eines Rechtsstreits an eine Juristenfakultät, die ein Gutachten und einen Urteilsvorschlag ausarbeitete.84 Dadurch erlangte die Rechtslehre starken Einfluss auf die Rechtsprechung. Die Aktenversendung war im 17. und 18. Jahrhundert ein prägendes Element des Zivilprozesses. Gleichwohl wurde sie teilweise durch die Landesherren zurückgedrängt. Diese sahen in ihnen eine Gefahr für ein in­ stitutionalisiertes landesherrliches Justizwesen, weil infolge der Aktenversendung Entscheidungen durch Gremien getroffen wurden, die nicht seitens des Landesherrn als Gerichte eingesetzt worden waren; derartige Vorbehalte bestanden vor allem bei Aktenversendungen an Universitäten außerhalb des eigenen Territoriums, zumal diese mit partikularen Rechtsquellen möglicherweise nicht vertraut waren.85 Das Oberappellationsgericht Celle praktizierte die Aktenversendung nicht.86 Seine erhaltenen Prozessakten aus dem Herzogtum Lauenburg geben aber Hinweise auf die Praxis der Aktenversendung durch das Hofgericht in Ratzeburg, das in zahlreichen Appellationssachen das Gericht der Vorinstanz war. Das Hofgericht Ratzeburg verschickte, auch wenn seine Gerichtsordnung eine restriktive Handhabung der Aktenversendung anmahnte,87 in zahlreichen Zivilprozessen die Akten an unterschiedliche Juristenfakultäten, und zwar nicht nur an Universitäten innerhalb des Kurfürstentums, sondern auch an auswärtige wie Erfurt, Jena und Leipzig.88 Die 83 Stodolkowitz, Das Oberappellationsgericht (wie Anm. 62), S. 20 f., 134; ders., Rechtsverweigerung (wie Anm. 80), S. 178 f. 84 Engelbert Klugkist, Die Göttinger Juristenfakultät als Spruchkollegium. Göttingen 1952, S. 13; Heiner Lück, Die Spruchtätigkeit der Wittenberger Juristenfakultät. Organisation – Verfahren – Ausstrahlung. Köln/Weimar/Wien 1998, S. 39 – 44; Peter Oestmann, Wege zur Rechtsgeschichte: Gerichtsbarkeit und Verfahren. Köln/Weimar/Wien 2015, S. 189 – 193; Alois Schikora, Die Spruchpraxis an der Juristenfakultät zu Helmstedt. Göttingen/Zürich/ Frankfurt a. M. 1973 (Göttinger Studien zur Rechtsgeschichte, Bd. 4), S. 83. 85 Hermann Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 2: Neuzeit bis 1806. Karlsruhe 1966, S. 464; Peter Oestmann, Art. Aktenversendung, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 1. Stuttgart/Weimar 2005, Sp. 167; ders., Art. Aktenversendung, in: HRG, Bd. 1. 2. Aufl. Berlin 2008, Sp. 128 – 132; ders., Wege zur Rechtsgeschichte (wie Anm. 84), S. 193. 86 T. II Tit. 13 § 9 OAGO = Landes-­Ordnungen, Bd. 2 (wie Anm. 38), S. 148. 87 Tit. 37 Art. 3 der Hofgerichtsordnung von 1681 = Spangenberg (Hrsg.), Sammlung (wie Anm. 69), S. 300. 88 Fallbeispiele bei Stefan Andreas Stodolkowitz, Die Bauern und ihr Recht. Prozesse lauenburgischer Bauern gegen die Grafen von Bernstorff am Oberappellationsgericht Celle gegen Ende des 18. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 36 (2014),

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Aktenversendung war vor allem im Zusammenhang mit dem Rechtsbehelf der Läuterung bedeutsam. Die Läuterung (ursprünglich „Erläuterung des Urteils“) führte zu einer erneuten Prüfung der angefochtenen Entscheidung durch dasselbe Gericht. Eine spätere Appellation in derselben Sache war nach der Oberappellationsgerichtsordnung ausgeschlossen;89 die gerichtliche Praxis kannte zwar einige Ausnahmen, scheint den Ausschluss der Appellation nach durchgeführter Läuterung jedoch in der Regel befolgt zu haben.90 Im Herzogtum Lauenburg indes konnten die Parteien in derselben Sache nacheinander sowohl Läuterung als auch Appellation einlegen.91 In der Praxis des Hofgerichts Ratzeburg führte die Läuterung regelmäßig zu einer erneuten Aktenversendung.92 Die hergebrachten Land- und Gogerichte hatten im Wandel des Gerichtswesens seit dem Beginn der Frühen Neuzeit zwar ihre Zuständigkeiten in Zivil- und Strafsachen weitestgehend eingebüßt, waren aber nicht gänzlich untergegangen. Sie lebten in den Landgerichten fort, die als Landwrogengerichte über sogenannte Wrogen, leichtere Vergehen und Übertretungen von Polizeiverordnungen, entschieden und Strafen verhängten.93 Ihren ursprünglichen genossenschaftlichen Hintergrund hatten sie verloren und waren zu Verwaltungseinrichtungen der landesherrlichen Ämter und der Kammer geworden, die als Behörde des Landesherrn die Grundherrschaft über die Ämter ausübte. Sie wurden regelmäßig durch ein Mitglied der Kammer, das zu diesem Zwecke eine mehrwöchige Dienstreise durch das Land unternahm, am Sitz des Amtes abgehalten;94 sie können als „Hausgerichte der fürstlichen Kammer“ klassifiziert werden.95 Inwiefern Entscheidungen der Landgerichte mit Rechtsmitteln angefochten werden konnten, war streitanfällig. Ein Landtagsabschied aus dem Jahre 1650 ließ gegen Erkenntnisse der Landgerichte S. 230 – 245; ders., Die Gutsherrschaft der Grafen von Bernstorff in den Verfahren des Oberappellationsgerichts Celle, in: Anette Baumann/Alexander Jendorff (Hrsg.), Adel, Recht und Gerichtsbarkeit im frühneuzeitlichen Europa. München 2014 (bibliothek altes Reich, Bd. 15), S. 77 – 102; ders., Rechtsverweigerung (wie Anm. 80), S. 167 – 169. 89 T. II Tit. 1 § 6 OAGO = Landes-­Ordnungen, Bd. 2 (wie Anm. 38), S. 65 f. 90 Von Bülow, Über die Verfassung, Bd.  2 (wie Anm.  71), S.  41 – 51; ders./Theodor Hagemann, Practische Erörterungen aus allen Theilen der Rechtsgelehrsamkeit, Bd. 3. Hannover 1801, S. 358 – 362. 91 Georg Heinrich Oesterley, Handbuch des bürgerlichen und peinlichen Processes für das Königreich Hannover, Bd. 2: Bürgerlicher Proceß, Zweyte Abtheilung. Göttingen 1819, S. 387. 92 Fallbeispiele bei Stodolkowitz, Die Bauern und ihr Recht (wie Anm. 88), S. 236, 242; ders., Die Gutsherrschaft (wie Anm. 88), S. 87, 92, 98. 93 Ausführliche Darstellung bei Landwehr, Die althannoverschen Landgerichte (wie Anm. 3), S. 51 – 86, 106 – 119. 94 Ebd., S. 16 – 18. 95 Ebd., S. 119.

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die Appellation an den Geheimen Rat des Landesherrn zu.96 Im Jahre 1718 nahm das Oberappellationsgericht eine Appellation gegen eine Entscheidung eines Landgerichts an.97 Durch eine Verordnung aus dem Jahre 1719, die sogenannte Göhrder Konstitution, entschied der Landesherr, dass Appellationen gegen Entscheidungen der Landgerichte nur ausnahmsweise statthaft sein sollten, wenn Rechte unbeteiligter Dritter (iura quaesita) berührt waren.98 Ein Delinquent, der durch das Landgericht mit einer Strafe belegt wurde, konnte damit regelmäßig keine Überprüfung durch ein höheres Gericht erreichen. So war sichergestellt, dass der Zuständigkeitsbereich der landesherrlichen Kammer dem Einfluss der Gerichte weitgehend entzogen war. Auch im Übrigen war die Abgrenzung der Zuständigkeitssphären der Gerichte und der Kammer streitanfällig. Durch die bereits erwähnte Göhrder Konstitution legte der Landesherr fest, dass über Streitigkeiten mit Bezug zum landesherrlichen Domänenwesen nicht die ordentlichen Gerichte, sondern allein die Kammer zu entscheiden habe.99 Ob die Kammer insofern als Gericht fungierte oder als landesherrliche Verwaltungsbehörde, ist schwer zu beurteilen. Diese alleinige Entscheidungsbefugnis führte zu langwierigen Auseinandersetzungen zwischen dem Landesherrn und seinen Regierungsgremien einerseits und den Landständen andererseits.100 Ohne Erfolg machten diese geltend, es sei ein in Teutschlandt bekandtes principium, dass die Kammer, deren Aufgabe nur die Verwaltung der herrschaftlichen Domänen und deren Einkünfte sei, keine Aufgaben der Justiz wahrnehme.101 In zahlreichen Verfahren der Hofgerichte und Justizkanzleien sowie des Oberappellationsgerichts war diese Zuständigkeitsabgrenzung entscheidend.102

96 Landtagsabschied vom 11. März 1650, Chur-­Braunschweig-­Lüneburgische Landes-Ordnungen und Gesetze. Zum Gebrauch der Fürstenthümer, Graf- und Herrschaften Calenbergischen Theils, Bd. 8. Göttingen 1740, S. 99 – 103 (hier S. 101 f.). 97 Prozessakten zu diesem Fall sind nicht erhalten, doch ist er durch eine Vorstellung der Kammer an den Landesherrn vom 19. Januar 1719 und das in der Anlage beigefügte Urteil des Oberappellationsgerichts vom 9. Mai 1718 überliefert: Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv Hannover (künftig: NHStA), Hann. 92 Nr. 534, fol. 1 – 11. 98 Landesherrliche Verordnung vom 19. Oktober 1719 = Landes-­Ordnungen, Bd. 2 (wie Anm. 38), S. 588 – 591; von Bülow, Über die Verfassung, Bd. 2 (wie Anm. 71), S. 244 f. 99 Landesherrliche Verordnung vom 19. Oktober 1719 = Landes-­Ordnungen, Bd. 2 (wie Anm. 38), S. 588 – 591. 100 Stodolkowitz, Das Oberappellationsgericht (wie Anm. 62), S. 118 – 123. 101 NHStA, Celle Br. 47 Nr. 88/1, fol. 70/2. 102 Verfahrensakten des Oberappellationsgerichts Celle zu derartigen Fällen: Landesarchiv Schleswig, Abt. 216 Nrn. 68, 289, 549, 628, 757, 1139, 1140; vgl. Stodolkowitz, Rechtsverweigerung (wie Anm. 80), S. 153 – 161.

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In Zweifelsfällen entschied der Landesherr, ob eine Streitigkeit durch die ordentlichen Gerichte oder aber durch die Kammer zu entscheiden war.103

4. Schluss Die Genese des frühneuzeitlichen Territorialstaats war in Braunschweig-­Lüneburg durch den Aufstieg der welfischen Fürstentümer zu einem überregional bedeutsamen Kurfürstentum geprägt, dessen Landesherr in Personalunion König von Großbritannien war. In die Verfestigung staatlicher Strukturen fügt sich die Entstehung eines institutionalisierten Justizwesens mit überwiegend klar abgegrenzten Zuständigkeiten und einem abgestuften Instanzenzug ein. War die Rechtsprechung im Übergang zur Frühen Neuzeit noch von genossenschaftlich geprägten Gogerichten ausgeübt worden, entstanden Gerichte des Landesherrn in Gestalt der Hofgerichte und zeitlich später der Justizkanzleien. Vermittelt durch diese Gerichte nahm der Landesherr das Herrschaftsrecht der Gerichtsbarkeit durch die Entscheidung über Appellationen wahr.104 Über die Ämter und ihre untergerichtliche Rechtsprechungsfunktion dehnten die Landesherren ihre Gerichtsherrschaft in den ländlichen Raum aus. Diese wurde nicht nur durch die vereinheitlichende Wirkung des Instanzenzuges gefestigt, sondern auch durch die Aufsicht des Fürsten und seiner Kammer über die Ämter, deren Amtsleute Bedienstete des Landesherrn waren. Den Ämtern entsprach die untere Gerichtsbarkeit der Patrimonialgerichte und der Stadtgerichte: Wie die Untertanen der Ämter standen diejenigen der adligen Grundherren sowie die Bürger der Städte ebenfalls unter der Gerichtsbarkeit ihres jeweiligen unmittelbaren Herrschaftsträgers. Diesem Gedanken liegt gleichermaßen die Gerichtsbarkeit der Obergerichte über eximierte Personenkreise zugrunde, die nicht den Lokalgewalten unterworfen waren. Der Rechtsmittel- und Instanzenzug verband die verschiedenen Ebenen der Gerichtsbarkeit miteinander. An ihrer Spitze stand im 18. Jahrhundert das Oberappellationsgericht Celle als mit landesherrlichen Räten besetztes oberstes Gericht. Rechtsmittel an die Reichsgerichte waren durch das unbeschränkte Appellationsprivileg weitgehend ausgeschlossen. Die verbleibenden Rechtsmittel der Nichtigkeits- und der Rechtsverweigerungsbeschwerde waren in der Praxis überwiegend bedeutungslos; sie hielten die Territorialgerichte jedoch dazu an, ein Gerichtswesen zu gewährleisten, das den Maßstäben des Reichsrechts und der Reichsgerichte entsprach. 103 Von Bülow, Über die Verfassung, Bd. 1 (wie Anm. 49), S. 332 – 336, Bd. 2 (wie Anm. 71), S. 252 – 254, unter Hinweis auf diesbezügliche Reskripte des Landesherrn. 104 Vgl. Willoweit, Rechtsgrundlagen (wie Anm. 16), S. 188.

Alexander Denzler

Versuch einer quantitativen Analyse der süddeutschen Gerichtsvielfalt Quantitative Analysen haben in der Reichskammergerichtsforschung eine lange Tradition. Nach der von Bernhard Diestelkamp mitangeregten 1 Pionierarbeit 2 von Filippo Ranieri aus dem Jahr 1985, die nicht weniger versuchte als „die Gesamtheit der archivalischen Überlieferung [des Reichskammergerichts aus dem 16. Jahrhundert, Anm. AD] kollektiv sprechen zu lassen“,3 war es allen voran Anette Baumann, welche die quantitative Methode für die Erforschung des Reichskammergerichts im 17. und 18. Jahrhundert angewendet hat, „um zeitlich langandauernde gemeinsame Entwicklungstendenzen und -muster“ beim ständischen Höchstgericht zu erfassen.4 Aber auch Anja Amend-­Traut,5 Peter Oestmann,6 Ralf Peter Fuchs 7 und andere 8 1 Bernhard Diestelkamp, Das Reichskammergericht im Rechtsleben des 16. Jahrhunderts, in: Hans-­Jürgen Becker/Gerhard Dilcher/Gunter Gudian/Ekkehard Kaufmann/Wolfgang Sellert (Hrsg.), Rechtsgeschichte als Kulturgeschichte. Festschrift für Adalbert Erler zum 70. Geburtstag. Aalen 1976, S. 435 – 480. 2 Ranieri war „der erste, der überhaupt zum Geschäftsanfall des Gerichts, zu der Quantität der verschiedenen Verfahrensarten, zum sozialen Herkommen der Prozeßparteien etc. statistisch gesicherte Aussagen machen konnte.“ Anette Baumann, Die quantifizierende Methode und die Reichskammergerichtsakten, in: dies./Siegrid Westphal/Stephan Wendehorst/Stefan Ehrenpreis (Hrsg.), Prozessakten als Quelle. Neue Ansätze zur Erforschung der Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich. Köln/Weimar/Wien 2001 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, künftig: QFHG, Bd. 37), S. 55 – 68 (hier S. 61). 3 Filippo Ranieri, Recht und Gesellschaft im Zeitalter der Rezeption. Eine rechts- und sozialgeschichtliche Analyse der Tätigkeit des Reichskammergerichts im 16. Jahrhundert, zwei Teilbände. Köln/Wien 1985 (QFHG, Bd. 17/I–II), S. 50. 4 Anette Baumann, Die Gesellschaft der Frühen Neuzeit im Spiegel der Reichskammergerichtsprozesse. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung des 17. und 18. Jahrhunderts. Köln/ Weimar/Wien 2001 (QFHG, Bd. 36), S. 13. 5 Anja Amend-­Traut, Wechselverbindlichkeiten vor dem Reichskammergericht. Praktiziertes Zivilrecht in der Frühen Neuzeit. Köln/Weimar/Wien 2009 (QFHG, Bd. 54). 6 Peter Oestmann, Hexenprozesse am Reichskammergericht. Köln/Weimar/Wien 1997 (QFHG, Bd. 31). 7 Ralf Peter Fuchs, Um die Ehre. Westfälische Beleidigungsprozesse vor dem Reichskammergericht 1525. Paderborn 1999 (Forschungen zur Regionalgeschichte, Bd. 28). 8 Rita Sailer, Untertanenprozesse vor dem Reichskammergericht. Rechtsschutz gegen die Obrigkeit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Köln/Weimar/Wien 1999 (QFHG, Bd. 33); Robert Riemer, Frankfurt und Hamburg vor dem Reichskammergericht. Zwei Handels- und Handwerkszentren im Vergleich. Köln/Weimar/Wien 2012 (QFHG, Bd. 60). Aber auch andere (Höchst-)Gerichte haben eine quantitative Betrachtung erfahren, wie

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haben sich einer quantifizierenden Auswertung bedient, um ihre anhand von einzelnen Prozessakten erarbeiteten Befunde in größere Zusammenhänge einzuordnen und/oder um ihr Untersuchungsmaterial sinnvoll – und dies heißt zahlenmäßig verlässlich – eingrenzen zu können. Die Bedeutung der quantitativen Methode für die Reichskammergerichtsforschung resultiert aus der Überlieferungslage selbst: 70.000 Prozessakten, verstreut in über 40 in- und ausländischen Archiven, legen nahe, die in den Akten enthaltenen Informationen in „zähl-, mess- oder wägbare Datenmengen“ zu übertragen und „als Variablen und Dimensionen […] kausal oder relativistisch“ zu analysieren.9 Unverzichtbar für eine solche quantitative Analyse sind jene mehr als 120 Bände, die in Regestform die Akten des Reichskammergerichts nach einheitlichen Grundsätzen erschließen.10 Auf Grundlage der im Bayerischen Hauptstaatsarchiv überlieferten und mittels Regesten erschlossenen Reichskammergerichtsakten möchte der folgende Beitrag die quantitative Methode für das Thema Gerichtsvielfalt fruchtbar machen und Überlegungen zu möglichen strukturellen Veränderungen dieser süddeutschen Gerichtslandschaft(en) zwischen 1500 und 1800 auf der Basis der analysierten Zahlen anstellen. Es soll daneben gezeigt werden, dass die Vielfalt der frühneuzeitlichen Gerichte zwar qualitativ erforscht werden kann und muss. Ohne eine quantitative Analyse der vielfältigen Gerichte und Gerichtstypen bleiben solche qualitativen Forschungen jedoch, so lautet die Arbeitsthese der folgenden Ausführungen, unvollständig. In drei Schritten soll das Thema entfaltet werden. Als erstes steht jene Datengrundlage im Mittelpunkt, die im Rahmen eines Forschungsprojektes an der Katholischen Universität Eichstätt-­Ingolstadt unter Verwendung einer Excel-­Datenbank erstellt und anschließend analysiert wurde.11 Die Modellierung einer eigenen Datenbank war erforderlich, da die Bochumer/Würzburger Datenbank die Münchener etwa die Studien von Stefan Andreas Stodolkowitz, Das Oberappellationsgericht Celle und seine Rechtsprechung im 18. Jahrhundert. Köln/Weimar/Wien 2011 (QFHG, Bd. 59), oder von Verena Kasper-­Marienberg, „vor Euer Kayserlichen Mayestät Justiz-­Thron“. Die Frankfurter jüdische Gemeinde am Reichshofrat in josephinischer Zeit (1765 – 1790). Innsbruck 2012 (Schriften des Centrums für Jüdische Studien, Bd. 19), zeigen. 9 Karl-­Heinz Hillmann, Wörterbuch der Soziologie. Stuttgart 2007, S. 720 (Stichwort Quantifizierung). Diese Definition hat für die Reichskammergerichtsforschung Baumann, Die quantifizierende Methode (wie Anm. 2), S. 57, eingeführt. 10 Die Zahlen sind der Skizze der Datenbank zur „Höchstgerichtsbarkeit Altes Reich“ entnommen: https://www.jura.uni-­wuerzburg.de/lehrstuehle/amend_traut/forschungsprojektdatenbankhoechstgerichtsbarkeit/ (abgerufen am 15. Juni 2017). 11 Ich danke Miriam Lanz, Maria Weber M.A. und Michael Zormeier für die Mitwirkung an dem Forschungsprojekt. Es konnte realisiert werden mit Mitteln der Forschungsförderung „proFOR“ der Katholischen Universität Eichstätt-­Ingolstadt. Zu danken habe ich ferner Prof. Dr. Sabine Ullmann, Prof. Dr. Markus Denzler und Dr. Stefan Stodolkowitz für die konstruktiven Vorschläge zur Weiterentwicklung des Textes und der Diagramme.

Versuch einer quantitativen Analyse der süddeutschen Gerichtsvielfalt

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Daten noch nicht führt und hier generell nicht alle in den Indices enthaltenen Daten Eingang gefunden haben, die für die Untersuchung der Gerichtsvielfalt von Interesse sind.12 Daneben liegt mit Süddeutschland ein – wie noch deutlich werden wird – für die Gerichtsvielfalt besonders erkenntnisreicher Untersuchungsraum vor. Dem Beitrag vorauszuschicken gilt es, dass die Auswertung der in Eichstätt erhobenen Daten noch nicht abgeschlossen ist. An dieser Stelle sollen vielmehr erste Ergebnisse präsentiert werden, die um mehr als 2.000 Gerichte kreisen. Nach der Vorstellung der Datengrundlage und des Untersuchungsraumes werden, zweitens, quantitative Ergebnisse für die insgesamt 2.220 Einzelgerichte vorgestellt. Die Vielzahl an Gerichten bedingt es, dass nur eine Auswahl näher betrachtet werden kann. Der sich anschließende dritte Teil wird auf den Begriff der Gerichtslandschaft eingehen, welcher in der bisherigen Forschung als „Arbeitsinstrument“ 13 eingeführt worden ist, um die Gerichtsvielfalt zu untersuchen. Die Frage, ob und inwiefern es die quantitativen Befunde dieses Beitrags erlauben, von einer oder auch mehreren Gerichtslandschaften zu sprechen, soll gleichfalls erörtert werden.

1. Die Datengrundlage und der Untersuchungsraum Im Hauptstaatsarchiv München befinden sich rund 12.400 Akten 14 von Prozessen des Reichskammergerichts, bei denen der Wohnsitz des Beklagten oder, in Appellationsverfahren, der Sitz der Vorinstanz im Herzogtum oder späteren Kurfürstentum Bayern – mit Ausnahme der bayerischen Rheinpfalz 15 –, in Franken oder in 12 Dies betrifft, soweit zu sehen, alle Nennungen, die im Verzeichnisschema nicht der Rubrik „6“ für Instanzen entnommen sind. Siehe hierzu die weiteren Ausführungen. Die Datenbank steht unter der in Anm. 10 angeführten Internetadresse zur Verfügung. Siehe insgesamt zur Datenbank auch Bernd Schildt, Wandel in der Erschließung der Reichskammergerichtsakten. Vom gedruckten Inventar zur Online-­Recherche in der Datenbank, in: Friedrich Battenberg/ders. (Hrsg.), Das Reichskammergericht im Spiegel seiner Prozessakten. Bilanz und Perspektiven der Forschung. Köln/Weimar/Wien 2010 (QFHG, Bd. 57), S. 34 – 60. 13 Anette Baumann/Anja Amend/Stephan Wendehorst, Einleitung, in: Anja Amend/ Anette Baumann/Stephan Wendehorst/Siegrid Westphal (Hrsg.), Gerichtslandschaft Altes Reich. Höchste Gerichtsbarkeit und territoriale Rechtsprechung. Köln/Weimar/Wien 2007 (QFHG, Bd. 52), S. 1 – 5 (hier S. 1). 14 Diese Zahl nennt Thomas Reich auf der Präsentation „Reichskammergerichtsakten in Münster. Digitalisierung und Präsentation für das 21. Jahrhundert“, Folie 3. Online unter: http://www.archive.nrw.de/lav/abteilungen/westfalen/BilderKartenLogosDateien/OnlineMaterialien/Reich_Reichskammergerichtsakten_17012013.pdf (abgerufen am 12. Juli 2017). 15 Raimund J. Weber, Praktische Erfahrungen aus der Inventarisierung von Reichskammergerichtsakten am Beispiel südwestdeutscher Staatsarchive, in: Battenberg/Schildt (Hrsg.), Das Reichskammergericht (wie Anm. 12), S. 11 – 33 (hier S. 14).

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Schwaben lagen. Diese Akten geben Aufschluss über Gerichte mit Sitz im Gebiet des damaligen Königreichs Bayern, welches sich in der Frühen Neuzeit durch das weitgehend geschlossene Territorium des Herzogtums und späteren Kurfürstentums sowie durch eine Vielzahl an sehr unterschiedlichen Herrschaftsträgern in Franken und Schwaben auszeichnete. Aus der Ex-­Post-­Perspektive betrachtet, verspricht die eben geschilderte heterogene Herrschaftsstruktur aufgrund des Zusammenhangs von Herrschaft und Gerichtskompetenzen 16 ebenso wie aufgrund der aus den unterschiedlichen Herrschaftsstrukturen resultierenden Justiznutzungen durch die Obrigkeit und die Untertanen ein besonders lohnenswerter Untersuchungsraum zu sein. Von den 12.400 in München verwahrten Reichskammergerichtsakten sind seit 2015 in insgesamt 19 Bänden 8.429 Prozesse in publizierter Form inventarisiert.17 Dort verzeichnet sind die Kameralakten der Kläger mit den Buchstaben A bis O. Für das Eichstätter Forschungsprojekt zur Darstellung einer Gerichtsvielfalt in der Vormoderne auf der Basis hinreichender Daten war entscheidend, dass die Akten mit einem „Index der Vorinstanzen, Juristenfakultäten und Schöppenstühle“ erschlossen wurden. Wichtig ist dabei, dass dieser Index alle Vorinstanzen aufführt, die im jeweiligen Gerichtsverfahren involviert waren und bei denen Prozessbeschreibungen unter der Nummer 6 angeführt sind. Über die eigentlichen Vorinstanzen hinaus sind im Index alle „urteilend, schiedsrichterlich oder gutachtend tätigen Gerichte, Juristenfakultäten und Schöppenstühle sowie natürliche Personen“ angeführt.18 Bei den natürlichen Personen handelt es sich um „Schieds- oder Austrägalrichter, Kommissare, Gerichtsherren oder Gutachter“.19 Ebenfalls verzeichnet ist ein Gericht etwa dann, wenn es zwar nicht mit der Sache befasst war, aber beantragt wurde, den Rechtsstreit an dieses Gericht zu verweisen.20

16 Gerichtsbarkeit ist der „Inbegriff aller Herrschaftsrechte“, so Barbara Stollberg-­Rilinger, Des Kaisers alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches. München 2008, S. 28. Zu dieser Formulierung bezieht Heiner Lück Stellung: „Daß ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält …“. Gericht und Verfahren als Zen­ tralkategorien im Werk von Wolfgang Sellert, in: Eva Schumann (Hrsg.), Justiz und Verfahren im Wandel der Zeit. Gelehrte Literatur, gerichtliche Praxis und bildliche Symbolik. Festgabe für Wolfgang Sellert zum 80. Geburtstag. Berlin/Boston 2017 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, NF., Bd. 44), S. 1 – 18 (hier S. 3). 17 Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns (Hrsg.), Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Reichskammergericht (künftig: RKG), Bd. 1 – 19, Nr. 1 – 8429 (Buchstabe A–O), bearb. von Stefan Breit (Bd. 16), Thomas Engelke (Bd. 19), Wilhelm Füßl (Bd. 1 – 19), Barbara Gebhard (Bd. 1 – 2), Manfred Hörner (Bd. 1 – 19), Margit Ksoll-­Marcon (Bd. 1 – 19), Susanne Millet (Bd. 19). München 1994 – 2015 (hier Bd. 1, S. XVI). 18 Siehe etwa RKG (wie Anm. 17), Bd. 9, S. 792. 19 Ebd. 20 Siehe etwa ebd. die Verfahren mit der Nummer 50 und 8.221. Hier und im Folgenden werden in der Regel nicht die Band- und Seitenangabe, sondern die Inventarnummer angeführt.

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Alle diese Gerichte und natürlichen Personen mit Gerichtskompetenzen sind in den Verzeichnissen aufgeführt und bilden die Grundlage der Datenbank, anhand derer sich eine breite Gerichtsvielfalt ablesen lässt. Von den rund 8.500 verzeichneten Prozessen flossen 4.640 und damit knapp 50 Prozent in die Datenbank und dadurch in die Analyse mit ein; die Voraussetzung hierbei war es, dass in den Prozessfällen ein oder mehrere Vorinstanzen und Gerichte in den Regesten genannt werden. Festhalten lassen sich hier bereits numerisch die Verfahrensarten: 65 Prozent dieser 4.640 Fälle sind Appellationsverfahren, bei den anderen 35 Prozent handelt es sich um Mandats- und Citationsverfahren. Die Zahlen lassen sich aber weiter präzisieren und kategorisieren, denn insgesamt finden sich in den 4.640 Prozessen 8.570 Nennungen von Gerichten, wobei überwiegend in einem Prozess ein Gericht – in 2.350 Prozessen – oder zwei Gerichte – in 1.430 Prozessen – genannt werden. Demgegenüber gab es nur rund 800 Fälle mit der Nennung von drei bis fünf Gerichten. Eine Ausnahme bilden 95 Fälle mit mehr als fünf Gerichten. Darin enthalten sind 16 Fälle, bei denen sogar mehr als zehn Gerichte aufgelistet werden. Den absoluten „Spitzenplatz“ mit 28 Gerichts-­Nennungen nimmt ein Prozessfall aus dem 18. Jahrhundert ein.21 Zur weiteren Einordnung der soeben geschilderten Daten lässt sich festhalten, dass die 8.570 Gesamtnennungen sich zu 47 Prozent (4.036) auf Vorinstanzen beziehen. Die anderen 53 Prozent (4.534) resultieren zunächst aus der bereits angeführten Aufnahme im Index von Gerichten, Juristenfakultäten und Schöppenstühlen sowie natürlichen Personen, welche „urteilend, schiedsrichterlich oder gutachtend“ bei Prozessen tätig waren.22 Darüber hinaus waren nicht alle genannten Gerichte tatsächlich mit der Sache befasst, worauf etwa jene Gerichte verweisen, die in den Kameralakten auftauchen, weil eine Partei die Verweisung an dieses Gericht beantragt hatte, ohne jedoch juristisch aktiv zu werden.23 Mit dem hier verfolgten Zugriff wird die Gerichtsvielfalt auf Grundlage der Inventare mittelbar aus der Perspektive des Reichskammergerichts betrachtet. Die Prozessinhalte und damit die Kontexte der Gerichts-­Nennungen bleiben bei einer solchen quantitativen Untersuchung unberücksichtigt. Die 8.570malige Nennung von Gerichten im Zusammenhang von Reichskammergerichts-­Prozessen ist indes schon für sich betrachtet eine repräsentative Datengrundlage für eine Analyse der frühneuzeitlichen Gerichtsvielfalt. Doch können bei einer historisch-­quantitativen

21 Ebd., Inventarnummer 7.527. 22 Ebd., Bd. 9, S. 792. 23 Siehe etwa ebd., Inventarnummer 8.221.

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Analyse keine unmittelbaren Kausalerklärungen aufgestellt, sondern lediglich strukturelle Zusammenhänge aufgezeigt werden.24 Festzuhalten bleibt fernerhin, welche Informationen die Regestbände enthalten und welche nicht. Dies betrifft insbesondere die Genauigkeit der Gerichtsbezeichnungen. Da es in der Frühen Neuzeit „keine Briefköpfe mit einer verbindlichen amtlichen Gerichtsbezeichnung“ gab, beruhte die Namensvergabe bei der Verzeichnung der Akten „oft auf der Interpretation des Bearbeiters“, von denen es in den letzten mehr als 20 Jahren neun gab.25 Zu bedenken ist überdies, dass die Bezeichnung von Gerichten in der Zeit aufgrund der Gerichtsvielfalt eine Pluralität kannte, die noch unerforscht ist. Das Wissen um die Sprache der Zeitgenossen wäre jedoch wichtig, um die zu analysierenden Gerichts-­Nennungen besser einordnen und verorten zu können. So gab es „regional ganz unterschiedliche Bezeichnungen für funktionsgleiche Institutionen der Gerichtsbarkeit“, aber auch umgekehrt „bedeutete dieselbe Bezeichnung […] keineswegs, dass damit in unterschiedlichen Regionen auch gleiche Funktions- und Kompetenzbereiche gegeben waren“.26 Wie bereits mehrfach betont, müssen weitere Untersuchungen auch für diesen Zusammenhang zeigen, aufgrund welcher tatsächlichen, angedachten, unterbundenen oder sonstigen Tätigkeit die Gerichte und ähnliche Instanzen, die nicht Vorinstanzen im verfahrenstechnischen Sinne waren, in den Akten genannt sind und wie diese Nennungen vor allem jenseits der Rubrik 6 Eingang fanden in die Verzeichnisse. Eine solche genauere Betrachtung der Gerichtsnennungen scheint sich zu lohnen, da diese die Sprache der Zeitgenossen und deren Umgang mit der Gerichtsvielfalt widerspiegeln. Damit würde der Erforschung zur Nutzung verschiedener Gerichte durch sozial unterschiedliche Akteure ein breiter Boden zur Verfügung gestellt werden. Es geht also perspektivisch um die alltagsgeschichtliche Annäherung an die Gerichtsvielfalt unter Anknüpfung etwa an die Studie von Matthias Bähr, bei der das – in Zeugenverhören Ende des 17. Jahrhunderts protokollierte – Reden über ein Dorfgericht zu Sprache kommt.27 Die folgenden Ausführungen müssen sich demgegenüber darauf beschränken, die 8.570 – von 24 Ranieri, Recht und Gesellschaft, Teilbd. 1 (wie Anm. 3), S. 149. Siehe in Anlehnung an Ranieri auch Baumann, Die Gesellschaft (wie Anm. 4), S. 17, Anm. 40. 25 Zitiert wird aus dem Schreiben, welches am 13. Juli 2017 Herr Dr. Hörner an den Autor dieses Beitrags gesendet hat. Ich danke Herrn Dr. Hörner für die mehrfach erteilten umfassenden Auskünfte. Im vorliegenden Fall ging es um die Frage, wie quellennah in den Inventarbänden die Gerichte benannt werden. 26 Thomas Simon, Art. Gericht, in: Enzyklopädie der Neuzeit (künftig: EdN), Bd. 4. Stuttgart 2006, Sp. 514 – 524 (hier Sp. 514). 27 Matthias Bähr, Die Sprache der Zeugen. Argumentationsstrategien bäuerlicher Gemeinden vor dem Reichskammergericht (1693 – 1806). Konstanz/München 2012 (Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven, Bd. 26), S. 94 – 113.

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den Sachbearbeitern auf Grundlage der Bezeichnungen in den Gerichtsakten zugeschriebenen – Nennungen pauschal als Tätigkeit oder sonstige andere jurisdiktionelle Wirksamkeit eines Gerichts zu begreifen, und zwar aus der Perspektive des Reichskammergerichts.

2. Quantitative Befunde für 2.220 Gerichte Die 8.570 Nennungen von Gerichten in Reichskammergerichtsakten sind nicht gleichbedeutend mit der Anzahl der Gerichte, die in den Prozessakten vorkommen. 2.220 unterschiedliche Gerichte finden vielmehr Erwähnung. Im Durchschnitt wird damit jedes Gericht knapp viermal genannt. Das Spektrum reicht von Hofgerichten über Stadt- und Klostergerichte bis hin zu Kommissaren oder – meist mit Würden versehenen – Einzelpersonen. Die 2.220 Einzelgerichte lassen sich aufgrund ähnlicher Nennungen insgesamt 154 Gerichtstypen zuordnen. Eine solche Typenbildung erlaubt es, nicht etwa nur Einzelgerichte wie das Stadtgericht Augsburg zu betrachten, sondern dieses Gericht als Teil einer größeren Gruppe zu begreifen, die eine systematische Analyse auf Grundlage der Nennung der Einzelgerichte in den Reichskammergerichtsakten erfährt. Die Gerichts-­Nennungen liegen dabei zwar einem zeitgenössischen Sprachgebrauch zugrunde, der aber noch als weitgehend unerforscht gelten kann. Die von den Zeitgenossen in Gerichtsprozessen explizit benannten Gerichte lassen sich dennoch eindeutigen Gerichtstypen zuordnen, wie den Stadtgerichten oder den die Gerichtsgewalt innehabenden Würdenträgern. Deutlich ist daneben, dass die Inventarbände und Indices bereits abstrahieren und inhaltlich systematisieren, wodurch die Gerichts-­Nennungen eine Konkretisierung im Sinne der Typenbildung erfahren. Die Bündelung von Einzelgerichten zu einem Gerichtstypus bedeutet indes keineswegs pauschal, dass es sich um eine funktionell und institutionell homogene Gruppe handelt. Es muss vielmehr weiteren, qualitativen Forschungen unter Einsichtnahme der Gerichtsakten vorbehalten bleiben, die Typenbildung zu fundieren und entweder weiter zu differenzieren oder auch – durch die Bündelung von Gerichtstypen – zu homogenisieren. Dies betrifft nicht zuletzt die allgemein gehaltenen Gerichtstypen wie „Gericht“ oder „Amt“. Eine Typenbildung auf Grundlage der Gerichts-­Nennungen eröffnet jedoch zweifelsohne systematische Zugänge zur vormodernen Gerichtsvielfalt. So lässt sich das Kellereiamt beispielsweise, welches einmal Ende des 18. Jahrhunderts in einem Appellationsprozess als Vorinstanz zu Heidingsfeld vorkommt,28 dem Gerichtstypus „Amtskellerei“ beifügen. Alle 154 Gerichtstypen sind im Anhang aufgelistet und bieten einen 28 RKG (wie Anm. 17), Inventarnummer 3.982.

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Überblick über die vorgenommene Zuordnung. Die folgenden Ausführungen fokussieren die zwölf am häufigsten vorkommenden Gerichtstypen, wie sie in Abb. 1 aufgeführt sind, obgleich daneben auch weitere Gerichtstypen Beachtung finden werden. Anzuführen ist zunächst der Gerichtstypus Stadtgericht. In der Datenbank sind insgesamt 95 unterschiedliche, in verschiedenen Herrschaftsräumen ansässige Stadtgerichte erfasst. Hierunter fallen etwa die Stadtgerichte der Städte Ansbach, Augsburg, Bamberg, Donauwörth, Eichstätt, Ingolstadt, Lauingen, Lindau, Memmingen, Nürnberg, Landsberg und Würzburg. Alle Stadtgerichte werden in den Gerichtsakten zusammengenommen 888mal genannt. Dies sind gut zehn Prozent aller 8.570 Nennungen. Am häufigsten kommt das Stadtgericht Nürnberg vor. Es weist 382 Nennungen auf, was quantitativ bedeutet, dass das Stadtgericht Nürnberg bei 382 verschiedenen Prozessen des Reichskammergerichts Erwähnung findet. Nach Nürnberg werden am häufigsten das Stadtgericht von Augsburg bei 96 Prozessen und das Stadtgericht Würzburg bei 68 Prozessen angeführt. Die Nennung aller drei Stadtgerichte summiert sich zusammen auf 526, während die anderen 92 Stadtgerichte insgesamt zusammen nur 362mal genannt sind. Wie lässt sich dieser Befund deuten? Ist es möglich, die Häufigkeit der Nennungen gleichzusetzen mit der Bedeutsamkeit dieser Gerichte? Damit ist keineswegs eine wie auch immer geartete pauschale, subjektive Bedeutung eines Gerichts gemeint, als ob etwa – ex negativo – das Stadtgericht von Höchstädt an der Donau, welches nur zweimal genannt wird, gänzlich unbedeutend gewesen sei. Das Gericht der im Fürstentum Pfalz-­Neuburg gelegenen Landstadt Höchstädt war für die Bürger der Stadt und anderer Justiznutzer zweifelsohne ein, wenn nicht sogar das zentrale Gericht, um ihr Recht einklagen oder erlangen zu können. Im Vergleich zu den Stadtgerichten der Reichsstädte Nürnberg und Augsburg war jedoch das Stadtgericht Höchstädt für den gesamten Untersuchungsraum und aus der Perspektive des Reichskammergerichts quantitativ gesehen, wie dies in dem hier verfolgten Ansatz entscheidend ist, weniger wichtig. Die Häufigkeit der Nennung eines Gerichts in den bearbeiteten Reichskammergerichtsakten ist also Ausdruck oder zumindest ein Indiz für die Relevanz, die dieses Gericht für eine Gerichtslandschaft aus reichskammergerichtlicher Perspektive hatte. Woraus indes diese Bedeutung resultierte – zu denken ist an (umstrittene) Zuständigkeiten eines Gerichts, die Anzahl an Justiznutzern bei einem Gericht oder an besonders appellationswürdige Streitgegenstände wie Geldschulden 29 – lässt sich auf Grundlage des hier verfolgten quantitativen Zugriffs nicht sagen. Es muss vielmehr auch hier qualitativen Forschungen vorbehalten bleiben, die Gründe für die Beschäftigung des Reichskammergerichts mit einzelnen Gerichten und Gerichtstypen und damit die Gründe für die Gerichts-­ 29 Baumann, Die Gesellschaft (wie Anm. 4), S. 84 f.; Ranieri, Recht und Gesellschaft, Teilbd. 1 (wie Anm. 3), S. 237 f.

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Nennungen in seinen Prozessakten näher zu betrachten. Zu eruieren bleibt hierbei, ob die Gerichtsnennungen für eine rechtsprechende Wirksamkeit eines Gerichts stehen oder ob sie vielmehr Ausdruck eines Defizites sind, etwa aufgrund umstrittener Zuständigkeiten, welche den Einfluss auf das Rechtsleben erschwerten. Eine solche qualitative Analyse muss daneben die quantitativ ermittelte chronologische Verteilung der Gerichts-­Nennungen berücksichtigen, wie etwa beim Gerichtstypus „Stadtgericht“. Die Nennung der Stadtgerichte (Abb. 1) beläuft sich vor 1500 auf 62, erreicht im 16. Jahrhundert mit 552 einen Spitzenwert, sinkt im 17. Jahrhundert auf 149 und fällt im 18. Jahrhundert auf 83 Nennungen ab. Nach 1800 werden verschiedene Stadtgerichte 21mal erwähnt. Die Gesamtsumme dieser Nennungen ist insgesamt höher als 888, da die Nennung eines Gerichts im Rahmen von Prozessen, die über eine oder mehrere Jahrhundertschwellen andauerten, hier wie auch ansonsten mehrfach gezählt wurde. Gerichts-Nennungen (n = 8570) der zwölf häufigsten Gerichtstypen von vor 1500 bis nach 1800

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Vor 1500

16. Jh.

17. Jh.

18. Jh.

19. Jh.

Abb. 1

Eine solche Entwicklung ist auffällig und lädt zu Interpretationen ein. Die Nennung von Stadtgerichten und vielen anderen Gerichtstypen im Laufe der Frühen Neuzeit darf natürlich keineswegs monokausal gedeutet werden. Zu bedenken ist zunächst, dass das Reichskammergericht nach dem Dreißigjährigen Krieg insgesamt weniger in Anspruch genommen wurde. Wie Baumann gezeigt hat, fiel zu Beginn des 17. Jahrhunderts der Geschäftsanfall von durchschnittlich 510 Prozessen pro Jahr auf 223 Neuzugänge ab den 1690er Jahren. Nach 1771 sank der Geschäftsanfall beim Reichskammergericht sogar auf nur 151 Kläger im Jahr.30 Das Reichskammergericht wurde aufgrund gerichtsinterner Probleme, der Besetzung 30 Baumann, Die Gesellschaft (wie Anm. 4), S. 29 f.

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­Speyers durch die Franzosen, des erlahmenden Interesses der Reichsstände am Reich, der anwachsenden Bedeutung des Reichshofrats und anderer Gründe weniger in Anspruch genommen.31 All dies trug mittelbar zum Rückgang der stadtgerichtlichen Nennungen beim Reichskammergericht mit bei. Umgekehrt wissen wir seit Ranieri aber auch, dass im 16. Jahrhundert das städtische Bürgertum zur wichtigsten Parteienklientel am Reichskammergericht zu rechnen ist.32 Städtische Gerichte, zu denen auch „Bürgermeister und Rat“ zählten, spielten deshalb in den Akten des Reichskammergerichts eine große Rolle. Im Laufe des 16. Jahrhunderts 33 und danach 34 reduzierte sich jedoch (kontinuierlich?) die Inanspruchnahme des Reichskammergerichts durch das Stadtbürgertum und damit die Thematisierung von städtischen Gerichten im Rahmen von Reichskammergerichtsprozessen. Der auffällige Rückgang der Erwähnung städtischer Gerichte vom 16. bis zum 18. Jahrhundert hängt schließlich auch mit dem Ausbau des Fürstenstaates und dem hierdurch beförderten allgemeinen Bedeutungsverlust vor allem der Reichsstädte zusammen,35 was aber nicht gleichzusetzen ist mit einer generellen Reduzierung der Anzahl von Gerichten im Reich. Mit diesen Entwicklungslinien sind wichtige Gründe für den zeitlichen Verlauf der Nennungen von Stadtgerichten beim Reichskammergericht angesprochen. Qualitative Forschungen zu einzelnen Stadtgerichten können und müssen in Zukunft genauer erklären, warum und inwieweit die Stadtgerichte unterschiedlich intensiv in Prozesse vor dem Reichskammergericht eingebunden waren. Zu überlegen bleibt hierbei auch, inwieweit für die Analyse andere Zeitabschnitte zu wählen sind statt Jahrhunderte, da hierdurch zentrale Ereignisse wie der Dreißigjährige Krieg zu ungenau erfasst werden. Unabhängig davon ist jedoch der Ausbau des Fürstenstaates als ein zentraler Motor für die Entwicklung der frühneuzeitlichen Gerichtsvielfalt zu begreifen. Dies spiegelt sich in einem hierarchisch klar gegliederten und herrschaftlich dominierten Instanzenzug wider. Das betrifft zum Beispiel auch den Gerichtstypus der Kommissare und somit den Bereich der delegierten Gerichtsbarkeit, womit auf die in den Akten als „natürliche Gerichtspersonen“ greifbaren Typen einzugehen ist. Ebenso wie die Stadtgerichte tauchen Kommissare (Abb. 1) vor allem im 16. Jahrhundert auf 31 Ebd., S. 18 – 31. Siehe zu den zeitgenössischen Klagen über das Reichskammergericht im 18. Jahrhundert und den Reformerwartungen in dieser Zeit Alexander Denzler, Über den Schriftalltag im 18. Jahrhundert. Die Visitation des Reichskammergerichts von 1767 bis 1776. Köln/Weimar/Wien 2016 (Norm und Struktur, Bd. 45), S. 83 – 96. 32 Ranieri, Recht und Gesellschaft, Teilbd. 1 (wie Anm. 3), S. 224 – 234. 33 Ebd., S. 225 f. 34 Baumann, Die Gesellschaft (wie Anm. 4), S. 76 – 79, 149. 35 Joachim Bahlcke, Landesherrschaft, Territorien und Staat in der Frühen Neuzeit. München 2012 (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 91), S. 6.

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und erfahren bis zum Ende der Frühen Neuzeit einen deutlichen Rückgang. Diese Entwicklung bestätigen die Befunde von Sabine Ullmann und Eva Ortlieb für den Reichshofrat. Im 16. Jahrhundert wurden, wie sie gezeigt haben, in etwa 30 Prozent aller reichshofrätlichen Prozesse Kommissionen eingesetzt,36 während im 17. Jahrhundert der Anteil an Kommissionsverfahren auf zehn Prozent zurückging.37 Die Reduzierung der Anzahl von Gerichten bei einzelnen Typen bestätigen ebenso die „delegierten und gefreiten“, also privilegierten, Richter in dem hier ausgeführten Forschungsprojekt. Auch wenn die Gesamtzahl (95) dieses in erster Linie bei Reichsstädten vorkommenden Gerichtstypus weitaus geringer ist als bei den Stadtgerichten und Kommissionen, so lässt sich auch hier ein signifikanter Rückgang vom 16. bis zum 18. Jahrhundert feststellen. Die – in Abb. 1 aufgrund der relativ geringen Gesamtzahl nicht mehr erfassten – Zahlen fallen von 50 auf 16 Gerichts-­Nennungen. Noch deutlicher sind die Zahlen für die zu den natürlichen Gerichtspersonen zugehörigen „Personen und Würdenträger“ (Abb. 1). Zu diesem Gerichtstypus zählt etwa der Würzburger Fürstbischof Julius Echter, als er im Jahr 1603 als Lehensherr einen Vergleich in einem Streitfall anordnete, der erstinstanzlich vor dem Würzburger Ritterlehengericht – einem weiteren Gerichtstypus – und zweitinstanzlich vor dem Reichskammergericht verhandelt wurde.38 Beispielhaft anführen lässt sich auch der schwäbische Adelige Konrad von Knöringen, der um 1500 als Gerichtsherr einen Wirt zu Unterknöringen zu einer Schuldzahlung aufforderte.39 Da diese Schuldzahlung jedoch ausblieb, gelangte der Fall und mit diesem mittelbar der Gerichtsherr Knöringen an das Reichskammergericht. Konrad von Knöringen und Julius Echter sind zwei von hunderten von Personen und Würdenträgern, die als „Inhaber der Gerichts- bzw. Jurisdiktionsgewalt in einer Grundherrschaft, einem Gerichtsbezirk, einer Stadt oder einem Territorium“ 40 Eingang in die Reichskammergerichtsakten fanden. Es kann auch von natürlichen Gerichten gesprochen werden, die in Abgrenzung zu Gerichtsinstitutionen wie den Stadt- oder Hofgerichten einen gewichtigen Anteil an der Gerichtsvielfalt hatten. Wie folgende Diagramme verdeutlichen, trifft dies nicht nur auf das 16. Jahrhundert zu: 36 Sabine Ullmann, Geschichte auf der langen Bank. Die Kommissionen des Reichshofrats unter Kaiser Maximilian  II. (1564 – 1576). Mainz 2006 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung für Universalgeschichte, Bd. 214, Beiträge zur Sozial- und Verfassungsgeschichte des Alten Reiches, Bd. 18), S. 50. 37 Eva Ortlieb, Im Auftrag des Kaisers. Die kaiserlichen Kommissionen des Reichshofrats und die Regelung von Konflikten im Alten Reich (1637 – 1657). Köln/Weimar/Wien 2001 (QFHG, Bd. 38), S. 58 f. 38 RKG (wie Anm. 17), Inventarnummer 3.676. 39 Ebd., Inventarnummer 3.321. 40 Karl Härter, Art. Gerichtsherr, in: EdN, Bd. 4. Stuttgart 2006, Sp. 535 – 537 (hier Sp. 535).

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Verteilung der Gerichts-Nennungen im 16. Jh. (n = 4289) auf natürliche Gerichte/Institutionen 0,39%

14,54%

Natürliche Gerichte Institutionen Offen

85,07%

Verteilung der Gerichts-Nennungen im 17. Jh. (n = 2229) auf natürliche Gerichte/Institutionen 1,49% 17,43%

Natürliche Gerichte Institutionen Offen

81,08%

Verteilung der Gerichts-Nennungen im 18. Jh. (n = 2086) auf natürliche Gerichte/Institutionen 1,77% 15,29%

Natürliche Gerichte Institutionen Offen 82,93%

Abb. 2

Während sich Angaben wie etwa „Bannrichter/Banngericht“ nicht eindeutig zuordnen lassen, handelt es sich bei knapp 15 Prozent aller Gerichts-­Nennungen im 16. Jahrhundert um natürliche Gerichte. Der 85-prozentige Anteil der Institutionen bei den Gerichts-­Nennungen ist in Relation zu der Anzahl an Einzelgerichten zu sehen. Von den 2.220 Einzelgerichten, die sich für den gesamten Untersuchungs-

Versuch einer quantitativen Analyse der süddeutschen Gerichtsvielfalt

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zeitraum feststellen ließen, fallen 1.012 und damit knapp die Hälfe aller Einzelgerichte auf natürliche Personen. Die vormoderne Gerichtsvielfalt war aufgrund dieser Werte, die sich erst durch das Inbeziehungsetzen von Gerichts-­Nennung, Einzelgericht und Jahrhundert ergeben, entscheidend von natürlichen Personen geprägt. Dies trifft nicht nur auf das 16. Jahrhundert zu. Denn obwohl der Anteil der Gerichts-­Nennungen von natürlichen Gerichten absolut gesehen von 626 im 16. Jahrhundert auf 399 im 17. Jahrhundert und 319 im 18. Jahrhundert sinkt, steigt deren Anteil in Relation zur Gesamtzahl der Gerichts-­Nennungen auf gut 17 Prozent im 17. Jahrhundert, bevor er im 18. Jahrhundert wieder auf rund 15 Prozent fällt. Der Wert blieb also gerade im Vergleich etwa zu Hof- oder Stadtgerichten (Abb. 1) konstant hoch. Mit den hier durch den quantitativ-­relationalen Ansatz gewonnenen Ergebnissen lässt sich im Hinblick auf den „Staat“ als monopolisierenden Motor der Gerichtsvielfalt das Folgende feststellen: Der Ausbau der Staatlichkeit und mit diesem die Entpersonalisierung der jurisdiktionellen Herrschaftsausübung hatte seine Grenzen. Dies kann die Anzahl aller Gerichtstypen bestätigen. Deren Gesamtzahl fällt von 122 im 16. Jahrhundert zwar deutlich auf 100 im 17. Jahrhundert, steigt aber sogleich wieder auf 120 im 18. Jahrhundert an. Von eindeutigen oder gar linearen Entwicklungsverläufen kann für das Gesamtcorpus der ermittelten Gerichte nicht gesprochen werden. Die Staatswerdung bedingte also nicht zwangsläufig die Reduktion von Gerichten. Dies ist allerdings nur eine Seite der Medaille, denn die Entwicklung bestimmter einzelner Gerichtstypen verlief entgegengesetzt: So sank nicht nur, wie bereits gezeigt, im Laufe der Frühen Neuzeit der Anteil der Stadtgerichte, sondern ebenso und noch deutlicher sowie entgegen dem Gesamttrend der relational-­stabilen Gerichts-­Nennungen der Anteil der Personen und Würdenträger von 200 im 16. Jahrhundert auf 64 im 18. Jahrhundert (Abb. 1). Wohl parallel zu dieser Entwicklung ist der Anstieg des Gerichtstypus „Regierung“ zu begreifen. So gibt es vor allem im 18. Jahrhundert (Abb. 1) Regierungen etwa zu Dillingen, Bamberg, Bayreuth, Eichstätt, Fulda, Kulmbach, Neuburg und Würzburg. In den Prozessbeschreibungen ist einfach von einer „Kurpfalz-­neuburgischen Regierung zu Neuburg“ 172341 oder 1755 von einer Appellation an die „fürstbischöfliche Regierung zu Würzburg“ die Rede.42 Weitere Untersuchungen müssen – wie bereits angedeutet – zeigen, was genau die Zeitgenossen bei der Verwendung dieser Begrifflichkeiten meinten und welche Semantiken ihr unterlagen, welche Folgen daraus für die Gerichtsvielfalt resultierten und inwieweit hier ein Bedeutungswandel vorliegt. Im Herzogtum und späteren Kurfürstentum Bayern etwa gab es auf einer mittleren Verwaltungsebene die soge 41 RKG (wie Anm. 17), Inventarnummer 3.313. 42 Ebd., Inventarnummer 3.718.

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nannten Rentämter, Oberbehörden für die Verwaltung und Rechtsprechung, die Regierungen genannt wurden.43 Im 18. Jahrhundert hingegen sind hier und andernorts mit Regierungen wohl eher zentrale Verwaltungseinrichtungen mit Gerichtskompetenzen einschließlich oder auch ausschließlich der Landesherren gemeint. Auf territorialer Ebene treten neben den 46 Regierungen mit insgesamt 587 Nennungen im 18. Jahrhundert vor allem „Ämter“ (Abb. 1) in Erscheinung. Insgesamt 97 verschiedene Ämter in jeweils unterschiedlichen wortkompositorischen Zusammensetzungen werden in den Regestbänden 188mal genannt. Oftmals heißt es einfach nur Amt, spezifischer aber ebenso Oberamt, Justizamt, Klosterverwalteramt oder Vormundamt. Dieser Gerichtstypus bedarf gleichfalls noch einer eingehenderen Betrachtung. So bleibt zu klären, ob aus dem Gerichtstypus „Amt“ weitere Gerichtstypen zu bilden sind oder ob derzeit noch vorhandene, eigene Gerichtstypen, wie etwa das nur fünfmal vorkommende Oberrichteramt, in einem allgemein gehaltenen Gerichtstypus „Amt“ aufzulösen sind. Ins Auge sticht aber auch hier der Anstieg der Amts-­Nennungen im 18. Jahrhundert. Dieser hängt wohl mit der „Ausbildung und Differenzierung obrigkeitlicher A[mts]-Verwaltung“ im Zuge der Staatswerdung zusammen.44 Gänzlich anders gestaltet sich die Situation für die kaiserlichen Landgerichte. Hier lassen sich für das 16. Jahrhundert sogar noch mehr Nennungen feststellen als für die Stadtgerichte (Abb. 1). Am häufigsten werden das Land- beziehungsweise Hofgericht Rottweil und das Landgericht Würzburg angeführt, gefolgt von den kaiserlichen Landgerichten Schwaben, Bamberg, Nürnberg und Hirschberg. Der deutliche Rückgang seit dem 16. Jahrhundert korrespondiert mit der Entwicklung der fürstlichen Landgerichte. Gemeint sind damit die unteren Verwaltungs- und Gerichtsbezirke etwa von Brandenburg-­Ansbach, Pfalz-­Neuburg und Bayern. Allein im Herzogtum Bayern gab es über 70 vom Landesherrn „geschaffene“ Land- und Pfleggerichte. Mit dem Ausbau einer hierarchisch strukturierten Gerichtsverfassung unter Verwendung von gelehrten Juristen verloren aber auch diese Gerichte ebenso an Bedeutung wie die meisten kaiserlichen Landgerichte. In diesem Sinne sind schließlich auch jene jüngeren Hofgerichte anzuführen, die 900mal in den Regesten genannt sind.45 Diese Gerichte wurden vor allem als territoriale Appel 43 Reinhard Heydenreuther, Rechtspflege im Herzogtum Bayern in der Mitte des 16. Jahrhunderts, in: Heinz Mohnhaupt (Hrsg.), Rechtsgeschichte in den beiden deutschen Staaten (1988 – 1990). Frankfurt a. M. 1991 (Ius Commune Sonderhefte, Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte, Bd. 53), S. 262 – 286 (hier S. 263). 44 Horst Carl, Art. Amt, in: EdN, Bd. 1. Stuttgart 2005, Sp. 302 – 304 (hier Sp. 303). 45 Heiner Lück, Die Kursächsische Gerichtsverfassung 1423 – 1550. Köln/Weimar/Wien 1997 (Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 17), S. 119 f.; Peter Oestmann, Art. Hofgericht, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 2. 2. Aufl. Berlin 2012, Sp. 1087 – 1091.

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lationsinstanzen eingerichtet 46 und spielten als Vorinstanzen in Reichskammergerichtsverfahren eine entscheidende Rolle. Nach 1600 ist freilich auch hier geradezu ein Einbruch der Nennungen festzustellen.

Anzahl der Gerichts-Nennungen im 16. Jh. (n = 4289) nach Gerichtstypen Anzahl Gerichts-Nennungen

1200

1013

1000 800 600

610

570

553 394

400

357

200

220

208

133

123

108

0

Anzahl der Gerichts-Nennungen im 18. Jh. (n = 2086) nach Gerichtstypen Anzahl Gerichts-Nennungen 800 700 600 500 400 300 200 100 0

720

400 260 143

127

112

110

87

83

64

55

Abb. 3 46 Jürgen Weitzel, Wege zu einer hierarchisch strukturierten Gerichtsverfassung im 15. und 16. Jahrhundert, in: Dieter Simon (Hrsg.), Akten des 26. Deutschen Rechtshistorikertages. Frankfurt a. M. 1987 (Ius Commune Sonderhefte, Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte, Bd. 30), S. 333 – 345 (hier S. 336).

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Im Vergleich zu den anderen Gerichtstypen waren die Hofgerichte 47 allerdings auch noch im 18. Jahrhundert zahlreich vertreten. Wie die Abbildungen 3 zeigen, gehörten die Hofgerichte sowohl im 16. als auch im 18. Jahrhundert zu den zehn Gerichten mit den häufigsten Nennungen. Gerichtstypen wie das Zent- und Lehengericht verloren demgegenüber entscheidend an Bedeutung. Bestätigen lässt sich ebenso, dass sich nach 1700 die Regierungen als Gerichte nachhaltig etablieren konnten.48 Am zweithäufigsten lassen sich in dieser Zeit die Juristenfakultäten fassen, da deren Spruchtätigkeit „auch im 18. Jahrhundert noch recht umfangreich“ gewesen war.49 Die relative Betrachtung der Gerichtsvielfalt deckt aber noch ein Weiteres auf: Die Gruppe der sonstigen Gerichte, die im 16. Jahrhundert 110 und im 18. Jahrhundert 117 Gerichtstypen umfasst, vereint beide Male deutlich mehr Gerichts-­Nennungen als der am häufigsten vertretene Gerichtstypus. So beläuft sich im 16. Jahrhundert der Anteil der kaiserlichen Landgerichte auf 14 Prozent (610 Nennungen), während die Gruppe der sonstigen Gerichte 24 Prozent (1.013 Nennungen) aufweist. Im 18. Jahrhundert liegt der Anteil der sonstigen Gerichte sogar bei 35 Prozent (720 Nennungen) und ist damit fast doppelt so hoch wie bei den Regierungen (19 Prozent mit 400 Nennungen). Bilanzieren lässt sich also an dieser Stelle, dass es in der Frühen Neuzeit eine Gerichtspluralität gab, bei der nur wenige Gerichte eine herausgehobene Stellung eingenommen haben. Nimmt man die Häufigkeit der Gerichts-­Nennungen beim Reichskammergericht als Kriterium, waren dies im 16. Jahrhundert mit jeweils über zehn Prozent die kaiserlichen Landgerichte (14 Prozent) neben den Hof- und Stadtgerichten (je 13 Prozent) und im 18. Jahrhundert die Regierungen (19 Prozent) und Juristenfakultäten (zwölf Prozent). Deutlich ist ebenso, dass es zwischen 1500 und 1800 nicht die eine Pluralität gab – es ist vielmehr von sich wandelnden, auf unterschiedlichen Gründen und Ursachen beruhenden Pluralitäten auszugehen, die im Einzelfall untersucht werden müssten.

47 Zu bedenken ist freilich die (mögliche) Heterogenität des Gerichtstyps „Hofgericht“, wie sie bei Oestmann, Art. Hofgericht (wie Anm. 45) zur Sprache kommt. Zu überprüfen bleibt also, inwieweit der Gerichtstypus funktionell und institutionell eine in sich homogene Gruppe bildete. 48 Weitere qualitative Forschungen müssen allerdings auch hier zeigen, was die Zeitgenossen mit Regierungen genau meinten und inwieweit durch die Sachbearbeiter der Inventarbände eine Systematisierung erfolgte, etwa wenn mit Regierungen Hofgerichte bezeichnet wurden. 49 Gottfried Baumgärtel, Die Gutachter- und Urteilstätigkeit der Erlanger Juristenfakultät. Erlangen 1962 (Erlanger Forschungen, Reihe A: Geisteswissenschaften, Bd. 14), S. 29.

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3. Gerichtslandschaft(en)? Die 2.200 Einzelgerichte hatten in ihrer Zeit in der Regel einen konkreten Ort, an dem etwa Gericht gehalten wurde, da dort der Landes- und Gerichtsherr respektive eine Regierung residierte oder ein Kommissar agierte.50 Diese Orte konnten für 1.250 Gerichte ermittelt und insgesamt 663 Dörfern oder Städten zugewiesen werden. Es lässt sich erkennen, dass deren Verteilung im geographischen Raum der spezifischen Herrschaftsstruktur von Franken, Schwaben und Altbayern entspricht. Während es beispielsweise in dem „geschlosseneren“ Territorium Bayerns lediglich 84 Gerichtsorte gab, ließen sich in Schwaben 147 und in Franken sogar 349 Gerichtsorte lokalisieren. Diese Verteilung deutet eine Gerichtspluralität an, die sich vor allem aufgrund der Herrschaftsstruktur quantitativ, aber ebenso qualitativ sehr unterschiedlich gestaltete. Allen voran tritt hier die bislang ausgeklammerte Reichsritterschaft in den Fokus, da ihre als „Hauptmann, Räte und Ausschuss“ bezeichneten Gerichte zahlreich in Schwaben und Franken, nicht jedoch in Bayern auftauchen. Als Obrigkeit mit einer eigenen Herrschafts- und Organisationsstruktur, zu der die reichsritterlich spezifische Gerichtsbarkeit zählt, gehörte der gewählte Vorstand eines Ritterkantons im 18. Jahrhundert mit fünf Prozent (112) aller Gerichts-­Nennungen sogar zu den fünf am stärksten vertretenen Gerichtstypen.51 Das Reichskammergericht – das wird durch die hier gewonnenen quantitativen Befunde noch einmal deutlich – war neben dem Reichshofrat ein begehrter Gerichtsort für Prozesse mit reichsritterschaftlicher Beteiligung.52 Es lässt sich also vorbehaltlich der noch zu vervollständigenden Datengrundlage 53 konstatieren, dass es entsprechend der Herrschaftsstruktur eines geographischen Raumes einerseits raumspezifische Gerichtstypen gab, die für einen bestimmten 50 Gerichte waren natürlich noch an anderen Orten wirksam. Zu denken ist etwa an Zeugenverhöre oder Gerichtsboten. Für die Frage nach der Entstehung und räumlichen Ausdehnung von Landschaften wäre es erforderlich, sich auch hierüber systematisch Gedanken zu machen. 51 Siehe zu den Organen sowie zur „Gerichtshoheit des Direktoriums des Kantons Neckar-­ Schwarzwald“ die grundlegende Studie von Dieter Hellstern, Der Ritterkanton Neckar-­ Schwarzwald, 1560 – 1805. Untersuchung über die Kooperationsverfassung, die Funktionen des Ritterkantons und die Mitgliedsfamilien. Tübingen 1971 (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Tübingen, Bd. 5), S. 100 – 112, 156 – 169. Ich danke Oliver Sowa M. A. für die Auskunft und die Hinweise. 52 Baumann, Die Gesellschaft (wie Anm. 4), S. 70; Heinz Duchhardt, Reichsritterschaft und Reichskammergericht, in: Zeitschrift für Historische Forschung 5 (1978), S. 315 – 337 (hier S. 320). 53 Aufgrund der angesprochenen Verteilung der Reichskammergerichtsakten im 19. Jahrhundert befinden sich u. a. im Hauptstaatsarchiv Stuttgart und im Hessischen Staatsarchiv

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Raum prägend waren, da sie nur oder vorwiegend in diesem Raum existierten, oder die in den Akten, aufgrund ihrer (argumentativen) Nutzung, Erwähnung fanden. Diese Gerichte trugen also zuvörderst qualitativ aufgrund ihres Typus zur Ausbildung einer raumspezifischen Gerichtsvielfalt bei. In Franken gehörten dazu, neben „Hauptmann, Räte[n] und Ausschuss“, die Zentgerichte sowie in Bayern die Hofmarksgerichte,54 die sich beim Reichskammergericht mit insgesamt acht Nennungen fassen lassen. Andererseits durchdrangen per se auf einen ersten Blick raumunspezifische, da allgegenwärtige Gerichtstypen wie die fürstlichen Landgerichte oder Stadtgerichte die frühneuzeitlichen Territorien des Alten Reichs, welche aber entsprechend der Herrschaftsstruktur eine raumspezifische Wirkung entfalten konnten. So stehen in Bayern die zahlreichen fränkischen Gerichte von sowohl Reichs- (Nürnberg, Rothenburg o. T., Schweinfurt) als auch fürstbischöflichen Residenzstädten (Bamberg, Eichstätt, Würzburg) den wenigen Gerichten von hauptsächlich landständischen Städten wie Landsberg oder München gegenüber. In diesem Fall kann somit von einer Prägung der Gerichtsvielfalt aufgrund der Quantität gesprochen werden. Gerichtsvielfalt bedeutet damit immer beides: Das Vorhandensein von spezifischen Gerichtstypen, die sich nur oder vorwiegend in einem bestimmten Herrschaftsgebiet finden lassen, und/oder das Vorhandensein von besonders vielen Gerichten eines oder mehrerer raumunspezifischer Gerichtstypen.55 Ob diese qualitative und quantitative Pluralität der Gerichtsvielfalt es erlaubt, von der Ausbildung einer oder auch mehrerer Gerichtslandschaften zu sprechen, bleibt zu diskutieren. Denn eine Landschaft entsteht immer im „menschlichen Denken und Erleben, Erinnern und Handeln“, sie ist also nicht gegeben, sondern wird von Menschen geschaffen.56 Bei Landschaften handelt es sich damit, ebenso Marburg – bei letzterem etwa aufgrund des Ritterkantons Rhön und Werra – Akten, die für den Untersuchungsraum relevant sind. 54 Siehe zur Gerichtsherrschaft der Hofmark Eurasburg Klaus Kopfmann, Die Hofmark Eurasburg. Ein Beitrag zur Geschichte der Bayerischen Hofmark. München 2005 (Studien zur Bayerischen Verfassungs- und Sozialgeschichte, Bd. 24), S. 170 – 193. 55 Wobei genau zu überprüfen wäre, inwieweit sich die Qualität der Gerichte unterscheidet, ob also tatsächlich von raumspezifischen oder raumunspezifischen Gerichten gesprochen werden kann. Damit ist neuerlich der Zugriff über die Gerichts-­Nennungen zu problematisieren, da die Bezeichnungen Ähnlichkeiten oder Gemeinsamkeiten kaschieren können. Erforderlich wäre eigentlich die Festlegung von Strukturmerkmalen der – im Anhang angeführten – Gerichtstypen. 56 Birgit Studt, Et in opere urbanissimo inlati ruris imitatio. Die Konstruktion von Landschaft als Thema der Landesgeschichte, in: Wilfried Ehbrecht/Angelika Lampen/Franz-­ Joseph Post/Mechthild Siekmann (Hrsg.), Der weite Blick des Historikers. Einsichten in Kultur-, Landes- und Stadtgeschichte. Peter Johanek zum 65. Geburtstag. Köln/Weimar/ Wien 2002, S. 681 – 699 (hier S. 681).

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wie bei Regionen, um Räume, die von den Zeitgenossenen als „Handlungseinheiten“ erfahren wurden.57 Dieses Erfahren 58 und Erleben muss, bezogen auf die Gerichtsvielfalt und im Hinblick auf deren Justiznutzung, also des „Umgang[s] der Zeitgenossen mit den Gerichten“,59 erst noch untersucht werden. Denn die vorliegende Studie hat auf Grundlage der Regestbände nur sehr mittelbar das in den Gerichtsakten dokumentierte Handeln der Zeitgenossen betrachtet, bei dem Gerichte als Appellationsinstanzen oder im Hinblick auf andere rechtsinhärente Verfahrensschritte eine Rolle spielten. Mit dem Begriff „Gerichtslandschaft“ steht dessen ungeachtet ein analytischer Raumbegriff zur Verfügung, mit dem sich die Konstruktion von Räumen durch Gerichte als Institutionen und Menschen, die an, mit und vor Gerichten (im Rahmen von Prozessen) agierten, untersuchen lässt. Bei der Analyse einer solchen subjektiv konstruierten Gerichtslandschaft 60 muss zuvörderst geklärt werden, wer in welchen Zusammenhängen und aus welchen Gründen über Gerichte gesprochen und diese genutzt hat. Zu beachten ist also nicht nur, wann welche Gerichte in Quellen benannt werden, wie dies im vorliegenden Fall mit der quantitativen Erhebung und der angesprochenen geographischen Verteilung der Gerichte geschehen ist. Entscheidend ist vielmehr, dass alle Gerichte in Prozessakten des Reichskammergerichts Erwähnung finden. Die dargelegten Befunde geben damit Aufschluss über eine Gerichtslandschaft, die durch das – noch genauer zu untersuchende – (aktenbasierte) Handeln und Sprechen von Menschen im Umfeld des Reichskammergerichts entstanden ist. Es handelt sich um eine Gerichtsland 57 Martina Steber, Region, in: Europäische Geschichte Online (EGO), hrsg. vom Leibniz-­ Institut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz, 19. März 2012. URL: http://www.ieg-­ ego.eu/steberm-2012-de (abgerufen am 12. Juli 2017) (hier Abschnitt 6). 58 Gerd Schwerhoff, Justiz-­Erfahrungen. Einige einleitende Gedanken, in: Paul Münch (Hrsg.), „Erfahrung“ als Kategorie der Frühneuzeitgeschichte. München 2001 (Historische Zeitschrift, Beiheft 31), S. 341 – 348. 59 Martin Dinges, Justiznutzungen als soziale Kontrolle in der Frühen Neuzeit, in: An­ dreas Blauert/Gerd Schwerhoff (Hrsg.), Kriminalitätsgeschichte. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte der Vormoderne. Konstanz 2000 (Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven, Bd. 1), S. 503 – 544 (hier S. 505). Siehe zur Anwendung des Konzeptes der Justiznutzung auch neuerdings Andreas Flurschütz da Cruz, Zwischen Füchsen und Wölfen. Konfession, Klientel und Konflikte in der fränkischen Reichsritterschaft nach dem Westfälischen Frieden. Konstanz 2014 (Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven, Bd. 39), S. 41 – 45. Justiz-­Nutzung und Justiz-­Erfahrung (siehe Anm. 58) scheinen gleichermaßen Perspektiven für die weitere Erforschung von Gerichtspluralitäten zu eröffnen. 60 Siehe generell zur subjektiven Konstruktion von Räumen und Raumpraktiken „im Sinne von (individuellen oder kollektiven) Handlungen, die praktischen (nicht theoretischen) Regeln folgen“, Susanne Rau, Räume. Frankfurt a. M./New York 2013 (Historische Einführungen, Bd. 14), S. 171 – 191 (Zitat S. 183).

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schaft des Reichskammergerichts, die deshalb auch von den Herrschaftsstrukturen Frankens, Schwabens und Bayerns geprägt war, da die beim Reichskammergericht beklagten Parteien und/oder die in die Prozesse involvierten Gerichte hier ihren Wohn- respektive Gerichtssitz hatten. Von einer so gearteten Gerichtslandschaft zu sprechen bedeutet allerdings im Grunde, jedes Gericht zum Ausgangspunkt einer Gerichtslandschaft nehmen zu können. Damit würde jedoch der Analysebegriff „Gerichtslandschaft“ an Erklärungspotential verlieren, da es beliebig viele Gerichtslandschaften gäbe. Der Begriff Gerichtslandschaft wurde überdies in der Forschung eingeführt, um die Vielfalt der Gerichte und Rechte in einem „Gebiete mit unbestimmten, osmotischen Grenzen“ jenseits der Reichsebene zu analysieren.61 Eine Gerichtslandschaft des Reichskammergerichts als höchstes ständisches Gericht des Reiches kann es im Sinne einer solchen Konzeptualisierung nicht geben. Solche Bedenken gegenüber der Adaption des Begriffes Gerichtslandschaft für die vorliegenden Zusammenhänge können allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Reichskammergericht im Laufe der Frühen Neuzeit mit tausenden Gerichten in Berührung kam. Diese über die Gerichts-­Nennungen greifbaren Kontakte können im Sinne des analytischen Raumbegriffes dann doch durchaus als Konstruktion einer Gerichtslandschaft über das Reichskammergericht – nimmt man dessen Aktenüberlieferung – verstanden werden. Das Spezifikum 62 dieser Landschaft bestand aus den – in Reichskammergerichtsakten benannten – physisch existenten 63 Gerichten. Das materielle Korrelat 64 ebendieser Gerichte, allen voran die in der Vergangenheit vom Gerichtspersonal genutzten Gebäude, aber etwa auch das im Rahmen von Prozessen entstandene und von Boten transportierte Schriftgut in seinen ­Entstehungs- und

61 Anja Amend/Anette Baumann/Stephan Wendehorst/Steffen Wunderlich, Recht und Gericht im frühneuzeitlichen Frankfurt zwischen der Vielfalt der Vormoderne und der Einheit der Moderne. Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Die Reichsstadt Frankfurt als Rechts- und Gerichtslandschaft im Römisch-­Deutschen Reich. München 2008 (bibliothek altes Reich, Bd. 3), S. 9 – 13 (hier S. 12). 62 Die „räumliche Formation“ einer Landschaft unterscheidet sich „durch bestimmte (geographische, politische, demographische oder kulturelle) Spezifika von anderen Gebieten“: Rau, Räume (wie Anm. 60), S. 117. 63 Siehe zur Bedeutung der physischen Materialität von Landschaften Bernd Belina, Raum. Zu den Grundlagen eines historisch-­geographischen Materialismus. Münster 2013 (Einstiege, Bd. 20), S. 54. 64 Eric Piltz, „Trägheit des Raums“. Fernand Braudel und die spatial stories der Geschichtswissenschaft, in: Jörg Döring/Tristan Thielmann (Hrsg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Bielefeld 2008, S. 75 – 102 (hier S. 95). Piltz setzt sich hier mit der Raumsoziologie Martina Löws auseinander.

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Nutzungszusammenhängen zu verorten 65 erlaubt es, wie geschehen, die quantitativ erfassten Gerichte und deren Wirksamkeit zu verräumlichen, sie also in der physisch existenten Welt der Vergangenheit zu platzieren. Neben der materiellen Existenz geht es aber ebenso um den Umgang der Zeitgenossen mit dieser Materialität sowie um die mentale Konstruktion einer vom Reichskammergericht geprägten Gerichtslandschaft. Eine solche Landschaft weiter zu erforschen, lohnt sich allein schon deshalb, da es hier wie generell 66 darum geht, die Gerichtsvielfalt jenseits der modernen Vorstellung einer einheitlichen, homogenen, hierarchisch klar geordneten Gerichtsstruktur zu untersuchen. Mit einer derartigen Vorstellung kann die Nutzung der Gerichte und der sich dadurch aufspannende Handlungsraum der Zeitgenossen in der Frühen Neuzeit nicht adäquat erfasst werden. Dies bedeutet natürlich nicht, hierarchische Strukturen zu übergehen, die auf eine Gerichtslandschaft einwirkten. So stand auch und gerade das Reichskammergericht als Appellationsinstanz in hierarchischer Beziehung zu den Vorinstanzen. Gerichte traten aber, wie gezeigt, auch anderweitig in Beziehung zum Reichskammergericht, indem etwa Prozessparteien mit Gerichten im Rahmen von Streitfällen argumentierten. Der Begriff Gerichtslandschaft erlaubt es, ergebnisoffen das Mit-, Neben- und Gegeneinander von Gerichten zu untersuchen. Aber auch ansonsten ergeben sich weiterführende Forschungsperspektiven. So stellt sich für die Gerichtslandschaft des Reichskammergerichts die Frage, welchen Einfluss die Gerichtsvielfalt auf die Tätigkeit des Reichskammergerichts hatte, aber auch umgekehrt, wie das Höchstgericht auf die Gerichtsvielfalt eingewirkt hat. Von Interesse sind hier vor allem die im Rahmen des Eichstätter Forschungsprojektes ermittelten 273 Prozesse, die Streitigkeiten bezüglich der Zuständigkeiten von Gerichten zum Gegenstand haben. Mit dem Reichskammergericht kann aber auch generell das Wissen von Gerichten über andere Gerichte untersucht werden. So taucht etwa in einem Prozess aus dem beginnenden 17. Jahrhundert ein Malefizgericht zu Hilpoltstein auf.67 Welche Informationen hatte das Reichskammergericht über dieses Gericht, warum hatte es diese Informationen und auf welcher Grundlage? Anders formuliert: Wann, warum und inwieweit konnte oder musste das Reichskammergericht über Gerichte informiert sein? Und welche Rolle spielte dieses (Nicht-)Wissen über andere Gerichte für einen Prozess? Lässt sich damit ein spezifischer Umgang des Reichskammergerichts mit einer Gerichtsvielfalt feststel 65 Siehe zur Verräumlichung des schriftbasierten Handelns im Umfeld des Reichskammergerichts unter Berücksichtigung von Hand- und Druckschriftlichkeit Denzler, Über den Schriftalltag (wie Anm. 31). 66 Amend/Baumann/Wendehorst/Wunderlich, Recht und Gericht (wie Anm. 61). 67 RKG (wie Anm. 17), Inventarnummer 7.980.

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len? Die Gerichtslandschaft des Reichskammergerichts würde mit solchen Untersuchungen eine wissensgeschichtliche Fundierung erfahren. Interessant ist ferner, dass nicht alle 1.250 lokalisierbaren Gerichte innerhalb der Grenzen des heutigen Bayerns liegen. Von den 663 Gerichtsorten befinden sich vielmehr 83 außerhalb Bayerns, etwa aufgrund des Hofgerichts zu Wittenberg oder der Juristenfakultäten zu Göttingen und Freiburg. Aber auch die Rota Romana und das Mainzer Metropolitangericht gehörten zu jenen Gerichten, die außerhalb des Untersuchungsraums liegen, die aber dennoch in den hier ausgewerteten Reichskammergerichtsprozessen involviert waren. Mit dem Reichskammergericht deutete sich also an, dass Gerichte mit anderen Gerichten in Verbindung standen. Warum und in welchem – herrschaftlich durchdrungenen – geographischen Raum dies geschah, ob hier von weiteren Gerichtslandschaften gesprochen werden kann und wo die Grenzen dieser Landschaften lagen, bleibt gleichfalls zu eruieren. Die quantitative Analyse der überlieferten Reichskammergerichtsakten zeigt aber noch Weiteres auf: In der Gerichtslandschaft des Reichskammergerichts gab es regelrechte Gerichtszentren mit zehn oder mehr verschiedenen Gerichten, die im Laufe der Frühen Neuzeit Eingang fanden in die Akten des Reichskammergerichts. In Schwaben gab es solche zentralen Gerichtsorte mit einem relativen Bedeutungsüberschuss in Bezug auf ein sie umgebendes Gebiet 68 auf Grundlage der quantitativen Häufung der Gerichte in Augsburg, Oettingen, Kempten und Memmingen, in Franken Ansbach, Bamberg, Bayreuth, Nürnberg, Eichstätt und Würzburg und in Bayern Regensburg und München. An der Spitze standen Bamberg und Würzburg mit je 35 unterschiedlichen Gerichten, gefolgt von Ansbach, Eichstätt, Nürnberg und Augsburg mit je rund 20 Gerichten. Solche in Residenzstädten und Reichsstädten gelegenen Gerichtszentren hatten, aufgrund der regionalen und überregionalen Zuständigkeitsbereiche ihrer Gerichte, einen entscheidenden Einfluss auf die Ausgestaltung der Gerichtslandschaft. Sie bieten einen geeigneten Ansatzpunkt, um die quantitativen Befunde der vorliegenden Studie qualitativ zu fundieren.

4. Schluss Die in München verwahrten Reichskammergerichtsakten ermöglichen es, die Pluralität der Gerichte in den Grenzen des heutigen Bayerns und damit für einen 68 Monika Escher/Frank G. Hirschmann, Die urbanen Zentren des hohen und späten Mittelalters. Vergleichende Untersuchungen zu Städten und Städtelandschaften im Westen des Reiches und in Ostfrankreich. Trier 2005 (Trierer Historische Forschungen, Bd. 50/I), S. 34.

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zentralen Ausschnitt Süddeutschlands vom 16. bis zum 18. Jahrhundert zu analysieren. Denn in die 4.640 Prozesse waren mittel- oder unmittelbar mehr als 2.220 Gerichte eingebunden, die sich 154 Gerichtstypen zuordnen lassen. Die 8.570 Nennungen von Gerichten in den Reichskammergerichtsakten variierten zeitlich und räumlich vor allem aufgrund der divergierenden und sich zeitlich wandelnden Herrschaftsstrukturen Bayerns, Frankens und Schwabens. Neben raumspezifischen Gerichtstypen gab es aber ebenso raumunspezifische Gerichte, deren Quantität gleichfalls entsprechend der Herrschaftsstruktur stark variieren konnte. Die Indices der Aktenverzeichnung geben somit einerseits Aufschluss über eine sich quantitativ und qualitativ ändernde Gerichtspluralität Süddeutschlands. Andererseits konnte auf Grundlage der Münchner Akten der süddeutsche Ausschnitt der Gerichtslandschaft des Reichskammergerichts betrachtet werden. Reichskammergericht und tausende Gerichte standen (in dieser Landschaft) in einer Beziehung, die noch genauer erforscht werden muss. Die Gerichtslandschaft des Reichskammergerichts entstand hierbei weniger durch das Gericht an sich als vielmehr durch die Menschen, die als Prozessparteien, Anwälte und Gerichtspersonal an, mit oder auch gegen das Höchstgericht agierten. Die quantitativen Befunde der vorliegenden Untersuchung verweisen somit auf eine Gerichtslandschaft, die im (aktenbasierten) Handeln und Sprechen von Menschen im Umfeld des Reichskammergerichts ihren Ursprung hatte. Ein so geartetes Verständnis einer Gerichtslandschaft unterstreicht, dass die hier analysierten Gerichts-­Nennungen keine objektive Tatsache sind, sondern bereits als Teil einer Konstruktion verstanden werden müssen. So sind es beim Fehlen von Vorakten ausschließlich die kameralen Dokumente mit ihren zumeist knapperen Bezeichnungen der Gerichte, die für die Erstellung der Regestbände herangezogen wurden.69 Dergestalt gerät die Gerichtspluralität zuvörderst aus der Perspektive des Reichskammergerichts in den Blick. Es muss künftigen Arbeiten vorbehalten bleiben, die Datengrundlage durch die systematische Auswertung der Regesteinträge unter Einbezug der reichen Forschungsliteratur 70 zu fundieren. So wurden zwar alle aus den Indices eruierten 8.570 Gerichts-­Nennungen mittels der Regesteinträge dahingehend überprüft, ob es sich bei der jeweiligen Nennung um Vorinstanzen (4.036) handelt oder nicht (4.534); bei der Gelegenheit wurden auch einzelne Angaben aus den Indices präzisiert. Eine systematische Auswertung der Regesteinträge steht allerdings noch aus, um die Gerichts-­Nennungen zu konkretisieren, die aufgrund der Angaben in den Indices etwa dem unspezifischen Gerichtstypus „Gericht“ oder „Amt“ (siehe 69 Antwortschreiben Hörner vom 13. Juli 2017 (wie Anm. 25). 70 Anzuführen ist der Historische Atlas von Bayern, der in mehr als 100 Bänden historisch-­ topographisch die Besitz-, Herrschafts- und Verwaltungsstruktur Bayerns beschreibt.

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Abbildung 3 und den Anhang) zugeordnet wurden.71 In einem weiteren Schritt könnten dann auch die Prozessakten selbst eingesehen werden. Von diesen Forschungsperspektiven ist unberührt, dass ein quantitativer Zugriff insgesamt gegenüber qualitativen Forschungen die Möglichkeit eröffnet, neben dem Untersuchungsraum den Untersuchungszeitraum zu weiten. So wird die Gerichtsvielfalt nicht nur für wenige Jahre oder Jahrzehnte, sondern für die gesamte Frühe Neuzeit – in zahlenmäßiger Perspektive – analysiert. Hierdurch geraten grundlegende Entwicklungen der Gerichtsvielfalt, wie der Rückgang der natürlichen Gerichtspersonen oder der Aufstieg der Regierungen, in den Blick. Die Deutung der quantitativen Forschungen kommt freilich ohne qualitative Forschungen nicht aus. Bereits vorliegende oder noch zu leistende qualitative Forschungen müssen vielmehr in eine Jahrhunderte übergreifende Gesamtschau einbezogen werden, um sowohl die quantitativen Befunde zu fundieren oder zu korrigieren als auch um Wandlungen der Gerichtspluralität nicht nur benennen, sondern auch stärker kausal erklären zu können. Besondere Aufmerksamkeit sollte hierbei erfahren, dass sich durch das Vorhandensein einer Vielzahl an Gerichtsorten sowohl ein materiell existenter als auch ein durch die Zeitgenossen (mental) konstruierter Handlungsraum ergab, der sowohl institutionell als auch individuell genutzt und wahrgenommen werden konnte. Wie sich dieser Handlungsraum in einer von den Akteuren angeeigneten Gerichtslandschaft gestaltete, die durch immer wiederkehrende Aushandlungs- und Gestaltungsprozesse keine statische, sondern vielmehr variable räumliche Formation war, gilt es fernerhin zu zeigen. In diesem Sinne versteht sich der vorliegende Beitrag als Einladung, quantitative und qualitative Erkenntnisse im Hinblick auf Gerichtsvielfalt(en) und -landschaft(en) zu vereinen.

71 So wird im Index des Bandes B auf S. 419 ein schwabeggisches Gericht zu Hiltenfingen genannt. Der entsprechende Regesteintrag – RKG (wie Anm. 17), Inventarnummer 1.042 – präzisiert, dass es sich hier um ein zu Hiltenfingen einberufenes Landgericht der Herrschaft Schwabegg handelt.

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Anhang Die 154 Gerichtstypen 72 Achtgericht Amt Amtshauptmannschaft Amtskellerei Appellationsgericht Austrägalrichter Bannrichter/Banngericht Baramtrichter Bauerngericht Baugericht Bauschauer Bergrichter Brückengericht Bundestag Bundesversammlung Bürgergericht Bürgerlehengericht Bürgermeister und Rat Bürgermeisteramt Burggericht Cellarius Chorgericht Dekanatsgericht Delegierter/gefreiter Richter Deutschordensamt Deutschordensgericht Deutschordenshofgericht Deutschordensland­ kommende Deutschordensregierung Direktorium (Reichsritter) (Dom-)Dekanat Dom(-Propst) Domamtsgericht Domkapitel

Dorfgericht Dreizehnergericht Ehegericht Einigungsherren Einungsgericht Femegericht Forstgericht Fünfergericht Gegenschreiber Geistliches Gericht/ Konsistorium Geleitsmann (General-)Vikar Gericht Gerichtsherrschaft Hals- und Hochgericht Halsgericht Hauptmannschaft Helfgericht Herrschaftsgericht Hof-, Regierungs-, und Justizratskollegium Hofgericht Hofkammer Hofkriegsrat Hofmarksgericht/ Hofmarksrichter Hofrat Hofschultheißenamt (Hoher) Rat Hubgericht Johanniterordensregierung Juristenfakultät Justizrat Kämmerer und Rat

Kanzlei Kanzleigericht Kapitel Kasten(Gericht) Kastenamt Kastner Klostergericht Kommissar Kommission Komtur Konzil (Kriegs-)Regiment Kriegstag/-konvent/ -versammlung Küchenmeister (Landes-)Hauptmann Land- und Bauerngericht Landgerichte, fürstlich Landgerichte, kaiserlich (Land-)Pflegeamt Landrichter Landrichteramt Landvogtamt Lehengericht Lehenstube Malefizamt Malefizgericht Marktgericht Metropolitangericht Mutakellerei-/ Cellariatsgericht Neunjähriger Bund Niedergericht Obereinnahme Obergericht

72 Ursprünglich wurden im Rahmen des Projektes 230 Gerichtstypen erfasst. Diese Liste bedurfte nach der Auswertung aller Regestbände des Hauptstaatsarchivs München einer Bereinigung aufgrund der doppelten Anlage gleicher Gerichtstypen und aufgrund der bereits erwähnten (siehe Kapitel 2 dieses Aufsatzes) Zusammenführung von gleichen Gerichtstypen. Weitere Untersuchungen müssen zeigen, ob und inwieweit weitere Gerichtstypen zusammengelegt oder auch – ggf. unter Einsichtnahme der Regesteinträge – neue Gerichtstypen gebildet werden können/sollten.

208 Oberhof Oberhofgericht Oberrat Oberrichteramt Oberstadtgericht (Ober-)Vogt Offizial Offizialatsgericht Ordinariatsgericht Peinliches Gericht Person/Würdenträger Pfalzgericht Pfleger Pfleggericht Pfortengericht Prokanzler und Räte Propstei(-gericht) Propsteiamt Rabbiner

Alexander Denzler Räte Regierung zu Reichsdeputation Reichsvogt Rektor, Kämmerer und Rat Rentmeister Ritterlehengericht Rota Romana Schiedsgericht Schöffengericht Schöffenstuhl Schultheiß und Schöffen Schultheißenamt Schultheißengericht Senat (Stadt-)Ammann Stadtgericht Stadtrat Stadtrichter

Stadtvogteiamt Statthalter Syndikus Theologenfakultät Untergericht Untervogt (Verordneter) Vierer Verwalter Vikariat Vikariatshofgericht (Vize-)Domamt Vogt und Gericht Vogt und Räte Vogteiamt Vormundamt Wassergericht Zentgericht

Josef Bongartz

Das Würzburger Kanzleigericht zu Beginn der Frühen Neuzeit Ein territoriales Obergericht als Schlüssel zu Gerichtsverfassung und -vielfalt

Im Jahr 1474 erhielt der Würzburger Bischof eine Reihe von Beschwerden seitens der fränkischen Ritterschaft, die sich überwiegend mit der Gerichtsbarkeit im Hochstift auseinandersetzten. Darin findet sich auch der Hinweis, dass ein newe gericht als vor der Canzley […] angefangen sei, der gleichn bey keynem unnserm g[nädigen] H[e]rnn von wirzpurg nie gewest ist und wirt gebraucht in forma des hoffgerichts und dem selben nit gleich sundern merckliche beschwerung darauß erwachsen wider den vertrack und alles herkomen.1 In diesem Hinweis liegt zugleich die erste heute bekannte Erwähnung des Würzburger Kanzleigerichts, das für die folgenden drei Jahrhunderte eine hervorgehobene Stellung in der Gerichtsverfassung des Hochstifts einnehmen sollte. Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, ausgehend von den ritterlichen Gravamina eine Verortung dieses neu entstandenen Kanzleigerichts innerhalb der Würzburger Gerichtslandschaft vorzunehmen und darzulegen, warum die Ritterschaft diesen Spruchkörper als Einschränkung ihrer hergebrachten Rechte verstehen musste. Dazu wird zunächst auf die Einrichtung der fürstlichen Kanzlei eingegangen, bevor die Beschwerden im Einzelnen erörtert und in ihren historischen Kontext eingebettet werden. Davon ausgehend wird im Anschluss unter Einbeziehung der reichskammergerichtlichen Aktenüberlieferung die Stellung des Kanzleigerichts im Rahmen der Gerichtslandschaft des Hochstifts dargelegt und so Einblick in die außerordentliche Gerichtsvielfalt der frühneuzeitlichen Gerichtsbarkeit gegeben.

1. Die Entstehung der fürstlichen Kanzlei Schon die erste umfassendere Kanzleiordnung aus dem Jahre 1526 hatte formuliert, dass jnn dem wertlin Canzley, nit allein unnser Cannzler secritarj unnd anndere schreybere, sunder auch unsere Räthe, begriffenn werd[en] deren jeder theyll sein sonnder unnd unnderschidlich Ampt unnd bevelhe haben sollenn.2

1 Staatsarchiv Würzburg (künftig: StAW), Liber diversarum formarum (künftig: Ldf.) 12, S. 948 f. 2 Kanzleiordnung 1526, StAW, Miscell. 6811, fol. 4r, und nahezu identisch in der Kanzleiordnung 1551, StAW, Ldf. 28, S. 583.

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Darunter war also einerseits die fürstliche Kanzlei im engeren Sinne als Schreibstube zu verstehen. Dieses gemach der schribery lässt sich schon Mitte des 14. Jahrhunderts nachweisen 3 und hat etwa einhundert Jahre später während der Regierungszeit Bischof Gottfrieds  IV . Schenk von Limpurg (1443 – 1455) erhebliche Professionalisierung erfahren. Sicherlich begünstigt durch die fortschreitende Schriftlichkeit im 15. Jahrhundert gab es neben zahlreichen Schreibern und ­Ko­pisten in der Kanzlei einen rechtskundigen Sekretär und einen ebenfalls rechtskundigen Protonotar, die mit Friedrich Schultheis (1444 – 1470) einem in Leipzig in den Rechten studierten Kanzler unterstanden.4 Andererseits meinte der Begriff Kanzlei auch den Hofrat des Würzburger Bischofs. Schon früh hatte sich der bischöfliche Landesherr mit geistlichen und weltlichen Beratern umgeben. Seine Herrschaft war also, wie im Mittelalter üblich, von Rat und Hilfe (consilium et auxilium) geistlicher und weltlicher Herren begleitet, die ihren Ursprung etwa in Lehens- oder Dienstverhältnissen haben konnten.5 Dass diesbezüglich das Domkapitel eine hervorgehobene Stellung inne hatte, das seit dem IV. Laterankonzil die Bischofswahl vornehmen sollte und schon im Jahr 1225 erstmals versuchte, durch Wahlkapitulationen die bischöfliche Politik im Vorfeld der Wahl in gerichtete Bahnen zu leiten, versteht sich von selbst.6 Es überrascht daher 3 Wilhelm Engel, Urkundenregesten zur Geschichte der kirchlichen Verwaltung des Bistums Würzburg im hohen und späten Mittelalter (1136 – 1488) (Regesta Herbipolensia II). Würzburg 1954 (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Bistums und Hochstifts Würzburg, Bd. 9), S. 174. 4 August Amrhein, Gotfrid IV. Schenk von Limpurg. Bischof von Würzburg und Herzog zu Franken. 1442 – 1455, Teil 2, in: Archiv des Historischen Vereins von Unterfranken und Aschaffenburg 51 (1909), S. 1 – 198 (hier S. 73 f.); Walter Scherzer, Das Hochstift Würzburg, in: Peter Kolb/Ernst-­Günter Krenig (Hrsg.), Unterfränkische Geschichte, Bd. 2: Vom hohen Mittelalter bis zum Beginn des konfessionellen Zeitalters. Würzburg 1992, S. 17 – 83 (hier S. 62 f.); ders., Die fürstbischöfliche Kanzlei zu Würzburg und der Weg von den Urkunden zu den Akten, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 52 (1992), S. 145 – 152 (hier S. 145, 147). 5 Oliver Auge, Art. Lehnrecht, Lehnswesen, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 3. 2. Aufl. Berlin 2016, Sp. 717 – 736 (hier Sp. 719, 733); Dietmar Willoweit, Die Entwicklung und Verwaltung der spätmittelalterlichen Landesherrschaft, in: Kurt G. A. Jeserich/Hans Pohl/Georg-­Christoph von Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 1: Vom Spätmittelalter bis zum Ende des Reiches. Stuttgart 1983, S. 66 – 142 (hier S. 109). 6 Scherzer, Das Hochstift Würzburg (wie Anm. 4), S. 22; Ernst Schubert, Die Landstände des Hochstifts Würzburg. Würzburg 1967 (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Fränkische Geschichte, Bd. 23), S. 21, 25; Wilhelm Störmer (Bearb.), Franken von der Völkerwanderungszeit bis 1268. München 1999 (Dokumente zur Geschichte von Staat und Gesellschaft in Bayern. Abteilung II: Franken und Schwaben vom Frühmittelalter bis 1800, Bd. 1), S. 132; Alfred Wendehorst, Das Bistum Würzburg, Bd. 1: Die Bischofsreihe bis 1254. Berlin/New York 1962 (Germania Sacra, NF., Bd. 1: Die Bistümer der Kirchenpro-

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nicht, dass schon Mitte des 13. Jahrhunderts an der Seite des Bischofs ein sogenannter engerer Rat existierte, der aus vier Domherren bestand.7 In verschiedenen Ausprägungen und mit wechselnder Bedeutung gab es ein derartiges Gremium bis weit in die Frühe Neuzeit hinein, als es in dem in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts etablierten geistlichen Rat auch eine formalisierte und stärker institutionelle Prägung erlangte.8 Wenngleich auch das Domkapitel seit dem 13. Jahrhundert nur noch aus Angehörigen des fränkischen Adels bestand und so die Repräsentation der wichtigsten fränkischen Adelsfamilien am Hof dauerhaft sichergestellt war, suchte der Würzburger Bischof freilich auch Rat und Unterstützung bei den Landständen, die vor allem im 15. Jahrhundert zunehmend versuchten, Einfluss auf die Geschicke des Hochstifts zu erlangen. Auch wenn es misslang, im Runden Vertrag des Jahres 1435 eine landständische Mitregierung aus 21 Mitgliedern des Stiftsadels und des Domkapitels zu etablieren, zog der Bischof doch Vertreter der ständischen Opposition als Berater an den Hof,9 wenngleich darin wohl noch kein Ratsgremium mit festem Mitgliederbestand gesehen werden kann. Dennoch war die Idee nicht auf Dauer verworfen, denn schon Johann III. von Grumbach (1455 – 1466) musste sich gegenüber Domkapitel und Stiftsadel verpflichten, zwei Räte, einen geistlichen bestehend aus vier Domherren und einen weltlichen mit zwölf adeligen Herren, zu akzeptieren.10 Wie häufig dieser Rat dann tatsächlich in vinz Mainz), S. 212 f. Die Wahlkapitulation von 1225 findet sich gedruckt in: Monumenta Boica 37 (1864), Nr. 205, S. 215; Störmer (Bearb.), Franken von der Völkerwanderungszeit, S. 362. 7 Klaus Arnold, Im Ringen um die bürgerliche Freiheit. Die Stadt Würzburg im späten Mittelalter (ca. 1250 – 1400), in: Ulrich Wagner (Hrsg.), Geschichte der Stadt Würzburg, Bd. 1: Von den Anfängen bis zum Ausbruch des Bauernkrieges. Stuttgart 2001, S. 94 – 109 (hier S. 98); Heinzjürgen N. Reuschling, Die Regierung des Hochstifts Würzburg 1495 – 1642. Zentralbehörden und führende Gruppen eines geistlichen Staates. Würzburg 1984, S. 11; Schubert, Die Landstände des Hochstifts Würzburg (wie Anm. 6), S. 24, Anm. 24; Alfred Wendehorst, Das Bistum Würzburg, Bd. 2: Die Bischofsreihe von 1254 bis 1455. Berlin/ New York 1969 (Germania Sacra, NF., Bd. 4: Die Bistümer der Kirchenprovinz Mainz), S. 7. 8 Ausführlich dazu Veronika Heilmannseder, Der Geistliche Rat des Bistums Würzburg unter Friedrich von Wirsberg (1558 – 1573) und Julius Echter von Mespelbrunn (1573 – 1617). Würzburg 2015, insbes. S. 58 – 106. 9 Scherzer, Das Hochstift Würzburg (wie Anm. 4), S. 62; Schubert, Die Landstände des Hochstifts Würzburg (wie Anm. 6), S. 77, 83, 88 – 90. 10 Vgl. zu diesem geistlichen Rat die Wahlkapitulation des Jahres 1455, StAW, Würzburger Urkunden (künftig: WU) Libell 443, unfol. (Art. 19), und schon jene Gottfrieds IV. Schenk von Limpurg (1444), WU Libell 441 fol. 2v (Art. 16). Zum weltlichen Rat Lore Muehlon, Johann III. von Grumbach. Bischof von Würzburg und Herzog zu Franken (1455 – 1466). Würzburg 1935, S. 151; Reuschling, Die Regierung des Hochstifts (wie Anm. 7), S. 16, die von zwölf oder (zuzüglich eines weiteren Ausschusses) 15 Räten ausgehen.

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der Folgezeit vollständig zusammentrat, ist freilich damit ebenso wenig entschieden wie die Frage, ob es sich um eigens bestallte und besoldete Räte handelte oder ob diese nur im Rahmen ihrer lehnsrechtlichen Pflichten wie die späteren Räte von Haus aus bei besonderen Gelegenheiten am Rat teilnahmen. Letzteres ist nicht unwahrscheinlich, fanden sich doch noch in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts selten mehr als acht Räte regelmäßig bei den nunmehr täglich stattfindenden Ratssitzungen ein, von denen etwa die Hälfte gelehrte Räte gewesen sein dürften.11 Wahrscheinlich wird man auch schon für das Jahr 1474 vom Vorhandensein einiger gelehrter Räte ausgehen dürfen, die die Kanzlei sehr regelmäßig aufgesucht haben. Denn die eingangs erwähnten ritterlichen Beschwerden gehen vom Bestand eines Räthgerichts in der Kanzlei aus, das Appellationen annahm, die an eynichem punckt uff geschr[iebene]s Recht gegrundet waren.12

2. Kontext und Grundlagen der ritterlichen Beschwerden Warum wurde dieses neue Gericht aber zu einem Kristallisationspunkt der ritterlichen Beschwerden? Hierzu geben diese selbst Auskunft: Es würden nämlich vil von Ritter Knechten und andrn gemein solche beschwert durch das lantgericht mit dem so einer daran zuschaffen hat od[er] gewindt so sprechn die ritter nach dem sie sich versteen nach lantrecht und nit nach geschriben rechten […] und so alßdann derjhenen wider die oder denn die urteile geen davon appeliren so wirdt sulch appellation jn der cantzeley angenomen, und so dann die appellation an eynichem punckt uff geschr[iebene]s recht gegrundet ist so satzen sie jn der cantzeley ain rechten […] und sprechen fur wol geappellirt und ubel geurteylet[.]13

Ausgangspunkt der Beschwerden war also das kaiserliche Landgericht des Herzogtums Franken, das anders als andere kaiserliche Landgerichte in Franken und Schwaben nicht in Anknüpfung an die Reichsgutsverwaltung entstanden war, sondern seit seinen Anfängen im 12. Jahrhundert der Gerichtsherrschaft der Würzburger Bischöfe unterstanden und schließlich kaiserliche Anerkennung erfahren hatte.14 An diesem im Mittelalter wohl bedeutendsten Würzburger Gericht saßen 11 Reuschling, Die Regierung des Hochstifts (wie Anm. 7), S. 31. In aller Regel dürfte die Zahl der beratenden Räte sogar noch darunter und eher zwischen vier und sechs gelegen haben, wie sich aus einem Ratsbuch der dreißiger Jahre des 16. Jahrhunderts ergibt, StAW, Standbücher 963. 12 StAW, Ldf. 12, S. 947. 13 Ebd. 14 Hans Erich Feine, Die kaiserlichen Landgerichte in Schwaben im Spätmittelalter, in: Zeitschrift der Savigny-­Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 66 (1948), S. 148 – 235 (hier S. 224 f.); ausführlich zur Entstehung des Gerichts und seiner Tätigkeit im Mittelalter Friedrich Merzbacher, Iudicium Provinciale ducatus Franconiae. Das kaiser-

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neben dem adeligen Landrichter als Vertreter des Bischofs verschiedene landständische Vertreter als Urteiler. Die Besetzung des Landgerichts war für den Stiftsadel von großer Bedeutung. Schon in einer Landgerichtsreformation aus der Mitte des 15. Jahrhunderts und erneut durch den sogenannten Gnadenvertrag zwischen Bischof und Stiftsadel im Jahr 1461 hatte sich letzterer hinsichtlich des Landgerichts bestätigen lassen, das es mit Rittern Ordenlich besezt 15 sein sollte. Auf diesen Gnadenvertrag, der schon von den Zeitgenossen auch der ritterliche Vertrag genannt wurde,16 bezog sich die Ritterschaft mit den nun erhobenen Beschwerden, soweit sie Zustände wider den vertrack und alles herkomen zum Gegenstand hatten. Aus einer Schrift des Lorenz Fries zum kaiserlichen Landgericht geht hervor, dass vormals sieben ritterliche Urteiler am Landgericht Recht gesprochen hatten, schon seit einem Privileg König Sigismunds von Luxemburg (1411 – 1437) aus dem Jahre 1422 allerdings, wa si nit rittere gehaben konnen, das Gericht auch mit edlen knechten die zum schilte und den wapen geboren, auch redlich vnd vernunfftig leut sein, besetzt werden konnte.17 Im Lichte dieser Darstellung ist es wahrscheinlich, dass auch dem Gnadenvertrag eine vergleichbare Besetzungssituation zugrunde gelegen hat, die sich weder 1474 noch im Laufe des späteren 16. Jahrhunderts wesentlich geändert haben dürfte. Denn auch nach der Fries’schen Darstellung zu den zeitgenössischen Gerichtsverhältnissen in der Mitte des 16. Jahrhunderts war durch zulasung ainer koniglichen Freihait 18 eine Besetzung des Gerichts durch den (nun nicht mehr notwendigerweise ritterlichen) Stiftsadel vorgesehen und auch die Landgerichtsordnung von 1618 verlangte, dass die Urteiler alle Ritter, oder vermög sonderbaren keys[erlichen] deßwegen unserm Stifft verliehener Privilegien zum wenigsten vom Adell, eines zimlichen alters, erbar, auffrichtig und verständig 19 sein mussten. liche Landgericht des Herzogtums Franken-­Würzburg im Spätmittelalter. München 1956 (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte, Bd. 54). 15 Lorenz Fries, Chronik der Bischöfe von Würzburg, Universitätsbibliothek Würzburg (künftig: UBW), M.ch.f. 760, fol. 485v. Ein Digitalisat dieser Passage aus der sog. „Echter-­ Chronik“ ist unter http://franconica.uni-­wuerzburg.de/ub/fries/pages/fries/1032.html (abgerufen am 21. August 2019) zu finden. Vgl. hierzu auch den Druck des Vertrages in Johann Christian Lünig (Hrsg.), Das Teutsche Reichs-­Archiv. [Bd. 12:] Des Teutschen Reichs-­ Archivs Partis Specialis Continuatio  III . Leipzig 1713, Zweyter Absatz: von der Freyen Reichs-­Ritterschaft in Francken, S. 297 – 299. 16 Fries, Chronik der Bischöfe (wie Anm. 15), fol. 485v. 17 StAW , Manuskripte 5, zitiert nach: Ludwig Rockinger, Magister Lorenz Fries zum fränkisch-­wirzburgischen Rechts- und Gerichtswesen, in: Abhandlungen der Historischen Klasse der Königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften 41 (1868/70), S. 149 – 254 (hier S. 191). 18 StAW, Standbuch (künftig: Stb.) 1011, fol. 275v. 19 Landgerichtsordnung (künftig: LGO) 1618: Des Hochlöblichen Stiffts Wirtzburgs und Hertzogthumbs zue Franckhen Kayserlichen Landtgerichts Ordnung, Auch sonderbahre

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Darüber hinaus musste der Stiftsadel die gerichtliche Tätigkeit der bischöflichen Räte auch deshalb als Einschränkung seiner hergebrachten Rechte verstehen, weil nun mit dem Kanzleigericht eine übergeordnete gerichtliche Instanz geschaffen worden war, die die am Landgericht ergangenen Urteile revidieren konnte. Die Entstehung des Gerichts markiert also auch den Übergang von einem häufig sogenannten einstufigen Gerichtsverfahren zu einem Instanzenzug, an dem nicht nur – wie etwa im Rahmen der mittelalterlichen Urteilsschelte oder der spätmittelalterlichen Oberhofzüge – ein weiterer Spruchkörper am Verfahren beteiligt wurde, sondern ein bereits ergangenes (End-)Urteil durch ein insofern übergeordnetes Gericht zu Fall gebracht werden konnte.20 Abgesehen davon, dass überhaupt ein dem Landgericht übergeordnetes Gremium in rechtlichen Angelegenheiten tätig wurde, entschied dieses noch dazu auf Basis von häufig römischrechtlichen Rechtsquellen, die aus Sicht des Stiftsadels dem Herkommen widersprachen, da gar selten geschriben und landtrecht mit einand[er] coinzedirn und daher das alles wider ein ander ergehe.21 Aus diesem Grund mussten die Rechtsuchenden nun von not wegen […] auch adtvocation haben.22

Gebräuch undt Herokhommen wie es in gedachtem Stifft und Hertzogthumb in landt-­ gerichtsfällen […] bißhero, undt inß künfftig zuehalten. Würzburg 1618, 1. Teil, Tit. 3 § 1. 20 Der vor allem von Jürgen Weitzel, Der Kampf um die Appellation ans Reichskammergericht. Zur politischen Geschichte der Rechtsmittel in Deutschland. Köln/Wien 1976 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, künftig: QFHG, Bd. 4), S. 104, 109, 119 f., stärker konturierte und von dems., Der Weg zu einer hierarchisch strukturierten Gerichtsverfassung im 15. und 16. Jahrhundert, in: Dieter Simon (Hrsg.), Akten des 26. Deutschen Rechtshistorikertages. Frankfurt a. M. 1987 (Ius Commune Sonderhefte, Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte, Bd. 30), S. 333 – 345, insbes. S. 333, und zuletzt etwa bei Bernhard Diestelkamp, Vom einstufigen Gericht zur obersten Rechtsmittelinstanz. Die deutsche Königsgerichtsbarkeit und die Verdichtung der Reichsverfassung im Spätmittelalter. Köln/Weimar/Wien 2014 (QFHG , Bd. 64), passim, und Alexander Krey, Die Praxis der spätmittelalterlichen Laiengerichtsbarkeit. Gerichts- und Rechtslandschaften des Rhein-­Main-­Gebietes im 15. Jahrhundert im Vergleich. Köln/Weimar/ Wien 2015 (Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 30), S. 97, vorausgesetzte Begriff des einstufigen Verfahrens ist bis heute nicht unumstritten. Kritisch dazu schon Ute Rödel, Intervention zu den Referaten Battenberg und Weitzel, in: Simon (Hrsg.), Akten des 26. Deutschen Rechtshistorikertages, S. 347 – 350 (hier S. 349 f.), und zuletzt Hendrik Baumbach, Rezension zu: Krey, Alexander: Die Praxis der spätmittelalterlichen Laiengerichtsbarkeit. Gerichts- und Rechtslandschaften des Rhein-­Main-­Gebietes im 15. Jahrhundert im Vergleich, in: H-Soz-­Kult, 02. 03. 2016, www.hsozkult.de/publicationreview/ id/reb-23539 (abgerufen am 21. August 2019). 21 StAW, Ldf. 12, S. 947. 22 Ebd.

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3. Die Stellung des Kanzleigerichts in der Gerichtsverfassung des Hochstifts Zu Beginn des 16. Jahrhunderts war das Kanzleigericht in Würzburg als Appellationsinstanz jedenfalls aus der Perspektive der Würzburger Bischöfe und ihrer Vertreter etabliert. Von einem Appellationsverbot vom Landgericht an die Kanzlei, wie zuweilen von Forschungen zur Würzburger Gerichtsbarkeit angenommen,23 kann daher keine Rede sein. Im Gegenteil ging die Landgerichtsordnung des Jahres 1506 von der Appellation aus, indem sie formale Regelungen zur Annahme derselben in der Kanzlei, etwa hinsichtlich Schriftform und Fristen, statuierte.24 Aufschluss über die tatsächlichen Verhältnisse geben die für die Würzburger Gerichtsforschung bisher nicht fruchtbar gemachten Aktenbestände des Reichskammergerichts. Schon der Blick in die Inventarbände des Bayerischen Hauptstaatsarchivs zeigt, dass bereits um die Jahrhundertwende einige Verfahren am Reichskammergericht anhängig waren, die nach der Appellation von einem landgerichtlichen Urteil an das Kanzleigericht gelangt waren.25 Wurde, wie im Jahre 1501, doch einmal ein Verfahren unmittelbar nach einem Urteil des Landgerichts am Reichskammergericht anhängig gemacht, verlangten die Beklagten gerade deshalb die Abweisung der Appellation, weil vorher an den Bischof von Würzburg hätte appelliert werden müssen, während die Kläger eine Appellation an den Bischof und seine Räte als bloße Möglichkeit erachteten.26 Selbst in diesen streitigen Verfahren gingen offenbar alle Beteiligten von einer Appellationsmöglichkeit an das Kanzleigericht aus. In dieser frühen Phase der Existenz des Kanzleigerichts scheint aber die Notwendigkeit einer Appellation an die Kanzlei als erforderliche Rechtswegerschöpfung vor einem Verfahren am Reichskammergericht noch nicht unbestritten gewesen zu sein. Denn die Appellation an das Reichskammergericht war grundsätzlich nur gradatim möglich, verlangte also, dass es im Gebiet des Reichsstandes, dem das urteilende Gericht unterstand, kein höheres Gericht gab, das mit der Sache befasst werden konnte.27 Im Hochstift war zu Beginn des 23 So etwa Merzbacher, Iudicium Provinciale (wie Anm. 14), S. 129 f., und Reuschling, Die Regierung des Hochstifts (wie Anm. 7), S. 27. 24 Landgerichtsordnung 1506, StAW, Ldf. 19, S. 197. 25 Im Inventar finden sich allein zu den (demnächst veröffentlichten) Buchstaben R und S etwa BayHStA, RKG R0096 (1498 bis 1499), S0527a (1499 bis 1501), S1604 (1511 bis 1516) im Nachgang eines Verfahrens von 1504, S1607 (1508 bis 1532), S1837a (1520 bis 1525) zu einem Verfahren von 1506 bis 1509 am Landgericht mit nachfolgender Appellation an das Kanzleigericht (undat.). 26 BayHStA, RKG R1019. 27 So schon § 13 der Reichskammergerichtsordnung des Jahres 1495 = Karl Zeumer (Hrsg.), Quellensammlung zur Geschichte der Deutschen Reichsverfassung in Mittelalter und Neuzeit. 2. Aufl. Tübingen 1913, Nr. 174, S. 284 – 291 (hier S. 287). Vgl. auch Johann

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16. Jahrhunderts offenbar noch unklar, ob Landgericht und Kanzlei in einem solchen Verhältnis der Über- und Unterordnung zueinander standen. Denn in einigen Prozessen, die unmittelbar vom Landgericht an das Reichskammergericht gelangten, handelte es sich um Appellationsverfahren, die die Anwendung des materiellen Rechts zum Gegenstand hatten, ohne dass von Seiten der Bischöfe die mangelnde Rechtswegerschöpfung vorgebracht worden wäre. Eine stichprobenartige Überprüfung der Reichskammergerichtsbestände ergibt aber, dass spätestens nach den ersten zwei Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts die Appellation vom Landgericht zwingend zunächst an die fürstliche Kanzlei führte.28 So wies etwa im Jahr 1535 Jacob Moser, Von der Teutschen Justiz-­Verfassung, nach denen Reichs-­Gesezen und dem Reichs-­Herkommen, wie auch aus denen Teutschen Staats-­Rechts-­Lehrern, und eigener Erfahrung […], Bd. 1. Frankfurt a. M./Leipzig 1774, S. 584; Bernd Schildt, Das Reichskammergericht als oberste Rechtsmittelinstanz im Reich, in: Leopold Auer/Eva Ortlieb (Hrsg.), Appellation und Revision im Europa des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. Wien 2013 (Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs, Jg. 3, Bd. 1), S. 67 – 85 (hier S. 68), verfügbar unter http://hw.oeaw.ac.at/7432-5inhalt?frames=yes (abgerufen am 21. August 2019). 28 In der für diesen Beitrag exemplarisch vorgenommenen Auswertung der ersten sechs Inventarbände bis zum Buchstaben „C“ nach Ordnung der Kläger lassen sich über das Vorin­ stanzenverzeichnis 87 Verfahren an Würzburger Gerichten nachweisen. 21 dieser Verfahren gelangten direkt vom Landgericht an das Reichskammergericht. Wiederum zwölf dieser Verfahren hatten einen Zuständigkeitskonflikt mit benachbarten Obrigkeiten, insbesondere mit den Bamberger Fürstbischöfen, den hohenzollernschen Markgrafen von Brandenburg-­ Ansbach und Brandenburg-­Kulmbach oder den Grafen von Castell, zum Gegenstand, BayHStA, RKG 540, 554, 657, 824, 1451, 1453, 1483, 1509, 1924, 1945, 1946, 1950. In diesen Verfahren ging es regelmäßig um Abforderungsbegehren, denen nicht nachgekommen worden war. In drei weiteren Verfahren war der Zug unmittelbar an das Reichskammergericht offenbar erklärungsbedürftig, denn die Kläger rügten hier die Parteilichkeit des Bischofs und die Einmischung in das erstinstanzliche Verfahren, welche die – offenbar also im Grundsatz unstreitige – Appellation an das Kanzleigericht als aussichtslos erscheinen ließen, BayHStA, RKG 1209, 1210, 1901. In einem Verfahren war einerseits schon die Zuständigkeit des Landgerichts seitens einer Partei nicht anerkannt worden und überdies offenbar die darauf gerichtete Appellation bischöflicherseits nicht angenommen worden, BayHStA, RKG 56. Es bleiben also fünf Verfahren, in denen der Bischof, soweit ersichtlich, auch nicht – wie sonst häufig – auf die Zuständigkeit der Kanzlei als Appellationsgericht verwies. In einem dieser Verfahren sind die wenigen verfügbaren Informationen infolge des Verlusts des Aktenbestands dem Repertorium entnommen, so dass Einzelheiten nicht rekonstruiert werden können, BayHS tA, RKG  859. Die schließlich verbleibenden Verfahren, BayHStA, RKG 1266, 2062, 437, 1406, waren erstinstanzlich in den Jahren 1488, 1494, 1496 bzw. vor 1501 am Landgericht anhängig. In dieser Zeit wurde offenbar auch von bischöflicher Seite eine Appellation an die Kanzlei nicht als zwingend erforderlich angesehen. Umgekehrt finden sich neben den bereits genannten Verfahren, die im Wege der Appellation vom Landgericht an die Kanzlei führten, vgl. Anm. 25, auch innerhalb dieses Bestandes Verfahren, BayHStA, RKG 1193, 2082, 1792, von 1505, 1508 bzw. 1509,

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das Reichskammergericht eine Klage ab, nachdem sich der Würzburger Bischof auf die vorrangig einzulegende Appellation an das Kanzleigericht berufen hatte. Darüber hinaus lassen sich jedoch über das ganze 16. Jahrhundert hinweg Verfahren nachweisen, in denen schon die Zuständigkeit des Landgerichts in Zweifel gezogen wurde, was freilich dazu führte, dass dann auch das Kanzleigericht als Appellationsinstanz nicht anerkannt werden konnte. In solchen Fällen hatte häufig eine andere Obrigkeit das Verfahren abgefordert und, nach gleichwohl erfolgter Befassung durch das bischöfliche Gericht, die nicht erfolgte Verweisung vor dem Reichskammergericht gerügt.29 Auch dabei handelte es sich freilich um Appellationsverfahren im zeitgenössischen Sinne. Sie besaßen jedoch insoweit eine andere Qualität, als hierbei nicht die Anwendung des materiellen Rechts zwischen den Parteien streitig war, sondern vielmehr die Gerichtszuständigkeit als solche. Es handelte sich daher im Wesentlichen um Auseinandersetzungen mit reichsunmittelbaren Obrigkeiten, die versuchten, sich dem weltlichen Herrschaftsanspruch der Würzburger Bischöfe als Herzöge zu Franken zu widersetzen.30 Häufig wurde auch eine parteiliche Einmischung des Bischofs in das landgerichtliche Verfahren gerügt, die eine erfolgreiche Appellation an das Kanzleigericht von vornherein als aussichtslos erscheinen ließ. Diese Verfahren standen also ihrem Wesen nach insofern auch der Nichtigkeitsbeschwerde und der Klage wegen Rechtsverweigerung oder -verzögerung nahe, als hier nicht die Anwendung des materiellen Rechts im Wege einer getroffenen Sachentscheidung gerügt wurde, sondern mit der Gerichtszuständigkeit schon das mangelnde Vorliegen der Voraussetzungen einer solchen.31 So erhellend die Heranziehung der Inventarbände auch sein mag, wird doch der gewinnbringende Zugriff dadurch erschwert, dass sich dort – allein in Verfahdie im Wege der Appellation vom Landgericht an die Kanzlei und später schließlich an das Reichskammergericht gelangten. 29 Neben der Zuständigkeit des Landgerichts (vgl. Anm. 28) war hier insbesondere die Zuständigkeit der Zentgerichte im Hochstift in Abgrenzung zu der den benachbarten Landesherrschaften unterstehenden Vogteigerichtsbarkeit umstritten. Unter den 87 überprüften Verfahren entfallen 18, BayHStA, RKG 604, 655, 656, 660, 665, 676, 729, 737, 747, 760, 1216, 1225, 1227, 1237, 1691, 1907, 1920, 1937, auf derartige Auseinandersetzungen, die entsprechend der Auswahl der Verzeichnisse insbesondere mit den Bamberger Fürstbischöfen oder den Grafen von Castell geführt wurden. 30 Es nimmt daher nicht Wunder, dass sich auch zwei derartige Verfahren in Auseinandersetzungen mit den (nunmehr reichsritterlichen) Herren von Bibra ergaben, BayHS tA, RKG 1216, 1225, die sich in den zwei Jahrzehnten vor Ende des 16. Jahrhunderts und somit nach Formierung der Reichsritterschaft nicht mehr der bischöflichen Jurisdiktion unterwerfen wollten. 31 Grundsätzlich zu den verschiedenen Rechtsmittelverfahren vor dem Reichskammergericht Schildt, Das Reichskammergericht als oberste Rechtsmittelinstanz (wie Anm. 27), S. 67 – 74.

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ren vor dem Beginn des Dreißigjährigen Krieges – nicht nur ein fürstbischöfliches würzburgisches Kanzleigericht, sondern auch ein fürstbischöfliches Hofgericht zu Würzburg, ein fürstbischöfliches Hof- und Kanzleigericht zu Würzburg sowie der Kanzleirichter und die Räte des Bischofs von Würzburg als Appellationsinstanzen auffinden lassen. Nicht immer dürften diese Bezeichnungen mit der zeitgenössischen Würzburger Terminologie in Einklang stehen. Meist dürfte damit das Kanzleigericht gemeint sein. Dafür spricht auch eine bekannte Darstellung verschiedener Würzburger Gerichte aus der Feder des Würzburger Sekretärs und späteren Rats Lorenz Fries in seiner sogenannten Hohen Registratur aus den Jahren zwischen 1544 und 1546, die eine, wenngleich vielleicht idealtypische, so doch recht genaue und vor allem zeitgenössische Abgrenzung der verschiedenen Gerichte und ihrer Kompetenzen zueinander enthält.32 Demnach wurden alle drei der bisher genannten Gerichte, also Land-, Hofund Kanzleigericht, im Gebäude der fürstlichen Kanzlei neben dem Würzburger Dom gehalten. Unter diesen drei Gerichten kam die umfangreichste erstin­ stanzliche Sachzuständigkeit dem Landgericht zu, das über Injuriensachen ebenso befand wie über Schuld- und Vertragsangelegenheiten oder Rechtsverhältnisse an Sachen. Hinzu kamen noch weitreichende Kompetenzen in Rechtsbereichen, die heute zum Familien- oder Erbrecht gezählt würden, sofern nicht erstere der geistlichen Gerichtsbarkeit unterfielen.33 Die örtliche Zuständigkeit erstreckte sich nach der zeitgenössischen Darstellung von Fries über das gesamte Bistum Würzburg und das Herzogtum Franken, faktisch aber im Wesentlichen über das Gebiet des Hochstifts.34 Ausweislich der – in dieser Hinsicht alles andere als unwahrscheinlichen – Darstellung hatte ursprünglich der Bischof selbst den Vorsitz über die urtailsprechere aus den Landheren Graven Freien oder zum wenigst den Ritern des Stiffts und Hertzog-­tumbs Adel inne gehabt, bevor das Gericht unter Präsidentschaft eines Domherrn als Richter mit siben redlichen verstendigen personen aus des lands adl besetzt 35 worden war. 32 Zur Hohen Registratur und zum Zeitpunkt der Abfassung Thomas Heiler, Die Würzburger Bischofschronik des Lorenz Fries (gest. 1550). Studien zum historiographischen Werk eines fürstbischöflichen Sekretärs und Archivars. Würzburg 2001 (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Würzburg, Bd. 9), S. 103 – 114, insbes. S. 108 f. Zur Bedeutung der Hohen Registratur für die Verwaltungspraxis Stefan Petersen, Die Hohe Registratur des Lorenz Fries. Ein Kanzleibehelf als Zeugnis effizienter Verwaltung, in: Franz Fuchs/Stefan Petersen/ Ulrich Wagner/Walter Ziegler (Hrsg.), Lorenz Fries und sein Werk. Bilanz und Einordnung. Würzburg 2014 (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Würzburg, Bd. 19), S. 269 – 293 (hier insbes. S. 269 – 275). 33 StAW, Stb. 1011, fol. 275v. 34 Ebd. 35 Ebd.

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An der Cantzlei Gerichte, so Fries weiter, sein richter und urtailer die furstlichen räthe gaistliche und weltliche, die richten in veranlassten und allen anderen sachen die appellation weis von dem Landgericht und anderen des Stiffts stat oder dorfgericht[en] dahin komen.36 Das Kanzleigericht war demnach nicht nur für Appellationen vom Landgericht, sondern auch von anderen lokalen Gerichten des Hochstifts zuständig. Tatsächlich gelangten auch Verfahren der verschiedenen Stadt- oder Dorfgerichte im Hochstift, etwa aus Heidingsfeld oder Iphofen beziehungsweise aus Bundorf, vor die fürstlichen Räte.37 Der ganz überwiegende Teil der später vor das Reichskammergericht gelangten Verfahren kam aber vom Landgericht an die Kanzlei.38 Doch auch an das Landgericht seinerseits konnten Prozesse der insbesondere dörflichen Niedergerichtsbarkeit im Wege der Appellation gelangen.39 Trotz aller bischöflichen Begrenzungsversuche in Ordnungen und Mandaten konnten sich die Untertanen nicht nur im Wege von Suppliken direkt an den Bischof und seine Räte wenden, sondern alternativ im rechtsförmigen Verfahren den Weg über eine oder zwei Vorinstanzen an die Kanzlei gehen. So scheint es etwa möglich gewesen zu sein, gegen das Urteil eines Dorfgerichts entweder zunächst an das Landgericht und dann an die Kanzlei oder aber direkt an dieselbe zu appellieren.40 Von der Kanzlei war nach Fries das Hofgericht eindeutig zu unterscheiden. Hierbei handelte es sich um ein regelmäßig unter Vorsitz des selbstverständlich adeligen Hofmeisters abgehaltenes höheres Lehengericht, dessen Urteiler vom Stift belehnte Angehörige der Ritterschaft sein sollten, die nicht zugleich Amtleute oder Bedienstete des Bischofs waren.41 Nach Fries wurden an solch gericht […] gefordert und beclagt, die von der riterschafft, in lehen und anderen sachen.42 Eine Appellation gegen die Urteile des Hofgerichts war ebenso wie jene gegen Urteile des Kanzlei 36 Ebd., fol. 276v f. 37 BayHS tA, RKG  S604 (Stadtgericht Iphofen, 1534), T409 (Dorfgericht Bundorf, (vor) 1572), W859 (Stadtgericht Heidingsfeld, (vor) 1571). 38 Unter den 20 Verfahren aus den ersten sechs Inventarbänden, in denen sich aus dem Vorinstanzenindex die „Kanzlei“, das „Hof- und Kanzleigericht“ oder das „Hofgericht“ als Vorinstanzen ergeben, befinden sich mit BayHStA, RKG 436, 878, 1193, 1265, 1287, 1393, 1792, 1811, 1966, 2082, 2129, immerhin elf, in denen das eigentliche Kanzleigericht als Appellationsgericht gemeint sein dürfte. Lediglich in einem dieser Verfahren, BayHStA, RKG 1811, war nicht das Landgericht, sondern das Stadtgericht Karlstadt die Vorinstanz. 39 Die Landgerichtsordnungen von 1506, StAW, Ldf. 19, S. 197, und 1618 (wie Anm. 19), 2. Teil, Tit. 2 § 2, Tit. 33, sehen ausdrücklich eine solche Appellationsmöglichkeit vor. 40 Ein entsprechendes Verfahren am RKG ließ sich bisher allerdings noch nicht auffinden. Dies könnte daran liegen, dass bei denjenigen Verfahrensarten, etwa Erbstreitigkeiten, die typischerweise dem Streitwert nach überhaupt an das RKG gelangen konnten, regelmäßig sachlich schon das Landgericht in erster Instanz zuständig war. 41 StAW, Stb. 1011, fol. 277r. 42 Ebd.

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gerichts an das Reichskammergericht zu richten. Dieses Hofgericht wurde zeitgenössisch häufig auch als Hof- und Lehengericht oder – angesichts Besetzung und Sachzuständigkeit treffender – ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts meist als Ritterlehengericht bezeichnet. Es waren also aus Sicht der Zeitgenossen keineswegs Hof- und Kanzleigericht identisch, wie es etwa das Vorinstanzenverzeichnis der Inventarbände des Bayerischen Hauptstaatsarchivs zum Reichskammergericht nahelegt.43 Vielmehr war mit dem Hofgericht jedenfalls in der Mitte des 16. Jahrhunderts regelmäßig das Lehen- oder Ritterlehengericht gemeint. Dafür dürfte schon als Beleg ausreichen, dass Lorenz Fries als einer der bedeutendsten Diener des Bischofs kaum über die Bezeichnung der Würzburger Gerichte im Unklaren gewesen sein kann. Ein weiteres Indiz ist die Würzburger Kanzleiordnung von 1574, nach welcher der (Kanzlei-)Gerichtsschreiber auch deß hoff- und lehengerichts mit vleiß außwharten, die […] vier ritterlehen- und vier burgerlehengericht […] ansetzen und die ritterlehensgerichts assessores der obbestimpten furgenommenen lehengericht […] mit vorwissen eines hofrichters beschreiben und erfordern sollte.44 Um die Jahrhundertwende zum 17. Jahrhundert wurde dann die Bezeichnung Hoff- und Cantzley Gericht 45 auch in Würzburg geläufig. Damit war nun jedoch das ursprüngliche Kanzleigericht beschrieben. Das ritterliche Lehengericht wurde parallel dazu als Hof- und Lehen- oder Hof- und Ritterlehengericht bezeichnet, bevor beide Gerichte – vermutlich im Laufe des frühen 17. Jahrhunderts – vereinigt wurden. Neben den genannten Gerichten existierte außerdem das sogenannte Gericht des Gnadenvertrags, das über Verfahren entschied, in denen sich der Stiftsadel einerseits und der Bischof oder die Domherren andererseits gegenüberstanden. Es wurde ebenfalls, wie das Kanzleigericht, von den bischöflichen Räten gehalten, war 43 Frau Prof. Dr. Baumann sei für einen Hinweis aus dem Inneren des Bearbeiterkreises der Münchener Bände gedankt. Demnach habe man bei der Beschreibung der Vorinstanzen schlicht die Terminologie der Akten übernommen und keine überordnende Verschlagwortung vorgenommen. Damit ist aber noch nicht erklärt, ob die verwendeten Bezeichnungen der Würzburger Terminologie oder jener am Reichskammergericht entsprachen. Im Übrigen wurde bei den Inventarbänden jedenfalls auf Ebene der Indices eine Zusammenfassung durchgeführt: unter der Inventarnummer 3883 etwa findet sich das Würzburger Hofgericht als Vorinstanz eines reichskammergerichtlichen Verfahrens, während das Vorinstanzenverzeichnis auch hier „Hof- und Kanzleigericht“ verschlagwortet. Das Ritterlehengericht wird hingegen selbstständig aufgeführt. In den im Würzburger Staatsarchiv befindlichen Archivalien aus dem 16. Jahrhundert dominieren jedenfalls eher Formulierungen, wonach rechtliche Auseinandersetzungen vor die Kanzlei oder die fürstlichen Räte gebracht wurden. 44 Kanzleiordnung 1574, StAW, Ldf. 32, S. 72. Edition bei Hans Eugen Specker, Die Kanzleiordnung Fürstbischof Julius Echters von 1574. Ein Beitrag zur Verwaltungsgeschichte des Hochstifts Würzburg, in: Würzburger Diözesangeschichtsblätter 35/36 (1974), S. 275 – 317 (hier S. 304). 45 So die LGO 1618 (wie Anm. 19), 2. Teil, Tit. 38 § 1.

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aber je nach Stand der Parteien unter Einbeziehung oder Nichteinbeziehung der geistlichen Räte und nach einem wiederum nach Kläger- und Beklagtenkonstellation festgelegten Schema zu besetzen.46 Möglicherweise meinte die Ritterschaft dieses Gericht, als sie darlegte, dass das newe gericht […] vor der Canzley […] in forma des hoffgerichts vnd dem selben nit gleich gehalten werde. Vielleicht wurde also auch dieses, im Unterschied zum eigentlichen Kanzleigericht aber ausschließlich erstinstanzlich tätige, Gericht vorübergehend als Hofgericht bezeichnet. Auch über die genannten Gerichte hinaus war das Hochstift Würzburg zu Beginn der Frühen Neuzeit durch eine Vielzahl an Gerichten geprägt. Schon Lorenz Fries zählte allein in der Stadt Würzburg 27 Gerichte, von denen zwölf auf die weltliche Gerichtsbarkeit entfielen. Da in Verfahren, die der geistlichen Gerichtsbarkeit zugewiesen waren, das Kanzleigericht nicht als Spruchkörper in Frage kam, können die 15 geistlichen Gerichte in dieser Darstellung unberücksichtigt bleiben.47 Neben den genannten weltlichen Gerichten existierte etwa ein spezielles Lehengericht für Bürger- oder Bauernlehen, das mit belehnten Würzburger Bürgern besetzt war und von dem eine Appellation nicht an die Kanzlei, sondern unmittelbar an das Reichskammergericht führen sollte.48 Darüber hinaus bestanden das Geschworenengericht für Streitigkeiten Würzburger Bürger über die Errichtung von Gebäuden bestehend aus Zimmerern, Steinmetzen und Maurern, das Montags- oder Feldgeschworenengericht für Verfahren hinsichtlich der Ausdehnung von kleinen landwirtschaftlichen Nutzflächen und Schäden an denselben bestehend aus fünf Würzburger Häckern 49 und außerdem der Würzburger Oberrat bestehend aus Würzburger Dom- und Stiftsherren sowie Bürgern der bischöflichen Residenzstadt,

46 StAW, Stb. 1011, fol. 277v. 47 Dass die Trennlinie zwischen weltlicher und geistlicher Gerichtsbarkeit indes nicht immer so klar zu ziehen ist, wie es zunächst erscheinen mag, hat zuletzt Peter Oestmann, Geistliche und weltliche Gerichte im Alten Reich. Zuständigkeitsstreitigkeiten und Instanzenzüge. Köln/Weimar/Wien 2012 (QFHG, Bd. 61), S. 716, eindrücklich dargestellt. Im Übrigen konnte je nach Ausgestaltung der Klage die vom Beklagten abhängige Gerichtszuständigkeit recht verschieden ausfallen. Ein Beispiel liefert etwa ein Verfahren am Reichskammergericht, in dem der Bischof hinsichtlich desselben Streitgegenstandes die mögliche Zuständigkeit von gleich drei Gerichten, namentlich Lehen-, Land- oder geistlichem Gericht, geltend machte, BayHStA, RKG 4025. 48 StAW, Stb. 1011, fol. 277v. 49 Als Häcker bezeichnete (und bezeichnet) man in Würzburg vor allem Weinbauern mit kleineren Anbaugebieten, die in der Frühen Neuzeit auch häufig innerhalb der Stadtmauern lagen und gelegentlich nur wenige Quadratmeter umfassten, vgl. Marcus Sporn, Wirtschaftsgeschichte Würzburgs 1525 – 1650, in: Ulrich Wagner (Hrsg.), Geschichte der Stadt Würzburg, Bd. 2: Vom Bauernkrieg bis zum Übergang an das Königreich Bayern 1814. Stuttgart 2004, S. 403 – 421 (hier S. 413 f. und Anm. 87).

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der vor allem mit markt- und gewerbepoliceylichen Angelegenheiten befasst war und in diesem Rahmen auch in Parteistreitigkeiten entschied.50 Eine besondere Bedeutung hatte auch das Stadt- oder Saalgericht, das bereits 1478 eine umfangreichere Ordnung erhalten hatte.51 Wenige Jahre später sollte es für Schuldsachen der Bürger eine ausschließliche Zuständigkeit haben. Diese sollten daher weder an den Oberrat noch an das Brückengericht gewiesen werden.52 Auch in der Mitte des 16. Jahrhunderts war es in burgerlichen sachen umb schuld und schmahe, uber alle burgere der stat und vorstete zu Wirtzburg zuständig.53 Bemerkenswerterweise sollte eine Appellation vom Stadtgericht an das Kanzleigericht, anders als von anderen Dorf- und Stadtgerichten im Hochstift, nicht möglich sein, sondern nach einem von Kaiser Karl V. erlangten Privileg in Verfahren mit einem Streitwert über 400 fl. eine Appellation unmittelbar an die Reichsgerichte erfolgen.54 Das bestätigt auch die Darstellung des Lorenz Fries, der aber auf die Tradition hinwies, das die schopfen daran in treffenlichen zweifenlichen sachen vor gebung der urtail in der furstlichen Cantzlei bei den Räthen unterricht und weisung such[en], biten und nehmen sollten.55 Ob eine solche Tradition tatsächlich bestand oder ob sie vielmehr den bischöflichen Idealvorstellungen entsprach, kann hier nicht entschieden werden. Jedenfalls zwischen 1525 und 1540 ist eine starke Einbindung der bischöflichen Räte aber alles andere als unwahrscheinlich, da die Stadt nach ihrer Niederlage im sogenannten Bauernkrieg und ihrer darauf folgenden Unterwerfung unter den Bischof zahlreiche Rechte aufgeben musste, die erst nach dem Tod Konrads von Thüngen allmählich wiedererlangt werden konnten.56 Das Gericht tagte unter Vorsitz des bischöflichen Oberschultheißen und hatte neun Würzburger Bürger als Urteiler, von denen jedenfalls ein Teil auch Räte des Stadt-

50 StAW, Stb 1011, fol. 278r f. 51 Stadtgerichtsordnung 1478, StAW, Ldf. 13, S. 733 – 736, gedruckt bei Hermann Knapp, Die Zenten des Hochstifts Würzburg. Ein Beitrag zur Geschichte des süddeutschen Gerichtswesens und Strafrechts, Bd. 1: Die Weistümer und Ordnungen der Würzburger Zenten. Berlin 1907, S. 1274 – 1280. 52 Knapp, Die Zenten des Hochstifts (wie Anm. 51), Bd. 2: Das Alt-­Würzburger Gerichtswesen und Strafrecht, S. 112. 53 StAW, Stb. 1011, fol. 276v. 54 StAW, WU 41/37a, vgl. Ulrich Eisenhardt, Die kaiserlichen privilegia de non appellando. Köln/Wien 1980 (QFHG, Bd. 7), S. 124. 55 StAW, Stb. 1011, fol. 276v. 56 Ulrich Wagner, Die Stadt Würzburg im Bauernkrieg, in: ders. (Hrsg.), Geschichte der Stadt Würzburg (wie Anm. 49), S. 40 – 46 (hier S. 46); ders., Die Stadt Würzburg im Bauernkrieg, in: Franz Fuchs/Ulrich Wagner (Hrsg.), Bauernkrieg in Franken. Würzburg 2016 (Publikationen aus dem Kolleg „Mittelalter und Frühe Neuzeit“, Bd. 2), S. 113 – 140 (hier S. 131 – 133).

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rats, des sogenannten unteren Rates, waren.57 Undurchsichtiger wird die Tätigkeit des Gerichts für den modernen Betrachter noch dadurch, dass es zwar in derselben Konfiguration, aber an anderem Ort nahe dem Main auch als sogenanntes Brückengericht oder oberste Zent tagte. Insofern war es eben als sogenannte oberste Zent Appellationsgericht für Verfahren, die an den verschiedenen Zenten des Hochstifts in zentbarlichen sachen[,] die burgerlich furgenomen wurden, stattfanden.58 Auch in Verfahren, die Rechtsverweigerung oder -verzögerung durch die Zenten zum Gegenstand hatten, sollte das Brückengericht tätig werden.59 Das sollte nach der Fries’schen Darstellung für alle Zenten des Bistums gelten. Wahrscheinlich ließ sich dieser Anspruch allerdings nur in den Grenzen des Hochstifts realisieren. Unterstellt, dass die beschriebenen Zuständigkeiten von den Zeitgenossen auch eingehalten wurden, ergab sich also je nachdem, ob das zuerst angerufene Gericht ein Stadt- oder Dorfgericht einerseits oder ein Zentgericht andererseits war, idealiter ein völlig verschiedener Instanzenzug, der entweder – möglicherweise noch über das Landgericht – an die Kanzlei oder an das Brückengericht als oberste Zent führte. Dieser Befund ist besonders bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass sich insbesondere die Zuständigkeiten von Zent- und Dorfgerichten im Hochstiftsgebiet außerordentlich vielfältig gestalteten, so dass für gleichartige Streitigkeiten an einem Ort das Zentgericht und andernorts ein Dorfgericht mit der Sache zu befassen war. Offenbar bestand hier tatsächlich ein Konkurrenzverhältnis zwischen dem Stadt- und Brückengericht einerseits und der fürstlichen Kanzlei andererseits. Denn es lassen sich auch Appellationen von Stadtgerichten im Hochstift an das Stadt- und Brückengericht in Würzburg nachweisen, die – gegebenenfalls nach einer Appellation an das Landgericht – „eigentlich“ an das Kanzleigericht gehörten.60 Auch umgekehrt dürfte eine solche Konkurrenzsituation für Appellationen, die von den Zenten an das Stadt- und Brückengericht gelangten, gegolten haben.61 Vereinzelt sind auch Fälle

57 StAW, Stb. 1011, fol. 276v. Knapp, Die Zenten des Hochstifts (wie Anm. 51), Bd. 2, S. 113, 116. 58 StAW, Stb. 1011, fol. 276r. 59 So schon die Brückengerichtsordnung 1478, StAW , Ldf. 13, S. 736 – 740 (hier S. 740), gedruckt bei Knapp, Die Zenten des Hochstifts (wie Anm. 51), Bd. 1, S. 1267 – 1274 (hier S. 1273), und für die Mitte des 16. Jahrhunderts StAW, Stb. 1011, fol. 276r. 60 BayHStA, RKG 72 (Dorfgericht Albertshausen), 1713 (Stadtgericht Jagstberg). 61 Einige Zentordnungen wiesen sogar der Kanzlei oder den „fürstlichen Räten“ ausdrücklich die Zuständigkeit in Appellationsverfahren zu, Knapp, Die Zenten des Hochstifts (wie Anm. 51), Bd. 1,1, S. 491 (Hartheim), S. 703 (Kitzingen); Bd. 1,2, S. 1109 f. (Seßlach), S. 1220 (Wettringen). Allerdings wies der Bischof in zahlreichen Streitigkeiten um die Zuständigkeit der verschiedenen Zenten auf die Zuständigkeit des Stadt- und Brückengerichts hin.

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nachweisbar, in denen das Landgericht über Würzburger Bürger Verfahren führte, die eigentlich vor das Stadtgericht gehörten. Erst die Appellation an das Kanzleigericht führte schließlich zur Verweisung an das eigentlich zuständige Stadtgericht.62 Das Brückengericht richtete schließlich auch im Rahmen der Blutgerichtsbarkeit. An Stelle eines Zentgrafen saß in der Residenzstadt allerdings der bischöfliche Oberschultheiß dem Gremium der Urteiler vor. Außerdem kamen in Sachen der peinlichen Gerichtsbarkeit zu den neun Würzburger Schöffen, wohl dem Gerichtssprengel oder dem Zentbezirk entsprechend, noch fünf Urteiler aus den naheliegenden Orten Zell, Waldbüttelbrunn und Höchberg hinzu.63 Ob eine Appellation in den sogenannten malefitzsachen vorgesehen war, ist zweifelhaft. Sie ließe sich unter Zugrundelegung der reichskammergerichtlichen Überlieferung ohnehin nicht nachweisen, weil das Gericht in Strafsachen grundsätzlich nicht zuständig war. Jedenfalls im Wege der Supplik konnten sich die Untertanen an den Bischof wenden, um gegen ein an den Zenten oder am Brückengericht ergangenes Strafurteil vorzugehen.64 Dieser befasste dann freilich wiederum die Räte mit der Angelegenheit. Aber auch im erstinstanzlichen Verfahren unternahm man kanzleiseitig den Versuch, die Verfahren stärker zu steuern, indem der seit Beginn der fünfziger Jahre des 16. Jahrhunderts nachweisbare Malefizschreiber – jedenfalls bei den peinlichen Befragungen in der Stadt Würzburg und in einigen Fällen auch in anderen Zentbezirken – teilnehmen und das Geschehen protokollieren sollte. Darüber hinaus war von ihm ein Verzeichnis über die Zentgebräuche ebenso zu erstellen wie eine Auflistung der zenthirrungen.65 Die Intensivierung der Kanzleitätigkeit im Rahmen von peinlichen Verfahren trat wohl nicht zufällig in einer Zeit auf, in der das Brückengericht seine Tätigkeit, die sich bis 1551 nachweisen lässt,

So etwa in BayHStA, RKG 656, 660, 665, 760, 1216, 1225, 1227, 1691, 1907, 1920 und 1937. 62 Das Verfahren, BayHStA, RKG 1287, ist allerdings insofern speziell gelagert, als hier der Landgerichtsschreiber selbst Kläger war und daher die landgerichtliche Annahme des Verfahrens auch durch sachfremde Erwägungen begünstigt worden sein könnte. 63 StAW, Stb. 1011, fol. 276v; vgl. auch Knapp, Die Zenten des Hochstifts (wie Anm. 51), Bd. 1, S. 1263; Sven Schultheiss, Gerichtsverfassung und Verfahren. Das Zentgericht Burghaslach in Franken (14.–19. Jahrhundert). Köln/Weimar/Wien 2007 (Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas, Fallstudien, Bd. 7), S. 412, Anm. 2065; Dietmar Willoweit, Gericht und Obrigkeit im Hochstift Würzburg, in: Peter Kolb/Ernst-­ Günter Krenig (Hrsg.), Unterfränkische Geschichte, Bd. 3: Vom Beginn des konfessionellen Zeitalters bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges. Würzburg 1995, S. 219 – 249 (hier S. 224). 64 Willoweit, Gericht und Obrigkeit (wie Anm. 63), S. 227, der offenbar von einer Appellationsmöglichkeit an die Kanzlei ausgeht. 65 Kanzleiordnung 1574, Ldf. 32, S. 68 f., Edition bei Specker, Die Kanzleiordnung Fürstbischof Julius Echters (wie Anm. 44), S. 301.

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einstellte, bevor es nach mehrmaligen Bitten von Bürgerschaft und Domkapitel 1583 mit dem Stadtgericht vereinigt erscheint.66

4. Fazit Die zum Ende des Spätmittelalters begründete Gerichtstätigkeit der fürstlichen Kanzlei zu Würzburg führte zum epochemachenden Übergang von einer am Herkommen orientierten Rechtsprechung zur stärkeren Orientierung an geschriebenem Recht. Auch wenn das überlieferte Landrecht zunächst im Rahmen der bekannten Gerichte bestehen blieb, mussten die dortigen Urteiler diese Entwicklung als Eingriff in ihre wohlerworbenen Rechte verstehen. Mit der allmählichen Entstehung eines Instanzenzuges vom Landgericht zum fürstlichen Kanzleigericht und somit von adeligen Stiftsangehörigen zu bestallten Räten war zwangsläufig auch eine Zentralisierung von Herrschafts- und Gerichtsmacht verbunden. Gleichzeitig etablierten sich zum Teil konkurrierende Instanzenzüge, so dass die besondere Stellung des Würzburger Stadtgerichts, für das in der Mitte des 16. Jahrhunderts sogar ein eigenes kaiserliches Appellationsprivileg erlangt worden war, nicht beseitigt oder in Richtung der fürstlichen Kanzlei zentralisiert wurde. Die dargestellten Zuständigkeiten und Konkurrenzverhältnisse wurden in den bisherigen Forschungen zur Gerichtsverfassung des Hochstifts nur auf Basis der bestehenden normativen Quellen wie Stadt-, Dorf-, Landgerichts- und Kanzleiordnungen sowie der Darstellungen des Lorenz Fries erörtert. Ein Grund dafür dürfte darin liegen, dass Gerichtsbücher und -akten nicht in nennenswertem Umfang überliefert sind. Zur Kompensation dieses Mangels bietet sich der bisher noch nicht vorgenommene Zugriff über die Überlieferung des Reichskammergerichts an, um einen Einblick in die Verfahrensverläufe des 16. Jahrhunderts zu erhalten und die bisherigen Erkenntnisse zu überprüfen, zu korrigieren und zu erweitern. Eine erste, stichprobenartige Untersuchung der Bestände hat zahlreiche tatsächliche Konkurrenzverhältnisse zwischen den Gerichten zum Vorschein gebracht. Eine umfassendere Untersuchung lässt darüber hinaus weitere Erkenntnisse über realisierte und nicht realisierte Zuständigkeitszuschreibungen seitens der Akteure erwarten. Auch die Ergebnisse eines quantitativen Vorgehens sind geeignet, die frühneuzeitliche Gerichtsvielfalt zu erhellen,67 wenn ihre sachnotwendige Begrenztheit berücksichtigt wird. Wie gesehen, sind die Bezeichnungen der Vorinstanzen 66 Knapp, Die Zenten des Hochstifts (wie Anm. 51), Bd. 2, S. 110 – 113, 115; Willoweit, Gericht und Obrigkeit (wie Anm. 63), S. 225. 67 Dazu in diesem Band Alexander Denzler.

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nicht immer an zeitgenössischen Kategorien orientiert. Wo dies der Fall ist, können gleichwohl Mehrfachbezeichnungen die Erkenntnisse trüben. Bei der Ermittlung von Fallzahlen ist eine – jedenfalls summarische – inhaltliche Prüfung der Akten daher unerlässlich. Im Übrigen eignet sich der Zugriff über die Akten des Reichskammergerichts nicht für alle Verfahrensarten in gleicher Weise. Zum einen können bestimmte sachliche Zuständigkeiten nur über Umwege rekonstruiert werden. So war etwa im Rahmen der Halsgerichtsbarkeit eine Appellation an das Reichskammergericht nicht vorgesehen, wenngleich gerade im fränkischen Territorium non clausum mit seiner Vielzahl von konkurrierenden Herrschafts- und Gerichtsrechten über Zuständigkeitsstreitigkeiten zwischen benachbarten Herrschaftsträgern in Bezug auf die Zenten auch Erkenntnisse zur Halsgerichtsbarkeit gewonnen werden können. Zum anderen war der Zugang zu den Reichsgerichten häufig durch Appellationsprivilegien versperrt, so dass niederschwellige Verfahren mit Streitwerten unterhalb der einschlägigen Appellationssummen grundsätzlich keine Berücksichtigung finden.

Michaela Grund

und bringe das für ein rüg  Das Wertheimer Zentgericht in der Zeit um 16001

1. Einführung Die Zentgerichte stellten eine Besonderheit in den Territorien am Mittelrhein, in Hessen und in Ostfranken 2 dar und leiteten ihren Namen vom mittellateinischen centena 3 ab. Ob die im frühen Mittelalter als Zenten bezeichneten Verwaltungseinheiten mit den spätmittelalterlichen Institutionen des gleichen Namens zusammenhingen, ist offenbar nicht mehr rekonstruierbar.4 In ihrer regelmäßigen Funktion sind Zentgerichte im Allgemeinen nicht vor dem 12. Jahrhundert bezeugt, aber sie bestanden teils bis in das 18. und 19. Jahrhundert. Daher darf bei der Behandlung von Gerichtslandschaften im Alten Reich die Betrachtung der Zentgerichte nicht fehlen. Vornehmliche Aufgabe der Zent war die des Gerichts, das in der Regel unter dem Vorsitz des Zentgrafen gemeinsam mit einem Schöffenkollegium als Urteilern und der Gesamtheit der Zentverwandten 5 als Gerichtsumstand 1 Die Quellenüberlieferung bezüglich des Wertheimer Zentgerichtes ist für die Zeit um 1600 überaus günstig. Für den Zeitraum von 1589 bis 1611 liegen die Gerichtsakten in einer geschlossenen Serie vor. Die entsprechende Überlieferung vor dem genannten Zeitpunkt ist eine wesentlich schlechtere und geprägt von Punktualität und Lückenhaftigkeit. Eine weniger problematische, aber doch vergleichbare Überlieferungssituation muss momentan auch für die Jahrzehnte nach 1611 konstatiert werden. 2 Vgl. Gerhard Theuerkauf, Art. Zent, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (künftig: HRG), Bd. 5. 1. Aufl. Berlin 1990, Sp. 1663 f. (hier Sp. 1664). 3 Vgl. Gunter Gudian, Art. Centena, in: HRG, Bd. 1. 1. Aufl. Berlin 1971, Sp. 603 – 606 (hier Sp. 603). Ein Teil der Literatur schließt von diesem Begriff auf die Einteilung der germanischen Stämme in Hundertschaften, vgl. beispielsweise Theuerkauf, Art. Zent (wie Anm. 2), Sp. 1663, obwohl diese möglicherweise nie existiert haben. Vgl. Karl Kroeschell, Art. Hunderschaft, in: HRG, Bd. 2. 1. Aufl. Berlin 1978, Sp. 271 – 275 (hier Sp. 271). 4 Vgl. Christiane Birr, Konflikt und Strafgericht. Der Ausbau der Zentgerichtsbarkeit der Würzburger Fürstbischöfe zu Beginn der frühen Neuzeit. Köln/Weimar/Wien 2002 (Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas. Fallstudien, Bd. 5), S. 254. 5 Die in einem Zentgerichtsbezirk ansässigen Untertanen hatten dem Zentherrn die Zentpflicht zu leisten; dies traf auch auf alle ledigen männlichen Einwohner zu, sobald diese ihr 17. Lebensjahr erreicht hatten. Vgl. dazu Johann Jodocus Beck, Praxis Aurea de Jurisdictione Superiore, Criminali & Centena, vulgo Von der Ober-­Gerichtsbarkeit/ Zent-­Gericht/ Hohen Malefiz- oder Fraißlichen Obrigkeit und Blut-­Bann. Nürnberg 1720, S. 49 f.

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zusammentrat.6 Im Laufe der Zeit beschränkte sich die Zuständigkeit eines Zentgerichtes zum Großteil ausschließlich auf die ländliche Bevölkerung.7 Dies war auch in Bezug auf das Wertheimer Zentgericht der Fall. Aufgrund oft problematischer Überlieferungssituationen ist die Erforschung der Zentgerichtsbarkeit bislang aber nur unzureichend erfolgt. Pionierforschungen zu diesem Themenbereich leistete Hermann Knapp, der sich mit den Zenten des Hochstiftes Würzburg beschäftigte.8 Seine Arbeit ist mittlerweile jedoch mehr als hundert Jahre alt und damit zwar einerseits in einem mittlerweile längst veralteten Forschungsdiskurs zu verorten, aber andererseits durchaus für neuere Fragestellungen nutzbar. In Bezug auf das Wertheimer Zentgericht ist eine Fülle von Quellen überliefert, anhand derer die Bedeutung und die praktische Funktion der Gerichtsbarkeit im ländlichen Raum erschlossen werden kann, da die Gerichtsakten einen guten Einblick in vergangene Lebenswelten der Dorfbewohner sowie in das Handeln unterschiedlicher Akteure bieten. Unter Berücksichtigung der sozial- und kulturhistorischen Relevanz der rechtlichen Vorgänge werden im Folgenden Verfahrensfragen sowie Aspekte der Normgeltung und -anwendung in der Zeit um 1600 in den Blick genommen – gleichzeitig erfolgt zudem die lebensweltliche Verortung gerichtlicher Praxis im ländlichen Raum. Die Wertheimer Zent 9 umfasste insgesamt 18 Dörfer beziehungsweise Höfe und Mühlen, von denen die meisten eine bestimmte Anzahl von Schöffen für das Zentgericht zur Verfügung zu stellen hatten. Auch die Stadt Wertheim stellte dem 6 Vgl. Meinrad Schaab, Die Zent in Franken von der Karolingerzeit bis ins 19. Jahrhundert. Kontinuität und Wandel einer aus dem Frühmittelalter stammenden Organisationsform, in: Werner Paravicini/Karl Ferdinand Werner (Hrsg.), Histoire Comparée de l’administration (IVe–XVIIIe siècles). Actes du XIVe colloque historique franco-­allemand, Tours, 27 mars – 1er avril 1977, organise en collaboration avec le Centre d’Etudes Supérieures de la Renaissance par l’Institut Historique Allemand de Paris. München 1980 (Beihefte der Francia, Bd. 9), S. 345 – 362 (hier S. 360). 7 Vgl. Karl Weller, Die Zentgerichtsverfassung im Gebiet des heutigen württembergischen Franken. Würzburg 1952, S. 22. 8 Hermann Knapp, Die Zenten des Hochstifts Würzburg. Ein Beitrag zur Geschichte des süddeutschen Gerichtswesens und Strafrechts. Berlin 1907. 9 Neben Stadt und Amt Wertheim war die Grafschaft Wertheim in die Zenten Michelrieth und Remlingen sowie die Ämter Freudenberg, Laudenbach und Schweinberg eingeteilt. Der territoriale Umfang der einzelnen Zentgerichtsbezirke war nicht identisch mit den jeweiligen Verwaltungsbezirken. So gehörten beispielsweise einzelne dem Zentgericht Michelrieth zugeordnete Ortschaften zum Amt Wertheim. Letzteres war demnach auch nicht kongruent mit dem gleichnamigen Zentgericht. Vgl. Hermann Ehmer, Geschichte der Grafschaft Wertheim. Wertheim 1989, S. 113; Erich Langguth, Aus Wertheims Geschichte. Wertheim 2004, S. 17 – 20.

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Zentgericht zwei Schöffen zur Verfügung, die Stadtbürger sollten laut einer Bestimmung aus dem Jahr 1316 aber sonsten der Zendt halben befreyet [sein] undt […] Nichts darmit zur schaffen [haben].10 Das älteste in Wertheim erhaltene Zentbuch aus dem Jahr 1534 macht diesbezüglich ähnliche, aber auch konkretere Angaben: Ite[m] so ein burger In Wertheimer Zent […] etwas mit schlagen oder sunst mutwilliger weiß handelt so sie nit uff der tadt gefencklich angenummen worden sein sie an der Zent nit zw antworte schuldig. Ite[m] der gleichen thun die wirtzburger auch mit ir stat lewten und die meintzischen der gleiche[n].11

Auch der Blick in die Zentgerichtsprotokolle zeigt, dass in dem Fall, dass ein Wertheimer Bürger in eine Auseinandersetzung mit einem der Zent Wertheim angehörenden Dorfbewohner involviert war, beide Kontrahenten durchaus vom Zentgericht belangt werden konnten. Dies geschah beispielsweise im November des Jahres 1600, als die beiden Lohgerber Lorenz Stark aus Dertingen und Hans Sauer aus Wertheim im Wirtshaus in Dertingen erst mit Worten und schließlich mit Taten aneinandergeraten waren.12 Die beiden Dertinger Männer Hans Huber und Clas Ruel machten der Prügelei der beiden Gegenspieler jedoch ein Ende: da haben sie sie von einander gewisen und den von wertheim mit gelübden an genomen.13 Mit „gelübde“ dürfte hier – gemäß einer heute nicht mehr üblichen Wortbedeutung – ein gegenseitiges oder allseitiges gutheizsen eines vorschlags 14 ausgedrückt sein. Die beiden Männer konnten im Einvernehmen mit dem Wertheimer Lohgerber also festlegen, dass die Angelegenheit vor dem Wertheimer Zentgericht verhandelt wurde und dieses somit auch für den Wertheimer Bürger die Zuständigkeit innehatte.

2. Die Wertheimer Zentgerichtsrechte Lange Zeit wurden von den Würzburger Fürstbischöfen aufgrund von Lehens- und Landrechtsansprüchen Teilrechte an der Zent Wertheim beansprucht und auch wahrgenommen,15 die sich unter anderem darin manifestierten, dass Würzburg in 10 Staatsarchiv Wertheim (künftig: StAW t) G-Rep. 102, Nr. 5550 (Verzeichnus deren dorff weiler und hoff so zur die Wertheymer Zendt gehorige sindt). 11 StAWt G-Rep. 103, Nr. 10, S. 11v. 12 Vgl. dazu StAWt G-Rep. 102, Nr. 533 (Rügzettel aus Dertingen Lorenz Stark vs. Hans Sauer). 13 StAWt G-Rep. 102, Nr. 533 (Lorenz Stark vs. Hans Sauer). 14 Vgl. Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 5 „gelübde“, Sp. 3101. Erstausgabe 1897. 15 Dies wird im Weistum der Wertheimer Zentschöffen aus dem Jahr 1384 (G-Rep.  7 Lade XXX IIa, Nr. 8) bestätigt.

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der Person des Grafen von Homburg mit einem sogenannten „schweigenden“ oder „horchenden“ Zentgrafen 16 am Wertheimer Zentgericht vertreten war. Seine Funktion war eine beisitzende, keine mitentscheidende. Den Vorsitz am Gericht führte offenkundig der Wertheimer Zentgraf.17 Dass der Würzburger Vertreter nur eine untergeordnete Rolle innehatte, wird auch durch die Tatsache untermauert, dass Graf Johann II. im Jahr 1417 von König Sigismund eine Urkunde erhalten hatte, in der den Wertheimer Grafen unter anderem die Rechte über das Hals- und Zentgericht zugesprochen wurden.18 Offenbar gelang es im Verlauf des 15. Jahrhunderts, aufgrund weiterer königlicher Hoch-, Blut- und Halsgerichtsprivilegien 19 die Einflussmöglichkeiten Würzburgs auf das Grafschaftsgebiet zunehmend zu schmälern. In dem aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts stammenden Wertheimer Zentbuch 20 findet der oben genannte schweigende Zentgraf keine Erwähnung mehr.21

3. Elemente der Gerichtsverfassung 3.1. Der Zuständigkeitsbereich der Wertheimer Zent Häufig wurde in der (rechtsgeschichtlichen) Forschung konstatiert, dass die Zentgerichte zu Beginn der Neuzeit hinsichtlich des Strafrechts für die Blutgerichtsbarkeit und damit für todeswürdige Kapitalverbrechen zuständig gewesen seien. 16 Gelegentlich ließ der Zentherr seine Interessen am Zentgericht durch einen „schweigenden“ oder „horchenden“ Zentgrafen vertreten, der dem Zentgrafen beigeordnet war. Vgl. Theuerkauf, Art. Zentgericht, in: HRG , Bd. 5. 1. Aufl. Berlin 1998, Sp. 1664 f. (hier Sp. 1665). 17 Vgl. Jacob Grimm (Hrsg.), Weisthümer (Sechster Teil). 2. Aufl. ND  Darmstadt 1957, S. 20 f. 18 Vgl. StAWt G-Rep. 8 Lade I–II, Nr. 21. 19 In einer Urkunde Kaiser Sigismunds aus dem Jahr 1434 wird den Grafen Hans und Michael das Recht erteilt, dass sie one ander merer erzeugniß und on besibenem eyd wol richten und […] straffen sollen, sobald sie selbst oder ihre Amtspersonen in Iren Gerichten ubeltattig und schedlich leutt uff fryscher tade ergriffen haben, oder wenn diese vor zweyen oder mer gesworner Rete und Schepffen bezüglich ihrer Vergehen geständig sind, vgl. StAWt G-Rep. 8 Lade I–II, Nr. 28. 20 StAWt G-Rep. 103, Nr. 10. 21 Zur Herrschaftskonkurrenz zwischen den Grafen von Wertheim und den Fürstbischöfen von Würzburg vgl. Frank Kleinehagenbrock, Würzburg contra Wertheim: Herrschaftsdurchsetzung im Konflikt vom Mittelalter bis in die Frühe Neuzeit, in: Markus Frankl/ Martina Hartmann (Hrsg.), Herbipolis. Studien zu Stadt und Hochstift Würzburg in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Würzburg 2015 (Publikationen aus dem Kolleg „Mittelalter und Frühe Neuzeit“, Bd. 1), S. 155 – 171.

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Demgegenüber verhandelten die Dorf- oder Stadtgerichte die niedergerichtlichen Fälle.22 Zu Recht wurde jedoch in der jüngeren Forschung darauf hingewiesen, dass dieses Bild ein zu einfaches sei. Allein die Tatsache, dass Dorfgerichte vielmehr die Ausnahme als die Regel darstellten, spricht gegen die Annahme, die niedere Gerichtsbarkeit habe prinzipiell in den Händen dörflicher Richter und Schöffen gelegen.23 Vielmehr muss von einer Differenzierung zwischen „Delikten, die der Rügepflicht unterliegen, und denjenigen, die in die Zuständigkeit der Zentgerichte fallen“,24 ausgegangen werden. Demnach beantwortet die Frage nach den am Zentgericht zu rügenden Vergehen nicht gleichzeitig auch die Frage nach dem sachlichen Zuständigkeitsbereich dieser Gerichte. Das bedeutet also, dass der sachliche Zuständigkeitsbereich eines Zentgerichtes über diejenigen Vergehen hinausgehen konnte, die im Allgemeinen der Rügepflicht unterlegen waren.25 Der Versuch, den Kompetenzbereich eines frühneuzeitlichen Gerichts konkret abzustecken, ist oftmals mit Schwierigkeiten verbunden, da sowohl zweifelhafte Grenzfälle als auch Überschneidungen nur selten eine klare Grenzziehung zulassen. Zudem gehörten Streitigkeiten zwischen verschiedenen Gerichtsherren oder zwischen unterschiedlichen Gerichten um die konkrete Umsetzung der Zuständigkeitsbeschreibungen häufig zum gerichtlichen Alltag.26 Diese Probleme nahmen auch Zeitgenossen schon als solche wahr: Daß die Materia der Criminal-­Jurisdiction und Fraißlichen Obrigkeit sehr verwiret und schwehr seye/ wird […] hoffentlich niemand in Zweiffel ziehen/ […] Dann wem ist unbekannt/ daß

22 Vgl. exemplarisch Theuerkauf, Art. Zentgericht (wie Anm. 16), Sp. 1664; Karl Kroeschell, Art. Zent, -gericht, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 9. München 2002, Sp. 536 f. (hier Sp. 536); Friedrich Merzbacher, Art. Hochgerichtsbarkeit, in: HRG, Bd. 2. 1. Aufl. Berlin 1978, Sp. 172 – 175 (hier Sp. 174). 23 Vgl. Birr, Konflikt und Strafgericht (wie Anm. 4), S. 206; Sven Schultheiss, Gerichtsverfassung und Verfahren. Das Zentgericht Burghaßlach in Franken (14.–19. Jahrhundert). Köln/Weimar/Wien 2007 (Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas. Fallstudien, Bd. 7), S. 232 – 236. 24 Birr, Konflikt und Strafgericht (wie Anm. 4), S. 206. 25 Hermann Knapp sieht den Zuständigkeitsbereich der Zentgerichte fälschlicherweise noch auf diejenigen Delikte beschränkt, die zur Rüge gebracht werden mussten. Demnach gehörten nach Knapp alle weiteren von der Rügepflicht nicht betroffenen Vergehen an die Dorfgerichte. Vgl. Hermann Knapp, Die Zenten des Hochstifts Würzburg. Ein Beitrag zur Geschichte des süddeutschen Gerichtswesens und Strafrechts, Bd. II: Das Alt-­Würzburger Gerichtswesen und Strafrecht. Berlin 1907, S. 292. Dieser Ansicht widersprechen aber die Quellenbefunde bisheriger Studien zu einzelnen Zentgerichten. Vgl. Birr, Konflikt und Strafgericht (wie Anm. 4), S. 206 – 257; Schultheiss, Gerichtsverfassung und Verfahren (wie Anm. 23), S. 365. 26 Vgl. Birr, Konflikt und Strafgericht (wie Anm. 4), S. 208.

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nicht täglichen die gröste Controversien ueber die Competenz, Concurrenz, oder Prævention der Zentbarlichen Jurisdiction enstehen?27

Verschiedenen Gerichtsakten aus dem 15. und 16. Jahrhundert ist zu entnehmen, dass das Wertheimer Zentgericht für Fälle von Diebstahl, Mord, Brandstiftung, Notzucht, fließende Wunden sowie für Grenzverletzungen und Maßverstöße zuständig gewesen ist.28 Tatsächlich verhandelte das Zentgericht allerdings mehr als die in den schriftlichen Rechtsquellen angegebenen Delikte und in den einzelnen Gerichtsverhandlungen bildeten im Besonderen Schmäh- und Schimpfworte, die sogenannten Verbalinjurien, den Verhandlungsgegenstand. Diese Deliktgruppe hätte auch von den Dorfgerichten verhandelt werden können,29 die in der Grafschaft aufgrund fehlender Untersuchungen sowie mangels Quellenmaterials aber nur schwer fassbar und lediglich für einzelne Grafschaftsdörfer nachweisbar sind.30 Dementsprechend ergeben sich bezüglich der Schmäh- und Schimpfworte für Wertheim folgende zwei Möglichkeiten: Obwohl für die Verbalinjurien keine allgemeine Rügepflicht an der Zent Wertheim bestand, hat das Zentgericht deren Zuständigkeit für sich beansprucht. Folglich war die Verhandlung solcher Delikte am Zentgericht von der Obrigkeit intendiert.31 Dagegen spricht allerdings die Tatsache, dass es eben auch die Lösung gab, Beleidigungsklagen von einem Dorfgericht verhandeln zu lassen. Die Dorfbevölkerung ging im Falle der Ehrenhändel unter Umständen ganz bewusst den Weg an das Zentgericht. Schließlich urteilte das Zentgericht auch in Fällen von Verstößen gegen die Rechte des Gerichts oder die des Zentherren. Ersteres lag beispielsweise bei unerlaubtem Sprechen während einer Gerichtsverhandlung, Letzteres bei Vernachlässigung von Erscheinungspflichten an bestimmten Gerichtstagen vor.

27 Beck, Praxis Aurea de Jurisdictione Superiore (wie Anm. 5), Vorrede. 28 Vgl. StAWt G-Rep. 7 Lade XXX IIa, Nr. 2, sowie StAWt G-Rep. 103, Nr. 10, S. 2r–3v (in einer undatierten Eidesformel wird zusätzlich gefordert, dass alle Schläge gerügt werden müssen, vgl. StAWt G‑Rep. 102, Nr. 514). 29 Vgl. dazu auch Birr, Konflikt und Strafgericht (wie Anm. 4), S. 215. 30 Für die in der Zent Wertheim gelegenen Dörfer ist dies nachweislich bezüglich der Ortschaften Dertingen, Urfar, Lindelbach, Höhefeld und Waldenhausen der Fall. Vgl. StAWt G‑Rep. Lade VII–VIIa, Nr. 11, Nr. 20, Nr. 38. 31 Ziel der Politik des Würzburger Fürstbischofs Julius Echter (1545 – 1617) war es beispielsweise, dass jeder strafrechtlich relevante Fall an den Zentgerichten gerügt wurde, um auch nur dort verhandelt zu werden. Vgl. Birr, Konflikt und Strafgericht (wie Anm. 4), S. 257. Ähnlich könnten es auch die Wertheimer Grafen gehandhabt haben.

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3.2. Organe am Zentgericht Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf die wichtigsten Ämter und deren jeweilige Funktionen, da eine detaillierte Beschreibung aller Organe den Rahmen des Beitrags sprengen würde.32 Den Vorsitz am Wertheimer Zentgericht führte der von der Herrschaft, also den Wertheimer Grafen, eingesetzte Zentgraf.33 Im Rahmen der gerichtlichen Verhandlungen lenkte er das Urteilergremium mit Fragen und ihm oblag die Aufgabe, neue Schöffen zu vereidigen oder Zeugen und Parteien Bekräftigungseide schwören zu lassen.34 Zu den zentralen Personen des Zentgerichtes zählten insbesondere die Schöffen, die in den Gerichtsverhandlungen die Urteile fällten. Neben ihrer Funktion als Urteiler entschieden sie in den Verfahren auch über die Zulassung von Zeugen. Aufgrund unzureichender Anhaltspunkte in den Quellen bleibt die Rolle der Schöffen im Zusammenhang mit dem innerdörflichen Zusammenleben oder bei Konfliktsituationen leider weitgehend undurchsichtig. Zumindest dass die Schöffen auf die Einhaltung der allgemeinen Friedenswahrung achtzugeben hatten, wird in den Quellen dezidiert betont: Ein jeder Cent-­Schöpfe muss genau auf […] die öffentliche Sicherheit sein besonderes Augenmerk richten, und daher alles hindern und wehren, was zu deren Störung gereichen mögte. […] Ueberhaupt soll er [der Schöffe, Anm. MG] sich als ein ehrlicher Mann zeigen, und seines Orts alles beytragen, was zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe und Wohlstands, der Zucht und Ordnung in seinem WohnOrte beytragen kann.35

Die Zentschöffen konnten im Gericht also auch Geschehnisse anzeigen, die in der gesamten Zent vorgefallen waren. Des Weiteren waren die Schöffen dazu angehal 32 Organe wie Zentschreiber, Zentknecht und Nachrichter beziehungsweise Henker oder Scharfrichter finden an dieser Stelle keine Beachtung, letzterer trat im Allgemeinen eher selten und in den allgemeinen Verfahren ohnehin nicht in Erscheinung. Eine ausführliche Beschreibung ebendieser Ämter findet sich in den Werken von Schultheiss, Gerichtsverfassung und Verfahren (wie Anm. 23), S. 267 – 270, 287 – 295, und Birr, Konflikt und Strafgericht (wie Anm. 4), S. 162 – 168. 33 Dies legte das „Statutum in favorem principum“ fest. Vgl. dazu Weller, Die Zentgerichtsverfassung (wie Anm. 7), S. 21; Theuerkauf, Art. Zentgericht (wie Anm. 16), Sp. 1664. Im Falle des Wertheimer Zentgerichtes waren demnach die Wertheimer Grafen für die Ernennung des Zentgrafen zuständig. In der Zeit um 1600 war eine juristische Ausbildung für die Bekleidung des Zentgrafenamtes noch keine Voraussetzung, jedoch war der Bürgerrechtsstatus für diese Amtposition maßgebend. 34 Vgl. StAWt G-Rep. 7 Lade XXXIIa, Nr. 8; Schultheiss, Gerichtsverfassung und Verfahren (wie Anm. 23), S. 262. 35 StAWt F-Rep. 231, Nr. 2590 (Instruction für die Cent-­Schöpfen in der Graffschaft Wertheim), Art. 13.

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ten, die näheren Umstände eines Zentfalles zu eruieren; es galt Augenschein ein[zu] nehmen, Haussuchungen an[zu]stellen, Zeugen ab[zu]hören.36 Über Jahrhunderte lang bildeten die Schöffen jedoch in ihrer Eigenschaft als Schöffenstuhl ein neutrales Gremium in der Zent und dienten dazu, den Rechtsfrieden zu wahren.37 Die sogenannten Zentverwandten, die in der Grafschaft Wertheim männlich und der Zent durch Eid verbunden und verpflichtet waren,38 hatten sich durch den geleisteten Eid bereit erklärt, an bestimmten Gerichtstagen am Zentgericht anwesend zu sein.39 Zudem oblag es den Zentverwandten, sämtliche Vorkommnisse, die zu den zentbaren Vergehen zählten, vor Gericht zur Rüge zu bringen. Die Aufgaben und Pflichten der Zentverwandten dienten in erster Linie der Rechtspflege, indem vor dem Zentgericht die von der Herrschaft sanktionierten oder von der Gemeinschaft als störend empfundenen Taten angezeigt wurden und so einer unparteiischen Würdigung zugeführt werden konnten.40 Gleichzeitig bestand damit auch ein Band zwischen den Zentverwandten mit ihren Aufgaben, den Grafen von Wertheim als Inhabern der Gerichtsherrschaft und dem Zentgericht selbst.41 Die Vernachlässigung der zentverwandtlichen Pflichten stellte im Falle der Grafschaftsdörfer in der Zeit um 1600 eher die Ausnahme als die Regel dar. Das Pflichtbewusstsein der aus den Wertheimer Dörfern stammenden Untertanen ist allerdings nicht nur auf deren Treue und Verbundenheit gegenüber ihrer Herrschaft zurückzuführen; an einem geregelten Zusammenleben im Sinne der allgemeinen Friedenswahrung war jedem einzelnen Bewohner in der Zent Wertheim gelegen. 3.3. Verfahren am Zentgericht Verfahrenstechnisch wurde gemäß der Kompetenzzuständigkeiten des Wertheimer Zentgerichtes je nach Art und Schweregrad des Deliktes zwischen dem Prozedere vor dem Malefizgericht und einem allgemeinen Verfahrensgang unterschieden. Eine 36 Ebd., Art. 6. 37 Vgl. Schultheiss, Gerichtsverfassung und Verfahren (wie Anm. 23), S. 284. 38 In der Forschung wird als Voraussetzung für den Status eines Zentverwandten häufig auch eine Haushaltsvorstandschaft konstatiert, vgl. Birr, Konflikt und Strafgericht (wie Anm. 4), S. 131, die für Wertheim bisher in den Quellen nicht nachweisbar ist. 39 Vgl. dazu StAW t G-Rep. 57/1 Zentsachen Nr. 9 (Erinnerung und eydt so von den […] Underthanen so in der Cendt schwehren vorgehalten wirdt). 40 Zur rechtlichen Einordnung dieser Pflichten vgl. Dietmar Willoweit, Vertragen, Klagen, Rügen. Reaktionen auf Konflikt und Verbrechen in ländlichen Rechtsquellen Frankens, in: Dieter Rödel/Joachim Schneider (Hrsg.), Strukturen der Gesellschaft im Mittelalter. Interdisziplinäre Mediävistik in Würzburg. Wiesbaden 1996, S. 196 – 224 (hier S. 215). 41 Vgl. dazu auch Schultheiss, Gerichtsverfassung und Verfahren (wie Anm. 23), S. 295 f.

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detaillierte Beschreibung der Verfahrensabläufe ist in den Wertheimer Zentgerichtsbüchern nur für die Malefizgerichte überliefert.42 Diese Tatsache birgt die Gefahr, die Annahme zu implizieren, dass die peinlichen Gerichtstage zum gerichtlichen Alltag gehörten. Vielmehr ist aber davon auszugehen, dass der Ablauf dieses Verfahrens eben deshalb in genauester Weise festgehalten wurde, weil die Zentgerichte nur selten zusammentraten, um schwerwiegende Vergehen zu verhandeln, die mit Leib- oder Lebensstrafen geahndet wurden.43 In Bezug auf die Urteilsfindung berief man sich bereits um 1550 nachweislich auf die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V.44 Ab dem Jahr 1565 wurden die peinlichen Gerichtsverfahren und die allgemeinen Verfahren getrennt voneinander protokolliert.45 In aller Regel lässt sich für die Institution der Zentgerichte festhalten, dass diejenigen Verfahren den gerichtlichen Alltag ausmachten, in denen sich die Sanktionen auf Geldbußen beschränkten und deren Durchführung allen Beteiligten offenbar so sehr vertraut war, dass weder umfangreiche noch komplizierte Aufzeichnungen nötig gewesen sind.46 In der Zeit um 1600 oblag es fast ausschließlich dem Schöffenkollegium, im „Gemeinen Gerichtsverfahren“ das Recht für die dort verhandelten Fälle zu finden und aufgrund der ermittelten Tatsachen eine Entscheidung hinsichtlich des Urteils zu treffen.47 Die Schöffen, die in der Regel Analphabeten waren, fällten den Urteilsspruch nach ihrem Gewissen und grundsätzlich ohne Einfluss des Zentherrn. Im Falle der Uneinigkeit der Schöffen bezüglich eines Urteils wurde nach dem Mehrheitsprinzip entschieden. Bei einer schwierigen oder komplizierten Sachlage konnte der Verhandlungsgegenstand auch auf den nächsten Gerichtstermin verschoben werden. Ebenso geschah dies, wenn die Schöffen weitere Beweise erhoben oder Kundschaft im Zuge einer Zeugenbefragung eingeholt haben wollten.48 Im Allgemeinen dienten die Entscheidungsmöglichkeiten dem Schöffenkollegium als Instrumentarium, um möglichst einfache und gerechte Urteile zu finden. Das Verfahren des „gemeinen Gerichtes“ hatte vordergründig die Erhaltung des Friedens innerhalb der Zent zum Zweck. Dies lässt sich am nachdrücklichsten anhand der 42 Vgl. dazu StAWt G-Rep. 103, Nr. 10, S. 12v–17v, und StAWt G-Rep. 102, Nr. 5550 (Peinliches Verhor und Tortura; Wie man dem Ubelthetter den Rechtstage verkündigen solle). 43 Vgl. Birr, Konflikt und Strafgericht (wie Anm. 4), S. 181. 44 Vgl. StAWt G-Rep. 103, Nr. 10, S. 24r; Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. und des Heiligen Römischen Reiches von 1532 (Carolina). Herausgegeben und erläutert von Friedrich-­Christian Schroeder. Stuttgart 2000. 45 Vgl. StAWt G-Rep. 103, Nr. 17, und StAWt G-Rep. 102, Nr. 5550. 46 Vgl. Birr, Konflikt und Strafgericht (wie Anm. 4), S. 181 f. 47 Vgl. dazu StAWt F-Rep. 231, Nr. 2590 (Instruction für die Cent-­Schöpfen in der Graffschaft Wertheim). 48 Vgl. dazu StAWt G-Rep. 103, Nr. 10, S. 9v; in ähnlicher Weise auch zu finden in StAWt G-Rep. 102, Nr. 5550 (Erinnerung Einem Newen Zendtschopffen vor dem aydt vorzulesen).

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Urteile nachvollziehen, die in besonderem Maße auf die Befriedung der sich gegenüberstehenden Parteien abzielten – und dies speziell im Fall der Ehrendelikte. Bei einem Beleidigungsvergehen wurde in den Urteilen stets betont, dass die Ehre der betroffenen Partei nach Ableistung der Strafe – in der Regel wurde diese in Form einer Geldstrafe geleistet – wieder vollständig hergestellt sei und niemandem in der Folgezeit ein Nachteil daraus entstehen sollte.49 Die Möglichkeit eines Rechtszuges an ein anderes Zentgericht wurde am Wertheimer Zentgericht in der Zeit um 1600 nicht praktiziert. Jedoch war das Wertheimer Zentgericht eine Appellationsinstanz für andere in der Grafschaft gelegene Zentgerichte.50 Die Vorlage eines bestimmten Falls beim Zentherrn stellte eine weitere Verfahrensmöglichkeit des Schöffenkollegiums dar, indem es eine Verhandlungssache an die Herrschaft heim verwies:51 dieweil Hans Locher Georg Schetzer ein Morder gescholten weissen ihn die schopffen me[inem] gne[digen] he[rrn] heim.52 Ob es sich hierbei um eine vollständige Abgabe zur Aburteilung durch den Zentherrn handelt oder dies eine Appellation im Sinne einer zweiten Instanz darstellt, ist nicht exakt zu eruieren. Möglich wäre ebenfalls, dass lediglich eine Aussetzung zum Einholen eines Rats des Zentherrn festgelegt wurde. Letztere Möglichkeit ist jedoch eher unwahrscheinlich, da dieser Fall in den darauffolgenden Gerichtssitzungen weder erneut verhandelt wurde noch die Schöffen ein Urteil darüber sprachen. In der Regel akzeptierte die verurteilte Partei das von den Schöffen gefällte Urteil, was unter anderem sicherlich damit zusammenhängt, dass ein Rechtsspruch allein aus Gebührengründen anerkannt wurde. Widersprüche an die gräfliche Kanzlei waren generell eher die Ausnahme als die Regel und sind hinsichtlich der Urteile des Wertheimer Zentgerichtes in den Jahren von 1580 bis 1611 nicht überliefert. Dies trifft auch in Bezug auf das Reichskammergericht zu, obwohl grundsätzlich die Möglichkeit bestand, sich gegen die Entscheidungen der reichsständischen 49 Vgl. exemplarisch StAWt G-Rep. 102, Nr. 5550 (Gerichtstermin Montag nach Trium Regum 1601: Hans Herchenhan vs. Petter Keyser wegen Injurien). 50 Einer Zentordnung für Michelrieth aus dem Jahr 1535 ist zu entnehmen, dass das Wertheimer Zentgericht als eine Art Appellationsinstanz für die Zent Michelrieth tätig gewesen sein muss: Item wann die schöpfen am landgericht Michelriedt beschwert sein eines urtheils halben, das mögen sie holen zu Wertheim am landgericht, als am oberhofe, doch uf beder partheien costen; vgl. Hermann Knapp, Die Zenten des Hochstifts Würzburg. Ein Beitrag zur Geschichte des süddeutschen Gerichtswesens und Strafrechts, Bd. I. Die Weistümer und Ordnungen der Würzburger Zenten, Abt. 2. Berlin 1907, S. 875. 51 Im gerichtsspezifischen Kontext meint das Verb „heimweisen“, dass ein Verfahren gegen eine Person deren heimischem Gericht oder überhaupt eine Partei dem zuständigen Gericht überwiesen wird; vgl. Art. heimweisen, in: Deutsches Rechtswörterbuch, Bd. 5. Weimar 1960, Sp. 649. 52 StAWt G-Rep. 102, Nr. 5550 (Montag nach Trium Regum 1601).

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Obergerichte an das Reichskammergericht zu wenden. In Bezug auf Strafsachen war die Appellation vor das Reichskammergericht ohnehin seit 1530 unzulässig.53 In der Regel wurden die Verfahren am Wertheimer Zentgericht durch Rüge eingeleitet. Im Unterschied zur direkten Klage war das wesentliche Kennzeichen der Rüge die Anzeige eines Vergehens durch eine dritte, in der Regel unbeteiligte Person,54 die durch eine der betroffenen Parteien beauftragt sein konnte.55 Neben der Anzeigeform der Rüge durch neutrale Rügeleute bestand auch die Möglichkeit, dass die betroffenen Parteien während eines Zentgerichtstermins direkt Klage erhoben.56 Rüge oder Klage waren in der Zeit um 1600 unverzichtbare Voraussetzungen für die Eröffnung eines allgemeinen Verfahrens am Wertheimer Zentgericht. Die Verpflichtung zur Anzeige abweichenden Verhaltens auch ohne unmittelbare individuelle Betroffenheit im Interesse der Friedenswahrung konnte zumindest theoretisch für jedes Individuum der Gemeinschaft bestehen.57 Im Falle des Zentgerichtes Wertheim wurden alle der Zent durch Eid verbundenen Untertanen der Grafschaft darauf verpflichtet, bestimmte Delikte zur Rüge zu bringen. Obgleich auch schwere Vergehen wie Mord oder Diebstahl am Zentgericht zu rügen waren, wurden Verbrechen, die eine Leibes- beziehungsweise Lebensstrafe zur Folge haben konnten, nicht im Zuge der „gemeinen“ Gerichtstage verhandelt.58 Diese Gerichtstage waren in der Zeit um 1600 in vierteljährigem Turnus angesetzt und es waren jeweils zwei der Gerichtstage als „geschworene“ Tage bestimmt, an denen es für die Zentverwandten Pflicht war, anwesend zu sein. Im Fall des Wertheimer Zentgerichtes rügten in der Zeit um 1600 ausschließlich männliche Personen – ein Befund, der für die Aktenüberlieferung aller Ortschaften zutreffend ist. Generell war für eine Gerichtsherrschaft die Möglichkeit gegeben, dass sie mit der Schaffung des Amtes des Rügers eine Kontrollinstanz innerhalb eines Dorfes einsetzte, die die zuvor von der Nachbarschaft 59 sowie von 53 Vgl. Jürgen Weitzel, Zur Zuständigkeit des Reichskammergerichtes als Appellationsgericht, in: Zeitschrift der Savigny-­Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 90 (1973), S. 213 – 245 (hier S. 232 – 235); Schultheiss, Gerichtsverfassung und Verfahren (wie Anm. 23), S. 418. 54 Vgl. Schultheiss, Gerichtsverfassung und Verfahren (wie Anm. 23), S. 376. 55 Daneben bestand auch die Möglichkeit des Rügens durch die Obrigkeit. 56 Vgl. exemplarisch StAWt G-Rep. 102, Nr. 5550. Daneben konnte der Klaggegenstand auch zusätzlich noch in Form einer Rüge durch eine dritte Person zur Anzeige gebracht werden. 57 Vgl. Barbara Krug-­Richter, Konfliktregulierung zwischen dörflicher Sozialkontrolle und patrimonialer Gerichtsbarkeit. Das Rügegericht in der Westfälischen Gerichtsherrschaft Canstein 1718/19, in: Historische Anthropologie 5 (1997), S. 212 – 228 (hier S. 215). 58 In solchen Fällen wurde ein peinliches Erkenntnisverfahren durchgeführt, das in ein förmliches Malefizgericht mündete. 59 Mit dem Begriff „nachbar“ als rechtshistorischem Terminus wird unter anderem diejenige rechtstragende Personengruppe bezeichnet, die im Dorf für die Regelung der Probleme des

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herrschaftlichen Beamten wahrgenommenen Aufgaben übernahm und eine Art vorgerichtliche Instanz und offizielle Anlaufstelle für Klagen darstellte.60 Ob die Wertheimer Grafen ein solches Amt auch für bestimmte Dörfer innerhalb des Wertheimer Zentbezirkes etabliert hatten, muss aufgrund mangelnder Quellenhinweise allerdings fraglich bleiben.61 In den Rügeprotokollen des Wertheimer Zentgerichtes werden häufig mehrere Personen genannt, die die Vergehen zur Anzeige brachten und die sich mitunter auch als Rüger oder Rügmeister betitelten. Daher ist die Einführung eines solchen Amtes in den wertheimischen Dörfern nicht ausgeschlossen und in der Zeit um 1600 war es anscheinend üblich, dass neben den Rügern auch die Zentverwandten diese Funktion noch zusätzlich innehatten.62

4. Die lebensweltliche Verortung gerichtlicher Praxis im ländlichen Raum Der gerichtlichen Lösung eines Vergehens gingen andere Arten von Konfliktregulierung und Normkontrolle voraus; nicht selten liefen sie parallel dazu. Gemeint sind hiermit unter anderem der Ruf und das Ansehen einer Person; Kontrolle konnte durch ein Gerücht ausgeübt werden und auch rituelle Rügebräuche, voroder außergerichtliche Einigung mittels eines privaten Schlichters stellten Formen der Konfliktbewältigung und der Normkontrolle dar. In der Vormoderne wurden Normen nicht nur von den Obrigkeiten bestimmt und kontrolliert und Konflikte auch nicht allein von den Herrschern geschlichtet. Zunächst wurden Normen und Konflikte innerhalb des Dorfes oder der Nachbarschaft behandelt. In der Regel Zusammenlebens verantwortlich war, und umschloss somit nicht den gesamten Personenverband einer Gemeinschaft. Vgl. Karl Sigismund Kramer, Art. Nachbar, Nachbarschaft, in: HRG, Bd. 3. 1. Aufl. Berlin 1984, Sp. 813 – 815 (hier Sp. 813). 60 Im Verlauf des 17. Jahrhunderts war dies beispielsweise in einigen innerhalb der Zent Burghaslach gelegenen Dörfern der Fall, vgl. Schultheiss, Gerichtsverfassung und Verfahren (wie Anm. 23), S. 287 – 296, und auch am Rügegericht der westfälischen Gerichtsherrschaft Canstein war das Amt des Rügers spätestens ab der Mitte desselben Jahrhunderts konstituiert, vgl. Krug-­Richter, Konfliktregulierung (wie Anm. 57), S. 215. 61 Quellen, die beispielsweise auf eine eidliche Verpflichtung des Rügers – wie es auch für die Schöffen der Fall gewesen war – oder andere Anhaltspunkte für die Einführung eines solchen Amtes hinweisen, fehlen im Falle des Wertheimer Zentgerichtes. 62 Eine solche Praxis belegte Barbara Krug-­Richter auch für das Rügegericht in der westfälischen Herrschaft Canstein. Ihre Untersuchung der Gerichtsakten aus den Jahren 1718/19 ergab, dass die persönliche Klage die von allen Beteiligten bevorzugte Form der Konfliktlösung darstellte. Insgesamt sind für die beiden Jahre nur wenige Fälle überliefert, in denen der dörfliche Rüger Vergehen einrügte, die im Vorfeld nicht durch eine der betroffenen Parteien zur Anzeige gebracht worden waren. Vgl. Krug-­Richter, Konfliktregulierung (wie Anm. 57), S. 218.

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griffen die Dorfbewohner bei einem Konflikt in die Auseinandersetzung ein oder unterbanden diese.63 So wurden beispielsweise im Jahr 1602 die beiden Männer Christoph Meckenwein und Linhard Flegler während eines Streitgesprächs von einer dritten, unbeteiligten Person dazu aufgefordert, friedt 64 zu halten und voneinander abzulassen. In zahlreichen Rügeprotokollen gaben einzelne Personen an, wie sie einem Geschrei auf der Straße nachgelaufen waren, sich neugierig aus dem Fenster gebeugt oder die alltäglichen Geschehnisse im Dorf zufällig vom Marktplatz aus beobachtet hatten. In den Aussagen wird zudem häufig zu Protokoll gegeben, dass über bestimmte Ereignisse untereinander debattiert oder sich aktiv in einen Streit eingemischt worden war. Das kontinuierliche nachbarliche Beobachten und Kommentieren bedeutete aber nicht nur soziale Kontrolle, sondern konnte im Konfliktfall auch Schutz vor Unterstellungen oder Unterstützung durch Zeugenaussagen zur Verfügung stellen. So konnte lautes Rufen und Schreien ganz bewusst initiiert sein, um auf diese Weise Öffentlichkeit zu schaffen und mögliche Zeugen herbei zu rufen.65 Es bleibt festzuhalten, dass die Zentgerichtsakten nicht nur Aufschluss über die Rechtsnorm, sondern auch über die Rechtspraxis des Zentgerichtes geben, da sie einen aufgrund ihres Detailreichtums 66 überaus guten Einblick in vergangene Lebenswelten der Dorfbewohner vor Ort verschaffen und somit einen Zugang zu der Erfahrungsgeschichte der sonst oft sprachlosen Bevölkerungsschichten eröffnen. Das Beispiel des Wertheimer Zentgerichtes zeigt, dass die Menschen in der Frühen Neuzeit nicht bloße Opfer obrigkeitlichen Zwanges, sondern handelnde Subjekte waren, die ihre Konflikte selbst austrugen, und dies taten sie eben auch auf dem Rechtsweg. Hierbei spielten lokale Traditionen und soziale Wert- und 63 Vgl. dazu auch Arnold Beuke, „In guter Zier und Kurtzweil bey der Naßen angetastet“. Aspekte des Konfliktaustrags in der Frühen Neuzeit, in: Barbara Krug-­Richter/Ruth-­E. Mohrmann (Hrsg.), Praktiken des Konfliktaustrags in der Frühen Neuzeit. Rhema 2004 (Schriftenreihe des Sonderforschungsbereichs 496: Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme, Bd. 6), S. 119 – 156 (hier S. 152 f.); Krug-­Richter, Konfliktregulierung (wie Anm. 57), S. 222 f. 64 Vgl. StAWt G-Rep. 102, Nr. 535 (Stoffel Meckenwein vs. Linhardt Flegler). 65 Dies war beispielsweise im Jahr 1606 der Fall, als die Männer Lorenz Stark und Claus Löger einem Geschrei auf der Straße gefolgt waren, das zudem noch weitere vier Personen, die am Zentgericht als Zeugen aufgeführt wurden, angezogen hatte. Vgl. StAWt G-Rep. 102, Nr. 539 (Hans Löffler vs. Enders Rach). 66 Die Rügeprotokolle geben nicht nur Aufschluss über die Art des Deliktes beziehungsweise des Konfliktes, sondern beinhalten zum Großteil auch detaillierte Informationen über den Ablauf des jeweiligen Geschehens und über diese Grundinformationen hinaus erfolgen häufig weitere Angaben zu Verwandtschaftsbeziehungen, zur sozialen Stellung oder zu persönlichen Lebensumständen einzelner Personen.

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Normvorstellungen der Dorfbewohner neben den obrigkeitlichen Verordnungen eine zentrale Rolle, um ein friedliches Zusammenleben zu fördern. In Bezug auf das Zentgericht bedeutet dies, dass das Wertheimer Zentgericht vornehmlich eine streitschlichtende Funktion innehatte, und in diesem Sinne spiegelte es eben auch die sozialen Normen im Dorf wider. Die Wahrung sozialer Ordnung lag nicht nur im Interesse der Obrigkeit, sondern besaß ebenso einen Wert für die Bevölkerung.

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Jüdische Gerichtsbarkeit in der Frühen Neuzeit Im Herbst 1553 erschienen vor dem Rabbinatsgericht zu Günzburg in der vorderösterreichischen Markgrafschaft Burgau: Simon Günzburg, ein Mann von nachgerade sprichwörtlichem Reichtum und von großem Einfluss weit über das jüdische Schwaben hinaus, und Nathan Schotten, Angehöriger einer prominenten Familie in der Frankfurter Judengasse, mit seiner Frau Ellen. Die beiden Seiten präsentierten einen Vertrag, der ihre künftige Geschäftspartnerschaft regeln sollte und nun bei Gericht aufzunehmen und in Kraft zu setzen war: Auf der Grundlage eines Privilegs, welches Simon vom Augsburger Bischof Otto Truchseß von Waldburg erhalten hatte, sollten Nathan und seine Ehefrau im Flecken Oberhausen, vor den Toren der Stadt Augsburg, einziehen und Geschäfte treiben – nicht selbständig und auf eigene Rechnung allerdings, sondern mit 75-prozentiger Geschäftseinlage und Gewinnbeteiligung des Simon, dem sie in allem und zu jeder Zeit Rechenschaft schuldeten. Für den Fall von Streitigkeiten würden sich die ungleichen Partner einem jüdischen Schiedsgericht in Günzburg oder in Neuburg an der Kammel unterwerfen, einer vier Wegstunden südlich gelegenen Adelsherrschaft.1 So sah es der Vertrag vor. Zu Streitigkeiten kam es zehn Jahre später, aber sie wurden weder vor einem Schiedsgericht in Günzburg noch in Neuburg beigelegt. Vielmehr entwickelte sich der Fall des Nathan, der sich im März 1564 heimlich nach Frankfurt absetzte, und des Simon, der ihn auf allen Wegen verfolgte, von einem Konflikt zwischen zwei Geschäftsleuten zu einer erbitterten Auseinandersetzung um die Strukturen der jüdischen Gerichtsbarkeit – einer Auseinandersetzung, an der sich rabbinische Autoritäten nicht nur in Deutschland, sondern auch in Italien, Polen und selbst Russland beteiligten.2 Dieser Beitrag wird sich auf die das Gerichtswesen berührenden Aspekte des Dramas beschränken, dessen Haupt-

1 YIVO Institute for Jewish Research, New York (künftig: YIVO Institute), MK /428, fol. 8v–9r; Mikrofilm in den Central Archives for the History of the Jewish People, Jerusalem, HM2/4447. Wie in der Frühen Neuzeit in innerjüdischen Angelegenheiten ganz allgemein üblich, sind auch in diesem Fall die schriftlichen Zeugnisse des Vertragsverhältnisses, der auf ihm beruhenden Geschäftspartnerschaft und der nachfolgenden, weitläufigen Auseinandersetzungen fast ausnahmslos in hebräischer und jiddischer Sprache abgefasst. 2 Eine Dokumentation auf der Grundlage des Quellenkonvoluts im YIVO Institute, MK/428, besorgte Eric Zimmer, Aspects of the German Rabbinate in the Sixteenth Century. The Dispute Between the Rabbis of Frankfurt a/M and Schwabia in 1564 – 1565 [hebr.]. Jerusalem 1984 (Kuntresim. Texts and Studies, Bd. 62).

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personen sich wechselseitig des Vertragsbruchs, des Betrugs und sonstiger Vergehen bezichtigten und in der Wahl ihrer Mittel nicht zimperlich waren.3 Zunächst wurde auf Veranlassung des Simon der flüchtige Nathan durch den Rabbiner des Landes Schwaben vor sein Gericht nach Günzburg zitiert. Nathan hatte seinen Fall jedoch bereits den Rabbinern in Frankfurt vorgetragen, die sich in scharfen Wendungen gegen diese Ladung wandten: Nathan habe seinen Wohnsitz nunmehr in Frankfurt, stehe somit nicht mehr unter der Jurisdiktion des Günzburger Rabbinats, die Parteien müssten sich daher einem Schiedsgericht an neutralem Ort unterwerfen.4 Dass dieses Schreiben neben den Unterschriften des Frankfurter Rabbinerkollegiums auch jene des Wormser Reichsrabbiners Jakob trug,5 unterstreicht die hohe Bedeutung, die diesem Fall und insbesondere der Frage der gerichtlichen Zuständigkeit von Beginn an beigemessen wurde. Heftig verwahrten sich die schwäbischen Rabbiner gegen die Einmischung in ihren Amtsbereich. Tatsächlich postulierte das Frankfurter Rabbinat eine Vorrangstellung gegenüber dem Rabbinat in der Provinz, ja im gesamten Reich; denn Frankfurt, westlich von Prag damals die bei weitem größte jüdische Gemeinde,6 konnte sich auch der großen Zahl und des besonderen Rufs seiner rabbinischen 3 Eingehender behandelt ist der Streitfall, in dem die Kontrahenten ihre Interessen auch abseits des Rechtswegs intensiv verfolgten, bei Stefan Rohrbacher, Ungleiche Partnerschaft. Simon Günzburg und die erste Ansiedlung von Juden vor den Toren Augsburgs in der Frühen Neuzeit, in: Rolf Kießling/Sabine Ullmann (Hrsg.), Landjudentum im deutschen Südwesten während der Frühen Neuzeit. Berlin 1999 (Colloquia Augustana, Bd. 10), S. 192 – 219. 4 YIVO Institute, MK/428, fol. 3v–4v. 5 Zum spätmittelalterlichen Amt des Reichsrabbiners, der für den Einzug von Steuern und Bußgeldern unter den Juden im Reich zu sorgen hatte und mit besonderer Straf- und Banngewalt ausgestattet war, s. Yacov Guggenheim, A suis paribus et non aliis iudicentur. Jüdische Gerichtsbarkeit, ihre Kontrolle durch die christliche Herrschaft und die „obersten rabi gemeiner Judenschafft im heilgen reich“, in: Christoph Cluse/Alfred Haverkamp/ Israel J. Yuval (Hrsg.), Jüdische Gemeinden und ihr christlicher Kontext in vergleichender kulturräumlicher Betrachtung. Hannover 2002 (Forschungen zur Geschichte der Juden, Bd. A 2), S. 405 – 439. In der Frühen Neuzeit hatte das Amt des Reichsrabbiners auf Dauer keinen Bestand. Schon der Ernennung Jakobs durch Kaiser Ferdinand I. am 21. Juni 1559 war eine langjährige Vakanz vorausgegangen. Nach Jakobs Tod um 1574 blieb das Amt verwaist. Vgl. zu ihm auch die ältere Darstellung von Moritz Stern, Der Wormser Reichsrabbiner Jakob, in: Emet le-­Yaakov. Festschrift Dr. Jakob Freimann zum 70. Geburtstag. Berlin 1937, S. 180 – 192. 6 Zur demographischen Entwicklung Fritz Backhaus, Die Bevölkerungsexplosion in der Frankfurter Judengasse des 16. Jahrhunderts, in: ders./Gisela Engel/Robert Liberles/Margarete Schlüter (Hrsg.), Die Frankfurter Judengasse. Jüdisches Leben in der Frühen Neuzeit. Frankfurt a. M. 2006 (Schriftenreihe des Jüdischen Museums Frankfurt am Main, Bd. 9), S. 103 – 117. Den Versuch einer umfassenderen Einordnung unternimmt Rotraud

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Gelehrten rühmen. So wurde mit der Einbindung des Reichsrabbiners wohl auch der Anspruch unterstrichen, an die führende Rolle der mittelalterlichen Zentren jüdischer Gelehrsamkeit in Speyer, Worms und Mainz anzuknüpfen. Die Schwaben fanden ihrerseits Rückhalt bei so einflussreichen Gelehrten wie Meir Katzenellenbogen in Padua oder Moses Isserles in Krakau: Kein Rabbinat und kein jüdisches Gericht habe sich über ein anderes zu stellen, dessen Autonomie in Zweifel zu ziehen oder in seine angestammten Zuständigkeiten und in seinen Bezirk einzugreifen.7 Ungeachtet dieses Grundsatzstreits, in dem keine der Seiten nachgeben wollte, bemühten sich die Frankfurter Rabbiner und ihre schwäbischen Kollegen doch auch darum, die Streitsache der beiden Parteien weiterzubringen. Nach verschiedenen vergeblichen Anläufen trat im August 1564 in der Reichsstadt Weil der Stadt ein fünfköpfiges Gericht zusammen,8 wobei jeweils zwei Rabbiner aus Frankfurt und Günzburg als Beisitzer fungierten und der Reichsrabbiner Jakob den Vorsitz führte. Simon und Nathan gelobten bey dem höchsten Ayde,9 dass sie nicht vor christliche Gerichte gehen und nichts zum Nachteil ihres Gegners unternehmen wollten; sie würden sich den Anordnungen im weiteren Schiedsverfahren und der Entscheidung der Schiedsleute fügen.10 Doch zur angesetzten Verhandlung in der Hauptsache kam es nicht mehr. Beide Seiten brachen ihren in Weil der Stadt getanen Eid. Die näheren Umstände und weiteren Verwicklungen, wenngleich höchst dramatisch, sind hier nicht von Belang.11 Sie waren begleitet von erneuten scharfen Auseinandersetzungen zwischen den Rabbinatsgerichten in Frankfurt und Günzburg, die ihre Vorladungen, Anordnungen, Banndrohungen und Bannstrafen wechselseitig aufhoben. Ein letzter Versuch, die Sache vor ein Schiedsgericht in Worms oder Speyer zu bringen, verlief offenbar im Sande.

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Ries, Die Mitte des Netzes: Zur zentralen Rolle Frankfurts für die Judenschaft im Reich (16.–18. Jahrhundert), ebd., S. 118 – 130. Einzelheiten bei Rohrbacher, Ungleiche Partnerschaft (wie Anm. 3), S. 206 f. Zur Bestimmung des Gerichtsortes vgl. unten S. 254. Während der Eid more judaico („Judeneid“), wie ihn Juden vor nichtjüdischen Gerichten leisten mussten, Gegenstand zahlreicher Untersuchungen geworden ist, bleibt eine Darstellung der Eidesformen und der frühneuzeitlichen Praxis der Eidesleistung innerhalb der jüdischen Rechtssphäre ein Desiderat. Hilfreich ist nach wie vor D[avid] J[osef ] B[ornstein], Art. Eid, in: Encyclopaedia Judaica. Das Judentum in Geschichte und Gegenwart, Bd. 6: Drama–Gabinius. Berlin 1930, Sp. 316 – 332. Simon und Nathan leisteten ihren promissorischen Eid unter Entpfähung der zehen Gebot, also auf eine Torarolle oder eine Bibel. Die Verpflichtungserklärung beider Parteien für das weitere Verfahren ist nur in zeitgenössischer deutscher Übertragung erhalten; abgedruckt bei Stern, Der Wormser Reichsrabbiner (wie Anm. 5), S. 182 – 184, danach auch bei Zimmer, Aspects of the German Rabbinate (wie Anm. 2), S. 83 – 85. Zu den Einzelheiten Rohrbacher, Ungleiche Partnerschaft (wie Anm. 3), S. 211 – 217.

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Die in Weil der Stadt versammelten Rabbiner mochten in dem Glauben gewesen sein, dass sich dieser Konflikt bis dahin noch ganz innerhalb der jüdischen Sphäre bewegt hatte. Doch dies war von Anfang an nicht der Fall gewesen. Schon unmittelbar nach der Flucht des Nathan hatte Simon nicht nur dafür gesorgt, dass sein Kontrahent vor das Günzburger Rabbinatsgericht zitiert wurde, sondern er hatte sich auch an das Frankfurter Stadtgericht gewandt.12 Und er hatte Angehörige seines Widersachers durch den burgauischen Amtmann in Haft setzen lassen; denn das mochte wirkungsvoller sein als die Androhung des Bannes, das Zwangsmittel des Rabbinatsgerichts.13 Nachdem sich dann im Verlauf eines Jahres kein Weg zur Austragung des Rechtsstreits vor einem jüdischen Gericht gefunden hatte, setzten beide Parteien mehr und mehr auf andere Wege. Simon betrieb weiterhin aktiv seinen Prozess vor dem Frankfurter Stadtgericht und suchte Nathan auch anderweitig zu belangen, wobei er die Unterstützung einflußreicher christlicher Akteure fand. Im Frühjahr 1565 wandte sich der Augsburger Bischof an den Rat der Stadt Frankfurt und verlangte, ganz im Sinne des Simon, dass sich Nathan der Gerichtsbarkeit in Schwaben stellte;14 gleiches forderte auch der burgauische Landvogt. Nathan wollte sich jedoch nur einem Richtspruch der Rabbiner in Frankfurt oder Worms unterwerfen – oder einem Urteil des Reichskammergerichts; denn auch er mochte sein Recht gegen einen anderen Juden durchaus nicht nur vor jüdischen Richtern suchen. Nun wandten sich der Augsburger Bischof, Erzherzog Ferdinand als Landesherr der Markgrafschaft Burgau und auch Simon an Kaiser Maximilian II. Zugleich klagten der Bischof und Simon vor dem Reichshofrat gegen die Stadt Frankfurt und Nathan wegen dessen Entweichung aus Augsburg.15 Im Mai 1566 erging der kaiserliche Befehl, dass der Frankfurter Rat Nathan an die bischöfliche Gerichtsbarkeit zu überstellen habe. Nathan wollte sich nun aber vor den Bischöfen von Mainz, Trier, Köln, Worms oder Speyer verantworten – nur eben nicht in Augsburg, im Einflussbereich des Simon. Wieder und wieder gingen kaiserliche Schreiben gleichen Inhalts nach Frankfurt, letztmalig wohl 1571, stets ohne Erfolg. Zwar kam es zur Verhandlung vor dem Landgericht in Schwaben, doch wohl nur in einer Nebensache und nicht im Beisein der beiden Kontrahenten. Zuletzt erfahren wir, dass Nathan 1573/74 vor dem Reichskammergericht Klage gegen Simon führte, wegen Privilegienbruchs, immer noch in dem Bemühen, sich einer gerichtlichen 12 Institut für Stadtgeschichte (künftig: ISG) Frankfurt a. M., Juden wider Juden 7. 13 Dazu Andreas Gotzmann, Art. Bann, in: Dan Diner (Hrsg.), Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Bd. 1: A–Cl. Darmstadt 2011, S. 256 – 258. 14 Dem Bischof musste es im Fall des entwichenen Nathan um die Wahrung seiner Rechte als Herrschaftsträger und Gerichtsherr gehen; zudem handelte es sich bei Simon um einen wichtigen Kreditgeber des vielfach kapitalbedürftigen Kirchenfürsten. 15 Österreichisches Staatsarchiv, Haus-, Hof- und Staatsarchiv, RHR, Judicialia Decisa 167‑1‑14; Judicialia Miscellanea 1‑36.

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Inanspruchnahme außerhalb Frankfurts zu entziehen.16 Die weiteren Wendungen, in denen sich die Sache offenbar noch lange und über das Ableben der Hauptpersonen hinweg fortschleppte,17 sind nicht mehr deutlich fassbar. Jeder Versuch, eine Skizze jüdischer Gerichtsbarkeit in der Frühneuzeit zu entwerfen, wird jenseits weniger verbindender Allgemeinheiten rasch schwierig. Zu uneinheitlich, veränderlich und in der konkreten Ausgestaltung schon den einschlägig befassten Zeitgenossen, Juden wie Christen, keineswegs immer eindeutig greifbar erscheinen die Verhältnisse. Nach traditioneller Auffassung gründet das jüdische Recht, die Halacha, in der schriftlich und mündlich geoffenbarten heiligen Lehre der Tora und des Talmud und ist somit in seinem Wesen unteilbar und unwandelbar. Es berührt alle Lebensbereiche und kennt somit auch, wenngleich in eigener Systematik, alle gemeinhin geläufigen Rechtsgebiete.18 In der Situation des Exils war eine umfassende, gänzlich autonome und ausschließlich binnenbezügliche Rechtspflege freilich nicht möglich. Hier half der Grundsatz: dina de-­malchuta dina, „das Gesetz des Landes ist das Gesetz“, mit dem einer nicht aushaltbaren akuten Konkurrenz der Rechtssysteme unter „fremder“ Herrschaft entgangen werden konnte.19 Ohnehin war einem eigenständigen jüdischen Gerichtswesen seitens der nichtjüdischen Obrigkeit regelmäßig nur der Bereich des „Zeremonialgesetzes“ zugestanden, wenn auch in der Regel in einem weiteren Begriff unter Einschluss von Ehe- und Scheidungssachen sowie Erb- und Vormundschaftssachen; ferner typischerweise „Zivilsachen“, in diesem 16 Nathan berief sich auf ein bereits durch Kaiser Karl V. erteiltes Privileg, wonach er nur an seinem Wohnort vor Gericht gezogen werden dürfe. Bayerisches Hauptstaatsarchiv (künftig: BayHStA), RKG 7225. Es muss allerdings auffallen, dass er ein solches Privileg nicht schon früher geltend gemacht hatte. Vgl. ferner zu offenbar gleichzeitigen Versuchen des Frankfurter Rats, die Beklagung des Nathan vor fremden Gerichten als Bruch Frankfurter Privilegien abzuwehren, ISG Frankfurt a. M., Hofgericht Rottweil 337. 17 Vgl. als Weiterung aus dieser Streitsache z. B. ISG Frankfurt a. M., Juden wider Fremde 76. 18 Als systematische Gesamtdarstellung nach wie vor Menachem Elon, Jewish Law. Its History, Sources and Principles. Ha-­Mishpat ha-­Ivri, 4 Bde. Philadelphia 1994. 19 Dazu Shmuel Shilo, Dina de-­malchuta dina [hebr]. Jerusalem 1974. Eine knappe, in­ struktive Diskussion der Positionen mittelalterlicher rabbinischer Autoritäten zum Verhältnis der Rechtssysteme bei Beth Berkowitz, Approaches to Foreign Law in Biblical Israel and Classical Judaism through the Medieval Period, in: Christine Hayes (Hrsg.), The Cambridge Companion to Judaism and Law. New York 2017, S. 128 – 156 (hier S. 149 – 155). Vornehmlich an der Wahrnehmung jüdischer Existenz in der Diaspora und weniger an der Rechtssystematik und -praxis interessiert ist Sylvie Anne Goldberg, Common Law and Jewish Law. The Diasporic Principle of dina de-­malkhuta dina, in: Dan Diner (Hrsg.), The Theo-­Political Meaning of Diasporic Existence. Berlin 2008 (Behemoth. A Journal on Civilization 1, H. 2), S. 39 – 53.

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Verständnis primär aus dem Bereich des Handels- und Schuldrechts, soweit alle Beteiligten jüdisch waren. Eine Strafgewalt war dem jüdischen Gerichtswesen, wenn überhaupt, nur in sehr eingeschränktem Maß eingeräumt.20 Auch fehlte ihm in aller Regel, wenngleich nicht durchgängig, der eigene Instanzenzug. Eine Appellation war somit nur durch die Inanspruchnahme nichtjüdischer Gerichtsbarkeit möglich.21 Dina de-­malchuta dina – das Gesetz des Landes ist das Gesetz. Dem stand allerdings die strikte rabbinische Lehrmeinung gegenüber, wonach es selbst dann verboten war, gegen andere Juden Recht vor nichtjüdischen Richtern zu suchen, wenn dies im Einvernehmen der Parteien geschah und das Urteil jüdischem Recht entsprach.22 Und auch die historische Erfahrung jüdischer Gemeinden, die unter dem Schutz christlicher Obrigkeiten standen und deren Willkür und Gewalt doch immer wieder wehrlos ausgeliefert gewesen waren, stieß sich an diesem notwendigen Grundsatz. Wenn die Frankfurter Rabbiner sich rühmten, in ganz „Edom“ sei die an ihrer Talmudschule versammelte Gelehrsamkeit ohnegleichen,23 dann 20 Zumeist beschränkte sich dies auf die Verhängung geringer Strafgelder sowie auf intern wirksame Sanktionen, insbesondere die gestuften Bannstrafen mit Ausrufung (hachrasa), kleinem Bann (nidui) und großem Bann (cherem), seltener auch Körperstrafen (Geißelung). Vor allem die Praxis der Bannstrafen wurde von nichtjüdischer Seite vielfach als Rechtsanmaßung angegriffen. 21 Zu Bedingungen und Ausgestaltung jüdischer Rechtspflege und zur Rechtspraxis in der Frühen Neuzeit vgl. Andreas Gotzmann, Jüdische Autonomie in der Frühen Neuzeit. Recht und Gemeinschaft im deutschen Judentum. Göttingen 2008 (Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden, Bd. 32); Monika Preuss, „sie könten klagen, wo sie wollten.“ Möglichkeiten und Grenzen rabbinischen Richtens in der frühen Neuzeit. Göttingen 2014 (Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden, Bd. 43); Birgit E. Klein, Das jüdische Ehegüter- und Erbrecht der Frühneuzeit. Entwicklung seit der Antike und Auswirkungen auf das Verhältnis der Geschlechter und zur nichtjüdischen Gesellschaft. Ms. Habil., Berlin 2006. 22 So auch der erstmals 1565 gedruckte, schließlich zum allgemein zugänglichen Referenzwerk gewordene Kodex jüdischen Rechts des Josef Karo, Schulchan Aruch, Choschen Mischpat 26:1. Zulässig war allerdings die Inanspruchnahme nichtjüdischer Instanzen, wenn sich die gegnerische Partei geweigert hatte, vor den jüdischen Richtern zu erscheinen und diese daraufhin eine entsprechende Erlaubnis (heter arka’ot) erteilt hatten (Choschen Mischpat 26:2). Nach Auffassung mancher rabbinischer Autoritäten war es statthaft, sich ohne Einschaltung jüdischer Richter unmittelbar an eine nichtjüdische Instanz zu wenden, wenn ein unstreitiger Anspruch (chow barur) durchzusetzen war, da es hier nicht mehr um ein richterliches Urteil in der Sache ging. 23 So in einem Schreiben des Vorsitzenden des Rabbinatsgerichts und Leiters der Talmudschule in Frankfurt, Elieser Hirtz Treves, an seinen Günzburger Kollegen Isaak Segal vom 20. Dezember 1564. YIVO Institute, MK/428, fol. 2r; Zimmer, Aspects of the German Rabbinate (wie Anm. 2), S. 82.

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bedienten sie sich mit dieser Bezeichnung einer geläufigen Typologie, die das römisch-­deutsche Reich in die Nachfolge der Edomiter, der biblischen Erzfeinde, stellte.24 Vor dem Hintergrund eines solchen Narrativs war von den arka’ot schel gojim, den Instanzen der Nichtjuden, kein Recht zu erwarten, sondern grausame Willkür zu fürchten. Simon Günzburg musste sich vom Frankfurter Rabbinerkollegium und dem Reichsrabbiner Jakob vorhalten lassen, er habe ein todeswürdiges Verbrechen begangen, als er sich gegen Nathan nichtjüdischer Mächte bediente: Daran du dann Unnrecht gethan hast wie die Verrätter, deren Lohn ist, inn ein tieffe Gruben zu werffen unnd nit wiederumb heraußher zu thun. Das hastu auch verdienet;25 denn wer einen anderen Juden der nichtjüdischen Macht auslieferte, gab dessen Leben preis. Zudem wurde durch die Einschaltung fremder Instanzen die Autorität und Autonomie der jüdischen Gerichtsbarkeit empfindlich geschwächt. Kaum weniger scharf war daher auch der Vorwurf gegen die Rabbiner Schwabens, die Simon darin bestärkt hätten, das warhafftig Gesatz zu übertreten: wo ein Jud mit dem anndern zu schaffen hat, der soll sich mit dem Judischen Rechten ersättigen lassen unnd ihn vor keinem Christen-­Gericht beclagen oder verklainern, verpotten bey hohem Bann unnd manicherley Straffen.26 Auch von anderen rabbinischen Autoritäten wurde immer wieder das Unerhörte beklagt, dass Juden andere Juden vor die arka’ot schel gojim zogen. Eine solche Klage verfehlte jedoch deutlich die Verhältnisse des mittleren und späteren 16. Jahrhunderts. Die Auffassung, wonach mit den Juden als communi romano iure viventes rechtlich zu verfahren sei wie mit den Christen, hatte sich in

24 Dazu etwa Israel J. Yuval, Zwei Völker in deinem Leib. Gegenseitige Wahrnehmung von Juden und Christen in Spätantike und Mittelalter. Göttingen 2007 (Jüdische Religion, Geschichte und Kultur, Bd. 4), S. 24 – 33. 25 So ihr „Straff- und Warnungsbrieff“ an Simon vom 29. April 1565 in der deutschen Fassung, die Nathan Schotten beim Reichshofrat vorlegte; abgedruckt bei Stern, Der Wormser Reichsrabbiner (wie Anm. 5), S. 186 – 190, danach auch bei Zimmer, Aspects of the German Rabbinate (wie Anm. 2), S. 86 – 92. Das Bild von der Grube, in der man Ketzer, Verräter und Abtrünnige umkommen lässt, geht zurück auf eine im babylonischen Talmud tradierte Lehrmeinung; es bringt die Möglichkeit ins Spiel, den Übeltäter seiner Strafe zuzuführen, indem man ihn an die nichtjüdische Obrigkeit auslieferte. Die Frage, inwieweit es in der Frühen Neuzeit tatsächlich zur Verhängung solcher „indirekter“ Todesstrafen gekommen ist, diskutiert Birgit E. Klein, Wohltat und Hochverrat. Kurfürst Ernst von Köln, Juda bar Chajjim und die Juden im Alten Reich. Hildesheim/New York 2003 (Netiva, Bd. 5), S. 386 – 393. 26 „Straff- und Warnungsbrieff“ vom 29. April 1565 bei Stern, Der Wormser Reichsrabbiner (wie Anm. 5), S. 186 – 190; danach auch bei Zimmer, Aspects of the German Rabbinate (wie Anm. 2), S. 86 – 92.

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der juristischen Diskussion mehr und mehr durchgesetzt.27 Bei Reichskammergericht, Reichshofrat und anderen wichtigen Foren war sie in der gerichtlichen Praxis implementiert. Wenn sowohl Simon als auch Nathan – ein Jud mit dem anndern – ungeachtet des in Weil der Stadt abgelegten Eides ihr Recht nicht nur vor jüdischen, sondern auch vor „fremden“ Instanzen suchten, war das durchaus nicht mehr unerhört. Unbekannt war derartiges schon in früherer Zeit nicht gewesen;28 doch seit der Jahrhundertmitte nahm die Zahl solcher Fälle merklich zu. Dabei wird sich auch die Erfahrung einer veränderten Gerichtswirklichkeit in einer Zeit ausgewirkt haben, in der gerade Reichskammergericht und Reichshofrat vermehrt durch jüdische Kläger und Gesuchsteller in Anspruch genommen wurden.29 Und es waren keineswegs nur nüchterne Geschäftsleute, die sich – für 27 Friedrich Battenberg, Von der Kammerknechtschaft zum Judenregal. Reflexionen zur Rechtsstellung der Judenschaft im Heiligen Römischen Reich am Beispiel Johannes Reuchlins, in: Sabine Hödl/Peter Rauscher/Barbara Staudinger (Hrsg.), Hofjuden und Landjuden. Jüdisches Leben in der Frühen Neuzeit. Berlin/Wien 2004, S. 65 – 90, mit differenzierter Erörterung der Argumentation Reuchlins; Wilhelm Güde, Die rechtliche Stellung der Juden in den Schriften deutscher Juristen des 16. und 17. Jahrhunderts. Sigmaringen 1981. 28 Die Überzeugung, dass sich für das 13. bis 16. Jahrhundert kein Fall finden lasse, in dem ein Jude in Deutschland einen anderen Juden vor ein nichtjüdisches Gericht gezogen habe, vertrat noch Guido Kisch, Relations between Jewish and Christian Courts in the Middle Ages, in: Louis Ginzberg Jubilee Volume on the Occasion of his Seventieth Birthday, English Section. New York 1945, S. 201 – 225, mit eingehender Diskussion eines Falles, der dem zunächst zu widersprechen scheint; dagegen die auf breite Quellenbasis gestützte Einschätzung bei Dietmar Willoweit, Die Rechtsstellung der Juden, in: Arye Maimon/Mordechai Breuer/Yacov Guggenheim (Hrsg.), Germania Judaica, Bd. 3: 1350 – 1519, T. 3: Gebietsartikel, Einleitungsartikel und Indices. Tübingen 2003, S. 2165 – 2207 (hier S. 2192), dass in Streitfällen zwischen Juden die Anrufung eines nichtjüdischen Gerichts im Spätmittelalter „nichts Außergewöhnliches“ gewesen und oft auch dann erfolgt sei, wenn der Gang vor ein jüdisches Gericht möglich gewesen wäre. Auch wenn einige der hierfür angeführten Beispiele uneindeutig erscheinen, ist dem in der Tendenz doch kaum zu widersprechen. Vgl. auch Avraham Siluk, Innerjüdische Streitigkeiten vor christlichen Gerichten. Implikationen und Komplikationen jüdischer Normen, in: Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden 23 (2013), S. 151 – 181. 29 Das entsprach dem allgemein ab 1550 deutlich gewachsenen Verfahrensaufkommen und der besonderen Bedeutung, die der Zugang zur Höchstgerichtsbarkeit für die Juden im Reich besaß. Vgl. die einführenden Bemerkungen bei Friedrich Battenberg, Das Reichskammergericht und die Juden des Heiligen Römischen Reiches. Geistliche Herrschaft und korporative Verfassung der Judenschaft in Fürth im Widerspruch. Wetzlar 1992 (Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung, H. 13), S. 5 – 8; Anette Baumann, Jüdische Reichskammergerichtsprozesse aus den Reichsstädten Frankfurt und Hamburg. Eine quantitative Annäherung, in: Andreas Gotzmann/Stephan Wendehorst (Hrsg.), Juden im Recht. Neue Zugänge zur Rechtsgeschichte der Juden im Alten Reich. Berlin 2007 (Zeitschrift für historische Forschung, Beiheft 39), S. 298 – 316; Barbara Staudinger, Juden

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halachische Bedenklichkeiten unempfänglich – im Streit mit anderen Juden vor nichtjüdischen Instanzen wiederfanden. Elieser Hirtz Treves, der Vorsitzende des Rabbinatsgerichts zu Frankfurt, der gemeinsam mit dem Reichsrabbiner Jakob den Gang vor nichtjüdische Richter in scharfen Worten als verpotten bey hohem Bann unnd manicherley Straffen anprangerte, war selbst in eine Auseinandersetzung mit Rabbi Joseph auß Polen um die Kosten und Erlöse einer hebräischen Druckerei verstrickt, die sie gemeinsam eingerichtet hatten; nach vergeblichem Schlichtungsverfahren vor einem jüdischen Schiedsgericht erhob sein Kontrahent Klage beim Hofgericht zu Rottweil, auf dessen Ladung Treves 1562 Schultheiß und Schöffen der Stadt Frankfurt um Abforderung ersuchte.30 Im 17. und 18. Jahrhundert waren dann Klagen von Juden gegen Juden – und auch ein Vorgehen der Gemeindevorsteher gegen Widersacher und Widersetzliche in ihrer Gemeinde – vor niederen wie höchsten arka’ot schel gojim vollends eine gewöhnliche Erscheinung.31 Beim Reichskammergericht sind zwischen 1556 und 1804 allein aus Frankfurt annähernd 60 Verfahren anhängig geworden, in denen Kläger wie Beklagte Juden waren;32 und die Zahl der Fälle, in denen die städtische Gerichtsbarkeit in diesem Zeitraum mit Streitsachen zwischen jüdischen Parteien

am Reichshofrat. Jüdische Rechtsstellung und Judenfeindschaft am Beispiel der österreichischen, böhmischen und mährischen Juden 1559 – 1670. Ms. Diss., Wien 2001; Verena Kasper-­Marienberg, „vor Euer Kayserlichen Mayestät Justiz-­Thron“. Die Frankfurter jüdische Gemeinde am Reichshofrat in josephinischer Zeit (1765 – 1790). Innsbruck 2012 (Schriften des Centrums für Jüdische Studien, Bd. 19); André Griemert, Jüdische Klagen gegen Reichsadelige. Prozesse am Reichshofrat in den Herrschaftsjahren Rudolfs  II. und Franz I. Stephan. Berlin/München/Boston 2015 (bibliothek altes Reich, Bd. 16). 30 ISG Frankfurt a. M., Hofgericht Rottweil 384; vgl. Cilli Kasper-­Holtkotte, Die jüdische Gemeinde von Frankfurt/Main in der frühen Neuzeit. Familien, Netzwerke und Konflikte eines jüdischen Zentrums. Berlin/New York 2010, S. 102 f., Anm. 38, mit unrichtigen Einzelheiten. 31 Vgl. die instruktive Skizze bei Edward Fram, A Window on Their World. The Court Diary of Rabbi Hayyim Gundersheim. Frankfurt am Main 1773 – 1794. Cincinnati 2012, S. 50 – 62. Auf die Schilderung eines Einzelfalls und seiner Verwicklungen beschränkt sich Ronnie Po-­chia Hsia, Innerjüdische Konflikte und das Reichskammergericht. Die Judengemeinden und ihre Landesherren (1627 – 1629), in: Gotzmann/Wendehorst (Hrsg.), Juden im Recht (wie Anm. 29), S. 317 – 331. 32 Im Frankfurter Bestand sind 245 Verfahren mit jüdischen Klägern auszumachen; Inge Kaltwasser, Inventar der Akten des Reichskammergerichts 1495 – 1806. Frankfurter Bestand. Frankfurt a. M. 2000 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission der Stadt Frankfurt am Main, Bd. 21), S. 54. Der Anteil der Fälle, in denen sich Klagen von Juden gegen Juden richteten, ist also nicht unerheblich. Im Einzelnen bereitet die Zuordnung, etwa im Fall von gemischten Gläubigerkonsortien oder in Fällen des Glaubenswechsels, manchmal Schwierigkeiten, weshalb hier auf „scharfe“ Zahlenangaben verzichtet wird.

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befasst war, ist naturgemäß noch sehr viel größer.33 Dabei handelte es sich regelmäßig auch um Gegenstände, die an sich der Sphäre der jüdischen Gerichtsbarkeit zugewiesen waren: Neben Fällen aus dem Gebiet des Handels- und Schuldrechts begegnen vor allem solche des Ehe- und Erbrechts.34 Viele, aber keineswegs alle Kläger und Beklagte hatten zunächst den Spruch jüdischer Richter gesucht. Nicht ganz selten wurden in derselben Sache jüdische und nichtjüdische Instanzen gleichzeitig bemüht. Manchmal nahm man die jüdische Gerichtsbarkeit auch in Anspruch, nachdem das Verfahren vor dem nichtjüdischen Forum nicht das gewünschte Ergebnis gebracht hatte; denn wie ihre christlichen Zeitgenossen wussten auch jüdische Kläger und Widerkläger die frühneuzeitliche Gerichtsvielfalt zu nutzen, um ihre Interessen auf allen gangbaren Wegen zu verfolgen. Eine zeitliche Entwicklung, etwa im Sinn eines fortschreitenden Nachlassens der Bindekraft interner Strukturen und eines kontinuierlichen Niedergangs rabbinischer Autorität in den jüdischen Gemeinden des Ancien Régime,35 ist hier nur bedingt zu erkennen, zumal sich die Inanspruchnahme nichtjüdischer Instanzen in Streitsachen zwischen Juden unterhalb der Ebene der Höchstgerichtsbarkeit allenfalls ausschnitthaft nachvollziehen lässt.36 Viele Indizien sprechen allerdings für eine allgemeine Zunahme solcher Fälle im 18. Jahrhundert. Für die Reichsstadt Frankfurt ist ein gleichmäßiger Nachvollzug auf den verschiedenen Ebenen noch am ehesten möglich. Hier zeigt sich eine auffallende Besonderheit, die den Zusammenhang mit einer Schwächung der internen Instanzen wiederum nahelegt: 33 Allein der Bestand ISG Frankfurt a. M., Juden wider Juden, umfasst 207 Nummern, wobei diese Klassifizierung allerdings in einigen wenigen Fällen inhaltlich nicht nachvollziehbar erscheint. Zahlreiche weitere Streitsachen zwischen Juden finden sich insbesondere im Bestand Juden wider Fremde. Aus der Nennung der Vorinstanzen in Verfahrensakten der Höchstgerichtsbarkeit ergeben sich zusätzliche Hinweise auf anderweitig nicht mehr fassbare Fälle. 34 Darunter Ehe- und Scheidungssachen durchaus nicht nur aus dem Bereich des Ehegüterrechts; vgl. etwa ISG Frankfurt a. M., Juden wider Juden 49, 68, 71, 127, 161, 163, 182, 186, 196, 198. Nur in einem dieser Fälle scheint es zur Verweisung an das Konsistorium gekommen zu sein. Tatsächlich waren einem vielfach herangezogenen juristischen Kompendium des 18. Jahrhunderts zufolge „die Ehesachen derer Juden nicht als causae Ecclesiasticae anzusehen, sondern nur für blose Civil Sachen zu halten“ und „von dem weltlichen Richter zu entscheiden“; Johann Jodocus Beck, Tractatus de juribus Judaeorum. Von Recht der Juden […]. Nürnberg 1731, S. 428. 35 Dazu pointiert Gotzmann, Jüdische Autonomie (wie Anm. 21), S. 479 – 484. 36 Die Reichskammergerichtsakten im Münchener und Stuttgarter Bestand lassen solche Fälle vornehmlich als Erscheinung des 18. Jahrhunderts sehen. Anders im Düsseldorfer Bestand, wo die insgesamt wenigen Verfahren mit jüdischen Klägern vergleichsweise häufig Streitsachen zwischen Juden betreffen, wobei Fälle aus dem 17. Jahrhundert überwiegen. Angesichts letztlich geringer Fallzahlen sollten solche Feststellungen in ihrer Aussagekraft nicht überschätzt werden.

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Während des 16. und 17. Jahrhunderts begegnen Fälle, in denen Juden vor der städtischen Gerichtsbarkeit oder dem Reichskammergericht gegen andere Juden klagen, zunächst zu sporadisch, als dass aus ihrer zeitlichen Verteilung weitergehende Schlüsse gezogen werden könnten. Um die Mitte der 1670er Jahre aber steigt ihre Zahl hier wie dort signifikant an, und seither ist der Gang Frankfurter Juden vor die arka’ot schel gojim auch statistisch eine beständig greifbare Erscheinung.37 Diese Entwicklung fällt also in die Zeit jener heftigen Konflikte in der Führungsschicht der Frankfurter Judengasse, die als „Drach-­Kann’sche Wirren“ bekannt sind.38 Schon 1564 hatten die Warnungen der Rabbiner vor dem Unerhörten keine neuerdings bedrohte Wirklichkeit beschrieben. Sie beschworen vielmehr die Fiktion einer gesonderten, geschlossenen jüdischen Rechtssphäre, an der auch in der Folge festgehalten wurde: Noch 1781 erklärte der Frankfurter Oberrabbiner Pinchas Horowitz den Geltungsbereich des jüdischen Rechts derart holistisch, dass dies von Schultheiß und Schöffen der Stadt als Ablehnung jeglicher nichtjüdischer Gerichtsbarkeit aufgefasst werden musste.39 Die Auseinandersetzung zwischen den Rabbinern Frankfurts und Schwabens fällt in eine Zeit, in der nicht nur die allgemeine Bindekraft des jüdischen Gerichtswesens in Frage stand, sondern auch die Anbindung der räumlich gestreuten jüdischen Bevölkerung an die einzelnen Rabbinatsorte und ihre Gerichte fraglich geworden war. Denn mit der weitgehenden Vertreibung der Juden aus den größeren Städten im ausgehenden Mittelalter war auch ein Siedlungsgefüge zerstört, dessen Zentren die städtischen Gemeinden mit ihren Institutionen gewesen waren. Das alte Prinzip, wonach sich der Gerichtsstand nach dem Wohnort der Beteiligten bestimmte und der Gerichtssprengel eines Rabbinats dem Einzugsbereich des Friedhofs am Rabbinatssitz entsprach, ließ sich unter diesen veränderten Bedingungen weithin nicht mehr anwenden.40 So war auch Augsburg im 16. Jahrhundert eine Stadt ohne jüdische Gemeinde. Unbestrittene Hauptgemeinde im jüdischen 37 Diese Angaben stützen sich auf eine Auswertung des Bestandes ISG Frankfurt a. M., Juden wider Juden, und der Verzeichnung bei Kaltwasser, Inventar der Akten des Reichskammergerichts (wie Anm. 32). 38 Vgl. Kasper-­Holtkotte, Die jüdische Gemeinde von Frankfurt/Main (wie Anm. 30), S. 274 – 336. 39 Preuss, „sie könten klagen, wo sie wollten“ (wie Anm. 21), S. 48 – 50; mit abweichender Tendenz Fram, A Window on Their World (wie Anm. 31), S. 59 f. 40 Ein Beispiel für den bis ins ausgehende 18. Jahrhundert wirksamen Zusammenhang zwischen Friedhofs- und Gerichtsbezirk bei Monika Preuss, „… seine frau hette mit hemspacher zu dohn, man solle den rabe von richen brufen“. Konstellationen rabbinischer Zuständigkeit in der Kondominatsherrschaft Heinsheim im 18. Jahrhundert, in: Gotzmann/Wendehorst (Hrsg.), Juden im Recht (wie Anm. 29), S. 207 – 219 (hier S. 207 – 213).

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Schwaben war nun Günzburg, Sitz des Rabbinats und zugleich vorderösterreichischer Verwaltungssitz; doch der Bezirk des Rabbinatsgerichts bestimmte sich nur annähernd durch die territoriale Zugehörigkeit. Denn zum einen fand sich eine jüdische Bevölkerung gerade in den kleinen und kleinsten Herrschaftsgebieten, die in das territorium non clausum der Markgrafschaft Burgau eingesprengt waren; und zum anderen rechnete man zu „Schwaben“ auch die Juden in einem weiteren Umkreis jenseits des Bereichs der Markgrafschaft – diesseits der Gravitationskraft der nächstbenachbarten Rabbinatssitze. Die räumlichen Konturen frühneuzeitlicher jüdischer „Gerichtslandschaften“ waren zunächst vielfach weder selbsterklärend noch sehr beständig. Mit der fortschreitenden Verdichtung territorialer Herrschaft kam es jedoch, in durchaus ungleichmäßigen Verläufen und in unterschiedlicher Intensität, zu ihrer Arrondierung entlang der Herrschaftsgrenzen.41 Der Vertrag, den Simon und Nathan 1553 schlossen, verweist bereits auf eine kleinräumige Territorialisierung, indem er als Schlichtungsinstanz ein Schiedsgericht entweder in Günzburg oder in Neuburg an der Kammel vorsieht. Denn dass sich der Marktflecken Neuburg als möglicher Gerichtsort nahelegte, war auch die Folge eines konsequenten Durchgriffs der dortigen Ortsherrschaft auf ihre jüdischen wie christlichen Untertanen, der die Ausbildung eigenständiger Strukturen und Institutionen innerhalb ihres Herrschaftsbezirks wesentlich förderte. So hatten die Neuburger Juden nicht nur ihren eigenen Rabbiner, sondern auch eigene Rabbinatsrichter; und durch die Ortsherrschaft wurde auf die Loslösung von fremder Gerichtsbarkeit auch im jüdischen Gerichtswesen nachdrücklich hingewirkt. Der Herrschaftsbeamte habe die Juden des Ortes angewiesen, sie sollten sich nicht mit dem Rest des Landes Schwaben vermischen, heißt es 1575, weshalb sie Vorladungen und Banndrohungen des Rabbinatsgerichts in Günzburg unbeachtet ließen.42 Eine solche Entwicklung, in deren Zuge die gemeindliche und gemeindeübergreifende Selbstorganisation – und somit 41 Den aus den Quellen so nicht herzuleitenden Eindruck überzeitlicher Beständigkeit erweckt das Ordnungsschema der Dokumentation von Daniel J. Cohen, Die Landjudenschaften in Deutschland als Organe jüdischer Selbstverwaltung von der frühen Neuzeit bis ins 19. Jahrhundert. Eine Quellensammlung, 3 Bde. Jerusalem 1996 – 2001; vgl. auch die hieran angelehnte Systematik der Landesrabbinate des 17. und 18. Jahrhunderts bei Carsten Wilke, Biographisches Handbuch der Rabbiner, T. 1: Die Rabbiner der Emanzipationszeit in den deutschen, böhmischen und großpolnischen Ländern 1781 – 1871, Bd. 1: Aach–Juspa. München 2004, S. 58 – 6 4. 42 Stefan Rohrbacher, Medinat Schwaben. Jüdisches Leben in einer süddeutschen Landschaft in der Frühneuzeit, in: Rolf Kießling (Hrsg.), Judengemeinden in Schwaben im Kontext des Alten Reiches. Berlin 1995 (Colloquia Augustana, Bd. 2), S. 80 – 109 (hier S. 100 f.); vgl. Cohen, Die Landjudenschaften in Deutschland (wie Anm. 41), Bd. 3. Jerusalem 2001, S. 1460 – 1467.

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auch die jüdische Gerichtsbarkeit – in ihren weiträumigeren Zusammenhängen geschwächt wurde, zugleich aber innerhalb eines engeren, obrigkeitlich gesetzten Rahmens stärker konturiert, bestätigt und gefestigt werden konnte, ist im mittleren und späteren 16. Jahrhundert vielerorts auszumachen.43 Im jüdischen Rechtswesen fand sie ihr Echo in der Bekräftigung des Wohnortprinzips und in der Abwehr von Vorladungen und Entscheidungen auswärtiger rabbinischer Autoritäten und Foren.44 Organisation und Praxis jüdischer Gerichtsbarkeit im 16. Jahrhundert sind quellenmäßig nur schlecht fassbar. Für gewöhnlich wird ein Gericht (bet din) aus dem Rabbiner als Gerichtsvorsitzendem (aw bet din) und zwei beisitzenden Richtern (dajanim) gebildet. In Neuburg an der Kammel waren die ortsansässigen Beisitzer wohl, wie auch andernorts oft, juristisch geschulte Laien. Als ständiger Gerichtshof kann das Rabbinatsgericht auch als Schiedsgericht für alle in seinem Einzugsbereich vorkommenden Fälle fungieren. Für das 16. Jahrhundert ist ein solcher Gerichtshof jedoch selbst an bedeutenderen Rabbinatssitzen noch nicht allgemein vorauszusetzen: Das Rabbinatsgericht konstituierte sich zunächst, unter Federführung des Rabbiners, lediglich fallweise, wobei die Streitparteien immerhin Befangenheitsbesorgnisse geltend machen konnten. Soweit es lediglich auf die verständige Betrachtung des Falles und die Beachtung des Herkommens ankam und nicht auch auf die besonderen Rechtsnormen der Halacha, musste das jüdische Gericht nicht notwendigerweise spezifisch jüdisches Recht zur Anwendung bringen.45 Zu Beginn des Verfahrens hatten die Richter die Streitparteien zu befragen, ob sie ein richterliches Urteil nach dem Wortlaut des Gesetzes (din) oder einen Schiedsspruch nach Recht und Billigkeit (peschara) wünschten.46 Wenn beide Parteien dem gerichtlichen Schiedsverfahren zustimmten, hatten sie den Schiedsspruch als bindend anzuerkennen. Verhandlungen erfolgten mündlich und unmittelbar, wobei eine gerichtliche Rechtsvertretung zulässig und weithin üblich war. 43 Die burgauische Judenordnung von 1534 behandelt zwar die Frage des Gerichtsstandes, lässt aber ein jüdisches Gerichtswesen noch unerwähnt; Rosemarie Mix, Die Judenordnung der Markgrafschaft Burgau von 1534, in: Kießling/Ullmann (Hrsg.), Landjudentum im deutschen Südwesten (wie Anm. 3), S. 23 – 57. 44 Zum Beschluss einer 1542 in Worms versammelten Synode von Rabbinern und Gemeindevertretern, der für solche Eingriffe in die Sphäre der örtlichen jüdischen Gerichtsbarkeit die Bannstrafe vorsah, Eric Zimmer, Jewish Synods in Germany during the Late Middle Ages (1286 – 1603). New York 1978, S. 140 – 147; vgl. jedoch Gotzmann, Jüdische Autonomie (wie Anm. 21), S. 109, Anm. 18. 45 Dies galt für den Bereich des Vermögensrechts insbesondere, wenn Verträge vorlagen, deren Verständnis durch die Streitparteien zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses maßgeblich für die Entscheidungsfindung war. 46 Schulchan Aruch, Choschen Mischpat 12:2. Im Schiedsverfahren kam u. a. ein vereinfachtes Beweisverfahren zur Anwendung.

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Verweigerte sich der Streitgegner dem Verfahren vor dem jüdischen Gericht oder suchte er es zu verschleppen, so durfte der Kläger unter bestimmten Voraussetzungen den Gottesdienst unterbrechen und öffentliche Beschwerde in der Synagoge erheben (jiddisch klamen, von lateinisch clamare), bis sein Widerpart sich fügte. Entscheidungen des Gerichts waren von allen Richtern zu unterschreiben, eine Mindermeinung wurde nicht vermerkt.47 Nach ergangener Entscheidung wurden die Akten versiegelt, in manchen Fällen auch vernichtet, um eine Wiederaufnahme der Streitsache an anderer Stelle zu erschweren. Der Vertrag von 1553 sah die Beilegung möglicher Unstimmigkeiten nicht durch ein Rabbinatsgericht, sondern durch ein für den Einzelfall gebildetes Schiedsgericht (bet din schel borerim) vor: Jede der Streitparteien wählte sich einen Schiedsmann, gemeinsam bestimmten diese beiden den dritten Schiedsmann, der den Vorsitz führte. Simon und Nathan wählten ihre Schiedsleute unter den Rabbinern, doch je nach Gegenstand und Fallgestaltung konnte ein Schiedsgericht auch ohne deren Mitwirkung gebildet werden. Der hohen Bedeutung der Schiedsgerichtsbarkeit in der jüdischen Rechtssphäre entspricht es, dass die Quellen oft nicht erkennen lassen, um welche Art von bet din, Gericht, es sich jeweils handelt; zugleich lassen sie das Schiedsgericht, seine Zusammensetzung und Tätigkeit weitgehend im Dunkeln. Der Streitfall des Simon und des Nathan erlaubt hier einige Einblicke. Detailreich wird geschildert, welche Manöver von den Streitparteien verfolgt wurden, um bei der Auswahl geeigneter Schiedsleute nicht ins Hintertreffen zu geraten. Deutlich wird auch, was es hieß, ein Schiedsgericht an neutralem Ort einzuberufen, nachdem das Wohnortprinzip nicht griff. Gesucht wurde ein Ort außerhalb des Einflussbereichs beider Parteien, und da man es streng nahm, bedeutete dies: Ein Ort ohne jüdische Gemeinde; zugleich musste dies aber ein Ort sein, an dem ein jüdisches Schiedsgericht, womöglich für mehrere Verhandlungstage, Aufnahme fand und den Speisegeboten und sonstigen Notwendigkeiten entsprechend versorgt werden konnte. Etliche Vorschläge erwiesen sich als nicht praktikabel oder wurden aus anderen Gründen verworfen, ehe man in Weil der Stadt zusammenkam.48 Eine solche Praxis scheint für spätere Zeit nicht mehr belegt zu sein. Die Verhandlung in Weil der Stadt verdient auch deshalb Beachtung, weil hier der Wormser Reichsrabbiner Jakob in seiner herausgehobenen Rolle als oberster Richter und Schlichter der Judenheit im Reich in Erscheinung tritt: Er nahm sie wahr, indem er in dem hochrangig besetzten fünfköpfigen Schiedsgericht den Vorsitz führte. Nach seinem Tod um 1574 wurde das Amt des Reichsrabbiners, in dem die jüdi 47 Vgl. das auch im mittel- und osteuropäischen Raum breit rezipierte Werk des Kodifikators Chaim Benveniste, Knesset ha-­gedola [hebr.]. Izmir 1721, Choschen Mischpat 19:7. 48 YIVO Institute, MK/428, fol. 7v; Zimmer, Aspects of the German Rabbinate (wie Anm. 2), S. 31.

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schen Gemeinden im Reich immerhin eine übergeordnete gemeinsame Instanz hatten sehen können, nicht mehr besetzt. Die durch den Streit zwischen Simon und Nathan angestoßenen Auseinandersetzungen zwischen den Rabbinern Frankfurts und Schwabens, an denen er unmittelbaren Anteil genommen hatte, fanden jedoch ihre Fortsetzung über seinen Tod hinaus. Die schwäbischen Gemeinden erwählten sich in der Folge regelmäßig Rabbiner, die gegen ein Hegemoniestreben der Frankfurter standen, und erwirkten für sie regelmäßig kaiserliche Konfirmationen ihrer 1566 erwirkten Freiheiten, die dem Günzburger Rabbinat die Autonomie gegenüber anderen jüdischen Instanzen und die alleinige und ausnahmslose Zuständigkeit für die Juden des Landes Schwaben zubilligten – und zwar ausdrücklich nicht nur für jene, die dort wohnten, sondern auch für solche, die dort einmal gewohnt hatten.49 Als 1603 in Frankfurt eine Versammlung von Rabbinern und Vertretern der Gemeinden zusammenkam, um gemeinsame Angelegenheiten zu ordnen, verweigerten sich die schwäbischen Juden der Teilnahme, weil sie eine Majorisierung und die Beschneidung der Unabhängigkeit ihrer Gerichte fürchteten. Als politische Verschwörung der Juden im Reich gegen die christliche Obrigkeit denunziert, sollten diese Versammlung und ihre Beschlüsse gravierende und lange nachwirkende Folgen haben.50 Tatsächlich wurde auf der Frankfurter Versammlung der Versuch unternommen, die Gerichtsbarkeit der Judenheit in deutschen Landen mit Frankfurt, Worms, Fulda, Friedberg und Günzburg als besonderen Gerichtsorten zu stärken. Mit der Benennung dieser angesehenen Rabbinatssitze verband sich jedoch kaum die Vorstellung künftiger Gerichtssprengel.51 Die Verhöre der Vertreter jüdischer Gemeinden im Zuge des nachfolgenden Hochverratsprozesses ergeben denn auch kein deutliches Bild einer räumlich geordneten Gerichtslandschaft.52 Zu einer überörtlichen und gebietsübergreifenden Straffung und Struk 49 Rohrbacher, Ungleiche Partnerschaft (wie Anm. 3), S. 216; Cohen, Die Landjudenschaften in Deutschland (wie Anm. 42), S. 1455 – 1459. 50 Volker Press, Kaiser Rudolf II. und der Zusammenschluss der deutschen Judenheit. Die sogenannte Frankfurter Rabbinerverschwörung von 1603 und ihre Folgen, in: Alfred Haverkamp (Hrsg.), Zur Geschichte der Juden im Deutschland des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. Stuttgart 1981 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters, Bd. 24), S. 243 – 293; Klein, Wohltat und Hochverrat (wie Anm. 25), S. 287 – 374. 51 Die benannten Gerichte sollten über besondere Zitationsbefugnisse gegenüber Streitparteien – unabhängig von deren Wohnort – verfügen, die ihre Streitgegner vor nichtjüdische oder auswärtige Instanzen zwingen wollten. Vgl. aber Daniel J. Cohen, Die Entwicklung der Landesrabbinate in den deutschen Territorien bis zur Emanzipation, in: Haverkamp (Hrsg.), Zur Geschichte der Juden (wie Anm. 50), S. 221 – 242 (hier S. 235 f.). 52 Nicht nachvollziehbar ist die Annahme einer ungefähren Übereinstimmung mit den Reichskreisen bei Wilke, Biographisches Handbuch (wie Anm. 41), S. 49. Vgl. die summarische Aufstellung der Aussagen aus den Verhören bei Kasper-­Holtkotte, Die jüdische Gemeinde

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turierung der jüdischen Gerichtsbarkeit konnte es in der Folge nicht mehr kommen. Stattdessen wurde das Gerichtswesen der Juden in den einzelnen Territorien zunehmend aus seinen gebietsübergreifenden Zusammenhängen gelöst, durchaus nicht immer und von vornherein im Sinne einer Schwächung seiner Autonomie, aber mit der Folge einer weiteren Fragmentierung und der Entstehung höchst verschiedenartiger Verhältnisse und einer Unzahl von Besonderheiten. Eine über die Reihung von Einzelbeispielen hinausgehende Darstellung dieser Gegebenheiten in einigermaßen gebündelter Form bleibt ein Desiderat. Jüdische Gerichtsbarkeit war keineswegs die alleinige Domäne des Rabbinats. Nicht nur das Schiedswesen, sondern auch die Gemeindegerichtsbarkeit war weitgehend von Laien getragen. Und während die Vorstellung eines Gerichtshofs als ständiger Einrichtung am Rabbinatssitz noch kaum den Verhältnissen des 16. Jahrhunderts entspricht, ist ein mehr oder weniger regelmäßiges Wirken der Gemeindevorsteher als Richtergremium durchaus schon anzunehmen.53 Während der gesamten Frühen Neuzeit blieb das Neben- und Gegeneinander von Rabbinats- und Laiengerichten in seinen unterschiedlichen und wechselnden Ausprägungen ein bestimmendes Merkmal jüdischer Gerichtsvielfalt. So sieht in Frankfurt erst eine Gemeindeverordnung von 1621 die Einrichtung eines ständigen Rabbinatsgerichts (bet din kawua) vor.54 Seit 1653 sollte dieses Gericht für alle Vermögensklagen zuständig sein. Im 18. Jahrhundert war es in zwei Kammern organisiert, die in festem Turnus abwechselnd tätig waren.55 Die Gemeindestatuten von 1674/75 bestimmen allerdings, dass Injurien- und Vermögenssachen durch die Vorsteher der Gemeinde zu richten sind, wie auch aus unseren Privilegien hervorgeht, und wie es auch die Vorsteher in früheren Tagen gehalten haben.56 Tatsächlich verwiesen die hier als Privilegien

von Frankfurt/Main (wie Anm. 30), S. 485 – 487; eingehend diskutiert bei Gotzmann, Jüdische Autonomie (wie Anm. 21), S. 102 – 126. 53 Vgl. bereits Jakob Katz, Tradition und Krise. Der Weg der jüdischen Gesellschaft in die Moderne. München 2002, S. 102 (hebräische Originalausgabe 1958). 54 Gotzmann, Jüdische Autonomie (wie Anm. 21), S. 131; vgl. auch Jay R. Berkovitz, Protocols of Justice. The Pinkas of the Metz Rabbinic Court 1771 – 1789, Bd. 1. Leiden/Boston 2014 (Studies in Jewish History and Culture, Bd. 44), S. 52, wonach in der Gemeinde Metz noch um 1710 kein bet din kawua bestand. 55 Vgl. Gotzmann, Jüdische Autonomie (wie Anm. 21), S. 243; Hinweise auf ähnliche Konstellationen in anderen Gemeinden bei Fram, A Window on Their World (wie Anm. 31), S. 30 f. Während der Messen fungierte zudem ein besonderes Handelsgericht zur Vornahme von Rechtsgeschäften und Beilegung von Streitsachen unter Mitwirkung auswärtiger Rabbiner. 56 Der jiddische Text bei Stefan Litt, Jüdische Gemeindestatuten aus dem aschkenasischen Raum 1650 – 1850. Göttingen 2014 (Archiv jüdischer Geschichte und Kultur, Bd. 1), S. 53 – 82

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angesprochenen Bestimmungen der Frankfurter Stättigkeit 57 Sachen und Händel, die zwischen Juden gütlich auszumachen waren, in die Zuständigkeit der Vorsteher oder der Rabbiner, in beyseyn unpartheyischer Persohnen, und wem sie sonsten bey sich leiden möchten, während Frevel, und andere wichtige Sachen vor den Rat der Stadt gehörten.58 Eine klare und in der Praxis unstreitige Abgrenzung der Kompetenzen darf auch für spätere Zeiten nicht vorausgesetzt werden.59 So war 1754 eigens festzuhalten, dass die Vorsteher Streitsachen, bei denen eine der Parteien auf Jüdische Rechten sich berufe, also ein Urteil nach dem Wortlaut des Gesetzes verlangte, ohne weiteres an das Rabbinatsgericht abgeben mussten und auch keine Fälle an sich ziehen durften, die dort bereits anhängig waren.60 In der jüdischen Gemeinde Fürth, die im süddeutschen Raum eine Vorrangstellung einnahm, war die Handhabung der Gerichtsbarkeit vergleichsweise wenig strittig. Das 1719 durch die dompröpstlich-­bambergische Regierung gegebene Reglement überließ Zweytracht und Stritthändel, der Judinnen und Juden, so wohl an Geld- oder andern Differentien unter Ihnen selbsten der Verhandlung und Entscheidung der Rabbiner nebst denen Jüdischen Juristen, der Vorsteher oder der durch die Streitparteien gewählten Compromissarien und versicherte die jüdische Instanz bei der Exekution unserer Obrigkeitlichen Hülf, bis sich Widersetzliche ohne einige Appellation fügten.61 Die umfassenden Gemeindestatuten von 1770 betonten die innergemeindliche Unabhängigkeit des Rabbinatsgerichts, dessen Organisation

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(hier S. 80); die dort gebotene deutsche Übersetzung (S. 497) verkennt die Bezugnahme auf die Frankfurter Judenstättigkeit. Als „Stättigkeit“ wurde in Frankfurt sowohl das Aufenthaltsrecht und der Schutzstatus der Juden als auch die Gesamtheit der besonderen Regelungen bezeichnet, denen sie in der Stadt unterworfen waren („Judenordnung“). Der Juden Stättigkeit zu Franckfurt. [ohne Ort, 1661], S. 19, § 98; vgl. bereits Der Juden zu Franckfurt Stättigkeit und Ordnung. Frankfurt a. M. 1613, S. 33 f. Zur jurisdiktionellen Betätigung der Vorsteher im 17. Jahrhundert vgl. etwa ISG  Frankfurt a. M., Juden Akten 394 mit einer Aufstellung erkannter Strafen; zur Verhängung der Bannstrafe auch Juden Akten 107 (1776). Vgl. dagegen die säuberliche Unterscheidung, wonach „in Ehe-­Sachen, Aussteurungen und Ehe-­Scheidungen vor denen Rabbinen, als welche die geistliche Jurisdiction exerciren“, verhandelt werde, dagegen „in Erbschafftlichen Successions-­Fällen und Testaments-­Sachen, weniger nicht Stritt und Irrungen so ein Jud wieder den andern hat, vor denen Barnosen [Vorstehern, Anm. SR], als welche die weltliche Jurisdiction, in gewieser Maße, administriren“, bei Beck, Tractatus de juribus (wie Anm. 34), S. 428 f. Gotzmann, Jüdische Autonomie (wie Anm. 21), S. 222. Abgedruckt bei [Andreas Würfel,] Historische Nachricht von der Judengemeinde in dem Hofmarkt Fürth unterhalb Nürnberg. Frankfurt a. M./Prag 1754, S. 11 – 21 (hier S. 14). Zu weitläufigen Auseinandersetzungen um die Geltung dieses Reglements und die erstinstanzlichen Zuständigkeiten 1745 – 1750 BayHStA, RKG 7295.

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und Funktionsweise detailliert und systematisch beschrieben wird.62 Wohlgeordnet war auch die Gerichtsbarkeit in dem komplexen Gefüge der drei Gemeinden in Altona, Hamburg und Wandsbek unter gemeinsamem Oberrabbinat mit Sitz in Altona, wenngleich ihre Zuständigkeiten und Befugnisse unter dem Vorzeichen der Rivalität zwischen der Hansestadt Hamburg und der dänischen Krone vielfach strittig waren und immer wieder Veränderungen unterlagen.63 Verstöße gegen die Gemeindedisziplin wurden hier durch Vorsteher und Oberrabbiner gemeinsam judiziert; dieses Gremium war auch für die Festsetzung von Strafgeldern nach ergangenem Urteil des Rabbinatsgerichts zuständig. In der Markgrafschaft Brandenburg-­Ansbach setzte sich das Gericht dagegen nach Ordnung und Privilegien einer gesamten Schutz-­Judenschafft von 1759 stets aus dem Rabbiner und Vorstehern als Beisitzern zusammen.64 Im Jüdischen ersten Instanzgericht des Hochstifts Fulda wirkten damals neben dem Rabbiner Deputirte aus den Gemeinden als Beisitzer, ohne die er eigentlich gar keine auch geringere Sachen fürnehmen sollte.65 Im territorial zersplitterten Herzogtum Braunschweig-­Wolfenbüttel hielt sich lediglich der Hoffaktor Samson Gumpel zu Wolfenbüttel einen Rabbiner, der 1755 auch als Landrabbiner des entlegenen Weserkreises eingesetzt wurde; er durfte jedoch – offenbar als Einzelrichter – Streitsachen ausschließlich gütlich vergleichen und sich ansonsten keiner Cognition unterstehen, am wenigsten […] einer Verfügung in Geld- und Handlungs-­Sachen.66 Eine solche Liste der Besonderheiten ließe sich beliebig verlängern. Es waren nicht nur „Eingriffe“ durch die jeweilige Obrigkeit, sondern auch die unterschiedlichen und veränderlichen Konstellationen im Geschiebe einer jüdischen Gemeindepolitik, die zu solch disparatem und wechselhaftem Bild führen. Auch die oft anzutreffende Lesart dieses Bildes im Sinne eines fortschreitenden Autoritätsverlustes des Rabbinats und immer weitergehender Beschränkung einer eigenen jüdischen Gerichtsbarkeit im 17. und 18. Jahrhundert findet durch neuere Einzeluntersu 62 Der hebräisch-­jiddische Text bei Litt, Jüdische Gemeindestatuten (wie Anm.  56), S. 136 – 273 (hier S. 237 – 249); eine detailreiche, aber nur eingeschränkt nachvollziehbare Abhandlung der Fürther Gemeindeverfassung bei Friedrich Neubürger, Verfassungsrecht der gemeinen Judenschaft zu Fürth und in dessen Amt im 18. Jahrhundert, in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 45 (1901), H. 4, S. 404 – 422; H. 5, S. 510 – 539 (hier S. 521 – 529). 63 Der Versuch einer knappen Zusammenfassung bei Wilke, Biographisches Handbuch (wie Anm. 41), S. 52 – 54. 64 Ordnung und Privilegien einer gesamten Schutz-­Judenschafft im Markgrafthum Onolzbach. [Ansbach] 1759, S. 10 f. 65 Cohen, Die Landjudenschaften in Deutschland (wie Anm. 41), Bd. 2. Jerusalem 1997, S. 767 – 768. 66 Cohen, Die Landjudenschaften in Deutschland (wie Anm. 42), S. 1687.

Jüdische Gerichtsbarkeit in der Frühen Neuzeit

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chungen etwa zu Frankfurt und dem Hochstift Würzburg keine Bestätigung.67 Erst mit dem Ende des Alten Reichs kam, rasch und fast ausnahmslos, die Auflösung des jüdischen Gerichtswesens.68 Damit war dann auch das Rabbinat nicht mehr im Kern und in seinem höchsten Anspruch Juristerei; es wurde nun umgemodelt zur Geistlichkeit, und das Judentum zur religiösen Konfession.

67 Preuss, „sie könten klagen, wo sie wollten“ (wie Anm. 21). 68 Andreas Gotzmann, Jüdisches Recht im kulturellen Prozess. Die Wahrnehmung der Halacha im Deutschland des 19. Jahrhunderts. Tübingen 1997 (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts, Bd. 55). Als letzter rabbinischer Gerichtshof im westlichen Europa fungierte jener im dänischen Altona bis 1863.

Marian Füssel

Akademische Gerichtsbarkeit im Alten Reich: Normen, Verfahren, Sanktionen Aus Sicht der Universitätsgeschichtsschreibung war die eigene Gerichtsbarkeit schon immer ein zentraler Aspekt, da sich an ihr wie an kaum einem anderen Phänomen der Hochschulgeschichte die korporative Autonomie und rechtliche Privilegierung der Universitäten zeigt.1 Die Historiographie zur akademischen Gerichtsbarkeit an den Universitäten des Alten Reiches hat jedoch bis in die jüngste Zeit sowohl mit Tendenzen der Über- wie der Unterforschung zu kämpfen.2 Besondere Aufmerksamkeit zogen seit jeher die spektakulären Fälle 3 studentischer Devianz vom Pennalismus 4 über Duelle bis zu öffentlichen Tumulten auf sich, während die rechtshistorischen Dimensionen der Verfahrens- und Verwaltungsgeschichte weit weniger Aufmerksamkeit erfuhren. Was für viele Universitäts­ historiker als ein Zuviel an Rechtsgeschichte erschien, war den Rechtshistorikern im Vergleich mit Reichs- und Territorialgerichtsbarkeit vielleicht wiederum ein zu spezieller korporativer Sonderfall. Angesichts der enorm dichten Universitätslandschaft des Alten Reiches, mit am Ausgang des 18. Jahrhunderts fast fünfzig

1 Vgl. bereits die Darstellung einiger der Begründer moderner Universitätshistoriographie: Johann David Michaelis, Raisonnement über die protestantischen Universitäten in Deutschland, 4 Bde., Bd. 4. Frankfurt/Leipzig 1776, S. 164 – 514; Christoph Meiners, Geschichte der Entstehung und Entwicklung der hohen Schulen unseres Erdtheils, 4 Bde. Göttingen 1802 – 1805, Bd. 2 (1803), S. 50 – 128. Zur älteren Literatur bis 1900 vgl. Wilhelm Erman/Ewald Horn, Bibliographie der deutschen Universitäten, Bd. 1. Leipzig/ Berlin 1901, S. 176 – 182. 2 Als kurze Überblicke vgl. Stefan Brüdermann, Akademische Gerichtsbarkeit, in: Ulrich Rasche (Hrsg.), Quellen zur frühneuzeitlichen Universitätsgeschichte. Typen, Bestände, Forschungsperspektiven. Wiesbaden 2011 (Wolfenbütteler Forschungen, Bd. 128), S. 209 – 224; Heiner Lück, Art. Universitätsgerichtsbarkeit, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 13. Stuttgart 2011, Sp. 1040 – 1043; Bettina Bubach, Art. Akademische Gerichtsbarkeit, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 1. 2. Aufl. Berlin 2008, Sp. 107 – 111. 3 Notker Hammerstein, Die schwierigen Fälle akademischer Gerichtsbarkeit, in: Andreas Fahrmeier/Sabine Freitag (Hrsg.), Mord und andere Kleinigkeiten (Festschrift Peter Wende). München 2001, S. 47 – 57. 4 Matthias Hensel (Hrsg.), Pennalismus: ein Phänomen protestantischer Universitäten im 17. Jahrhundert. Leipzig 2014; Marian Füssel, Riten der Gewalt. Zur Geschichte der akademischen Deposition und des Pennalismus in der frühen Neuzeit, in: Zeitschrift für historische Forschung 32/4 (2005), S. 605 – 6 48.

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Hochschulen, handelt es sich jedoch schon rein quantitativ um einen nicht zu vernachlässigenden Bereich.5 Zu der Gerichtsbarkeit der allermeisten Hochschulen liegen einzelne Aufsätze vor, Monographien sowie vergleichende Studien verbleiben aber bislang in überschaubarem Rahmen. Einen ersten Überblick hat 1891 Friedrich Stein vorgelegt, erst 2002 folgte aus juristischer Perspektive eine weitere Synthese von Klaus Michael Alenfelder.6 Als gewinnbringender erweisen sich die ausführlichen Lokalstudien zu Marburg von Peter Woeste (1987), zu Göttingen von Stefan Brüdermann (1990) und zu Freiburg von Kim Siebenhüner (1999) und Bettina Bubach (2005).7 Insbesondere Brüdermanns Studie zu Göttingen kann dabei als Standardwerk gelten, das Maßstäbe gesetzt hat. Die einzige Einschränkung diesbezüglich ist, wie noch zu zeigen sein wird, dass die Göttinger Situation im 18. Jahrhundert eine ganz eigene war und keineswegs eins-­zu-­eins auf andere Universitäten des Reiches übertragen werden darf. Mit Ausnahme Freiburgs ergibt sich ferner auch in konfessioneller Hinsicht ein gewisses Forschungsungleichgewicht, standen doch bislang vor allem die studentische Devianz an protestantischen Hochschulen wie Leipzig,8 ­Wittenberg,9 5 Vgl. Thomas Ellwein, Die deutsche Universität. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Wiesbaden 1997, S. 321 – 323. 6 Friedrich Stein, Die akademische Gerichtsbarkeit in Deutschland. Leipzig 1891; Klaus Michael Alenfelder, Akademische Gerichtsbarkeit. Baden-­Baden 2002 (Bonner Schriften zum Wissenschaftsrecht, Bd. 7), S. 185 – 188. 7 Peter Woeste, Akademische Väter als Richter. Zur Geschichte der akademischen Gerichtsbarkeit der Philipps-­Universität unter besonderer Berücksichtigung von Gerichtsverfahren des 18. und 19. Jahrhunderts. Marburg 1987 (Marburger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur, Bd. 22); Stefan Brüdermann, Göttinger Studenten und akademische Gerichtsbarkeit im 18. Jahrhundert. Göttingen 1990 (Göttinger Universitätsschriften, Serie A, Bd. 15); Kim Siebenhüner, „Zechen, Zücken, Lärmen“. Studenten vor dem Freiburger Universitätsgericht 1561 – 1577. Freiburg 1999 (Alltag & Provinz, Bd. 9); Bettina Bubach, Richten, Strafen und Vertragen. Rechtspflege der Universität Freiburg im 16. Jahrhundert. Berlin 2005 (Freiburger Rechtsgeschichtliche Abhandlungen, NF., Bd. 47). 8 Siegfried Hoyer, Die Gerichtsbarkeit der Universität Leipzig bis zum Ende des 15. Jahrhunderts, in: Rechtsbücher und Rechtsordnungen im Mittelalter und der frühen Neuzeit. Dresden 1999 (Sächsische Justizgeschichte, Schriftenreihe des sächsischen Staatsministeriums der Justiz, Bd. 9), S. 122 – 142; Susanne Rudolph, Die akademische Gerichtsbarkeit der Universität Leipzig: Strafverfahren des 18. Jahrhunderts, in: Detlef Döring (Hrsg.), Universitätsgeschichte als Landesgeschichte. Die Universität Leipzig in ihren territorialgeschichtlichen Bezügen. Leipzig 2007 (Beiträge zur Leipziger Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, Reihe A, Bd. 4), S. 187 – 203. 9 Andreas Gössner, Die Studenten an der Universität Wittenberg: Studien zur Kulturgeschichte des studentischen Alltags und zum Stipendienwesen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Leipzig 2003 (Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte, Bd. 9).

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Jena,10 Rostock,11 Greifswald,12 Helmstedt,13 Herborn,14 Marburg,15 Tübingen,16 Göttingen 17 oder Erlangen 18 im Licht der Aufmerksamkeit. Weit weniger ist beispielsweise über die soziale Praxis jenseits der Statuten und Verordnungen in Köln,19 Ingolstadt,20 Dillingen,21 Mainz,22 Trier,23 Salzburg 24 oder Wien 25 bekannt. 10 Christin Veltjens, Die akademische Gerichtsbarkeit der Universität Jena. Rechtsinstitution, Rechtsnorm und Rechtspraxis unter besonderer Berücksichtigung der Visitation von 1766/1767, in: Zeitschrift für Thüringische Geschichte 64 (2010), S. 181 – 214. 11 Eckhard Oberdörfer, Der privilegierte Gerichtsstand: Anmerkungen zum Studentenleben in Rostock und Greifswald, in: Peter Jakubowski (Hrsg.), Wissenschaftliche Tagung Universität und Stadt anläßlich des 575. Jubiläums der Eröffnung der Universität Rostock. Rostock 1995, S. 221 – 234. 12 Dirk Alvermann, Akademische Gerichtsbarkeit, Hofgericht und Tribunal, in: ders./Jürgen Regge (Hrsg.), Justitia in Pommern. Münster 2004, S. 87 – 110; Nils Jörn, Die Universität Greifswald vor Gericht, in: Dirk Alvermann/Karl-­Heinz Spiess (Hrsg.), Universität und Gesellschaft. Festschrift zur 550-Jahrfeier der Universität Greifswald 1456 – 2006, Bd. 2: Stadt, Region und Staat. Rostock 2006, S. 169 – 214. 13 Stefan Brüdermann, Studenten als Einwohner in der Universitätsstadt Helmstedt, in: Braunschweigisches Jahrbuch für Landesgeschichte 81 (2000), S. 9 – 27. 14 Carl Heiler, Der Herborner Student 1584 – 1817, in: Nassauische Annalen 55 (1935), S. 1 – 100. 15 Woeste, Akademische Väter (wie Anm. 7). 16 Hans-­Wolf Thümmel, Die Tübinger Universitätsverfassung im Zeitalter des Absolutismus. Tübingen 1975 (Contubernium, Bd. 7), S. 331 – 404. 17 Brüdermann, Göttinger Studenten (wie Anm. 7). 18 Malte Ullmann, Die Entwicklung der akademischen Gerichtsbarkeit am Beispiel der Friedrich-­Alexander-­Universität Erlangen. Konfrontation und Symbiose einer neuzeitlichen Körperschaft mit dem entstehenden Rechtsstaat. Magisterarbeit Universität Erlangen-­ Nürnberg 2005. 19 Marian Füssel, Devianz als Norm? Studentische Gewalt und akademische Freiheit in Köln im 17. und 18. Jahrhundert, in: Westfälische Forschungen 54 (2004), S. 145 – 166. 20 Arno Seifert, Statuten- und Verfassungsgeschichte der Universität Ingolstadt (1472 – 1586). Berlin 1971, S. 358 – 406. 21 Thomas Specht, Geschichte der ehemaligen Universitaet Dillingen (1549 – 1804) und der mit ihr verbundenen Lehr- und Erziehungsanstalten. Freiburg 1902, S. 365 – 381. 22 Helmut Mathy, Studien und Quellen zur Gerichtsbarkeit an der Universität Mainz, in: Festschrift Johannes Bärmann. Wiesbaden 1966 (Geschichtliche Landeskunde, Bd. 3), S. 116 – 166. 23 Michael Trauth, Eine Begegnung von Wissenschaft und Aufklärung. Die Universität Trier im 18. Jahrhundert. Trier 2000, S. 297 – 310. 24 Richard W. Apfelauer, Studentengerichtsbarkeit an der alten Universität in Salzburg, in: Heinz Dopsch (Hrsg.), Vom Stadtrecht zur Bürgerbeteiligung. Festschrift 700 Jahre Stadtrecht von Salzburg. Salzburg 1987, S. 92 – 106. 25 Christoph Gnant, „Die wirklichen Doktoren dem adelichen Foro zugetheilet werden“. Vom Ende der akademischen Gerichtsbarkeit der Universität Wien, in: Reimund Haas (Hrsg.), Fiat voluntas tua. Festschrift Harm Klueting. Münster 2014, S. 615 – 628.

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Bei genauerer Betrachtung zeigt sich rasch, dass das Spektrum der Delikte sich weitgehend ähnelte. Im Folgenden wird in drei Schritten vorgegangen und es werden zunächst Normen und Institutionen akademischer Gerichtsbarkeit vorgestellt (1.), dann die spezifischen Deliktgruppen, die dort verhandelt wurden, diskutiert (2.), um schließlich auf die korporative Logik des Straf- und Sanktionsapparates einzugehen (3.).

1. Normen und Institutionen Über die mittelalterliche Genese der akademischen Gerichtsbarkeit im Reich herrscht in der Forschung bis in die jüngste Zeit weitgehende Uneinigkeit. So wird immer wieder auf die authentica habita von 1158 und die Tradition der Universität Bologna referiert, womit aber nur unzureichend erklärt ist, wie die deutschen, eher am Modell der Pariser Universität orientierten Gründungen diese übernahmen, da gerade Paris nur über eine sehr eingeschränkte Gerichtsbarkeit verfügte.26 Weiterführender als der langewährende Streit um die Entstehung aus geistlichen (Papst) und weltlichen (Kaiser) beziehungsweise kirchlichen oder staatlichen Wurzeln scheint da die Herleitung aus der korporativen Autonomie der Universitäten.27 Genossenschaft und Herrschaft bildeten keinen Widerspruch, sondern ergänzten einander.28 Die deutschen Universitäten des späten Mittelalters besaßen als privilegierte Personenverbände die „uneingeschränkte Zivilgerichtsbarkeit“ über ihre Mitglieder und Angehörigen.29 Hinsichtlich der Strafgerichtsbarkeit sind hingegen verschiedene Abstufungen zu unterscheiden. So hatten angeblich Hochschulen wie Köln, Prag, Wien oder Tübingen die Gerichtshoheit auch bei schweren Vergehen.30 Letzterer wurde 1477 die eigene Gerichtsbarkeit in ihrem Freiheitsbrief als 26 Winfried Stelzer, Zum Scholarenprivileg Friedrich Barbarossas (Authentica Habita), in: Deutsches Archiv für die Erforschung des Mittelalters 34 (1978), S. 123 – 165; Heinrich Maack, Grundlagen des studentischen Disziplinarrechts, Freiburg 1959 (Beiträge zur Freiburger Wissenschafts- und Universitätsgeschichte, Bd. 10), S. 28 f. 27 Laetitia Boehm, Die körperschaftliche Verfassung der Universität in ihrer Geschichte, in: dies., Geschichtsdenken, Bildungsgeschichte, Wissenschaftsorganisation. Ausgewählte Aufsätze von Laetitia Boehm anlässlich ihres 65. Geburtstages, hrsg. v. Gert Melville/Reiner A. Müller/Winfried Müller. Berlin 1996 (Historische Forschungen, Bd. 56), S. 715 – 741. 28 Rainer Christoph Schwinges, Genossenschaft und Herrschaft in der Universität der Vormoderne vom 12. bis 15. Jahrhundert, in: ders., Studenten und Gelehrte. Studien zur Sozial- und Kulturgeschichte deutscher Universitäten im Mittelalter. Leiden/Boston 2008 (Education and Society in the Middle Ages and the Renaissance, Bd. 32), S. 19 – 33. 29 Woeste, Akademische Väter (wie Anm. 7), S. 9. 30 Vgl. Alenfelder, Akademische Gerichtsbarkeit (wie Anm. 6), S. 60 f.

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Privileg verliehen. Während der Herzog dies als Akt der Delegation ansah, begriff der Senat die Rechtsprechung als „eigenständige Befugnis“.31 Ausgenommen von der Behandlung durch die Universität waren Ehesachen, sie zählten zur Zeit der Gründung noch zu den „Geistlichen Sachen“, zudem entfielen die Verfolgung von Häretikern, die Forstgerichtsbarkeit als explizit landesherrliches Regal ebenso wie Münzvergehen oder Wechselklagen.32 Von den Bischöfen wurde Universitäten wie Erfurt, Würzburg oder Heidelberg 33 eine unbeschränkte Gerichtsbarkeit verliehen, während beispielsweise Wien, Leipzig, Rostock, Basel, Freiburg und Ingolstadt nur die Behandlung leichterer Fälle zugestanden wurde und Kapitalverbrechen je nach Akteur von der geistlichen oder weltlichen Obrigkeit verfolgt wurden.34 Die Genese der Universitäten aus kirchlichen Traditionen sowie die unterschiedlichen Gründungsgewalten – Landesherren oder Städte – sorgten mithin für ein uneinheitliches Bild mit Blick auf die jeweiligen Kompetenzen, die sich aus unterschiedlichen Exemtionen zusammensetzten. Simplicem jurisdictionem sicherte auch der landesherrliche Freiheitsbrief der Universität Marburg von 1529 zu, eine Formulierung, die in den Statuten von 1653 präzisiert wird zu in causibus civilibus et levioribus delictis Iurisdictionem.35 Ähnliche Formulierungen finden sich auch in den Stiftungsprivilegien der Universität Jena von 1557.36 In den ersten zwei Jahrhunderten lag die Gerichtsbarkeit in Jena und Marburg wie an den meisten anderen Hochschulen des Reiches allein in der Hand des Rektors.37 Das konnte je nach Hochschule recht Unterschiedliches für die konkret beteiligten Akteure bedeuten. In Tübingen stand der Rektor dem sogenannten akademischen Konsistorium vor, welches sich aus dem Vorgänger des Rektors, den vier Dekanen, dem Universitätssekretär als Gerichtsschreiber, dem 31 Thümmel, Die Tübinger Universitätsverfassung (wie Anm. 16), S. 330. 32 Ebd., S. 332 – 335. 33 Eckhard Oberdörfer, Bemerkungen zur Geschichte der akademischen Gerichtsbarkeit der Universität Heidelberg, in: Zeitschrift für Geschichte des Oberrheins 145 (1997), S. 474 – 490; in Heidelberg geschah das durch den Verzicht des Bischofs auf seine Gerichtsbarkeit über die Universitätsangehörigen, vgl. Alenfelder, Akademische Gerichtsbarkeit (wie Anm. 6), S. 59 f.; zuletzt Lukas Ruprecht Herbert, Die akademische Gerichtsbarkeit der Universität Heidelberg. Rechtsprechung, Statuten und Gerichtsorganisation von der Gründung der Universität 1386 bis zum Ende der eigenständigen Gerichtsbarkeit 1867. Heidelberg 2018. 34 Woeste, Akademische Väter (wie Anm. 7), S. 9. 35 Ebd., S. 16 – 18. 36 Johann Carl Eduard Schwarz, Das erste Jahrzehnd der Universität Jena: Denkschrift zu ihrer dritten Säkular-­Feier. Jena 1858, S. 142 – 145 (hier S. 144). 37 Stefan Wallentin, Fürstliche Normen und akademische „Observanzen“. Die Verfassung der Universität Jena 1630 – 1730. Köln/Weimar/Wien 2009 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen/Kleine Reihe, Bd. 27), S. 250 – 253.

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Pedell als Gerichtsdiener und im Fall schwerer Fälle weiteren hinzuzuziehenden Senatoren zusammensetzte.38 Ganz ähnlich gestalteten sich die Verhältnisse auch an der katholischen Universität Freiburg: Strafrechtliche Fragen verhandelten Rektor und Senat, privatrechtliche Probleme wurden von einem Konsistorium verhandelt, das den Rektor und vier aus den Senatsmitgliedern gewählte Beisitzer als Vertreter der vier Fakultäten umfasste.39 Erst im 18. Jahrhundert machten sich jedoch flächendeckend Tendenzen zu einer Reform und Professionalisierung bemerkbar. In Jena erfolgten um 1720 zusätzlich zum Rektoratsgericht die Bestellung eines Syndikus (seit 1767 ein promovierter Jurist) und Einrichtung eines Syndikatsgerichts, das alle Fälle behandeln sollte, die jenseits der reinen Disziplinargerichtsbarkeit lagen und erhöhte juristische Expertise verlangten.40 Das Rektoratsgericht wurde bei der Disziplinargerichtsbarkeit von einem neueingerichteten Collegium arctius unterstützt. Bis etwa 1750 übte in Marburg allein der Prorektor alle Rechte aus, erst danach entwickelte sich so etwas wie ein Instanzenzug, doch erst 1798 richtete man eine neunköpfige Gerichtsdeputation ein, die neben Rektor, Syndikus und Vizekanzler die Dekane, den zweitdienstältesten Juristen und einen Professor aus der Polizeikommission umfasste.41 Zur gleichen Zeit, ebenfalls 1750, sah sich an der Universität Trier eine Visitationskommission mit einem völligen Chaos der akademischen Gerichtsbarkeit konfrontiert.42 Weder konnte in den Privilegien, Statuten und Rezessen eine Rechtsgrundlage für die akademische Gerichtsautonomie als solche ermittelt noch durch Befragung der Professoren ein einheitliches Verfahren ausgemacht werden. Offenbar verfuhr man gewohnheitsrechtlich mit ad-­hoc Lösungen, was erstaunlicherweise aber nicht zu landesherrlichen Einschränkungsmaßnahmen führte, sondern trotz aller Friktionen letztlich zu einer Stärkung der akademischen Rechtsprechungskompetenzen beitrug. Denn angesichts der ungeklärten Frage nach der Legitimation der universitären Gerichtsbarkeit entschied der Kurfürst schließlich kurzerhand, dass der 38 39 40 41

Thümmel, Die Tübinger Universitätsverfassung (wie Anm. 16), S. 354 f. Bubach, Richten, Strafen und Vertragen (wie Anm. 7), S. 88 – 136. Veltjens, Die akademische Gerichtsbarkeit (wie Anm. 10), S. 193 f. Woeste, Akademische Väter (wie Anm. 7), S. 28 f. Auch für Mainz forderte man 1782 eine Verstärkung des Gerichts durch zwei „Doctores ex facultate Juridica“: Helmut Mathy, Die Vorschläge des Historikers und Juristen Franz Anton Dürr zur Reform der Universität Mainz (1782), in: Jahrbuch der Vereinigung „Freunde der Universität Mainz“ 19 (1970), S. 72 – 87 (hier S. 82). 42 Trauth, Eine Begegnung (wie Anm. 23); ders., Gerichtsautonomie, Jurisdiktion und Strafrechtspraxis an der Universität Trier im 18. Jahrhundert, in: Landesarchivverwaltung Rheinland-­Pfalz (Hrsg.), Unrecht und Recht. Kriminalität und Gesellschaft im Wandel von 1500 – 2000. Koblenz 2002 (Veröffentlichungen der Landesarchivverwaltung Rheinland-­ Pfalz, Bd. 98), S. 662 – 671.

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Universität diese, zumindest in erster Instanz, ohne Einschränkung zustehe. Auf diese Weise wurden durch landesherrlichen Entschluss Fakten geschaffen, die sich aus den offenbar fehlenden Privilegien nicht hätten begründen lassen. Ähnliches gilt auch für die schon weitgehend als Staatsanstalten gegründeten Universitäten wie Halle, Göttingen oder Erlangen. Der 1737 inaugurierten Universität Göttingen wurde vom Landesherrn im Privileg vom 7. Dezember 1736 die völlige Jurisdiction in Civilibus und Criminalibus übertragen.43 Hier regelte eine Gerichtsdeputation, wie sie Marburg erst Ende des 18. Jahrhunderts erhielt, von Anfang an die Rechtsprechung.44 Ihr gehörten neben dem Rektor die vier Dekane an und für den Fall, dass der amtierende Prorektor kein Jurist war, zusätzlich der Exdekan der juristischen Fakultät. Wie an allen protestantischen Universitäten krankten Kompetenz und nachhaltige Politik dieser Einrichtungen an dem raschen, das heißt semesterweisen Wechsel sowohl der Prorektoren als auch der Dekane.45 Bei einer solchen personellen Fluktuation ließ sich kaum eine einheitliche Linie entwickeln, denn bald nach einer Einarbeitung in die Materie endete die Amtszeit bereits wieder. Dennoch bedeuteten die Gründungen des 18. Jahrhunderts eine erneute Stärkung der Gerichtsbarkeit, da der Landesherr sich inzwischen kaum noch durch eine autonome Korporation angefochten fühlte, sondern vielmehr die Vorteile einer disziplinarischen Sorge um einen als besonders wertvoll erachteten Teil seiner Untertanen sah.46

2. Delikte und Verfahren Der Gerichtsstand richtete sich in der Regel nach dem Beklagten, das heißt Klagen von Studenten gegen Bürger wurden vor einem städtischen Gericht verhandelt, Klagen von Bürgern gegen Universitätsangehörige vor dem Universitätsgericht.47 Klagen von Akademikern untereinander wurden vor dem Universitätsgericht verhandelt, wobei die Studenten zur Hauptgruppe der Angeklagten wurden. Exemplarisch für die Aufgabenteilung mit der städtischen Gerichtsbarkeit können die Statuten der Universität Rinteln angeführt werden. Der Landesherr verlieh dem Rektor die „richterliche Gewalt, vorzuladen, zu verhören, zu verurteilen, gericht 43 Das königliche Privileg vom 7. Dezember 1736, in: Wilhelm Ebel (Hrsg.), Die Privilegien und ältesten Statuten der Georg-­August-­Universität zu Göttingen. Göttingen 1961, S. 28 – 39 (hier S. 29.) 44 Ernst Gundelach, Die Verfassung der Göttinger Universität in drei Jahrhunderten. Göttingen 1955, S. 22 – 25. 45 Vgl. die zeitgenössische Kritik bei Michaelis, Raisonnement (wie Anm. 1), S. 206 – 252. 46 Brüdermann, Akademische Gerichtsbarkeit (wie Anm. 2), S. 211. 47 Alenfelder, Akademische Gerichtsbarkeit (wie Anm. 6), S. 57.

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lich zu verfolgen“ und nahm die „ganze Universität“ heraus „aus aller anderen Gerichtsbarkeit“.48 Der Senat der Stadt Rinteln sollte jedoch „in Fällen, wofür die öffentlichen Gerichte zuständig sind, das Recht der Verhaftung und Einsperrung haben, nur sollen sie den Studenten, sei er nun adliger oder bürgerlicher Herkunft, durch die Stadtweibel sofort ins Universitätskarzer einliefern. Hierauf wird der Rektor den Betreffenden in Fällen, die über leichtere Vergehen hinausgehen, zu einer Gefängnisstrafe ausliefern, die wir, unsere Erben und Nachfolger den Umständen gemäß festsetzen werden.“ 49 Was zunächst nach einer vernünftigen Arbeitsteilung klingt, konnte in der Praxis aufgrund korporativer Rivalität zum Quell fortwährender Kompetenzstreitigkeiten werden.50 Die Verfahrensregeln der Universitätsgerichte schwankten bis zum Ende des 17. Jahrhunderts zwischen Akkusations- und Inquisitionsprozess.51 Es finden sich ebenso private Kläger wie von der Institution ausgehende Verfahren, und die Senate und Rektoren verzichteten oft auf ein elaboriertes rechtliches Prozedere.52 So bewahrten sie sich ein hohes Maß an Flexibilität. Was rechtshistorisch vielleicht wie ein Institutionalisierungsdefizit erscheinen mag, konnte vor dem Hintergrund der korporativen Eigenrationalität hoch funktional sein. Ab dem 18. Jahrhundert dominierte der Inquisitionsprozess, was zweifellos Denunziation als Grundlage für ein Verfahren gegen Dritte nicht ausschloss.53 Am Beispiel Göttingens kann kurz der Verfahrensgang rekapituliert werden. Zunächst konnte der Rektor eine Anzeige gegen einen Studenten „privatim und vor sich hören“, erst nach seiner Entscheidung oder dem Ausbleiben einer gütlichen Einigung leitete er dann ein Verfahren

48 Herbert Kater (Bearb.), Die Statuten der Universität Rinteln/Weser 1621 – 1809. München 1992 (Einst und Jetzt, Sonderheft 1992), S. 25. „Hunc Rectorem, non Legibus solum et Statutis armamus, sed judiciali etiam potestate, citandi, audiendi, judicandi, exsequendi, puniendi et alios actis Judicus ordinarii […] decoramus“. „Rectorem et totam Academiam nostram ab omni alia jurisdictione et superioritate […] eximimus et liberamus.“ (S. 24). 49 Ebd., S. 27. „Senatus tamen oppidi Rintheliensis vel Praetor inibi constitutus, in causis publicorum judiciorum manus injectionem seu capturam habeant: studiosum autem nobilem an ignobilem, e vestigio Academiae carceribus per ministros publicos tradant, quem deinde Rector in causis leviora delicta excedentibus ei custodiae remittat, quam nos, haeredes et nostri successores pro tempore assignabimus.“ (S. 26). 50 Vgl. exemplarisch Brüdermann, Göttinger Studenten (wie Anm. 7), S. 252 – 254. 51 Bubach, Richten, Strafen und Vertragen (wie Anm. 7), S. 165 – 172. 52 Ebd., S. 172. 53 Brüdermann, Göttinger Studenten (wie Anm. 7), S. 88 – 105. Zur Denunziation vgl. ausführlich Holger Zaunstöck, Das Milieu des Verdachts. Akademische Freiheit, Politikgestaltung und die Emergenz der Denunziation in Universitätsstädten des 18. Jahrhunderts. Berlin 2010 (Hallische Beiträge zur Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Bd. 5).

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vor dem Universitätsgericht ein.54 Die sich nun anschließenden Verfahrensschritte gliedern sich in Vorladung vor das zweimal wöchentlich tagende Universitätsgericht durch den Pedell, das Verhör, welches durch den Prorektor und Syndikus geführt wurde, die Beweisführung und schließlich die schriftliche Niederlegung des Urteils.55 Alle Verfahrenselemente waren von einem hohen Grad an Flexibilität und Handlungsspielraum geprägt. So differierte der Grad der schriftlichen Dokumentation ebenso wie das Strafmaß oder diverse Formen der Begnadigung. Für letztere war theoretisch nur „Fleiß und untadeliches Betragen“ ein Kriterium, de facto spielte aber die Position des Vaters eine nicht unerhebliche Rolle.56 Ein Durchgang durch die einschlägige Literatur fördert folgende, immer wiederkehrende zentrale Delikttypen zu Tage: Schulden, Injurien, Duelle, nächtliche Ruhestörung, Alkoholexzesse, Fornificationsfälle,57 Ordens- und Verbindungswesen.58 Fast alle Delikte haben ihre Wurzel in den spezifischen institutionellen Mechanismen und Lebensbedingungen an einer vormodernen Universität. Die Studenten formierten eine Gruppe junger Männer im Alter von ca. 16 – 30 Jahren, die zwangszölibatär, ohne Erwerbsarbeit in einer extremen face-­to-­face Situation mit Angehörigen sehr unterschiedlicher ständischer Herkunftsmilieus zusammenlebten. Der zölibatäre Lebensstil ist gewiss für die zahlreichen Fornificationsfälle, Prostitution und das „Crashen“ von Bürgerhochzeiten mitverantwortlich. Das Verbot eigener Arbeit machte die Studenten auf Stipendien oder Zahlungen aus dem Elternhaus angewiesen und führte nicht zuletzt aufgrund der Distinktionsdynamik einer im 17. und 18. Jahrhundert gerade in Universitätsstädten besonders rasch expandierenden Konsumgesellschaft immer wieder zu immensen Schulden.59 Praktiken des Konsums konnten gegen bestehende Kleider- und Luxusverordnungen verstoßen, zum Problem wurden aber auch Tabak- und Drogenkonsum, Glücksspiel, Theateraufführungen, Schlittenfahrten, Maskenbälle, Hundebesitz oder Verkehrsunfälle durch zu schnelles Reiten. Die face-­to-­face Konfrontation junger Männer unterschiedlicher Ehrgemeinschaften begünstigte Injurien, Zweikämpfe und Duelle, und das soziale Erfordernis von Solidargemeinschaften wie Landsmannschaften und spätere Vergesellschaftungen wie studentische Orden brachte sie wiederum in Konflikt mit der akademischen wie staatlichen Obrigkeit,

54 Brüdermann, Göttinger Studenten (wie Anm. 7), S. 90. 55 Ebd., S. 91 – 105. 56 Ebd., S. 105. 57 Hierunter fallen Unzucht, Hurerei, Schwängerung oder vorehelicher Geschlechtsverkehr. 58 Brüdermann, Göttinger Studenten (wie Anm. 7), S. 533 – 535. 59 Sandra Salomo, Die Ökonomie des knappen Geldes. Studentische Schulden in Jena 1770 – 1830. Köln/Weimar/Wien 2016 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen/Kleine Reihe, Bd. 49).

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die solche Assoziationen kaum zu dulden bereit war.60 Hinzu kommen schließlich die spezifischen ritualisierten Praktiken junger Männer, wie der Pennalismus und das Fuchsenbrennen, übermäßiger Alkoholkonsum, Degenwetzen, nächtliche Musik oder diverse Formen der Sachbeschädigung, vor allem von Lichtspendern wie Laternen, die die Disziplinargerichtsbarkeit beschäftigten. Auch Verstöße gegen religiöse Vorschriften kannten eine eigene akademische Dynamik.61 Da sich auch die Studentengemeinschaft insgesamt als Ehrgemeinschaft beziehungsweise eine „Standeskultur auf Zeit“ verstand, kamen schließlich noch Tumulte als Protest gegen die akademische Obrigkeit oder kollektive Auseinandersetzungen mit dem Militär oder der Handwerkerschaft hinzu.62 Viele bedeutende Universitätsstädte wie Ingolstadt, Halle oder Göttingen waren beispielsweise gleichzeitig Garnisonsstädte.63 Und schließlich sind die am ehesten zu erwartenden Verstöße gegen die Lehr- und Unterrichtsregeln zu nennen, wie etwa das Nichtbezahlen von Kollegiengeldern.64 Viele dieser Probleme waren auch insofern „hausgemacht“, als sie von einer bestimmten Klientelpolitik der Universitäten begünstigt wurden. Adelige Studenten brachten Geld und Prestige, aber auch bestimmte Konsum- und Lebensstilgewohnheiten mit sich. Mit der Bestallung eigener Universitätsfechtmeister als Studienangebot erfuhr zweifellos auch der bewaffnete Zweikampf eine Aufwertung und Popularisierung, auch wenn dieser, wie jüngst in einer vergleichenden Studie angemahnt wurde, nicht überwertet werden sollte.65 Aus Sicht der zeitgenössischen Sittenwächter war all dies jedoch grundsätzlich inakzeptabel, auch wenn die Praxis 60 Vgl. als Überblick Rainer A. Müller, Landsmannschaften und studentische Orden an deutschen Universitäten des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Harm-­Hinrich Brandt/Matthias Stickler (Hrsg.), ‚Der Burschen Herrlichkeit‘ – Geschichte und Gegenwart des studentischen Korporationswesens. Würzburg 1998, S. 13 – 34. 61 Der Pennalismus bezeichnet eine Praxis der materiellen Ausbeutung sowie der körperlichen und symbolischen Erniedrigung der Studienanfänger durch ihre älteren Kommilitonen. Zum Prellen der Füchse als Nachfolgepraktik des Pennalismus vgl. Michaelis, Raisonnement (wie Anm. 1). Zur religiösen Devianz vgl. Marian Füssel, Zwischen beten und fluchen. Zur Religiosität der Studenten in der Frühen Neuzeit, in: Rainer Christoph Schwinges (Hrsg.), Universität, Religion und Kirchen. Basel 2011 (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, Bd. 11), S. 455 – 478. 62 Vgl. Füssel, Devianz (wie Anm. 19). 63 Vgl. mit weiterer Literatur Marian Füssel, Studentenkultur in der Frühen Neuzeit. Praktiken – Lebensstile – Konflikte, in: Andreas Speer/Andreas Berger (Hrsg.), Wissenschaft mit Zukunft. Die „alte“ Kölner Universität im Kontext der europäischen Universitätsgeschichte. Köln/Weimar/Wien 2016 (Studien zur Geschichte der Universität zu Köln, Bd. 19), S. 173 – 204 (hier S. 197 f.). 64 Brüdermann, Göttinger Studenten (wie Anm. 7), S. 143 – 168. 65 Ulrike Ludwig, Das Duell im Alten Reich: Transformation und Variationen frühneuzeitlicher Ehrkonflikte. Berlin 2016 (Historische Forschungen, Bd. 112), S. 200 – 222.

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der Ahndung dies nicht immer konsequent spiegelt.66 Am Ende des 18. Jahrhunderts entwickelten sich an Universitäten wie Kiel oder Jena auch Bewegungen, welche die Konflikte der Studenten untereinander, in erster Linie das Duell, durch sogenannte studentische Ehrengerichte entscheiden zu lassen versuchten.67 In ihnen sollten Studenten und Professoren gemeinsam agieren. Letztlich scheiterte die Initiative nach wenigen Jahren sowohl an mangelnder Akzeptanz in der Studentenschaft als auch an internen Querelen und Uneinigkeiten seitens der Universitätsverwaltung.

3. Sanktion und soziale Logik Auch der Sanktionsapparat war durch und durch von der korporativen Eigenlogik der Universitäten geprägt. An Straf- und Sanktionsmitteln standen potentiell zur Verfügung: Körperstrafen, Geldstrafen, Haft- beziehungsweise Freiheitsstrafen und sogenannte Studienstrafen, worunter ein abgestuftes System der Relegation vom Hochschulort gefasst wird.68 Das spezifisch Akademische liegt dabei nicht in diesen Straftypen, die ja auch anderswo existierten, sondern in ihrer jeweiligen Ausgestaltung und Frequenz. Am seltensten wurden offensichtlich Prügelstrafen verhängt und vollzogen, anscheinend blieb es oft bei der Androhung, wodurch eine deutliche Differenz zwischen Schule und Hochschule markiert wird.69 Auch die Todesstrafe war potentiell vorgesehen, Fälle ihrer tatsächlichen Vollstreckung lassen sich reichsweit jedoch an zwei Händen abzählen.70 Vollstreckt wurden sie von der Stadt- oder Landesherrschaft. Eine Ausnahme bildete die Gerichtsbarkeit der Universität über die ihr geschenkten Dörfer. So übte die Universität Leipzig die Gerichtsherrschaft über drei sogenannte alte und fünf neue Universitätsdörfer aus.71 Die Strafen umfassten Geld- und Gefängnisstrafen ebenso wie Leibstrafen. 66 Vgl. zur Nachsicht „im Dienste der Besucherfrequenz“ Brüdermann, Göttinger Studenten (wie Anm. 7), S. 489 – 491. 67 Alexander Scharff, Das Kieler Studentische Ehrengericht 1793 – 1806, in: Nordelbingen 41 (1972), S. 141 – 175. 68 Vgl. als zeitgenössische Darstellung Michaelis, Raisonnement (wie Anm. 1), S. 299 – 378; einen Überblick über zeitgenössische Dissertationen zum Thema akademische Strafen geben Erman/Horn, Bibliographie (wie Anm. 1), S. 182. 69 Am Ende des 18. Jahrhunderts wurde die Neueinführung der Prügelstrafe an verschiedenen Orten diskutiert (Österreich 1790, Preußen 1798), vgl. Brüdermann, Göttinger Studenten (wie Anm. 7), S. 504. 70 Vgl. zu Einzelfällen Specht, Geschichte (wie Anm. 21), S. 369; Franz von Krones, Geschichte der Karl Franzens-­Universität in Graz. Graz 1886, S. 321 (Todesurteil, Vollstreckung unbekannt). 71 Ulrike Rau, Die Universität Leipzig als Gerichtsherrschaft über ihren ländlichen Besitz. Berlin 2014 (Schriften zur Rechtsgeschichte, Bd. 167).

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Neben der Festsetzung im Klemmstock, dem Halseisen (einer Art Pranger) und der öffentlichen Kirchenbuße wurde auch die Todesstrafe auf den Dörfern vollzogen;72 an der Universität Helmstedt unterhielt man seit 1699 ebenfalls einen eigenen Pranger auf dem Juliusplatz, also direkt vor dem Hauptgebäude der Universität.73 Symbolisch waren die Universitäten jedoch recht einfallsreich, um das Drohpotential der Todesstrafe zu nutzen. In Graz etwa markierte man noch im 18. Jahrhundert zur Symbolisierung des „ius gladii“ auf dem Universitätsplatz im Pflaster einen Kreis mit weißen Steinen von 18 Schuh Durchmesser, auf dem man im Zweifelsfall die Richtstatt zu errichten gedachte.74 Für das einzige von der Universität Göttingen im 18. Jahrhundert ausgesprochene Todesurteil plante man 1766 eine Hinrichtung in Effigie.75 Das Aufhängen eines Bildes des Duellanten Lorenz Christian Carmon wurde jedoch in letzter Minute durch ein Reskript der hannoverschen Regierung verhindert. Geldstrafen waren dagegen ein beliebtes und häufig genutztes Mittel und konnten vielerorts auch zur Ablösung peinlicher Strafen genutzt werden. Drei in ihrer konkreten Ausformung typisch akademische Straftypen waren der Entzug oder die Kürzung von Stipendien, die Karzerhaft und diverse Formen des Verweises vom Hochschulort. Die Verweise begannen mit dem consilium abeundi, also dem nichtöffentlichen Rat, die Universität zu verlassen. Als erste Drohstufe fungierte hier zunächst ein Unterschreiben des consilium abeundi, dem noch kein Verweis folgen musste. Verließ der Student in der Folge die Hochschule, stand ihm die Aufnahme eines Studiums an einer anderen Hochschule frei. Die nächsthöhere Strafe bildete die Relegation, die wiederum in die einfache und die relegatio cum infamia unterschieden wurde.76 Die Relegation war öffentlich, wurde also am schwarzen Brett angeschlagen, manchmal in Zeitungen publiziert und sowohl

72 Ebd., S. 163 – 170; zur Todesstrafe ebd., S. 181 – 184. 73 Vgl. Bernd Becker, Die Privilegien der Universität Helmstedt und ihre Bekämpfung durch die Stadt 1576 – 1810. Braunschweig 1940, S. 57. 74 Von Krones, Geschichte (wie Anm. 70), S. 333. 75 Otto Deneke, Ein Göttinger Studenten-­Duell von 1766, in: Alt-­Göttingen Nr. 8/9. Beilage zur Göttinger Zeitung vom 29. März 1934; Brüdermann, Göttinger Studenten (wie Anm. 7), S. 203 f. mit Anm. 213; Michaelis, Raisonnement (wie Anm. 1), S. 301 f. Zur Tradition der Exekution in Effigie vgl. Frederik Grøn, Über den Ursprung der Bestrafung in Effigie. Eine vergleichende rechts- und kulturgeschichtliche Untersuchung, in: Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis 13 (1934), S. 320 – 381. 76 Vgl. Andreas Gössner, Disziplinierung an der lutherischen Universität der Frühen Neuzeit, in: Daniela Siebe (Hrsg.), „Orte der Gelahrtheit“. Personen, Prozesse und Reformen an protestantischen Universitäten des Alten Reiches. Stuttgart 2008 (Contubernium, Bd. 66), S. 103 – 118 (hier S. 105 – 108); vgl. zu den Strafen auch Woeste, Akademische Väter (wie Anm. 7), S. 50 – 58.

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der Familie als auch den meisten Universitäten der eigenen Konfession im Reich schriftlich mitgeteilt.77 Aufgrund ihrer materiellen Überlieferung in Form historischer Karzer und einer damit zusammenhängenden Umwertung dieser Form der Freiheitsstrafe innerhalb des devianten Studentenmilieus von der Schande zur „Ehrensache“ ist die Karzerhaft im kollektiven Gedächtnis vielleicht die bekannteste akademische Strafform.78 Der Jesuitenorden war offenbar grundsätzlich gegen die Einrichtung von Karzern, musste sich jedoch den lokalen Gepflogenheiten häufig anpassen, so dass auch katholische Hochschulen entsprechende Einrichtungen unterhielten.79 Bis zum 18. Jahrhundert genoss die Karzerhaft bei den Studenten ein ambivalentes Ansehen, das sich nun immer mehr von einer ernstzunehmenden Strafe zu einer Art Prestigewert für einen bestimmten Teil der Studierenden entwickelte, wovon vor allem die Ausmalungen und Graffiti des 18. bis 20. Jahrhunderts zeugen.80 Während einzelne Universitäten wie Heidelberg schon seit dem 16. Jahrhundert über entsprechende Arrestzellen verfügten, richteten andere diese erst im Verlauf des 18. Jahrhunderts ein oder verfügten über gar keine eigenen Räumlichkeiten dieser Art. Jenseits ihrer Vereinnahmung für die Erinnerungskultur studentischer Korporationen ist das Phänomen der Karzerhaft vor allem aufschlussreich für den Wandel einer allgemeinen Gerichtsbarkeit hin zu einer reinen Disziplinargerichtsbarkeit. Selbstzeugnisse Göttinger Studenten berichten etwa von Arrangements, morgens ins Kolleg gehen zu dürfen und nur die Nacht im Karzer zu verbringen 77 Brüdermann, Göttinger Studenten (wie Anm. 7), S. 135. 78 Vgl. zu einzelnen Karzern in Auswahl Eckhard Oberdörfer, Der Heidelberger Karzer. Köln 2005; Gert Hahne, Der Karzer: Bier! Unschuld! Rache! Der Göttinger Universitätskarzer und seine Geschichte(n). Göttingen 2005; Anja Spalholz, „Drei Tage Karzer für den Sünder …“: Die Gefängnisse der halleschen Universität (1692 – 1931), in: Ralf-­Torsten Speler (Hrsg.), Vivat Academia, vivant professores!: Hallesches Studentenleben im 18. Jahrhundert [Sonderausstellung … vom 17. April bis 17. Juli 2011 im Museum universitatis]. Halle 2011, S. 55 – 63; Hans Günther Bickert/Norbert Nail, Marburger Karzer-­Buch. 15 Kapitel zum Universitätsgefängnis und zum historischen deutschen Studententum. 2. Aufl. Marburg 1995; Eckhard Oberdörfer/Horst-­Diether Schroeder, Ein fideles Gefängnis. Greifswalder Karzergeschichten in Wort und Bild. Schernfeld 1991; Wilfried Setzler, Der alte Karzer der Universität Tübingen. Stuttgart 1977. 79 Vgl. Otto Krammer, Bildungswesen und Gegenreformation. Die hohen Schulen der Jesuiten im katholischen Teil Deutschlands vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Würzburg 1988, S. 143 – 150. Zur Karzerstrafe an der Universität Dillingen vgl. Specht, Geschichte (wie Anm. 21), S. 377 – 381. 80 Ein zeitgenössisches Stammbuchbild des Erlangener Karzer „Neumaiers Burg“ im Dachgeschoss des Universitätsgebäudes findet sich in: [Stadtmuseum Erlangen] (Hrsg.), Die Friedrich-­Alexander-­Universität Erlangen-­Nürnberg 1743 – 1993. Geschichte einer deutschen Hochschule. Erlangen 1993, S. 193.

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oder sich dort mit Büchern und Studienmaterial versorgen zu lassen, um nichts zu verpassen.81 Gerade als Strafe für sogenannte „unfleissige“ Studenten war die Inhaftierung ja tendenziell dysfunktional und musste in vorlesungsfreie Zeiten verlegt werden. Es gehört zu den Topoi der Beschreibung akademischer Gerichtsbarkeit, über ihre allzu große Milde und Ineffizienz zu klagen. Die Gründe für dieses „Defizit“ sind allerdings vielfältig.82 Der wichtigste Grund dürfte in der finanziellen Abhängigkeit der Professoren wie der Gesamtinstitution Universität von den Studenten gewesen sein. Die Hörergelder bildeten eine der zentralen Einnahmequellen der meisten Professoren, und die Hochschule insgesamt hatte wenig Interesse daran, als „streng“ zu gelten und damit potentielle Studierende zu verprellen. An der Frage, ob man lieber Geld- oder Karzerstrafen verhängte, werden in nuce auch die Logiken finanzieller akademischer Berechtigungssysteme sichtbar, auf die Ulrich Rasche am Beispiel der Universität Jena hingewiesen hat.83 Waren aus landesherrlicher Disziplinierungssicht die Karzerstrafen zu bevorzugen, so entgingen den Professoren hier wichtige Mittel, die sie aus den Geldstrafen zogen. Die Gruppe der Pedelle wiederum verdiente an der Karzerhaft und sah deshalb die Geldstrafen kritisch. Die Lösung war typisch frühneuzeitlich: Die Pedelle erhielten schließlich ab 1740 eine Karzergebühr, auch wenn die Studenten überhaupt nicht in den Karzer wanderten.84 Zu dieser allgemeinen Abhängigkeit konnten weitere persönliche kommen, wie die Rücksicht auf die eigenen studentischen Untermieter oder den studierenden Adel. Ab dem 18. Jahrhundert kam zu diesen mehr oder weniger unausgesprochenen Abhängigkeiten auch ein verändertes Verständnis des Rektors als Vater und nicht als unnachgiebiger Richter hinzu.85 In modernen Worten gesprochen hat man es mit einem neuen Primat des „Jugendschutzes“ gegenüber der strikten Regulierung der akademischen Lebenswelt zu tun.86 81 Vgl. Marian Füssel, Akademische Konstellationen um 1800. Zeitgenössische Wahrnehmungen der Universitäten Halle und Göttingen im Vergleich, in: Joachim Bauer/Olaf Breidbach/Hans-­Werner Hahn (Hrsg.), Universität im Umbruch. Universität und Wissenschaft im Spannungsfeld der Gesellschaft um 1800. Stuttgart 2010 (Pallas Athene, Bd. 35), S. 95 – 119 (hier S. 101 f.). 82 Alenfelder, Akademische Gerichtsbarkeit (wie Anm. 6), S. 177 – 180. 83 Ulrich Rasche, Die deutschen Universitäten zwischen Beharrung und Reform. Über universitätsinterne Berechtigungssysteme und herrschaftliche Finanzierungsstrategien des 16. bis 19. Jahrhunderts, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 10 (2007), S. 13 – 33. 84 Ebd., S. 21. 85 Vgl. z. B. die Ausführungen der Göttinger General-­Statuten von 1736 zur Prudentia Pro-­ rectoris, in: Ebel (Hrsg.), Die Privilegien (wie Anm. 43), S. 40 – 83 (hier S. 54 f.); Michaelis, Raisonnement (wie Anm. 1), S. 165 f. 86 Alenfelder, Akademische Gerichtsbarkeit (wie Anm. 6), S. 178.

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Der sich damit anbahnende Übergang zu einer reinen Disziplinargerichtsbarkeit wurde durch weitere Prozesse unterstützt, die in der Forschung der letzten dreißig Jahre unterschiedliche Deutungen erfahren haben.87 Neben eher anthropologisch argumentierenden Forschungsrichtungen, die überzeitliche Strukturmerkmale studentischer Devianz hervorheben, sind vor allem für das 17. und das 18. Jahrhundert Prozesse von Dynamik und Wandel beschrieben worden. Für das 17. Jahrhundert dominierte lange ein sittengeschichtliches Narrativ, das vor allem den Dreißigjährigen Krieg für eine „Verwilderung“ der Studentenkultur verantwortlich machte, sich aber so kaum halten lässt.88 Mit Blick auf das 18. Jahrhundert diskutiert man hingegen vorrangig Prozesse der Disziplinierung und Zivilisierung. Stefan Brüdermann hat seine Untersuchung zu den Göttinger Studenten vor der akademischen Gerichtsbarkeit in den übergeordneten Rahmen der frühneuzeitlichen Sozialdisziplinierung eingeordnet.89 Es handelt sich dabei um eine Perspektive, die in jüngerer Zeit noch von Holger Zaunstöck wesentlich um die Dimension der Denunziation erweitert worden ist und damit von einem stärker top-­down orientierten Ansatz zu einem komplexen Bild der Implementation von Normen geführt hat.90 Eine andere Richtung haben die Studien von Wolfgang Hardtwig eingeschlagen, der im Anschluss an Norbert Elias eher von einer Selbstdisziplinierung der jugendlichen Bildungsschichten als künftigen Staatsdienern angesichts eines erhöhten Karrieredrucks seit dem Ende des 18. Jahrhunderts ausgeht.91 Zu dieser Deutung haben in jüngerer Zeit wiederum einige Überlegungen Ulrich Rasches eine wertvolle Ergänzung geliefert, der soziale und ökonomische Wandlungstendenzen innerhalb des Sozialprofils der Studenten herausgearbeitet hat, die man als akademische Gentrifizierung beschrieben könnte.92 Studenten aus wohlhabenden 87 Zur Disziplinargerichtsbarkeit vgl. immer noch Maack, Grundlagen (wie Anm. 26). 88 Marian Füssel, Akademischer Sittenverfall? Studentenkultur vor, in und nach der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, in: Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit 15/1 (2011), S. 124 – 146. 89 Brüdermann, Göttinger Studenten (wie Anm. 7), S. 525 – 529. 90 Zaunstöck, Das Milieu des Verdachts (wie Anm. 53). 91 Wolfgang Hardtwig, Krise der Universität, studentische Reformbewegung (1750 – 1819) und die Sozialisation der jugendlichen deutschen Bildungsschicht. Aufriß eines Forschungsproblems, in: Geschichte und Gesellschaft 11 (1985), S. 155 – 176; ders., Sozialverhalten und Wertewandel der jugendlichen Bildungsschicht im Übergang zur bürgerlichen Gesellschaft, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 73 (1986), S. 305 – 335; ders., Die Lebensführungsart der jugendlichen Bildungsschicht 1750 – 1819, in: Helmut Asmus (Hrsg.), Studentische Burschenschaften und bürgerliche Umwälzung. Zum 175. Jahrestag des Wartburgfestes. Berlin 1992, S. 36 – 53. 92 Ulrich Rasche, Cornelius relegatus und die Disziplinierung der deutschen Studenten (16. bis frühes 19. Jahrhundert). Zugleich ein Beitrag zur Ikonologie studentischer Memoria, in: Barbara Krug-­Richter/Ruth-­E. Mohrmann (Hrsg.), Frühneuzeitliche Universitätskulturen.

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bürgerlichen Elternhäusern forcierten einen neuen Lebensstil, der sich von der altständischen Kultur akademischer Freiheit deutlich abhob. In der deutschen Spätaufklärung wurde die akademische Gerichtsbarkeit als unzeitgemäßes und uneffektives Relikt überwundener Zeiten kontrovers diskutiert. Noch 1794 hatte das Preußische Allgemeine Landrecht (ALR) anerkannt: Zur nachdrücklichen Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung auf Academien ist dem academischen Senat die Gerichtsbarkeit über alle sowohl lehrende als lernende Mitglieder verliehen (§ 69 II ALR).93 In der Berliner Mittwochsgesellschaft sprach sich ein Jahr darauf 1795 der Prediger Johann Georg Gebhard (1743 – 1807) für die Abschaffung der Universitätsgerichte aus, während der Propst Wilhelm Abraham Teller (1734 – 1804) sich dafür aussprach, nur die eingerissenen Mängel und Fehler in der Universitäts-­Jurisdiction zu verbessern.94 Friedrich Gedike (1754 – 1803) forderte in der Aussprache: Die eigne Jurisdiction der Universitäten giebt freilich zu vielen Mißbräuchen Anlaß. Aber ich glaube, viel derselben würden wegfallen, wenn man die Aufsicht über die Disciplin und überhaupt die academische Policei von der eigentlichen Jurisdiction unterschiede und nur jene den Universitäten ließe.95 Eine ähnliche Position vertraten wenige Jahre später auch grundsätzliche Fürsprecher, wie der Leipziger Philosophieprofessor Karl Adolf Caesar (1744 – 1810), der die Universität und ihre Mitglieder sowohl hinsichtlich ihrer Zusammensetzung als auch ihren Beweggründen und ihrer Bestimmung als von allen anderen Ständen unterschieden sah.96 Aufgrund des jugendlichen Alter[s] der Studirenden würden Klugheit und Billigkeit dazu anraten, dass die Bestrafung solcher Jünglinge mehr einer Disciplin, als der strengen Gerechtigkeit, ähnlich sehe, die akademische Gerichtsbarkeit ferner weniger Zeit koste und die Studenten für ihre akademischen Lehrer als Richter ein ganz anderes zutrauen hegen würden als für normale Richter.97 Die akademische Gerichtsbarkeit sei daher mehr als eine anständige Zierde, sie erteile Kulturhistorische Perspektiven auf die Hochschulen in Europa. Köln/Weimar/Wien 2009 (Archiv für Kulturgeschichte, Beiheft 65), S. 157 – 221. 93 Vgl. auch Peter Lindemann, Der Student im Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794, in: Einst und Jetzt 10 (1965), S. 125 – 142. 94 Adolf Stölzel, Die Berliner Mittwochsgesellschaft über Aufhebung oder Reform der Universitäten (1795), in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 2 (1889), S. 201 – 222 (hier S. 204, 206, 208). 95 Ebd., S. 221. 96 Karl Adolf Caesar, Gedanken über die Nothwendigkeit und über die Vortheile der akademischen Gerichtsbarkeit, in: ders., Gedanken über die Nothwendigkeit der akademischen Gerichtsbarkeit; und über einige andere mit dieser Frage verwandte Gegenstände. Leipzig 1800, S. 92 – 122 (hier S. 110). Ähnlich bereits auch Michaelis, Raisonnement (wie Anm. 1), S. 261. 97 Caesar, Gedanken (wie Anm. 96), S. 116 f.

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der Hochschule vielmehr erst rechtes Leben und Kraft.98 Ganz anders sah das 1799 Christian Adolph von Seckendorff (1767 – 1833), der vor dem Hintergrund eines preußischen Ediktes von 1798 vehement für die Abschaffung der akademischen Gerichtsbarkeit eintrat.99 Im 19. Jahrhundert vollzog sich nach einer politischen Konjunktur in der Restaurationszeit und dem Vormärz ein schrittweiser Rückbau der akademischen Gerichtsbarkeit, der in gewisser Weise die Grade der Integration der Universität als Staatsanstalt spiegelt.100 Die Geschichte der akademischen Gerichtsbarkeit zeigt, dass rechtliche Institutionen der europäischen Vormoderne zum Teil weit über traditionelle Epochengrenzen hinaus weiterwirken konnten. Während man sie in Österreich bereits 1783 und in Preußen 1855 abgeschafft hatte und die Hochschulen anderer Territorien weitere Kompetenzen spätestens mit der Reichseinigung und dem Gerichtsverfassungsgesetz von 1877 an Geltung verloren,101 fand die akademische Gerichtsbarkeit erst mit der nationalsozialistischen „Gleichschaltung“ in Deutschland 1935 flächendeckend ihr endgültiges Ende.102

4. Schluss Die vorangegangenen Ausführungen können abschließend in fünf Punkten zusammengefasst werden: 1. Die mittelalterlichen Universitäten des Reiches orientierten sich in ihren Privilegien an Bologna und Paris, erhielten jedoch als mehrheitlich landesherrliche Gründungen eine spezifische Ausprägung dahingehend, dass alle Hochschulen mit voller Zivilgerichtsbarkeit ausgestattet waren. Unterschiede und Differenzierungen begannen im Bereich der Strafgerichtsbarkeit. Im reichsweiten Vergleich ergeben sich erhebliche Unterschiede in der konkreten Ausgestaltung der jeweiligen Gerichtskompetenzen, die verallgemeinernde Aussagen schwierig machen. 98 Ebd., S. 122. 99 [Christian Adolph von Seckendorff ], Sollen Die Academischen Gerichte noch ferner in der jetzigen Verfassung gelassen werden? Leipzig 1799. Seckendorff reagiert damit vor allem auf die anonym publizierte Schrift: Freymüthige aber bescheidne Prüfung der neuerlich ergangenen königlich preußischen Verordnung, betreffend die Verhütung und Bestrafung der die öffentliche Ruhe störenden Excesse der Studirenden, o. O. 1798. 100 Heinz-­Joachim Toll, Akademische Gerichtsbarkeit und akademische Freiheit: die sogenannte „Demagogenverfolgung“ an der Christian-­Albrechts-­Universität zu Kiel nach den Karlsbader Beschlüssen von 1819. Neumünster 1979 (Quellen und Forschungen zur Geschichte Schleswig-­Holsteins, Bd. 73). 101 Alenfelder, Akademische Gerichtsbarkeit (wie Anm. 6), S. 185 – 188. 102 Ebd., S. 293.

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2. Im Zuge der sogenannten zweiten Gründungswelle vor dem Hintergrund von Reformation und Territorialisierung lösten sich die Hochschulen aus den kirchlichen Abhängigkeiten und wurden stärker in den landesherrlichen Verwaltungsapparat eingegliedert und damit in ihrer Gerichtskompetenz tendenziell beschnitten.103 Eine scheinbar gegenläufige Tendenz setzte mit der dritten Gründungswelle im langen 18. Jahrhundert ein, als die Landesherren die Hochschulen wieder mit mehr Rechtsprechungskompetenz ausstatteten, deren Autonomie aber bereits ganz vom Staat überformt war. 3. Verhandelt wurden vor den Universitätsgerichten nicht nur Klagen von oder gegen Studenten, sondern auch von und gegen Professoren und Universitätsverwandte. Letztere beiden Gruppen wurden bislang in der Forschung noch nicht systematisch behandelt. Quantitative Angaben zur Verteilung von Delikten und Klagegegenständen sind bei dem gegenwärtigen Forschungsstand zu den meisten Universitäten kaum zu liefern. Es ist jedoch evident, dass die verhandelten Delikte meist einen direkten Konnex zur akademischen Lebenswelt und ihren spezifischen Strukturbedingungen aufwiesen.104 4.  Gleiches gilt für die spezifische Ahndungspraxis, die sich von einer schiedsrichterlich-­vermittelnden Rolle angesichts des Personenverbandes aus Lehrenden und Lernenden im 17. und 18. Jahrhundert im Zuge einer deutlichen Trennung von Studenten und Professoren zu einer „väterlich“ strafenden Disziplinargerichtsbarkeit wandelte. Karzerhaft, Strafgelder und Universitätsverweise wurden damit zu den wesentlichen Sanktionsformen. Die interne institutionelle Logik der akademischen Gerichtsbarkeit äußerte sich einerseits in den ökonomischen Berechtigungssystemen ihrer Mitglieder, andererseits in der spezifischen, letztlich auch weitgehend ökonomisch motivierten, Sorge um ihre studentische Klientel. 5. Das Beharren der Hochschulen auf eigener Gerichtsbarkeit als zentralem Faktor korporativer Selbststeuerung hielt insgesamt kaum Schritt mit den Professionalisierungstendenzen des Rechtswesens insgesamt. So zeigten im 18. Jahrhundert eine Vielzahl von Visitationen die Missstände der akademischen Gerichtsbarkeit auf, die auch publizistisch rege diskutiert und kritisiert wurden. Innerhalb der heterogenen Gerichtslandschaft des Alten Reiches blieb die akademische Gerichtsbarkeit jedoch noch über dessen Ende 1806 hinaus ein nicht zu unterschätzender Faktor.

103 Sönke Lorenz (Hrsg.), Attempto – oder wie stiftet man eine Universität. Die Universitätsgründungen der sogenannten zweiten Gründungswelle im Vergleich. Stuttgart 1999 (Contubernium, Bd. 50). 104 Valide quantitative Angaben finden sich vor allem in der Studie von Brüdermann, Göttinger Studenten (wie Anm. 7), S. 533 – 537.

Vincent Demont

Gerichtsvielfalt im Gewerbealltag? Kayserlich-­privilegierte Stümper und städtische Apotheker in und um Nürnberg zu Beginn des 18. Jahrhunderts 1

1. Einleitung Gerichtsvielfalt im Gewerbealltag? Angesichts des Forschungsstandes muss dieser Arbeitstitel mit einem Fragezeichen versehen werden. Denn die Vorstellung, die frühneuzeitliche Gewerbewirtschaft sei durch eine Vielfalt von Normen und Gerichtsinstanzen geprägt gewesen – wie es der Titel suggeriert –, scheint nicht auf jeder Betrachtungsebene plausibel zu sein. So behauptete vor dreißig Jahren Hans-­Ulrich Wehler, Zünfte hätten im Rahmen einer „reinen Monopolpolitik“ die Strategie verfolgt, „die Arbeits- und Absatzgebiete insbesondere gegenüber illoyaler Konkurrenz […] zu sichern […] [und] Gewerbepolizei und -gericht in ihrer Hand zu behalten“.2 Auf der lokalen Ebene einer Reichsstadt bedeutete dies, dass „nicht Vielfalt oder Komplementarität, sondern Alternativlosigkeit die Rechtsgeschichte des […] Handwerks bis Anfang des 18. Jahrhunderts“ kennzeichnete; anstatt einer „Vielfältigkeit der Gerichts- und Rechtslandschaft“ sei also die Herausbildung „einer dominanten Obrigkeit“ durchaus möglich gewesen.3 Verlässt man die städtische Ebene, wird die Lage jedoch schnell unübersichtlich: Sogleich hat man es auf regio 1 Mein bester Dank geht an Daniel Velinov (CNRS) für seine Korrekturen und Kommentare; der vorliegende Beitrag ist im Rahmen von Recherchen entstanden, die für das von der Agence nationale de la recherche scientifique (ANR) finanzierte Projekt „Ökonomische Privilegien im frühneuzeitlichen Europa“ geführt wurden; Guillaume Garner/Liliane Hilaire-­Pérez/Corine Maitte/Dominique Margairaz/Isabelle Bretthauer, En guise de prolongement. Le projet „Privilèges. Les privilèges d’entreprise dans l’Europe moderne: perspective quantitative et comparative (XVIe–XVIIIe siècles)“, in: Guillaume Garner (Hrsg.), Die Ökonomie des Privilegs. Westeuropa 16.–19. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 2016 (Studien zu Policey, Kriminalitätsgeschichte und Konfliktregulierung), S. 509 – 520. 2 Hans-­Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1: Vom Feudalismus des „alten Reiches“ bis zur „defensiven Modernisierung“ der Reformära: 1700 – 1815. München 1987, S. 93. 3 Robert Brandt, Die Grenzen des Sagbaren und des Machbaren. Anmerkungen zur Rechtsgeschichte des Frankfurter „Zunfthandwerks“ während der Frühen Neuzeit, in: Anja Amend/ Anette Baumann/Stephan Wendehorst/Steffen Wunderlich (Hrsg.), Die Reichsstadt Frankfurt als Rechts- und Gerichtslandschaft im Römisch-­Deutschen Reich. München 2008 (bibliothek altes Reich, Bd. 3), S. 247 – 264 (hier S. 252).

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naler und überregionaler Ebene mit einer außerordentlichen Fülle von Normen und gewerblichen Gerichtsinstanzen zu tun, die zudem von einer außerordentlichen Normenvielfalt geprägt waren, die von Ort zu Ort und von Berufsgruppe zu Berufsgruppe abwechselnd in gänzlich unterschiedlicher, in leicht abweichender oder in identischer Form vorlagen, so dass eine fundierte Gesamtdarstellung der Handwerksgerichtsbarkeit auf Reichsebene nahezu unmöglich erscheint.4 Die Vielfalt der Normen und Gerichte ist in den 1660er Jahren zu einem Politikum geworden und war seitdem Gegenstand regelmäßig wiederkehrender Debatten am Reichstag.5 Im Zuge der Diskussionen über Missstände im Handwerkswesen, die 1731 die Reichshandwerksordnung zum Ergebnis hatten, war die Frage der Haupt- und Nebenladen des Handwerks ein wichtiges Thema – eine Redewendung, die sowohl die Truhen der Zünfte als deren Hierarchie andeutet.6 Auch wenn diese Thematik in der Forschung bisher kaum Beachtung gefunden hat, kann mit einiger Sicherheit davon ausgegangen werden, dass der Begriff sich auf die Handwerkergerichtsbarkeit bezieht, genauer auf den Instanzenzug in der Zunftgerichtsbarkeit. So erklärte zu Beginn des 18. Jahrhunderts der Jenaer „Handwerkerjurist“ Adrian Beier, die Lade sei nicht nur der zünffte schatz, sondern deren darstell- und eröffnung ein Zeichen gehegtem Gerichts. Ob dann wol die Handwercker auch in kleinen Städten ihre Laden zu haben, weilen jedoch das Gebiethe sehr eingeschränckt, pflegen sie sich bey denen in großen und vornehmen städten wohnenden Zünfften anzugeben […]. So heisset die in der vornehmsten Stadt […] die Hauptlade.7 Ende des Jahrhunderts bestätigte die Oeconomische Encyclopedie, einige Handwerker [hätten] in einigen Reichsstädten ihr Haupt-­Laden, vor welche dasjenige, was vor den Particular-­Laden nicht ausgemacht werden konnte, gleichsam als durch eine Appellation gebracht wurde.8 Die Existenz dieser „Handwerkerjustiz“ lässt sich tat 4 Angesichts der Materialfülle verzichtet selbst ein so umfangreiches Werk wie das Handbuch der Quellen und Literatur der Neueren Europäischen Privatrechtsgeschichte „abweichend von [seiner] Praxis […] auf Besprechung und Nachweis einzelner Ordnungen für bestimmte Zünfte“; Siegbert Lammel, Die Gesetzgebung des Handelsrechts, in: Helmut Coing (Hrsg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. 2: Neuere Zeit (1500 – 1800). Das Zeitalter des Gemeinen Rechts, Teilbd. 2: Gesetzgebung und Rechtsprechung. München 1976, S. 571 – 1083 (hier S. 629). 5 Kristina Winzen, Handwerk – Städte – Reich. Die städtische Kurie des Immerwährenden Reichstags und die Anfänge der Reichshandwerksordnung. Stuttgart 2002 (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 160), S. 80 – 122. 6 Deutsches Rechtswörterbuch, Bd. 8. Weimar 1991, Sp. 245 f. 7 Adrian Beier, Allgemeines Handlungs-, Kunst-, Berg- und Handwerkslexicon. Jena 1722, S. 181; Wilhelm Ebel, Art. Beier, Adrian, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 2. Berlin 1955, S. 18 f. 8 Johann Georg Krünitz, Oeconomische Encyclopädie, Bd. 58. Berlin 1792, S. 631; im Zusammenhang der württembergischen Hauptladen ist auf folgende Besonderheit hinzu-

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sächlich – wenn auch nur auf Einzelfallbasis – nachweisen. So wird beispielsweise in einem Streit aus den Jahren 1666 bis 1673 ein Kemptener Handwerker vor den Ulmer Kammmachern, deren Gewerbe als Hauptlade fungiert, angeklagt, weil seine Lehre, die er in Lindau absolviert hatte, zu kurz gewesen sei. In einem Verfahren, das Rainer Elkar als „Bewährungsprobe“ für die gesamte Ladenorganisation des Gewerbes qualifiziert, wenden sich daraufhin die Ulmer und Lindauer Gewerbe jeweils getrennt an die Nürnbergische Lade, die sie im „Instanzenweg innerhalb des Handwerks“ offensichtlich als die ranghöchste ansehen.9 Parallel mischt sich der Lindauer Rat ein, um das kaiserliche Privileg seiner Bürger, allein den Gerichten ihrer Stadt oder des Kaisers verantwortlich zu sein, zu verteidigen. Zwar bleibt der Ausgang des Konflikts unklar, jedoch belegt das Quellenmaterial zu Genüge die Überlagerung unterschiedlicher „Sphären des Rechts“: neben dem Reichsrecht ist in dem Verfahren Rainer Elkar zufolge auch das Territorialrecht (genauer: das „Handwerksrecht der Reichsstädte“) und das „handwerkliche Gewohnheitsrecht in Form der Spruchpraxis der Hauptlade“ von Bedeutung.10

weisen: in diesem Territorium versuchte der Landesfürst Karl Alexander (1733 – 1737) neue Appellationsgerichte und Schiedsinstanzen für Handwerksangelegenheiten zu etablieren, die aber – trotz der Übernahme des Namens „Hauptlade“ – auf heftigen Widerstand der Zünfte stießen und also nicht mit den alten gewohnheitsrechtlichen Laden der Handwerker zu verwechseln sind; dass Krünitz auf letztere verweist, lässt sich aus der Tatsache schließen, dass die von ihm erwähnten Hauptladen in Reichsstädten ansässig waren – Standorte, die für die landesherrliche Politik selbstverständlich ausgeschlossen waren; Sheilagh Ogilvie, The State in Germany. A Non-­Prussian View, in: John Brewer/Eckhart Hellmuth (Hrsg.), Rethinking Leviathan. The Eighteenth-­Century State in Britain and Germany. Oxford 2004, S. 167 – 202 (hier S. 198 f.). 9 Rainer S. Elkar, Recht, Konflikt und Kommunikation im reichsstädtischen Handwerk des späten 17. Jahrhunderts? – oder: die Geschichte von den drei ungerechten Kammmachern zu Ulm nebst Anmerkungen zu einem fast untergegangenen Beruf, in: Helmut Bräuer/ Elke Schlenkrich (Hrsg.), Die Stadt als Kommunikationsraum. Beiträge zur Stadtgeschichte vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert, Festschrift für Karl Czok zum 75. Geburtstag. Leipzig 2001, S. 187 – 237 (hier S. 216). 10 Ebd., S. 200 f., 207 f. Andere Beispiele bei Reinhold Reith, Zünfte im Süden des Alten Reiches: politische, wirtschaftliche und soziale Aspekte, in: Heinz-­Gerhard Haupt (Hrsg.), Das Ende der Zünfte: ein Europäischer Vergleich. Göttingen 2002 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 151), S. 39 – 69 (hier S. 44 f., 63). Eine ähnliche Einteilung (jedoch ohne Erwähnung der Hauptladen) findet sich bei Gerhard Deter, Autonomes Zunft- und obrigkeitliches Gewerberecht. Zum Verhältnis von staatlichem und statuarischem Recht im Münster des 18. Jahrhunderts, in: forum historiae iuris, online unter: http://fhi.rg.mpg.de/1999-09-deter/?l=de (aufgerufen am 12. Mai 2017), § 6, der für die Stadt Münster von verschiedenen „Rechtskreisen“ spricht, nämlich „Landrecht, Stadtrecht und das zünftige Statuarrecht“.

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Gewohnheitsrechtliche Spruchpraxis, reichsstädtische Verfassung und Reichsrecht: Dies sind die Themenkomplexe, um die sich die Debatten am Reichstag drehen. Dort stand Nürnberg ab den 1670er Jahren vehement für die Beibehaltung der Hauptladen und der mit ihnen verbundenen Funktionen ein. Deren Ausübung sei nicht als Missbrauch zu bezeichnen, denn habe die Stätt [sie] vor 100 oder mehr Jahren oder ex privilegio exercirt […], obschon – wie sie einräumt – nit allemahl dabey die eigentliche ursach und ration zu begreiffen stünde. Schließlich habe die Stadt auch viel Confusion verhüttet, welche sonsten wegen […] so sich unordentlicher weisse dess Meisterrechts anmassen, sich ausser den verwahrten Stätten auf dörffer und weyher sezen, und endlich […] wohl Stimperley treiben, zum eysserstem und gewissem ruin der sonst übl betrangten Handls Stätte.11 Diese Argumentation überzeugte jedoch nicht, denn bereits 1671 waren die Abgeordneten Nürnbergs nicht mehr in der Lage, im Städtekollegium eine Mehrheit für den Fortbestand der Hauptladen zu erlangen.12 Im Jahr 1731 stand diese Frage im Reichstag erneut auf der Tagesordnung, und zwar wieder im Zusammenhang mit der Frage der Stümper und Störer. Eine Schrift zur Abschaffung der auf denen Dörfern eingeschlichene – theils unzünftige Handwerker und Pfluscher, theils gar eingefügte Dorf-­Meisterschaften, welche in denen Städten etablierten zünftigen Meistern ungemeinen Eintrag und Abbruch thun, auch allerhand andere Unordnungen verursachen, fasste die Position der Reichsstädte zusammen.13 Dagegen schlugen die Fürsten vor, alle Hauptladen insgemein und überhaupt abzuschaffen, und den Landes-­Herrschafften und Obrigkeiten das Recht zu überlassen, in ihren Städten und offenen flecken die Land-­Zünfte an- und einzurichten, [und] ihnen die Gesetze alleine vorzuschreiben – ein Vorschlag, der im selben Jahr fast wortwörtlich in die Reichshandwerksordnung übernommen wurde.14 Ihr zufolge sollte es von nun an der Landesobrigkeit obliegen, das Handwerkerrecht zu setzen und auch durchzusetzen.15 Die erwähnten Debatten und juristischen Verfahren deuten darauf hin, dass in der alltäglichen Rechtspraxis zumindest vor 1731 die Verhandlung von Streitfällen im Handwerkswesen alles andere als unproblematisch und selbstverständlich war. Denn im Rechtsgefüge des Reiches war die Kompetenzabgrenzung zwischen Gewerbeinstanzen, städtischen Spruchkörpern und Reichsgerichten wenig eindeu 11 Winzen, Handwerk – Städte – Reich (wie Anm. 5), S. 86, 90 f. 12 Ebd., S. 121 f. 13 Staatsarchiv Nürnberg (künftig: StAN), Rep. 24b, Reichsstadt Nürnberg, Nr. 448, Nr. 136, ohne Datums- und Seitenangaben. 14 StAN, Nürnberger Reichstagsakten, Nr. 448, Nr. 82, 5. März 1731; vgl. auch die Ergänzungen in Nr. 121, 14. April 1731. 15 Anette Baumann, Die Gesellschaft der Frühen Neuzeit im Spiegel der Reichskammergerichtsprozesse. Köln/Weimar/Wien 2001 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, künftig: QFHG, Bd. 36), S. 87.

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tig. Diese Problematik, insbesondere das Verhältnis zwischen Reichgerichten – hier vor allem dem Reichshofrat – und der reichsstädtischen Rechts- und Spruchpraxis, ist Untersuchungsgegenstand des vorliegenden Beitrags. Damit wird die Hypothese einer Gerichtsvielfalt im Gewerbewesen benutzt, um ein besseres Verständnis der handwerklichen Gerichtsbarkeit und deren Entwicklung sowohl hinsichtlich der Rechtsschöpfung als auch der Rechtsanwendung zu gewinnen. Aus Gründen, die sowohl mit dem Untersuchungszeitraum als auch mit dem Untersuchungsgebiet zusammenhängen, finden die Akten des Reichskammergerichts hier wenig Beachtung. Denn für die letzten Jahre des Speyerer Gerichts wurde ein „drastischer Rückgang der Fälle“ insgesamt, in denen es „aus dem fränkischen Kreis angerufen wurde“, konstatiert – unter anderem auch wegen der „zunehmenden Präsenz“ des Reichshofrats.16 Hinzu kommt, dass nach dem Umzug nach Wetzlar und bis in das erste Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts die Streitfälle aus dem Bereich „Handel und Gewerbe“ einen besonders niedrigen Anteil unter den dort geführten Prozessen ausmachten.17 Die vorliegende Fallstudie basiert daher auf Quellen Nürnberger und Wiener Provenienz, unter besonderer Berücksichtigung des Archivs des Nürnbergischen Collegium Pharmaceuticum einerseits und des Bestandes „Ärzte- und Arzneiprivilegien“ des Reichshofrats anderseits. Dies ermöglicht, die Bedeutung der reichsstädtischen Rechtssphäre und des kaiserlichen Höchstgerichts im alltäglichen Arbeitsleben sowohl aus Sicht der Nürnberger Ratsapotheker als auch aus Sicht ihrer Gegner, die sich auf die Reichsgerichtsbarkeit stützten, zu untersuchen.18 Zusätzlich bietet die Überlieferung der städtischen Behörden die Möglichkeit, die Fragestellung aus Sicht des Nürnberger Patriziats,

16 Filippo Ranieri, Recht und Gesellschaft im Zeitalter der Rezeption. Eine rechts- und sozialgeschichtliche Analyse der Tätigkeit des Reichskammergerichts im 16. Jahrhundert, zwei Teilbände. Köln/Wien 1985 (QFHG, Bd. 17/I–II), Teilbd. 1, S. 180 f. 17 Anette Baumann, Die Gesellschaft der Frühen Neuzeit (wie Anm. 15), S. 86 f. Von den in dieser Studie berücksichtigten Ratsapothekern konnte in den Inventaren des Reichskammergerichts lediglich Hans Leonhard Kellner nachgewiesen werden (1726 – 1727 als Kläger im Zusammenhang einer Schuldforderung): Stefan Breit/Wolfgang Pledl (Bearb.), Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Reichskammergericht, Bd. 14: Nr. 5569 – 6206 (Buchstabe K). München 2008, S. 122 f., Nr. 5697. 18 Zur Geschichte des Bestandes „Ärzte- und Arzneiprivilegien“ des Reichshofrats, dessen Existenz bereits vor dem Ende des Alten Reichs nachgewiesen ist, siehe Österreichisches Staatsarchiv, Haus-, Hof- und Staatsarchiv (künftig: ÖS tA HHS tA), Repertorium I/28 (Alt 66); Johann Jacob Moser, Neues Teutsches Staatsrecht, Bd. 3: Von denen Kayserlichen Regierungsrechten und Pflichten. Frankfurt a. M. 1772, S. 599. Nicht berücksichtigt werden dagegen die Apotheker des Nürnberger Heiligen-­Geist-­Spitals; Ulrich Knefelkamp, Das Heilig-­Geist-­Spital in Nürnberg vom 14.–17. Jahrhundert. Geschichte, Struktur, Alltag. Nürnberg 1989 (Nürnberger Forschungen, Bd. 26), S. 171 – 180.

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und damit aus einer dritten Perspektive heraus, zu untersuchen.19 Streitfälle werden daher im Folgenden aus Nürnberger und Wiener Sicht parallel und in chronologischer Abfolge dargestellt. Einer Beschreibung der reichsstädtischen Rechtssphäre folgt die Untersuchung des Eingreifens des Reichshofrats, dessen rechtsschöpfende Tätigkeit zu einer grundlegenden Veränderung des Gewerbes und zu der Herausbildung einer neuartigen, wenig kohärenten Gerichts- und Rechtsvielfalt führte.

2. Rechtsanwendung in der Reichsstadt Innerhalb der Stadtgrenzen eine klare Organisationsform und Kompetenzabgrenzung, jenseits der Stadtgrenzen eine Myriade von Regelungen und Entscheidungsinstanzen: So könnte man die rechtlichen Verhältnisse im Nürnberger Apothekerwesen zu Beginn des 18. Jahrhunderts bezeichnen. Innerstädtisch war die rechtliche Lage der Apotheker in der Tat genau geregelt. Im Jahr 1689 begrenzte der Nürnberger Stadtrat ihre Zahl auf sieben.20 Ihr Collegium Pharmaceuticum orientierte sich an dem berühmten Collegium der Ärzte, das zu Beginn des 16. Jahrhunderts nach venezianischem Vorbild eingerichtet wurde.21 Da ihr Collegium dem Collegium Medicum unterstellt war, lagen die Apotheker außerhalb des Kompetenzkreises der Nürnbergischen Handwerksverwaltung und Spruchinstanz (des Rugamts). Dennoch waren sie ähnlich einem Handwerk organisiert – mit eigener Buchhaltung, eigenem Archiv, eigenen Gesellen, eigenen Konventen und unter Aufsicht einer jährlichen Visitation, die von Deputierten des Rates und des Collegium Medicum

19 Alexander Jürgen Flechsig, Frühneuzeitlicher Erfindungsschutz. Eine Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der Reichsstadt Augsburg. Münster 2013 (Augsburger Schriften zur Rechtsgeschichte, Bd. 23), stützt sich dagegen ausschließlich auf Quellen aus dem städtischen Überlieferungszusammenhang, insbesondere auf Privilegien, die an Augsburger Apotheker verliehen wurden. Die Recherchen, die ich im Rahmen des ANR-Projekts „Wirtschaftsprivilegien im frühneuzeitlichen Europa“ im Bestand „Gewerbe-, Fabriks- und Handlungsprivilegien“ des Reichshofrats geführt habe, zeigen jedoch, dass dieser Bestand reichhaltiges Material zur Nürnberger Handwerksgeschichte bietet. Im Fall Nürnbergs ist die Überlieferung für kein anderes privilegiertes Gewerbe so umfangreich wie für die Ratsapotheker. 20 Stadtarchiv Nürnberg (künftig: StadtAN), B19 (Reichsstädtische Deputation) 135, Garantie des Rats, 26. Oktober 1689. 21 Karl Gröschel, Des Camerarius Entwurf einer Nürnberger Medizinalordnung „Kurtzes und ordentliches Bedencken“ (1571). München 1977; Egon Philipp, Das Medizinal- und Apothekenrecht in Nürnberg. Zu seiner Kenntnis von den Anfängen bis zur Gründung des Collegium pharmaceuticum (1632). Frankfurt a. M. 1962 (Quellen und Studien zur Geschichte der Pharmazie, Bd. 3), S. 103 – 108.

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durchgeführt wurde.22 Gern priesen sie ihre Ordnung als eine, die von den meisten Reichsstädten nachgemacht werde.23 Sowohl innerhalb als auch außerhalb der Stadt waren die Apotheker darauf bedacht, sich von anderen Gewerben oder von Gewerbetreibenden, die ähnliche oder identische Produkte wie sie herstellten und vertrieben, abzugrenzen. Diese Abgrenzungsbestrebungen waren jedoch aufgrund undurchsichtiger Norm- und Kompetenzverflechtungen oft schwierig durchzusetzen.24 Außerhalb der Stadt ist dafür die Territorialzersplitterung verantwortlich zu machen: Für Kranke und Pflegebedürftige war es ein Leichtes, jenseits der Stadtgrenzen ihr Glück außerhalb der von der Stadt genehmigten Einrichtungen zu suchen. Insbesondere im Südwesten des Reiches war das Problem nicht zu unterschätzen: dass die Städte dort […] alleine die Zunft- und Handwerksgerechtigkeit hätten, war nämlich eine laute Particular-­ Wahrheit […]; In Francken, Schwaben und am Rhein hat [selbst] die unmittelbare Reichsritterschaft das Recht, auf ihren Dörffern Zünfften anzuordnen, und man wird kaum einige bekannte Profession anzeigen können, die man nicht in selbigen Gegenden auch auf denen Dörffern anträffe – so die Behauptung von Johann Jakob Moser, der als Beispiel für die betroffenen Berufe bezeichnenderweise die Apotheker anführt.25 Dazu kamen die Feldapotheker der Reichsarmeen, von denen einige versuchten, sich nach dem Ende der Reichskriege gegen Frankreich in den Städten zu etablieren; so beispielsweise ein in Jena studierter ehemaliger Feldarzt des Herzogs von Lothringen, der in Nürnberg zunächst als Stümper bezeichnet wurde und dann versuchte, auf Grundlage von Zeugnissen der medizinischen Fakultäten zu Wien und Erfurt eine städtische Arbeitserlaubnis zu erhalten.26 Die Stadtapotheker hatten es also mit einer bunten, vielfältigen Konkurrenz zu tun. Die Zusammen­setzung dieser Konkurrenz wird in Bittschriften aus dem Ende des 17. und aus der Mitte des 18. Jahrhunderts präzisiert: 1699 werden als „Störer“ Materialisten (also Spezerey-­ 22 Germanisches Nationalmuseum (künftig: GNM), Pharmaceutica: Nürnberg, Collegium Pharmaceuticum (künftig: Coll. Pharm.) 12, Verneute Gesetz und Ordnung eines Hoch-­ Edlen und Hochweisen Raths des heiligen Reichs Stadt Nürnberg dem Collegio Medico, den Apothekern und andern Angehörigen daselbst gegeben. Nürnberg 1700, Art.  XIX, XXIII; zu diesen Visitationen siehe Johann Friedrich Roth, Versuch einer Geschichte des Apothekenwesens in der freyen Reichsstadt, o. O. 1792, ND Stuttgart 1933, S. 34 f. 23 GNM, Coll. Pharm. 19, S. 6, 1699 (ohne Tages- und Monatsangabe). 24 Vgl. die Bittschrift des Apothekers Johann Lienhardt Stöberlein an den Rat (1685); Philipp, Das Medizinal- und Apothekenrecht (wie Anm. 21), S. 107 f. 25 Moser, Neues Teutsches Staatsrecht, Bd. 3 (wie Anm. 18), S. 564. 26 GNM, Coll. Pharm. 19, S. 19, 25. Januar 1688 (Bericht der Apotheker gegen die „grosse Rotomondade“ des Peter Harnisch); 20 III-3, 18. September 1688 (Supplik des Peter Harnisch an den Nürnberger Rat); 19, S. 20, 11. April 1688, Bericht der Ratsapotheker gegen die Supplik von Harnisch.

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Händler oder Gewürzkrämer 27), Wasserbrennerinnen (die entgegen ihrer Statuten Säffte, Wermuth-­Essenzen und andere Usualia verkauften), ein Gartner (der die zur Arzney dienlichen Blumen, Kr[a]ütern und Wurzeln und den Apothekern alles vor dem Maul hinweg kauft, und sowohl den hiesigen Materialisten zuträgt) sowie vorstädtische heimliche Apotheker denunziert.28 Im Jahr 1751 tauchen im Großen und Ganzen immer noch dieselben Gruppen auf.29 Das Vorgehen gegen die „Störer“ gestaltete sich schwierig, denn – um es mit den Worten eines Apothekers zu sagen – wann man der Stümpeley als einer wahren Hydrae Lerneae einen Kopf gleich abschlug, so ragten doch immer mehrer wieder hervor.30 In ihrem Kampf gegen die aus ihrer Sicht illegale Konkurrenz griffen die Apotheker nicht unbedingt auf Gerichte zurück. Eine Schlüsselrolle kam vielmehr einzelnen städtischen Bediensteten zu, die in wirtschaftsgeschichtlicher Perspektive allenfalls als Hilfsberufe betrachtet werden können. Kanzleiboten und Torwächter beispielsweise konnten im Auftrag der Apotheker gegen unbefugte Konkurrenten vorgehen. Ihnen bezahlte das Gewerbe regelmäßig ein paar Kreuzer, um gegen Verkäufer von Pharmaceutica vorzugehen, die ihre Ware ohne Berechtigung feilboten.31 Genau diese Position war es, die den Angehörigen dieser und anderer Hilfsberufe die Möglichkeit bot, die Konkurrenz zwischen städtischen und vorstädtischen Handwerkern zu ihrem Vorteil auszunutzen. So betrieb der Sohn eines Bediensteten der Stadtwaage von einer Herberge aus einen Handel mit Siegellack, den er zum Verdruss der städtischen Materialisten an die Landkrämer verkaufte.32 Ähnlichen Vorwürfen sah sich das Hilfsgewerbe der Makler ausgesetzt, die im Verdacht standen, Medikamente herzustellen oder nachgemachte Medikamente zu vertreiben.33 Kam es zur Inanspruchnahme des Stadtrats in seiner Eigenschaft als erstinstanzlicher Spruchkörper durch die Apotheker, um gegen diese Konkurrenz vorzugehen, dann waren – ganz erwartungsgemäß – die „Nahrung“ der Gewerbe-

27 Johann Christoph Adelung, Grammatisch-­kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen, Bd. 3. 2. Aufl. Leipzig 1798, Sp. 107. 28 GNM, Coll. Pharm. 19, S. 6 (1699). 29 Ebd., S. 52 (1751). 30 Roth, Versuch einer Geschichte des Apothekenwesens (wie Anm. 22), S. 50. 31 GNM, Coll. Pharm. 63, S. 24 – 27: dieses summarische Rechnungsbuch, das einer Kladde ähnelt, gibt aufschlussreiche Einblicke in die Ausgaben des Apothekergewerbes für die Jahre 1692 – 1751. 32 StadtAN, E8 Handelsvorstand 4097, Nr. 15, Supplik des Johann David Zwinger und der Appolonia Güllin an das Banco-­Amt, 14. Oktober 1738. 33 GNM, Coll. Pharm. 23, Aktenband V, S. 69, 22. August 1722.

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treibenden und die Produktqualität die ins Feld geführten Argumente.34 Das im Rat vertretene Nürnberger Patriziat verfolgte in diesen Fragen jedoch keine einheitliche Vorgehensweise und urteilte dementsprechend nicht systematisch zugunsten der Apotheker. So konnte der Rat gelegentlich Außenseiter gegen das Gewerbe schützen oder auch Klagen anderer Gewerbe gegen die Apotheker hören.35 Diese Politik des Rats kann als ein Grund dafür angesehen werden, warum die Apotheker Konflikte möglichst schnell selbst zu lösen suchten, anstatt sich an den Stadtrat durch eine Supplik zu wenden.

3. Die rechtsschöpfende Einmischung des Reichshofrats Zu Beginn des 18. Jahrhunderts veränderte sich dieses Bild grundlegend. Schon ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts sind sporadisch kaiserliche Privilegien an Nürnberger Arzneiverkäufer verliehen worden.36 Ab 1700 handelt es sich hier aber nicht mehr um Einzelerscheinungen. Mehrere Händler pharmazeutischer Produkte, die ihr Gewerbe in oder um Nürnberg bisher lediglich in ihrer Eigenschaft als unbefugte Konkurrenten der Ratsapotheker ausübten, werden ebenfalls privilegiert.37 Warum die Privilegierung zu diesem Zeitpunkt – genauso wie in 34 Der oben erwähnte Peter Harnisch z. B. habe nicht nur wie diese Land und Leuth-­Betrüger das Brod vor dem Maul den Nürnberger Ratsapothekern weggenommen, sondern auch untersagte Heilmittel indifferenter und ohne consideration der temperatorum, krankheiten und anderer umbstände verkauft. GNM, Coll. Pharm. 19, S. 20, 11. April 1688. 35 So wird der Kriegsflüchtling Wilhelm Friedrich Brunner im vorstädtischen Gostenhof geduldet, da er den armen Leute […] in begebeden nothfällen viel gutes erweise und von anderen Gruppen – Haupt- und Fuhrleuten – gegen die Apotheker unterstützt wird. GNM, Coll. Pharm. 21, Aktenband  III, Nr. 34, 35, 36 (Ratsverlässe, 27. November 1697, 19. Januar 1698, 12. Februar 1698). Im Jahr 1674 klagen Geschworene des Gläserhandwerks gegen die Apotheker, weil diese ihre Phiolen bei unzünftigen, vom Lande kommenden Glasträgern gekauft hätten; GNM, Coll. Pharm. 20, Aktenband II, III Nr. 2, 10. März 1674. 36 ÖStA HHStA, RHR, Ärzte- und Arzneiprivilegien 5, S. 113 – 147, Privilegium für Johann Georg Grüber (Irnsingerisch oder Nürnbergisches Pflaster, 1653). 37 Die Arzneiverkäufer, die zwischen 1700 und 1710 privilegiert werden, sind: David Gottlieb Reiher (Spiritus Apoplecticus Oleosus, 1700), Johann Adam Haas (Sal volatile, Pest-­Magen und Blut-­Reinigungsbalsam, Panacea, Hertz und Haubtstärckendes Goldpulver, 1705), Georg Pilgram (heylsame tincturam antimony et corallorum, hertzstärckende Perlenmilch, 1705), Johann Kirberg (Pillula Immanuelis, 1708), Johan Conrad Lochner (Steinpulver, tinctur und spiritum, 1709) und Christoph Heinrich Schöll (Dreyerlei Medicamenten, 1710). Durch immer wieder erfolgte Verlängerungen hatten einige dieser Privilegien eine jahrzehntelange Geltungsdauer, wie z. B. dasjenige für die Pillula Immanuelis (1778 zum letzten Mal erneuert); ÖStA HHStA, RHR, Ärzte- und Arzneiprivilegien 2, S. 61 f., 139 – 152; 5, S. 1 – 8; 7, S. 442 – 449; 9, S. 404 – 406; 11, S. 142 f.; 12 – 13, S. 318 – 321. Insgesamt lassen sich in dem

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Augsburg – einsetzt, geht aus dem Quellenmaterial nicht eindeutig hervor. Da in mehreren Fällen ehemalige Feldapotheker privilegiert wurden – oder auch Arzneiverkäufer, die als Feldapotheker fungieren durften – könnte die Privilegierung mit den Reichskriegen gegen Frankreich in Zusammenhang stehen.38 Eventuell hat auch die Korruption der kaiserlichen Verwaltung, von der Nürnberger Gesandte in Wien zu dieser Zeit berichten, eine Rolle gespielt, oder einfach die Tatsache, dass diese kaiserlichen Privilegien verkauft wurden, auch wenn ihr damaliger Preis im Vergleich mit anderen Gnadentypen eher gering ausfällt.39 Eindeutig belegbar und im Rahmen dieser Fallstudie letztendlich bedeutsamer ist jedoch, dass das Collegium pharmaceuticum weder die erste noch die letzte, geschweige denn die einzige Gewerbeorganisation in Nürnberg war, die mit diesen Privilegierungen und den damit verbundenen neuen Herausforderungen zu kämpfen hatte. So bezeugen die Bestände „Ärzte- und Arzneiprivilegien“ und „Gewerbe-, Fabriksund Handlungsprivilegien“ des Reichshofrats, dass die Auffassung, die Reichsgesetzgebung habe lediglich eine unbedeutende Auswirkung auf die Entwicklung der Nürnberger Gewerbe gehabt, hinfällig ist.40 Denn die Privilegierung bedeutet Zeitraum von 1650 bis 1806 81 Arzneiprivilegien für Nürnberg nachweisen; für Augsburg sind es 41, jedoch ohne Berücksichtigung der Reichshofratsbestände; siehe dazu Flechsig, Frühneuzeitlicher Erfindungsschutz (wie Anm. 19), S. 65, 160 – 166, 175 – 179; Moser, Neues Teutsches Staatsrecht, Bd. 3 (wie Anm. 18), S. 534 f. 38 Peter Harnisch, der 1692 privilegiert wurde, war zuvor in Lothringen Feldarzt und stand danach im Kriegsdienst; GNM, Coll. Pharm. 20 III-3, 4. Januar 1688, S. 20; ÖStA HHStA, RHR, Ärzte- und Arzneiprivilegien 5, fol. 53 – 66. Johann Adam Haas, im Jahr 1706 kayserlicher Rat und Chymicus, war zuvor mehrere Jahre im Rheinland und im Königreich Ungarn mit den Armeen, wo er allerhand Krankheiten bei auch vielen hohen offizieren geheilt haben soll. GNM, Coll. Pharm. 23, Aktenband V, X, S. 4. Als weiterer Beleg für den Zusammenhang zwischen Privilegierung und Kriegsdienst kann die Bestimmung angesehen werden, der zufolge die Privilegien auch im Feld bey unseren kayserlichen und des reiches armeen gültig seien. Sie findet sich in mehreren Privilegien aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Vgl. die Privilegien für Johann Engelhard (1749), ÖStA HHStA, RHR, Ärzte- und Arzneiprivilegien 3, S. 342 – 349, Johann Christian Erfuhrt (1747), ebd., S. 342 – 349, und Johann Friedrich Kern (1722), ebd. 6, Konvolut 1, S. 85 – 103. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Moser, Neues Teutsches Staatsrecht, Bd. 3 (wie Anm. 18), S. 480 f. 39 StadtAN, E20, Scheurlarchiv Schwarzenbruck, Nr. 813, ohne Seitennummerierung (5. Oktober 1714); Preise der verschiedenen Gnadentypen bei Samuel Stryk, Examen über das Lehn-­ Recht durch kurtze Fragen und derselben Beantwortung. Frankfurt a. d. O. 1713, S. 379; zur Korruption des Reichshofrats zu Beginn des 18. Jahrhunderts Michael Hugues, Laws and Politics in Eighteenth Century Germany. The Imperial Aulic Council in the Reign of Charles VI. London 1988, S. 31, 50 – 54, 57 – 59. 40 Ekkehard Wiest, Die Entwicklung des Nürnberger Gewerbes zwischen 1648 und 1806. Stuttgart 1968 (Forschungen zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Bd. 12), S. 59 f. Es scheint jedoch Berufe gegeben zu haben, für die grundsätzlich keine Privilegien ausgestellt

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hier die „Schaffung neuen Rechts“, das die althergebrachte städtische Rechtsordnung überlagert.41 Das alte, nahezu monopolistisch organisierte reichsstädtische Apothekerwesen gehörte fortan also der Vergangenheit an. Dass die Privilegierung von Arzneiverkäufern mehr als nur die Zulassung unerwünschter Konkurrenten und einen tiefen Eingriff in den Gewerbealltag bedeutete, lässt sich in mehrfacher Hinsicht belegen. Ratsapothekern war es mindestens seit 1529 verboten, die althergebrachten Rezepte zu verändern und neue Medikamente zu entwickeln. Im Gegensatz dazu beruhten die Privilegienerteilungen durch den Reichshofrat und den Kaiser rechtlich genau auf dem innovativen Charakter einer neuen Arznei.42 Auch die Vermarktungsmethoden der Medikamente veränderten sich grundlegend. Zum einen lösten die Privilegien Diskussionen um den alten Gegensatz zwischen dem Vertrieb im Ladengeschäft und dem Hausieren, also zwischen ortsgebundenem und mobilem Handeln, wieder aus. Zum anderen verbreiteten sich auch neue Verkaufsstrategien. Da privilegierte Arzneiverkäufer ihren kaiserlichen Diplomen zufolge unter dem Reichsadler verkaufen durften, schmückten sie zum Beispiel das Etikett ihrer Phiolen standardmäßig mit dem Reichsadler (Abbildung 1).43 Andere ließen Informationszettel oder Prospekte drucken. An sich war dies keine neue Praxis, wohl aber, dass die privilegierten Arzneiverkäufer mehr Fryheit als hiesige Herrn Medici und […] Apotheker beim Drucken und Verteilen dieses Werbematerials genossen.44 Vernehmungsprotokolle aus dem Jahr 1709 bezeugen, dass diese wurden. Dies geht aus einer Untersuchung der Reichshofratsverwaltung aus dem Jahr 1714 hervor. Ausgelöst wurde diese Untersuchung durch eine Supplik eines Bierbrauers, in der er um Privilegierung seiner Tätigkeit bat. Diese Episode bezeugt außerdem, dass die von der Reichshofratsverwaltung geführten Verzeichnisse trotz ihrer Lückenhaftigkeit von den Zeitgenossen durchaus genutzt wurden. ÖStA HHStA, RK, Kleinere Reichsstände 379 – 12, S. 273 – 284 (hier S. 273r), 18. Dezember 1714. 41 Heinz Mohnhaupt, Bestrebungen zur Vereinheitlichung der Privilegienvielfalt im Bereich des Handwerks im Kurfürstentum Brandenburg (1734 – 1736), in: Garner (Hrsg.), Die Ökonomie des Privilegs (wie Anm. 1), S. 33 – 53 (hier S. 36 f.). 42 GNM, Coll. Pharm. 12, Verneute Gesetz und Ordnung (wie Anm. 22), Art.  XIV–XVI; Roth, Versuch einer Geschichte des Apothekenwesens (wie Anm. 22), S. 42; Flechsig, Frühneuzeitlicher Erfindungsschutz (wie Anm. 19), S. 104 f., 117 – 119. 43 StadtAN, E1/976 Familie Liebel Nr. 5, ohne Datum. Andreas Jakob Liebel, dessen Name auf dem Etikett steht, wird 1743 privilegiert; ÖStA HHStA, RHR, Ärzte- und Arzneiprivilegien 7, Konvolut 2, S. 295 – 311. 44 StadtAN, B19 (Reichsstädtische Deputation) 184, S. 27 ff., 5. Mai 1709; Begleitzettel für den Theriak sind „im oberdeutschen Raum […] zwischen Nürnberg, Eichstätt und Regensburg“ bereits im 14. Jahrhundert nachweisbar; Thomas Holste, Der Theriakkrämer. Ein Beitrag zur Frühgeschichte der Arzneimittelwerbung. Pattensen 1976 (Würzburger medizinhistorische Forschungen, Bd. 5), S. 55.

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gedruckten Zettel durchaus nachgefragt waren, um sich über die Wohltaten eines Produkts zu informieren.45 Möglicherweise hatten einige dieser Drucke einen sehr breiten Absatz, der ihren Herstellern einen Markt überregionaler, ja europäischer Dimension erschloss.46 Gleiches galt für die Werbung in Zeitungen, die privilegierte Arzneiverkäufer gerne schalteten. Im Jahr 1711 verbot der Stadtrat den Nürnberger Zeitungsdruckern jedoch, nichts mehr sonst [ohne] der Herrn Censorn Vorwissen von herauskommenden neue Bücher, Arzneyen, oder was es seyn möge, an die Wochenzeitungen zu drücken – ein Verbot, das fortan regelmäßig erneuert wurde.47 In den Nachbarterritorien oder bei privilegierten Zeitungen war das Verbot aber wirkungslos.48 Die Nürnberger Ratsapotheker nahmen diese Angelegenheiten sehr ernst. Als ein ehemaliger Kramer, der den Status eines privilegierten Arzneiverkäufers verliehen bekommen hatte, darum bat, den kaiserlichen Adler vor seiner Behausung machen zu dörfen, empörten sich die Ratsapotheker, dies sei ganz unbekannt und nicht herkömmlich. Schließlich gebe es in der Stadt vielerley Persohnen, die zwar über kaiserliche Privilegien für ihre Fabriken und Manufakturen verfügten, dennoch keine[r] den kayserlichen Adler für sein Haus zu machen begehrte.49 Diese Konflikte spiegeln allgemeine Entwicklungen des europäischen Apothekerwesens zu Beginn des 18. Jahrhunderts wider. Denn auch auf den Frankfurter Messen war der Arzneiwarenhandel eine der ersten Branchen, die Zeitungsanzeigen als Verkaufsstrategie einsetzten. Und auch in Frankfurt setzte diese Entwicklung

45 ÖStA HHStA, RHR, Ärzte- und Arzneiprivilegien 6, Konvolut 2, S. 320r–325. 46 Für die Lebenspille des Andreas Jakob Liebel sind z. B. zwei Werbezettel nachweisbar – einer auf Italienisch, der andere auf Niederländisch (StadtAN, E1/976 Familie Liebel Nr. 5). Einige Medikamente müssen einen noch viel großräumigeren Absatz gehabt haben: so etwa die bekannte „poudre d’Aihlaud“ aus Aix-­en-­Provence, für die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts arabische, griechische, italienische und lateinische Informationszettel warben und von der jährlich 400.000 Schachteln mit je zehn Dosen verkauft wurden; Mary Lindemann, Health and healing in Eighteenth-­Century Germany. Baltimore 1996 (John Hopkins University studies in historical and political science), S. 172; Robert Caillet, L’affaire la plus fructueuse du XVIIIe siècle. Le remède universel du docteur Ailhaud, in: Revue d’histoire de la pharmacie 141 (juin 1954), S. 251 – 266 (hier S. 259 – 263). 47 GNM, Coll. Pharm. 21, Aktenband III, Nr. 75, 8. Juli 1711; Nr. 91, 5. Juli 1720; Nr. 95, 21. April 1729. 48 So veröffentlichte trotz des Verbots der Nürnberger Kriegskurier am 10. Februar 1744 eine Anzeige für die Pillula Immanuelis. Rechtsgrundlage für diesen offensichtlichen Verstoß könnte die kaiserliche Privilegierung der Zeitung sein; ÖStA HHStA, RHR, Ärzte- und Arzneiprivilegien 2, Konvolut 1, S. 95; Hans-­Joachim Koppitz (Hrsg.), Die Kaiserlichen Druckprivilegien im Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien. Wiesbaden 2008, S. 139 f. 49 GNM, Coll. Pharm. 19, S. 51, 20. August 1750. Die Anspielung bezieht sich auf privilegierte Spiegelmanufakturen, die Hausierhandelswaren produzierten.

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Abb. 1  Andreas Jakob Liebels Lebens- oder Liebelspillen. Stadtarchiv Nürnberg, E1/976 Familie Liebel Nr. 5.

zeitgleich mit der Erteilung von ersten Privilegien ein.50 Das Aufkommen von Wappen als Markenzeichen und von Privilegierungen als Markensicherungsmethode lassen sich indes auch bei anderen Produkten, die den Arzneien nahestanden – wie Tabak – nachweisen.51 Kurzum: Medikamente waren zu Beginn des 18. Jahrhun 50 Die parallele Entwicklung in beiden Reichsstädten korrespondiert mit Verflechtungen auf personeller Ebene: Einige Nürnberger Apotheker heirateten in Apothekerfamilien der Reichsstadt am Main, so z. B. der Sohn des Johann Leonhard Kellner, Apotheker „zur goldenen Kanne“ in Nürnberg, der die Tochter des Philipp Friedrich Hanlein aus Frankfurt, des Betreibers einer der größten Apothekerwarenhandlungen im deutschen Raum, heiratete; Alexander Dietz, Frankfurter Handelsgeschichte. Frankfurt a. M. 1925, Bd. 4 – 2, S. 571, 2, S. 567. 51 Anja Amend-­Traut, „Sich der Concurrenz erwehren…“ Kaufmännischer Wettbewerb unter höchstgerichtlicher Kontrolle (16.–18. Jahrhundert), in: Eva Schumann (Hrsg.), Justiz und

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derts zu modernen Konsumgütern geworden. Ratsapotheker waren aber nicht innovationsunfähig. Denn genauso wie in anderen Teilen Europas waren auch in Nürnberg es ihre Läden, die als Vorläufer der modernen Boutique angesehen werden können (Abbildung 2).52 Diese Entwicklung ist ebenso wie die Auseinandersetzungen zwischen Ratsapothekern und privilegierten Arzneiverkäufern letztlich im Zusammenhang mit der steigenden Nachfrage nach Wunderarzneien im 18. Jahrhundert zu verstehen, als aufklärerische und populäre Diskurse aufeinanderprallten, die Ausdruck des Gegensatzes zwischen obrigkeitlicher Regulierung des Gesundheitswesens und „do-­it-­yourself“-Kuren waren.53

4. Eine neue Gerichts- und Rechtsvielfalt? Wie reagierten die Nürnberger Ratsapotheker auf den Eingriff des Reichshofrats via Privilegierungen in das Gefüge ihres Gewerbes? Zunächst wandten sie sich ordnungsgemäß an ihre städtische Obrigkeit mit einer Supplik, in der sie darlegten, die Ausübung ihres Gewerbes durch die privilegierten Arzneiverkäufer sei gefährlich und nachteilig und habe viele Patienten in äußere Lebensgefahr gesetzt.54 Einige Jahre später gingen sie dann gegen die kayserlich-­privilegiert-­geglaubte Stümpler einen nach dem anderen vor, wie zum Beispiel gegen den grossangesehen seyn-­wollende kayserl. Balsam-­Rath und Chymicus von Haas, der eine Gold-­Panacae ausgibt, die eben so wenig Gold als unsere Pflastersteine enthalte.55 Dabei blieben die „Nahrung“ und die Qualitätssicherung ihre beiden wichtigsten Argumente, die sie mit umso größerem Nachdruck vorbrachten, als der Vertrieb von kaiserlich-­privilegierten Medikamenten in der kaiserlichen Residenzstadt Wien selber verboten war.56 Gegen diese Angriffe wussten sich die privilegierten Arzneiverkäufer zur Wehr zu setzen. So veranlasste 1709 Johann Kirberg einen Notar und zwei Zeugen, im Rathaus der Stadt Nürnberg das allergnädigst ertheilte Original seiner Gnadenakte und unseres allergnädigsten Kaysers und Herrns demselben anhangendes grössers Insiegel vorzu-

Verfahren im Wandel der Zeit. Gelehrte Literatur, gerichtliche Praxis und bildliche Symbolik. Festgabe für Wolfgang Sellert zum 80. Geburtstag. Berlin/Boston 2017 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, NF., Bd. 44), S. 55 – 82 (hier S. 56, 81 f.). 52 Patrick Wallis, Consumption, Retailing and Medicine in Early-­Modern London, in: The Economic History Review 61 – 1 (2008), S. 26 – 53. 53 Lindemann, Health and healing (wie Anm. 46), S. 173. 54 StadtAN , B19 (Reichsstädtische Deputation) 184, S.  12, 4.  März 1706; GNM , Coll. Pharm. 12, Verneute Gesetz und Ordnung (wie Anm. 22), Art. XXXVIII. 55 StadtAN, B19 (Reichsstädtische Deputation) 184, S. 23 – 26, 29. April 1709. 56 Ebd.

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Abb. 2  Inneres der Sternapotheke des Wolfgang Dieterich in Nürnberg (Inventar der ­Apotheke GNM, Pharmaceutica: Nürnberg, Collegium Pharmaceuticum 18, erste Hälfte des 18. Jahrhunderts). Germanisches Nationalmuseum HB1964.

zeigen.57 Andere Begünstigte beantragten eine kaiserliche Bestätigung ihres Privilegs.58 Im Jahr 1709 sah sich die Stadtverwaltung schließlich dazu gedrängt, den privilegierten Arzneiverkäufern zu versichern, dass sie die kaiserlichen Diplome mit allerunterthänigsten Veneration anerkannte.59 Vor Ort musste sie sich also darauf beschränken, dafür Sorge zu tragen, dass diejenige[n] [Stümper], welche kayserl. Privilegien albereit extrahiert, in denen Schranken strictissime […] verbleiben, und nicht noch weiters, als der tenor privilegy ausweiset, um sich […] greifen.60 57 ÖStA HHStA, RHR, Ärzte- und Arzneiprivilegien 6, Konvolut 2, S. 319, 11. Juni 1709. 58 ÖStA HHStA, RK, Kleinere Reichsstände 381, S. 440, Schreiben Karls VI. an Nürnberg, 7. Oktober 1735. 59 StadtAN, B19 (Reichsstädtische Deputation) 184, S. 35, 12. Juli 1709. 60 Ebd., S. 30, 3. Juli 1709.

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Prinzipiell hatte die Stadt kaum Möglichkeiten, gegen kaiserliche Privilegierungen vorzugehen. Das Recht, Privilegien zu vergeben, war zwar Gegenstand der Verhandlungen um die Wahlkapitulationen, jedoch konnte sich Nürnberg in diese Verhandlungen nur indirekt einbringen. Bei den Debatten um die ständige Wahlkapitulation (Perpetua) drängten die Reichsstädte darauf, den Gültigkeitsbereich des Verbots von Monopolia in kaiserlichen Privilegien auf das Kauff-­Handeln, [die] Künsten und andere in das Policey-­Wesen einlaufenden Sachen (wie das Gesundheitswesen) auszuweiten – mit Erfolg, da diese Forderung Eingang in die Wahlkapitulation Karls VI. gefunden hat.61 Auffällig ist, dass diese Forderung im Jahr 1711 gemacht wird, genau zu der Zeit, als die Privilegierung von Arzneiverkäufern in Nürnberg und anderen Reichsstädten bestritten wurde und erbitterte Auseinandersetzungen auslöste. Auf der Grundlage dieses Verbots rechtlich gegen kaiserliche Privilegien vorzugehen, setzte aber voraus, eindeutig zu belegen, dass die angefochtenen Privilegien echte Monopole darstellten. Die in dieser Frage anhaltende Rechtsunsicherheit scheint die Wahlkapitulation Karls VII. von 1742 zu beenden. Sie regelt unzweideutig, dass Privilegien nicht gegen das Policey-­Wesen eines Reichsstandes zuwiderlaufen können.62 Anlass zu Interpretationsspielraum und weiteren Auslegungsdifferenzen sollte jedoch die ausdrückliche Bedingung bieten, dass dies nur dort gelte, wo es keine hergebrachten Privilegia gab.63 Da seit dem 16. Jahrhundert vereinzelt Arzneiprivilegien erteilt worden waren, konnte sich der Reichshofrat also auf eine herkömmliche Praxis stützen und so Anfechtungsversuche zurückweisen.64 Die rechtliche Vielfalt auf dem Gebiet der Gewerbeordnung, die sich einerseits aus der Ordnung der Stadt, andererseits aus den durch den Reichshofrat vertretenen Rechten des Kaisers ergab, war also spätestens seit der Mitte des 18. Jahrhunderts nicht mehr zu vermeiden.65 Die Rechtssubjekte brachte sie in die schwierige Situa 61 Johann Jacob Moser, Ihro Römisch-­Kayserlichen Majestät Carls des VII. Wahlcapitulation mit Beylagen und Anmerkungen. Frankfurt a. M. 1742, Anmerkungen, S. 262. Wolfgang Burgdorf (Bearb.), Die Wahlkapitulationen der römisch-­deutschen Könige und Kaiser 1519 – 1792. Göttingen 2015 (Quellen zur Geschichte des Heiligen Römischen Reichs, Bd. 1), S. 326, 252 (zum Vergleich mit der Wahlkapitulation Josephs I.). 62 Burgdorf (Bearb.), Die Wahlkapitulationen (wie Anm. 61), S. 389. 63 Ebd., S. 390. Die Formel wird textgleich in den späteren Wahlkapitulationen und bis zum Ende des Alten Reichs übernommen; vgl. S. 483, 574, 668, 759. 64 Flechsig, Frühneuzeitlicher Erfindungsschutz (wie Anm. 19), S. 103 – 106. 65 Da der Beitrag eine Nürnberger Perspektive annimmt, kann hier nur angedeutet werden, dass diese Vielfalt auch in anderen Territorien für konkrete Probleme sorgte – zum Beispiel um die Leipziger Messen, wo ein identisches Medikament (Gift-­Mitridat), unter den fast ähnlichen Zeichen der Fortun und Bildnis des Merkury, zur selben Zeit, aber zugunsten verschiedener Personen von dem Kurfürsten und von dem Kaiser mit ausschließlichen Privilegien versehen wird, was für heftige Auseinandersetzungen sorgte – so fügte der sächsische Kurfürst seinem Privileg hinzu, dass keinen hierwieder einige Mess-­Freyheit, kaiserlichs oder

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tion, verschiedenen Instanzen gleichzeitig unterworfen zu sein, die zudem verschiedene Funktionen (eine rechtsanwendende und eine rechtsschöpfende) ausübten. Gegen die Gnadenakte der Privilegien gab es daher für die Ratsapotheker kein anderes Rezept, als selber am Reichshofrat zu appellieren.66 Auf Grundlage der Quellenüberlieferung des Collegium Pharmaceuticum werden der Aufwand und die finanzielle Belastung fassbar, die eine solche Klage für ein Gewerbe bedeutete. Dort, wo zuvor noch ein paar Kreuzer für die Kanzleiboten oder Torschützen ausreichend waren, mussten jetzt hunderte von Gulden aufgebracht werden. Die Buchhaltung der Apotheker – wenn auch nur in summarischer Form erhalten – verdeutlicht die Höhe der Ausgaben, die anfielen, um die notwendigen Schriftstücke anfertigen zu lassen und das zuständige Personal zu bezahlen, vor allem aber um einen Agenten am Reichshofrat in Wien zu unterhalten.67 Zu der Entscheidung des Gewerbes, anstatt wie bisher auf die altbewährten Verteidigungsmaßnahmen gegen Stümper und Störer auf städtischer Ebene nun auf eine ordentliche Klage vor dem Höchstgericht auf Reichsebene zu setzen, trug die städtische Obrigkeit erheblich bei. Wie bereits erwähnt, hatten sich die Apotheker zuerst an den Stadtmagistrat gewandt, der auch gleich seine Kontakte in Wien mobilisierte.68 Dort waren die Nürnberger Patrizier in der Tat gut vernetzt. Sie unterhielten Abgeordnete nicht nur bei den Reichstagen, sondern auch am Wiener Hof.69 Jedoch befand sich der Nürnberger Rat in der Frage der Privilegien in einem Dilemma, denn es galt einerseits, am Wiener Hof kaiserliche Privilegien (zugunsten der Stadt) zu verteidigen, und andererseits, diese vor dem Reichshofrat (zugunsten der Apotheker) anzufechten – ein Drahtseilakt, auf den sich der Rat zu einem späteren Zeitpunkt tatsächlich einließ.70 Es war also geboten, besonnen und mit Fingerspitzengefühl zu handeln. In dergleichen Privilegien schützen soll[te], während die Sanctio des kaiserlichen Privilegs wie üblich den Churfürsten im Reich befahl, sich gegen das Privileg nicht [zu] beschweren noch jemandem andern seines Objekts zu gestatten; ÖStA HHStA, RHR, Ärzte- und Arzneiprivilegien 8, Konvolut 3, S. 448 – 450 (Kaiserliches Privileg für Johann Michael Mylius, 2. Juni 1698); 15, Konvolut 1, S. 19, 32 – 24, 29. November 1698 und 24. Januar 1711 (kurfürstliche Privilegien für Johann Teutscher, 29. November 1698 und 24. Januar 1701), und zur Sanctio Flechsig, Frühneuzeitlicher Erfindungsschutz (wie Anm. 19), S. 165 f. 66 Moser, Neues Teutsches Staatsrecht, Bd. 3 (wie Anm. 18), S. 538 – 543. 67 GNM, Coll. Pharm. 63, S. 25. 68 GNM, Coll. Pharm. 19, S. 27, 7. April 1700; S. 29 f., 3. Februar 1701; S. 31, 19. Juli 1709; S. 32, 15. Januar 1710. 69 David Petry, Konfliktbewältigung als Medienereignis. Reichsstadt und Reichshofrat in der Frühen Neuzeit. Berlin 2011 (Colloquia Augustana, Bd. 29), S. 76; Winzen, Handwerk – Städte – Reich (wie Anm. 5), S. 32 f. 70 Zur Verteidigung der Nürnberger Privilegien am Wiener Hof siehe den Bericht des Nürnberger Magistrats zu dem Gewerbe der städtischen Drahtzieher: ÖStA, Finanz- und Hofkammerarchiv, NHK , Kommerz Ober- und Niederösterreich, Akten 376, Fasz. 123/1,

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diesem Zusammenhang, wie für die Prozessstrategie und das Vorgehen des Magistrats allgemein, kam dem Nürnberger Abgesandten in Wien, Heinrich Christoph Hochmann, eine Schlüsselrolle zu.71 Seiner Empfehlung folgend ist die Stadt 1701 zunächst der Meinung, dass es nicht nötig seye, um Confirmation [der Apotheker] Ordnung am kayserlichen Hoff anzusuchen – auch wegen der Unkosten.72 Im Jahr 1707 aber hat Hochmann seine Meinung geändert: Damit aber dergleiche Quacksalberische Stümpeley mit Nachdruck begegnet werden mögte, würde meines Erachtens [nach] kein besser Expediens seyn, als wann die Herrn Medici und Apotheker […] sich […] vermittels eines Privilegii und zwar per modum confirmationis der Obrigkeit in […] gereichten Ordnungen beywürken.73 Wieder folgt der Rat der Meinung Hochmanns und ordnet dementsprechend 1709 in einem Verlass an, man solle die Medicos und Apotheker […] zur Suchung des Confirmation ihrer Ordnung an dem kays. Hoff animiren, und ihnen alle mögliche Assistenz versprechen.74 Dies wurde auch in die Tat umgesetzt; danach ordnet der Rat Hochmann an, den Fortgang der Supplik der Ratsapotheker in Wien sorgfältig zu beobachten.75 Hochmann scheint dafür der geeignete Mann zu sein. In Wien verfügt er über genügend Kontakte, um informelle Einflussnahmen geltend zu machen. So wird der Reichshofratssekretär, der auch die Eingangsbestätigung der Suppliken erteilt, als sein hiessiger lieber, werthester äterster freund bezeichnet.76 Hochmann ist allerdings nicht der Einzige, auf dessen Dienste die Ratsapotheker für die Unterstützung ihrer Sache vor dem Reichshofrat setzen konnten. Ein gewürzpräsent, das die Ratsapotheker im Jahr 1705 an den Reichshofratsagenten Nürnberger Herkunft Tobias Sebastian Praun richteten, lässt des Weiteren auf ein süddeutsches Netzwerk schließen.77 Darauf deutet zusätzlich hin, dass ihr offizieller Interessenvertreter in Wien, Kistler, dort auch Agent der 1749 – 1767, S. 103 – 142, abgedruckt bei Friedrich Lütge, Beiträge zur Geschichte des Edeldrahtgewerbes in Nürnberg und Wien, in: Otto Brunner/Hermann Kellenbenz/Erich Maschke/Wolfgang Zorn (Hrsg.), Festschrift Hermann Aubin zum 80. Geburtstag. Wiesbaden 1965, S. 336 – 357. 71 Hochmann war von 1690 bis 1719 Nürnberger Abgesandter am Wiener Hof; Petry, Konfliktbewältigung als Medienereignis (wie Anm. 69), S. 75 – 78. 72 GNM, Coll. Pharm. 21, Aktenband III, Nr. 51, 26. Januar 1702. 73 GNM, Coll. Pharm. 24, Aktenband VI, S. 2, 22. Januar 1707. 74 StadtAN, B19 (Reichsstädtische Deputation) 184, S. 35, 12. Juli 1709; StAN, Rep. 60a, Reichsstadt Nürnberg, Verlässe des Inneren Rates, Bd. 3161, S. 89r–90r. 75 StAN, Rep. 60a, Reichsstadt Nürnberg, Verlässe des Inneren Rates, Bd. 3164, S. 19, 23. September 1709. 76 GNM, Coll. Pharm. 21, Aktenband II, Reichshofratsconclusa II. Nr. 2, 8. Oktober 1709; Petry, Konfliktbewältigung als Medienereignis (wie Anm. 69), S. 77. 77 GNM, Coll. Pharm. 63, S. 25; Thomas Dorfner, Mittler zwischen Haupt und Gliedern. Die Reichshofratsagenten und ihre Rolle im Verfahren (1658 – 1740). Münster 2015 (Verhandeln, Verfahren, Entscheiden. Historische Perspektiven, Bd. 2), S. 72 – 75.

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Schwäbischen Reichsritterschaft war. Kistler vertrat im Übrigen die Ratsapotheker nicht nur in ihrem kollektiv geführten Verfahren gegen die Privilegierung von Arzneiherstellern im Allgemeinen, sondern auch bei der Anfechtung kaiserlicher Privilegien, die einzelnen Arzneiherstellern verliehen worden waren.78 Diese Vorgehensweise, bei der es um Interessenvertretung und Einflussnahme ging, entsprach übrigens der allgemeinen Zusammenarbeit zwischen Gesandten am Reichshofrat und Reichshofratsagenten.79 Die Unterstützung der Ratsapotheker durch den Stadtmagistrat war jedoch nicht bedingungslos, wenn nicht gar ambivalent und halbherzig. So wird zunächst die Sprache und Wortwahl moniert, die unangemessen sei, um sich an die Verwaltungs- und Gerichtsinstanzen in Wien zu richten. Mehrmals werden die Ratsapo­ theker zu Zurückhaltung und Mäßigung durch die Stadtobrigkeit ermahnt. Denn nach Dafürhalten des Magistrats befinden sich in der Supplik der Ratsapotheker harte expressionnen, die zur Sache nichts dienen; besser wäre [es], dasjenige, was in vorigen schrifften sämtlich enthalten, nervosa zu contrahieren, doch die piquenterie zu umbgehen.80 Im Jahr 1706 wird des Weiteren empfohlen, die gravamina nervosa der Apotheker von schimpflichen Expressionen zu abstrahieren.81 Dieser Meinung ist auch Hochmann, der 1709 vorschlägt, die Schriftstücke, die die Ärzte und Apotheker nach Wien versenden wollen, vorher zu exhibieren.82 Das auffällige Fehlen jeglicher Bezugnahme auf die kaiserlich-­privilegierten Stümper in ihren nach Wien adressierten Suppliken deutet darauf hin, dass sich die Nürnberger Ärzte und Apotheker auch in einem anderen Punkt dem Druck des Magistrats ihrer Stadt zu beugen hatten. Denn entgegen den Forderungen der Ratsapotheker strebten die Väter der reichsunmittelbaren Stadt keineswegs nach Abschaffung von kaiserlichen Privilegien. Im Gegenteil: Ihrem Interesse entsprach es, kaiserliche Privilegien zu bewahren, ja zu verteidigen. Schließlich beruhten seit 1696/1697 die Würde und die Rechte der Nürnberger Patrizier auf kaiserlichen Privilegien, so dass die städtischen Adeligen es als unvorteilhaft ansehen mussten, Bürgern bei der Anfechtung von kaiserlichen Gnaden zur Seite zu stehen.83 78 Kistler geht z. B. gegen das Privileg des David Gottlieb Reyher vor; GNM, Coll. Pharm. 20, Aktenband  II, Nr. 1, ohne Datum. Nach seinem Tod 1732 wird Kistler von Gay, der seit acht Jahren bereits als Reichshofratsagent tätig war, ersetzt; GNM, Coll. Pharm. 63, S. 25; 24, Aktenband VI, Nr. 1, S. 3: Copia Schreiben aus Wien, 2. April 1732; Dorfner, Mittler zwischen Haupt und Gliedern (wie Anm. 77), S. 72, 77, 98, 119 f. 79 Dorfner, Mittler zwischen Haupt und Gliedern (wie Anm. 77), S. 143. 80 GNM, Coll. Pharm. 21, Aktenband III, Nr. 51, 26. Januar 1702. 81 Ebd., Nr. 62, 16. November 1706. 82 StadtAN, B19 (Reichsstädtische Deputation) 184, S. 35, 7. August 1709. 83 Michael Diefenbacher, Nürnberger Patrizier, in: Historisches Lexikon Bayerns, http:// www.historisches-­lexikon-­bayerns.de/Lexikon/Nürnberger Patrizier (abgerufen am 1. März 2017).

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Folgerichtig kritisieren zwar einige nach Wien eingesandte Suppliken der Nürnberger Ärzte und Apotheker die so gefährliche Stümpeley, in einer die Gesundheit, Leib und Leben betreffenden Kunst und Wissenschaft – von den kaiserlichen Privilegien aber ist keine Rede mehr.84 Die eigentliche Konfliktsache – die kaiserlichen Privilegierungen, der ursprüngliche Ausgangspunkt der Eingaben der Ratsapotheker – ist damit aus dem juristischen Verfahren in Wien verschwunden. In ihren Eingaben an den Reichshofrat hatten die Ratsapotheker nicht nur den Vorgaben ihres Stadtmagistrats Rechnung zu tragen, sondern auch den Argumentationslinien der Reichsjuristen, die für sie bis dato ein unbekanntes Terrain gewesen sein mussten. Denn in Wien reichte es nicht mehr, Rotköpfige oder Störer lediglich zu denunzieren, oder die von Universitäten ausgestellte attestata anzufechten.85 Den Ratsapothekern standen in diesen Fragen ihre Vertreter in Wien zur Seite. Diese haben eine Rolle bei dem Aufkommen von reichsrechtlichen Formulierungen in den Eingaben der Ratsapotheker gespielt: So fochten die Ratsapotheker einzelne kaiserliche Privilegien bereits im 17. Jahrhundert mit dem Verweis auf deren falsa narrata und monopolistischen Anspruch an.86 Trotz ihrer Berücksichtigung der Vorgaben, die ihnen von dem Nürnberger Stadtmagistrat gemacht wurden, und trotz ihrer Aneignung von juristischen Begriffen und Abläufen auf Reichsebene war dem Verfahren der Ratsapotheker in Wien jedoch kein positiver Ausgang beschieden. Zwar bestätigte ihnen der Kaiser 1713 die Statuten ihres Kollegiums, die sie zuvor in einer Ausfertigung des Nürnberger Rats in Wien eingereicht hatten; auf die Frage nach den privilegierten Arzneiverkäufern wird aber nicht eingegangen.87 Auch das Reichsgericht vermochte es also nicht, die rechtlichen Streitfragen zu 84 ÖStA HHStA, RK, Kleinere Reichsstände 379 – 10, S. 219 – 245, Privilegium für Ärtze und Apotheker, hier S. 221r, 223v, 10. Oktober 1709. Auch die 1751 verfasste Darstellung der Störer im Gesundheitswesen der Stadt Nürnberg (wie Anm. 29) enthält kein Wort mehr von kaiserlich-­privilegierten Stümpern. 85 GNM, Coll. Pharm. 19, Aktenband 1, S. 20, 11. April 1688. 86 Moser, Neues Teutsches Staatsrecht, Bd. 3 (wie Anm. 18), S. 539, 585. Beide Motive finden sich bereits in einer Supplik gegen das Privilegium für das Irnsingerische Pflaster (beide aus dem Jahr 1653): GNM, Coll. Pharm. 20, Aktenband II, Nr. 1, 14. November 1653; für die Brisanz, die mit dem monopolistischen Charakter der Privilegien verbunden war, vgl. oben. Der Vorwurf, Privilegien per falsa narrata erschlichen zu haben, taucht regelmäßig auf. So soll beispielsweise ein falscher Bericht dem Privileg zugrunde liegen, das David Gottlieb Reyer verliehen wurde: GNM, Coll. Pharm. 20, Aktenband II, Nr. 1, ohne Datum; ÖStA HHStA, RHR, Ärzte- und Arzneiprivilegien 6, Konvolut 2, S. 314, lit. A; Johann Duscher soll ein kays. Allergnädigstes Privilegium mit gantz ungleichen und ungegründeten Bericht erhalten haben: ÖStA HHStA, RHR, Ärzte- und Arzneiprivilegien 2, S. 509 f., 19. Mai 1716. 87 Die Ordnung, die an Wien verschickt wird, ist auf Pergament geschrieben […] und in unverfälschten Originali, woran das Nürnberg mit roth Wachs in einer rundten Capsul gedruckte

Gerichtsvielfalt im Gewerbealltag?

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lösen, die sich aus der Neuordnung des städtischen Gesundheitswesens im Zuge der Privilegienerteilung ergaben.

5. Schluss: der Reichshofrat und die Debatte um die Handwerkergerichtsbarkeit In dieser Fallstudie kommt vieles bekannt vor: die Beschwerden gegen Stümper, der Konflikt zwischen Ladenverkäufern und Hausierern, die Vermittlerfunktion der Reichshofratsagenten, die Oberhoheit des Stadtmagistrats über die verschiedenen Gewerbe. Dass sogenannten Scharlatanen und Quacksalbern eine zentrale Rolle bei der Herstellung und dem Vertrieb regelrechter Massenkonsumprodukte zukommt, ist ebenfalls ein inzwischen anerkanntes Phänomen. Diese Beobachtung stimmt in den Chor derjenigen ein, die von einem positiveren Bild des seinerzeit verschrienen Störers ausgehen und diesem eine entscheidende Rolle in der fortschrittlichen Entwicklung mancher Wirtschaftssektoren zuschreiben.88 Die Auseinandersetzung zwischen Ratsapothekern und kaiserlich privilegierten Arzneiherstellern in Nürnberg zeigt jedoch, dass die Grenze zwischen legaler und illegaler Arbeit fließend sein konnte. Kaiserlich-­privilegierte Stümper können sowohl als Störer der reichsstädtischen Ordnung als auch als Begünstigte der kaiserlichen Machtvollkommenheit verstanden werden. Generell stellt sich also die Frage, ob Legalität oder Illegalität eindeutige objektiv-­analytische Kategorien sind, um die Realität der Gewerbeordnung zu Beginn des 18. Jahrhunderts zu begreifen. Diese Frage steht in direktem Zusammenhang zu den oben erwähnten Debatten und Auseinandersetzungen um die Hauptladen des Handwerks. Zwar können Apotheker und Handwerker nicht gleichgesetzt werden, doch sind Gemeinsamkeiten zwischen beiden Gruppen offensichtlich. In diesem Sinne werfen die Verhandlungen am Reichstag um die Hauptladen ein neues Licht auf das Bemühen Nürnbergs, sich die Oberhand über das Gesundheitswesen weiterhin zu sichern. Denn genau diejenigen Argumente, die die fränkische Stadt in den 1670er Jahren am Reichstag zu Gunsten der Hauptladen ins Feld geführt hatte, machte sie auch für die Verteidigung des städtischen Gesundheitswesens geltend: Aus Sicht des Magistrats hatte die Stadt im Gesundheitswesen seit 100 oder mehr Jahren eine obrigkeitliche Funktion inne, die sie seit der kaiserlichen Bestätigung des Collegium Pharmaceuticum auch ex privilegio ausübte. Die Debatten am Reichstag und die Streitigkeiten

Secret-­Insigel an einer seidenen roch und weissen schnurr hanget: ÖStA HHStA, RK, Kleinere Reichsstände 379 – 10, S. 219 – 245, hier S. 225, 271, 272 f. 88 Lindemann, Health and healing (wie Anm. 46), S. 171 – 173.

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am Reichshofrat haben also einen gemeinsamen Hintergrund: der Kampf um den Fortbestand der althergebrachten reichsstädtischen Schiedsinstanzen. Schließlich ist die Rolle des Reichshofrats in diesem Kampf hervorzuheben. Der Eingriff des Reichsgerichts in das städtische Gesundheitswesen und das darauffolgende Vorgehen der Nürnberger Ratsapotheker in Wien zeigen, dass die verstärkte Intrusion von Reichsrecht in die städtische Gewerbeordnung mitnichten klarer abgegrenzte Gerichtszuständigkeiten zeitigte, sondern vielmehr eine Zunahme der Rechtsvielfalt zur Folge hatte. Derweil zeigten sich die Reichsinstanzen nicht in der Lage, die mit dieser neuen Rechtsvielfalt aufgekommenen Fragen zu lösen. Der Reichshofrat bestätigte sowohl die städtische Ordnung als auch die kaiserlichen Privilegien; der Reichstag verabschiedete Wahlkapitulationen, die sowohl die Hoheit der Reichsstände über ihr Gesundheitswesen anerkannten, als auch das Recht des Kaisers, Privilegien über das Gesundheitswesen zu erteilen. In dieser Hinsicht erscheint die hier besprochene Vielfalt des Rechts keineswegs als Erbe einer unbestimmt lang zurückliegenden Vergangenheit, sondern vielmehr als eine Neuerscheinung, die mit dem Eingreifen des kaiserlichen Höchstgerichts in das städtische Gewerbegefüge anzusetzen ist. Diese Einmischung geht indes weit über das Gesundheitswesen hinaus. In den Wahlkapitulationen ist im Zusammenhang mit der Privilegienerteilung allgemein von Kauffhandel, Manufacturen [und] Künsten die Rede und diese Felder spielen, wie ein Blick in die Wiener Bestände des Reichshofrats zeigt, bei der kaiserlichen Privilegierung auch tatsächlich eine gewichtige Rolle.89 Die Untersuchung dieses Tätigkeitsbereichs des Reichshofrats und dessen Einfluss auf die Handwerkergerichtsbarkeit stellen also Forschungsfelder dar, die neue Perspektiven auf die Entwicklung des Gewerberechts und umgekehrt auf die Funktion des kaiserlichen Höchstgerichts versprechen.

89 Vgl. zum Beispiel die Gewerbe-, Fabriks- und Handlungsprivilegien, die für Nürnberg ebenfalls im Projekt „Ökonomische Privilegien im frühneuzeitlichen Europa“ erschlossen werden.

Autorenverzeichnis Anja Amend-Traut, Prof. Dr. jur., Inhaberin des Lehrstuhls für Deutsche und Europäische Rechtsgeschichte, Kirchenrecht und Bürgerliches Recht an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg Hendrik Baumbach, Dr. phil., Postdoktorand am Institut für Mittelalterliche Geschichte der Philipps-Universität Marburg Josef Bongartz, Dr. jur., M.A., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Deutsche und Europäische Rechtsgeschichte, Kirchenrecht und Bürgerliches Recht an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg Vincent Demont, Dr., Maitre de conférences (associate professor) für frühneuzeitliche Geschichte an der Universität Paris-Nanterre Alexander Denzler, Dr. phil., Habilitand der Geschichts- und Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt Florian Dirks, Dr. phil., Leiter des Kreisarchivs Verden (Aller) Ellen Franke, M. A., Rechtshistorikerin und wissenschaftliche Geschäftsführerin der Historischen Kommission zu Berlin e. V. Marian Füssel, Prof. Dr. phil., Inhaber der Professur für Geschichte der Frühen Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der Wissenschaftsgeschichte an der Georg-August-Universität Göttingen Michaela Grund, Gymnasiallehrkraft an der St. Ursula-Schule Würzburg und Doktorandin am Lehrstuhl für Neuere Geschichte der Universität Würzburg Alexander Krey, Dr. jur., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Rechtsgeschichte der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main Peter Oestmann, Prof. Dr. jur., Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht und Deutsche Rechtsgeschichte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster Stefan Rohrbacher, Prof. Dr. phil., Professur für Jüdische Studien an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Stefan Andreas Stodolkowitz, Dr. jur., Richter am Landgericht Lüneburg, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesgerichtshof Karlsruhe Michael Ströhmer, Prof. Dr. phil., außerplanmäßiger Professor für Neuere Geschichte am Historischen Institut der Universität Paderborn Dietmar Willoweit, Prof. Dr. jur. Dr. h. c., em. o. Professor für Deutsche Rechtsgeschichte, Bürgerliches Recht und Kirchenrecht an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg

Register Sachverzeichnis A Abforderung  ​139, 143 Abt  ​39, 154, 160 Abtei –– Fulda  ​141 f. Achtbuch  ​136 Achtgericht  ​207 Achtspruch  ​136 Adel  ​17, 30, 46, 49, 274 –– fränkischer  ​211, 213, 220, 225 Adelsrepublik  ​84 Adlige Bank  ​176 Agent  ​295 f. Akkusationsprozess  ​69, 268 Aktenversendung  ​22, 64, 68, 178 f. Akzidenzien  ​96 Alkoholexzess  ​269 Alkoholkonsum  ​270 Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten  ​49, 276 Allgemeines Persönlichkeitsrecht  ​51 – 53 Alltagsgeschichte  ​188 Altes Testament  ​39 Ammann  ​208 Amt  ​171 – 173, 175 – 177, 179, 181, 196, 207 –– Sachsenhagen  ​88 Amtsdorf –– Auhagen  ​88 –– Düdinghausen  ​88 Amtshaftung  ​52 Amtshauptmannschaft  ​207 Amtsjurisdiktion  ​96 Amtskellerei  ​189, 207 Amtspflichtverletzung  ​52 Anbieterkonkurrenz  ​86 Anbieterseite  ​95 Anspruch  ​50 Anwalt  ​205 Appellation  ​11, 20, 24, 72, 108, 140, 166, 169, 171 f., 174, 177 – 181, 215, 217, 219, 221, 223 f., 236 f. Appellationsgericht  ​207 Appellationsinstanz  ​197

Appellationsprivileg  ​173, 181, 222, 225 –– unbeschränktes  ​61, 173 f., 177 Appellationssumme  ​171, 173, 226 Appellationsverfahren  ​187 Archiv  ​184 –– Verluste  ​161 Artikelprozess  ​171 Audienz  ​68 Aufklärung  ​48 Ausfuhrgelöbnis  ​106 Ausheischen  ​106 Ausschuss  ​199 Austrägalgericht  ​75 Austrägalrichter  ​186, 207 Authentica habita  ​264 Autonomie  ​261, 264, 278 B Bann  ​243, 247 Banngericht  ​194, 207 Bannrichter  ​194, 207 Bannstrafe  ​246 Baramtrichter  ​207 Bauerding  ​165 Bäuerliche Grundentlastung  ​49 Bauerngericht  ​207 Bauernkrieg  ​222 Baugericht  ​207 Bauschauer  ​207 Begnadigung  ​269 Berechtigung, subjektive  ​45 Bergrichter  ​207 Berufsrichter  ​70 Besitz  ​43 Bet din  ​253 Bevölkerungswachstum  ​54 Beweis  ​40 Beweislastumkehr  ​52 Bischof  ​39, 44, 156, 265 –– Verden  ​154, 156 –– Würzburg  ​138 f., 141, 193, 209 – 211, 213, 215, 217, 220, 224 Bischöfliche Hofkammer  ​90

304 Bischofswahl  ​160, 210 Bistum –– Bremen  ​164 –– Eichstätt  ​140 –– Hildesheim  ​164 –– Minden  ​164 –– Münster  ​164 –– Osnabrück  ​164 –– Schleswig  ​67 –– Verden  ​156, 161, 164 –– Würzburg  ​141 Blutgerichtsbarkeit  ​224, 226 Bote  ​202 Brandschatzung  ​147 Brückengericht  ​207, 222 – 224 Buch  ​142 Buch’sche Glosse  ​159 Bundesgerichte  ​54 Bundesgerichtshof  ​52 Bundestag  ​207 Bundesverfassungsgericht  ​53 Bundesversammlung  ​207 Bürger  ​41, 48 f., 53, 55, 160 f. Bürgergericht  ​207 Bürgerlehengericht  ​207, 221 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)  ​47, 50 f., 54 Bürgermeister  ​160, 192 Bürgermeisteramt  ​207 Bürgermeister und Rat  ​207 Bürgerunruhe  ​155 Burggericht  ​207 Burggraftum Nürnberg  ​129, 131, 138, 140 C Cellariatsgericht  ​207 Cellarius  ​207 Chorgericht  ​207 Citationsverfahren  ​187 Code Civil  ​48 Consilium abeundi  ​272 Constitutio Criminalis Carolina  ​69, 235 D Decretum Gratiani  ​159 Dekan  ​267 Dekanat  ​207 Dekanatsgericht  ​207 Delegierter  ​207

Register Delikt  ​264 Demokratie  ​48, 55 Denunziation  ​268, 275 Deutscher Orden  ​162 Deutschordensamt  ​207 Deutschordensgericht  ​207 Deutschordenshofgericht  ​207 Deutschordenslandkommende  ​207 Deutschordensregierung  ​207 Deutungshoheit  ​150 Devianz  ​261 f. Diener  ​40 Dinggenossen  ​165 Dinggenossenschaft  ​28, 42, 62, 70, 74 Diözesanbischof  ​39 Diözese Verden  ​156 Direktorium (Reichsritter)  ​207 Dom  ​207 Domamt  ​208 Domamtsgericht  ​207 Domäne  ​180 Domherren  ​211, 218, 220 Domkapitel  ​20, 152, 207, 210 f. Dorf  ​199 Dorfgericht  ​24, 188, 207, 219, 222 f. Dreißigjähriger Krieg  ​70, 191, 275 Dreizehnergericht  ​207 Drogenkonsum  ​269 Duell  ​261, 269, 271 E Effigie  ​272 Effizienz  ​93 Ehe  ​44 Ehegericht  ​207 Eherecht (jüdisches)  ​250 Ehesache  ​245, 265 Ehrendelikt  ​236 Ehrengericht  ​271 Ehrenhändel  ​232 Ehrverletzung  ​51 Eid  ​39 f. Eidesform  ​243 Eideshelfer  ​40, 42 Eidgenossenschaft  ​135 Eigenleute  ​153 Eigenmacht  ​158 Eigentum  ​48 – 50, 53 f.

Sachverzeichnis Einigungsherren  ​207 Einstimmigkeit  ​70 Einstufiges Gerichtswesen  ​163 Eintrittsrecht der Enkel  ​43 Einungsgericht  ​207 Einzugsgebiet  ​81, 97 Engerer Rat  ​211 Entfernungspauschale  ​96 Erbfolgestreit  ​156 Erbgut  ​44 Erblasser  ​43 Erbrecht  ​43, 102, 218 –– jüdisches  ​250 Erbsache  ​245 Erinnerungskultur  ​273 Erpressung  ​147 Erzbischof  ​39, 148, 152 –– Bremen  ​153 f., 159 – 161 –– Magdeburg  ​160 Erzstift  ​153, 161 –– Bremen  ​149, 151 f., 159, 161 Erzstuhl  ​152 Eventualbelehnung  ​157 Ewiger Reichslandfriede  ​145, 161 f. Exemtion  ​137, 265 Exemtionsprivileg  ​137, 143 Expertise  ​154, 266 F Familienrecht  ​218 Fehde  ​145, 160 – 162 –– Stiftsfehde  ​162 Fehdeführer  ​147 Feldgeschworenengericht  ​221 Femegericht  ​67, 207 Finanzielle Berechenbarkeit  ​95 Formelhafte Rede und Gegenrede  ​159 Fornificationsfall  ​269 Forstgericht  ​207 –– Driburg  ​90 Fränkisches Reich  ​42 Freier Informationszugang  ​55 Freigericht  ​97 Freiheit  ​255 Freiheitsbrief  ​264 f. Freiheitsstrafe  ​271, 273 Friedhof  ​251 Frühe Neuzeit  ​162

Fünfergericht  ​207 Fürst  ​44, 154 f. –– Lauenburg  ​154 Fürstbistum Münster  ​63 Fürstenberg, Landgrafschaft  ​133 Fürstengeschlecht  ​157 Fürstenstaat  ​192 Fürstentum  ​44 –– Calenberg  ​164, 166, 168, 170, 173 f. –– Göttingen  ​164, 170, 173 –– Grubenhagen  ​164, 173 –– Lüneburg  ​159, 164, 168, 170, 173 f. –– Pfalz-Neuburg  ​190 G Garnisonsstadt  ​270 Gastgericht  ​68 Gefängnisstrafe  ​271 Gefreiter Richter  ​207 Gegenschreiber  ​207 Geheimer Rat  ​175, 180 Geiselnahme  ​147 Geistliche Gerichtsbarkeit  ​218 Geistlicher  ​158 Geistlicher Rat  ​211, 221 Geistliches Gericht/Konsistorium  ​207 Geistliches Territorium  ​84 Geldstrafe  ​271 f., 274 Gelehrte Bank  ​176 Gelehrte Juristen  ​20 Geleitsmann  ​207 Gemeindevorsteher  ​256 Gemeiner Mann  ​46 Gemeinwohl  ​55 Generalkriegsgericht  ​175, 177 Generalvikar  ​207 Genossenschaft  ​264 Gentrifizierung  ​275 Gerechter Preis  ​87, 92 Gericht –– Angebotsvielfalt  ​77 f. –– Attraktivität (Standort)  ​96, 99 –– Begriff  ​21, 23 –– Finanzierung  ​29 –– Funktionsschwächen  ​77, 81 –– peinliches  ​208 Gerichtlicher Zweikampf  ​43 Gerichtsautonomie  ​266

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Register

Gerichtsbarkeit  ​36, 150 –– bischöfliche  ​244 –– delegierte  ​192 –– Disziplinar-  ​266, 270, 273, 275 –– Entwicklung  ​19, 31 –– Forst-  ​265 –– geistliche  ​19, 221 –– Hoch-  ​19 –– königliche  ​40 –– Nieder-  ​19 –– oberste  ​161 –– städtische  ​249 –– Städtische  ​251, 267 –– Straf-  ​264, 277 –– weltliche  ​19, 24, 221 –– Zivil-  ​264, 277 –– Zugang zur  ​127 Gerichtsbuch  ​140, 142 Gerichtsdeputation  ​267 Gerichtsgebühren  ​30, 138 Gerichtsgewalt  ​73 Gerichtsherr  ​186, 193 Gerichtsherrschaft  ​24, 26, 207 Gerichtsinstanz  ​152 Gerichtsinstitution  ​193 Gerichtskreis  ​150 Gerichtsladung  ​108 Gerichtslandschaft  ​10 f., 16 f., 33 f., 36, 59, 127, 143 f., 147, 161, 184 f., 190, 199 f., 278 Gerichtsnutzung  ​127, 136 – 138, 141 f., 144 Gerichtsordnung (Altes Reich)  ​144 Gerichtsorganisation  ​29 Gerichtsort  ​18 Gerichtspersonal  ​205 Gerichtspraxis  ​26, 161 Gerichtsrecht  ​30 Gerichtsschreiber  ​220, 265 Gerichtssitz  ​202 Gerichtssprengel  ​107, 251, 255 Gerichtsstand  ​251 Gerichtsstandsprivileg  ​134, 137, 142, 241 Gerichtssystem  ​33 Gerichtstyp  ​36, 184, 189 – 193, 195 – 200, 205, 207 Gerichtsurkunde  ​42 f. Gerichtsverfassung  ​25, 28, 30, 33, 151, 196 Gerichtsverfassungsgesetz  ​277 Gerichtsversammlung  ​39

Gerichtsvielfalt  ​13 – 15, 17 f., 23, 25 – 27, 30, 33, 36, 77, 152, 225 Gerichtswahl  ​27, 30, 80 Gerichtswesen  ​19 Germanen  ​45 Germanistik  ​121 Geschworenengericht  ​221 Gesetz  ​41 f., 45 – 48, 50, 54 Gesetzesblatt  ​48 Gesetzgeber  ​48, 50, 55 Gesetzgebung  ​42, 46, 49, 54 Gesetzgebungsstaat  ​48 Gesetz zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbes  ​50 Gewalteneinheit  ​72 Gewaltenteilung  ​54, 72 Gewerbeorganisation  ​288 Gewerbepolicey  ​222 Gewohnheit  ​43 Gewohnheitsrecht  ​153 Glosse zum Sachsenspiegel  ​160 Glossierung  ​45 Glücksspiel  ​269 Gnadenvertrag (Würzburg)  ​213 –– Gericht  ​220 Gogericht  ​64, 66, 69, 90, 163 – 166, 171 f., 179, 181 –– Bellersen  ​92 –– Brakel  ​96 Gograf  ​64, 66, 96, 164 f. Göhrder Konstitution  ​180 Graf  ​39, 44 Grafschaft –– Diepholz  ​164 –– Hessen-Schaumburg  ​29, 84, 87 –– Hoya  ​164 –– Oettingen  ​132 –– Schaumburg  ​86 f., 97 –– Schaumburg-Lippe  ​29, 36, 84, 93 Großer Nordischer Krieg  ​174 Grundgesetz  ​55 Grundherrschaft  ​39, 193 Gutachten  ​140 Gutachter  ​186 Gütliche Tage  ​149

Sachverzeichnis H Haderbücher (Ingelheim)  ​101 Haftstrafe  ​271 Halacha  ​245 Halseisen  ​272 Halsgericht  ​207 Hals- und Hochgericht  ​207 Handelsrecht  ​246 –– jüdisches  ​250 Handwerker  ​17 Hanse  ​150 f. Hansestadt  ​154 f., 160 Hansetag  ​149, 154 Hauptlade  ​280 – 282, 299 Hauptmann  ​199, 207 Hauptmannschaft  ​207 Heiliges Römisches Reich  ​145, 147 Helfgericht  ​207 Herrschaft  ​17, 264 Herrschaftsgericht  ​207 Herrschaftsträger  ​151, 155, 158 Herrschaftsverdichtung  ​19 f., 22, 25 Herzog  ​161 Herzogtum  ​158 –– Bayern  ​19, 140, 185 –– Braunschweig-Lüneburg  ​149, 151, 154, 156 –– Braunschweig-Wolfenbüttel  ​258 –– Bremen  ​161, 173 f. –– Franken  ​129, 138 f., 141 f., 212, 217 f. –– Göttingen  ​168 –– Grubenhagen  ​168 –– Lauenburg  ​173 f., 178 f. –– Sachsen  ​160 –– Schleswig  ​162 –– Verden  ​173 f. Hochstift –– Paderborn  ​19, 29, 84 f., 87, 89 f., 97 –– Würzburg  ​19, 30, 228, 259 Hof  ​159 Hofgericht  ​64, 74, 130, 134 – 137, 166 – 177, 180 f., 189, 193, 196, 207 –– Celle  ​168, 170, 174 – 176 –– Hannover  ​170, 174 – 176 –– Münden  ​166 – 169, 171 –– ostfriesisches  ​61 –– Pattensen  ​167, 169 f. –– Ratzeburg  ​174 f., 178 f. –– Rottweil  ​65, 128, 130, 196, 245, 249

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–– Stade  ​174 –– Uelzen  ​168, 170 –– Wolfenbüttel  ​169 –– Würzburg  ​209, 218 – 220 Hofgerichtsordnung  ​130, 136 f., 167 –– Celle/Lüneburg  ​170 –– Hannover/Calenberg  ​170 f. –– Münden/Pattensen  ​171 –– Rottweil  ​130, 135 –– Wolfenbüttel  ​169 Hofkammer  ​207 –– Wien  ​81 Hofkollegium  ​207 Hofkriegsrat  ​207 Hofmarksgericht  ​207 Hofmarksrichter  ​207 Hofmeister  ​219 Hofrat  ​207, 210, 212, 218 – 220, 224 f. Hofrichter  ​159, 167 – 169, 176, 220 Hofschultheißenamt  ​207 Hoheitsträger  ​17 Hoher Rat  ​207 Holting  ​165 Hubgericht  ​207 Hundebesitz  ​269 I Immaterielles Sozialkapital  ​80 Industrialisierung  ​54 Informationstechnologie  ​54 Infrajustiz  ​147 Injurie  ​218, 269 Inquisitionsprozess  ​69, 268 Instanz  ​154 Instanzenzug  ​17, 20, 25, 28, 30, 70, 163, 172, 177, 181, 214, 223, 225, 246, 266 Institution  ​264 Institutionalisierung  ​25 Institutioneller Wandel  ​94, 98 Institutioneller Wettbewerb  ​87 Institutionelles Vertrauen  ​87 Interpretation  ​46 Iurisdictio  ​73 Ius  ​45 Ius gladii  ​272

308 J Jahrgericht (Nieheim)  ​95 Jesuitenorden  ​273 Johanniterordensregierung  ​207 Juden  ​17 Judeneid  ​243 Jüngster Reichabschied  ​70 Jurisdiktionsökonomie  ​77, 83 Jurisdiktionsstreitigkeiten  ​25 – 27 Jurist  ​45 f., 48, 153, 196 Juristenfakultät  ​22, 47, 178, 186, 207 –– Freiburg  ​204 –– Göttingen  ​204 –– Mainz  ​64 Justizamt  ​196 Justizkanzlei  ​170 – 177, 180 f. –– Celle  ​174 f. –– Hannover  ​174 f. –– Stade  ​174 Justizmarkt  ​86 Justiznutzer  ​190 Justiznutzung  ​21 f., 32, 35, 83, 186 –– Preise  ​89 Justizrat  ​207 Justizratskollegium  ​207 Justizsystem, Tragfähigkeit  ​99 K Kaiser  ​44, 158, 264 Kameralist  ​94 Kameralperson  ​24 Kammer  ​179 – 181 Kämmerer  ​207 f. Kammergericht (Berlin)  ​62 Kanzlei  ​167 f., 170 f., 207 –– Münden  ​168 –– Würzburg  ​209 f., 218 Kanzleigericht  ​207 –– Würzburg  ​30, 209, 212, 214 – 223, 225 Kanzleiordnung  ​209, 220 Kanzler  ​210 Kaperbrief  ​160 Kapitel  ​207 Karzer  ​273 f. –– -haft  ​272 f., 278 –– -strafe  ​274 Kastenamt  ​207 Kastengericht  ​207

Register Kastner  ​207 Kauf bricht nicht Miete  ​121 Kaufleute  ​17, 21, 151 Kellereiamt  ​189 Kind  ​44 Kinderbetreuungsplatz  ​52 Kinderförderungsgesetz von 2008  ​52 Kirche  ​46 Kirchliche Gerichtsbarkeit  ​72 Klageschrift  ​160 Kleiderverordnung  ​269 Klerus  ​17 Kloster  ​39 f. –– Familia  ​41 Klostergericht  ​189, 207 Klosterverwalteramt  ​196 Kodifikation  ​48, 54 Kommentierung  ​45 Kommissar  ​23, 186, 207 Kommission  ​207 Kommunikationstechnologie  ​54 Kompetenzgerangel  ​85 Kompetenzüberschneidung  ​78 Kompositionensystem  ​60 Komtur  ​207 Konfliktbewältigung  ​15, 21, 32 –– außergerichtliche  ​21 König  ​40 f., 44, 151, 158 Königliches Kammergericht  ​75 Königreich –– Bayern  ​186 –– Polen  ​162 –– Ungarn  ​162 Königsgericht  ​43 f. Königshof  ​46, 157 Konjunktur  ​93 –– -verlauf  ​81 –– -zyklen  ​93 Konsens  ​154 Konsiliartätigkeit  ​47 Konsilium  ​47 Konsistorialgerichtsbarkeit  ​72 Konsistorium  ​175, 177, 250, 265 Konsumgesellschaft  ​269 Konzil  ​207 Körperstrafe  ​271 Korporation  ​273 Korruption  ​80

Sachverzeichnis Kostendruck  ​91 Kostenreduzierung  ​94 Kreditgefährdung  ​51 Kriegsgerichtskommission  ​175, 177 Kriegsregiment  ​207 Kriegstag  ​207 Kriegstag/-konvent/-versammlung  ​207 Küchenmeister  ​207 Kurfürstentum –– Bayern  ​185 –– Braunschweig-Lüneburg  ​164, 173 L Laie  ​256 Laiengericht  ​256 Landesgesetzgebung  ​46 Landesherr  ​150, 152, 154 f., 159, 161, 196, 265 Landesherrschaft  ​30, 146 Landesordnung  ​46 Landfriede  ​162, 168 Landgericht  ​127, 129, 131 – 144, 164, 167 f., 171 f., 179 f., 196, 207, 212 –– Bamberg  ​196 –– Hirschberg  ​132, 196 –– Nürnberg  ​128, 132, 139 f., 196 –– Schwaben  ​196, 244 –– Würzburg  ​28, 139 – 141, 196, 213, 215 – 219, 223, 225 Landgericht, fürstlich  ​196, 207 –– Bayern  ​196 –– Brandenburg-Ansbach  ​196 –– Pfalz-Neuburg  ​196 Landgerichtsbuch  ​141 f. Landgerichtsordnung  ​129 – 131, 135, 138 –– Würzburg  ​213, 215 Landgerichtsprotokoll  ​142 Landgerichtssprengel  ​21, 127 – 129 Landnahme  ​42 Landrechtliche Rede/Gegenrede  ​160 Landrichter  ​131, 135, 141, 207, 213 Landrichteramt  ​207 Landschaft  ​34 Landsmannschaft  ​269 Landstände  ​29 f., 32, 167, 169, 176, 180, 211 Landtag  ​152, 159, 167 Landtagsabschied  ​153 Land- und Bauerngericht  ​207 Landvogtamt  ​207

Läuterung  ​179 Legitimation  ​48, 150 Lehen  ​60 Lehengericht  ​198, 207, 219 – 221 Lehengut  ​44 Lehenstube  ​207 Lehnswesen  ​24 Leibstrafe  ​271 Leute, einfache  ​40 Lex iniusta  ​44 Liberale Eigentumsordnung  ​49 Liegenschaft  ​39 f., 42 f. Linealgradualordnung  ​118 f. Literatur, juristische  ​48 Lizentiat  ​66 Lösegeld  ​147 Luxusverordnung  ​269 M Majestätsverbrechen  ​44 Malefizamt  ​207 Malefizgericht  ​203, 207, 234 f. Malefizsachen  ​224 Malefizschreiber  ​224 Mandatsverfahren  ​187 Markgrafschaft –– Brandenburg-Ansbach  ​258 –– Burgau  ​244, 252 Marktgericht  ​207 Marktnutzungskosten  ​98 Maskenball  ​269 Massenarmut  ​94 Mehrheitsentscheidung  ​55 Mehrheitsprinzip  ​70 Meierding  ​165 Menschenwürde  ​53 Metropolit  ​152 Metropolitangericht  ​207 –– Mainz  ​204 Michaeliskloster (Lüneburg)  ​160 Militärgerichtsbarkeit  ​17, 24, 71 Ministeriale  ​44 –– kirchliche  ​44 Mittelalter  ​39, 42 f., 46, 54 Mittelhochdeutsche Sprache  ​157 Mittelniederdeutsche Sprache  ​157 f., 160 Mittwochsgesellschaft  ​276 Mobilität  ​55

309

310

Register

Monarch  ​155 Montagsgericht  ​221 Mündlichkeit  ​32, 68, 70 Münzvergehen  ​265 Musik  ​270 Mutakellereigericht  ​207 N Nachfrageseite  ​95 Nefas  ​44 Neue Institutionen Ökonomik (NIÖ)  ​83 Neunjähriger Bund  ​207 Nichtigkeitsbeschwerde  ​177, 181, 217 Niedergericht  ​68, 207 Niedergerichtsbarkeit  ​67, 84, 219 Niederstadtbücher (Lübeck)  ​114 Norm  ​44 f., 47 f., 264 –– objektive  ​48 Notar  ​292 Nutzerfreundlichkeit  ​97 Nutzung  ​143 Nutzungsgebühr  ​95, 99 O Oberamt  ​196 –– Dringenberg  ​85 Oberappellationsgericht  ​71 –– Celle  ​73, 174, 176 – 178, 180 f. Oberappellationsgerichtsordnung (Celle) 1711  ​ 179 Oberbehörde  ​196 Obereinnahme  ​207 Obergericht  ​207, 237 Oberhof  ​22, 32, 69, 71, 165 f., 208 –– Ingelheim  ​101 –– Lübeck  ​28, 105 Oberhofgericht  ​208 Oberhofprotokollbuch  ​104 Oberrat  ​208, 221 f. Oberrichteramt  ​196, 208 Oberschultheiß  ​222, 224 Oberstadtgericht  ​208 Oberste Zent  ​223 Obrigkeit  ​15, 25, 186 Obrigkeitsstaat  ​46 Offizial  ​208 Offizialat  ​72 Offizialatsgericht  ​208

Ökonomische Tragfähigkeit  ​87, 92 Orden  ​269 Ordenswesen  ​269 Ordinariatsgericht  ​208 Ordnung  ​130 –– öffentliche  ​48 f. Ordo iuris  ​44 Organisationskosten  ​98 P Palais Papius  ​80 Papst  ​155, 264 Papsttum  ​155 Parteien  ​27, 32 Patrimonialgericht  ​65, 74, 172, 175 – 177, 181 Paulskirchenverfassung  ​49 Pauperismus  ​93 Pedell  ​266, 269, 274 Peinliche Gerichtsbarkeit  ​224 Peinliche Strafe  ​272 Pennalismus  ​261, 270 Person  ​147, 208 –– natürliche  ​186 Personalitätsprinzip  ​24 f., 70 Pfalzgericht  ​208 Pflegeamt  ​207 Pfleger  ​208 Pfleggericht  ​196, 208 Pfortengericht  ​208 Policeyordnung  ​46 Politische Kommunikation  ​148 f. Politisches Tagungswesen  ​149 Polizeikommission  ​266 Pranger  ​272 Preisanpassung  ​99 Preisbewusstsein  ​80, 93 Privatanfrage  ​104, 107 f., 118 –– Ingelheim  ​124 Privileg  ​47, 265 f., 281, 283, 287 – 291, 293 – 295, 297 f., 300 –– Wohnort  ​245 Privilegienbruch  ​244 Privilegierung  ​261 Privilegium de non evocando  ​134 Produkthaftungsgesetz  ​52 Produzentenhaftung  ​52 Professionalisierung  ​20, 25, 65, 68 Professor  ​278

Sachverzeichnis Prokanzler  ​208 Prokurator  ​64, 68, 160 Promotorial  ​28, 32 Propsteiamt  ​208 Propsteigericht  ​208 Prorektor  ​267, 269 Protokoll  ​154 Protokollbuch  ​136, 140 Protonotar  ​210 Prozess  ​40 f. Prozessordnung  ​18 Prozesspartei  ​205 Q Qualitative Methode  ​183 Quantitative Analye  ​225 Quantitative Methode  ​183 R Rabbinatsgericht  ​241 f., 244, 253, 257 f. –– Frankfurt  ​243 –– Günzburg  ​243 f., 252 Rabbiner  ​208 Rat  ​138, 140 – 142, 152, 160, 192, 199, 207 f. –– Lübeck  ​103 –– Reval  ​106 Räte von Haus aus  ​212 Ratsautonomie  ​19 Ratsgericht  ​68 Ratsherr  ​160 Ratssendebote  ​149, 154 Ratsuche  ​222 Rat und Hilfe  ​210 Raum  ​201 Räumliche Funktionsdifferenzierung  ​82 Recht  ​39, 41, 48 –– altes gutes  ​39 –– am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb  ​50 f., 53 –– auf freie Entfaltung der Persönlichkeit  ​53 –– auf informationelle Selbstbestimmung  ​53 –– Beispruchs-  ​43 –– Bürger-  ​49 –– Delikts-  ​51 –– deutsches  ​101, 112 –– Eigentums-  ​41 –– fränkisches  ​43 –– gelehrtes  ​45, 158 f., 166

311

–– gemeines  ​46, 49 f., 54 –– Gewohnheits-  ​41 –– Grund-  ​49, 53, 55 –– individuelles  ​40, 47, 49, 53 f. –– Ingelheimer  ​125 –– jüdisches  ​245, 253 –– kanonisches  ​40, 44 f., 159 –– Kindergrund-  ​55 –– Landes-  ​43 –– Lübisches  ​69 –– magdeburgisches  ​46 –– objektives  ​27, 40 – 45, 47 f. –– ostfriesisches  ​60 –– Privat-  ​112 –– privates  ​49 –– Reichs-  ​47, 50 –– römisches  ​43 – 45, 163 –– sächsisches  ​43, 159 –– Schifffahrts-  ​41 –– schwäbisches  ​43 –– Selbstbestimmungs-  ​53 –– sonstiges (§ 823 Abs. 1 BGB)  ​50, 52 –– subjektives  ​26 f., 41 – 44, 47 – 55 –– Verfahrens-  ​42 –– Verfassungs-  ​49 –– Vogt-  ​41 Rechte –– kaiserliche  ​44 –– wohlerworbene  ​27, 49 f., 53 f., 180 Rechtsanfrage  ​27 Rechtsbeziehung, intersubjektive  ​42 Rechtsfortbildung  ​27, 51, 54 Rechtsgelehrter  ​159 Rechtsgeschichte  ​54 Rechtsgewohnheit  ​101, 112, 118, 125 Rechtsgewohnheiten  ​14 Rechtsgutachten  ​47 Rechtsherkommen  ​39 – 41 Rechtshonoratioren  ​70 Rechtskenntnis  ​158 Rechtskreis  ​10, 21, 101 f., 113, 125 –– sächsischer  ​46 Rechtslandschaft  ​11 Rechtsleben  ​12, 27 Rechtsmittel  ​23, 165 f., 171, 173, 175, 177, 181 Rechtsmittelzug  ​181 Rechtsnorm  ​48 Rechtsordnung  ​101, 111, 113, 125

312

Register

Rechtsposition, individuelle  ​47 Rechtspositivismus  ​50 Rechtsprechung  ​46, 51, 54, 163, 196 Rechtsquellen  ​19 Rechtsschutz –– einstweiliger  ​33 –– individueller  ​55 Rechtssprache  ​45 Rechtsstaat  ​49 Rechtssubjekt  ​51 Rechtstheorie  ​48 Rechts- und Gerichtslandschaft  ​101, 128 Rechtsvereinheitlichung  ​101, 103, 106, 125 Rechtsverhältnisse, individuelle  ​41 Rechtsverweigerung  ​177, 181, 217, 223 Rechtswegerschöpfung  ​215 Rechtsweisung  ​106 Rechtszug  ​104, 106, 108 f. Reformation  ​278 Reformationszeit  ​161 Regierung  ​32, 174, 195, 208 –– Ratzeburg  ​174 f. Regierungskollegium  ​207 Regiment  ​207 Region  ​147, 201 Register  ​141 Reich  ​147, 155 Reichsdeputation  ​208 Reichsferne  ​155 Reichsfürst  ​156, 158 Reichsgericht  ​50 f., 53 Reichsgerichtsbarkeit  ​20, 155 Reichsgesetzgebung  ​46 Reichshandwerksordnung  ​280, 282 Reichshofrat  ​57, 70, 75, 94, 129, 145, 161, 170, 173, 176, 178, 192, 244, 248, 283 f., 287 – 289, 292, 294 f., 297 f., 300 Reichshofratsagent  ​296 f., 299 Reichshofratssekretär  ​296 Reichsjustizgesetze  ​68 Reichskammergericht  ​23 f., 46, 57, 59, 75, 94, 110 f., 129, 141, 145, 161, 166, 168 – 170, 173, 178, 183, 200, 217, 219 – 221, 236 f., 244, 248 f., 251, 283 Reichskammergerichtsordnung  ​169 Reichsoberhaupt  ​41, 44 Reichsreform  ​166 Reichsritterschaft  ​199

Reichsstadt  ​155, 157, 192, 200, 279 – 284, 291, 294, 299 f. Reichstag  ​149, 280, 282, 295, 299 f. Reichsvogt  ​208 Rektor  ​208, 265 f., 268, 274 Relegatio cum infamia  ​272 Relegation  ​272 Rentamt  ​196 Rentenversicherung  ​53 Rentmeister  ​208 Repräsentationsprinzip/Eintrittsrecht  ​121 Residenz  ​157 Residenzstadt  ​200 Ressourcenschonung  ​89, 94 Rezeption  ​20, 28, 45, 163 Rezess  ​68, 266 Richter  ​47 f., 50, 55, 66, 152, 193, 274, 276 Richteramt  ​47 Richterliche Rechtsfortbildung  ​51, 54 Richtsteig Landrecht  ​159 Ritter  ​159 Ritterkanton  ​199 Ritterlehengericht  ​193, 208, 220 Ritterschaft  ​152, 167, 169, 175 f. –– fränkische  ​209, 219 Rota Romana  ​204, 208 Rückschauverzerrung  ​62 Rückzahlung  ​151 Rüge  ​231, 234, 237 – 239 Rügebrauch  ​238 Rügegericht  ​9, 238 –– Canstein  ​238 Rügeleute  ​237 Rügepflicht  ​231 f. Rüger  ​237 f. Ruhestörung  ​269 Runder Vertrag  ​211 S Sachbeschädigung  ​270 Sanduhr  ​58 Schadensersatz  ​50, 52 Scheidungssache  ​245 Schenkung  ​40 Schiedsgericht  ​75, 208, 249, 252, 254 –– jüdisches  ​242 –– Speyer  ​243 –– Worms  ​243

Sachverzeichnis Schiedsgerichtsbarkeit  ​148 Schiedsgremium  ​146, 150 Schiedsprotokoll  ​160 Schiedsrichter  ​44, 186 Schiedsspruch (peschara)  ​253 Schiedsverfahren  ​153 f., 243 Schlichtung  ​148 Schlichtungsinstanz  ​153 Schlittenfahrt  ​269 Schöffe  ​46, 208, 227 – 229, 231, 233 – 236, 238 –– Frankfurt am Main  ​103 –– Ingelheim  ​106 Schöffengericht  ​208 Schöffenkollegium  ​227 Schöffenstuhl  ​17, 165, 186, 208 –– Magdeburg  ​46 Schriftlichkeit  ​32, 63, 70, 210 Schriftlose Gesellschaft  ​45 Schulden  ​269 Schuldrecht  ​246 –– jüdisches  ​250 Schultheiß  ​208 Schultheißenamt  ​208 Schultheißengericht  ​208 Schwabenkrieg  ​135 Sekretär  ​210, 218 Selbstbestimmtes Lebensende  ​55 Senat  ​208, 265 f., 268 Siebenjähriger Krieg  ​94 Sozialdisziplinierung  ​275 Sozialgesetzbuch  ​52 Sozialkapital  ​83 Spätaufklärung  ​276 Spatial turn  ​34 Sprengel  ​127, 129 – 138, 141 – 144 Staat  ​195, 278 Staatlichkeit  ​26, 84 Staatsbildung  ​17 Stadt  ​199, 265 Stadtbuch  ​158 Stadtgericht  ​24, 71, 143, 165, 172, 175, 177, 181, 189, 193, 208, 219, 222 f. –– Augsburg  ​189 –– Frankfurt am Main  ​244 –– Würzburg  ​222 f., 225 Städtisches Ratsgericht  ​166 Stadtrat  ​208 –– Würzburg  ​223

313

Stadtrichter  ​208 Stadtschreiber  ​115 f., 158 Stadtvogt  ​91 Stadtvogteiamt  ​208 Stand  ​40, 152 Statthalter  ​208 Statut  ​47, 263, 266 f. Stauferzeit  ​40, 45 Stift  ​152 –– Bamberg  ​140 –– Eichstätt  ​140 –– Würzburg  ​140 f. Stipendium  ​269, 272 Strafgeld  ​278 Strafmaß  ​269 Streitbeilegung  ​14, 160 Streitpartei  ​149, 154 Streitschlichter  ​148 Streitschlichtung  ​24, 150 Student  ​278 Studienstrafe  ​271 Studium  ​158 Stümper (Stümpeley), Störer  ​282, 285, 292 f., 295, 298 f. Subsumtion  ​45 Suggestivkraft der Quellen  ​122 Supplik  ​27, 32 Suppliken  ​219, 224 Symbolische Kommunikation  ​148 Syndikatsgericht  ​266 Syndikus  ​208, 266, 269 Synode  ​253 T Tabakkonsum  ​269 Tagessatz  ​95 Tagfahrt  ​21 Tagsatzung  ​149 Talmud  ​245 Territorialisierung  ​278 Territorialitätsprinzip  ​21, 24 f., 71 f. Territorium  ​151, 161 –– non clausum  ​226 Teuerungsaufstand  ​92 Theateraufführung  ​269 Theologenfakultät  ​208 Todesstrafe  ​271 f. Todesurteil  ​272

314

Register

Topographisches Argument  ​82, 94 Tora  ​245 Transaktionskosten  ​83, 94, 97 –– -analyse  ​83 –– -bilanz  ​98 U Universität  ​17, 22, 178 Universitätsdorf  ​271 Universitätsfechtmeister  ​270 Universitätsgerichtsbarkeit  ​19, 24, 71 Universitätsgründung  ​20 Universitätssekretär  ​265 Universitätsverwandter  ​278 Untergericht  ​208 Unterlassung  ​50 Unterlassungsanspruch  ​51 Untertan  ​46, 186 Untervogt  ​208 Urkunde  ​40 f. Urkundenbuch  ​156 Urteil  ​40, 42 – 45, 161 –– Bestätigung  ​140 –– Gottes-  ​42 Urteiler  ​65, 69, 213, 218, 222, 224 Urteilsbuch  ​140 Urteilsschelte  ​108 f., 116, 165 Usurpation  ​42 V Verbalinjurie  ​232 Verbindungswesen  ​269 Verbraucherprivatrecht  ​52 Verdichtung  ​146 Vereinbarung  ​42 Verfahrensbeteiligte  ​22 f. Verfahrenskosten  ​29 Verfahrensnutzung  ​139 Verfassung  ​49 –– Stadt-  ​41 Verfassungsurkunde  ​49 Vergleich  ​59 Vergütungssystem des vormodernen Staates  ​95 Verkehrssicherungspflicht  ​50 Verkehrsunfall  ​269 Verleihung von Rechten  ​42 Verletzung  ​41 Vermittlerpersönlichkeit  ​148

Vermittlung  ​148 Versammlung von Rabbinern und Vertretern  ​ 255 Verschriftlichung  ​138 Verschulden  ​52 Vertragsrecht  ​52, 218 Vertragsschluss  ​41 Verwalter  ​208 Verwaltung  ​196 Verwaltungsschriftgut  ​158 Verwissenschaftlichung  ​45 Viehraub  ​147 Vierer  ​208 Vierstädtegericht  ​71 Vikariat  ​208 Vikariatshofgericht  ​208 Visitation  ​278 Vizekanzler  ​266 Vogt  ​39, 41, 208 –– Gericht  ​208 –– Rat  ​208 Vogteiamt  ​208 Vorinstanz  ​186 Vorladung  ​140 Vormundamt  ​196, 208 Vormundschaftssache  ​245 Vorsteher  ​257 f. W Wahlkapitulation  ​294, 300 Wassergericht  ​208 Wechselklage  ​265 Wegnahme  ​147 Weltordnung  ​42 –– christliche  ​39 Wergeld  ​62 Wettegericht  ​68 Wismarer Tribunal  ​73, 174 Würdenträger  ​193, 208 Z Zehnt  ​39 f. Zeit-Wege-Widerstand  ​79 Zent  ​227 – 230, 232 – 235, 237 –– Burghaslach  ​238 –– Michelrieth  ​236 –– Wertheim  ​238 Zentbrauch  ​224

Personenverzeichnis Zenten  ​227 f. Zentgericht  ​17, 138, 198, 208, 223 f., 227 – 237, 239 f. –– Wertheim  ​227 f., 230, 232 – 234, 236 – 240 Zentgerichtsbarkeit  ​228 Zentgerichtsbücher –– Wertheim  ​235 Zentgraf  ​224, 227, 230, 233 –– Wertheim  ​230 Zentherr  ​227, 230, 235 f. Zentordnung  ​236 Zentschöffe  ​229, 233

315

Zentverwandter  ​227, 234, 237 f. Zeuge  ​39 f. Zeugnis  ​40 Zoll  ​44 Zunft  ​279 f., 282, 285 Zunftgerichtsbarkeit  ​17, 24, 71 Zuständigkeit, gerichtliche  ​18 f., 21, 25, 64, 70, 127 – 129, 131, 134 – 136, 138 – 144, 217 f. –– Konflikt  ​27, 129, 132, 139, 141 – 143, 223, 226 Zweikampf  ​269 f. Zwölftafelgesetze  ​45

Personenverzeichnis A Albrecht Achilles (Markgraf von Brandenburg)  ​ 138, 140 Arndes, Johann  ​116 Askanier  ​157 Asseburg, Wilhelm Anton v. der  ​97 B Balduin II. von Wenden (Erzbischof von Bremen)  ​153, 160 Beier, Adrian  ​280 Bracht, Johann  ​116 Brandt (Rentmeister)  ​95 Brunner, Wilhelm Friedrich  ​287 Buch, Johann v.  ​159 C Caesar, Karl Adolf  ​276 Carmon, Lorenz Christian  ​272 Crailsheim, Wolf v.  ​140 D Dreyer, Johann Carl Henrich  ​115 E Eberhard III. von Eppstein  ​102 Echter, Julius (Fürstbischof von Würzburg)  ​193 Engelhard, Johann  ​288 Erfuhrt, Johann Christian  ​288 Erich I. (Herzog von Braunschweig-Lüneburg)  ​ 166

Ernst August (Herzog von BraunschweigCalenberg)  ​173 Ernst I. (Braunschweig-Lüneburg)  ​168 F Ferdinand II. (Erzherzog)  ​244 Ferdinand II. (Fürstbischof von Fürstenberg)  ​ 91 Fleming, Peter  ​122 Franz I. (Kaiser)  ​61 Friedrich der Große (preußischer König)  ​60 f. Friedrich I. (Kaiser)  ​41 Friedrich I. (Landgraf von Hessen-Kassel)  ​88 Friedrich II. (Kaiser)  ​44 Friedrich Wilhelm III. (preußischer König)  ​68 Fries, Lorenz  ​213, 218, 220, 222 Frundeck, Joachim Mynsinger v.  ​169 Fürstenberg (Grafen von)  ​137 G Gay, Alois v.  ​297 Gebhard, Johann Georg  ​276 Gedike, Friedrich  ​276 Georg (Herzog von Braunschweig-Lüneburg)  ​ 170 Georg (Markgraf von Brandenburg)  ​139 f. Georg Wilhelm (Herzog von Braunschweig-Lüneburg)  ​163, 173 Gerhard (Graf von Oldenburg)  ​153, 160 Gottfried IV. Schenk von Limpurg (Würzburger Bischof )  ​210

316 Grüber, Johann Georg  ​287 Güllin, Appolonia  ​286 Gumpel, Samson  ​258 Günzburg, Simon  ​241 – 244, 247, 252, 254 f. Gut, Max  ​134 H Haas, Johann Adam  ​287 f. Habsburger  ​48, 145 Hanlein, Philipp Friedrich  ​291 Harnisch, Peter  ​285, 287 f. Hartwig I. (Erzbischof von Bremen)  ​159 Haseloch, Cryeg v.  ​118 Haseloch, Klaus v.  ​124 Haxthausen, Ritterfamilie v.  ​89 Heimburg, Gregor  ​140 Heinemann, Bernhard  ​116 Heinrich XXVII. von Schwarzburg (Bischof von Bremen und Münster)  ​160 Heise (Driburger Stadtvogt)  ​91 Hochmann, Heinrich Christoph  ​296 f. Hofacker, Hans-Georg  ​132 Hohenzollern  ​132, 138, 141 Horowitz, Pinchas  ​251 Hoya (Grafen von)  ​153 f. Huep, Dietrich  ​122 f. I Isserles, Moses  ​243 J Jakob (Reichsrabbiner)  ​242 f., 247, 249, 254 Johann II. (Graf von Wertheim)  ​230 Johann III. von Grumbach (Fürstbischof von Würzburg)  ​211 Johann von Hoya (Bischof von Münster)  ​63 K Karl V. (Kaiser)  ​222, 235 Karl VI. (Kaiser)  ​294 Karl VII. (Kaiser)  ​294 Katzenellenbogen, Meir  ​243 Kellner, Johann Leonhard  ​291 Kern, Johann Friedrich  ​288 Kirberg, Johann  ​287, 292 Kistler, Franz Joseph  ​296 Knöringen, Konrad v.  ​193

Register L Lange, Johannes  ​160 Lauenburg (Herzöge von)  ​154 Lenderking, L. W.  ​88 Liebel, Andreas Jakob  ​289 f. Lochner, Johan Conrad  ​287 Ludwig der Deutsche (König)  ​39 M Maximilian I. (König und Kaiser)  ​133, 145, 166 Maximilian II. (Kaiser)  ​244 Merowinger  ​42 f. Mevius, David  ​112 Moser, Johann Jakob  ​285 Münchhausen zu Reimershausen, v. (Amtsdrost und Oberforstmeister)  ​88 Mylius, Johann Michael  ​295 N Nieberding, Carl Heinrich  ​66 Nigebur, Gottschalk  ​119 Nigebur, Telseke  ​119 f. O Oettingen (Grafen von)  ​132, 135, 137 f. Otto der Große (Kaiser)  ​43 Otto Truchseß von Waldburg (Bischof von Augsburg)  ​241, 244 P Pelizäus (Dorfvorsteher)  ​95 Pilgram, Georg  ​287 Pleskow, Godeke  ​122 Praun, Tobias Sebastian  ​296 R Reiher (Reyer), David Gottlieb  ​287, 298 Rode, Johannes  ​115 f. Rudolf von Habsburg (König)  ​141 Ruprecht (König)  ​155 S Savoyen (Grafen von)  ​44 Schöll, Christoph Heinrich  ​287 Schotten, Ellen  ​241 Schotten, Nathan  ​241 – 244, 247, 252, 254 f. Schrivers, Geborge  ​120 Schrivers, Hans  ​120

Ortsverzeichnis Schultheis, Friedrich  ​210 Schwerin (Grafen von)  ​145 Seckendorff, Christian Adolph v.  ​277 Segal, Isaak  ​246 Sickingen, Franz v.  ​162 Sigismund von Luxemburg (König und Kaiser) ​ 213, 230 Solms, Cuno v.  ​103 Soltau, Konrad v. (Bischof von Verden)  ​156 Spiegel, v. (Gutsherr)  ​95 Stöberlein, Johann Lienhardt  ​285 Sulz (Grafen von)  ​135

V Vüllers, Amtmann  ​95

T Teller, Wilhelm Abraham  ​276 Teutscher, Johann  ​295 Thüngen, Konrad v.  ​222 Treves, Elieser Hirtz  ​246, 249

Z Zwinger, Johann David  ​286

317

W Weiske, Julius  ​62 Welfen  ​157 Wenzel (König)  ​156 Werle (Herren von)  ​145 Wicht, Matthias v.  ​60 f. Wittenborg, Hans  ​119 Wolff-Metternich, Hermann Werner von (Fürstbischof von Paderborn)  ​86

Ortsverzeichnis A Aix-en-Provence  ​290 Aller  ​156 Altenbergen  ​96 Altona  ​258 Amrum  ​67 Ansbach  ​190, 204 Appenzell  ​130 f., 136 f. Augsburg  ​41, 130, 136 f., 190, 204, 241, 244, 251, 284, 288 Auhagen  ​88 B Baden  ​65 Bamberg  ​140, 190, 195, 200, 204 Basdahl  ​152 Bayern  ​49, 185 f., 204 Bayreuth  ​195, 204 Bellersen  ​89, 96 Bern  ​130 f., 136 f. Bochum  ​184 Bökendorf  ​96 Bologna  ​159, 277 Brakel  ​96 Brandenburg  ​138, 156

Brandenburg-Ansbach  ​258 Braunschweig  ​164, 166 Braunschweig-Lüneburg  ​149, 151, 156 f., 161, 164, 173 Braunschweig-Wolfenbüttel  ​258 Bremen  ​149, 151 – 154, 159 – 161, 164, 166, 173 f. Bundorf  ​219 Burgau  ​241, 244, 252 f. Burghaslach  ​238 C Calenberg  ​164, 166, 168, 170, 173 f. Canstein  ​238 Celle  ​157, 168, 170, 173 – 176 Chur  ​136 f. D Dänemark  ​67 Dertingen  ​229, 232 Desum  ​66 Diepholz  ​164 Dillingen  ​195 Dinkelsbühl  ​140 Donauwörth  ​190 Driburg  ​90

318

Register

Dringenberg  ​85, 92, 96 – 98 Düdinghausen  ​88 E Ebersberg  ​141 Eichstätt  ​185, 190, 195, 200, 204, 289 Elbe  ​161 Elbing  ​110 England  ​151 Erfurt  ​178, 285 Erlangen  ​267 F Föhr  ​67 Franken  ​129, 185, 204 Frankfurt am Main  ​11, 102 f., 130, 136 f., 149, 241 – 244, 246, 249 – 251, 255 – 257, 259, 290 Frankreich  ​48 Freiburg i. Br.  ​204 Freiburg im Üchtland  ​130 f., 136 Friedberg in der Wetterau  ​255 Fulda  ​39 f., 141, 195, 255, 258 Fürth  ​257 G Gandersheim  ​169 Gersfeld  ​141 Goslar  ​155, 166 Göttingen  ​164, 166, 168, 170, 173, 204, 267 f., 270, 272 Graz  ​272 Greetsiel  ​61 Greifswald  ​69 Grubenhagen  ​164, 173 Grumbach  ​162 Günzburg  ​241 – 244, 246, 252, 255 H Halle  ​267, 270 Hamburg  ​154, 258 Hameln  ​166 f. Hamm  ​65 Hammelburg  ​141 f. Hannover  ​167, 170, 173 – 176 Hanseraum  ​145, 147, 150 f., 161 Heessen  ​65 Heidelberg  ​273 Heidingsfeld  ​189, 219

Helmstedt  ​69 Hersfeld  ​40 Herstal  ​40 Herzberg  ​168 Hessen  ​227 Hessen-Schaumburg  ​29, 84, 92 Hildesheim  ​160, 162, 164, 170 Hilpoltstein  ​203 Hirschberg  ​131 f., 138 Höchberg  ​224 Höchstädt an der Donau  ​190 Höhefeld  ​232 Homburg  ​230 Hoya  ​153 f., 160, 164 I Ilmenau  ​156 Ingelheim  ​39, 43, 101, 103 f., 106 – 108, 111 – 114, 118, 121, 124 f. Ingolstadt  ​190, 270 Iphofen  ​219 Italien  ​158 Itzehoe  ​71 J Jena  ​178, 271, 274 K Kalkberg  ​157 Kassel  ​88 Katzenelnbogen  ​107 Kempten  ​204 Kiel  ​71, 271 Kitzingen  ​139 f. Köln  ​130 f., 136 f., 244 Konstanz  ​131 Krakau  ​243 Kreuznach  ​104 Kulmbach  ​195 Kumbd  ​107 f. Kursachsen  ​47 L Landsberg am Lech  ​190 Lauenburg  ​154, 173 f. Lauenrode  ​167 Laufenselden  ​107 Lauingen  ​190

Ortsverzeichnis Leipzig  ​69, 178, 210, 271, 294 Leutkircher Heide  ​131 Lindau  ​190, 281 Lindelbach  ​232 Lippspringe  ​95 Lippstadt  ​89 Lübeck  ​22, 28, 68 f., 71, 103, 105 f., 108 – 112, 114, 116 – 123, 125, 155, 157 Lüneburg  ​154 – 157, 159 f., 163 f., 166, 168, 170, 174 Luzern  ​130 f., 136 f. M Magdeburg  ​46, 160 Mainz  ​39, 204, 243 f. Marburg  ​47, 266 f. Massenheim  ​102 f. Mecklenburg  ​146 Memmingen  ​190, 204 Michelrieth  ​228, 236 Minden  ​164 Mittelrhein  ​227 Mömpelgard  ​130 München  ​184, 204 Münden  ​166 – 169, 171 Münster  ​67, 164 Münzenberg  ​102 N Narva  ​106 Neuburg a. d. Donau  ​195 Neuburg an der Kammel  ​241, 252 Neuenburg  ​130 Neustadt am Rübenberge  ​167 Niedersachsen  ​158 f. Nieheim  ​95 Nordsee  ​154 Nürnberg  ​129, 131 f., 138 – 140, 149, 190, 200, 204, 281 – 285, 287 – 289, 291 f., 294, 298 f. Nürnberg-Altdorf  ​69 O Oberhausen bei Augsburg  ​241 Oettingen  ​132, 204 Oeynhausen  ​95 Oldenburg  ​65, 153, 160 Oldesloe  ​71 Osnabrück  ​164

Österreich  ​277 Ostfranken  ​227 Ostfriesland  ​60 f. P Paderborn  ​29, 84 f., 90, 95 – 97, 99 Padua  ​243 Paris  ​277 Pattensen  ​167, 169 f. Petterweil  ​102 f. Pfalz-Neuburg  ​190 Polen  ​162 Pommern  ​60 Preußen  ​48 f., 60, 277 Pruntrut  ​130 R Ratzeburg  ​174 f., 178 Regensburg  ​204, 289 Remlingen  ​228 Rendsburg  ​71 Reussenberg  ​141 Reutte  ​131 Reval  ​105 f., 109 f., 114 – 117 Rheinpfalz, bayerische  ​185 Rinteln  ​88, 267 f. Ronnenberg  ​166 f. Roppenhausen  ​141 Rostock  ​69, 105 Rothenburg o. T.  ​200 Rottweil  ​128, 130, 134 – 137 S Sachsen  ​43, 74, 160 Sachsenhagen  ​88 Savoyen  ​44 Schaumburg  ​84, 99 Schaumburger Land  ​88 Schaumburg-Lippe  ​29, 36, 84 Schlesien  ​74 Schleswig  ​162 Schleswig-Holstein  ​63, 71 Schwabegg  ​206 Schwaben  ​186, 244 Schweinfelden  ​130 Schweinfurt  ​200 Schwerin  ​145 Schwyz  ​130 f., 137

319

320 Sickingen  ​162 Sortenberg  ​141 Speyer  ​12, 79 f., 192, 243 f. Stade  ​174 f. Stadthagen  ​86 Steinhude  ​86 Stockach  ​131 Stralsund  ​69 T Tannheim  ​131 Thann  ​141 Thüringen  ​39 Trier  ​162, 244, 266 Tübingen  ​134 U Uelzen  ​168, 170 Ungarn  ​162 Unterknöringen  ​193 Urfar  ​232 V Vechta  ​156 Verden  ​154, 156, 161, 164, 173 f. Volkmanrode  ​9

Register W Waldbüttelbrunn  ​224 Waldenhausen  ​232 Wandsbek bei Hamburg  ​258 Weil der Stadt  ​243 f., 248, 254 Wertheim  ​17, 227 – 230, 232 – 240 Weser  ​161 Weserbergland  ​154 Westfalen  ​67 Wetzlar  ​12, 79 f., 283 Wien  ​12, 81 f., 283 – 285, 288, 292, 295 – 298, 300 Windsheim  ​140 Wittenberg  ​204 Wolfenbüttel  ​169, 258 Worms  ​243 f., 253, 255 Würzburg  ​17, 28, 30, 138 – 141, 184, 190, 195, 200, 204, 228 – 230, 259 –– Bistum  ​218 –– Hochstift  ​209 Z Zell a. M.  ​224