Grenzen und Grenzüberschreitungen: Bilanz und Perspektiven der Frühneuzeitforschung 9783412213268, 9783412206468

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Grenzen und Grenzüberschreitungen: Bilanz und Perspektiven der Frühneuzeitforschung
 9783412213268, 9783412206468

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Frühneuzeit - Impulse Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft Frühe Neuzeit im Verband der Historikerinnen und Historiker Deutschlands e. V.

Band 1

Grenzen und Grenzüberschreitungen Bilanz und Perspektiven der Frühneuzeitforschung

Herausgegeben von Christine Roll, Frank Pohle und Matthias Myrczek

2010

BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft, des Landschaftsverbandes Rheinland und der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Die Collage zeigt einen Ausschnitt aus der Kupferstichkarte „Tabula ducatus Limburch. et comitatus Valckenburch. in lucem edita a F. de Wit“ (1616–1698) sowie kartographische Symbole aus anderen frühneuzeitlichen Karten. © Jens Peterhoff, Düren

© 2010 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-20646-8

Vorwort Der vorliegende Band dokumentiert die 8. Arbeitstagung der Arbeitsgemeinschaft Frühe Neuzeit im Verband der Historikerinnen und Historiker Deutschlands, die vom 24. bis 26. September 2009 in Aachen stattfand. Unter dem Titel „Grenzen und Grenzüberschreitungen“ erörterten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer eine Thematik, die in unserem Fach seit einigen Jahren eine zunehmend wichtige Rolle spielt: Je mehr Grenzen fallen, desto größer, so scheint es, wird das Interesse der Wissenschaften an ihnen. Das gilt für räumliche Grenzen, aber auch für Grenzen zwischen Lebensbereichen, die sich auf den ersten Blick gar nicht räumlich niederschlagen, Grenzen etwa zwischen Sprachen, Konfessionen und Religionen, zwischen politischen Systemen, Kulturen und Zivilisationen, Grenzen auch zwischen den Geschlechtern, darüber hinaus Grenzen zwischen Lebensphasen und die Grenze zwischen Leben und Tod; das gilt aber auch für die Grenze als Metapher. In diesen Bereichen hat die Frühneuzeitforschung vielfältige und teilweise beeindruckende Forschungsergebnisse vorgelegt. Deshalb erschien es an der Zeit, auf einer Tagung der Arbeitsgemeinschaft Frühe Neuzeit Impulse aus den unterschiedlichen Forschungsrichtungen zusammenzuführen, eine Zwischenbilanz zu ziehen und neue Perspektiven zu diskutieren. Die Aktualität des Themas in der Geschichtswissenschaft zeigte sich in der regen Beteiligung der Kolleginnen und Kollegen an unserem „Call for Papers“, dem so viele gute Vorschläge für Sektionen entstammten, dass im gedrängten Rahmen der Tagung gar nicht alle Berücksichtigung finden konnten. Sie zeigt sich nicht zuletzt aber auch darin, dass die Schweizerische Gesellschaft für Geschichte ihre diesjährige Tagung über „Grenzen“ veranstaltet hat und der 48. Deutsche Historikertag vom 28. September bis 1. Oktober 2010 in Berlin ebenfalls „Über Grenzen“ tagen wird. Insofern war die geographische Lage Aachens im euregionalen Grenzraum, in dem Deutschland, Belgien und die Niederlande zusammenstoßen, die Staatsgrenzen aber menschliche Mobilität nicht mehr hemmen, nur ein äußerer Anlass für das Tagungsthema, das geradezu in der Luft lag – und doch vielleicht ein Moment der Inspiration. Mit unserem ambitionierten Vorhaben, den Tagungsband bereits nach einem Jahr dem Publikum vorlegen zu wollen, haben wir den Autorinnen und Autoren viel abverlangt. Insofern ist es verständlich, dass nicht alle Sektionen der Tagung hier dokumentiert werden können. Die Beiträge von Margareth Lanzinger, Kirsten Rüther und Simon Teuscher zu einer von Michaela Hohkamp verantworteten Sektion über „Grenzen der Verwandtschaft in der Frü-

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Vorwort

hen Neuzeit“ finden sich daher hier leider ebenso wenig wie die Referate von Felicitas Schmieder, Ralph Kauz, Stephan Conermann und Jürgen G. Nagel aus der Sektion „Der Indische Ozean als Grenzraum – Sichtweisen über die Grenzen der Kulturen und Epochen“. Auch auf – wenige – Einzelbeiträge musste verzichtet werden. Unser herzlicher Dank gilt deshalb allen denjenigen, die sich unseren knappen Fristen unterworfen und damit die schnelle Publikation möglich gemacht haben. Die Drucklegung des Bandes wurde durch Druckkostenzuschüsse der Deutschen Forschungsgemeinschaft, des Landschaftsverbands Rheinland und der RWTH Aachen ermöglicht, denen wir hier ebenfalls gerne unseren Dank abstatten. Mit diesem Band begründet die Arbeitsgemeinschaft Frühe Neuzeit zur Dokumentation ihrer Arbeitstagungen die „Frühneuzeit-Impulse – Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft Frühe Neuzeit im Verband der Historikerinnen und Historiker Deutschlands“. Damit werden die beiden Hauptanliegen der Arbeitsgemeinschaft noch deutlicher sichtbar als bisher: Sie wurde vor 15 Jahren gegründet, um die Frühneuzeitforschung in ihrer thematischen und methodischen Vielfalt alle zwei Jahre unter einem aktuellen Thema zum Gespräch zusammenzuführen und laufenden Diskussionen im Fach durch die Präsentation von Forschungsergebnissen neue Impulse zu verleihen – und auf diese Weise das Bild einer kreativen und lebendigen Geschichtswissenschaft in die Öffentlichkeit zu tragen, einer Geschichtswissenschaft, die zu aktuellen Themen etwas beizutragen hat. Dem Böhlau-Verlag danken wir für die Aufnahme der Reihe in sein Verlagsprogramm und wünschen ihr gute Resonanz. Aachen, im Juli 2010 Christine Roll, Frank Pohle, Matthias Myrczek

Inhalt

Christine Roll Grenzen und Grenzüberschreitungen in der Frühen Neuzeit – eine Einführung in die Forschung................................................................... 13 THEORETISCHE KONZEPTE – RÄUME UND GRENZEN Cornel Zwierlein Natur/Kultur-Grenzen und die Frühe Neuzeit – Transcodierung von Natur, Klimatheorie und biokulturelle Grenzen...... 25 Thomas Müller Entgrenzte Nation und suspendierte Normalität. Das völkische „Grenzraum“-Konzept und seine Bedeutung für die Entgrenzung politischer Gewalt im Deutschen Reich................................. 51 Andreas Kunz Probleme der Kartierung politischer und konfessioneller Grenzen in der Frühen Neuzeit ....................................................................................... 89 NATUR EIN-GRENZEN! EIN UMWELTHISTORISCHER ZWISCHENRUF Achim Landwehr Natur ein-grenzen! Ein umwelthistorischer Zwischenruf ............................... 105 Martin Knoll Fließende Grenzen. Zur Rolle von Flüssen bei der Repräsentation historisch-topografischer Räume der Frühen Neuzeit................................. 109 Achim Landwehr Die Zeichen der Natur lesen. „Natürliche“ Autorität im habsburgischvenezianischen Grenzgebiet in der Frühen Neuzeit .................................... 131 Christian Wieland Grenzen an Flüssen und Grenzen durch Flüsse. Natur und Staatlichkeit zwischen Kirchenstaat und Toskana .................... 147

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Inhalt

VOM UMGANG MIT KONFESSIONELLEN GRENZEN Bettina Braun / Johannes Wischmeyer Vom Umgang mit konfessionellen Grenzen. Aushandlungsprozesse und rechtliche Festlegungen ................................... 163 Bettina Braun Die gemischtkonfessionellen Domkapitel im Reich nach dem Westfälischen Frieden. Gelebte Ökumene oder Teilung durch eine unsichtbare Grenze? ...................................................................... 171 Johannes Wischmeyer „Streitpfarren“ – Das innerkonfessionelle Konfliktpotential kirchlicher Hoheitsrechte im politischen Grenzraum .................................. 185 Silke Marburg Gesandte als Grenzgänger. Residenzstädtische Repräsentationskultur und die Konstruktion religiöser Exklaven unter Kurfürst Johann Georg II. von Sachsen......................................................................... 199 GRENZÜBERSCHREITUNGEN IM REGIONALEN RAHMEN Andreas Rutz Grenzüberschreitungen im deutsch-niederländisch-französischen Grenzraum................................. 217 Stefan Ehrenpreis Protestantische Kaufleute als Grenzgänger zwischen dem Rheinland und den Niederlanden im 16. und 17. Jahrhundert...................................... 223 Stephan Laux Grenzüberschreitende Lebensbezüge von Juden in Nordwesteuropa in der Frühen Neuzeit. Eine Skizze ................................................................ 237 Frank Pohle Kloster – Territorium – Ordensprovinz. Zur Mobilität von Ordensleuten im Rhein-Maas-Raum im 17. und 18. Jahrhundert.............. 247

Inhalt

DER TOD DES HERRSCHERS ALS GRENZE UND ÜBERGANG Christoph Kampmann Der Tod des Herrschers als Grenze und Übergang. Die normative Funktion der Herrschermemoria in der Frühen Neuzeit ............................ 263 Kerstin Weiand Der englische Regierungs- und Dynastiewechsel 1603 im Spiegel der Funeralschriften Elisabeths I. ............................................... 271 Maria Golubeva Crossing the Confessional Border. Discourses of political competence in contemporaries’ evaluations of Leopold I around 1705 ......................... 291 Ulrich Niggemann Der mediale Umgang mit dem Tod eines umstrittenen Herrschers. Die Memoria Wilhelms III. zwischen „Glorious Revolution“ und Hannoverscher Thronfolge...................................................................... 299 Gudrun Gersmann Le Roi est mort, vive la Révolution, vive Marat. Anmerkungen zum Gebrauch der Effigies in Frankreich von der Frühen Neuzeit bis zur Französischen Revolution ....................... 313 BIOGRAPHISCHE GRENZPASSAGEN – DIE LEBENSWELT „MILITÄR“ Ralf Pröve Grenzen markieren und überschreiten. Die Lebenswelt „Militär“ in der Perspektive des „performative turn“................................................... 335 Carmen Winkel Geburt und Eintritt. Initiationsrituale beim Eintritt in das preußische Offizierkorps im 18. Jahrhundert................................................ 343 Jutta Nowosadtko Exklusionen, Inklusionen. Militärrechtliche Passagerituale......................... 355 Angela Strauß Abschied und Tod. Rituale am Ende des Offizierslebens im 18. Jahrhundert............................ 363

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Inhalt

GRENZEN DER NACHBARSCHAFT Inken Schmidt-Voges / Siegrid Westphal Nachbarn und Nachbarschaft. Grenzräume und Grenzerfahrung in der sozialen Ordnung frühneuzeitlicher Gemeinden .............................. 377 Eric Piltz Vergemeinschaftung durch Anwesenheit. Sozialräumliche Grenzen der Nachbarschaft in Andernach und Coesfeld............................................ 385 Stefan Kroll Nachbarschaft und soziale Vernetzung in norddeutschen Städten des 17. und 18. Jahrhunderts............................................................................ 399 Inken Schmidt-Voges Nachbarn im Haus. Grenzüberschreitungen und Friedewahrung in der „guten Nachbarschaft“ .......................................................................... 413 Hendrikje Carius Transformierte Eigentumskonflikte. Semantiken gerichtlicher Aushandlung nachbarlicher Grenzen................. 429 GRENZEN KOLONIALER HERRSCHAFT Renate Dürr Grenzen kolonialer Herrschaft ........................................................................ 453 Felix Hinz Topographische Grenzen als Grenzen kolonialer Herrschaft am Beispiel Lateinamerikas und insbesondere Tlaxcalas im 16. Jahrhundert ............................................................................................. 461 Christoph Marx Die Grenze und die koloniale Herrschaft. Die „Frontier“ der Kapkolonie im 18. Jahrhundert ..................................... 475 Anne-Charlott Trepp Zur Dynamik interkultureller Grenzen am Beispiel der protestantischen Indienmission im 18. Jahrhundert ........ 483

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Antje Flüchter Mission als Grenzüberschreitung? Die Wahrnehmung französischer Jesuiten in Südindien am Vorabend des Kolonialismus .............................. 501 GESCHLECHTERGRENZEN UND IHRE INFRAGESTELLUNG Claudia Opitz-Belakhal Geschlechtergrenzen und ihre Infragestellung in der Frühen Neuzeit. Einige einführende Überlegungen................................................................... 527 Eva Labouvie Geschlechtergrenzen, Status und die Vergeschlechtlichung der Wahrnehmung. Kulturen der Geschlechter in der ländlichen Gesellschaft der Frühen Neuzeit..................................................................... 535 Dorothea Nolde Aufbruch und Festschreibung. Zum Verhältnis von Geschlechtergrenzen und kulturellen Grenzen auf europäischen Auslandsreisen der Frühen Neuzeit................................................................ 547 Joachim Eibach Männer vor Gericht – Frauen vor Gericht .................................................... 559 Monika Mommertz Geschlecht als Markierung, Ressource und Tracer. Neue Nützlichkeiten einer Kategorie am Beispiel der Wissenschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit ............................................... 573 KONFESSIONELLE GRENZGÄNGER AN EUROPÄISCHEN HÖFEN Matthias Schnettger / Jan Kusber Sichtbare Grenzen? Konfessionelle „Außenseiter“ und Grenzgänger an europäischen Höfen im 17. und 18. Jahrhundert .................................... 595 Matthias Schnettger Ist Wien eine Messe wert? Protestantische Funktionseliten am Kaiserhof im 17. und 18. Jahrhundert ............................................................ 599 Andreas Frings Nichtkatholiken am polnischen Hof der Wettiner ....................................... 635

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Inhalt

Jan Kusber Grenzgänger, „Fremde“, Abenteurer. Nichtorthodoxe am Zarenhof in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.................................................... 651 Hans-Christian Maner Dragoman – Großdragoman – Geheimer Rat – Fürst. Zur Karriereleiter von Christen an der Hohen Pforte (17.-19. Jahrhundert) ................. 665 DIE AUTORINNEN UND AUTOREN................................................................ 681

CHRISTINE ROLL

Grenzen und Grenzüberschreitungen in der Frühen Neuzeit – eine Einführung in die Forschung Eine Frühneuzeitlertagung über Grenzen – warum? Grenzen haben Konjunktur in der Geschichtswissenschaft. Die Studien über Grenzen sind in ihrer Vielzahl, Vielfalt und Komplexität kaum noch zu überblicken.1 Auch – vielleicht sogar: insbesondere – für die Frühe Neuzeit sind mit diesem Forschungsinteresse reiche Erträge verbunden. Das gilt schon für das „klassische“ Verständnis von Grenzen als Grenzen in Raum und Territorium, sogar schon für geographische und politische Grenzen. Schon hier haben die Forschungen der letzten Jahre die Vielfalt der Grenz-Perspektiven erwiesen und zu vielen neuen Einsichten in der Sache wie auch hinsichtlich der methodischen Zugänge geführt. Grenzen gehören längst nicht mehr alleine der politischen Geschichte und der Militärgeschichte, sondern sie sind zu wichtigen Themen auch der Erforschung von Alltag und Lebenswelten geworden. Grenzüberschreitungen, Grenzgänger, Grenzräume, Grenzerfahrungen – alle diese Phänomene rufen großes Interesse hervor und befruchten die Frühneuzeitforschung erheblich; das zeigt der hier vorgelegte Band deutlich. Der Grenzbegriff funktioniert aber auch im übertragenen Sinne, denn er hat aufgrund seiner metaphorischen Dimension auch eine analytische Qualität. An Grenzen lässt sich daher nahezu das gesamte thematische Panorama der Frühneuzeitforschung entfalten, weit über Territorial- und Raumfragen hinaus. Darin liegt, wie die hier versammelten Aufsätze zeigen, enormes Potential für ungewohnte und erhellende Blicke auf die Epoche. Darin liegen aber zugleich erhebliche methodische Probleme – Probleme der Überstrapazierung des Grenzbegriffs nämlich, die es im Auge zu behalten gilt: Wie ist es um die Reichweite und die Tragfähigkeit des Grenzbegriffs bestellt, wenn wir ihn auf menschliche Lebensbereiche anwenden, die nicht räumlich organisiert 1

So oder so ähnlich beginnen fast alle Sammelbände und Einzeluntersuchungen, die in den letzten Jahren auf dem deutschen Büchermarkt erschienen sind. Vgl. etwa François, Etienne/Seifarth, Jörg/Struck, Bernhard (Hrsg.): Die Grenze als Raum, Erfahrung und Konstruktion. Deutschland, Frankreich und Polen vom 17. bis zum 20. Jahrhundert. Frankfurt a.M./New York 2007 mit einem Überblick über Forschungsfragen der letzten Jahrzehnte besonders für die Frühe Neuzeit, und den „Partnerband“: Duhamelle, Christophe/Kossert, Andreas/Struck, Bernhard (Hrsg.): Grenzregionen. Ein europäischer Vergleich vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Frankfurt a.M./New York 2007.

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sind? Unbefangen sprechen wir eben nicht nur von territorialen oder politischen Grenzen im engeren Sinne, sondern auch von konfessionellen, religiösen und sozialen Grenzen, von Grenzen zwischen Sprachen, zwischen den Geschlechtern, zwischen politischen Systemen, Wirtschaftsbeziehungen, Kulturen und Zivilisationen – von Grenzen also, denen prima vista keine räumlichen Repräsentationen entsprechen. Wir sprechen auch, wenngleich mit einer gewissen Distanzierung, von der „Grenze im Kopf“ und meinen damit Schranken in den menschlichen Vorstellungswelten, beschreiben also den Bereich, für den die Geschichtswissenschaft den Begriff der „mental maps“ adaptiert hat. Diese Beispiele zeigen: Unsere Sprache kommt ohne implizite Raumbezüge gar nicht aus. Macht aber der Alltagsgebrauch den Grenzbegriff für unsere Wissenschaft nicht unbrauchbar? Was kann er leisten für die Geschichtsforschung, worin besteht seine analytische Qualität, wenn er in dieser Weise seine Konturen verliert und beliebig zu werden droht? Tun wir nicht gut daran, Grenzforschungen auf Bereiche und Themen zu begrenzen, denen räumliche Dimensionen eignen? Oder genügen kritische methodische Reflexionen, um die Mehrdeutigkeit und Unschärfen unserer Sprache nicht nur auszuhalten, ja sie vielleicht sogar spielerisch zu genießen und damit Frühneuzeitlertagungen und Historikertage möglich zu machen? Zu erörtern sind also in der derzeitigen Grenzkonjunktur mehr denn je auch die Grenzen des Grenzbegriffs. Auch auf diese Fragen geben die folgenden Beiträge eine Reihe von Antworten.

Grenz-Konjunkturen, Räume und die Rezeption des spatial turn in der Geschichtswissenschaft Wie aber ist die schon einige Jahre anhaltende Konjunktur der Grenzen in der Geschichte eigentlich zu erklären? Beruht die „Wiederkehr des Raumes“ in die Historiographie wirklich auf einer lange andauernden „Dominanz des Zeitlichen“?2 Hatte unser Fach vergessen, dass Geschichte nicht nur in der Zeit, sondern auch im Raum spielt? Brauchten wir folglich den spatial turn, um uns dessen bewusst zu werden? Muss dem Fach gar eine „Wende“ im Sinne eines disziplinübergreifenden Paradigmenwechsels verordnet werden? Oder gehört das angebliche Verschwinden des Raumes in den Wissenschaften doch eher zu den Mythen sich als postmodern verstehender Theoretiker? Diese 2

Schlögel, Karl: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. Frankfurt a.M. 2003, S. 9. Diesem Buch und anderen Schriften Schlögels wie nicht zuletzt den fruchtbaren Gesprächen in gemeinsamen Konstanzer Zeiten verdanke ich viele Anregungen.

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Fragen können hier nicht angemessen diskutiert oder gar beantwortet, sollen aber doch aufgeworfen werden;3 denn der vorliegende Band möchte auch einer grundlegenden Debatte im Fach Impulse verleihen. Auszugehen ist eben doch davon, dass auch in der deutschen Geschichtswissenschaft das Bewusstsein von der Räumlichkeit aller Geschichte nie ganz verschwunden ist. Freilich: Geschichtsschreibung folgt gewöhnlich der Zeit, „ihr Grundmuster ist die Chronik“; der Raum als Grundkategorie menschlicher Existenz spielte in den Debatten des Fachs – anders als in der historiographischen Praxis – lange kaum eine Rolle. Vor allem aber haben völkische Diskurse und erst recht nationalsozialistische „Lebensraum“-Propaganda Grenze und Raum diskreditiert und damit jahrzehntelang von der Themenliste deutscher Forscher verbannt. Insofern lohnt es, die Bedingungen, unter denen jene „Wiederkehr des Raumes“4 und des Bewusstseins von der Bedeutung von Grenzen in der Geschichte erfolgte, kurz zu skizzieren. Maßgeblich waren offensichtlich umfassende Veränderungen vieler Lebensverhältnisse in den Jahren um 1990. Die drei Hauptstichworte sind hier der politische Umbruch in Ost- und Ostmitteleuropa, die Globalisierung mit dem zunehmenden Bewusstsein für eine Entterritorialisierung der Lösungsperspektiven für viele Zukunftsprobleme, insbesondere dann nach dem 11. September 2001, und zum dritten die – teilweise mit den weltpolitischen Veränderungen in Wechselwirkung stehende, aber doch auch wissenschaftsimmanente und von theoretischen Überlegungen geleitete – Einsicht in die Unverzichtbarkeit der räumlichen Dimension im Denken und Handeln der Menschen.5 Ganz besonders in Deutschland gehört das neu erwachte Interesse für Grenzen in der Geschichte in den Kontext der Wende von 1989. Eine wesentliche Rolle spielte damals die Frage nach den Grenzen, namentlich den Ostgrenzen eines wiedervereinigten Deutschland, das nach dem Ende des Kalten Krieges der politischen Neuorientierung bedurfte. Der 1990 von Alexander Demandt herausgegebene Band Deutschlands Grenzen in der Geschichte, insbesondere der Beitrag von Klaus Zernack über Deutschlands Ostgrenze,6 3

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Vgl. zum derzeitigen Stand der Forschung den vorzüglichen Band von Döring, Jörg/Thielmann, Tristan (Hrsg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Bielefeld 2008, bes. die Einleitung der Herausgeber. So ist ein Kapitel des eben zitierten Buchs überschrieben; vgl. ebd., S. 11. Im Übrigen macht Schlögel in diesem Buch auch auf Traditionen gerade der deutschen Forschung zu Raum und Grenzen aufmerksam, die unter den Trümmern nationalsozialistischer Raumanmaßungen verschüttet waren und erst allmählich, nun über die Wissenschaftsgeschichte, wieder entdeckt werden; dazu zählt etwa Alexander von Humboldt. Vgl. zu dieser Konstellation ebd., S. 12 und das Kapitel „Lehrstück I: Fall der Berliner Mauer 1989“ ebd., S. 25-29 sowie die Einleitungen in die oben (wie Anm. 1) genannten Werke. Vgl. Demandt, Alexander (Hrsg.): Deutschlands Grenzen in der Geschichte. München 1990; Zernack, Klaus: Deutschlands Ostgrenze. Ebd., S. 135-159. Die Beiträge waren aus

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wurde damals, als die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze noch in der Diskussion stand, geradezu zum Plädoyer für diese Anerkennung. Man lese Vorwort und Einleitung heute neu – und spüre das Tastende dieser Aufsätze, vielleicht sogar die Berührungsängste bei der Behandlung eines Themas, das eben fast ein halbes Jahrhundert ein Un-Thema war. Zu dieser deutschen Suche nach historischer Neuorientierung des territorialen Selbstverständnisses kam das allgemeine Bedürfnis, dem lange ignorierten Raum östlich des „Eisernen Vorhangs“, in dem sich nach dem Zerfall der Sowjetunion die Grenzen radikal verschoben hatten und neue Staaten und Räume im Entstehen begriffen waren, eine Struktur zu geben. Die Mittelund Ostmitteleuropadiskussion der 1920er Jahre lebte wieder auf und wurde ihrerseits historisch aufgearbeitet. Das geschah aber bereits unter neuen Aspekten, angeregt von methodischen Zugängen der angloamerikanischen cultural studies: Jetzt spielten Fragen der Wahrnehmung und der Konstruktion von Grenzen und Räumen eine Rolle, Grenz- und Raumdiskurse flossen ebenso ein wie Raumimaginationen, mental oder cognitive maps.7 Ähnlich wie sich für den Osten politische Umbrüche und Forschungsinnovationen fruchtbar verbanden, geschah es auch im Westen: Zum Teil mit diesen politischen Umbrüchen zusammenhängend, aber auch eigenen Traditionen folgend, nahmen sich vor allem im angelsächsischen Bereich die bereits etablierten border studies, die Empire-Forschung und die Dekolonisierungsforschung der Grenze mit neuen Fragen an. Hier hat sich die Geschichtswissenschaft fruchtbar mit der Anthropologie, der Rechtswissenschaft, der Soziologie und vor allem: der Geographie verbunden, eine „Globalisierungs-

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einer Tagung über die „Mittellage“ Deutschlands hervorgegangen, die vor der Wende konzipiert und abgehalten worden war. Durch den Umschwung der politischen Großwetterlage erfreute sich der Band schnell großer Resonanz und erlebte 1991 sofort eine Zweitauflage. Man werfe auch einen Blick auf die Referenzen in den Anmerkungen, um sich den damaligen Forschungsstand zu vergegenwärtigen – und wird die Forschungsleistungen der letzten 20 Jahre würdigen. Vgl. dazu etwa Wolf, Larry: Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization on the Mind of the Enlightenment. Stanford 1994. Zur Forschungssituation Anfang der 1990er Jahre auch François/Seifarth/Struck 2007 (wie Anm. 1), S. 9 mit weiterer Literatur. Zu mental maps am besten Langenohl, Andreas: „Mental maps“. Raum und Erinnerung. Zur kultursoziologischen Erschließung eines transdisziplinären Konzepts. In: Damir-Geilsdorf, Sabine/Hartmann, Angelika/Hendrich, Béatrice (Hrsg.): Mental Maps – Raum – Erinnerung. Kulturwissenschaftliche Zugänge zum Verhältnis von Raum und Erinnerung. Münster 2005 (= Kulturwissenschaft. Forschung und Wissenschaft 1), S. 51-69. Überhaupt fällt auf, dass bis heute viele fruchtbare Anregungen in der Grenzthematik aus Forschungen über Mittel-, Ostmittel- und Osteuropa kommen, Forschungen, denen man eine breitere Rezeption in der Öffentlichkeit wünscht, denn die in den Medien grassierende unreflektierte Rede über die neueren EU-Mitglieder Ungarn, Polen, Tschechien und die Slowakei als „Osteuropa“ ist irrig und wegen seiner – aller Wahrscheinlichkeit nach aus Unkenntnis gespeisten – politischen Folgen unerträglich.

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geschichte“ konstituiert und aus der Sicht der Alltagsgeschichte wie der Mikrogeschichte die Grenze neu in den Fokus genommen.8 Kulturelle Grenzgänger an der kolonialen Grenze kamen in den Blick, auch konkurrierende Wahrnehmungen von Grenzen sowie die Bedeutung von Symbolen, Praktiken und Diskursen für die Konstruktion von Grenzen. Ebenfalls um diese Zeit, zu Beginn der 1990er Jahre, wurde auch der spatial turn erfunden, der die Diskussion insofern befruchtete, als nun die Verräumlichung als Methode postuliert wurde. Der Anspruch resultierte aus strittigen Debatten in der amerikanischen Humangeographie dieser Jahre über die Ausrichtung des Fachs, zunächst noch ohne klare systematische Konzepte, bald aber doch mit einem weit reichenden Geltungsanspruch.9 Der amerikanische Kulturtheoretiker Fredric Jameson rief dazu auf: „Always spatialise!“10 Von daher leiten sich theoretische Konzepte ab, den Raum zu einer zentralen Wahrnehmungseinheit zu machen, die Verflechtung von Raum und Macht als wichtige Untersuchungsachse zu begreifen, mithin Raum nicht als „Container“ zu verstehen, sondern als gesellschaftlichen Prozess der Wahrnehmung, der Nutzung und der Aneignung. In der kritischen Auseinandersetzung mit solchen Konzepten werden Chancen wie auch Probleme des spatial turn für die Geschichtswissenschaft schnell deutlich: Da ist zunächst die Anregung, Räume und Grenzen überhaupt wieder näher zu untersuchen, den Raum und die Grenze sozusagen ernst zu nehmen, ferner Disziplinen wie die Geographie, besonders die Kulturgeographie, vor allem aber auch die Kartographie (wieder) enger einzubeziehen. Auch ist es gewiss ein Ergebnis der Postulate des spatial turn, dass seither kritischer reflektiert wird, ob vom Raum – und damit auch von der Grenze – als Diskursproblem oder als sozialer Konstruktion oder gar als essentialistischem Phänomen die Rede ist, um hier nur einige wenige Anregungen aufzugreifen.11 Das mag aus dem Blickwinkel der reinen Lehre zu wenig sein – Bachmann-Medick spricht denn für die Rezeption des spatial turn durch die Geschichtswissenschaft auch von einer bloß „gegenstandsorientierten Hinwendung zu ‚Raum‘ als Thema“ und kritisiert, dass dieser Themenfokus allein solche Ansätze für den spatial turn nur eingeschränkt tauglich mache.12 Doch geht es der Geschichtswissenschaft um Impulse für die eigenen Fragestellungen und nicht um die Komplettierung einer Theorie. Und der Impulse sind 8 9 10 11

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Vgl. François/Seifarth/Struck 2007 (wie Anm. 1), S. 8 mit weiterer Literatur Vgl. zu dieser Phase den Bericht bei Döring/Thielmann 2008 (wie Anm. 3); S. 7-19. Zum spatial turn vgl. Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek 2006, S. 284-328, Zitat S. 284. Der Gefahr des „Rückfalls in eine vordiskursive Raummaterialität in den deutschsprachigen Versionen des spatial turn“ (ebd., S. 313) kann die Geschichtswissenschaft nach meiner Einschätzung denn auch mutig ins Auge blicken. Bachmann-Medick 2006 (wie Anm. 10), S. 313.

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viele – für die Produktivität der Auseinandersetzung mit den Postulaten des spatial turn für die Frühneuzeitforschung steht ja nicht zuletzt der vorliegende Band. Schließlich wird man auch den Boom der historischen Kartographie – seit einigen Jahren erscheinen geradezu im Monatsrhythmus neue prachtvolle Kartenwerke und Kartographiegeschichten – dem Wirken nicht nur des spatial, sondern zugleich auch des topographical wie des iconic turn zuschlagen dürfen.13 Insgesamt gesehen, wird man aus der Sicht der Geschichtswissenschaft freilich gut daran tun, den Geltungsanspruch des spatial wie überhaupt der kulturwissenschaftlichen turns nicht zu ernst zu nehmen; auch drängt sich der Eindruck auf, dass die zahlreichen Handbücher, die als Orientierung im Dschungel der turns seit einigen Jahren vermehrt auf den Büchermarkt drängen, die Sache vielfach ernster nehmen als die Protagonisten selbst. Und die deutsche Forschung brauchte, wie es scheint, den spatial turn vor allem dazu, um durch den Re-Import des Raumes über die amerikanischen Kulturwissenschaften wieder auf der Ebene des gesamten Fachs über Raum und Grenze reden zu können – und kann nun daran gehen, sich eigener Traditionen und Fragestellungen wieder bewusst zu werden. Das geschieht denn auch – der Hinweis auf die Stichworte „Geschichtsraum“, „Raumbilder“ und „Gedächtnisorte“ mag hier genügen. Die Geschichtswissenschaft braucht denn auch nicht, und das dürfte die Position der Autorinnen und Autoren aller hier versammelten Aufsätze sein, als ganze einen turn zu vollziehen, um aus den theoretischen Reflexionen über Räume und Raumperspektiven Einsichten und Inspirationen für ihre spezifischen Fragen zu gewinnen. Ausdruck dieses Interesses für die Raumperspektiven in der deutschen Geschichtswissenschaft insgesamt war das Motto des Historikertages 2004 in Kiel „Kommunikation und Raum“, der das Thema erstmals tief und mit nachhaltiger Wirkung in die fachliche Debatte getragen hat. Die frühneuzeitliche Landesgeschichte, die Geschichte der Konfessionen wie die der internationalen Beziehungen, die Kolonialgeschichte, die transnationale Geschichte, die Geschlechtergeschichte und die Wissenschaftsgeschichte sehen heute doch sehr anders aus als vor 20 Jahren. Die relativ junge Disziplin Umweltgeschichte ist ohne ihre räumliche Dimension wahrscheinlich gar nicht denkbar. Nicht zuletzt schlägt das Interesse für Raum und Grenzen auch auf die akademische Lehre durch: Während im Konstanz der 1980er Jahre ein Seminar über „Grenzen und Grenzregionen des Alten Reichs“ aus Mangel an Stu13

Eine kritische Skizze der Forschungssituation bei Roll, Christine: Russland, Sibirien und der „Ferne Osten“ in der russischen Kartographie der Frühen Neuzeit und der Beitrag deutscher Wissenschaftler. In: Duchhardt, Heinz: Russland, der Ferne Osten und die „Deutschen“. Göttingen 2009 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Beiheft 80), S. 5-29, hier S. 5f., Anm. 1.

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dierenden nicht stattfinden konnte, erfreuen sich zwanzig Jahre später Seminare über „Grenzen und Grenzregionen in Europa“ sowie über „Kartographie und Weltbilder“ großer Resonanz bei den Studierenden – die sich dann sogar wundern, dass die Literaturlisten zum Thema so lang sind. Der Bogen reicht ja inzwischen auch von reflektierenden Standortbestimmungen mit weitergehenden anregenden Fragestellungen in Sammelbänden bis hin zu umfassenden Spezialschriften wie die opulente Wiener Studie über Grenze, Passwesen und Fremdengesetzgebung in der österreichischen Monarchie,14 und es zeigt sich, dass sich in länderübergreifender Kooperation auch in Deutschland geradezu eine moderne historische Grenzforschung zu etablieren beginnt.

Perspektiven und Potentiale Was also lernen wir über die Frühe Neuzeit, wenn wir uns mit ihr unter dem Blickwinkel „Grenzen und Grenzüberschreitungen“ befassen? Hinsichtlich des Umgangs mit den verschiedenen Arten von Grenzen, so meine These bei der Konzeption der Tagung, dürfte die Frühe Neuzeit als die Epoche der dynamischsten Grenzverhältnisse zu gelten haben, jedenfalls soweit von Europa die Rede ist. Mithin dürften in einer Debatte über die Frühe Neuzeit unter dem Aspekt der Grenzen und des Überschreitens dieser Grenzen einige bislang unbeachtet gebliebene, spezifisch frühneuzeitliche Bedingungen historischen Wandels sichtbar werden. Mit dieser Frage schließt die 8. Arbeitstagung an frühere Arbeitstagungen an, wurde unsere Arbeitsgemeinschaft doch nicht zuletzt mit dem Ziel ins Leben gerufen, mehr über die Spezifik der Epoche zu erfahren und Kategorien zu entwickeln, die besonders geeignet sind, ihr Profil sichtbar zu machen. Die Konzeption der Tagung war freilich auch eine Gratwanderung, galt es doch, die Metaphorik des Grenzbegriffs nicht überzustrapazieren, zugleich aber die Kreativität der Kolleginnen und Kollegen nicht einzuschränken, denn durchgeführt werden sollte nicht eine Spezialtagung zum Thema Grenzen. Der Band beginnt mit drei Aufsätzen, die das Thema Grenzen und Räume von drei Seiten her in grundsätzlicher Weise fokussieren. Cornel Zwierlein erörtert unter dem Titel „Natur/Kultur-Grenzen und die Frühe Neuzeit“ die Transcodierung von Natur, Klimatheorie und biokulturelle Grenzen und gelangt dabei zu erstaunlichen Einsichten über die Bedeutung frühneuzeitlicher Natur/Kultur-Grenzen für die moderne Frühneuzeit-Historiographie; ganz 14

Vgl. Heindl, Waltraud/Saurer, Edith (Hrsg.): Grenze und Staat. Paßwesen, Staatsbürgerschaft, Heimatrecht und Fremdengesetzgebung in der österreichischen Monarchie 17501867. Wien/Köln/Weimar 2000.

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nebenher leistet er noch einen wichtigen Beitrag zur Konzeptionalisierung einer Umweltgeschichte der Vormoderne. Es folgt der Aufsatz des Aachener Zeithistorikers und Soziologen Thomas Müller über das völkische „Grenzraum“-Konzept und seine Bedeutung für die Entgrenzung politischer Gewalt im Deutschen Reich. Unter dem Titel „Entgrenzte Nation und suspendierte Normalität“ werden die hochproblematischen Traditionen der deutschen Raumforschung deutlich, die zuletzt wieder ein wenig in Vergessenheit zu geraten scheinen; ein solcher Beitrag erschien auch im Rahmen einer Frühneuzeitpublikation unverzichtbar, eben um das Bewusstsein dafür wach zu halten, welcher ideologischen Belastung Grenzen und Räume als Kategorien der deutschen Wissenschaft unterlagen und welche verschlungenen Rezeptionswege die moderne deutsche Grenzforschung nehmen musste. Der dritte flankierende Beitrag wird geliefert von Andreas Kunz, der Methoden der modernen Kartographie und den Kartenserver des Instituts für Europäische Geschichte Mainz vorstellt. Dabei erörtert er Probleme, über die sich eifrige Kartenbenutzer besonders in der Lehre immer wieder ärgern: Kunz greift nämlich „Probleme der Kartierung politischer und konfessioneller Grenzen in der Frühen Neuzeit“ auf und löst sie zumindest teilweise. Im Anschluss erschallt unter dem Titel „Natur Ein-grenzen! Ein umwelthistorischer Zwischenruf“ von Achim Landwehr, der dazu auffordert, in die Debatte über die räumliche Dimension von Grenzziehung, Grenzüberschreitung und Konstruktion von Grenzräumen auch umwelthistorische Impulse aufzunehmen. Erörtert werden an Beispielen aus Oberitalien und dem Donauraum Grenzkonflikte, die die Bedeutung politischer Entscheidungsprozesse für die zeitgenössische Wahrnehmung von Umweltbedingungen zeigen; wissenschaftsgeschichtlich interessante Befunde über Wissen und Autorität spielen dabei eine wichtige Rolle: Werden Grenzen „gefunden“ oder werden sie „festgelegt“? Der nächste Abschnitt diskutiert ein, wie mir scheint, genuin frühneuzeitliches Thema, nämlich den Umgang mit konfessionellen Grenzen. Unter der Leitung von Bettina Braun und Johannes Wischmeyer geht es um das Überschreiten konfessioneller und territorialer Grenzen, mit dem Ziel, das Entstehen, vor allem aber das Aushandeln konfessioneller Grenzen zu problematisieren, und zwar an so unterschiedlichen Beispielen wie gemischtkonfessionellen Domkapiteln, zwischen verschiedenen Herren umstrittenen Pfarreien und französischen wie kaiserlichen, also katholischen Gesandten im lutherischen Dresden das 17. und 18. Jahrhunderts. Hier zeigen sich unbestreitbar Vorteile der Doppeldeutigkeit des Grenzbegriffs als Grenze im Raum und als Metapher. Der folgende Themenblock, erarbeitet von Frank Pohle und Andreas Rutz, thematisiert schlicht „Grenzüberschreitungen im regionalen Rahmen“, und zwar werden hier am Beispiel des deutsch-niederländisch-französischen

Grenzen und Grenzüberschreitungen

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Grenzraums grenzüberschreitende Berufsgruppen, Stände und Juden in den Blick genommen. Das Erkenntnisinteresse richtet sich dabei im Wesentlichen auf die Beschaffenheit frühneuzeitlicher Territorialgrenzen selbst – ein in der aktuellen Diskussion eigenartig in den Hintergrund getretener Aspekt der Grenzthematik –, auf ihre Durchlässigkeit für Mobilität und Migration, ihre symbolische Markierung und ihre Bedeutung für den Lebensvollzug der Menschen, auch und gerade in Konkurrenz zu anderen und andersartigen Grenzziehungen. Ganz andere Grenzen nimmt ein Themenkomplex unter der Leitung von Christoph Kampmann in den Blick: die Grenze zwischen Leben und Tod. Unter dem Titel „Der Tod des Herrschers als Grenze und Übergang“ geht es – die Grenze nun rein metaphorisch verstanden – um „die normative Funktion der Herrschermemoria in der Frühen Neuzeit“. Am Beispiel des englischen Dynastiewechsels von 1603, dem Funeralschrifttum anlässlich der Beisetzung Kaiser Leopolds I., dem medialen Umgang mit dem Tod Wilhelms III. von England und dem Gebrauch der Effigies in der Erinnerung an Marat im postrevolutionären Frankreich gehen die Autorinnen und Autoren der Frage nach, welche Bedeutung der Herrschermemoria bei der Bewältigung des Herrschertodes, verstanden eben als Grenze und Übergang, zukam. Auch Ralf Pröve widmet sich mit seinen Kolleginnen aus Hamburg und Potsdam eher zeitlichen Grenzen: Am Beispiel der „Lebenswelt ‚Militär‘“ werden biographische Grenzpassagen diskutiert: Initiationsrituale, Inklusionen und Exklusionen, schließlich Abschied und Tod. Wiederum räumliche Grenzen liegen der Konzeption des folgenden Abschnitts zugrunde, in dem Inken Schmidt-Voges und Siegrid Westphal Befunde zu „Grenzen der Nachbarschaft“ in der frühneuzeitlichen Gesellschaft zur Diskussion stellen. Dabei machen Sie auf den – nur prima vista trivialen – Sachverhalt aufmerksam, dass Grenze und Nachbarschaft eng zusammen gehören. Die Referentinnen und Referenten warten mit erstaunlichen, überwiegend auf Archivstudien beruhenden Befunden aus verschiedenen Städten auf und zeigen frühneuzeitliche Nachbarschaftsverhältnisse in bemerkenswerten, teilweise sehr aktuell wirkenden Zusammenhängen, von Patenschaften über Hausfriedensprobleme bis hin zu Eigentumsfragen. Im Anschluss geht es unter der Leitung von Renate Dürr in einem großen vergleichenden Zugriff um „Grenzen kolonialer Herrschaft“. Hier wird der Grenzbegriff sowohl räumlich und konkret als auch metaphorisch verstanden. Thematisch konzentrieren sich die Beiträge auf Versuche der Festlegung geographischer Grenzen und Grenzüberschreitungen im Kontext von Mission. Der vorletzte Themenblock thematisiert „Geschlechtergrenzen und ihre Infragestellung“. Dass im Ergebnis Differenzierungen bisheriger Auffassungen stehen, kann nicht verwundern, wenn man auf die Namen der Autorinnen und des Autors blickt: Ganz unterschiedliche Handlungsbereiche und

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Themenfelder erörternd, nämlich den ländlichen Raum, das adlig-gelehrte Milieu, den städtischen Raum (und hier vor allem das Gericht) und schließlich die Universität, belegen sie nach der Einleitung von Claudia Opitz-Belakhal eindrucksvoll die Bedeutung der Kategorie Geschlecht für unser Fach; von „Geschlechtergrenzen“ sollte man, so hat man die Beiträge wohl zu verstehen, eigentlich gar nicht mehr sprechen. Der Band schließt mit einem Themenkomplex „Konfessionelle Grenzgänger an europäischen Höfen“, der den frühneuzeitlichen Hof und die Konfessionsunterschiede zu einer Fragestellung verbindet. Jan Kusber und Matthias Schnettger haben sich mit zwei weiteren Mainzern zusammengetan und erörtern Handlungsspielräume konfessioneller Außenseiter als konfessionelle Grenzgänger, und zwar am Beispiel der protestantischen Wiener Reichshofräte, der Nichtkatholiken am polnischen Hof der Wettiner, des Zarenhofs und schließlich der Hohen Pforte. Karrierechancen solcher Grenzgänger, aber auch Grenzen für ganz große Karrieren werden hier deutlich. Überblickt man die Beiträge, so bestätigt sich die Annahme von außerordentlich dynamischen Grenzverhältnissen in unserer Epoche. Das gilt für Kultur-/Natur-Grenzen, für konfessionelle Grenzen, für Grenzen zwischen Territorien und Nachbarschaften und die Grenzen kolonialer Herrschaft; das gilt aber auch für Grenzen im metaphorischen Sinne: für rites de passage, für Grenzen zwischen den Geschlechtern und für Grenzen zwischen Angehörigen unterschiedlicher Konfession an europäischen Höfen. Angesichts der Vielfalt, ja: des Reichtums der Befunde und Ergebnisse sollte denn auch die Metaphorik des Grenzbegriffs für eine Verbandstagung nicht perhorresziert werden, das Problem aber gilt es weiterhin mit Skepsis im Blick zu behalten. Einer ausführlicheren Diskussion als sie in Aachen möglich war bedürfte nun freilich die – mit der Metaphorik des Grenzbegriffs ja durchaus zusammenhängende – Frage nach den Erträgen und der Reichweite des spatial turn. Möglicherweise vermag der Historikertag in Berlin, der ja unter dem Motto „Über Grenzen“ steht, hierzu weitere Einsichten zu liefern. Dieser Band versteht sich jedenfalls auch als Plädoyer, nicht jeden „turn“ wie eine kurzlebige Mode schnell für überlebt zu erklären und sich einem neuen „turn“ anzuschließen, ohne vorher seine Reichweite ausgelotet zu haben; er versteht sich denn auch als Beitrag zu dieser Diskussion.

CORNEL ZWIERLEIN

Natur/Kultur-Grenzen und die Frühe Neuzeit Transcodierung von Natur, Klimatheorie und biokulturelle Grenzen *

Einleitung Neben religiösen, konfessionellen, politischen, ständischen und GeschlechterGrenzen 1 hat sich die Frühneuzeitforschung in der jüngsten Zeit immer stärker auch für Grenzüberschreitungen bei der Naturerforschung, für Natur/KulturGrenzüberschreitungen und verwandte Themen interessiert. 2 Es geht dabei nicht um die berühmte Lehre von den „natürlichen Grenzen“, die den politi* 1

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Für Hinweise und Kritik danke ich den Herausgebern und Christine Isabel Schröder. Vgl. nur – ganz und gar selektiv – für eine kleine Auswahl zur Geschichte konfessioneller, religiöser und politischer Grenzen in der Frühen Neuzeit François, Etienne: Die unsichtbare Grenze. Protestanten und Katholiken in Augsburg. Sigmaringen 1991; Schmale, Wolfgang/ Stauber, Reinhard (Hrsg.): Menschen und Grenzen in der Frühen Neuzeit. Berlin 1998 (mit einer Auswahlbibliographie von Elke Seifarth S. 307-344); Ossola, Claudio/Raffestin, Claude/Ricciardi, Mario (Hrsg.): La frontiera da Stato a Nazione. Il caso Piemonte. Rom 1987; Sahlins, Peter: Boundaries. The making of France and Spain in the Pyrenees. Berkeley 1989; Scattola, Merio: Die Grenze der Neuzeit. Ihr Begriff in der juristischen und politischen Literatur der Antike und Frühmoderne. In: Bauer, Matthias/Rahn, Thomas (Hrsg.): Die Grenze. Begriff und Inszenierung. Berlin 1997, S. 37-69; Pohlig, Matthias/Lotz-Heumann, Ute/Mißfelder, Frieder (Hrsg.): Konversion und Konfession in der Frühen Neuzeit. Gütersloh 2006; Schubert, Anselm/Schlachta, Astrid von/Driedger, Michael (Hrsg.): Grenzen des Täufertums. Boundaries of Anabaptism. Neue Forschungen. Gütersloh 2009 (dort allerdings der Grenz-Begriff wenig systematisch ausgebaut). Die Ständegrenze stand in der jüngeren Zeit weniger im Vordergrund, vgl. daher die ältere Publikation von Schulze, Winfried (Hrsg.): Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität. München 1988; als geschlechterhistorische Publikation vgl. Nolde, Dorothea (Hrsg.): Grenzüberschreitende Familienbeziehungen. Akteure und Medien des Kulturtransfers in der Frühen Neuzeit. Köln 2008. Vgl. zuletzt etwa Kreye, Lars/Stühring, Carsten/Zwingelberg, Tanja (Hrsg.): Natur als Grenzerfahrung. Europäische Perspektiven der Mensch-Natur-Beziehung in Mittelalter und Neuzeit. Ressourcennutzung, Entdeckungen, Naturkatastrophen. Göttingen 2009; hingegen kamen Natur/Kultur-Grenzen in der bisherigen frühneuzeitlichen Grenzforschung kaum vor, wie die Bibliographie von Seifarth 1998 (wie Anm. 1) zeigt; nicht weiter helfen die „Natur“ lediglich als etwas jenseits des Geschichtlichen hinterfragenden Erörterungen bei Fellmann, Ferdinand: Natur als Grenzbegriff der Geschichte. In: Schwemmer, Oswald (Hrsg.): Über Natur. Philosophische Beiträge zum Naturverständnis. 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1991, S. 7589.

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schen Grenzen zuzuordnen ist. Die mit den Natur/Kultur-Grenzüberschreitungen verbundenen Fragen sind auf zwei Ebenen angesiedelt, einerseits auf der Ebene der frühneuzeitlichen Objektwelt und andererseits auf der Ebene der Heuristiken unserer Forschung. Letzteres scheint zunächst ferner zu liegen, aber es ist auch ein Anliegen des Beitrags zu zeigen, wie vielleicht sogar frühneuzeitliche Natur/Kultur-Grenzmodellierungen in modernen geschichtswissenschaftlichen Heuristiken nachwirken. Im Folgenden soll dieser Themenbereich für drei miteinander verbundene Bereiche und mit drei Fragen abgeschritten werden: 1. (Objektwelt): Wie kann man den Systematisierungs- und Erschließungsvorgang von „Natur“ im Zuge der naturhistorischen Expeditionsfahrten des 18. Jahrhunderts auch als einen ständigen Transcodierungsprozess über kognitive und biokulturelle Grenzen hinweg verstehen? 2. (Objektwelt) a): Wie wurden Natur/Kultur-Grenzen von frühneuzeitlichen Zeitgenossen in der Klimatheorie konzipiert und b) (Heuristik) wie unterscheiden sich hiervon biokulturelle Grenzen, die heute in der Historiographie zum Interpretationsrahmen gehören? 3. (Heuristik): Welche Rolle spielte die Verschiebung von „biokulturellen Grenzen“ in der Historiographie, etwa bei Turners Frontier-These, und wirken hier frühneuzeitliche Determinismen nach? Die Erörterung beginnt zunächst induktiv und stärker beispielbezogen, um dann etwas stärker generalisierend zu verfahren. Auf diese Weise schreitet der Beitrag zunehmend von der Objektwelt frühneuzeitlicher biokultureller Grenzüberschreitungen zu historiographischen Grenz-Heuristiken im Vergleich zwischen frühneuzeitlichen und modernen Determinismen fort und behandelt so auch die Frage nach der Unterscheidung von Epochengrenzen mit; danach, welche Natur/Kultur-Grenzziehungen spezifisch frühneuzeitlich und welche spezifisch modern sind.

Transcodierung von Natur bei grenzüberschreitenden Expeditionsfahrten Nach Vorläufern im 16. und 17. Jahrhundert ist vor allem das 18. Jahrhundert die Epoche, in der zunehmend von Europa aus spezifische zu Zwecken der Wissenschaft organisierte Expeditionen in andere Kontinente unternommen wurden zur Entdeckung und Erfassung von Flora und Fauna: Natur wird hier durch Klassifikationsarbeit in ein Kulturgut transformiert und transcodiert; Mary Louise Pratt sprach hier von einer „‚conversion‘ of raw nature into the systema naturae“ als einem elementaren zweiten, epistemischen Prozess, der mit

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der politisch-imperialen Erschließung der Welt einherging. 3 Londa Schiebinger hat dies als „linguistischen Imperialismus“ erfasst, der insbesondere vom unifizierenden Linné’schen System ausgegangen sei. 4 Beide Ansätze machen jedenfalls deutlich, dass hier die Natur/Kultur-Grenze modelliert wird und dabei insbesondere kognitive Grenzen überschritten werden. Der säkulare Streit zwischen der mehr entwicklungstheoretisch ausgerichteten Naturgeschichte Buffons und der taxonomisch-statischen, aber ungemein universell operationalisierbaren Naturgeschichte Linnés beförderte eher den missionarischen Impetus insbesondere der Jünger Linnés, in die Welt auszuschweifen, um die fremden Arten zu finden, zu beschreiben und wie neue Adame zu benennen. 5 Wenn sie dabei ein Reisetagebuch führten, so können wir Einsicht erhalten in den Wahrnehmungsmodus, mit dem sie hier operierten: Zumeist mischen sich dann die Wahrnehmungen der fremden Kultur und der fremden Natur, so dass beides zwar auf einer Reise erfahren, aber doch getrennt verbucht wird. Die „vielleicht wichtigste Darstellung des Maghreb in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts“, 6 wie Detlef Döring es einordnete, das Tagebuch des sächsischen Botanikers und Medizinprofessors Christian Gottlieb Ludwig, das er auf einer relativ großen von König August dem Starken finanzierten Expedition 1731-1733 führte und bis heute unediert blieb, kann hier als Beispiel dienen: 7 Ludwig war niederer Herkunft, war Botaniker und Mediziner und wurde 1740 außerordentlicher, 1747 ordentlicher Professor an der Leipziger Medizinfakultät. Er war durchaus eine Figur von nationalem und europäischem Rang, war ein geschätzter Korrespondent Carl von Linnés, auch von Gottsched und Gellert. Ludwig fertigte im Rahmen seiner Reisebeschreibung ein Bild der gegenwärtigen Situation von Herrschaft und Gesellschaft in Tunis, Algier und der nordafrikanischen Küste, von den archäologischen Monumenten der Karthago-Gegend an und betrieb auch naturhistorische Erkundungen besonderer Tiere und Pflanzen. Der Unterschied zwischen dieser „Kultur-Beschreibung“ und der „Natur-Beschrei3 4 5

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Vgl. Pratt, Mary Louise: Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation. London/New York 1992, S. 33. Vgl. Schiebinger, Londa: Plants and Empire. Colonial Bioprospecting in the Atlantic World. Cambridge, Mass./London 2004, S. 194-225. Zur zeitgenössischen Analogiebildung zwischen dem naturhistorischen Klassifizierungsimpetus und Adam, der den Dingen Namen gibt, vgl. Drouin, Jean-Marc: Linné et la dénomination des vivants. Portrait du naturaliste en législateur. In: Barsanti, Giulio/Corsi, Pietro/ Drouin, Jean-Marc u.a.: Les fondements de la botanique. Linné et la classification des plantes. Paris 2005, S. 37-56. Döring, Detlef: Die sächsische Afrikaexpedition von 1731 bis 1733. In: Pretsch, Peter/Steck, Volker (Hrsg.): Eine Afrikareise im Auftrag des Stadtgründers. Das Tagebuch des Karlsruher Hofgärtners Christian Thran 1731-1733. Karlsruhe 2008, S. 43-56, hier S. 52. Universitätsbibliothek Leipzig, Ms. 0662: „Observationes Miscellaneae. Durante Itinere Africano Scriptae“. Ich danke meinem Doktoranden Magnus Ressel dafür, mich auf diese Quelle aufmerksam gemacht zu haben.

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bung“ wird schon daran ersichtlich, dass Ludwig immer die Sprache wechselt: Dort wo er nordafrikanische Pflanzen und Tiere beschreibt, wechselt er von einem Moment zum anderen in die Gelehrtensprache Latein, dort wo er Sitten und Orte beschreibt, schreibt er auf Deutsch. 8 Die in seinem Denkrahmen vorgegebene Natur/Kultur-Grenze materialisiert sich hier also stets ganz konkret greifbar, sie wird ständig als Wahrnehmungsschema mitgeführt. Entscheidend ist aber natürlich eher die Überschreitung der Grenze zwischen Europa und außereuropäischen Gefilden: Als Zweck der Expeditionsreise war formuliert worden, „alles Merckwürdige der Natur und Kunst, in dem nach seinen Seltenheiten noch nicht gnugsam beschriebenen Africa untersuchen zu lassen. Und gehet derselben Haupt-Absicht dahin, die möglichsten Arten derer Thiere lebendig oder in Häuten und Esqueletten, der auch gemahlet zu überkommen, wie auch in allen Reichen der Natur Untersuchungen anzustellen.“ 9 Ludwigs Beobachtungen haben dort einen Platz in der traditionellen Wissenschaftsgeschichte der Biologie, wo er in diesen Jahren noch vor der Erstveröffentlichung von Linnés Systema naturae die bis dahin nur bei Sébastien Vaillant vorbereitete Theorie der Sexualität und Prokreationsweise der Pflanzen, 10 insbesondere beim Studium der Palmen, erörtert. 11 Hieraus folgte auch als ein Frühwerk Ludwigs, die Abhandlung De sexu plantarum. 12 Im Folgenden geht es aber weniger um die Frage, welche Stellung Ludwig hier in der Geschichte der Ausbildung des Linné’schen Klassifikationssystems zukommt, sondern wie, unabhängig vom konkret angewandten System, die Transcodierungsarbeit erfolgt, wie hier auch verschiedene Stufen und Schichten von Informationssammlung, Codierung und auch „Vergessen“ bei der Grenzüberschreitung stattfanden. 13 Londa Schiebinger hat, am speziellen Fall des Nicht-Transfers 8 9 10 11

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Vgl. Pratt 1992 (wie Anm. 3), S. 25 zur bewussten Wiederverstärkung von Latein als Wissenschaftssprache durch Linné. Vermerk im Hofkalender, zit. nach Döring 2008 (wie Anm. 6), S. 47. Vgl. Vaillant, Sébastien: Sermo de structura florum, horum differentia, usuque partium eos constituentium. Leiden 1718. Vgl. Universitätsbibliothek Leipzig, Ms. 0662, fol. 211-217; interessant ist dabei, dass gerade die Sexualität der Pflanzen als local knowledge abgegriffen wird: „Foemina (uti Mauri dicant) flore masculi non impraegnata fructus fert, satis magnos, lutei cotoris sed saepissime aryllo carentes, saporis itidem maxime acerbi Mauri quandoque comedunt. Foemina flore masculi impraegnata fructus fert pro circumstantia soli, climatis, aquarum majus aut minus nobilis.“ Vgl. Ludwig, Christian Gottlieb: De sexu plantarum. resp. Christoph Friedrich Haase. Leipzig 1737; Ludwig rezipierte hier auch die jüngsten Publikationen Linnés (Genera plantarum, Mai 1737) sofort; für die Analogie zwischen der Sexualität der Tiere und der Pflanzen waren für Ludwig gerade auch die Meeresquallen wichtig, die er ebenfalls auf der Afrikareise intensiv studiert hatte (vgl. ebd., S. 8). Es bedarf noch der Ausarbeitung einer interdisziplinären Theorie der Transcodierung. Linguistische und postmoderne texttheoretische Ansätze sind hier noch beschränkt. Einstweilen mag die etwas abgewandelte Definition hinreichen, dass Transcodierung einen komplexen Prozess der Transformation, Ersetzung, Versetzung und Transposition von einem Code in

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von indigenem Wissen über die abtreibungsfördernde Wirkung einer tropischen Pflanze, des Pfauenstrauchs (Poinciana pulcherrima), die Fragestellung der „Agnotologie“ entwickelt: 14 Ihr geht es dabei um die Frage, nicht wie Wissen transferiert wird, sondern wie immer wieder Wissen nicht transferiert wird. Aufgrund des auch geschlechtergeschichtlich besonders brisanten Beispiels kommen im Zuge einer solchen Agnotologie Fragen nach der beabsichtigten Transfer-Unterbindung, des unbeabsichtigten Latent-Haltens und habitueller Unterbrechungen des Informationsflusses angesichts eines moralisch besonders problematischen Wirkmittels in den Blick. An sich ist die Frage nach „Verlust“ und verschiedenen Stufen und Schichten von Information im Überschreiten von Kulturgrenzen bzw. beim Transcodierungsprozess über solche Grenzen hinweg aber ein viel generelleres Phänomen, das nicht nur funktional moralischen Selektionsmechanismen folgte. Betrachten wir das Beispiel des HennaStrauches, der die besondere Aufmerksamkeit Ludwigs erfuhr: Er schrieb in sein Reisetagebuch „Alhennae nullam mentionem faciunt Botanici recentiores et non nisi in Arabibus quaedam de ea dicuntur“ 15 – dass die jüngeren Botaniker das Henna gar nicht erwähnen würden, war freilich falsch und an sich kannte Ludwig auch einen Großteil der einschlägigen Werke – was meinte er wohl mit dieser Behauptung? In seinen nach der Rückkehr aus Afrika verfassten Definitiones plantarum fügte er den Henna-Strauch als Nachtrag mit der knappen Beschreibung ein: „HENNA Arabum, an Mail-Anschi H. Mal. Planta frutescens vel arborescens; folia oblonga, cuspidata; calix quadrifidus, raro quinquifidus, stabilis; in segmentorum interstitiis haerent petala utplurimum crispa; stamina utplurimum octo; ovarium, in medio positum & stylo superius incurvo instructum, mutatur in fructum unicapsularem, seminibus angulosis foetum.“ 16

Er vermerkte die Pflanze also noch unter ihrem arabischen Namen mit dem Verweis auf den Namen in Malayalam, der Sprache im indischen Kerala, die im Hortus Malabaricus des niederländischen Gouverneurs von Kerala, Henricus van Rheede van Draakenstein, aufgenommen war. 17 So war die Pflanze zunächst in

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einen anderen meint, wobei auch das „erstmals Gesehene/Erfahrene“ immer schon codiert ist. Vgl. Crewe, Jonathan: Transcoding the World. Haraway’s Postmodernism. In: Signs 22 (1997), S. 891-905, hier S. 892. Vgl. Schiebinger, Londa: Agnotology and Exotic Abortifacients. The Cultural Production of Ignorance in the Eighteenth-Century Atlantic World. In: Proceedings of the American Philosophical Society 149 (2005), S. 316-343. Universitätsbibliothek Leipzig, Ms. 0662, fol. 64 („De Alhennae viribus“). Ludwig, Christian Gottlieb: Definitiones plantarum. Leipzig 1737, S. 143. Vgl. Rheede van Draakenstein, Henricus van: Hortus malabaricus indicus. Bd. 1. Amsterdam 1678, S. 73f. mit Fig. 40; Van Rheede’s Hortus Malabaricus (Malabar Garden) English Edi-

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Leipzig mit ihrer Fremdbenennung eingeführt worden, Exemplare wurden auch mitgeführt und etwa im Garten des privaten Sammlers August Friedrich Walther gepflegt. 18 Zehn Jahre später prägte Linné in der Flora Zeylanica den bis heute gültigen Namen „Lawsonia inermis“ nach Isaac Lawson, der 1735 sein Systema naturae mitfinanziert hatte. Der Eintrag, eingeordnet in die Klasse der Pflanzen mit acht Staubgefäßen und einem Stempel, bestand dort, aufbauend auf Paul Hermanns Leidener Vorlesungen 1670-1677, im Wesentlichen aus einer Liste der in der Literatur bislang üblichen Namen des Henna-Strauchs: „LAWSONIA ramis inermibus. Ligustrum indicum sive Alcanna. Burm. zeyl. 142 Ligustri species 2. Alcanna dicta. Bont. jav. 143. Ligustrum aegyptiacum latifolium (& angustifolium) Bauh. pin. 476 Ligustrum aegptiacum Elhanne s. Tamaharendi vel Alcanna avicennae. Alp. aegypt. 47. Ligustrum orientale sive Cyprus dioscoridis & plinii. Raj. hist. 1603. Cyprus graecorum, Alcanna & Henna arabum, nunc graecis Chenna Rauw. itin. Baccifera indica, baccis oblongis in umbellae formam dispositis. Raj. hist. 1634. Comm. mal. 12. Alhenna sive Henna arabum. Walt. hort. 3. t. 4. Alhenna arabum Schaw. cat. 17 Alcanna Dal. pharm. 347 Pontaletsce Rheed. mal. 4. p. 117 t. 57 Manithondi. Herm. zeyl. 65 Pharmac. ALCANNAE Folia, Flores.“ 19

Die Liste, kulminierend im gänzlich linneo-zentrischen Kunstnamen der „Lawsonia“, komprimiert die onomastische Reduktionismus-Tendenz der Naturgeschichte seit Beginn der Neuzeit. Der bei Dioskurides, Theophrast und Plinius, in der Bibel, dann auch wieder bei Avicenna erwähnte Henna-Strauch wurde von den Renaissance-Botanikern beschrieben.

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tion, vol. 1, with annotations and modern botanical nomenclature, by Manilal, K.S. Thiruvananthapuram 2003, S. 147-149. Schon 1735 verzeichnet Walther, August Friedrich: Designatio plantarum quas hortus August. Friderici Waltheri Pathologiae professoris Lipsiensis complectitur. Leipzig 1735, S. 3 mit Tafel IV das Henna in Leipzig mit Verweis auf van Rheedes Klassifikation und Rauwolf. Alles spricht dafür, dass Walther im Zuge der Afrika-Expedition an die Pflanze gelangte. In den Karlsruher Hofgarten scheint kein Exemplar Eingang gefunden zu haben, obwohl der Hofmaler Thran mitgefahren war; Thran, Christian: Serenissimi Marchionis et principis BadaDurlacensis Hortus Carolsruhanus. Lörrach 1747. Linné, Carl: Flora Zeylanica. Stockholm 1747, S. 56f.

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Abb. 1: Henna-Strauch, wie er 1735 in Leipzig nach der sächsischen Afrikaexpedition im Garten August Friedrich Walthers zu betrachten war (aus: Walther 1735 [wie Anm. 16], S. 3, Tafel IV).

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Die ausführlichen Einträge bei Jacques Daléchamps und Jean Bauhin repräsentieren noch bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts diese erste antiquarische Botanik: Die Gedanken der Botaniker kreisten um die sprachliche Erfassung und das Verhältnis von Bezeichnung und Sache. Zwar hat Ogilvie zu Recht darauf hingewiesen, dass es nicht um Klassifikation in ein System ging mangels eines den Renaissance-Denkern verfügbaren modernen Systembegriffs; auch stellte er eine Drift fest weg von der de-materia-medica-Orientierung hin zur Konzentration auf morphologische und das Wachstum der Pflanzen erfassende Beschreibungen. 20 Vor allem fällt aber die Fixierung auf die Namen und Bezeichnungen selbst ins Auge. Seitenlang werden die verschiedenen Bezeichnungen analysiert, Ausgangsproblem ist zunächst oft die Identifizierung der antiken Bezeichnungen und Pflanzen. 21 So „exotisch“ die Henna-Pflanze im Speziellen auch sein mochte, die intellektuelle Tätigkeit vollzieht keine „Grenzüberschreitung“ nach, sie kreist ganz weitgehend innerhalb des Rahmens der antiken Überlieferung und der gelehrtsprachlichen Welterfassung. Bewegung kam hier freilich durch die Reisebeschreibungen hinein. In der Neuzeit wurde der Henna-Strauch erstmals von den Orient-Reisenden Pierre Bellon und Leonhart Rauwolf aus naturhistorischer Perspektive erfasst, 22 in der venezianisch-paduanischen Schule wurde das Wissen über die gegenwärtige Nutzungsweise der Araber und Ägypter vor allem in Kairo gepflegt (Prospero Alpini, Onorio Belli, Johann Wessling), 23 die niederländischen Asienfahrer erfassten Henna als auch indisches und batavisches Gewächs, 24 an der Schwelle zum 18. Jahrhundert wurde dieser Wissens-

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Vgl. Ogilvie, Brian W.: The science of describing. Natural History in Renaissance Europe. Chicago/London 2006, S. 182-218. Vgl. Daléchamps, Jacques: Histoire générale des plantes. Lyon 1653 (zuerst lat. 1587), S. 211214; Bauhin, Jean: Historia plantarum universalis. Ed./aux. Cherler, Johann Heinrich/Chabray, Dominique/Graffenried, Friedrich Ludwig a. Yverdon 1650, S. 541-543. Vgl. Bellon, Pierre: Plurimarum singularium & memorabilium rerum in Graecia, Asia, Aegypto, Iudaea, Arabia, aliisque exteris Prouinciis ab ipso conspectarum Obseruationes. Trad. Charles de l’Ecluse. Antwerpen 1589 (zuerst frz. 1553), S. 319f.; Rauwolf, Leonhart: Aigentliche beschreibung der Raiss so er vor diser zeit gegen Auffgang inn die Morgenländer [unternommen]. Frankfurt a.M. 1583, S. 60-62. Vgl. Alpini, Prospero: De plantis aegypti liber [...]. Venedig 1592, fol. 18B-19B; Belli sandte 1596 Charles de l’Ecluse Henna-Samen nach Leiden: vgl. Honorii Belli Vicentini, Medici Cydoniensis in Creta insula, Ad Carolum Clusium aliquot epistolae, De rarioribus quibusdam plantis agentes. In: Charles de l’Ecluse: Rariorum plantarum historia. Antwerpen 1601, S. 309; Vesling, Johann: De plantis Aegyptii Observationes et Notae ad Prosperum Alpinum. Padua 1638. Vgl. Bondt, Jacob de: Historia Plantarum. In: Piso, Willem: De Indiae utriusque re naturali et medica libri quatuordecim. Amsterdam 1658, S. 142-144; sowie Rheede van Draakenstein 1678 (wie Anm. 17).

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stand von John Ray gut erfasst. 25 Wirkung und Gebrauch der Pflanze wurde von den Reisenden des 16. und 17. Jahrhunderts dabei viel ausführlicher dargestellt als von den Klassifikatoren des 18. Jahrhunderts, das Wissen über die praktischen und medizinischen Anwendungsmöglichkeiten von Henna war bis um 1700 nur dort empirisch angereichert worden, wo tatsächlich Reiseerfahrung im Hintergrund stand. Freilich nahm die Fülle empirisch gewonnener Informationen im 18. Jahrhundert weiter erheblich zu, aber in der sich ausdifferenzierenden botanischen Wissenschaft blieb hier vieles im Prozess der Transcodierung der Natur unterhalb der Schwelle des Öffentlich-Werdens im Druck. Im Falle Ludwigs ist dies besonders deutlich: Während die obige vierzeilige morphologische und klassifikatorische Einordnung das einzige von ihm zum Henna-Strauch Gedruckte ist, findet sich im Reisetagebuch eine detaillierte Beschreibung, die auch den Prozess des Wissenstransfers erkennbar macht. In Tunis hatte Ludwig Kontakt mit einem jüdischen Arzt, Josephus Carillo, der ihm alle eigenen Kenntnisse mitteilte, aber auch aus vielen arabischen Medizin-Handschriften die entsprechenden Informationen exzerpierte, etwa die Aussagen eines „Cherif Ezcoli (Medicus satis amatus inter Arabes)“. 26 Die Beschreibung setzt mit der Feststellung ein, dass „Alhenna Graece Kipros, circa aquam crescit arbor satis procera climate secundo et tertio provenit“; die Qualität der Klimazonen als Raumeinteilung gerade im botanisch-medizinischen Zusammenhang ist Anfang des 18. Jahrhunderts also noch ungebrochen. Es finden sich dann bei Ludwig Aussagen über kosmetische, Lepra heilende, Schmerz stillende Wirkungen von Henna, die über die üblichen Informationen zur Urinhemmung, Urinfärbung und zur Nutzung als Farbstoff für Haar und Haut hinausgehen. Er berichtet auch von einem „abergläubischen“ Experiment, das Carillo unternommen habe, das ihm gleichwohl bedenkenswert erscheint: Man binde sich in Tunis häufig bei Zahnweh über Nacht beim Schlafen Hennawurzeln in die geschlossenen Hände (und zwar in die linke Hand bei Schmerzen in der rechten Mundhälfte und

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Vgl. Ray, John: Historia plantarum Species hactenus editas aliasque insuper multas noviter inventas & descriptas complectens. Bd. 2. London 1688, S. 1603f., 1634. Universitätsbibliothek Leipzig, Ms. 0662, fol. 65. Es dürfte sich um abū l-’Abbās Ahmad ibn ‘Abd as-Salām ibn ‘Utmān al-Hasanī, genannt aš-Šarīf aş-Şiquilli handeln, der für den Hafsidensultan in Tunis Anfang des 15. Jahrhunderts ein Katib al-Atibbā („Ärztebuch“) verfasst hatte; vgl. Ullmann, Manfred: Die Medizin im Islam. Leiden 1970, S. 286; für diesen Hinweis bin ich Eric Vallet und Françoise Micheau dankbar. Dass Juden in osmanisch-arabischen Herrschaftsbereichen gerade den Medizinberuf ausübten, ist eine lange mittelalterliche Tradition, die etwa auch am Ort der Haupt-Verbreitung von Henna, in Kairo, lange üblich war, wie die medizinischen Handschriften aus der jüdischen Gemeinde ebendort zeigen: Lev, Efraim/Amar, Zohar: Practical Materia Medica of the Medieval Eastern Mediterranean According to the Cairo Genizah. Leiden/Boston 2008, S. 183-185 zum mittelalterlichen Wissen über Henna in den jüdisch-arabischen Handschriften.

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umgekehrt). 27 Die hier zum Ausdruck kommende Überzeugung, dass Henna – in welcher Anwendungsform auch immer – für die Behandlung von Zahnschmerzen hilfreich sei, findet sich in keinem der europäischen Kompendien, lediglich in einem erst 1966 wieder edierten medizinischen Rezeptebuch von alKindī (ca. 800-890) wird eine auch auf Henna basierende Paste zur Zahnbehandlung verwandt. 28 Was passiert hier also in puncto Grenzüberschreitung? Drei (jeweils nur idealtypisch abstrahierbare) Grenztypen spielen eine Rolle: eine Natur/KulturGrenze im Allgemeinen, die Grenze zwischen den Kulturen in Europa und Nordafrika, schließlich die Grenze zwischen dem botanischen System/Code der gelehrten Kommunikation und dem oft latent bleibenden Bereich der Praxis, der empirischen Beobachtung und Beschreibung. Die Mechanismen der Nicht-Überschreitung von Wissen zwischen den letzteren beiden Ebenen war für spezielle Probleme Gegenstand von Schiebingers Agnotologie. Im vorliegenden Fall konnte man sehen, dass der sich immer stärker auf die Systemgenerierung und -einordnung zuspitzende Impuls der Botanik des 18. Jahrhunderts zu einer Selektion von Information über die Pflanzen führte, womit eine Fülle von praktischem Wissen über ihre Anwendung ganz jenseits einer moralischen Motivation in die Latenz verschoben wurde. Obwohl das im 18. Jahrhundert erst durch diesen Systemgenerierungsimpuls stark werdende Ausgreifen der Botaniker in die globale Natur also erst in einem quantitativ und qualitativ erheblichen Maße spezialisiertes Wissen über außereuropäische Natur neu generierte, wurde offenbar paradoxaler Weise ein Abschließungsprozess zwischen der immer stärker formalisierten Botanik-Code-Ebene und der Ebene der alltagssprachlichen Beschreibung befördert; diese Latenzgrenze wurde im steten Prozess der Überschreitung der Europa/Außereuropa-Grenze hervorgebracht. Ein weiteres dialektisches Phänomen, das bei der Überschreitung der Europa/Außereuropa-Grenze sichtbar und wirksam wurde, ist von Lisbet Koerner und Alix Cooper hervorgehoben worden: Der Impuls des Ausgreifens ins Globale fördert in der Rückwirkung oft gerade die intensivierte Erfassung des Lokalen. Schon Urban Gottfried Buchers Sachßen-Landes Natur-Historie oder Beschreibung der Natürlichen Beschaffenheit und Vermögenheit der zu Sachßen gehörigen Provinzen (1722) markiert ein Jahrzehnt vor der sächsischen Afrikaexpedition diese Gleichzeitigkeit der zunehmenden Generierung einer Heimat-Natur und einer fernen Natur, so dass die Profilierung der Europa/Außereuropa-Grenze überhaupt erst im globalisierenden Bioprospektionsprozess erfolgt. 29 Die Reise star27 28 29

Vgl. Universitätsbibliothek Leipzig, Ms. 0662, fol. 65. Vgl. The Medical Formulary or Aqrābādhīn of Al-Kindī, ed./transl. Levey, Martin. Madison/Milwaukee/London 1966, Nr. 105, S. 118. Koerner, Lisbet: Linnaeus. Nature and Nation. Cambridge, Mass./London 1999 hat hervorgehoben, wie der Impuls für diese Erschließung der fernen Natur eigentlich in der ökono-

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tete hier in Dresden und sie endete in Dresden, die Wahrnehmung der Fremde ist auch stark gerahmt durch die Beschreibung der Naturaliensammlungen und der Menagerie in Dresden, die gleichsam als Medium und Adressat der Ergebnisse der Expedition dient; Ludwig reiste dann sein Leben lang nie mehr so in die Ferne. Vom Hof als Clearingzentrale des naturhistorischen Wissens führte die eine Fährte ins Globale, die andere in die genaue lokale Recherche und Erfassung von Flora und Fauna, und auch das Ausgreifen nach Afrika diente der Erkundung von Nutzpflanzen und Stoffen, die in der Heimat zur Anwendung kommen sollten: Der Henna-Strauch wurde auch dort angepflanzt, freilich kaum für spezielle Nutzanwendungen eingesetzt. Die Natur/Kultur-Grenze schließlich wird bei diesen botanischen Expeditionen ständig im basalen Transcodierungsprozess überschritten, in dem aus den beobachteten Natur-Einheiten (Flora und Fauna) eine kulturelle Beschreibungseinheit in den botanischen Werken gemacht wurde. Genau betrachtet sind die Natur/Kultur-Grenze und der Transcodierungsprozess aber wohl gar nicht als solcher rekonstruierbar, denn wir werden in den Quellen in Wirklichkeit immer auf Kultur/Kultur-Grenzüberschreitungen treffen: Was da als Natureinheit beobachtet wurde, war immer schon durch antikes Vorwissen, Buchwissen und Bildwissen sowie durch Einlassungen in die Umgebung und Praxis kulturell codiert. Natur war in Wirklichkeit „Natur“ in Anführungsstrichen, es waren nur Repräsentationselemente in Codes, zwischen denen übersetzt wurde: „Transcodierung von Natur“ entlang einer Natur/Kultur-Grenze entpuppt sich also als Transcodierung von „Natur“ im Kulturkontakt.

Frühneuzeitliche Klimatologie vs. Historische Epidemiologie des 20. Jahrhunderts Eine der bekanntesten historischen Theorien über das Verhältnis von Natur und Kultur, von Natur und Mensch war die vormoderne Klimatheorie. Es ge-

misch-kameralistischen Motivation der Mehrung von Schwedens Reichtum lag; Trepp, AnneCharlott: Von der Glückseligkeit alles zu wissen. Die Erforschung der Natur als religiöse Praxis in der Frühen Neuzeit. Frankfurt a.M. 2009 zeichnet die insbesondere auf Physikotheologie hinsteuernden religiösen Motivationsstrukturen der frühneuzeitlichen Naturerforschung nach. Cooper, Alix: Inventing the Indigenous. Local Knowledge and Natural History in Early Modern Europe. Cambridge, Mass. 2007 hat hier verallgemeinert und die „Erfindung des Heimatlichen“ dem Globalisierungsimpuls gegenübergestellt. Man könnte mit Roland Robertson von einem Glokalisierungsprozess sprechen; vgl. Robertson, Roland: Globalization. Social Theory and Global Culture. London 1992, S. 173f.; ders.: Globalisation or Glocalisation. In: Journal of International Communication 1 (1994), S. 33-52.

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nügt die seit etlichen Jahrzehnten gut erforschte Materie 30 hier in groben Zügen zu erläutern; wichtig wird am Ende sein, was diese frühneuzeitliche Theorie nicht beinhaltete. Üblicherweise wird als Urvater der frühneuzeitlichen Klimatheorie Hippokrates genannt mit seiner Schrift De aëre, aquis et locis. 31 Korrekterweise muss man zunächst anmerken, dass in dieser Schrift der Klima-Begriff genauso wenig wie bei Galen, dem anderen Hauptautor der antiken Medizin, vorkommt, 32 überhaupt ist der alleinstehende Klima-Begriff in der Antike sehr selten; 33 „egklisis“ ist häufiger, aber auch nicht vorherrschend. In der antiken Geographie taucht das Wort zwar auf und wurde dann in der Antike schon mit der medizinischen Drei-Zonen-Lehre des Hippokrates verbunden, aber auch bei Ptolemaios finden wir eher den Begriff der „Parallele“. Das Wort „Klima“ kommt vom griechischen „klinein“ und heißt soviel wie „Neigung“. In der antiken Geographie war damit ein Erdstreifen gemeint, dessen Orte den gleichen Neigungswinkel der einfallenden Sonnenstrahlen gegen den Horizont aufweisen und somit alle unter der gleichen „Breite“ lagen. „Klima“ hatte daher zunächst nichts mit Witterung zu tun, sondern der Begriff diente zur Einteilung in geographische Zonen. Seit Eratosthenes (273-192 v.Chr.) wurde die damals bekannte Welt in fünf Zonen und in sieben „Klimata“ unterteilt, die parallel zum Äquator verliefen. Sie unterschieden sich durch eine zunehmende maximale Tageslänge von etwa 13 Stunden im Süden bis auf 16 Stunden im Norden. Diese Klimata werden in der bewohnbaren nördlichen von den fünf Erdzonen abgetragen. Man muss also unterscheiden: 30

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32 33

Die frühneuzeitbezogene Klimatheorie-Geschichte war allerdings meist sofort auf die Implikationen der Klimalehre für die National- und Völkercharakter-Lehre fixiert, sie hat die Klimatheorie kaum als Raumzonen-Theorie wahrgenommen. Vgl. insbesondere Zacharasiewicz, Waldemar: Die Klimatheorie in der englischen Literatur und Literaturkritik von der Mitte des 16. bis zum frühen 18. Jahrhundert. Wien 1977; ders.: Klimatheorie und Nationalcharakter auf der „Völkertafel“. In: Stanzel, Franz K. (Hrsg.): Europäischer Völkerspiegel. Imagologisch-ethnographische Studien zu den Völkertafeln des frühen 18. Jahrhunderts. Heidelberg 1999, S. 119-137; Fink, Gonthier-Louis: De Bouhours à Herder. La théorie française des climats et sa réception outre-Rhin. In: Recherches Germaniques 15 (1985), S. 3-62. Vgl. Pinna, Mario: Ippocrate fondatore della teoria dei climi. In: Rivista geografica italiana 95 (1988), S. 3-19; Staszak, Jean-François: La géographie d’avant la géographie. Le climat chez Aristote et Hippocrate. Paris 1995, S. 125-207. Vgl. Hippocrates: Airs, eaux, lieux, texte établi et trad. Jacques Jouanna. Paris 1996, S. 219250. „klíma […] apud probatos Graeci sermonis auctores non reperiri puto, sed si qui veterum his usi sunt, certe non aliter pronunciarunt quam klĩmax“ (Stephanus, Henricus: Thesaurus graecae linguae, ed. Hase, Carl Bened./Dindorfius, Guilelmus et Ludovicus. Bd. 5. Graz 1954, S. 1642f.); am einschlägigsten scheint eine Stelle gerade an eher wenig passendem Ort, vgl. Vitruv: De architectura libri decem, hrsg. und übers. von Fensterbusch, Curt. Darmstadt 1996, I,1,10 „Disciplinam vero medicinae novisse oportet propter inclinationes coeli, quae Graeci klímata dicunt.“

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a) in die geographische Lehre von den fünf großen Zonen, in die die Erde aufgeteilt ist, von der nur zwei bewohnbar sind, die zwischen unbewohnbar kalten und unbewohnbar heißen Gegenden liegen; b) in die Lehre von den sieben geographischen Parallelen/Klimata; c) in die medizinische Lehre von den drei Weltzonen. Alle drei Unterteilungsformen werden in der alteuropäischen Tradition miteinander verbunden. Diese Zonen-Unterteilung war seit Pomponius Mela und im Kommentar des Macrobius zum Somnium Scipionis des Cicero bekannt. Sie führte etwa beim wichtigsten antiken Geographen Ptolemäus dazu, dass er Klima- bzw. Parallelen-Tabellen anlegte, die auf der astronomischen Bestimmung von Breitengraden durch die Berechnung des Sonnenstandes zurückging. Die Unterteilung wurde im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit stets tradiert, so dass wir in den Weltkarten (spät-)mittelalterlicher Provenienz oft die fünf Zonen abgetragen finden ebenso wie die sieben Klimata – bei Gelehrten des lateinischen Westens ebenso wie der östlich-arabischen Welt. 34 Dieses Wissen um die Breitengrad-Berechnung ging im mittelalterlichen Westen weitgehend verloren, die Klima-Definition der antiken Geographie wurde aber weitertradiert und so finden sich in mittelalterlichen Handschriften zur Lehre im Philosophie-Unterricht schematische Karten mit der Einteilung der bekannten Welt in die sieben Klimata vom „clima Indorum“ über die Mitte der sieben Klimata, das durch Jerusalem verläuft, das „clima Graecorum“, das „clima Romanorum“ bis zum letzten „clima Francorum“, das von Russland bis nach Frankreich und Spanien verläuft, während jenseits dieses letzten Klimas dann England und andere nördliche Restgebiete liegen. Die mittelalterliche Konzeption der „climata“ nahm also aus der Antike den Aspekt der geographischen Wissenschaftlichkeit auf, zentriert die Welt aber in Kreuzzugszeiten um Jerusalem. All dies hat weitgehend nichts mit Witterung und durchschnittlichem Wetter im Sinne des modernen Klimabegriffs zu tun. Wenn wir heute vom typischen Klima einer Region sprechen, so muss uns bewusst sein, dass historisch Region und Klima in eins fielen, man also umgekehrt eher vom typischen Wetter eines Klimas gesprochen hätte. Oft finden wir dann auf Weltkarten des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit zunächst nur die fünf Zonen eingezeichnet, von der die zweite von Norden her gesehen die bewohnbare und kulturträchtige ist.

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So geht die detaillierte Darstellung der sieben Klimazonen im Einleitungsteil des einflussreichen Geschichtswerkes von Ibn Khaldun, Abd-ar-Rahman Ibn Muhammad: The Muqaddimah. übers. von Rosenthal, F. 3 Bde., London 1958 auf die Weltkarte zurück, die Muhammad Ibn Muhammad al-Idrisi (1100-1166) im Dienst des Normannen-Königs Roger II. von Sizilien nach dem Vorbild des Ptolemaios gezeichnet hatte.

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(Abb. 2) Holzschnitt einer Weltkarte mit Fünf-Zonen-Einteilung (Macrobius integer nitidus suoque decori a Ioanne Rivio restitutus […]. Paris: Jodocus Badius 1515). Die sieben Klimata wären in einer solchen geosteten Karte in die zweite Zone von oben einzutragen. Der Klimabegriff der Antike und des Mittelalters ist zuallererst also ein Raumbegriff. Mit den Entdeckungsfahrten veränderte sich natürlich die Weltkarte massiv, wenn dann in der Weltkarte des Theatrum orbis terrarum des Abraham Ortelius von 1572 die antiken fünf Zonen immer noch aufgetragen wurden,35 so ergaben sie eigentlich keinen rechten Sinn, denn die Lehre von der immer heißer werdenden „verbrannten Südzone“ passte nicht mehr.36 Was sich nun eher hielt, war die hippokratische Einteilung in drei Zonen, deren Bewohner sich aufgrund atmosphärisch-meteorologischer Bedingungen unterschieden. Hier kamen eigentlich erst Planetenlauf und typisches Wetter als Bedingungselemente hinzu. Astronomie und Meteorologie dienten als Hilfswissenschaften der Medizin, wenn sie danach fragte, wie Menschen verschiedener Regionen zu behandeln seien. Es sind also Zonen und Grenzziehungen, die in unserem heutigen Sinne etwas über die physisch-biologische Durchschnittsverfasstheit von Menschen aussagen, „Rassen“-Grenzen im frühneuzeitlichen 35 36

Vgl. Ortelius, Abraham: Typus orbis terrarum. In: Theatrum orbis terrarum (Reproduktion der Ausgabe Nürnberg 1572). 2. Aufl., Darmstadt 2007, S. 12f. Vgl. immer noch Hamann, Günther: Der Eintritt der südlichen Hemisphäre in die europäische Geschichte. Wien 1968.

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Sprachgebrauch. Im Norden bei den Skythen waren die Menschen kräftig, ausdauernd, aber eher dumm, im Süden war man besonders fruchtbar, aber lasch und nicht tapfer; die beste Zone war die mittlere, in der bei Hippokrates natürlich Griechenland lag, wo sich hohe intellektuelle Fähigkeiten mit hoher physischer Ausdauer verbanden. Diese Dreiteilung kehrt bei Aristoteles wieder (Problemata 909a-910b) und war so kulturelles Allgemeingut. Jean Bodin war dann der erste Systematisierer und Anreicherer der antiken Klimalehre: Er diskutiert, wie Astronomie und Meteorologie als Hilfswissenschaften nun nicht mehr nur der Medizin, sondern auch der Staatslehre fungieren. Sowohl in der Methodus (Buch V) als auch in der Republik (Buch V, Kap. 1) geht es um die Frage des Verhältnisses von Gesetzgebung und klimatischen Bedingungen. Jenseits der antiken Denkmodelle findet sich bei Bodin nun schon als weiteres wichtiges Element die Quelle der Reiseberichte und Landesbeschreibungen der jeweiligen fernen Länder, über die er spricht. Deduktiver und induktiv-empirischer Ansatz mischen sich also, die überlieferte ZonenLehre der Antike wird schon dem Erfahrungsdruck der gegenwärtigen Untersuchungen ausgesetzt. Bodin verschob die Grenzen zwischen den drei Hauptzonen auf 30 und 60 Grad nördlicher Breite, wodurch alle historisch bedeutsamen Kultur-Reiche von Mesopotamien bis ins gegenwärtige Mitteleuropa in der begünstigten Mittelzone lagen; allerdings bezog Bodin noch immer nur die nördliche Hemisphäre in seine Erörterungen ein.37 Neben der medizinischen Anwendung der Klimalehre war hier ein staatstheoretisch-legislativer Anwendungsbereich begründet, der nach der starken Wiederaufnahme der Klimatheorien zu Beginn des 18. Jahrhunderts beim Abbé du Bos bekanntlich bei Montesquieu seine wichtigste Ausbuchstabierung im 14. bis 19. Buch von De l’esprit des lois gefunden hat:38 Montesquieu fragt nach 37

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Vgl. Bodin, Jean: Methodus ad facilem historiarum cognitionem. Amsterdam 1650 (ND Aalen 1967); Bodin, Jean: Les six livres de la République. Paris 1583 (ND Aalen 1961); die beste kritisch kommentierte Ausgabe von Bodin ist die italienische Übersetzung: I sei libri dello Stato, hrsg. von Isnardi Parente, Margherita/Quaglioni, Diego. 3 Bde. Turin 1964-1997; jüngere Sammelbände und Einführungen: L’Œuvre de Jean Bodin. Actes du colloque tenu à Lyon à l’occasion du quatrième centenaire de sa mort (11-13 janvier 1996). Paris 2004; Opitz, Claudia: Das Universum des Jean Bodin. Staatsbildung, Macht und Geschlecht im 16. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 2006 behandeln die Klimatheorie kaum. Vgl. immer noch Tooley, Marian J.: Bodin and the Medieval Theory of Climate. In: Speculum 28 (1953), S. 64-83; Lestringant, Frank: Europe et théorie des climats dans la seconde moitié du XVIe siècle. In: La Conscience européenne au XVe et au XVIe siècle. Paris 1982, S. 206-226 [wieder in: ders.: Écrire le monde à la Renaissance. Quinze études sur Rabelais, Postel, Bodin et la littérature géographique. Caen 1993, S. 255-276] (mit Rückgriff weniger auf die antike Theorie als auf Cardanos Klimatheorie-Bildung) und vor allem Couzinet, Marie-Dominique: Histoire et méthode à la Renaissance. Une lecture de la Methodus de J. Bodin. Paris 1996, S. 162-187. Vgl. Montesquieu, Charles Secondat de: De l’esprit des lois ou du rapport que les lois doivent avoir avec la constitution de chaque gouvernement, les mœurs, le climat, la religion, le commerce [...]. In: ders.: Œuvres complètes. Bd. 2, hrsg. von Caillois, Roger. Paris 1951, S. 225-

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der Beziehung oder dem Verhältnis, das die Gesetze zur „Natur des Klimas“ haben. Dabei geht er von dem alten Grundgedanken aus, dass Menschen in verschiedenen Klimata auch ihrer Physis und ihrer Psyche nach ganz anders seien. Das führt zur Beschreibung von Nationalcharakteren wie dem, dass die Inder keinen Mut hätten, dass selbst Europäer, die in Indien geboren werden, ihre Mut-Fähigkeit verlieren; in südlichen Ländern herrsche Stolz und Rachsucht, zugleich seien die Bewohner dieser Länder eher faul; die Japaner seien dem Charakter nach so grausam, dass die dortigen Gesetzgeber keinerlei Vertrauen in sie haben können und daher eine Fülle von Richtern, Drohungen und Strafen kombiniert haben; bei den Indern hingegen, die sanft, zart, leidenswillig seien, hätten die Gesetzgeber hinreichend Vertrauen in sie, so dass wenige und nicht sehr schwere Strafen festgeschrieben sind. Wir sind gewohnt, diese Klimatheorien rein als Lehren der Volksnaturen und -charaktere, als Stereotype, Klischees und Vorurteile zu lesen, denn so hat man sie in den 1970ern und 1980ern im Rahmen der Imagologie und Stereotypenforschung rezipiert;39 das ist natürlich auch richtig. Wenn man sie ein wenig anders und auch gerade mit Blick auf die Konzeptionen von Grenze zwischen Völkern liest, die mit ihnen formiert werden, sind die Klimatheorien erst einmal, im Denkrahmen der Zeit, biokulturelle Grundlagenwissenschaften für andere Anwendungsbereiche. In der Tat beginnt Montesquieu den ganzen Abschnitt seiner Klimalehre mit seinem berühmten Bericht einer Art biologischen Versuches:40 Er habe eine abgeschnittene Schafszunge genau unter dem Mikroskop betrachtet und dabei, solange die Zunge erwärmt gewesen sei, die hervorstehenden pyramidenförmigen Höcker der Geschmacksknospen beobachtet. Dann habe er die Zunge eingefroren, und nun waren die Geschmacksknospen zurückgezogen in die Haut und nicht mehr erhaben sichtbar. Dieser merkwürdige Versuch dient ihm zum Beweis, dass in kalten Gegenden die für die Sensibilität zuständigen Nervenstränge weniger ausgedehnt und somit weniger empfänglich seien als in warmen Gegenden, die Empfindungen, die Wahrnehmung und Emotionalität seien also überhaupt weniger lebhaft. Dieser Versuch und dieser Schluss aus einer Zungen-Beobachtung als Fundament eines generellen Gesetzgebungsmodells erscheinen heute ein wenig skurril. Tatsächlich hat Montesquieu hierfür auch schon von den Zeitgenossen manch ironische Kritik und manches

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995; Mercier, Roger: La théorie des climats des Réflexions critiques à l’Esprit des lois. In: Revue d’histoire littéraire de la France 53 (1953), S. 17-37, 159-174; Shackleton, Roger: The Evolution of Montesquieu’s Theory of Climate. In: Revue internationale de philosophie 9 (1955), S. 317-329. Vgl. die Literatur in Anm. 30. Vgl. Montesquieu 1951 (wie Anm. 38), XIV, 2, S. 476.

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Bonmot geerntet.41 Nichtsdestoweniger zeigt diese Stelle, wie sich nun der Klima-Begriff doch gewandelt hatte: „Klima“ meint nun durchaus die Summe der Einflüsse von Temperatur, Luftdruck, Trockenheit oder Feuchtigkeit, die regionsbezogen auftreten; Klima ist nicht mehr identisch mit einer Regionsbezeichnung. Und so gleitet diese Klimatologie auch in den Bereich der Naturgeschichte hinüber. Bei Buffon (De l’homme), den Darwin einst als seinen einzigen entwicklungshistorischen Vorgänger im 18. Jahrhundert benennen wird, wird die Klimatologie differenziert auf die Lehre vom Menschen und seinen Gattungen angewandt: Er geht nun grundsätzlich nur von einer Art „Mensch“ aus, die sich dann in verschiedene Richtungen entwickelt habe. Auf die Art (espèce) Mensch wirken im Lauf der Geschichte unterschiedlichste Kräfte ein, insbesondere Klimaeinfluss, Nahrung und Sitten. Diese führen zur Ausbildung von Varietäten oder Rassen, die sich durch Haut- und Haarfarbe, Größe und Physiognomie unterscheiden. Auch wenn dies natürlich noch lange nicht eine moderne Evolutionstheorie impliziert, sieht man, wie die Klimatheorie von einer eher starren Raumkonzeption zu einem räumlich bedingten, aber nicht mehr hierin aufgehenden Wirkfaktor geworden ist.42 Buffon unterscheidet dann auch, den Kontinenten nach, eine europäische, eine negroide, eine chinesische und eine amerikanische Rasse, wobei die Varietäten in der amerikanischen höchst gering, in Afrika die Varietäten aber sehr groß seien. Für unsere Fragestellung ist interessant, dass in diesen Kontexten auch – nicht oft, aber zuweilen – Theorien der Grenzüberschreitung über solche volks-klimatischen Grenzen hinweg formuliert werden: Am einfachsten sind auf der Mikro-Ebene der Individuen jene Aussagen, dass, wenn ein Angehöriger der einen Varietät in eine andere klimatische Zone hinüberwechselt, er geschwächt wird, untergeht, körperlich versagt. Auf der Makro-Ebene findet sich bei Montesquieu eine Theorie der Grenzverhältnisse und der Grenzüberschreitung zwischen Klimata – so beim fundamentalen Unterschied zwischen Asien und Europa, der natürlich hippokratisches Erbe ist: In Asien würde der eisige Norden direkt auf die südlich-heißen Gebiete von der Türkei über Persien und China nach Japan treffen, es gebe keine Zone gemäßigten Klimas. Diese scharfe Grenze habe gleichsam ein natürliches Kräftegefälle zur Folge, so dass in Asien Völker aufeinander träfen, von denen die einen ganz klar zur Herrschaft, die anderen zur Unterwerfung vorherbestimmt seien. Demgegenüber träfen in 41

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Vgl. etwa Herder, Johann Gottfried: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, hrsg. von Stolpe, Heinz. Berlin 1965, Bd. 1, S. 261: „[...D]aß er seinen klimatischen Geist der Gesetze auf das trügliche Experiment einer Schöpszunge [Schafszunge] gebaut habe“. Auch Hume nahm den Schafsversuch zum Anlass von Kritik; vgl. Jones, Christopher S.: Politicizing travel and climatizing philosophy. Watsuji, Montesquieu and the European tour. In: Japan Forum 14 (2002), S. 41-62. Vgl. Fink 1985 (wie Anm. 30), S. 16.

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Europa, wo eine sehr große Zone gemäßigten Klimas herrsche, starke Völker auf andere starke Völker. Dies führe zu starker Kompetition und deshalb sei hier auch stets Raum für die Ausbreitung von „Freiheit/Freiheitlichkeit“, etwa wie in der englischen Verfassung, während in Asien nur Despotismus Platz habe.43 Unterschiedliche klimatische Grenzen bewirken also gleichsam biophysisch-notwendig unterschiedliche Herrschaftsverhältnisse, Regierungsformen etc. In dieser klimatischen Grenzüberschreitungstheorie bei Montesquieu ist in der Mitte des 18. Jahrhunderts im Grunde eine biokulturelle Theorie zur Begründung des sich selbst schon als Sonderweg-Kontinent begreifenden „europäischen Wunders“ angelegt. Solche Theoreme der Grenzüberschreitungen sind im frühneuzeitlichen Klimadiskurs eher selten, meist wird nur von der varietätenbildenden Wirkung von Klimaeinflüssen überhaupt ausgegangen. Es ist insofern interessant, dass die europäische Expansion, als eine der größten Grenzüberschreitungen oder -erweiterungen der bis dato bekannten Welt, die doch für Montesquieu und die anderen frühneuzeitlichen Zeitgenossen die stärkste Evidenzbasis gewesen sein muss für das „europäische Wunder“,44 wenig mit solchen „naturwissenschaftlich-biokulturellen“ Erklärungsmustern behandelt wurde: Warum wurde im Rahmen der Klimatheorien nicht ähnlich argumentiert, dass hier eine „zum Herrschen bestimmte“ Rasse auf eine zur Beherrschung bestimmte traf? Nun vielleicht, weil all das klimatheoretisch wenig passte. Die amerikanischen Gebiete lagen in ganz unterschiedlichen klimatischen Zonen, die Einwohner wurden aber als untereinander sehr ähnlich erfahren, die Europäer hätten nach diesen Theorien ihre Kraft gleichsam verlieren müssen beim Eindringen in fremde Zonen. Es blieb erst dem 20. Jahrhundert vorbehalten hier eine zentrale These zur Grenzüberschreitung vorzulegen, die heute vor allem in der Umwelt- und Medizingeschichte gepflegt wird: Das Aufeinandertreffen der europäischen Bevölkerung auf die indigene führte zu einem biologischen Kollateralschaden, nämlich der epidemisch bedingten Dezimierung der indigenen Bevölkerung, sozusagen ein unbeabsichtigter Genozid. Alfred Crosby hat das dann den „ökologischen Imperialismus“ getauft. Während die frühneuzeitliche leyenda negra45 vor allem auf die Brutalität und Waffengewalt der Spanier, Versklavung der Indios und Raubbau an ihrer Gesundheit in den amerikanischen Bergwerken fokussierte, entdeckte das 20. Jahrhundert die biologische Kausalität der Krankheitserreger als maßgeblichen Akteur der Eroberung und Extinktion. Die giganti43 44 45

Vgl. Montesquieu 1951 (wie Anm. 38), XVII, S. 523-530. Vgl. Jones, Eric L.: The European Miracle. Environments, Economics and Geopolitics in the History of Europe and Asia. 3. Aufl., Cambridge 2003. Vgl. dazu Schmidt, Peer: Spanische Universalmonarchie oder „teutsche Libertet“. Stuttgart 2001 mit weiterführender Literatur.

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sche Dezimierung der indigenen Bevölkerung von mehreren Millionen Einwohnern auf regional teilweise wenige Tausend ging nicht auf die sichtbare Waffengewalt der wenigen hundert Spanier zurück, die mit ihren Schiffen die große Grenzscheide des Atlantiks überquerten, sondern auf das unsichtbare Wirken der Viren. Die geringe Varietät innerhalb der indigenen Bevölkerung oder „Rasse“, die im 18. Jahrhundert schon Buffon festgestellt hatte, konnte schon in den 1970ern ganz anders bestimmt werden, etwa durch Vergleich der Blutgruppenverteilung; heute würde man wohl Gen-Pools gegenüberstellen. Danach wiesen die Bewohner der anderen Kontinente in der Tat eine viel größere Unterschiedlichkeit und Durchmischung der Blutgruppen auf, während die amerindische Bevölkerung fast durchgängig der Blutgruppe Null angehörte. Dies wurde 1972 von Crosby als eines der Indizien für die geringere Resistenz dieser Bevölkerung gegen Epidemien ausgelegt, denn bei stärkerer Durchmischung ist auch die Chance, dass auf Krankheiten unterschiedlich reagiert wird, höher. So gingen Crosby und nach ihm viele andere die Reisebeschreibungen und Briefe der amerikanischen Eroberung detektivisch durch, um Stellen zu finden, an denen von Krankheiten die Rede ist: Sie machten erst zu einem Problem, was vorher nicht recht gesehen worden war, die These des „ökologischen Imperialismus“ war geboren.46 Die frühneuzeitliche Epidemiologie, die im Wesentlichen nicht über die Miasmenlehre und milde Formen der Kontagionstheorie hinauskam,47 konnte einen solchen Wirkzusammenhang nicht voraussagen oder deuten – man darf wohl sagen, dass weil dieser Denkrahmen fehlte, in den Quellen zur amerikanischen Eroberung die Krankheitsproblematik erstaunlich wenig fokussiert ist, so dass erst die Bündelung aller kleinen Fragmente durch historische Epidemiologen 46

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Vgl. Crosby, Alfred W.: The Columbian Exchange. Biological and cultural consequences of 1492. Westport 1972 (= Contributions in American studies 2); ders.: Ecological imperialism. The biological expansion of Europe, 900-1900. 2. Aufl., Cambridge 2004; ders.: Germs, seeds, & animals. Studies in ecological history. Armonk 1994; Cook, David Noble: Born to die. Disease and New World conquest, 1492-1650. Cambridge 1998; Kiple, Kenneth F. (Hrsg.): Biological consequences of European expansion, 1450-1800, Aldershot 1997 (= An expanding world 26: Society and culture); Diamond, Jared: Guns, germs, and steel. The fates of human societies. New York 1997 hatte die Thematik universalhistorisch ausgeweitet; Raudzens, George (Hrsg.): Technology, disease and colonial conquests, 16th to 18th centuries. Essays reappraising the guns and germs theories. Leiden 2001. Ein ganz guter Überblick ist Lovell, W. George: ‚Heavy Shadows and Black Night‘. Disease and Depopulation in Colonial Spanish America. In: Annals of the Association of American Geographers 82 (1992), S. 426-443. Zu den Philippinen, die als Paradegegenbeispiel zu Hispaniola fungieren, weil die dortige indigene Bevölkerung durch Nutztier-Symbiose und Austausch mit asiatischen Festlandsbewohnern vergleichsweise immun gegen die europäischen Krankheiten war; vgl. Newson, Linda A.: Conquest, pestilence and demographic collapse in the early Spanish Philippines. In: Journal of Historical Geography 32 (2006), S. 3-20. Vgl. nur Nutton, Vivian: The Reception of Fracastoro’s Theory of Contagion. The Seed that fell among Thorns? In: Osiris 6 (1990), S. 196-234.

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und Umwelthistoriker wie Crosby zu einem ganz neuen Verständnis der Eroberung Amerikas führte: Die Grenze zwischen Europa und Amerika, die erst 1492 überschritten wurde, war auch und gerade eine biologische Artengrenze; so verstörend biologistisch es auch klingen mag, aber die Ausbreitung des weißhäutigen Europäers auf dem amerikanischen und australischen Kontinent war das, was Biologen die Invasion aggressiver Arten unter Verdrängung zuvor ansässiger nennen. Was die frühneuzeitliche Epidemiologie nicht sehen konnte, weil es außerhalb ihres Denkrahmens war, wurde nach Aufstieg der Mikrobiologie als Frage zurück in die Vergangenheit projiziert. Die epochale Grenzüberschreitung der europäischen Expansion wurde ganz anders verstanden. Nicht die frühneuzeitliche Miasmenlehre, sondern am ehesten noch die frühneuzeitliche Klimatheorie hätte ein strukturell äquivalentes GrenzüberschreitungsTheorem bieten können, weil hier die Wirkung unterschiedlicher „Rassen“ aufeinander konzeptuell erfasst war, auch wenn, wie erwähnt, dieser Aspekt in den meist noch eher statisch Volk-Klima-Relationen betrachtenden Beschreibungen wenig im Vordergrund stand. Wenn wir so die Klimagrenzen-Lehre und die medizinische Epidemiologie (Objektwelt) der Frühen Neuzeit mit der modernen Heuristik des 20. Jahrhunderts vergleichen, so ist die Epochenschwelle zwischen Vormoderne und Moderne hier also durch eine Schwelle der Ausdifferenzierung markiert – und zwar durch eine Biologisierung des Menschenkörpers auf der einen und eine Entbiologisierung der menschlichen Kultur- und Geisteswelt auf der anderen Seite. Klimatheoretische Anthropologien weisen zwar schon auf solche biophysische Fassungen des Menschen und von Menschengruppen voraus, die zu entsprechenden Konzeptionen von Grenzen zwischen Rassen, zwischen „biophysischen Regionen“ führen, sie sind aber noch kulturell durchdrungen. Die Anwendung der Klimatheorie als Grundlagenwissenschaft für Gesetzgebungstheorien zeigt, dass hier Dinge ontologisiert und kausal verknüpft werden, die es zumindest idealtypisch in der Moderne niemals wären. Nun wird hingegen der Mensch auf einer Ebene durchgängig biologisiert, so dass er als epidemiologischer Agressor und epidemiologisches Opfer zugleich jenseits aller Ideen und Werte, die er in seinem Geist transportiert, gesehen wird. Zugleich würde man aber – sieht man von überzogen biosoziologischen Mindermeinungsvertretern ab – Gesetzgebung, Wertmaßstäbe und vieles mehr als universelle Kultureme verstehen, die per se nichts mit „Rasse“ zu tun haben.

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Biokulturelle Grenzen in modernen historiographischen Heuristiken? Im dritten Punkt sei wieder zu einem Vergleich frühneuzeitlicher Theorien und einer einflussreichen These der modernen Historiographie zurückgekehrt, zu Turners Frontier-These, die fraglos das prominenteste historiographische Beispiel einer heuristischen Anwendung einer Grenz-Idee ist; sie bezieht sich ja zu einem Teil auch auf die frühneuzeitliche Geschichte der Erschließung der USA.48 Als Frederick Jackson Turner 1893 seinen berühmten Essay The Frontier in American History veröffentlichte, war diese Westgrenze der noch nicht hinreichend besiedelten Gebiete inzwischen inexistent, wie die Census-Behörde festgestellt hatte: Inzwischen war überall die Besiedlung so dicht, dass es eine Grenze zwischen dem besiedelten amerikanischen Land und dem nicht besiedelten nicht mehr gab. Dies regte Turner, der von der spencer-lamarckistischen Linie der sozialdarwinistischen Theorie beeinflusst war, zu jener Theorie an, wonach die amerikanische Identität und Kultur, insbesondere auch die politische demokratische Kultur, zentral auf den Prozess der Erschließung des „Wilden Westens“ zurückgehe: Im Gegensatz zum seit Jahrtausenden bevölkerten, dicht besiedelten und erschlossenen Europa seien die Kolonisten in den USA mit einer wilden, unzivilisierten Natur konfrontiert worden. Im Prozess der Konfrontation mit dieser wilden Natur hätten die Kolonisten zunehmend ihre europäische Identität verloren, und im Kampf mit der Natur und in Erschließung des Westens seien alte Bräuche und Gepflogenheiten abgelegt, gelöscht und sodann die neu entstandene amerikanische Identität geformt und an die folgenden Generationen vererbt worden.49 Die Gleichheit in den Chancen und im Besitz habe zu hoher Individualisierung geführt und die Grundlage für die

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Zur Turner-These vgl. Waechter, Matthias: Die Erfindung des amerikanischen Westens. Die Geschichte der Frontier-Debatte. Freiburg i.Br. 1996; Cronon, William: The Trouble with Wilderness, or, Getting Back to the Wrong Nature. In: Cronon, William (Hrsg.): Uncommon Ground. Rethinking the Human Place in Nature. New York 1995, S. 69-90; zum Hintergrund Epstein Popper, Deborah u.a.: From Maps to Myth. The Census, Turner, and the Idea of the Frontier. In: Journal of American & Comparative Cultures 23 (2000), S. 91-102. „For a moment, at the frontier, the bonds of custom are broken and unrestraint is triumphant. There is not tabula rasa. The stubborn American environment is there with its imperious summons to accept its conditions; the inherited ways of doing things are also there; and yet, in spite of environment, and in spite of custom, each frontier did indeed furnish a new field of opportunity, a gate of escape from the bondage of the past; and freshness, and confidence, and scorn of older society, impatience of its restraints and its ideas, and indifference to its lessons, have accompanied the frontier.“ (Turner, Frederick Jackson: The Significance of the Frontier in American History. In: Annual Report of the American Historical Association for the Year 1893. Washington 1894, S. 197-227, hier S. 227).

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demokratische Gleichheits- und Solidaritätskultur Amerikas gebildet.50 In der Ergänzung durch die These von den sections präzisierte er diese Vorstellung noch durch die Ausbildung unterschiedlicher und gegebenenfalls auch konkurrierender Volksidentitäten in Amerika aufgrund unterschiedlicher Umweltbedingungen; dies führte gar zu einer wenig populären These von der strukturellen Parallelität der sections mit der kompetitiven europäischen Nation.51 Dies war aber eher ein Seitenweg seines Denkens, der weniger rezipiert wurde. Mittels der zentralen Frontier-These konnte Turner eine gänzlich autochthone Entstehung des American way of life begründen und musste in keinerlei Weise auf geistesgeschichtlichen Einfluss aus Europa in Sachen Freiheits- und Gleichheitsdenken, etwa Locke’scher Prägung, zurückgreifen. Zentral war die Konzeption jener Grenze zwischen Zivilisation und Wildnis, die deutlich evolutionistisch als Adaptivitätsgrenze zur Umwelt gebildet war. Für eine solche Konzeption scheint es mir keine exakt vergleichbare frühneuzeitliche Theorie zu geben. Man kann zwar das Element der Einzigartigkeit des amerikanischen Wegs bei Turner als strukturell kongruent mit der Einzigartigkeit sehen, die im puritanischen Diskurs von der Auserwähltheit des amerikanischen Volkes gepflegt wurde. Für das zentrale Theorie-Element der die politische Kultur bestimmenden Grenz-Adaptivität fehlt aber ein Äquivalent. Allerdings sind der gedankliche Determinismus und die spekulative „Naturgesetzmäßigkeit“ bei Turner ähnlich der frühneuzeitlichen Klimatheorie. Turners These ist so häufig diskutiert und kritisiert worden wie kaum eine andere, von den Umwelthistorikern ist wohl William Cronon der bekannteste, der die starke Konstruktion eines „unberührten Westens“ unter Ausblendung der indianischen Geschichte bei Turner hervorhob sowie das Faktum, dass er die Bedeutung des Federal Governments und der Urbanisierung gänzlich außer acht ließ.52 50

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„But the most important effect of the frontier has been in the promotion of democracy here and in Europe. As has been indicated, the frontier is productive of individualism. Complex society is precipitated by the wilderness into a kind of primitive organization based on the family. The tendency is anti-social. It produces antipathy to control, and particularly to any direct control.“ (Turner 1893 [wie Anm. 49], S. 221f.). „The whole history of American politics needs to be interpreted in the terms of a contest between these economic and social sections.“ (Turner, Frederick Jackson: The Significance of Sections in American History. Gloucester 1959, S. 14). „Arising from the facts of physical geography and the regional settlement of different peoples and types of society on the Atlantic Coast, there was a sectionalism from the beginning. But soon this became involved and modified by the fact that these societies were expanding into the interior, following the frontier, and that their sectionalism took special forms in the presence of the growing West. […] We are more like Europe, and our sections are becoming more and more the American version of the European nation.“ (ebd., S. 22f.). Vgl. Cronon, William: Turner’s First Stand. The significance of significance in American history. In: Etulian, Richard W. (Hrsg.): Writing Western History. Essays on Major Western Historians. Albuquerque 1991, S. 73-102.

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David Blackbourn hat daran erinnert, wie die deutsche Geopolitik, angefangen bei der gegenseitigen Befruchtung von Ratzel und Turner53 über Denker wie Otto Maull, Erich Keyser zu Karl Haushofer,54 die Turner-These von der formativen Kraft der Grenze auf den Osten übertragen hatten und sowohl die Kolonisierungspolitik eines Friedrich II. als auch die politischen Pläne der nationalsozialistischen Ostkolonisierung als eine historische und gegenwärtige Anwendung des Grenztheorems verstanden.55 Er erinnerte auch daran, dass schon Friedrich II. die Slawen, die aus dem Warthebruch vertrieben wurden, mit Irokesen verglichen hatte und die neuen Kolonistendörfer Namen wie Florida, Philadelphia oder Saratoga erhielten.56 Der Vergleich der Ostkolonisation mit der amerikanischen Westkolonisation geht also ins 18. Jahrhundert zurück, erfuhr freilich überstarke neue Brisanz in den 1940ern. Insofern war Blackbourns ganzes Anliegen, eine Geschichte der Entwicklung der deutschen Landschaft zu schreiben, problematisch, ein „Spiel mit dem Feuer“, denn im deutschsprachigen Zusammenhang konnte das Verhältnis des Menschen zum Land leicht an Tiraden von der Schollenverbundenheit und damit an überwertige Adaptivitätstheoreme erinnern.57 Trotzdem hat Blackbourn eine solche Geschichte geschrieben, die mit der planmäßigen Kolonisierung des 18. Jahrhunderts beginnt. Er schreibt von inneren Eroberungen durch Flussbegradigungen, Sumpftrockenlegungen und anderen Formen der Landgewinnung und der Siedlungspolitik, die oft in Territorien erfolgten, die zunächst äußerlich erobert wurden. Mit James Scott könnte man von einer Geschichte der state simplifications reden, der vereinfachenden staatlichen Wahrnehmungsraster, die über die Wirklichkeit, eben auch über die zu beherrschende Natur gelegt werden, um Siedlungsoptimierung und Optimierung der Ressourcenextraktion zu betreiben.58 Es sind Vorgänge, die stets die Natur/Kultur-Grenze verschieben und modellieren. Zwar kann man wohl fast immer darauf hinweisen, dass es den 53 54

55 56 57 58

Vgl. dazu Waechter 1996 (wie Anm. 48), S. 112, Anm. 146 mit weiterer Literatur. Vgl. Natter, Wolfgang: Umstrittene Konzepte. Raum und Volk bei Karl Haushofer und in der ‚Zeitschrift für Geopolitik‘. In: Middell, Matthias (Hrsg.): Historische West- und Ostforschung in Zentraleuropa zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg. Verflechtungen und Vergleich. Leipzig 2004, S. 1-28; Wolter, Heike: „Volk ohne Raum“. Lebensraumvorstellungen im geopolitischen, literarischen und politischen Diskurs der Weimarer Republik. Eine Untersuchung auf der Basis von Fallstudien zu Leben und Werk Karl Haushofers, Hans Grimms und Adolf Hitlers. Münster u.a. 2003; Polelle, Mark: Raising cartographic consciousness. The social and foreign policy vision of geopolitics in the twentieth century. Lanham 1999. Vgl. Blackbourn, David: Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft. München 2007, S. 359-372. Vgl. ebd., S. 369. Vgl. ebd., S. 29. Vgl. Scott, James C.: Seeing like a State. How Certain Schemes to Improve the Human Condition Have Failed. New Haven/London 1998.

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absolut unberührten Naturzustand eben nie gab, der erfasst und zivilisiert worden wäre. Aber auf der Ebene der Selbstwahrnehmung der Akteure wurde jedenfalls diese Natur/Kultur-Grenze geformt. Es führt also wohl kein Weg zurück zu Turners latent lamarckistischer Theorie, in der „der Westen“ und „die Grenze“ und die von ihnen ausgehenden Wirkungen ontologisiert werden. Und eine parallele frühneuzeitliche GrenzHeuristik findet sich auch nicht. Aber die Frage nach der Natur/KulturGrenzverschiebung ist wieder – an der Grenze von Umwelt- und Allgemeingeschichte – durch Blackbourn nachhaltig zum Thema gemacht. Und für ihre Wirkmächtigkeit sind Heuristiken, die die Grenze als Beobachtungsgegenstand im Blick haben, nicht selbst als unbefragtes Formationselement von Geschichte instrumentalisieren, hilfreich – etwa die wahrnehmungshistorisch prononcierte, freilich zuweilen etwas verfeinerungsbedürftige Suche nach „state simplifications“ bei James Scott.59

Schluss Der Beitrag hat drei Anläufe genommen, um die Natur-/Kultur-Grenze in ihrer Relevanz für die Frühneuzeit-Geschichtsschreibung auf Objekt- wie auf Heuristik-Ebene einzukreisen. In allen drei Fällen ging es letztlich um die Überschreitung von Raum- und Kulturgrenzen zwischen Europa und Afrika sowie zwischen Europa und Amerika. Im ersten Schritt wurde gezeigt, welch unterschiedliche Grenzüberschreitungen auf der Objektebene frühneuzeitlicher Praxis botanischer Expeditionsfahrten zu beobachten sind, welche Kräfte hier auch zu bemerken sind: Kräfte der Selektion, der Visibilisierung und Invisibilisierung bei kognitiven Grenzüberschreitungen der Natur-Transcodierung; dialektische Kräfte der Freisetzung von Impulsen zu Lokaluntersuchungen bei globalem Ausgreifen der Naturerfassung; schließlich wurde deutlich, wie „Natur“ hier letztlich als Kulturprodukt bei der Übersetzung aus dem einen kulturellen Code in den anderen hergestellt wird. Die dabei beobachteten Formen der Grenzen und Grenzüberschreitungen waren Teil der frühneuzeitlichen Welt, wie wir sie rekonstruieren. Als frühneuzeitliche Grenztheorien selbst im Natur/Kultur-Bereich haben wir hingegen an die Klimatheorien als vielleicht am stärksten globalen und makrotheoretischen Grenztheoriekomplex der Frühen Neuzeit erinnert, innerhalb dessen allerdings Konzepten der Überschreitung der Klimagrenzen erstaunlich wenig Platz eingeräumt wurde: So verblieb in den Klimatheorien eine Leerstelle der Erklärung und Systematisierung der zentralen Vorgänge, die die Frühe Neuzeit so sehr prägte, der Eroberung Ame59

Vgl. ebd.

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rikas; dass gerade für dieses Phänomen im 20. Jahrhundert eine biokulturelle Grenzüberschreitungstheorie als Heuristik entwickelt wurde (Crosbys Konzept des ökologischen Imperialismus), zeigte im Vergleich einen deutlichen Unterschied – eine Epochengrenze – zwischen vormodernen und spätmodernen Bedingungen und Möglichkeiten des Denkens der Natur/Kultur-Grenzen. Die These Turners von der Überschreitung der Grenze zum „Wilden Westen“ als einer Art Kernschmelzinstanz, die aus Europäern in Abarbeitung an der amerikanischen Natur gelöschte und wieder beschriebene Menschen-Einheiten, nämlich „Amerikaner“ macht, zeigte in ihrer spekulativen Vorgehensweise, gemischt soziokulturell-natürliche Gesetzmäßigkeiten zu postulieren, eine erstaunliche strukturelle Nähe zu den frühneuzeitlichen Methoden, etwa der Klimatheorie. Ein genaues Äquivalent für Turners Adaptionismus hat es in der Frühen Neuzeit freilich nicht gegeben; der ontologisierend-adaptionistische Spekulationismus macht Turners These heute unanwendbar – die Frage aber, wie Menschen, Staaten, Herrschaftssysteme nicht nur „rein soziale“ Wirklichkeiten gestalten (sofern es diese in „Reinheit“ irgend gibt), sondern noch tief greifender, das Soziale übersteigend, biokulturelle Grenzen und Formen modellieren und durch ständige Überschreitungen biokultureller Grenzen selbst geformt werden, ist eine Frage, die in der jüngsten Zeit immer mehr unsere Aufmerksamkeit gewinnt: Nach der Entpolitisierung der Umweltgeschichte und dem Ende ihrer Fixierung auf industriehistorische „Verschmutzungsgeschichten“60 kann dieses jüngere Forschungsfeld, dessen Gegenstand nun schlicht das „Natur-Mensch“-Grenzverhältnis in der Geschichte ist, hier thematisch befruchtend in die allgemeine Frühneuzeitgeschichte ausstrahlen.61

60 61

Diesen vielleicht etwas provokanten Begriff verwenden Winiwarter, Verena/Knoll, Martin: Umweltgeschichte. Eine Einführung. Köln 2007, S. 57-64. Vgl. nur McNeill, John R.: Observations on the Nature and Culture of Environmental History. In: History and Theory 42 (2003), S. 5-43, hier S. 6: Environmental history sei schlicht „the history of the mutual relations between humankind and the rest of nature“.

THOMAS MÜLLER

Entgrenzte Nation und suspendierte Normalität Das völkische „Grenzraum“-Konzept und seine Bedeutung für die Entgrenzung politischer Gewalt im Deutschen Reich

Die Linie als Raum In der Moderne separieren Grenzen die Gesellschaft und formieren sie zum Nationalstaat. In den Grenzen zeigt sich das in zwischenstaatlichen Verhandlungsprozessen verrechtlichte Ergebnis politischer oder militärischer Auseinandersetzungen. Als solches können sie sich an geographischen Landmarken oder sprachlichen Gegebenheiten, wirtschaftlichen Zweckmäßigkeiten, historischen Grenzverläufen oder soziokulturellen Unterschieden orientieren, müssen dies jedoch keineswegs zwingend, denn moderne Grenzen begegnen uns ebenso in abstrakter, beispielsweise an das Gitter der Längen- und Breitengrade angelehnter Variante. In jedem Fall sind die Grenzen der Nationalstaaten Linien, die vertraglich beschrieben, kartographisch fixiert, im Realraum markiert und durch spezielle Institutionen und Infrastrukturen verwaltet und kontrolliert werden können. Die Grenzlinien territorialisieren damit den Souverän; sie beschränken die legitime Ausübung seiner Macht auf dieses Territorium und stellen eine Trennschärfe zwischen innerer und äußerer Politik mit spezifischen Institutionen und Instrumentarien her. Grenz-Räume hingegen existieren in dieser Logik zwar, jedoch nie auf gleichwertiger Ebene. Vielmehr erscheinen sie als historisch überwundene Vorläufer oder als seltene Sonderformen der linearen Grenze, so etwa als ultima ratio für Gebiete, über deren nationalstaatliche Zugehörigkeit kein Konsens erreicht wurde und die daher entweder dauerhaft durch bilaterale oder internationale Institutionen verwaltet oder temporär mit einem bestimmten Prozedere für eine spätere Entscheidungsfindung (z.B. Referendum) ausgestattet werden. Wie auch immer: Nichtlineare Grenzen sind Ausnahmen, die wiederum von definierten Linien umgrenzt sind. Nicht ein Raum wird zur Grenze, sondern die Grenzen zweier Staaten fallen nicht in einer einzelnen Linie zusammen. Allerdings gilt dies nur innerhalb des nationalstaatlichen Konzepts. Denn definiert die Staatsgrenze innerhalb dieses Konzepts zugleich das Volk, so lösen sich Staats- und Volksgrenze voneinander, sobald ein völkisches Nationskonzept zu Grunde liegt. Die Grenze einer als Volk und nicht als Staat

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aufgefassten Nation kann ohne weiteres auf ein fremdes Staatsgebiet übergreifen; sie ordnet dann einen Teil der auswärtigen der inneren Politik unter und erhebt Anspruch auf eine Geltung der eigenen Macht auf fremdem Territorium. Die Entgrenzung des Souveräns erzeugt unmittelbar den Bedarf nach einer anderen, nicht staatlichen, sondern natürlichen, sprachlichen, kulturellen oder rassischen Grenze, welche die Nation jenseits des Staates reterritorialisiert und damit jenen eigenartigen Zwischenraum des gleichzeitigen Innen und Außen konstituiert, der in der völkischen Ideologie seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert als Grenzmark, Grenzland, Grenzsaum oder Grenzraum bezeichnet wurde. Der völkische Grenzbegriff legitimierte ein vermeintlich natürliches Recht des Souveräns, in die Angelegenheiten „seines“ Grenzraumes und durch diesen in die inneren Angelegenheiten der Nachbarstaaten einzugreifen, deren Souveränität er somit negierte. Vor allem die kleineren Nachbarstaaten stellten sich im völkischen Diskurs als Subjekte illegitimer oder minderer Souveränität dar, die im Grunde selbst nur Grenzländer seien. Es ist evident, dass ein solches Grenzkonzept zu politischer Gewalt tendiert, denn es erzeugt Konfliktzonen genau dort, wo Lineargrenzen diese entschärfen und regulieren. Die Vordenker und Aktivisten einer völkischen Politik waren sich dieses Gewaltpotenzials sehr bewusst und konzeptualisierten den Grenzraum offensiv als einen Raum des Kampfes um das Dasein und den Lebensraum der Nation. Sie entfalteten damit nicht zuletzt eine Projektionsfläche für Entwürfe einer neuen, völkisch gedachten Ordnung der Gesellschaft, des Staates und der Staatenwelt. Die Transformation der Grenze ist, wie sich hier andeutet, sehr eng mit einem konzentrischen Raummodell verknüpft, das Deutschland nicht als einen europäischen Staat neben anderen, sondern als Mitte einer konzentrisch gedachten Raumordnung erscheinen lässt: In der Mitte steht ein deutsches Kernland, um das sich ein inner- und außerstaatliches Grenzland legt, welches wiederum in ein mitteleuropäisches Ausland eingebettet ist. Analog dazu erscheint auch das Volk konzentrisch gegliedert: Im Kernland ein „Binnendeutschtum“, im Grenzland ein „Grenzdeutschtum“, und im Ausland ein „Auslandsdeutschtum“, das sich im äußersten Kreis der Nation als „Inseldeutschtum“ oder gar „Überseedeutschtum“ innerhalb anderer Nationen bzw. auf anderen Kontinenten behauptet. Ging man noch einen Schritt weiter und entkoppelte die Zugehörigkeit zum „Deutschtum“ von der Deutschsprachigkeit, so war der „Staatsboden“ nicht allein von einem deutschsprachigen „Volksboden“ umgeben, sondern um diesen legte sich ein deutscher „Kulturboden“, der deutsch geprägt, aber nicht deutschsprachig sei. Dieses vielfach variierte Modell ermöglicht nicht allein die Definition einer weit über den Staat hinausgreifenden Nation, deren äußerste Peripherie lediglich noch als Übergangsraum darstellbar war. Es definiert darüber hinaus nationale

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Subkollektive, deren Identität nicht den traditionellen regionalen, konfessionellen oder sozialen Zugehörigkeiten folgte, sondern sich aus ihrer Lage im konzentrischen Raum ergab: Ein Binnendeutscher war in einer etwas anderen Weise in die Nation integriert und hatte andere Pflichten zu erfüllen als ein Grenzbewohner, gleich ob dieser Friese, Bayer oder Schlesier war, und diese wiederum waren anders Teil der Nation als ein Auslandsdeutscher, der sich, womöglich in einer sprachlichen Exklave lebend, gegen eine fremde Regierung und innerhalb einer fremden Gesellschaft zu behaupten habe. Das geographische Modell entpuppt sich hier als ein zugleich normatives, innerhalb dessen dem Grenzland eine Schlüsselstellung zugewiesen werden konnte. 1 Als prekäre Region eines Innen, das ins Außen umzuschlagen droht, oder eines Außen, das es mit dem Innen zu vereinigen gelte, war das Grenzland ein Kampfraum, in dem sich der Deutsche in besonderem Maße zu bewähren habe. „Eben dies“, schrieb Arthur Moeller van den Bruck im Krisenjahr 1923, „macht uns als ein Volk zur Nation.“ 2 Die Neukonzeptualisierung der Grenzen war dabei Teil einer Ideologie, die die gewaltbegrenzenden Normen der bürgerlichen Gesellschaft als handlungshemmend ansah und dazu tendierte, das politische Handeln von diesen Normen zu lösen, es gleichsam zu entgrenzen. 3 Die Transformation der Grenze zu einem Raum kann im vorliegenden Beitrag allerdings nur skizziert werden. Um diesen Prozess jedoch zumindest exemplarisch nachzuvollziehen, erscheint es sinnvoll, zumindest einige Hauptlinien zu skizzieren: Die Implikationen des deutschen Nationsmodells der Politischen Romantik; die Bedeutung der Politischen Geographie des ausgehenden 19. Jahrhunderts und ihrer geopolitischen Neuauflage nach dem Ersten Weltkrieg; die ideologische Durchdringung der Grenzkonzepte durch die jungkonservativen Akteure und ihre Relevanz für die Großraum- und Neuordnungspläne des Nationalsozialismus. Welches Grenzkonzept lag hier jeweils zu Grunde, und welche Rolle spielte darin die Entgrenzung der Gewalt?

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Zum „Grenzdeutschen“ als zentraler Symbolfigur der Jungkonservativen vgl. Petzinna, Berthold: Erziehung zum deutschen Lebensstil. Ursprung und Entwicklung des jungkonservativen „Ring“-Kreises 1918-1933. Berlin 2000, S. 108; ders.: Die Wurzeln des RingKreises. In: Schmitz, Walter/Vollnhals, Clemens (Hrsg.): Völkische Bewegung – Konservative Revolution – Nationalsozialismus. Aspekte einer politisierten Kultur. Dresden 2005, S. 139-150, hier S. 141. Moeller van den Bruck, Arthur: Das Dritte Reich, hrsg. von Schwarz, Hans. 3. Aufl., Hamburg 1931, S. 237 (zuerst 1923). Vgl. Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus. 12. Aufl., München 2008 (zuerst engl. 1951).

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Staatsgrenze und Sprachgrenze: Grenzkonzepte des 19. Jahrhunderts Ausgangspunkt des völkischen Grenzkonzepts ist der Rekurs der Politischen Romantik auf die Sprache als Merkmal der Nation – und damit auf die Sprachgrenze. Der Rekurs geschah in einer Situation der Auflösung der frühneuzeitlichen Staatenordnung infolge der Französischen Revolution, er war der Entwurf einer Neuordnung entlang nationaler anstelle dynastischer oder imperialer Grenzlinien. Durch seine aggressive antinapoleonische Stoßrichtung war er vor allem gegen Frankreich gerichtet und konzentrierte sich auf die Legitimation einer politischen Grenzziehung entlang der nur vage lokalisierbaren germanisch-romanischen Sprachgrenze.4 Der politisch-romantische Grenzentwurf wirkte nach seinem Scheitern an den realpolitischen Kräfteverhältnissen – er hatte während des Wiener Kongresses praktisch keine Rolle gespielt – als ein unerreicht gebliebenes Ziel nach. So gehörte das Bemühen, das „Versäumnis von 1815“ nachzuholen, ebenso zur Legitimation der Annexion des Elsass und Lothringens 1871 wie zur Programmatik des Alldeutschen Verbandes um die Jahrhundertwende.5 Eine Realisierung dieses Konzepts war nur möglich, wenn der Verlauf der Sprachgrenze zumindest annähernd bekannt war. Diese aber war in den gemischtsprachigen Gebieten östlich und südöstlich der deutschen Staaten zunächst gar nicht feststellbar, und auch im Norden und Westen war die Sprachgrenze nur vage lokalisiert. Eine Lösung bot Ende der 1860er Jahre das sprachstatistische Verfahren des preußischen Statistikers Richard Boeckh, das auf eine trennscharfe Zuordnung jedes Individuums zu einer „Volkssprache“ setzte und es daher erlaubte, jede Ortschaft und jede Region nach dem Mehrheitsprinzip einer (und nur einer) Sprache und damit einer Nationalität zuzuweisen.6 Allerdings unterschied Boeckh scharf zwischen den Grenzen 4

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Zur Konzeptualisierung der Sprachgrenze vgl. insbesondere Fichte, Johann Gottlieb: Reden an die deutsche Nation. Hamburg 1955, S. 207 (zuerst 1808); Arndt, Ernst Moritz: Der Rhein Teutschlands Strom, aber nicht Teutschlands Grenze. In: Arndts Werke. Auswahl in 12 Teilen, hrsg. von Steffens, Wilhelm. Berlin o.J., 11. Teil, S. 37-83 (zuerst 1813). Vgl. Anonymus: Die deutschen Forderungen von 1815. In: Preußische Jahrbücher 26 (1870), S. 344-366 in Verbindung mit Treitschke, Heinrich von: Was fordern wir von Frankreich. Ebd., S. 367-409; Hasse, Ernst: Deutsche Politik, Bd. 1, Heft 3: Deutsche Grenzpolitik. München 1906, S. 52f. Der Autor war Vorsitzender des Alldeutschen Verbandes. Boeckh legte das Verfahren in seinen beiden Hauptwerken dar und wandte es, soweit das verfügbare Datenmaterial es zuließ, zugleich auf alle deutschen Grenzgebiete an; vgl. Boeckh, Richard: Die statistische Bedeutung der Volkssprache als Kennzeichen der Nationalität. Berlin 1866; ders.: Der Deutschen Volkszahl und Sprachgebiet in den europäischen Staaten. Eine statistische Untersuchung. Berlin 1869.

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der Nationalitäten und denen der Nationalstaaten. Nur unter bestimmten Bedingungen, die er beispielsweise in Elsass-Lothringen gegeben sah, 7 betrachtete er eine gewaltsame Angleichung der staatlichen an die nationale Grenze als legitim und geboten. Nicht in seinem Konzept vorgesehen war auch die gewaltsame Herstellung sprachlich-nationaler Homogenität durch Assimilation oder Vertreibung. In gemischtsprachigen Gebieten sollten vielmehr gegenseitige Minderheitenrechte eingeführt und von neutralen Mächten garantiert werden, während das Individuum frei darin sein sollte, seine Volkssprache zu behalten oder zu wechseln. 8 Boeckhs Konzept unterschied sich damit deutlich vom völkischen Kollektivismus späterer Zeit, der den individuellen Sprachwechsel als nationale Degeneration brandmarkte und von „entdeutschten“ und schließlich „entarteten“ Deutschen sprach. 9 Boeckh wurde auch zum Programmatiker des Allgemeinen Deutschen Schulvereins, des späteren Vereins für das Deutschtum im Ausland (VDA), dessen Kampagnen vor allem auf eine Stärkung der deutschen Grenz- und Minderheitengebiete im Südosten und Osten zielten und sich im Windschatten der von Anfang an radikaleren alldeutschen Bewegung schleichend vom bürgerlich-normativen Fundament abhoben, auf dem Boeckh wie selbstverständlich operiert hatte. 10 Eine weitere Grundlage des Grenzraum-Paradigmas bildete die Geographie mit ihrem traditionellen Konzept der „natürlichen Grenzen“ wie etwa Meere, Wüsten, Gebirgskämme, Wasserscheiden oder Ströme, das im Verlauf des 19. Jahrhunderts um Konzepte sprachlicher oder ethnographischer Grenzen erweitert wurde. Eine zentrale Fragestellung war hierbei, eine geographische Definition für das staatlich zunächst unbestimmte und landschaftlich heterogene Deutschland zu finden. Erst die Gründung des Deutschen Reiches im Jahre 1871 führte zu einer Lösung, denn Deutschland war nun als moderner Nationalstaat innerhalb fixer, linearer und verbindlicher Grenzen fixiert. 11 Die Diskrepanz zwischen Staat und „Volkstum“ war damit jedoch keineswegs verschwunden, sondern wurde unter dem Stichwort Mitteleuropa neu konzeptualisiert. Hatte der Begriff zunächst einen von Frankreich bis zum Ural reichenden Zwischenraum zwischen dem skandinavischen Norden

7 8 9 10

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Boeckh 1869 (wie Anm. 6), S. 17. Vgl. ebd., S. 12-17. Vgl. exemplarisch Loesch, Karl C. von: Eingedeutsche, Entdeutschte und Renegaten. In: ders. (Hrsg.): Volk unter Völkern. Breslau 1925 (= Bücher des Deutschtums 1), S. 213-241. Vgl. Weidenfeller, Gerhard: VDA. Verein für das Deutschtum im Ausland, Allgemeiner Deutscher Schulverein (1881-1918). Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Nationalismus und Imperialismus im Kaiserreich. Bern 1976. Vgl. Schultz, Hans Dietrich: Deutschlands „natürliche“ Grenzen. „Mittellage“ und „Mitteleuropa“ in der Diskussion der Geographen seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts. In: Geschichte und Gesellschaft 15 (1989), S. 248-281.

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und dem mediterranen Süden Europas bezeichnet, 12 so trat im frühen 19. Jahrhundert eine Ost-West-Unterscheidung hinzu. Diese war im Anschluss an Hegels Vorstellung einer von Osten nach Westen verlaufenden Fortschrittsbewegung normativ codiert. 13 Der Grenzraum, der Deutschland konzentrisch umgab, fächerte sich also nach Himmelsrichtungen auf; er strukturierte sich in einen östlichen und einen westlichen, einen nördlichen und einen südlichen bzw. südöstlichen Teilraum, denen bestimmte normative Annahmen zugeordnet waren. Vermutlich war dies der Ausgangspunkt der späteren Konzepte eines „Ostlandes“ (Ostmark, Ostraum) und eines „Westlandes“ (Westmark, Westraum) sowie, wenngleich weniger stark ausgeprägt, einer „Nord-“ und „Südmark“. Mitteleuropa war jedoch mehr als eine Region am Kreuzungspunkt der beiden Achsen des Kontinents. Der Geograph Kirchhoff charakterisierte es vielmehr als einen Raum „deutsche[r] Gesittung“, der mit dem Ende des Heiligen Römischen Reiches in Einzelstaaten zerfallen sei, die jedoch, wenngleich politisch uneins, in geographischer, ethnischer und geschichtlicher Hinsicht noch immer ein „Germanien in Europas Mitte“ repräsentierten. 14 Einen Schritt weiter ging der Geograph Joseph Partsch, als er einen Zusammenschluss der mitteleuropäischen Staaten zu einem Wirtschaftsraum unter deutscher Hegemonie vorschlug, der dann zu imperialer Größe aufsteigen könne. 15 Mit „Mitteleuropa“ war auch eine neue Definitionsmöglichkeit des Grenzraumes gegeben. Es bezeichnete nun nicht mehr nur den Zwischenraum zwischen dem Nationalstaat und der völkischen Nation, sondern zwischen Deutschland und Mitteleuropa, wo auch immer dieses exakt enden mochte. Diese Frage aber war nicht mehr mit dem simplen Verweis auf die Sprache oder eine frühere Territorialordnung zu beantworten, und so finden wir im geographischen Diskurs des beginnenden 20. Jahrhunderts eine Vielzahl geophysischer, anthropologischer, kultureller, militärischer und wirtschaftsräumlicher Kriterien für Grenzen. In seinem einflussreichen Aufsatz „Das geographische Wesen Mitteleuropas“ (1917) schlug etwa Hugo Hassinger vor, Mitteleuropa nicht mit Hilfe eines einzelnen Kriteriums zu umgren12 13

14

15

Vgl. ebd., S. 265. Vgl. den Vortrag von Christoph Bauer (Bochum) auf der Tagung „German Images of ‚the West‘ in the long nineteenth century“ (2.-4. Juli 2009, London) (URL: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=2861 [letzter Zugriff: 11.07.2010]: Tagungsbericht). Vgl. Kirchhoff, Alfred: Deutschlands natürliche Gliederung und seine geschichtliche Grenzverengung. In: Aus allen Weltteilen 28 (1897), zit. bei Schultz 1989 (wie Anm. 11), S. 262f. Vgl. Partsch, Joseph: Mitteleuropa. Die Länder und Völker von den Westalpen und dem Balkan bis an den Kanal und das Kurische Haff. Gotha 1904, zit. bei Schultz 1989 (wie Anm. 11), S. 266.

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zen, sondern nach Zweckmäßigkeitserwägungen von Fall zu Fall zu entscheiden, welche der möglichen Grenzen die optimale sei.16 Die Vielzahl der Möglichkeiten wurde damit zu einem Baukasten, aus dem sich bedienen konnte, wer auch immer eine geographische Legitimation für eine neue territoriale Ordnung am Ende des Weltkrieges suchte. Die Grenze Mitteleuropas war also ein diffuser Raum, in den die eigentliche Grenze erst noch eingeschrieben werden musste.

Wachstumssaum und Kampfzone: Die Politische Geographie und ihre Neuauflage Den neben dem völkischen Nationsmodell vielleicht weitreichendsten Impuls lieferten die anthropogeographischen Arbeiten Friedrich Ratzels. Seine Grenztheorie steht ganz im Kontext der naturwissenschaftlichen, ethnographischen und technologischen Entwicklungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts; Vorstellungen des Wachstums, der Bewegung und Energie spielen für ihn eine zentrale Rolle. Indem er geographische, historische, biologische und kulturelle Prozesse analogisierte, gelang es ihm, wie Hans-Dietrich Schultz treffend anmerkt, „ein empirisch völlig ungesichertes Wissen mit Hilfe der suggestiven Kraft von Bildern auf ein Evidenzniveau zu heben, das mit der Sicherheit von physikalischen Gesetzen vergleichbar ist.“17 Dies gilt insbesondere für Ratzels Konzept der Grenzen. Nicht nur die Grenzen der Staaten und ihrer „Lebensräume“, sondern alle Grenzen der belebten und unbelebten Natur waren für ihn sowohl Räume als auch Bewegungen: „Die scheinbar starre Grenze ist nur das Haltmachen einer Bewegung. [...] So, wie in jedem Augenblicke die Grenze zwischen Land und Meer beim unermüdlichen Heranbranden der Wogen sich neu erzeugt, um bei den Sturm- und Springfluten und tauben Gezeiten nach neuen Stellen vor- und zurückzuwandern, so entstehen auch neue Grenzen bei jeder Ausbreitung und jedem Aufeinandertreffen geschichtlicher Mächte; Grenzen, die zwar oft rasch vorübergehen, aber auch Dauer erwerben, besonders wenn sie an natürliche Hemmnisse der Bewegung sich anlehnen können.“18

16

17

18

Vgl. Hassinger, Hugo: Das geographische Wesen Mitteleuropas nebst einigen grundsätzlichen Bemerkungen über die geographischen Naturgebiete Europas und ihre Begrenzung. Wien 1917. Schultz, Hans Dietrich: Deutsche Geographie im 19. Jahrhundert und die Lehre Friedrich Ratzels. In: Diekmann, Irene/Krüger, Peter/Schoeps, Julius H. (Hrsg.): Geopolitik. Grenzgänge im Zeitgeist. Potsdam 2000, Bd. 1, S. 39-84, hier S. 65. Ratzel, Friedrich: Politische Geographie. 3. Aufl., München 1925, S. 286 (zuerst 1897).

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Entsprechend beschrieb Ratzel die Grenzlinien der Nationalstaaten als temporäre Abstraktionen; sie waren künstliche Grenzen und konnten auch nichts anderes sein. Real war für ihn einzig der „Grenzsaum“ in seiner geschichtlichen Bewegung. Ratzels bekanntestes Theorem war das Gesetz der wachsenden Räume, das die Diskrepanz zwischen der Begrenztheit des Staatsgebietes und dem Wachstum der Bevölkerung als Ursache eines permanenten Kampfes um Lebensraum ansah und damit zum Motor der Geschichte hypostasierte.19 Das Grenzland wurde zur Zone eines „andauernden Verdrängungs- und Vernichtungswettbewerbs“,20 und als Zwischenraum zwischen dem aktuellen Staat und dem „Lebensraum“, den er eigentlich ausfüllen könne, territorialisierte es den darwinistischen Daseinskampf und die in ihm wirksame Gewalt. Ratzel definierte die Grenze in diesem Zusammenhang als das „peripherische Organ“ des wachsenden Staates.21 Grenzgebiete, von denen das Wachstum ausging, bezeichnete er in Anlehnung an die Botanik als „Wachstumssäume“ und kennzeichnete sie als „Zone[n] voll Regsamkeit, Unruhe, Streit und Schaffen“,22 in denen sich „die vorwärts treibende Energie des Wachstums“ verdichte oder in der die „Mächte der Zurückdrängung und des Verfalls“ wirksam würden, wenn die Kraft zur Expansion nicht ausreiche.23 Solche Grenzregionen und ihre Bewohner existierten damit in einer latenten Ausnahmesituation, in der die Furcht vor Verfall und die Aussicht auf Expansion einander gegenüberstanden. Diese Beschreibung der Grenzen als organische, dynamische und prekäre Räume übte auf die spätere Konzeptualisierung und Ideologisierung der Grenze eine starke Wirkung aus. Verstärkt wurde dies noch dadurch, dass Ratzel die Grenze auch als einen „politischen Raum“ beschrieb und eine besondere politische Relation zwischen ihr und dem Zentrum des Staates konstatierte. Allerdings war der Begriff „politisch“ bei ihm eher mit „öffentlich“ zu übersetzen, d.h. die Grenze war etwa im gleichen Sinne ein Raum öffentlichen Interesses, wie Verkehrswege, Marktplätze und Orte der militärischen Verteidigung es waren.24 19 20 21

22 23 24

Vgl. Ratzel, Friedrich: Gesetze des räumlichen Wachstums der Staaten. In: Petermanns Mitteilungen 44 (1898). Schultz 2000 (wie Anm. 17), S. 67. Ratzel, Friedrich: Ueber allgemeine Eigenschaften der geographischen Grenzen und über ihre politische Bedeutung. In: Berichte über die Verhandlungen der Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften, Philologisch-Historische Classe 44 (1892), S. 53-105, hier S. 96. Ratzel 1925 (wie Anm. 18), S. 384. Ebd., S. 435. Ratzel, Friedrich: Der Staat und sein Boden. Leipzig 1897 (= Abhandlungen der philologisch-historischen Classe der Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften 17), S. 49f.

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Ratzel begründete seine Theorie zusätzlich mit den Erkenntnissen zeitgenössischer Afrika- und Asienforschungen. Mehrere international beachtete Expeditionen25 hatten gezeigt, dass indigene Gemeinschaften ihre Territorien in der Regel nicht unmittelbar aneinander grenzen ließen, sondern „Grenzsäume“, wie etwa Wälder, Sümpfe oder Berge, zwischen sich beließen. Solche „Grenzsäume“ oder „Grenzmarken“ konnten auch künstlich durch gewaltsame Entvölkerung hergestellt sein, oder sie konnten umgekehrt zum staatenlosen Siedlungsgebiet für ausgeschlossene Gruppen werden, die dann unter Umständen ein eigenes Gemeinwesen mit einem eigenen „Grenzsaum“ begründeten. Ratzel sah hier die Urform der Grenze schlechthin.26 Erst das Wachstum der Bevölkerungen und die Besiedlung immer neuer Räume habe die Grenzsäume allmählich verschwinden lassen, bis sie schließlich zu einem Raum mit der Ausdehnung Null, zu einer Linie, geworden seien. Die Grenzlinien der modernen Nationalstaaten waren damit also in Wirklichkeit linearisierte Räume. Ratzel sah in dieser Linearisierung einen Hauptgrund für die Entfesselung der ökonomischen und sozialen Dynamik des modernen Europa.27 Doch war dieser Prozess wirklich abgeschlossen? Denken wir Ratzels Geschichtskonzept weiter, so setzte sich die Zusammenziehung der Grenzsäume im Wachstumsprozess der Staaten in ihren „Lebensraum“ hinein fort. Allerdings wuchsen sie nun nicht mehr in einen leeren Zwischenraum, sondern in die Territorien anderer Souveräne hinein. Dieses Wachstum konnten für Ratzel jedoch nur Nationalstaaten einer bestimmten Größe und Stärke vollziehen, während die übrigen früher oder später in diesen aufgehen würden. Konsequent charakterisierte er die kleinen Staaten daher als eine Art selbstständig gewordener Grenzsaum zwischen den eigentlichen Nationen. Im internationalen Kontext wurde Ratzels Geographie als Innovation wahrgenommen und vor allem in Großbritannien zu einer Geopolitik erweitert.28 Politisch wirksam wurde sie aber auch als wissenschaftliches Fundament eines Imperialismus, dessen Primat eine kontinentale anstelle einer überseeischen Expansion war. In besonders radikaler Form war dies die politische Linie der alldeutschen Bewegung des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Anders als Ratzel selbst29 verknüpfte sie das Lebensraum-Konzept mit rassistischen 25

26 27 28 29

Ratzel bezog sich u.a. auf Heinrich Barth, der nach seiner Timbuktu-Expedition von 1849 bis 1855 erstmals von Grenzsäumen als Charakteristikum afrikanischer Gesellschaften gesprochen hatte. Vgl. Ratzel 1892 (wie Anm. 21), S. 50, 96-101. Vgl. Ratzel 1897 (wie Anm. 24), S. 91. Vgl. Ó Tuathail, Gearóid: Intoduction to Part One. In: ders./Dalby, Simon/Routledge, Paul (Hrsg.): Geopolitics. 2. Aufl., London u.a. 2006, S. 17-32. Vgl. die Kritik des deutschen Gobineau-Übersetzers an Ratzels fehlendem Rassismus: Schemann, Ludwig: Die Rassenfragen im Schrifttum der Neuzeit. München 1931, S. 214.

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und antisemitischen Positionen und aggressiven Zukunftsvisionen, die um eine großflächige „Landnahme“ und einen groß angelegten „Bevölkerungsaustausch“ am Ende eines erwarteten europäischen Krieges kreisten. Zwischen den 1890er Jahren und dem Ersten Weltkrieg propagierten die Verbandsvorsitzenden Ernst Hasse und Heinrich Claß die Schaffung besonderer Grenzräume, in denen eine mit diktatorialen Vollmachten ausgestattete Verwaltung eine gezielte Germanisierungspolitik durchsetzen sollte. Sie bezeichneten diese Grenzräume als „Marken“ und „Militärgrenzen“ und rekurrierten damit auf mittelalterliche und frühneuzeitliche Territorialordnungen, verbanden sie jedoch mit modernen bevölkerungspolitischen Konzepten. Sollten die neuen „Marken“ zunächst die französisch-, polnisch- und dänischsprachigen Grenzgebiete innerhalb des Deutschen Reiches germanisieren, so eigneten sie sich gleichermaßen für den Vollzug von Annexionen, die in der alldeutschen Programmatik nach Möglichkeit „frei von Menschen“ (im Sinne einer Umsiedlung der Bevölkerung in das Kerngebiet des unterlegenen Staates) erfolgen sollten.30 Die Offenheit, mit der die Alldeutschen solche Radikalpositionen während des Krieges vortrugen und damit zunehmend in Widerspruch zur Realität gerieten, diskreditierte sie nach der Niederlage 1918 auch innerhalb der radikalen Rechten.31 Daher griffen die zumeist jüngeren Akteure, die sich in den Krisenjahren als Jungkonservative oder auch als Konservative Revolution formierten, wieder auf Ratzel und weniger auf seine alldeutschen Rezipienten zurück. Eine wichtige vermittelnde Rolle spielte hierbei die radikale deutsche Spielart der Geopolitik mit ihrem charismatischen Vertreter Karl Haushofer.32 Haushofer gründete seinen Ansatz auf die internationale Ratzel-Rezeption und erhob den Anspruch, die wesentlichen britischen, amerikanischen, französischen, japanischen und russischen Forschungslinien für die deutsche Wissenschaft fruchtbar zu machen.33 Tatsächlich aber erweist sich sein geopolitisches Konzept der Grenzen als ein politisch motiviertes und ideologisch durchtränktes Programm, das weit über eine Revision der deutschen Gebietsabtretungen durch den Versailler Frieden hinausgriff und auf die Realisierung eines viel größeren deutschen „Lebensraums“ zielte. Da dieser unter den Bedingungen der Demokratie und des internationalen Rechts nicht erreichbar 30 31

32 33

Vgl. Müller, Thomas: Imaginierter Westen. Das Konzept des „deutschen Westraumes“ zwischen Politischer Romanik und Nationalsozialismus. Bielefeld 2009, S. 135-141. Als zeitgenössische kritische Aufarbeitung auf der Basis vornehmlich „grauer“ Literatur vgl. Rohrbach, Paul (Hrsg.): Chauvinismus und Weltkrieg. Bd. 2: ders./Hobohm, Martin: Die Alldeutschen. Berlin 1919. Zu Haushofer vgl. Jacobsen, Hans-Adolf: Karl Haushofer. Leben und Werk. 2 Bde. Boppard 1979. Vgl. Haushofer, Karl: Grenzen in ihrer geographischen und politischen Bedeutung. Berlin 1927, S. 34-36.

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war, knüpfte Haushofer seine 1927 dargelegte Theorie der Grenze an die Erwartung eines „Dritten Reiches“.34 Wichtig in unserem Zusammenhang sind die Veränderungen, die Haushofer am Konzept Ratzels vornahm. So übernahm er dessen Vorstellung von der grundsätzlichen Räumlichkeit, Beweglichkeit, Belebtheit und Prekarität der Grenzen, und wie dieser begriff er sie als Zonen, in denen der Staat um sein Dasein und seinen Lebensraum kämpfte. Allerdings formulierte er diese Aussagen vor dem Hintergrund der Gewalterfahrung des Ersten Weltkrieges und der Gewaltapotheose der jungkonservativen Bewegung neu. In den bis dahin unvorstellbaren Flammenwänden und Schützengräben der Westfront sah er den Prototyp der Grenze des 20. Jahrhunderts. Als solcher war die Grenze ein dreidimensionaler „Grenzkörper“, dessen Substanz einzig und allein der Kampf war.35 Dieser Körper aber war für Haushofer nicht nur organisch strukturiert und biologisch belebt; wenngleich er erst aus der Kriegstechnologie und ihrer verheerenden Wirkung geboren war, so setzte er sich aus den Körpern der Kämpfer zusammen und wurde so selbst zu einem empfindenden und handelnden Kollektivsubjekt, das über das Kriegsende hinaus als ein Kollektiv politischer Grenzkämpfer fortbestand. Nicht nur die Räumlichkeit der Grenzen, sondern auch der Kampf um sie erschien bei Haushofer in einem veränderten Licht. Denn anders als bei Ratzel kämpften in erster Linie nicht Staaten oder Gesellschaften, sondern Rassen gegeneinander, und da diese für Haushofer eigene, miteinander unvereinbare Vorstellungen einer lebensräumlichen Ordnung besaßen, waren auch ihre Vorstellungen von Grenzen unvereinbar. Er führte dies am Beispiel der deutsch-französischen Grenze aus, die nach germanischer Vorstellung durch das Stromgebiet des Rheins und seiner Nebenströme gebildet werde und daher ein Raum sei, während sie nach romanischer Vorstellung durch die Strommitte des Rheines bestimmt und mithin als Linie konzipiert werde.36 Beide Vorstellungen schlossen einander aus und konnten daher letztlich nicht verhandelt, sondern nur erkämpft werden; „hier“, schrieb er über den Rhein, „will die Natur keinen Pazifismus.“37 In der Westfront wie auch in der Westgrenze materialisierte sich daher letztlich die Ungleichheit der Rassen. Haushofer weitete das Grenzsaum-Konzept noch in eine andere Richtung aus, denn durch die Fernwirkung der Kriegstechnologie (insbesondere der Luftstreitkräfte), durch die Reichweite propagandistischer Beeinflussung (ins34 35 36 37

Vgl. ebd., S. 4; ders.: „Das Dritte Reich“. In: Bund Oberland (Hrsg.): Oberland. Ziele und Wege des Bundes Oberland. München 1926, S. 5-10. Vgl. Haushofer 1927 (wie Anm. 33), S. 11. Vgl. ebd., S. 75 sowie in radikalerer Sprache: Haushofer, Karl: Grenzen. Vortrag im Rundfunk vom 1.6.1934. In: Jacobsen 1979 (wie Anm. 32), Bd. 1, S. 552-557. Haushofer, Karl: Rheinische Geopolitik (Vorwort zum Gesamtwerk). In: ders. (Hrsg.): Der Rhein. Sein Lebensraum, sein Schicksal. Bd. 1, Buch 1/I. Berlin 1928, S. 1-18, hier S. 6.

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besondere durch den Rundfunk) und nicht zuletzt durch die Eingriffe des Versailler Friedens in die territoriale Souveränität des Reiches (insbesondere durch Entmilitarisierungen und Internationalisierungen) war auch das Staatsinnere zum Grenzland geworden. Mit anderen Worten gab es kaum eine Region des Reiches, die die Prekarität der Grenze nicht teilte und am Grenzkampf nicht teilhatte.38 Der Grenzkörper verschmolz unter diesem äußeren Druck mit der „Volkheit“, und den aus dieser Symbiose entspringenden „Grenzwillen“39 hoffte Haushofer nun für die Realisierung des „Dritten Reiches“ mit radikal neuen Grenzen zu mobilisieren. Es ist bezeichnend, dass er tyrannischen Herrschern aufgrund ihrer Verfügbarkeit über inhumane Herrschaftsmethoden eine besondere Fähigkeit zum Setzen dauerhafter Grenzen zuschrieb und für ein geopolitisches Denken in extrem großen (Zeit-)Räumen, d.h. für ein von den realpolitischen Verantwortungen und Optionen losgelöstes Handeln plädierte. Haushofers Theorie ging an diesem Punkt unmittelbar in eine politische Programmatik über, die sowohl für den jungkonservativen Grenzlandaktivismus als auch für den Nationalsozialismus attraktiv war. Er selbst war akademischer Lehrer und Förderer von Rudolf Heß und bekleidete während der 1920er und 1930er Jahre eine Reihe volkstumsund grenzlandpolitischer Schlüsselfunktionen, u.a. den Vorsitz des VDA.40

Fronterlebnis und Grenzerfahrung: Jungkonservative Radikalisierung Die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg hatte nicht nur das politischgeographische Denken in der beschriebenen Weist radikalisiert. Sie hatte vielmehr einen breiten, auch von den demokratischen Regierungen und ihren Institutionen getragenen Bedarf nach wissenschaftlicher Fundierung einer Grenzlandpolitik entstehen lassen, die die Lage in den prekär gewordenen Gebieten stabilisierte41 und die abgetretenen Gebiete zumindest kulturell und mental an das Reich band. Für die völkische Bewegung und ihre jungkonservativen Erneuerer war dies ein vorzügliches Aktionsfeld. So entstand um den Deutschen Schutzbund und die Leipziger Stiftung für Volks- und Kulturbodenforschung ein Gefüge universitärer und außeruniversitärer Forschungsinstitutionen, die das Rückgrat der Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften 38 39 40 41

Vgl. Haushofer 1927 (wie Anm. 33), S. 212-224, 242-246. Vgl. ebd., S. 18. Vgl. Koops, Tilman: Karl Haushofer. In: Haar, Ingo/Fahlbusch, Michael (Hrsg.): Handbuch der völkischen Wissenschaften. München 2008, S. 235-238. Vgl. hierfür exemplarisch Blaich, Fritz: Grenzlandpolitik im Westen 1926-1936. Die „Westhilfe“ zwischen Reichspolitik und Länderinteressen. Stuttgart 1978.

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der 1930er Jahre und des Zweiten Weltkrieges bilden sollten. Ihr hegemonialer Forschungsansatz, die maßgeblich von Albrecht Penck formulierte „Volks- und Kulturbodenforschung“,42 begriff das Grenzland als einen Raum beiderseits der deutschen Sprachgrenze. Jenseits dieser Grenze definierten ihre Protagonisten einen deutschen, aber nicht deutschsprachigen Kulturraum, „in dem die deutsche Bevölkerung gegenüber der anderssprachigen zurücktritt, wo sie aber dem Lande den Kulturcharakter aufdrückt oder aufgedrückt hat.“43 Dabei war der „Kulturraum“ weniger durch Sprache, Geschichte und Geographie vordefiniert, sondern erschien produzierbar: „Wo immer auch Deutsche gesellig wohnen und die Erdoberfläche nutzen, tritt er in Erscheinung, ob es daneben zur Entwicklung eines Volksbodens kommt oder nicht.“44 Pencks Konzept verhieß also eine Machbarkeit des „Kulturbodens“, und in diesem Sinne nahm auch jede grenzlandpolitische Arbeit den Raum ein Stück mehr in Besitz. Werfen wir einen Blick auf die Raumideologie der jungkonservativen Akteure, so lässt sich diese als eine Variante des amerikanischen FrontierKonzepts verstehen, das Frederick Jackson Turner als Zeitgenosse Ratzels 1893 dargelegt hatte. Turner verstand die vorrückende frontier des „Wilden Westens“ als eine spezifische Sozialform, in der die europäisch geprägten Siedler, dem ständigen Kampf mit die Natur ausgesetzt, ihr Europäertum ablegten und zu Amerikanern würden.45 Im Selbstbild der Jungkonservativen spielte das Gewalterlebnis des Krieges eine vergleichbare Rolle. Wenn etwa Ernst Jünger die soldatische Bewährung in einem Raum verherrlichte, in dem die alte Welt buchstäblich ausgelöscht werde und in dessen Kraterlandschaften eine neue, ausschließlich der Totalität des Krieges gerechte Welt zum Durchbruch komme, beschrieb er aus ihrer Sicht so etwas wie einen einzigen großen Grenzraum. Dies war der Raum suspendierter bürgerlicher Normalität schlechthin. Sich in diesem Raum zu bewähren, seine Grauen auszuhalten und selbst bis hin zum „Blutdurst“46 grauenvoll zu handeln, erschien Jünger als ein Läuterungsprozess, in dem das Individuum seine normativen Beschränkungen ablege und sich zum Angehörigen einer neuen Führungselite wandle. Es war daher nur folgerichtig, den Krieg nach der Niederlage als un42

43 44 45 46

Vgl. Oberkrome, Willi: Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918-1945. Göttingen 1993; Fahlbusch, Michael: Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Die „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“ von 1931-1945. Baden-Baden 1999; ders./Haar, Ingo (Hrsg.): German Scholars and Ethnic Cleansing, 1919-1945. New York 2005. Penck, Albrecht: Deutscher Volks- und Kulturboden. In: Loesch 1925 (wie Anm. 9), S. 6273, hier S. 68. Ebd., S. 69. Vgl. Turner, Frederick Jackson: The Significance of the Frontier in American History. In: Annual Report of the American Historical Association 1893, S. 197-227. Jünger, Ernst: Der Kampf als inneres Erlebnis. 8. Aufl., Berlin 1940 (zuerst 1922), S. 8.

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abgeschlossen und das Grenzland als eine neue Front zu begreifen, an der sich der Läuterungsprozess unter veränderten Bedingungen fortsetze. Der entscheidende Unterschied aber lag darin, dass Turner in der frontier die Grenze zwischen Zivilisation und Natur sah, während der jungkonservative Grenzkampf nicht in einen vermeintlich leeren Raum, sondern in gleichrangige Nachbarstaaten hinein eindrang. Erst rassistische Konzepte lösten diesen Widerspruch zumindest teilweise auf, indem sie insbesondere die osteuropäischen Nachbarn als minderwertig und naturhaft abwerteten. Wesentlich stärker als der „Westraum“ wurde daher der „Ostraum“ als eine Fläche begriffen, auf der sich eine neue territoriale, soziale und rassische Ordnung an der Grenze Europas zu Asien planen und realisieren ließ. Bevor wir hierauf zurückkommen, sollen jedoch zunächst die Grenzvorstellungen jener Generation genauer untersucht werden, aus der sich die Funktionseliten der nationalsozialistischen Besatzungs- und Bevölkerungspolitik vor allem rekrutierten.47 Ein typisches Beispiel für eine ideologisch aufgeladene Vorstellung der Grenze bietet A. Paul Webers graphischer Zyklus „Grenzland“.48 Die neun Holzschnitte (Abb. 1-9) wurden 1932 vom Deutschen Grenzkampfbund als „Bausteine“ zur Finanzierung seiner politischen Tätigkeit herausgegeben und erschienen in Ernst Niekischs Widerstands-Verlag, für den Weber seit 1929 als Grafiker und seit 1931 als Mitherausgeber der gleichnamigen Zeitschrift tätig war.49 Für Niekisch und den Autorenkreis des Widerstand war der „Grenzkampf“ Bestandteil einer nationalrevolutionären Strategie, die ihre Basis weniger an der Peripherie, sondern im Zentrum des Deutschen Reiches suchte und den Kampf gegen die Versailler Friedensordnung mit der Forderung an die Jugend verknüpfte, den 1918 abgebrochenen militärischen Kampf wieder aufzunehmen und eine deutsche Weltgeltung durchzusetzen. Von den jungkonservativen Bünden forderte Niekisch daher ein klares Primat der Außenpolitik gegenüber antikommunistischen und antisemitischen Orientierungen, wenngleich der Antisemitismus fester Bestandteil des eigenen Konzepts blieb. Diese Politik schloss für ihn die vollständige Ablehnung der Weimarer Demokratie und der westlichen Zivilisation ein, der er eine Rückkehr in die „Primitivität“ entgegenstellte.50 47

48 49 50

Vgl. Herbert, Ulrich: Wer waren die Nationalsozialisten? Typologien des politischen Verhaltens im NS-Staat. In: Hirschfeld, Gerhard/Jersak, Tobias (Hrsg.): Karrieren im Nationalsozialismus. Funktionseliten zwischen Mittelweg und Distanz. Frankfurt a.M. 2004, S. 17-42. Weber, A. Paul: Grenzland. 9 Holzschnitte, hrsg. vom Deutschen Grenzkampfbund. Berlin 1932. Vgl. Fischer, Rudolf: Der Zeichner A. Paul Weber. In: Widerstand 4 (1929), S. 377-380. Vgl. Niekisch, Ernst: Revolutionäre Politik. In: Widerstand 1 (1926), S. 1ff.; Niccolo [Pseud.]: Unser Standort. Ebd., S. 17f.; Niekisch, Ernst: Wehrverbandspolitik. In: Wider-

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Der von Heinz Baethge verfasste Begleittext zu Webers Holzschnitten definiert den „Grenzkampf“ von vornherein als Krieg. Obschon „in seiner ganzen vernichtenden Härte“ erst mit dem Ende des Ersten Weltkrieges beginnend (und damit das Grauen der eigentlichen Kriegszeit übertreffend), wird der „Grenzkampf“ bei ihm zu einem überhistorischen Prozess, der aus Boden und Blut resultiert. Dieser chthonische und archetypische Charakter lässt den „Bauern“ zum Soldaten des Grenzlandes werden und pars pro toto für das gesamte „Volk“ stehen: Durch ihn kämpft „die ganze Nation um ihren Schicksalsraum“. Der „Grenzkampf“ sollte also als eine neue Nationswerdung der Deutschen begriffen werden.51 Webers Holzschnitte visualisieren den Typus eines ganz und gar von der Prekarität der Grenze durchdrungenen Deutschen, kurz: eines „Grenzdeutschen“. Auf dem ersten Blatt „Die Hauschronik“ erkennt Baethge das „harte, kampfdurchfurchte Antlitz des Bauern“, der unter den Bildern seiner Ahnen ein neues Kapitel der Chronik zu schreiben versucht, doch immer wieder auf die „einzige quälende Frage“ zurückgeworfen wird: „Was wird morgen sein?“ Die folgenden Blätter zeigen historische Szenen: Den Zug bäuerlicher Siedler im Schatten der Deutschritter, für Baethge ein Sinnbild für „Entschlossenheit und Herrenwillen“ („Vor siebenhundert Jahren“); das Errichten von Palisaden gegen eine anbrandende dunkle Flut in harter körperlicher Arbeit („Wider die Flut“) und die Urbarmachung eines Ackers („Heimat“). Auf die Darstellung eines Jungen und eines Mädchen, die unter schwerer körperlicher Anstrengung einen Stein vom Acker fortschaffen, folgt das Bild eines Jungen, das sich des Angriffs einer Gruppe Gleichaltriger erwehrt, die sich mit Steinen und Stöcken bewaffnet haben („Harte Jugend“). Beide Bilder lassen den Grenzkampf als prägendes Moment persönlicher Biographie erscheinen: Die Steine im Ackerboden und diejenigen in der Hand der Angreifer bilden das negative identitätsstiftende Moment, das, wie der Kampf gegen die Flut, die Mobilisierung sämtlicher Kräfte erfordert und bereits die kindliche Wirklichkeit konstituiert. „Auf den Kindern schon liegt die ganze Härte grenzdeutschen Schicksals. Weil sie Deutsche sind, müssen sie kämpfen oder werden mit Füßen getreten.“

51

stand 2 (1927), S. 13-25; ders.: Sammlung zum Widerstand. In: Widerstand 3 (1928), S. 151-162; Anonymus: Die Politik des deutschen Widerstandes. In: Widerstand 5 (1930), S. 97-99. Weber 1932 (wie Anm. 48), o.S.

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Abb. 1: „Die Hauschronik“

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Abb. 2: „Vor siebenhundert Jahren“

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Abb. 3: „Wider die Flut“

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Abb. 4: „Heimat“

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Abb. 5: „Harte Jugend“

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Abb. 6: „Der Überfall“

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Abb. 7: „Die Grenze“

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Abb. 8: „Abgeschlagen“

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Abb. 9: „Das Ende“

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Die folgende Grafik „Der Überfall“ überträgt die Szenerie in die Welt der Erwachsenen: Ein bewaffneter Reiter überfällt eine Gruppe pflügender Bauern, deren Existenz, „immer“ in der Gefahr steht, „ausgelöscht zu werden“ („Der Überfall“). Dieses Motiv der permanent drohenden Vernichtung, die einzig durch den „Willen zum Kampf“ abgewendet werden könne, findet sich auch auf den letzten beiden Blättern. Auf dem Blatt „Abgeschlagen“ richten ein Mann und eine Frau ihre Gewehre auf die Silhouette eines Angreifers, während im Vordergrund ein Maurer in sich zusammensinkt und das Gebäude, das zu errichten er begonnen hatte, unfertig zurücklässt. Lediglich ein Bretterzaun gibt dem Paar Deckung, und für die Versorgung des Verletzten bleibt keine Zeit. Für Baethge zeigt Weber damit, dass „Arbeit“, „Familie“, ja der gesamte Lebensalltag im Grenzland „unter den Gesetzmäßigkeiten des Feldlagers“ stehen: „es gibt nichts, das nicht ‚politisch‘ wäre“. Was der Titel „Abgeschlagen“ bereits andeutet, wendet Webers abschließendes Blatt „Das Ende“ ins Apokalyptische: Der Bauernhof steht in Flammen, die Leichen der getöteten Bewohner liegen in einer Reihe vor dem Zaun. Die Hauschronik, mit der Weber den Zyklus eröffnete, verbrennt, und was bleibt, ist die Forderung nach einem noch entschlosseneren Kampf: „Der Kampf geht um das Erbe deutscher Geschichte, um die Zukunft deutscher Geltung. Die Vernichtung des deutschen Grenzlandbauern bedeutet die Auslöschung deutscher Geschichte im Grenzland und die Beseitigung des deutschen Antlitzes der Scholle. Das Grenzland selbst kämpft längst gegen das ‚Ende‘“, lautet Baethges Schlussappell. 52 Die Forderung, „Feldwachen“ und „Vorposten“ in einem allgegenwärtigen Grenzland zu sein, war für Adressaten der Holzschnitte Gemeingut. 53 Weber verzichtet weitgehend auf eine Darstellung der Grenze selbst; das Grenzland erscheint weniger als eine geographische, denn als eine biographische und emotionale Realität. Nur ein einziges, zwischen die Szenen „Der Überfall“ und „Abgeschlagen“ eingefügtes Blatt zeigt „Die Grenze“, und auch dies nur mittelbar. Sie ist der dunkle Raum hinter den an einer Uferböschung jäh abreißenden Gleisen einer Eisenbahn und die Leere zwischen den Pfeilern einer zerstörten Brücke, die einst beide Ufer des Flusses verband. Aus dem deutschen Strom ist eine deutsche Grenze geworden, die, obschon nur in ihren Symptomen sichtbar, das jenseitige Ufer ins Schemenhafte verschwimmen und mit dem Nachthimmel verschmelzen lässt. Baethge beschreibt das Dargestellte als eine „sterbende Landschaft“, deren Tod durch die aus „Vernichtungswillen“ und „mörderische[m] Haß“ entsprungene

52 53

Ebd., o.S. Vgl. für den Widerstand-Kreis Götz, Nikolaus: Widerstandstagung auf Burg Lauenstein. In: Widerstand 5 (1930), S. 342-345, hier S. 343.

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Grenze verursacht sei. 54 Das prekäre Bild des Grenzlandes als Kampfraum der Nation und Raum ihrer drohenden Vernichtung ist zum Bild eines Landes zugespitzt, das durch die Grenze getötet wird. Es ist ein Raum, der keine andere Politik zulässt als eine auf die Eliminierung der Grenze gerichtete. Als Projektionsfläche jungkonservativer Ideologie geriet das „Grenzland“ zu einer Art symbolischer Durchbruchslinie im Kampf um eine grundlegend neue politische und territoriale Ordnung. Die meisten studentischen und bündischen Organisationen dieser Couleur konzentrierten ihren politischen Kampf daher ganz oder teilweise auf die Grenzen; sie gründeten eigene und übergreifende „Grenzland-“, „Ost-“ oder „Westämter“, die sich zu einer regelrechten „Grenzlandbewegung“ vernetzten. 55 Ein in diesen Kreisen verbreitetes visuelles Medium war die so genannte Suggestivkarte. Arnold Hillen Ziegfeld, der diese emotionalisierende Kartographie in den 1920er Jahren maßgeblich prägte und selbst an der Schnittstelle der jungkonservativen Grenzlandbewegung zur frühen NSDAP operierte, veröffentlichte eine kaum überschaubare Zahl solcher „Kartographiken“. Elemente der Werbegrafik aufgreifend, verzichtete sie weitgehend auf topographische Zeichen; an ihre Stelle legten sich geometrische Strukturen, aber auch Piktogramme und Textfelder über den kartierten Raum. 56 In suggestiver Weise zeigten sie nicht nur die Pluralität der Grenzlinien und die Konzentrik der Grenzländer, sondern entwickelten eine eigene, ausgesprochen moderne Bildsprache. Diese brachte vor allem zum Ausdruck, dass die Grenzen nicht einfach nur flächig geworden waren, sondern dass sie eine hohe Energie und Dynamik in sich bargen. Sie bildeten die Grenzen etwa innerhalb von Energie- oder Gravitationsfeldern ab, die sich strahlen- oder wellenförmig von innen nach außen verbreiteten. So zeigte die 1931 veröffentlichte Karte Das Wirtschaftschaos seit 1919 57 (Abb. 10) ein deutsch-polnisches Grenzland, in dem die Wirtschaftszentren wie Energiefelder dargestellt sind. Ihre unterschiedliche Farbgebung evoziert den Eindruck einer Umkehr ursprünglich deutscher Wirtschaftskräfte durch den polnischen Gegner, und ein massiv überzeichneter Pfeil, der die „Kohlenausfuhrpolitik Polens“ andeuten soll, ist wie ein schwarzer Balken in die Mitte des Kartenbildes gelegt, wo er die frühere westpreußische Wirtschaft geradezu unter sich begräbt – auch hier also das Bild eines durch die Grenze zerstörten Landes. Andere Suggestivkarten bilden Stromsysteme und Verkehrsinfrastrukturen als ein dicht geknüpftes Netz ab, das durch die 54 55 56

57

Weber 1932 (wie Anm. 48), o.S. Vgl. Müller 2009 (wie Anm. 30), S. 252-264. Vgl. Herb, Guntram Henrik: Under the Map of Germany. Nationalism and Propaganda 1918-1945. London 1997; zu Ziegfeld vgl. ebd., S. 82f.; vgl. auch Ziegfeld, Arnold Hillen: Kartographik. Wesen und Aufgabe. In: Volk und Reich 3 (1927), S. 257-260. Ziegfeld, Arnold Hillen: Das Wirtschaftschaos seit 1919 (schematisches Wirtschaftsbild). In: Volk und Reich 7 (1931), S. 413.

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Grenzen der Versailler Ordnung künstlich zerschnitten wird. Sie bilden die Reichweiten gegnerischer Kriegstechnologien ab, stellen die Grenzräume in Anlehnung an Frontverläufe und militärische Operationen dar oder greifen auf Muster zurück, wie man sie aus der Biologie kannte: Räume werden zu organischen Einheiten, zu Zellen der organisch vorgestellten Nation.58

Abb. 10: „Das Wirtschaftschaos seit 1919“ 58

Eine Fülle solcher Karten Ziegfelds findet sich in Volk und Reich 2 (1926) bis 8 (1932).

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Abb. 11: „Das Kerngebiet Europas“ Einige dieser Karten visualisierten die jungkonservative Raumvorstellung in besonderer Weise. Ziegfelds Karte Das Kerngebiet Europas59 (1929, Abb. 11) verortet das Deutsche Reich in der Mitte eines konzentrischen Raumes, der sich flächenhaft, über Teile Frankreichs, Großbritanniens, Skandinaviens, Osteuropas und Italiens erstreckt und sich in ein Kerngebiet und einen Grenzsaum gliedert. Die extrem schematische Art der Darstellung abstrahiert weitgehend von der konkreten Topographie und entfaltet ihre Wirkung vor allem als graphisches Muster. Eine 1927 veröffentlichte Variante zeigt den deutschen „Volks- und Kulturboden“, den Ziegfeld auf der Grundlage der Theorien des Geographen Albrecht Penck kartiert hatte (Abb. 12),60 als Mitte eines solchen konzentrischen Raumes. Dieser erstreckt sich allerdings wesentlich weiter nach Norden, Osten und Südosten und ist als „Schicksalsgemeinschaft der Staaten im mitteleuropäischen Spannungsraum“ definiert. Von mehreren immer schwächer werdenden Grenzsäumen umringt, gliedert er den Raum zusätzlich in eine „nordische, östliche, südöstliche und westliche“ 59 60

Ziegfeld, Arnold Hillen: Das Kerngebiet Europas. In: Volk und Reich 5 (1929), S. 151. Ders.: Der deutsche Volksboden in Vergangenheit und Gegenwart. In: Volk und Reich 3 (1927), S. 30.

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Zone. In zahllosen Varianten halfen solche Karten, die unterschiedlichen Grenzregionen und Nachbarstaaten zu „Ost-“ und „West-“, „Nord-“ und „Süd(ost)räumen“ zu verbinden. So entstanden begriffliche Klammern, die der Inflation der Kriterien, nach denen sich Räume mit ganz unterschiedlichen Resultaten begrenzen ließen, wirksam entgegenwirkten.

Abb. 12: „Volks- und Kulturboden“ Eine Konsequenz dieser Fokussierung auf die Grenze war der schleichende Übergang der politischen Grenzlandbewegung der 1920er Jahre in die akademische Grenzlandforschung der 1930er Jahre, ein Übergang, der sich für zahlreiche Nachwuchswissenschaftler in dem Projekt einer „Neuordnung Europas“ fortsetzen sollte. Ein exemplarisches Beispiel für diesen Übergang

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zum Nationalsozialismus bieten Ernst Anrichs Vorschläge für die Formierung der grenznah gelegenen Universitäten zu „geistigen Grenzfestungen“ mit expansiver Stoßkraft. 61 Seine 1936 veröffentlichten Vorschläge war nicht gänzlich neu, denn bereits die Bonner und Straßburger Universitäten waren nach 1815 bzw. 1871 auf das Ziel einer kulturellen Durchdringung der rheinischen und elsässisch-lothringischen Gebiete ausgerichtet gewesen, 62 und bereits vor 1933 hatte beispielsweise die Deutsche Burschenschaft ein vergleichbares Programm verfolgt. 63 Anrich selbst entstammte familiär und biographisch der Straßburger Forschungstradition und sollte später zum Spiritus Rector der nationalsozialistischen Reichsuniversität Straßburg werden. 64 Seine Vorstellung der Grenze knüpfte an Ratzels Konzept des „peripherischen Organs“ an. Für Anrich war dieser „politische Raum“ von einer Energie beherrscht, die aus dem „mythischen Mittelpunkt“ der Nation durch die Körper ihrer Angehörigen hindurch „rings über die Grenzen“ in einen Raum ausstrahlte, der seinerseits konzentrisch gegliedert war. 65 Innerhalb dieses Energiefeldes war die staatliche Grenze nur von sekundärer Bedeutung; vielmehr war es die energetische Interaktion zwischen Mitte und Peripherie, Innen und Außen, die einen überzeitlichen Zusammenhang der Deutschen herstellte, solange die Strahlenquelle nicht erlosch. Diese Quelle war – hier stand Anrich ganz in der Tradition Fichtes und Herders – göttlichen Ursprungs und sowohl biologischer, als auch geistiger Qualität. Die Argumentationskette Gott – Energie – Nation – Geist mündete daher folgerichtig in der Vorstellung einer „geistigen Grenze“, die zu schützen Aufgabe der Universitäten sei. Anrichs Grenze war also keine geographische Grenze, sondern die Verbindung zwischen den grenznah gelegenen Universitäten und Hochschulen des

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Vgl. Anrich, Ernst: Universitäten als geistige Grenzfestungen. Stuttgart 1936 (= Kulturpolitische Schriftenreihe 6). Die Schrift geht auf eine unveröffentlichte Denkschrift Anrichs mit dem Titel „Bonn als geistige Festung an der Westgrenze“ von 1933 zu Grunde; vgl. hierzu Höpfner, Hans-Paul: Die vertriebenen Hochschullehrer der Universität Bonn 19331945. In: Borchard, Klaus (Hrsg.): Opfer des nationalsozialistischen Unrechts an der Universität Bonn. Gedenkstunde anlässlich der 60. Wiederkehr der Reichspogromnacht. Bonn 1999 (= Alma mater 88). Vgl. die entsprechenden Vorschläge Heinrich von Treitschkes in: Treitschke 1870 (wie Anm. 5), S. 407. Vgl. Koffka, Otto: Burschenschaftliche Grenz- und Auslandarbeit. In: Schulze-Westen, Karl (Hrsg.): Burschenschaftliches Grenzlandbuch. Kampf-, Fahrten-, Tagungsberichte und Aufsätze. Berlin 1932, S. 434-477. Zur Biographie Ernst Anrichs vgl. Kettenacker, Lothar: Nationalsozialistische Volkstumspolitik im Elsaß. Stuttgart 1973, S. 184-194; ders.: Kontinuität im Denken Ernst Anrichs. Ein Beitrag zum Verständnis gleichbleibender Anschauungen des Rechtsradikalismus in Deutschland. In: Paul Kluke zum 60. Geburtstage dargebracht von Frankfurter Schülern und Mitarbeitern. Frankfurt a.M. 1968, S. 140-152. Anrich 1936 (wie Anm. 61), S. 6f.

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„Dritten Reiches“, eben eine „Linie von geistigen Grenzfestungen“. 66 Eine Institution war also zur Grenze geworden – und zwar einer Grenze, die mit den bekannten ideologischen Zuschreibungen versehen war: Anrich beschrieb sie als dynamisch und organisch, setzte sie pars pro toto für die Nation und machte sie zum Modell einer nationalsozialistischen Wissenschaft. So war die Universitäten-Grenze eine „Front“, an der die einzelnen Hochschulen als „Truppenkörper“ operierten. 67 Der Historiker definierte die „geistigen Grenzfestungen“ als Einrichtungen, die „unter der stärksten geldlichen Anspannung des Volkes“ mit „allen notwendigen Vorrechten“ ausgestattet werden müssten, „um eine eigenlebendige Zelle sein zu können.“ Sie sollten also nationalsozialistische Eliteuniversitäten werden, in deren Lehrplänen eine „auf das Volk und das Völkische bezogene Philosophie“ neben die „bisher getriebene“ Staatsphilosophie treten und die „Biologie zum beherrschenden Fach der Naturwissenschaft“ werden sollte. Für die Studierenden standen nicht die Fachinhalte im Zentrum, sondern ihre Vorbereitung auf künftige grenzland- und volkstumspolitische Funktionen; „der Student“ sollte daher zunächst lernen, „warum er ein völkischer Mensch ist.“ 68 Anrich erwartete von den „Grenzlanduniversitäten“ nicht nur eine „soldatisch-körperschaftliche Zusammenarbeit“ mit allen staatlichen und nationalsozialistischen Einrichtungen, sondern vor allem das sie selbst zu maßgeblichen grenzlandpolitischen Akteuren werden. Durch ihre zugleich wissenschaftliche und organisatorische Arbeit würde „das Land“, so hoffte Anrich, „zu einer bewussten und von fremder Kultur unangreifbaren geistigen deutschen Grenzmark“ werden. 69 Als Zentren dieser „Grenzmarken“ sollten die „Grenzlanduniversitäten“ ihr Arbeitsfeld auch auf den „vorgelagerten Raum“ und dessen „andersvölkische Kultur“ ausdehnen. 70 Benachbarten Universitäten sollte ein bestimmter europäischer Raum zugewiesen sein, um ihn in dieser Weise zu bearbeiten: Ein „osteuropäischer Kreis für die gesamten Universitäten der östlichen Grenze, [ein] nordischer und englischer Kreis für die Norduniversitäten, [ein] westeuropäischer Kreis für die gesamten Universitäten der westlichen Grenzlinie von Aachen-Köln bis Freiburg“ sowie ein „südeuropäischer und südosteuropäischer Kreis für die Süduniversitäten.“ Zusätzlich sollte jede einzelne Universität sich auf das unmittelbare „Vorfeld“ ihres Grenzabschnitts spezialisieren und Institute einrichten, die dort „für die neuen politischen Ideen“

66 67 68 69 70

Ebd., S. 21. Ebd., S. 10. Ebd., S. 15-17. Ebd., S. 12. Ebd.

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warben. 71 Die Formierung der „Grenzmark“ griff damit auf nichtdeutsches Territorium über und strukturierte das Gebiet beiderseits der Staatsgrenze in Form eines Gürtels grenzübergreifender „Landschaften“, so etwa eines „alemannischen“, eines „salfränkischen“ oder eines „flämischen“ Raums entlang der Westgrenze. An den entsprechenden Instituten sollten zu diesem Zweck nicht nur Wissenschaftler, sondern auch politische Funktionäre und Aktivisten – „Männer des Kampfes und der Truppe“ – arbeiten. Ihre Institute sollten dann als „Führungsstelle“ im universitären „Truppenkörper“ und als repressives „Kontrollmittel für den Grenzgeist dieser Universität“ fungieren. 72 Es ist nicht schwer, die als „geistige Festung“ auftretende Grenze als Vernetzung hin zu einer politischen, kulturellen und letztlich militärischen Offensive zu verstehen. Die regionale Gliederung des Raumes in grenzübergreifend gedachte „Marken“ zielte jedoch noch weiter, denn sie deutete eine künftige Raumordnung nach völkisch-regionalistischen Kriterien an, die allerdings erst greifen konnte, wenn die „künstliche Grenze“ des Nationalstaats eliminiert war. In diesem Fall erweiterte sie die regionalistische Gau-Struktur, wie die NSDAP sie über die heterogenen innerdeutschen Länder und Provinzen gelegt hatte, in die Nachbarstaaten hinein. 73

„Grenzfall“ und „Großraum“: Carl Schmitt War die Grenze, wie die Jungkonservativen annahmen, ein Raum besonderer politischer Intensität, ein Raum der politischen „Tat“, so bedeutete dies im Umkehrschluss, das sich die Intensität der Politik an der Bereitschaft messen ließ, Grenzen zu setzen und zu überschreiten. Diese Gleichsetzung des Politischen mit Grenze und Grenzkampf verweist auf Carl Schmitts viel zitierte Definition der Souveränität als dem Handlungspotenzial dessen, der „über den Ausnahmezustand entscheidet.“ 74 Für Schmitt fiel diese Entscheidung über den Ausnahmezustand stets in einem Grenzraum, wenn auch einem rechtlich-politischen und nicht notwendigerweise auch geographischen. Dennoch war sein Verständnis des „Grenzfalls“, 75 wie er die Definitionsmacht über Normalität und Ausnahmezustand nannte, leicht auf den geographischen „Grenzfall“ übertragbar. Geschah diese Übertragung, entband sie den 71 72 73

74 75

Ebd., S. 13. Ebd., S. 22-24. Vgl. John, Jürgen/Möller, Horst/Schaarschmidt, Thomas (Hrsg.): Die NS-Gaue. Regionale Mittelinstanzen im zentralistischen „Führerstaat“. München 2007 (= Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte). Schmitt, Carl: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. 2. Aufl., Berlin 1934 (zuerst 1922), S. 11. Ebd.

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die Grenze Überschreitenden von den rechtlichen, moralischen und politischen Normen, die dem im Binnenland Bleibenden auferlegt waren; der „Grenzfall“ entgrenzte das souveräne Handeln und legitimierte den letztlich diktatorischen Zugriff auf die Gesamtheit aller Machtinstrumente und Gewaltmittel: „Die Entscheidung macht sich frei von jeder normativen Gebundenheit und wird im eigentlichen Sinne absolut. Im Ausnahmefall suspendiert der Staat das Recht, kraft seines Selbsterhaltungsrechtes, wie man sagt. [...] So wie im Normalfall das selbständige Moment der Entscheidung auf ein Minimum zurückgedrängt werden kann, wird im Ausnahmefall die Norm vernichtet.“ 76 Diese dezisionistische Definition der Souveränität als „Grenzbegriff“ 77 war im Konzept der verräumlichten Grenze bereits angelegt, sofern wir sie im jungkonservativen Sinne als einen Raum suspendierter Normalität begreifen. Am Vorabend des Zweiten Weltkrieges knüpfte Schmitt unmittelbar an die Grenzbegriffe Ratzels und Haushofers an und implementierte sie in einen Gegenentwurf zum geltenden internationalen Recht. In seinem Aufsatz Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte (1939) verwarf er die Vorstellung linearer Grenzen einschließlich der „Lehre von den natürlichen Grenzen“, denen er mit Blick auf Haushofers Geopolitik ein „Recht bevölkerungsstarker gegenüber bevölkerungsschwachen Ländern“ gegenüberstellte. 78 Dieses „demographische Recht“ verwirklichte sich nicht zwischen rechtlich gleichgestellten und verbindlich voneinander abgegrenzten Staaten, sondern vom Inneren des mächtigeren Akteurs über das Gebiet der schwächeren Akteure hinweg, deren Souveränität damit zur Disposition gestellt war. Damit war ein sozialdarwinistisches Rechtsprinzip entwickelt, das Schmitt nun auf sämtliche Probleme des internationalen Rechts angewandt sehen wollte. Alle „großen Raumprobleme der weltpolitischen Wirklichkeit“ von der Definition von „Interessensphären“ über „Interventionsverbote für raumfremde Mächte“ bis hin zu „völkerrechtliche[n] Protektorate[n]“ seien im positivistischen Staatsrecht „dem unterschiedslosen Entweder-Oder von Staatsgebiet und Nichtstaatsgebiet zum Opfer“ gefallen. Da die Grenze hierbei als „eine bloße Liniengrenze“ aufgefasst worden sei, seien die „Möglichkeit von wirklichen (nicht nur innerstaatlichen) Grenz- und Zwischenzonen“ diesem „staatsbezogenen Gebietsdenken verschlossen“ geblieben. „Selbst neutrale Pufferstaaten, deren Sinn eine Grenz- und Zwischenzone ist und die 76 77 78

Ebd., S. 19. Ebd., S. 11. Schmitt, Carl: Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte. Ein Beitrag zum Reichsbegriff im Völkerrecht. In: ders.: Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916-1969, hrsg. von Maschke, Günter. Berlin 1995, S. 269-371, hier S. 274f.

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ihre Existenz der Vereinbarung von Reichen verdanken, werden als souveräne Staaten auf einer Ebene mit denselben Reichen behandelt.“ 79 Indem nun der Raum die Linie ersetzte, wurden Sonderzonen wie Protektorate, Interessensphären oder Pufferstaaten zur Norm: Der Souverän umgab sich in dieser Logik nicht mehr einfach nur mit einer Grenzlinie, sondern ordnete den Raum um sich herum. Hierdurch aber waren die schwächeren Nachbarstaaten prinzipiell ihrer Souveränität beraubt. Schmitt sprach daher von „eigentümlichen, weder rein innerstaatlichen noch rein außerstaatlichen Bildungen“, kurz von der „Grenzzone“. Er erhob damit das Paradoxon eines zugleich inneren und äußeren Raumes in den Rang eines universalen Rechtssatzes. Träger eines solchen Rechtes konnte freilich nur ein Gebilde sein, das territorial über den Staat hinausgriff, nämlich das durch seine Verfügungsgewalt über den „Großraum“ definierte „Reich“. Schmitt negierte damit das nationalstaatliche Konzept des 19. Jahrhunderts mit seiner trennscharfen Zuordnung eines Territoriums und einer Bevölkerung in radikaler Weise, denn er wies seinem „Reich“ kein eindeutiges Territorium, sondern eine Pluralität möglicher Räume und Grenzen zu: „Sobald nicht Staaten, sondern Reiche als Träger der völkerrechtlichen Entwicklung und Rechtsbildung erkannt sind, hört auch das Staatsgebiet auf, die einzige Raumvorstellung des Völkerrechts zu sein. Das Staatsgebiet erscheint dann als das, was es in Wirklichkeit ist, als nur ein Fall völkerrechtlich möglicher Raumvorstellungen. [...] Andere, heute unentbehrliche Raumbegriffe sind in erster Linie Boden, der in spezifischer Weise dem Volk zuzuordnen wäre, und dann der dem Reich zugeordnete, über Volksboden und Staatsgebiet hinausgreifende Großraum kultureller und wirtschaftlich-industriell-organisatorischer Ausstrahlung. [...] Das Reich ist nicht identisch mit dem Großraum, aber jedes Reich hat einen Großraum und erhebt sich dadurch sowohl über den durch die Ausschließlichkeit seines Staatsgebietes räumlich gekennzeichneten Staat wie über den Volksboden eines einzelnen Volkes.“ 80

Der Grenzraum war damit sowohl von den staatlichen Grenzen als auch vom „Volks- und Kulturboden“ gelöst. Vielmehr war der gesamte „Ausstrahlungsraum“ des „Reiches“ zu dessen Grenze geworden, und in dieser Grenze war qua definitionem keine andere Souveränität als die des „Reiches“ mehr existent, und zwar völlig unabhängig davon, ob die Staaten innerhalb dieses Grenzraumes formal eigenständig waren oder nicht. Schmitts Konzept einer nicht mehr selbst über den Ausnahmefall entscheidenden und damit auch nicht mehr souveränen Grenzzone zwischen den „Reichen“ ähnelte der Vor79 80

Ebd., S. 308f. Ebd., S. 309.

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stellung eines unbesiedelten oder verwüsteten Grenzstreifens, wie ihn Ratzel sich als Urform der Grenze vorgestellt hatte. Schmitts Gegenentwurf zum Völkerrecht schrieb dem „Reich“ in letzter Konsequenz das Recht zu, seine „Grenzzone“ in eine solche „Grenzmark“ zurückzuverwandeln, sobald es dies für erforderlich hielt.

Von der suspendierten Normalität zur totalen Herrschaft Den hier diskutierten Grenzkonzepten der Zwischenkriegszeit ist der Gedanke einer Machbarkeit von Grenzen gemeinsam, bei denen es sich nicht um nationalstaatliche Grenzlinien, aber auch nicht mehr um Natur- oder Sprachgrenzen handelt, wie sie im 19. Jahrhundert zur Territorialisierung der Nation entwickelt worden waren. Es handelt sich vielmehr um abstrahierte Grenzen, die nicht nur in einem realen geographischen Raum verortet waren, sondern zugleich eine ideologische Welt des perpetuierten Kampfes durchzogen. Gemeinsam ist ihnen daher, dass ihre Realisierung innerhalb der gegebenen europäischen Staatenwelt illusorisch schien. Die suspendierte Normalität der Peripherie musste zum Prinzip einer totalen Herrschaft über das Ganze werden, damit diese neuen Grenzen den Kontinent neu strukturiere konnten. Insofern lassen die skizzierten Konzepte erahnen, warum den Raumplanungen der nationalsozialistischen Führung, der akademisch geschulten Funktionseliten und der relevanten Wissenschaften im Zweiten Weltkrieg eine Grenzziehung zugrunde lag, die in gleicher Weise archaisch und monströs erscheint: archaisch, weil sie einmal mehr den mittelalterlichen Terminus „Grenzmark“ rekapitulierte, und monströs, weil allein ihre räumliche Dimension jede frühere Vorstellung einer „Mark“ oder „Militärgrenze“ – selbst die der Alldeutschen – sprengte. Die neuen Grenzen wurden nicht zwischen Staaten, sondern in eine Art leerem Raum gezogen, dessen Bevölkerungen bis hin zu ihrer massenhaften Umsiedlung oder physischen Vernichtung verfügbar geworden waren. Monströs war daher auch und vor allem die Entfesselung von Gewalt, die sich in diesen Planungen und in ihrer beginnenden Umsetzung offenbarte. Karl Haushofer hatte 1937 eine Raumplanung für eroberte Gebiete empfohlen, die die Schaffung einer „Grenz- und Wehrsiedlung“ kontinentalen Ausmaßes mit rassen- und bevölkerungspolitischen Zielen verband.81 Unter dem Stichwort „Ostwall“ begann nach Kriegsbeginn eine in dieser Form 81

Vgl. Haar, Ingo: Biopolitische Differenzkonstruktionen als bevölkerungspolitisches Ordnungsinstrument in den Ostgauen. Raum- und Bevölkerungsplanung im Spannungsfeld zwischen regionaler Verankerung und zentralstaatlichem Planungsanspruch. In: John/Möller/Schaarschmidt 2007 (wie Anm. 73), S. 105-122, hier S. 107.

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rasch wieder aufgegebene Siedlungspolitik, die auf die Herstellung einer deutschen Siedlungszone zwischen den polnischen Bevölkerungen des Generalgouvernements und des Wartegaus bzw. Danzig-Westpreußens zielte. 82 Der 1942 von Konrad Meyer vorgelegte Generalplan Ost übertrug diese regionale Planung auf die Maßstabsebene des gesamten Ostens und Südostens Europas und sah einen deutsch zu besiedelnden „Germanenwall“ zwischen dem Ladogasee und dem Asowschen Meer vor. Die Germanisierung des „Ostraumes“ sollte nach Meyers Vorstellungen von fünf „Siedlungsmarken“ und 36 „Siedlungsstützpunkten“ ausgehen. Die Marken repräsentierten dabei auch ein bestimmtes Herrschaftskonzept, das die staatliche Gewalt in den Händen von „Markhauptleuten“ konzentrierte. 83 Bevölkerungs- und raumplanerische Programme dieser Art sind erst in ihrer Verknüpfung zur Vernichtungspolitik der SS und insbesondere zur Ermordung der jüdischen Bevölkerung verständlich. Was im Kontext des vorliegenden Bandes aber auch interessiert, ist der Rekurs auf Grenzformen des Mittelalters und der frühen Neuzeit, der diese Planungen terminologisch durchzieht. Offenbar besaßen die noch nicht durchgängig linear strukturierten Grenzen und die in ihnen praktizierten Herrschaftsformen eine hohe Attraktivität, um die „Neuordnung“ des europäischen Kontinents und seiner Bevölkerungen zu legitimieren. Ich möchte dies abschließend am Beispiel Rupert von Schumachers verdeutlichen. Auf der Grundlage der Grenztheorie Haushofers und vor dem Hintergrund der jungkonservativen Grenzlandideologie hatte Schumacher im Nationalsozialismus auf eine Geopolitik der Grenzen spezialisiert und während des Zweiten Weltkrieges eine umfangreiche Quellenedition zur habsburgischen Militärgrenze erarbeitet, die allerdings unveröffentlicht blieb. 84 Die „Konfin“, wie er die Militärgrenze (lat. confinium) auch bezeichnete, war für ihn der Inbegriff der Grenze schlechthin. Ganz auf der Linie Haushofers, umschrieb er sie als das „bluthafte Organe völkischer und staatlicher Gemeinschaften“. 85 Sie vereinigte und vollendete für ihn alle früheren Organisationsformen der Grenze und führte die mittelalterlichen „Marken“ unter neu82 83 84

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Vgl. ebd., S. 113. Vgl. Wasser, Bruno: Himmlers Raumplanung im Osten. Der Generalplan Ost in Polen 1940-1944. Basel 1993 (= Stadt, Planung, Geschichte 15), S. 56-60. In der Universitätsbibliothek Trier ist ein unvollständiger Satz von Korrekturfahnen überliefert, die nach Kriegsende zu einem Band Österreichische Militärgrenze (o.O.u.D.) gebunden wurden. Die Korrekturfahnen stammen aus der Zeit zwischen dem 25. Juli 1944 und dem 26. März 1945; einem handschriftlichen Vermerk auf der Titelseite zufolge wurde der Satz der als Heft der Deutschen Schriften für Landes- und Volksforschung im Leipziger Verlag Hirzel geplanten Publikation durch Kriegseinwirkung vernichtet. Schumacher, Rupert von: Des Reiches Hofzaun. Geschichte der deutschen Militärgrenze im Südosten. Darmstadt [1940], S. 269.

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zeitlichen Bedingungen fort. Pathetisch beschrieb er sie 1940 als „gewaltigste grenzorganisatorische Leistung“ der Menschheit „seit der Antike“ sowie „des Deutschtums größte, folgerichtigste und dauerhafteste Grenzorganisation“, 86 bevor der Aufstieg des Liberalismus und die Niederlassung jüdischer Bürger sie zersetzt hätten. 87 Schumacher legte der Militärgrenze also einerseits eine spezifisch völkisch-antisemitische Bedeutung zu, während er sie andererseits als einen Symbolort der deutschen Nation und der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft imaginierte: „Vorwiegend war [recte: waren] es natürlich südostdeutscher Adel und kampfbewußtes Bürgertum aus den Südostmarken des Reiches, die ihr Gut und Blut in stetem Kampf in den Grenzen opferten. Aber auch aus dem ganzen übrigen Reich strömten sie herbei, um in der Konfin Mut, Zähigkeit und Klugheit zu erproben, sei es als unbekannte Soldaten, sei es an einer auch nach außen hin führenden Stelle. Vorbild waren sie alle und zugleich Kitt und Klammer für den ‚Grenzkriegsstaat‘, gleichgültig, ob sie ‚oben‘ oder ‚unten‘ tätig waren.“ 88

In dieser überzeitlichen Militärgrenze, dem „Grenzkriegsstaat“, verschmolzen Raum, Bevölkerung, Recht, Infrastruktur und Kultur zu einer untrennbaren Einheit, hier war Ziviles mit Militärischem identisch; hier lösten sich die Grenzen zwischen den staatlichen Gewalten ebenso wie den politischen Ressorts zugunsten einer totalitären Grenzpolitik auf, deren Ziel es war, „alles Nicht-Kämpferische aus der Grenze fernzuhalten und das gesamte Grenzvolk in die Gußform der militärischen Organisation zusammenzufassen“. Ganz in diesem Sinne charakterisierte er den „Grenzeroffizier“ als einen Vorfahr des nationalsozialistischen Tatmenschen, für den die „Konfin“ das „Land der Freiheit“ darstelle und der bereit sei, „Glaube, Familie, Nahrung, Seele, gesellschaftliche Ordnung und physische Natur“ der Grenzbevölkerung 89 aufs Spiel zu setzen. In Schumachers Charakterisierung des „Grenzeroffiziers“ klingt eine Bereitschaft zur Rücksichtslosigkeit an, wie sie für die Generation des Unbedingten charakteristisch ist. Gerade solche „Männer“, die „heute an der Spitze ihrer Mannschaft brennende Blockhäuser stürmten“ und „morgen für Pflüge sorgten“ personifizierten für ihn die „Konfin“. 90 Allerdings sei die frühneuzeitliche Ordnung nicht mehr unmittelbar realisierbar. Aus dem Erfahrungsschatz der Militärgrenze (und der in ihr repräsentierten antiken, mittelalterlichen und neuzeitlichen Grenzorganisationen), aus dem „Abwehrkampf deutscher Grenzländer“ gegen die Versailler Vertragsbe86 87 88 89 90

Ebd., S. 274. Vgl. ebd., S. 266. Ebd., S. 257. Ebd., S. 263. Ebd., S. 258.

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stimmungen und aus dem Nationalsozialismus sollte sich vielmehr eine neue grenzpolitische Konzeption speisen. Der Bevölkerungstransfer am Ende der griechisch-türkischen Kriege in den frühen 1920er Jahren wies für Schumacher zugleich den Weg zu einer begleitenden Bevölkerungspolitik, und in der japanischen Besatzung der Mandschurei entdeckte er eine Wiedergeburt des „Wehrbauerntums“, die es ebenfalls zu aktualisieren gelte. 91 Wie das Beispiel Schumachers verdeutlicht, findet sich hier also ein zweites Mal die Vorstellung neuer deutscher Militärgrenzen. Was der alldeutsche Verbandsvorsitzende Hasse in der wilhelminischen Ära als Instrument völkischer Homogenisierung gefordert hatte, war nun jedoch zu einer historiographischen Legitimation der nationalsozialistischen Raumordnung geronnen. Allerdings basierte diese nun auf der Expertise einer zwanzigjährigen Grenzlandforschung, die, gestützt auf Angehörige der jungkonservativen Grenzlandbewegung mit ihrer Vorstellung, das erforderliche Wissen und Personal für den Vollzug einer solchen Politik auch tatsächlich bereitstellte. In diesem Sinne stellten die Planungen eines gigantischen Grenzwalls im Osten einen Fluchtpunkt in der Konzeptgeschichte der Grenze dar.

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Vgl. ebd., S. 271-273.

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Probleme der Kartierung politischer und konfessioneller Grenzen in der Frühen Neuzeit Vorbemerkung Der nachstehende Beitrag hat zum Ziel, die am Institut für Europäische Geschichte in Mainz seit 2000 durchgeführten raumbezogenen Projekte vorzustellen und auf ihre Relevanz bezüglich des Themas der Tagung hin zu überprüfen. 1 Gleichzeitig soll das Angebot an digitalen Karten zur Geschichte Deutschlands und Europas vorgestellt werden, da die Serviceleistung für die Scientific Community ein wesentlicher Aspekt dieser Arbeiten ist. Dem Leser sei empfohlen, während des Lesens auf die Online-Bestände zuzugreifen und die jeweiligen Karten – in Farbe – auf dem Bildschirm zu betrachten. 2 Ausgehend von diesen digitalen Kartenbeständen sollen im Folgenden nun drei Themen behandelt werden: 1. Probleme und Konventionen bei der Kartierung von territorialen Grenzen in der Frühen Neuzeit, und zwar am Beispiel einer Kartenserie zu „Europa seit 1500“, die auf dem Server IEG-Maps und auf dem AtlasEuropa liegt. 2. Der Weg von der politisch-dynastischen zur administrativen und konfessionellen Grenze. Dies soll am Beispiel einer Kartenserie zum „Alten 1

2

Der Beitrag war ursprünglich im Themenblock „Grenzgänge – Die Überschreitung konfessioneller und territorialer Grenzen in der Frühen Neuzeit“ angesiedelt. Angesichts seiner grundlegenden Bedeutung wurde er jedoch in den einleitenden Teil des vorliegenden Bandes vorgezogen. Vgl. folgende Web-Adressen: Kartenserver IEG-Maps (http://www.ieg-maps.uni-mainz. de); Digitaler Atlas zur Geschichte Europas seit 1500 (AtlasEuropa, http://www.atlaseuropa.ieg-mainz.de); HGIS Germany. Historisches Informationssystem zur deutschen Staatenwelt 1820-1914 (http://www.hgis-germany.de). Diese drei Projekt-Plattformen sind auch erreichbar von der Homepage des Instituts (http://www.ieg-mainz.de). Von Bedeutung ist darüber hinaus eine Kartenserie zur Frühen Neuzeit, die vom Verfasser im Rahmen eines am Deutschen Historischen Institut in Washington durchgeführten OnlineProjekts erarbeitet wurde: German History in Documents and Images (http://germanhistorydocs.ghi-dc.org/maplist.cfm?section_id=7). Die in dem Beitrag abgebildeten Karten sind – mit Ausnahme der GIS-Karten im dritten Abschnitt – von Joachim Robert Moeschl (Berlin) erstellt worden, dem an dieser Stelle dafür mit Nachdruck gedankt sei. Für die GIS-Karten zeichnet Carolin Heymann verantwortlich, die Bilddateien erstellte Monika Krompiec, denen an dieser Stelle ebenfalls gedankt sei.

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Reich“ (1500-1648), die auf dem Server IEG-Maps, dem AtlasEuropa sowie bei „German History in Documents and Images“ zu finden ist, gezeigt werden. 3. Von der digitalen Kartenserie zum historischen Geo-Informationssystem. Ziel ist es zu überprüfen, ob und wie das speziell für das 19. Jahrhundert erarbeitete historisch-geographische Informationssystem „HGIS Germany“ vom methodischen und technischen Ansatz her auf die Frühe Neuzeit übertragbar ist.

Probleme der digitalen Kartierung territorialer Grenzen in der Frühen Neuzeit Karten zur Geschichte der Frühen Neuzeit (und auch des Mittelalters) haben nahezu alle ein gemeinsames Problem: Sie liegen zeitlich weit vor den eigentlichen „Landesvermessungen“ von Territorien, die, von Frankreich ausgehend, mit einigen Ausnahmen (z.B. Schweden) erst nach 1800 einsetzen. Ist es aber ohne die „Vermessung der Welt“ (D. Kehlmann) nicht vermessen, Genauigkeit einzufordern bzw. sie durch „exakt aussehende Karten“ dem Kartenleser zu suggerieren? Ich meine nein, und zwar aus zwei Gründen. Zum einen bietet die moderne, computergestützte Geographie/Kartographie heute Möglichkeiten, die noch vor 20 Jahren undenkbar schienen, zumal sie die fehlende Genauigkeit historischer Kartenvorlagen durch nachträgliches Einpassen in heutige Geo-Koordinaten („Georeferenzierung“) ausgleicht und somit einen Abgleich mit modernen Karten oder Satellitenbildern („Google Earth“!) ermöglicht. Davon wird unten noch ausführlicher zu berichten sein. Zum anderen kann die heutige digitale Kartographie auch schon mit dem Prinzip der Kartenserie, anstelle der Einzelkarte, wesentlich besser Verlaufsdaten – wie etwa Grenzänderungen – den tatsächlichen Zeitschnitten zuordnen, und zwar auch dann, wenn es sich dabei nicht um georeferenzierte Daten handelt. Von all dem profitiert nun heute auch die Geschichtswissenschaft, denn die mit Informationen überfrachteten Einzelkarten gehören zunehmend der Vergangenheit an und werden sukzessive durch Kartenserien oder komplexe historische Geo-Informationssysteme ersetzt, deren Potential an interaktiv abrufbaren Informationen nahezu unbegrenzt erscheint. Trotzdem bleibt es naturgemäß immer eine Aufgabe des Historikers, den Geographen/Kartographen auf grundsätzliche Probleme in den Kartendarstellungen der Zeit vor 1800 hinzuweisen und diese Probleme durch gebotene Vorsichtsmaßnahmen und Hinweise in den Karten selbst anzusprechen. Mit der (ursprünglich nicht geplanten) Öffnung des Kartenservers IEG-Maps zur Frühen Neuzeit bzw. zum Mittelalter stand dies auch bei uns auf der

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Agenda. An einem Beispiel sei nun erläutert, welche Regeln und kartographischen Konventionen beachtet bzw. umgesetzt worden sind, um den Besonderheiten der Kartenerstellung für Themen in der Frühen Neuzeit und dem Mittelalter gerecht zu werden. In den vergangenen zwei Jahren hat der Server IEG-Maps sein Kartenangebot zur Serie „Die Staaten und Territorien Europas“ auf die Frühe Neuzeit ausgedehnt. Ursprünglich auf den Zeitraum 1800-2000 ausgerichtet, deckt die Serie jetzt den Zeitraum 1500-2008 ab, wobei von 35 Jahresschnitten 16 im Zeitraum 1500-1800 liegen. Der Vergleich zweier Karten aus dieser Serie zeigt nun, welche „Vorsichtsmaßnahmen“ ergriffen werden mussten, um mit Problemen wie Ungenauigkeit von Grenzverläufen („fuzzy borders“) oder an sich fehlenden Informationen („white spots“) umzugehen.

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Betrachtet man zunächst die Karte von 1820 – also bereits im Zeitraum der „vermaßten Welt“, so sieht man eigentlich nur vier Problemgebiete, von denen drei im übrigen an der Peripherie und nicht in Europa selbst liegen. Vier Probleme gibt es, die durch grau-schattierte Flächen markiert und nummeriert sind: 1. Einen „white spot“ gibt es in Nordafrika, wo 1820 noch keine Grenze zwischen Algerien und Marokko existierte und diese auf der Karte deshalb auch nicht eingetragen ist. 2. An der nördlichen Grenze der arabischen Halbinsel fehlen eindeutige Grenzverläufe zwischen dem vom Osmanischen Reich kontrollierten Territorium Palästina und dem Gebiet der Wahabiten. Hier wurde bewusst auf die Einzeichnung von Grenzlinien verzichtet. Nur durch die unterschiedliche Einfärbung von Flächen werden Grenzräume geschaffen, die weniger scharf markiert sind. 3. Dasselbe Verfahren wird beim (geographisch unbestimmten) Gebiet der unabhängigen Tscherkessen am Schwarzen Meer angewendet, wobei an der Ostgrenze des Gebiets noch zusätzlich Schraffur verwendet wird, um die „fuzzy border“ deutlicher zu markieren. 4. In Europa selbst gibt es nur eine Besonderheit, die sich auf sehr kleine Staaten bezieht. Die thüringischen Kleinstaaten sind in der Karte 1820 nicht als Einzelstaaten, sondern als ein Gesamtgebiet Thüringen verzeichnet. Gleiches gilt für die anhaltischen Herzogtümer und die Fürstentümer Hohenzollern. Diese Besonderheit ist dem verwendetet Maßstab geschuldet, der Europa abbilden will und diese Kleinteiligkeit daher nicht unterstützt. Vergleicht man nun diese vier hier gerade erläuterten Besonderheiten mit denen in der Karte Europas des Jahres 1500, so ergeben sich dort deutliche quantitative und auch qualitative Unterschiede: Es gibt mehr „Besonderheiten“, und sie sind auch gravierender. Von Norden nach Süden bzw. Osten nach Westen gehend, sollen sie benannt und kurz beschrieben werden: 1. Lappland: unklare Besitzverhältnisse (Schraffur); Nordschweden und Nordfinnland: kaum besiedeltes Gebiet, umstritten zwischen Moskau und Schweden (weiß belassen). Rote Grenzlinie ist ein Fluss, dessen Rolle als Grenze nicht umstritten war (ansonsten Verzicht auf Grenzlinien). 2. Gebiete des Deutschen Ordens: Gebiete in heller Farbe markieren quasi selbstständige Hochstifte, während die graue Grenzlinie die Lehnshoheit der polnischen Krone markiert. 3. Heutige Ukraine: kaum besiedeltes Gebiet. Rote Grenzlinien markieren wiederum Flussverläufe. 4. Syrien und Palästina: Osmanischer Einflussbereich (unklarer Grenzverlauf).

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5. Irland: Eingefärbt in der Farbe Englands sind nur die (Küsten-)Gebiete mit tatsächlicher Herrschaft, weiß belassen sind diejenigen Gebiete, über die lediglich ein Herrschaftsanspruch bestand. 6. Frankreich: Hell belassen sind die Lehen der französische Krone, die aber nicht in direkter Herrschaft durch die Könige regiert wurden (Herrschaftsanspruch). 7. Hauptstadt: Da dieser Begriff für diese Zeit nicht allein zutreffend ist, wurde „Zentrum des Territoriums“ daneben gestellt. Viele der hier soeben aufgeführten Besonderheiten frühneuzeitlicher Kartographie beziehen sich auf fehlende bzw. unklare und daher in der Regel umstrittene Grenzen. Auch die Beherrschung (oder auch fehlende Beherrschung) von Räumen, manche davon noch dünn oder gar nicht besiedelt, gibt

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es, speziell in Nord- und Osteuropa. Schließlich tritt auch das Phänomen des Herrschaftsanspruchs, essentiell für Staatenbildungsprozesse gerade in der Frühen Neuzeit, als reelles – und damit auch als kartographisches – Problem in Erscheinung. Durch geeignete Signaturen kann auch die digitale Kartographie diese Probleme aufgreifen, standardisieren und somit visualisieren. In IEG-Maps haben wir uns bemüht, dies zu implementieren, nicht nur, aber vor allem in den beiden Hauptserien des Kartenservers zu den politischen Grenzen Europas und Deutschlands seit 1500.

Von der politisch-dynastischen zur administrativ-konfessionellen Grenze Der in den Jahren 2000 bis 2005 am Institut für Europäische Geschichte aufgebaute Kartenserver IEG-Maps war von seiner Grundkonzeption her auf die Neuzeit bzw. die Zeitgeschichte ausgerichtet. Bereits unmittelbar nachdem der Server 2001 online ging, erreichten uns aber viele Anfragen, ob nicht auch für Mittelalter und Frühe Neuzeit digitale Grundkarten zur Verfügung gestellt werden könnten. Nach Beendigung der von der Gerda Henkel Stiftung geförderten grundlegenden Digitalisierungs- und Kartierungsarbeiten für den Zeitraum 1815-2000 wurde diese Idee aufgegriffen, wobei uns eine Kooperation mit dem GHI Washington zu Hilfe kam: Für das dort aufgebaute Online-Dokumentationssystem „German History in Documents and Images“ sollten wir u.a. eine Serie für die Jahre 1500-1648 erstellen, was dazu führte, dass die dafür notwendigen digitalen Grundgeometrien für Deutschland und Mitteleuropa zunächst bis 1789, also für die sogenannte „Sattelzeit“, dann weiter bis 1648 und schließlich bis zum Epochenjahr 1500 zurückgeführt werden konnten. In jüngster Zeit konnte dann – wiederum als Auftragsarbeit – eine Karte für das Jahr 1378 erstellt werden. Damit war auch das Mittelalter erreicht. Auf dem Server IEG-Maps liegen somit Karten für fünf Schnittjahre der Zeitperiode Mittelalter/Frühe Neuzeit zum Abruf bereit: 1378, 1500, 1555, 1648 und 1806. Diese Karten zeigen vor allem die Entwicklung der politischen – und damit in dieser Epoche eben oftmals auch „dynastischen“ – Grenzen der Territorien und Staaten des „Alten Reichs“ und dessen Nachbarstaaten bzw. -territorien. Als Beispiel sei die hier in schwarz-weiß abgedruckte, auf dem Server aber in Farbe abrufbare Karte „Deutschland um 1500“ kurz erläutert. Es handelt sich wiederum um eine Grundkarte mit einem thematischen Bezug, denn sie stellt die politische Einteilung Deutschlands bzw. Mitteleuropas im Jahre 1500 dar, hat also ein „Thema“.

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Die Karte trägt – ähnlich wie auch die oben bereits besprochene Karte „Europa 1500“ – den besonderen Verhältnissen von historischen Grenzen und Räumen in der Frühen Neuzeit Rechnung. Dies ergibt sich aus dem Kartenbild, lässt sich aber auch aus der Legende ablesen. Darin wird differenziert nach: 1. primär dynastischen Grenzen und Räumen (Habsburger Lande, Wittelsbacher Lande usw., unterteilt in dynastische Linien). 2. den geistlichen Territorien. 3. dem Territorialbesitz von Reichsstädten. Damit ist die politische Grundstruktur des Heiligen Römischen Reichs in der Karte visualisiert, dessen Gesamtraum durch die Reichsgrenze nochmals akzentuiert wird. Hierbei wurde auch auf die Besonderheit der Wertigkeit von Grenzen geachtet, denn in Italien ist die Reichsgrenze wegen ihrer minderen Bedeutung nur gestrichelt wiedergegeben. Eine weitere Besonderheit ist, dass für sehr kleine und stark zersplitterte Territorien eine besondere Signatur geschaffen werden musste, da diese in der Karte detailliert kaum darstellbar sind.

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Was ist nun das Besondere an der digitalen Grundlage dieser Karte, die ja ansonsten doch sehr vergleichbaren gedruckten Atlaskarten ähnelt? Vor allem ist das die Tatsache, dass alle Gebiete und Räume separat ansprechbar sind, d.h. man kann – mit geeigneten Programmen – Flächen „isolieren“ und zu einem neuen Thema machen. Will man also etwa die territoriale Entwicklung Brandenburg-Preußens in der Frühen Neuzeit verfolgen, kann man diese Territorien aus dem digitalen Datensatz auswählen, einfärben und benennen, so dass mit vergleichsweise wenig Aufwand eine Karte mit dem Thema „Brandenburg im Reich um 1500“ entsteht:

Der Karte liegt dieselbe Geometrie wie die der Karte „Deutschland um 1500“ zugrunde; allein durch die Auswahl von Flächen (über Schlüssel), die zu Brandenburg gehören, und die darauf basierende neue Einfärbung, Beschriftung und Legende ist quasi eine neue Karte entstanden. Sämtliche Flächen von digitalen Grundkarten des Servers IEG-Maps können auf diese Weise zusammengefasst, selektiert, beschriftet und sogar aus dem Kartenbild herausgezogen werden (als sogenannte „Inselkarten“). Das Erstellen von Deri-

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vatkarten zu unterschiedlichsten Themen ist daher einer der wesentlichen Vorteile der digitalen Kartographie. Will man allerdings andere als politisch-dynastische Grenzen darstellen, sind in der Regel umfängliche Zusatzarbeiten notwendig, da etwa Verwaltungsgrenzen und auch die Grenzen von Kirchenorganisationseinheiten (etwa Bistümer) sich nicht unbedingt aus politisch-dynastischen Grundflächen ergeben. Wir haben daher weitere Grundkarten erstellt, und zwar einerseits mit den Bistumsgrenzen im Alten Reich um 1500, andererseits mit den Grenzen der Reichskreise im Jahr 1512. Auf der Basis solcher neuen Geometrien von Grenzen können nun wiederum „Derivatkarten“ zu neuen Themen entstehen, die sich mit Fragen von Administration oder Kirchenorganisation befassen. Die zeitliche Weiterführung dieser beiden Grundkarten wäre wünschenswert, konnte aber bisher aus finanziellen wie auch personellen Gründen nicht verwirklicht werden. Für beide Themen bzw. Kartenserien müssten interessierte Autoren gefunden werden, die auf der Basis der bereits vorhandenen Ausgangskarten für die weitere Entwicklung ab 1500 recherchieren.

Schließlich können die politisch-administrativen Grenzen auch als Grundlage für Konfessionsgrenzen dienen. Sie erlauben die Zuordnung von Religions-

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bzw. Konfessionsgemeinschaften zu historischen Räumen – durchaus auch von kleinen oder sehr kleinen Räumen –, so dass ein anschauliches und vor allem exaktes Bild der komplexen Gemengelage von „Konfessionsräumen“ beispielsweise für die Reformationszeit entsteht. Im AtlasEuropa ist dies von Johannes Wischmeyer für die komplizierten religiösen Verhältnisse in der schweizerischen Eidgenossenschaft im Jahre 1555 als Kartenthema dargestellt worden: Diese Karte ist ein gutes Beispiel dafür, dass durch die exakte und dabei flexible räumliche Basis, die durch die digitale Kartographie geschaffen wird, neue Raumwelten entstehen; in diesem Falle religiöse Raumwelten, die dann auch zu neuen Interpretationen von historischen Entwicklungen – in diesem Fall die religionsrechtliche Entwicklung der Schweiz im Zuge der Reformation – führen können.

Von der digitalen Kartenserie zum Geo-Informationssystem: Ein „Historisches GIS“ für die Frühe Neuzeit? Geo-Informationssysteme (GIS) sind keine Landkarten, sondern Datenbanken, die alle Informationen vorhalten, um Karten nach Bedarf und Zuschnitt des Nutzers zu erzeugen. Ihr großer Vorteil besteht darin, dass sie sowohl die geographischen Grund- und Attributdaten, wie auch die Sachdaten (also etwa Statistiken) in einem System bereitstellen. Für Historikerinnen und Historiker unerlässlich ist neben der räumlichen naturgemäß die zeitliche Dimension: Erst mit einer „Zeitleiste“ versehen wird ein GIS zum HGIS, also zum historisch-geographischen Informationssystem. Sind die genannten Bedingungen erfüllt, ist ein HGIS ein mächtiges Tool, eine einzigartige Grundlage für historische Visualisierungen und Analysen, da es Zeit und Raum in einem Informationssystem verbindet. In dem am Institut für Europäische Geschichte gemeinsam mit der Fachhochschule Mainz entwickelten Online-Informationssystem „HGIS Germany“ werden nahezu 100 Jahre deutscher Geschichte, von 1820 bis 1914, abgebildet, und zwar durchgängig auf Jahresbasis. Nach dem Prinzip der Zeitreise kann also in jedem Jahr eine virtuelle Reise durch ca. 50 Staaten mit 250 Städten vorgenommen werden, in der die Besucher eine Vielfalt von Informationen – viele davon multimedial aufbereitet – vorfinden. Jedes Jahr hat überdies seine eigene Geometrie: Alle Veränderungen von Grenzen, von der Staatsgrenze bis zu den Verwaltungsgrenzen der mittleren (Regierungsbezirks-)Ebene, wurden recherchiert und in die Geo-Datenbank des Systems implementiert. Das alles erfolgt zudem georeferenziert, so dass die histori-

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schen Abläufe auf moderne raumbezogene Wissensplattformen wie Google Earth portiert werden können. Es ist an dieser Stelle nicht möglich dieses komplexe System vorzustellen, doch fragen Benutzer häufig: Könnte man dieses Informationssystem auch für die Zeit vor 1815/20, also für die Sattelzeit und die Frühe Neuzeit, verwenden? Ist also, andersherum gesagt, ein historisches GIS auch für das 18. oder 17. Jahrhundert (gegebenenfalls sogar noch früher) einsatzfähig? Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Im Prinzip ist das natürlich möglich und machbar, aber es wäre für den gesamten deutschen Raum, bedingt durch dessen territoriale Zersplitterung, eine wirklich „große Aufgabe“, zeitbzw. ressourcenabhängig. Um ein Beispiel zu nennen: HGIS Germany beinhaltete ja die Beobachtung der Grenzen der thüringischen Kleinstaaten, die auch nach 1815 in vielem ja dem Deutschland des Alten Reichs – also der Zeit vor 1806 – ähneln. Wir haben sicherlich die Hälfte unserer gesamten Recherchezeit mit diesen kleinen Staaten verbracht, und auch die Modellierung der Geo-Datenbank wurde durch die verwirrenden, nicht räumlich-logischen territorialen Beziehungen zwischen diesen Kleinstaaten erschwert. Es gibt daher auch inhaltliche Gründe, die eine direkte Weiterführung des GISModells vom 19. Jahrhundert in die Frühe Neuzeit fast unmöglich machen. Der wichtigste Punkt ist, dass vielfach Herrschaftsausübung in der Frühen Neuzeit eben nicht räumlich-territorial, sondern immer auch durch andere Bezüge (z.B. Steuer- oder Zollerhebungsrechte) definiert war. Und mit diesen nicht unmittelbar raumbezogenen Beziehungen tut sich ein geographisches Informationssystem eben schwer. Ein weiteres Problem ist dann naturgemäß die Definition der Flächen, wenn es sie denn gibt, d.h. die oben bereits erwähnten Probleme bei der digitalen Erfassung von Grenzen und Räumen würden hier noch stärker durchschlagen, eben weil ein System wie HGIS Germany auf klar definierten Polygonen aufbaut und bei „fuzzy borders“ keine Alternativen zulässt (obwohl man derzeit daran arbeitet!). Es gibt allerdings eine Möglichkeit, die Problematik mit den Flächen zu umgehen, und zwar indem man ein HGIS der Frühen Neuzeit nicht auf historischen Räumen, sondern auf Orten (Residenzen, Städten usw.) aufbaut. Aus der GIS-Perspektive sind Orte lediglich Punkte, die daher vergleichsweise leicht georeferenzierbar sind und mit lediglich einem Koordinatenpaar in das System eingegeben und verwaltet werden können. Auch hier müsste über lange Zeiträume recherchiert werden, z.B. über Namens- und Funktionsänderungen von Städten, aber dies ist im Vergleich zur Recherche und digitalen Eingabe von Flächendaten eine lösbare Aufgabe. Ein Modell für ein auf Orte bezogenes historisches GIS zeigt die nachstehende Abbildung; das Modell basiert auf der GIS-Komponente, die im AtlasEuropa Anwendung findet.

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Es wird einfach gezeigt, welche Städte (zumeist Hauptstädte oder zentrale Orte, in Deutschland auch die Freien Reichsstädte) derzeit im System vorhanden sind. Den Orten können nun Daten zugeordnet werden, die das „HGIS Frühe Neuzeit“ dann in einer vergleichsweise kleinen Geo-Datenbank verwalten würde (im Kartenbeispiel ist der Datenbank-Eintrag zur Stadt Avignon abgefragt). Diese Daten können auch, wie

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das Beispiel von Avignon zeigt, extern zuschaltbare Karten zum Umfeld des Ortes (hier die Grafschaft Venaissin) sein, so dass auch eine weiterführende Information erfolgt. Ein so konzipiertes historisches GIS könnte zumindest Auskunft über die Entwicklung der wesentlichen europäischen Territorien bzw. Staaten in der Frühen Neuzeit geben – ein multimediales und vor allem immer raumbezogenes Staats- und Städtelexikon.

Resümee Die vorstehenden Bemerkungen haben gezeigt, dass sich der „Ausflug in die Frühe Neuzeit“ nicht nur für die Kartenmacher, sondern potenziell auch für die Nutzer von Karten gelohnt hat. Die besonderen Signaturen in diesen Karten sollen der Garant dafür sein, dass die besondere Problematik von frühneuzeitlichen Grenzen transparent bleibt und bei der Verwendung der (für Forschungszwecke kostenfrei) zur Verfügung gestellten Grundkarten auch weiterhin Beachtung findet. Der Ausflug in die Welt der geographischen Informationssysteme hat, so ist zu hoffen, zudem gezeigt, dass in der GISspezifischen Verbindung von Raum und Zeit in einem Datenbanksystem große Chancen für raumbezogene Analysen sowie für die Archivierung und Bereitstellung historischer Daten liegen, auch und gerade für die Frühe Neuzeit. Insoweit wäre eine Übertragung der HGIS-Plattform auf die Frühe Neuzeit lohnenswert.

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Natur ein-grenzen! Ein umwelthistorischer Zwischenruf Im Rahmen der vielfältigen Problematisierungsmöglichkeiten, die das Phänomen der Grenze zulässt, konzentriert sich der Themenblock „Natur eingrenzen! Ein umwelthistorischer Zwischenruf“ ausschließlich auf das schon nahezu „klassische“ Verständnis der Grenze als einer territorialen Manifestation. Wenn in den folgenden Beiträgen also von Grenzen die Rede sein wird, dann immer in diesem geographisch-politischen Sinn. Es wäre an dieser Stelle gänzlich hoffnungslos und im Grunde genommen auch lächerlich, den Versuch zu unternehmen, Grenzen in einem allgemeinen Sinne beschreiben, geschweige denn definieren zu wollen. Gestattet seien aber einige Bemerkungen, warum Grenzen in der Frühen Neuzeit von Interesse sein könnten und unsere Aufmerksamkeit verdienen. Es handelt sich insbesondere bei territorialen Grenzen um ein Phänomen, von dem man meinen könnte, dass es sich eigentlich durch Eindeutigkeit und Konkretheit auszeichnen sollte – je genauer man jedoch hinsieht, desto diffuser wird der Eindruck und desto unklarer wird, was eine solche territoriale Grenze ist. Zunächst einmal (und damit ist eine Trivialität angesprochen): Es sind nicht so sehr Territorien, die voneinander abgegrenzt werden müssen, sondern es sind vornehmlich Gesellschaften, die sich voneinander abgrenzen wollen und sich zu diesem Zweck räumlicher Markierungen bedienen. Die Bedeutung der Kategorie „Raum“ für gegenwärtige wie für historische Gesellschaften erweist sich nicht zuletzt durch den Blick auf den Rand dieses Raumes. In diesem Sinne wäre es verkürzend, wollte man Grenzen vor allem als Einschränkung, als Freiheitslimitierung oder als notwendiges, am ehesten zu überschreitendes Übel bestimmen. Indem Grenzen einen Unterschied markieren und bekräftigen, wirken sie produktiv. Sie machen beispielsweise aus einem formlosen, ungestalteten Raum ein politisches Territorium. Es ließen sich zahlreiche Funktionen territorialer Grenzen aufführen, wie der militärische Schutz, die rechtliche Rahmenbildung, die Trennung ökonomischer Märkte, die ideologische Unterscheidung differenter Wir-Gruppen oder die sozialpsychologische Orientierung. 1 Gelingt es einer Grenze, eine oder gar alle dieser Funktionen zu erfüllen, dann ist die Überschreitung einer 1

Vgl. Dittgen, Herbert: Grenzen im Zeitalter der Globalisierung. Überlegungen zur These vom Ende des Nationalstaates. In: Zeitschrift für Politikwissenschaft 9 (1999), S. 3-26, hier S. 8-12.

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Grenze nicht einfach nur irgendeine Bewegung im Raum, sondern kann zum Eintritt in eine neue Welt werden. 2 Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass sich die Funktion von Grenzen nicht in Inklusionen und Exklusionen erschöpft, denn schließlich haben die durch die Grenze differenzierten Elemente an eben dieser Grenze ein gemeinsames Interesse. Gerade weil die Grenze trennt, verbindet sie. Markiert die Grenze eine Differenz, so ist sie selbst wieder geprägt durch einen Indifferenzzustand, durch den Punkt also, an dem sich Inklusion und Exklusion aufheben. 3 Oder wie Michel de Certeau es ausgedrückt hat: „Das Paradox der Grenze: Da sie durch Kontakte geschaffen werden, sind die Differenzpunkte zwischen zwei Körpern auch ihre Berührungspunkte. Verbindendes und Trennendes ist hier eins. Zu welchem von den Körpern, die Kontakt miteinander haben, gehört die Grenze? Weder dem einen noch dem andern. Heißt das: niemandem?“ 4

Grenzen suggerieren also Eindeutigkeit, offenbaren jedoch ihre Zwei- und Mehrdeutigkeit, je näher man ihnen kommt. Grenzen sorgen auch deswegen immer wieder für lebhaftes Interesse, weil sich in ihnen, mit ihnen und auf ihnen unterschiedliche Aspekte überblenden. Dabei geht es nicht nur um die bekannten Dichotomien von hüben und drüben, von Trennendem und Verbindendem, die sich in Grenzen konkretisieren, sondern auch um deren „Natürlichkeit“ und ihre Situierung in einer bestimmten Umwelt. Solche Aspekte kommen beispielsweise durch die Thematisierung des (vermeintlichen) Gegensatzes von Natur und Kultur zum Tragen. Grenzen können als exemplarisches Signum dieses binären Schemas gelten, denn sie sollen nicht nur die Differenz zwischen Natur und Kultur markieren, sondern sorgen zugleich für die Verunsicherung dieses angeblich so klaren Unterschieds. Dies offenbart bereits ein Blick auf die Grenze selbst: Ist sie ein Element der Natur, da sie doch häufig mit natürlichen Elementen (Flüssen, Gebirgszügen etc.) in eins fällt, oder ist sie ein kulturelles, weil durch Menschenhand künstlich erschaffenes Objekt? – Eine rhetorische Frage, weshalb an dieser Stelle nur noch einmal der Sicherheit halber wiederholt sei, dass es sich bei Grenzen selbstredend nicht um naturale Gebilde, sondern 2

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Vgl. Guichonnet, Paul/Raffestin, Claude: Géographie des frontières. Paris 1974; Raffestin, Claude: Towards a Theory of the Frontier. In: Diogenes 134 (1986), S. 1-18; Nordman, Daniel: Frontières de France. De l’espace au territoire, XVIe-XIXe siècle. Paris 1998; Sahlins, Peter: Boundaries. The Making of France and Spain in the Pyrenees. Berkeley/Los Angeles/Oxford 1989. Vgl. Simmel, Georg: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, hrsg. von Rammstedt, Otthein. Frankfurt a.M. 1992, S. 695. Certeau, Michel de: Kunst des Handelns. Berlin 1988, S. 233.

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um kulturelle Konstrukte handelt. Mit den Worten Georg Simmels: „Die Grenze ist nicht eine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt.“ 5 Gerade aufgrund des diffusen Eindrucks, den ein näherer Blick auf die Grenze offenbart, lohnt es sich, das Verhältnis von Natur und Grenze in einer umwelthistorischen Perspektive näher zu beleuchten. Dass Natur und Macht, Herrschaft und Politik dabei auf das Engste aufeinander bezogen sind, muss nicht großartig bewiesen werden. Bereits die einfachsten Erscheinungsformen von Landschaften zeigen Spuren von politischen Entscheidungsprozessen. Zu den grundlegendsten dieser Spuren gehören fraglos Grenzen. 6 Wenn sich die Umweltgeschichte nicht nur mit den Wechselbeziehungen zwischen Mensch und Natur in der Vergangenheit beschäftigt, sondern sich auch mit der Rekonstruktion von Umweltbedingungen sowie deren Wahrnehmungen und Interpretationen durch historische Gesellschaften auseinander setzt, 7 dann können politische Fragen kaum außen vor bleiben. 8 In diesem Sinne sei der umwelthistorische Zwischenruf verstanden, den die Beiträge dieses Themenblocks erschallen lassen.

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Simmel 1992 (wie Anm. 3), S. 697. Vgl. Warnke, Martin: Politische Landschaft. Zur Kunstgeschichte der Natur. München/ Wien 1992, S. 14-17. Vgl. Winiwarter, Verena/Knoll, Martin: Umweltgeschichte. Eine Einführung. Köln/Weimar/Wien 2007, S. 14f.; Sieferle, Rolf Peter: Rückblick auf die Natur. Eine Geschichte des Menschen und seiner Umwelt. München 1997, S. 13f. Vgl. Duceppe-Lamarre, François/Engels, Jens Ivo (Hrsg.): Umwelt und Herrschaft in der Geschichte. München 2008.

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Fließende Grenzen Zur Rolle von Flüssen bei der Repräsentation historischtopografischer Räume der Frühen Neuzeit

„Es kan der vortreffliche und anmuthige prospect unnd Ansehen von dem Fürstl. Schloß/ oder andern uff dem Berg situirten Gebäwen nicht genugsamb beschrieben werden/ ja ist allen andern vorzuziehen/ dann von darauß ein grosser Theil des Oberlands Bayern/ sampt der HauptStatt München/ Statt Arding und grosser Anzahl Dörffer/ biß an das Tyrolisch/ Theils Saltzburg- und Algöwische Gebürg in das Aug fallet/ der aus solchem Gebürg herab/ und zu München vorbeylauffend: und reissende Wasser-Stromb Iser genandt/ theilet die schöne Awen/ und gar grosse ebene Möser und Wiesen gleichsamb in der Mitte voneineander/ gegen Occident und auff dem zu Anfang gemeldtem Berg Tetmos ligt das löbliche Benedictiner Closter Weichenstephan genandt/ neben und unter deme der klare Fluß Mosach herfür kompt/ und Theils durch die Statt/ theils neben dem Berg herumb lauffet/ auch unweit von dem Closter Newstifft in die Iser sich ergiesset. Bey einer Stund weit von der Statt gegen Mitternacht ist der schöne Fluß Amper genandt/ so bald hernach ebenmässig in die Iser fallet/ anzutreffen/ […].“1

Der diesen Text illustrierende Kupferstich2 (Abb. 1) repräsentiert die Szenerie grafisch: eine ästhetisch ansprechende Stadt- und Flusslandschaft mit gebirgigem Hintergrund, den Isarfluss und die von ihm durchflossenen Auen zur Linken. Text und Stich entstammen einer Beschreibung des Fürstbistums Freising in der 1657 erschienenen zweiten Ausgabe der Merianschen Topographia Bavariae.3 Beinahe gleichzeitig lobt Caspar Merian (1627-1686) in seiner Widmung an Joachim Enzmilner Freiherrn von und zu Windhag (1600-1678) in der Topographia Windhagiana die Fortschritte der kartografi1

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Merian d.Ä., Matthaeus/Zeiller, Martin: Topographia Bavariae. Das ist Beschreib- und Aigentliche Abbildung der Vornemsten Stätt und Orth in Ober- und Nieder Beyern, Der Obern Pfaltz Und andern Zum Hochlöblichen Bayrischen Craiße gehörigen Landschafften. Frankfurt a.M. 1657 (ND Braunschweig 2005), S. 29. Die Abbildung entstammt dem Exemplar der Anna Amalia Bibliothek Weimar; Druckvorlage: http://de.wikisource.org/wiki/Datei:Freisingen_2_(Merian).jpg (19.03.2010). Zu diesem Stich vgl. Wüthrich, Lucas Heinrich: Die grossen Buchpublikationen II. Die Topographien. Hamburg 1996 (= Das druckgraphische Werk von Matthaeus Merian dem Älteren 4), S. 114f. Vgl. Merian d.Ä./Zeiller 1657 (wie Anm. 1), S. 17-30.

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schen Beschreibung, die im Vergleich zu den antiken Geografen gemacht worden seien. Es würden „die Pässe durch Berge und Wasser so klar vor Augen gelegt/ als immer müglich: Und das flache Land mit den durchschneidenden Ströhmen sehr weit außgedöhnet.“4

Abb. 1: „Die Statt Freisingen gegen Mitternacht“ nach Georg Peter Fischer. Historisch-topografische Literatur der frühen Neuzeit funktioniert in der Regel als Verbund dreier Medien: Kartografie, textuelle Beschreibung und Grafik.5 Sie verarbeitet, transportiert und popularisiert geografisches Wissen. Sie beschreibt Orte, Siedlungen, Regionen oder Länder unter besonderer Berücksichtigung von deren naturräumlich-geografischer, historischer, herrschaft4

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Merian, Caspar: Dem Hoch- und Wohlgebornen Herrn/ Herrn JOACHIMO Freyhern von und zu Windthaag/ Herrn auff Pragthall/ Müntzbach und Säxeneck/ auch Aigenthumherrn der Herrschaft Reichenaw am Freywald/ unnd Groß-Poppen/ etc. der Römisch Kayserl. Mayest. Rath/ unnd Regenten der N. O. Landen etc. etc. Meinem gnädigen Herrn. [Widmung zur Topographia Windhagiana. Frankfurt a.M., 29.08.1656]. In: Wüthrich, Lucas Heinrich (Hrsg.): Topographia Provinciarum Austriacarum. Austriae Styriae/ Carinthiae, Carniolae/ Tyrolis etc. Frankfurt a.M. 1649 (ND Kassel/Basel 1963), Anhang 1656, S. (III) 3; zur Landschafts- und Architekturdarstellung in der Topographia Windhagiana vgl. Völkel, Michaela: Das Bild vom Schloß. Darstellung und Selbstdarstellung deutscher Höfe in Architekturstichserien 1600-1800. München 2001 (= Kunstwissenschaftliche Studien 92), S. 46. Vgl. Friedrich, Markus: Chorographica als Wissenskompilationen. Probleme und Charakteristika. In: Büttner, Frank (Hrsg.): Sammeln, Ordnen, Veranschaulichen. Zur Wissenskompilatorik in der Frühen Neuzeit. Münster 2003 (= Pluralisierung & Autorität 2), S. 83-111, hier S. 97-105; Glauser, Jürg/Kiening, Christian: Einleitung. In: dies. (Hrsg.): Text – Bild – Karte. Kartographien der Vormoderne. Freiburg 2007 (= Rombach Wissenschaften, Reihe Litterae 105), S. 11-35; Michalsky, Tanja: Medien der Beschreibung. Zum Verhältnis von Kartographie, Topographie und Landschaftsmalerei in der Frühen Neuzeit. Ebd., S. 319349.

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licher und juristischer, sozioökonomischer und kultureller Verfasstheit. Sie bietet der Leserschaft, was man zeitgenössisch über ein Land oder einen Landstrich wissen zu müssen glaubte, nämlich – um es mit Zedlers Universallexikon kurz zu fassen: den „statu[s] politicu[s]“ und den „status naturali[s]“. 6 Die hier angesprochene Gattung wurzelt in der von Klaus A. Vogel sogenannten „kosmografischen Revolution“ 7 und in der humanistischen Rezeption der antiken Geografie; 8 sie knüpft historiografisch an die Chronistik an. Gattungsgeschichtliche und -typologische Berührungspunkte und Überschneidungen mit anderen zeitgenössischen Quellentypen sind vielfältig. Man denke etwa an Städtebücher, 9 militärisch oder administrativ motivierte herr6

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„Es wäre gut, daß man von denen verschiedenen Ländern und ihrem Zustande genauere Beschreibungen hätte. Daraus könnte man vieles herleiten, welches in dem gemeinen Leben derer Menschen vortrefflichen Nutzen hätte. Man kann sich in diesem Stücke zwar einiger Massen aus Reise-Beschreibungen helffen, allein wer bedencket, daß, den Zustand eines Landes vollkommen zu beschreiben, ein Mann erfordert werde, der in allen Arten der Wissenschafften erfahren ist, kann nicht anders glauben, als das solche in vielen Stücken mangelhafft seyn müssen. Man würde eine rechte Nachricht in diesem Stücke auch zu mehrerem Aufnehmen der Physic oder Natur-Wissenschafft brauchen können, in dem doch unsere gantze Erkenntniß in der Philosophia naturali sich auf richtige Erfahrungen gründen muß, wenn wir nicht viele Gründe erbetteln und ohne Ursachen annehmen wollen. Was wir bisher erinnert haben, gehet die natürliche Beschaffenheit eines Landes an, man hat ausser diesem Statu naturali auch einen Statum Politicum, welcher aus dem Reichthume und der Menge der Unterthanen, wie auch aus der Kriegs-Macht bestehet, welche in demselben zu finden ist. Auf diesen und seine Verbesserung haben die Regenten derer Länder hauptsächlich ihr Absehen zu richten. Er hänget mit der naürlichen Beschaffenheit des Landes genau zusammen, wenn nicht die Einwohner aus Unachtsamkeit oder Faulheit den Nutzen versäumen, den sie aus einem guten und reichen Lande zühen können. Ausser diesem Falle ist der Politische Zustand des Landes alle Zeit dem natürlichen proportioniret. Ein gutes Land machet reiche Einwohner, und zühet fremde herbey, welche auch aus der guten Beschaffenheit des Landes Vortheil zu zühen hoffen. Hingegen bey einem armen und schlechten Boden ist wenig Reichthum, und die Unterthanen suchen lieber weg als herbey zu zühen. Wie ein Fürst den Politischen Zustand seines Landes genau erkundigen könne, zeiget von Schröder in der Fürstlichen Schatz- und Rent-Cammer. Die Kriegs-Macht beruhet auf der Menge und Beschaffenheit der jungen Mannschafft, auf der Menge und Güte derer Festungen und auf der Beschaffenheit des Terrains in einem Lande. Sie setzet also, so wohl den Statum naturalem als den Statum politicum vor aus.“ (Art. „Land, lat. Terra, Regio“. In: Zedler, Johann Heinrich [Hrsg.]: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste. Halle/Leipzig 1732-1754, Bd. 16, Sp. 376-380, hier Sp. 378 (URL: http://www.zedler-lexikon.de [letzter Zugriff: 17.03.2010]). Vgl. Vogel, Klaus A.: Cosmography. In: Park, Katharine/Daston, Lorraine (Hrsg.): Early Modern Science. Cambridge 2006 (= The Cambridge History of Science 3), S. 469-496. Vgl. Broc, Numa: La Géographie de la Renaissance (1420-1620). Paris 1980; McLean, Matthew: The cosmographia of Sebastian Münster. Describing the world in the Reformation. Aldershot/Burlington 2007 (= St. Andrews studies in Reformation history), S. 45-142. Vgl. Behringer, Wolfgang: Die großen Städtebücher und ihre Voraussetzungen. In: ders./ Roeck, Bernd (Hrsg.): Das Bild der Stadt in der Neuzeit. 1400-1800. München 1999, S. 8193.

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schaftliche Landesaufnahmen,10 Reiseberichte und reisetheoretische Literatur11 oder die Staatenbeschreibung bzw. deskriptive Statistik.12 Das kennzeichnende Kompositum „historisch-topografisch“ stützt sich auf zeitgenössische Werktitel13 und entsprechende programmatische Äußerungen in Vorreden und Widmungen genauso wie auf die Nomenklatur der älteren topografiegeschichtlichen Forschung.14 Die frühneuzeitliche Konjunktur der Topografien steht im Kontext eines neu dimensionierten Interesses an der physischen Welt.15 Dass dabei in den Beschreibungen historische Stoffe oft eine 10

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Vgl. Biggs, Michael: Putting the State on the Map. Cartography, Territory, and European State Formation. In: Comparative Studies in Society and History 41 (1999), S. 374-405, hier S. 380-385; Büttner, Nils: Die Erfindung der Landschaft. Kosmographie und Landschaftskunst im Zeitalter Bruegels. Göttingen 2000 (= Rekonstruktion der Künste 1); Friedrich, Susanne: „Zu nothdürftiger information“. Herrschaftlich veranlasste Landeserfassungen des 16. und 17. Jahrhunderts im Alten Reich. In: Brendecke, Arndt/Friedrich, Markus/Friedrich, Susanne (Hrsg.): Information in der Frühen Neuzeit. Status, Bestände und Strategien. Münster u.a. 2008 (= Pluralisierung & Autorität 16), S. 301-334; Gottschalk, Karin: Wissen über Land und Leute. Administrative Praktiken und Staatsbildungsprozesse im 18. Jahrhundert. In: Collin, Peter/Horstmann, Thomas (Hrsg.): Das Wissen des Staates. Geschichte, Theorie und Praxis. Baden-Baden 2004, S. 149-174. Vgl. Gotthard, Axel: In der Ferne. Die Wahrnehmung des Raums in der Vormoderne. Frankfurt a.M. 2007; Stagl, Justin: Eine Geschichte der Neugier. Die Kunst des Reisens 1550-1800. Wien u.a. 2002. Vgl. Rassem, Mohammed/Stagl, Justin (Hrsg.): Geschichte der Staatsbeschreibung. Ausgewählte Quellentexte 1456-1813. Berlin 1994; Stagl 2002 (wie Anm. 11). Vgl. etwa Hartwich, Abraham: Geographisch-historische Landes-Beschreibung deren dreyen im Pohlnischen Preußen liegenden Werdern als des Danziger- Elbing- und Marienburgischen […]. Königsberg 1722 (ND Frankfurt a.M. u.a. 2002); Wening, Michael: Historico-topographica descriptio, das ist Beschreibung deß Churfürsten- und Hertzogthumbs Ober- und Nidern-Bayrn, welches in 4 Theil oder Renntämbter als Oberlandts München und Burgkhausen, Underlands aber in Landshuet und Straubing abgetheilt ist […]. München 1701-1726 (ND 1974-1977); Wechsler, Johann David: Versuch einer kurzen Sammlung Topographisch-Historisch-Statistischer Nachrichten von der des Heiligen Römischen Reiches Stadt Biberach. Ulm 1792. Vgl. Strauss, Gerald: Topographical-Historical Method in Sixteenth-Century German Scholarship. In: Studies in the Renaissance 5 (1958), S. 87-101; ders.: Sixteenth-Century Germany. Its topography and topographers. Madison 1959. Vgl. Büttner 2000 (wie Anm. 10); Richards, John F.: The Unending Frontier. An Environmental History of the Early Modern World. Berkeley 2003, S. 2; Thomas, Keith: Man and the natural world. Changing attitudes in England, 1500-1800. London 1984; jüngst: Schramm, Manuel: Die Entstehung der modernen Landschaftswahrnehmung (1580-1730). In: Historische Zeitschrift 287 (2008), S. 37-59; dazu kritisch: Knoll, Martin: „Sauber, lustig, wohlerbaut“ in einer „angenehmen Ebene“. Abgrenzung und Integration zwischen Siedlung und naturaler Umwelt in der topografischen Literatur der Frühen Neuzeit. In: Kreye, Lars/Stühring, Carsten/Zwingelberg, Tanja (Hrsg.): Natur als Grenzerfahrung. Europäische Perspektiven der Mensch-Natur-Beziehung in Mittelalter und Neuzeit. Ressourcennutzung, Entdeckungen, Naturkatastrophen. Göttingen 2009, S. 151-171, hier S. 153f., Anm. 10. Als Repräsentantin einer späten Datierung eines Wandels in der Landschaftswahrnehmung vgl. Schwibbe, Gudrun: „… so liegt die schönste Landschaft vor den

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dominierende Rolle spielen16 und methodisch entgegen mancher Beteuerung die Philologie wichtiger ist als die Autopsie, muss keinen Widerspruch bedeuten.17 Flüsse in frühneuzeitlicher Topografie, so legen die eingangs zitierten Passagen nahe, durchschneiden Flächen, strukturieren Landschaften, konstituieren Räume. Hier gilt es anzusetzen und nachzufragen. Denn einerseits spiegeln und begleiten historisch-topografische Werke gesellschaftliche Definitions- und Identifikationsprozesse, mithin Prozesse der Abgrenzung zu anderen Gruppen genauso wie zur natürlichen Umwelt. Andererseits haben wir es bei Flüssen sowohl mit physikalisch fassbaren naturalen Strukturen als auch

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Augen ausgebreitet …“. Zur kulturellen Konstruktion von Stadt und Natur in historischen Wahrnehmungen. In: Brednich, Rolf Wilhelm/Schneider, Annette/Werner, Ute (Hrsg.): Natur – Kultur. Volkskundliche Perspektiven auf Mensch und Umwelt. 32. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde in Halle vom 27.9. bis 1.10.1999. Münster 2001, S. 443-453, hier S. 447f. Zum sektoralen Überdauern eines nicht zwingend an die Qualifikation von Vorzeitigkeit bzw. Geschichtlichkeit gebundenen Geschichtsbegriffes etwa in der frühneuzeitlichen „historia naturalis“, später „Naturgeschichte“ vgl. Koselleck, Reinhart: Geschichte, Historie. In: Brunner, Otto/Conze, Werner/Koselleck, Reinhart (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 2. Stuttgart 1975, S. 593-717, hier S. 678-682; zur Verbindung von Geschichtlichem und Gegenwärtigem in der frühneuzeitlichen Weltbeschreibung vgl. Kiening, Christian: „Erfahrung“ und „Vermessung“ in der frühen Neuzeit. In: Glauser/Kiening 2007 (wie Anm. 5), S. 221-251, hier S. 248f. Der englische Seefahrer und geografische Autor John Smith (um 1580-1631) fasste den Zusammenhang wie folgt: „For as Geographie without Historie seemeth a carcasse without motion, so Historie without Geographie wandreth as a vagrant without certaine habitation.“ (zit. nach McLean 2007 [wie Anm. 8], S. 96). Noch in der gegenwärtigen disziplinären Abgrenzung spielt die Frage des Verhältnisses von Zeitlichkeit und Örtlichkeit eine wichtige Rolle. Alan Baker unterscheidet aus geografischer Sicht idealtypisch: „Geography and history are different ways of looking at the world but they are so closely related that neither one can afford to ignore or even neglect the other. […] Historical geographers tell us stories about how places have been created in the past by people in their own image, while historians tell us different stories about how periods have been created in the past by people in their own image.While the difference between the perspective of the historian and that of the geographer is significant, it can too easily be exaggerated. There is a substantial overlapping of interests between history and geography. If period, place and people are represented as overlapping concerns, then where all three intersect may be described as both historical geography and geographical history: any difference in practice between those two will reflect the specific intellectual origins, distinctive cultural baggages and personal preferences which individual researchers bring to their enquiries. We do not all – and do not all need to – ask exactly the same questions: there are many ways of journeying to even one destination and there are also multiple historical and geographical destinations.“ (Baker, Alan H.: Geography and History. Bridging the Divide. Cambridge 2003 [= Cambridge Studies in Historical Geography 36], S. 3). Zum Ringen zwischen dem Autopsiepostulat als rhetorischer Autorisierungsstrategie und methodischen Bestrebungen der Wissenssicherung und -standardisierung vgl. Friedrich 2003 (wie Anm. 5), S. 91-93.

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mit kulturellen Konstruktionen zu tun. An verschiedenen Beispielen aus dem Einzugsbereich der oberen Donau zwischen ihren Ursprüngen im Schwarzwald und Wien soll daher die Rolle von Flüssen bei der Repräsentation historisch-topografischer Räume des 16., 17. und frühen 18. Jahrhunderts analysiert werden: In welchen Kontexten werden Flüsse in Topografien thematisiert? Welche Rolle spielen sie in der rhetorischen Ordnung geografischer Kommunikation? Welche Bedeutung kommt dabei dem vielschichtigen Feld von Grenzziehung und Grenzüberschreitung zwischen Natur und Gesellschaft zu? Antworten auf diese Fragen werden aus einer Perspektive heraus versucht, die sowohl umwelt- wie kulturhistorisch motiviert ist. 18 Es geht um die kulturelle Bedingtheit des in der untersuchten Gattung vermittelten Wissens über Natur, um Natur als Argument in der Definition regionaler bzw. territorialer Sinngebung, und damit in einem weiteren Kontext um den hybriden Charakter von Gesellschaft als sowohl materieller als auch symbolischer Entität. 19 Es besteht ein dialektisches Verhältnis zwischen Erfahrungen, Wahrnehmungen und Repräsentationen von Natur. Konzepte wie Natur, 20 aber auch Raum, 21 Region 22 und Landschaft 23 verweigern sich einseitig naturalistischen oder 18

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Umweltgeschichte wird dabei verstanden als interdisziplinärer Forschungszusammenhang, der sich mit den Wechselbeziehungen zwischen Menschen und dem Rest der Natur in der Vergangenheit befasst und der sich dabei der Rekonstruktion sowohl vergangener Umweltbedingungen als auch der Wahrnehmung und Interpretation dieser durch die Menschen widmet. Vgl. Winiwarter, Verena/Knoll, Martin: Umweltgeschichte. Eine Einführung. Köln u.a. 2007 (= UTB 2521), S. 14f., 23-27. Vgl. Fischer-Kowalski, Marina/Weisz, Helga: Society as Hybrid between Material and Symbolic Realms. Toward a Theoretical Framework of Society-Nature Interaction. In: Advances in Human Ecology 8 (1999), S. 215-251. Zu den Semantiken des frühneuzeitlichen Naturbegriffs vgl. Leinkauf, Thomas/Hartbecke, Karin (Hrsg.): Der Naturbegriff in der Frühen Neuzeit. Semantische Perspektiven zwischen 1500 und 1700. Tübingen 2005 (= Frühe Neuzeit 110). Als vorläufiges Resümee der Raum-Diskussion in den Gesellschafts-, Geschichts- und Kulturwissenschaften vgl. Döring, Jörg/Thielmann, Tristan: Einleitung: Was lesen wir im Raume? Der Spatial Turn und das geheime Wissen der Geographen. In: dies. (Hrsg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. 2. unveränd. Aufl., Bielefeld 2009 (= Sozialtheorie), S. 7-45; im engeren Zusammenhang von topografischer Bildlichkeit sei auf Regine Gerhardt verwiesen, die ihre Beschäftigung mit den Braun/Hogenbergschen Civitates Orbis Terrarum mit dem Hinweis resümiert, dass „die topographischen Bilder nicht nur Abbildungen von Welt“ seien, sondern „Ergebnisse einer geistigen Bewältigung und Erschliessung von Raum.“ (Gerhardt, Regine: Drei Mal Hamburg. Zum intellektuellen Programm der Civitates Orbis Terrarum. In: Cartographica Helvetica 38 [2008], S. 3-12, hier S. 9f.). Vgl. Ainsworth, Peter/Scott, Tom: Introduction. In: dies. (Hrsg.): Regions and Landscapes. Reality and Imagination in Late Medieval and Early Modern Europe. Oxford 2000, S. 13-23, hier S. 19. Vgl. dazu Cosgrove, Denis: Landscape and Landschaft. In: Bulletin of the German Historical Institute Washington 35 (2004), S. 57-71.

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konstruktivistischen Lesarten. Man wird der pragmatischen Einschätzung von Matthias Groß zuzustimmen haben, wonach man „bei näherer Betrachtung kaum einen Sozialkonstruktivisten finden [wird], der behaupten würde, dass Umweltprobleme nicht ‚wirklich‘ sind, oder einen ‚Realisten‘, der kulturelle Einflüsse auf Naturverständnisse abstreiten würde.“24 Derlei Pragmatismus gebietet es auch, sich bei der wahrnehmungsgeschichtlichen Erforschung historisch-topografischer Literatur der Frühen Neuzeit die heuristischen Vorteile praxeologischer Theoriebildung zunutze zu machen.25 Hier bieten sich Theodore Schatzkis weiter Geschichtsbegriff und das davon abgeleitete Konzept der „sozionaturalen Schauplätze“ (Winiwarter, Schmid) an.26 Der Geschichtsverlauf kann als die historische Entwicklung sozialer oder – in den Worten Verena Winiwarters und Martin Schmids – sozionaturaler Schauplätze beobachtet werden.27 Die Wahrnehmung der Welt in historischtopografischen Werken der Frühen Neuzeit kann ihrerseits als Repräsentation sozionaturaler Schauplätze verstanden werden, deren unterschiedlich ausgeprägte thematische Symmetrien es zu analysieren gilt. Dies erfordert eine Vorgehensweise, bei der es nicht genügt, eine Quelle „nur als Dokument eines spezifischen Aneignungsmodus historischer Ereignisse zu lesen“.28 Es 24 25

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Groß, Matthias: Natur. Bielefeld 2006 (= Einsichten), S. 100. „Practice theory, however, prevents cultural theory from following the path of ‘culturalism’ or ‘idealism’. […] Practice theory thus has a double effect: Compared to mentalism, it does not invite the analysis of mental phenomena ‘as such’, but the exploration of the embeddedness of the mental activites of understanding and knowing and the use of objects. Compared to textualism and intersubjectivism, practice theory does not encourage the regard of institutional complexes solely as spheres of discourse, communication or communicative action, but their consideration as routinized body/knowledge/things-patterns of which discursive practices (understood in the sense elucidated above) are components.“ (Reckwitz, Andreas: Toward a Theory of Social Practices. A Development in Culturalist Theorizing. In: European Journal of Social Theory 5 [2002], S. 243-263, hier S. 258). Vgl. Schatzki, Theodore R.: Nature and Technology in History. In: History and Theory, Theme Issue 42 (2003), S. 82-93; Winiwarter, Verena/Schmid, Martin: Umweltgeschichte als Untersuchung sozionaturaler Schauplätze? Ein Versuch, Johannes Colers ‚Oeconomia‘ umwelthistorisch zu interpretieren. In: Knopf, Thomas (Hrsg.): Umweltverhalten in Geschichte und Gegenwart. Vergleichende Ansätze. Tübingen 2008, S. 158-173. Potentiale und Grenzen der Anwendung dieser konzeptuellen Entwürfe auf die Analyse historischtopografischer Literatur werden in meinem laufenden Habilitationsvorhaben ausgelotet. Winiwarter und Schmid schlagen vor, „die historische Untersuchung von ‚Umweltverhalten‘ als Beobachtung sozionaturaler Schauplätze in der Vergangenheit zu konzipieren. Sozionaturale Schauplätze entstehen in einem Zusammenspiel zweier Prozesse, Praktiken und Arrangements, immer wieder neu und wandeln sich über die Zeit. Sie sind Produkt und zugleich Bedingung menschlichen Handelns. Sie werden durch menschliche Aktivitäten hergestellt und zugleich beeinflussen sie Menschen in ihrem Denken und Handeln.“ (Winiwarter/Schmid 2008 [wie Anm. 26], S. 170f.). Tschopp, Silvia S.: Das Unsichtbare begreifen. Die Rekonstruktion historischer Wahrnehmungsmodi als methodische Herausforderung der Kulturgeschichte. In: Historische Zeitschrift 280 (2005), S. 39-81, hier S. 78.

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sind auch die „vielfältigen Praktiken, die sich mit deren zeitgenössischer Rezeption verbinden“29 bzw. der durch die Antizipation von Rezipienteninteressen konstituierte komplexe Kommunikationszusammenhang in den Blick zu nehmen. Silvia S. Tschopp spricht von einer Kongruenz zwischen „bereitgestellten Sinnstiftungsangeboten und dem Wissens- und Wahrnehmungshorizont der Rezipienten.“30 Sie verweist daneben auf die Relevanz der Medialität textueller und bildlicher Quellen, ihrer „Gestaltungs- und Wahrnehmungskonventionen“31 ebenso wie ihrer Materialität.32 Zuletzt gilt gerade auch in Anwendung auf historisch-topografische Literatur das methodische Plädoyer Birgit Emichs für eine hinreichende Berücksichtigung von Phänomenen der Intermedialität. Denn nur die Zusammenschau sprachlicher, performativer und visueller, bzw. innerer und äußerer Bilder mache die „der Vormoderne so selbstverständlichen intermedialen Wechselwirkungen“ sichtbar.33 Grenzen sind ein Phänomen, das den hohen Anwendungsbezug praxistheoretischer Konzepte unterstreicht, verfügen sie doch sowohl über eine materielle Dimension (physische Gestalt z.B. eines Grenzflusses, dessen Wasser, Flussbett etc., aber auch materielle Arrangements wie etwa eine Stadtmauer), als auch über eine symbolische Dimension, die sich wiederum plausibel als Produkt menschlicher Praktiken (Herrschaftsausübung, Attribuierungen bestimmter natürlicher Phänomene mit Bedeutung, Inklusion/Exklusion bestimmter sozialer Gruppen etc.) erklären lässt. Grenzen sind ein integraler, wenngleich nicht prominenter Bestandteil frühneuzeitlicher historisch-topografischer Landesbeschreibung.34 Die Transformations- und Territorialisierungsprozesse der Frühen Neuzeit in Europa zeichnen sich nicht zuletzt dadurch aus, dass natural und nicht natural attribuierte Grenzkonzepte nebeneinander Bestand hatten. Die alte „Vier-Flüsse-Formel“ (Saone, Rhône, Meu29 30 31 32

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Ebd. Ebd. Ebd., S. 79. Vgl. ebd., S. 52. Im Zusammenhang mit der Materialität von Quellen erscheint der Vorschlag Fabio Crivellaris und Marcus Sandls produktiv, Medien als Artefakte zu beschreiben, deren Zweck es sei, Kommunikation zu ermöglichen. „Als Artefakte erfüllen sie Leistungen wie Aufnahme, Speicherung, Übertragung, Vervielfachung und Reproduktion, Wiedergabe und Ver- bzw. Bearbeitung von Informationen. Anders ausgedrückt: Informationen zeichnen sich stets durch eine bestimmte Materialität aus, ohne die ihre Übertragbarkeit nicht denkbar wäre.“ (Crivellari, Fabio/Sandl, Marcus: Die Medialität der Geschichte. Forschungsstand und Perspektiven einer interdisziplinären Zusammenarbeit von Geschichts- und Medienwissenschaften. In: Historische Zeitschrift 277 [2003], S. 619-654, hier S. 633). Emich, Birgit: Bildlichkeit und Intermedialität in der Frühen Neuzeit. Eine interdisziplinäre Spurensuche. In: Zeitschrift für Historische Forschung 35 (2008), S. 31-56, hier S. 55f. Vgl. Vogler, Günter: Borders and Boundaries in Early Modern Europe. Problems and Possibilities. In: Ellis, Steven G./Eßer, Raingard (Hrsg.): Frontiers and the Writing of History. 1500-1850. Hannover 2006 (= The formation of Europe 1), S. 21-38, hier S. 26f.

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se, Escault), nach der Chronisten des 10. bis 13. Jahrhunderts die Grenze des französischen Königreichs zum Heiligen Römischen Reich demarkierten, musste mit der territorialen Expansion in den Folgejahrhunderten neuen, nunmehr historisch-politisch legitimierten Grenzziehungen weichen, was eine spätere erneute Suche nach „natürlichen Grenzen“ nicht ausschloss.35 Wenn Sebastian Münster (1488-1552) in seiner Cosmographia davon ausgeht, Berge und Flüsse hätten in historischen Zeiten Grenzen definiert, während derlei nunmehr anhand der Sprache der Bewohner oder bestehender Herrschaftseinheiten geschehe,36 kann dies in Teilen sicher als Teil einer humanistischprotonationalen Identitätssuche relativiert werden; zumindest halten Münsters eigenes topografisches Schreiben und seine Kartografie den festgestellten Wandel nicht konsequent durch.

Hydrografische Topografien Zunächst gilt es zu klären, in welchen Kontexten Flüsse in Topografien thematisiert werden. Topografisches Beschreiben agiert auf unterschiedlichen Ebenen und liefert entweder Gesamtbeschreibungen ganzer Länder, Territorien oder Regionen oder widmet sich lokalen Schwerpunkten: Städten, Herrschaftssitzen u.ä. Flüsse bestimmen die geografische Position eines Ortes. Z.B. beginnt der Eintrag zu Traunstein in der Merianschen Topographia Bavariae wie folgt: „Ligt an dem Fluß Traun/ nicht sonders weit von Reichenhall/ und Chiemsee/ an der Saltzburgischen Gräntzen in Oberbayern.“37 Auch werden Flüsse benannt, um zeitgenössische oder historische politisch-administrative oder ethnische Grenzen zu identifizieren. Im schon Anfangs zitierten Beispiel des Fürstbistums Freising erfährt der Merian-Leser, dass sich die 35 36

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Vgl. Sahlins, Peter: Natural frontiers revisited. France’s boundaries since the seventeenth century. In: American Historical Review 95 (1990), S. 1423-1451, hier S. 1426f. „Man theilt vor zeiten die lender von einander durch berg und wässer/ aber ietzund scheiden die sprachen/ regiment und herrschaften ein land von dem andern. Und dem nach nennen wir zu unsern zeiten Teutsch land/ alles das sich Teütscher sprachen gebraucht/ es lig gleich über oder ihenet dem Rhein oder der Tonaw. Und streckt sich also jetzunt Teütsch land in Occident biß an die Maß/ ja auch etwas darüber im Niderland/ do es an Flandern reicht. Aber gegen mittag spreit es sich biß an die hohen schnee berg/ und in Orient stößt es an Ungern und Poland. Aber gegen mitnacht/ bleibt es am möre wie vor langen zeyten.“ (Münster, Sebastian: Cosmographia. Beschreibung aller Lender durch Sebastianum Munsterum in wölcher begriffen. Aller völcker/ Herrschaften/ Stetten/ und namhafftiger flecken/ härkommen: Sitten/ gebreuch/ ordnung/ glauben/ secten/ und hantierung/ durch die gantze welt/ und fürnemblich Teütscher nation […]. 2. Ausgabe, Basel 1545, S. CXCVII, zit. nach der Online-Ausgabe Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf 2009 [URN: nbn:de:hbz:061:1-4685, letzter Zugriff: 17.03.2010]). Merian d.Ä./Zeiller 1657 (wie Anm. 1), S. 107.

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geistliche Jurisdiktion des Erzstifts im Süden „bis in das Alpen Gebürg/ unnd an die Tyrolische Gräntzen/ in die Breyte von dem Lauff des Instrombs gegen Augspurg in die 10. Meyl Wegs“ erstrecke, das weltliche Territorium dagegen bilde einen schmalen Korridor zu beiden Seiten der Isar.38 Der Fluss als historische Landmarke findet sich z.B. in der Cosmographia Sebastian Münsters, wo der Lech als historische Grenze zwischen Bayern und Alemannen qualifiziert wird.39 Martin Zeiller (1589-1661), Autor der meisten Texte in den Merian-Topografien, nimmt in der Topographia Provinciarum Austriacarum Bezug auf Aventin, wenn er Drau und Murr als Flüsse ausweist, die einst die Völker der Bayern und Winden getrennt hätten.40 Im Falle von Donauwörth, das Mitte des 17. Jahrhunderts als bayerische Stadt erst eine junge Geschichte hatte, erhält die hydrografische Lokalisierung durchaus eine politische Dimension: „Diese Statt wirdt noch zum Schwaben-Land gerechnet/ als die 9. oder 8. Meyl Wegs underhalb Ulm/ an der Thonaw/ oberhalb/ ehe der Lech/ so Bayern und Schwaben scheydet/ darein fällt“.41 Zum oberösterreichischen Steyr (Abb. 2) lesen wir: „Ist ein schöne und wolerbawte/ unnd eine auß den sieben Landsfürstlichen Stätten in OberOesterreich/ an der Steyr/ und der Enß/ so allda zusammenkommen/ gelegen/ von welchen beyden Wassern auch die zwo schöne/ unnd von steinern Häusern/ wie die Statt selbsten auch/ stattlich erbawte Vorstätte/ Steyrdorff/ unnd Enßdorff/ den Nahmen haben.“42

Die grafische und textuelle Beschreibung Steyrs offenbart die strukturierende Rolle von Flüssen in der Ortsbeschreibung. Sie unterstreicht daneben die Bezugnahme der Medien Text und Grafik aufeinander. Eine umfangreiche Legende, die sich auf Ziffern in der Vedute bezieht, ist nicht im Stich, sondern im Text untergebracht. Die Flüsse und ihre funktionale Bedeutung für die Stadt Steyr kommen dabei in den Blick. Ein Legendeneintrag lautet etwa:

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Ebd., S. 28. Vgl. Münster 1545 (wie Anm. 36), S. CCII; vgl. zu dieser Grenzregion Kramer, Ferdinand: Zur Entwicklung einer Grenzregion. Der Lechrain an der bayerischen Grenze zu Schwaben. In: Schmale, Wolfgang/Stauber, Reinhard (Hrsg.): Menschen und Grenzen in der Frühen Neuzeit. Berlin 1998, S. 210-227. Vgl. Merian d.Ä., Matthaeus/Zeiller, Martin: Topographia Provinciarum Austriacarum. Austriae Styriae/ Carinthiae, Carniolae/ Tyrolis etc. Das ist Beschreibung und Abbildung der fürnembsten Stätt Und Plätz in den Osterreichischen Landen Under und Ober Osterreich/ Steyer/ Kärndten/ Crain und Tyrol […]. Frankfurt a.M. 1649 (ND Kassel/Basel 1963), S. 63. Merian d.Ä./Zeiller 1657 (wie Anm. 1), S. 104. Merian d.Ä./Zeiller 1649 (wie Anm. 40), S. 34.

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Abb. 2: „Kayserl. Statt Steyer“ „das Wasser geschwellt/ und in die Stattmühl von 7. Gängen geleytet/ bey welchem Abfall ein Loch/ dadurch die Flöß fahren mögen.“43 Gewässer figurieren mithin nicht nur als rhetorische Marker für geografische und historisch-politische Zusammenhänge. Sie werden als Teil der geound hydromorphologischen Ausstattung eines Schauplatzes, als Teile materieller Arrangements und im Zusammenhang gesellschaftlicher Praktiken in den Blick genommen. Dies kann sich auf den kurzen Hinweis beschränken, die Lage einer Stadt sei wasserreich und somit „gar wol gelegen. Hat auch gute Viehweyde“, wie im Beispiel des bayerischen Moosburg.44 Es kann aber auch die Form einer umfassenden Schilderung lokaler und regionaler Gewäs43 44

Ebd., S. 35. Die Abbildung entstammt dem Exemplar der ULB Düsseldorf; Druckvorlage: URN: urn:nbn:de:hbz:061:1-4603 (19.03.2010). „Besagter Statt Mospurg Lager ist zwischen den Wassern Amber unnd Isar/ welche underhalb derselben/ zu Isereck/ zusammen kommen; und zwischen den Stätten Freising unnd Landshut von jeder 2. Meylen. Ist also Wasserreich/ und gar wol gelegen. Hat auch gute Viehweyde/ und andere Bequemlichkeit.“ Merian d.Ä./Zeiller 1657 (wie Anm. 1), S. 52f.

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ser sowie deren urbaner Nutzung annehmen, wie im schwäbischen Biberach. 45 Dort wird der Verlauf verschiedener, die Stadt passierender Bäche und Flüsse genauso expliziert wie deren Einbindung in Arrangements (Kanäle, Leitungssysteme, Mühlen, Bäder) und mit ihrer Nutzung verbundene Praktiken (verschiedene landwirtschaftliche Praktiken, Fischerei, Badekuren etc.) innerhalb und außerhalb der Stadtmauern. Der Verlauf eines der Flüsse, der Riß, wird von der Quelle bis zur Mündung in die Donau geschildert. Die positiven Auswirkungen reicher Fischpopulationen in den Seen und Teichen der Umgebung auf den heimischen Markt fehlen in der Ortsbeschreibung nicht.

Hydrografische Territorialität Doch möchte ich von der Ebene der Ortsbeschreibung auf die Ebene der Beschreibung ganzer Länder bzw. Territorien wechseln. Denn mir scheint die wichtige rhetorische Rolle bemerkenswert, die Hydrografie für die Definition von Territorialität in historisch-topografischer Literatur spielt. Sebastian Münster nahm – dem von ihm postulierten und oben zitierten Paradigmenwechsel zum Trotz – in die Deutschlandbeschreibung seiner Cosmographia ein eigenes Flusskapitel auf. 46 Seine Beschreibung der Einzugsgebiete großer mitteleuropäischer Flüsse, gruppiert um und dominiert von Donau und Rhein, liest sich wie eine hydrografische Matrize des Alten Reichs. Kartografisch wird diese Wirkung verstärkt, etwa durch die Tafel „Schwaben und Baierlands landtafel[/] Schwaben und Baier landt/ darbey auch begriffen werden Schwarzwald/ Odenwald und das Nordgöw“, 47 in der Gebirgszüge und die in ihrer Breite hervorgehobenen Bänder von Donau und Rhein Süddeutschland abstecken. Ähnliches findet sich auf territorialer Ebene. Die Grafik, die Münster seiner Beschreibung des Herzogtums Bayern voranstellt, 48 definiert das Land über die Donau und ihre Zuflüsse im Oberlauf (Abb. 3). 45

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Vgl. Merian d.Ä., Matthaeus/Zeiller, Martin: Topographia Sveviae. Das ist Beschreib- und Aigentliche Abcontrafeitung der fürnembsten Stätt und Plätz in Ober- und Nider Schwaben, Hertzogthum Würtenberg, Marggraffschaft Baden und andern zu dem Hochlöbl. Schwabischen Craiße gehörigen Landtschafften und Orten. Frankfurt a.M. 1643 (ND Braunschweig 2005), S. 32-35. Vgl. Münster 1545 (wie Anm. 36), S. CCI-CCIII. Ebd., S. [71]. Ebd., S. DX. Die Abbildung entstammt dem Exemplar der ULB Düsseldorf; Druckvorlage: URN: urn:nbn:de:hbz:061:1-4685 (19.03.2010). Es handelt sich bei diesem Holzschnitt um einen stilisierten Kartenausschnitt, der die Hydrografie der bayerischen Donau und ihrer Zubringer fokussiert. Die Karte nimmt eine Vogelschauperspektive von West nach Ost ein und beginnt mit dem Lech, der parallel zum vorderen (unteren) Bildrand verläuft. Wesentliche Elemente neben dem Flusssystem sind der durch Bäume angedeutete Böhmer-

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Abb. 3: „Von dem Baier land“ Wie ein Skelett, oder besser: wie ein System von Blutgefäßen strukturiert das Flusssystem des Donauoberlaufes den territorialen Körper. Nicht eine linear oder liminal gedachte Außengrenze,49 sondern eine Binnenstruktur aus Fließ-

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wald im Nordosten und die in der zeittypischen „Maulwurfshügel“-Ikonografie repräsentierten Alpen im Süden. Zu unterschiedlichen historischen Grenzkonzepten vgl. Power, Daniel: Introduction. A. Frontiers. Terms, Concepts, and the Historians of Medieval and Early Modern Europe. In: ders./Standen, Naomi (Hrsg.): Frontiers in Question. Eurasian Borderlands 700-1700. Basingstoke/New York 1999, S. 1-12; Schmale, Wolfgang/Stauber, Reinhard: Einleitung. Mensch und Grenze in der Frühen Neuzeit. In: Schmale/Stauber 1998 (wie Anm. 39), S. 9-22 und Vogler 2006 (wie Anm. 34).

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gewässern suggeriert hier eine quasi naturräumlich notwendige Territorialität. 50 Den Schluss, dass man die Münstersche Karte damit wohl nicht überinterpretiert, legen vergleichbare Praktiken wie die des Kartografen und Mathematikers Philipp Apian (1531-1589) nahe, der seinem epochemachenden Kartenwerk über das bayerische Herzogtum eine zu Lebzeiten nicht mehr veröffentlichte textuelle Landesbeschreibung nachreichte, die ebenfalls ein Flusskapitel enthält und die eine ähnlich suggestive Hydrografie betreibt. 51 Im späten 17. Jahrhundert veröffentlichte der Jurist und Merian-Epigone Anton Wilhelm Ertl (1654-1710) seinen Chur-Bayrischen Atlas, eine illustrierte Landesbeschreibung. Im ersten Band legte auch Ertl ein eigenes Flusskapitel vor. 52 Ähnlich verfährt der Parnassus Boicus, eine landeskundlich-didaktische Kompilation des frühen 18. Jahrhunderts, die nicht nur eine allegorische Zueignung an den Isar-Strom als Motto verwendet, sondern deren „Zweyter Bericht. Auß der Topography, wo die Historia naturalis, oder Beschreibung der Landen zu Bayrn/ nach ihren natürlichen Eygenschafften/ beygebracht werden“ mit einer hydrografischen Definition Bayerns anhand der Hauptflüsse und anderen Gewässer einleitet. 53 Anton Wilhelm Ertls Chur-Bayrischer Atlas spielte übrigens im allegorischen Titelkupfer motivisch mit der für seine Zeitgenossen offenbar problemlos zu entschlüsselnden Identifikation von Flusssystem und Territorium, ganz ähnlich wie zuvor Merians Topographia Bavariae, und wie für Oberösterreich Georg Matthäus Vischer (1628-1696) in seiner 1674 erschienenen Topographia Austriae Superioris Modernae. 50

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Achim Landwehr erklärt diese legitimatorischen Praktiken als Lesen und Deuten naturaler Zeichen. Er betont, dass eine derartige Grenzdefinition als quasi Teil des göttlichen Schöpfungsplanes im Kontext eines im Übergang zur Neuzeit noch wirksamen hermeneutischen Naturverständnisses höchstmögliche Legitimation beanspruchen konnte. Vgl. Landwehr, Achim: Der Raum als „genähte“ Einheit. Venezianische Grenzen im 18. Jahrhundert. In: Behrisch, Lars (Hrsg.): Vermessen, Zählen, Berechnen. Die politische Ordnung des Raums im 18. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 2006 (= Historische Politikforschung 6), S. 45-64, hier S. 53-55; ders.: Die Erschaffung Venedigs. Raum, Bevölkerung, Mythos 1570-1750. Paderborn 2007, S. 110-119 und seinen Beitrag in diesem Band. Vgl. auch Knoll 2009 (wie Anm. 15), S. 157f. Vgl. ebd., S. 157. Vgl. Ertl, Anton Wilhelm: Chur-Bayerischer Atlas. Das ist Eine Grundrichtige/ Historische/ und mit vielen schönen Kupfern und Land-Karten gezierte Abbildung aller in dem hochberühmbten Chur-Hertzogthum Ober- und Nieder-Bayern/ auch in der Obern Pfalz ligenden vortrefflichen Städten/ Märkt/ und theils Schlösser/ samt deroselben Ursprung/ Fortpflantzung/ und andere merkwürdigiste Bayrische Denk-Sachen/ alle aus dem unvervälschten Grund der Antiquität enthalten. Bd. 1. Nürnberg 1687 (ND Donauwörth 1995), S. 213 [= 215]-220. Parnassus Boicus oder Neu-eröffneter Musen-Berg/ Worauff Verschiedene Denck- und Leßwürdigkeiten auß der gelehrten Welt/ zumahlen aber auß denen Landen zu Bayrn/ abgehandlet werden. Erste Unterredung. München 1722, S. 14-31.

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Ein Vergleich der Darstellung des Donauursprunges in Münsters Cosmographia und in Zeillers Text zur Merianschen Topographia Sveviae ergibt markante Unterschiede – weniger in der Würdigung der Geo- und Hydromorphologie als in der historischen Kontextualisierung. Münster, der im kommunikativen Umfeld humanistischer Wiederaneignung antiker Autoren agierte, gibt Donaueschingen als Quellort des größten europäischen Stromes an und beglaubigt seine Beschreibung der Szenerie durch eigene Augenzeugenschaft. 54 Ferner führt er aus, es sei „bey den alten gelerten mennern ein groß begird gewesen den ursprung dises wassers zusehen/ darumb auch ettlich von Rom herauß zugen/ damit sie gesehen möchten seinen ursprünglichen brunnen.“ Auch Kaiser Tiberius habe vom Bodensee aus einen Abstecher zur Donauquelle unternommen. Anders die Akzentsetzung bei Zeiller, dem Historiografen und Reiseschriftsteller des 17. Jahrhunderts, der den Historiker Marquard Freher (1565-1614) mit dem Hinweis zitiert, dass „die Römer zu diesem Ursprung der Thonaw/ mit ihren Waffen/ nie kommen/ als wie sie auch zu deß Nili und deß Rheins Bronnen niemals gelangt.“ 55 Geht fehl, wer hier eine Verschiebung in der rhetorischen Praxis hin zu Identitätsstiftung durch Abgrenzung diagnostiziert?

Gesellschaftliche Grenzen zum Fluss: Rhetorische Statik versus fluviale Dynamik Die Abbildung „Schöner Prospect der Steinernen Brücken zu Regenspurg“ in der Topographia Bavariae gehört zweifellos zu den bekanntesten der MerianTopografien (Abb. 4). 56 Sie besticht durch die ikonografische Zentralität des 54 55

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Vgl. Münster 1545 (wie Anm. 36), S. CCI. „Es haben vor Alters/ die Vindelici, ein Illyrisch Volck/ von dem Ursprung der Thonaw/ biß nach Passaw gewohnt; biß die Schwaben/ oder Teutsche Hermunduri, sich in der Allemannier/ (so da gewichen waren/ zuvor aber der Vindelicier Oerter eingenommen hatten) Sitze/ biß gar an den Ursprung der Thonaw/ unnd den Bodensee/ etlich hundert Jar nach Christi Geburt/ sich gesetzt/ unnd also dem heitigen Schwabenland den Namen gegeben haben. Marquardus Freherus will/ in seinem Commentario uber deß Ausonii Mosellam, am 88. Blat/ daß die Römer zu diesem Ursprung der Thonaw/ mit ihren Waffen/ nie kommen/ als wie sie auch zu deß Nili, und deß Rheins Bronnen/ niemals gelangt. Der erste/ so an die Thonaw kommen/ seye Lucius Praetor gewesen; Kayser Trajanus habe zwar die Thonaw den Römern; aber nit biß zu derselben Ursprung/ zu friden gestellt; die Kayser Valentinianus, und Gratianus aber/ haben sich am ersten understanden/ so weit zu kommen; und hernach auch Stilico.“ (Merian d.Ä./Zeiller 1643 [wie Anm. 45], S. 182). Vgl. Merian d.Ä./Zeiller 1657 (wie Anm. 1), S. 69-93, hier nach S. 72. Die Darstellung entstammt einem Exemplar der Anna Amalia Bibliothek Weimar; Druckvorlage: wikicommons, http://de.wikisource.org/wiki/Datei:Topographia_Bavariae_(Merian)_b_27.jpg (19.03.2010).

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Flusses und durch seine Entgrenztheit zur Umgebung. Die Stadt57 umgibt den Fluss, dieser verliert sich gen Osten, der aufgehenden Sonne zu, harmonisch in der Landschaft des Donautals. Bildvordergrund und Bildmittelgrund dokumentieren detailliert materielle Arrangements: die Besiedlung der Flussinseln, Mühlwerke, Uferbefestigungen und Brückenbauten, zentral die durch Schattenwurf dunkel zum hellen Fluss kontrastierende Steinerne Brücke. Staffagefiguren im Bildvordergrund repräsentieren Praktiken der Flussnutzung wie Fischerei, Floß- und Schifffahrt. Die harmonisch wirkende Szenerie zeichnet eine symbiotische Beziehung von Menschen und Fluss. Als Repräsentation eines sozionaturalen Schauplatzes wirkt sie motivisch-thematisch ebenso detailliert wie umfassend.

Abb. 4: „Schöner Prospect der Steinernen Brücken zu Regenspurg“ Doch wie steht es um die Darstellung des Flusses im Text? Die RegensburgBeschreibung Martin Zeillers nimmt auf viele der Faktoren Bezug, die im 57

Präziser formuliert: Zwei Städte umgeben den Fluss – das bayerische Stadtamhof zur Linken und die Reichsstadt Regensburg zur Rechten, beide symbolisiert durch das jeweilige Stadtwappen. Die Reichweite der reichsstädtisch-Regensburger Jurisdiktion war umstritten, wurde von der Reichsstadt aber über die gesamte Steinerne Brücke hinweg und unter Einschluss des nördlichen Brückenkopfes und des Katharinenspitals am Donaunordufer beansprucht. Der Jurisdiktions- und Zollstreit um Fluss, Donauinseln, Brücke und Nordufer wird auch im Text der Zeillerschen Beschreibung referiert. Vgl. ebd., S. 84.

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oben genannten Stich angedeutet werden, nicht zuletzt auf die Steinerne Brücke und die zahlreichen Mühlwerke auf den Flusswöhrden: Papier-, Gewürz-, Walk- und Sägemühlen auf dem Oberen Wöhrd und Schleif-, Polier- und Getreidemühlen auf dem Unteren Wöhrd. 58 Auch die nahen Flussmündungen von Laber, Naab und Regen in die Donau und die Bedeutung dieser Flüsse für die Versorgung der Stadt werden thematisiert. 59 Doch die Repräsentation der Kehrseite des urbanen Lebens am und mit dem Fluss, der Gefahren, Risiken und Probleme, bleibt blass. Die umfangreiche Beschreibung Regensburgs schlägt zwar einen weiten Bogen über anderthalb Jahrtausende Stadtgeschichte, expliziert aber gerade einmal zwei Flutereignisse der Jahre 1573 und 1650. 60 1573 habe ein Hochwasser des Regen eine dort zuvor bestehende Steinbrücke zerstört. 61 Zum Hochwasser von 1650 heißt es, bezugnehmend auf die Berichterstattung des ebenfalls von Merian verlegten und mit Zeillerschen Texten arbeitenden Theatrum Europaeum: „An 1650 seyn umb diese Statt vil Dörffer/ und Felder/ wie auch die in der Statt selbst gelegne niderige Häuser/ sambt der Maut/ dem Wein- und Saltzstadel/ Item alle Mühlen/ und Hämmer/ Theils so tieff im Wasser gestanden/ daß die Inwohner/ an statt der Haußthüren/ auß den Fenstern/ und etliche auf dem Land/ nach den Dächern steigen/ und ihnen die Notturft/ in kleinen Schiffen/ zubringen lassen müssen.“ 62

Ein Vergleich der drei großen Donaustädte Ulm, Regensburg und Wien in den Merian-Topografien zu Schwaben, Bayern und Österreich bestätigt den Befund, dass Hochwasserereignisse als wiederkehrende, der Dynamik unregulierter vormoderner Flüsse geschuldete „Grenzüberschreitungen“ des Naturalen gegenüber der Gesellschaft in den Beschreibungen lediglich vereinzelt – und wenn, dann im Range historischer Merkwürdigkeiten – erscheinen. Auch im Falle der Reichsstadt Ulm sind nur zwei Flutereignisse erwähnt: eines der Donau im Jahre 1374 und eines des Donauzuflusses Blau im Jahre 1461. 63 Allerdings wird – wie im Regensburger Beispiel – die desintegrative Kraft dieser Ereignisse dadurch plastisch, dass materieller Schaden spezifiziert wird. Im Fall des Donauhochwassers ist dies die Zerstörung der Herdbrücke; im Fall der Blauflut ist von einer Schadenssumme in Höhe von 10.000 fl. und von 17 bis auf die Grundmauern zerstörten Häusern die Rede, die das 58 59 60 61 62 63

Vgl. ebd., S. 71. Vgl. ebd., S. 69f. Vgl. ebd., S. 70, 90. Vgl. ebd., S. 70. Ebd., S. 90. Vgl. Merian d.Ä./Zeiller 1643 (wie Anm. 45), S. 207.

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Hochwasser binnen einer Stunde verursacht habe.64 Im Falle Wiens wird fluviale Dynamik immerhin in Form der prekären Lage der Stadt an einem nicht permanent schiffbaren Donauarm verhandelt.65 Dass die Beschreibung Wiens durch diese vergleichsweise umfangreiche hydrografische Skizze eingeleitet wird, unterscheidet sie von den Artikeln zu Ulm und Regensburg und deutet die Relevanz, die dieser Problematik beigemessen wurde, an. Tatsächlich war die stete Tendenz des stadtnahen Donauarms zur Verlandung ein Problem, dem man seit dem späten Mittelalter durch bauliche Eingriffe entgegenzuwirken versuchte.66 Dagegen griff die Stadtentwicklung erst ab dem 17. Jahrhundert in nennenswertem Umfang auf Flächen aus, die Hochwassergefahr zu einem innerurbanen Problem machten.67 Grafisch erfährt die im Text zumindest einleitend explizierte Problematik keine Thematisierung. Die Stadtansicht im Kupferstich, eine Vogelschau von Nordost, die Matthäus Merian d.Ä. nach Braun/Hogenberg gearbeitet hatte,68 zeigt den an der Stadt verlaufenden Donauarm exponiert im Bildvordergrund, ebenso wie materielle Arrangements und Praktiken der Flussnutzung – all dies aber bei optimalem Wasserstand. Alles in allem bleibt fluviale Dynamik in der topografischen Beschreibung unterrepräsentiert. Sie ist nicht kompatibel mit dem geordneten und statischen Bild der Welt, mit strukturell idealisierten sozionaturalen Schauplätzen, wie sie in der frühneuzeitlichen historisch-topografischen Literatur vermittelt 64 65

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Vgl. ebd. „Diß ist die Hauptstatt in Under Oesterreich/ die vor Zeiten zu Pannonia gerechnet worden/ zur Rechten der Thonaw gelegen/ wiewol es nur ein Arm davon ist/ so nahend zur Statt gehet; gleichwol man auff solchem die Schiffe/ nach Gelegenheit der Zeit/ und Höhe deß Wassers/ stellen kan: Wann aber das Wasser klein ist/ so müssen dieselbe/ sonderlich die grosse/ ein Meil Weges oberhalb/ umb Nußdorff/ oder wol gar bey der Statt Closter Newburg 2. Meilen von Wien bleiben. Mehr als ein halbes Viertel einer Teutschen Meil von der Statt/ gegen Mähren werts/ seynd noch 3. andere absonderliche/ und zum Theil gar grosse/ und schiffreiche ärm/ oder besondere Flüß/ dieses sehr grossen Thonawflusses/ uber welche fünff Brucken gehen/ die man im Nothfall/ zu mehrer Sicherheit der Statt/ abwerfen kann. Von Mittag hat die Statt ein kleines Wasser/ so auch Wien genandt wird/ und das von denen gegen Abend gelegenen Bergen herkompt/ so bald wächst/ und von dem vielen Regenwasser sich leichtlich ergiessen thut/ etliche Mühlen treibt/ unnd nicht weit von den Stattgräben sich in die Thonaw ergiesset; unnd von Theils/ als ob es ein Arm von der Thonaw were angesehen wird.“ (Merian d.Ä./Zeiller 1649 [wie Anm. 40], S. 39). Vgl. Eigner, Peter/Schneider, Petra: Verdichtung und Expansion. Das Wachstum von Wien. In: Brunner, Karl/Schneider, Petra (Hrsg.): Umwelt Stadt. Geschichte des Naturund Lebensraumes Wien. Wien 2005 (= Wiener Umweltstudien 1), S. 22-54, hier S. 29; Michlmayr, Franz: Gegen den Strom. Die Regulierung der Donau. Ebd., S. 307-317, hier S. 308f. Vgl. Eigner/Schneider 2005 (wie Anm. 66), S. 32; Michlmayr 2005 (wie Anm. 66), S. 309. Zu diesem Stich vgl. auch Wüthrich 1996 (wie Anm. 2), S. 267.

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wurden. Wo Region und Landschaft in einem Idealzustand erstarren, haben Flüsse, die sich stets neue Flussbetten graben, kaum Platz. Wo Flüssen die rhetorische Aufgabe zukommt, Territorien und Regionen zu strukturieren, ist die stete strukturelle Instabilität frühmoderner Fließgewässer problematisch. Entsprechend selten finden sich in den Merianschen Bildprogrammen optische Hinweise auf eben jene fluviale Dynamik, etwa im Stich „Prospect der Thonau zwischen Kalenberg und Bisnberg“.69 Kaum je wird in einer Grafik die „Anschütt“, also der sedimentierungsbedingte Zuwachs einer Flussinsel nicht nur sichtbar gemacht, sondern auch explizit bezeichnet, wie in der Beschreibung der niederösterreichischen Adelsherrschaft Petronell geschehen.70 Im Vogelschauplan derselben Herrschaft stoßen der Anspruch auf lineare Grenzziehung und die hydromorphologische Heterogenität der Donau als Grenzfluss in aller Deutlichkeit aufeinander.71 Und so kommt es an dieser Stelle zu einem in den Topografien seltenen Beispiel für die differenzierte Dokumentation einer komplexen und dynamischen Flussstruktur. Alle Inseln sind nummeriert und in einer Legende benannt. Es wird versucht, den exakten Grenzverlauf entlang der Inseln zu demarkieren. Und doch mutet dieser Versuch angesichts der realiter wohl kaum über einen längeren Zeitraum gegebenen Stabilität der Verhältnisse rührend an. Der Stich symbolisiert somit wohl ungewollt die bestehende Diskrepanz zwischen Grenzziehung als Herrschaftspraxis und der prekären Materialität des Schauplatzes.72 Wenn dieser Grafik also innerhalb der Merian-Topografien zum oberen Donau-Einzugsgebiet exzeptioneller Charakter zukommt und wenn in Text und Grafik dieser Topografien – wie aufgezeigt – ein Bild von Idealität und Statik vermittelt wird, dann erscheint der Hinweis angebracht, dass es durchaus eine Parallelüberlieferung von komfortabler Breite gibt, die eine problem69

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Vgl. Merian d.Ä./Zeiller 1649 (wie Anm. 40), hier vor S. 31. Vgl. zur vermuteten Autorschaft und der eigenständigen Radiertechnik Wüthrich 1996 (wie Anm. 2), S. 261, Anm. 13 und S. 264. Vgl. Merian d.Ä./Zeiller 1649 (wie Anm. 40), Anhang 1656, hier nach S. (II) 12. Vgl. ebd., Anhang 1656, hier vor S. (II) 13 („Schloß undt Herrschafft Petronell Sambt ihren Marckt dörffern und Landgericht Wildphan und Fischwasser, im Ertzherzogthum Oesterreich unter der Enns. 8 meil von Wien an der Donaw gelegen“). Zur Zuschreibung der Autorschaft – Caspar Merian nach Clemens Beutler (um 1623-1682) – vgl. Wüthrich 1996 (wie Anm. 2), S. 288f. Im Text zur Herrschaft Petronell dominieren verständlicherweise die antike Geschichte Carnuntums und die aus dieser Zeit überkommenen architektonischen Überreste. Zur Lage an den Flüssen Donau und Leitha ist nur zu erfahren, dass Herrschaft und Schloss „an einem fruchtbaren Orth/ hart an der Donauw auff einem hochen Ufer zimlich befestiget“ und an „Schiff- unnd Fischreichem Wasser […] zwischen der Donaw und dem Fluß Leyta“ liegen. Die Leitha ihrerseits scheide Österreich und Ungarn. Die auf dem Beutler-Stich gut erkennbare fluviale Prekarität des Schauplatzes spielt keine Rolle. Vgl. Merian d.Ä./ Zeiller 1649 (wie Anm. 40), Anhang 1656, S. (II) 12-14, Zitate ebd., S. (II) 13f.

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orientiertere Repräsentation der sozionaturalen Dimension fluvialer Dynamik leistet. Alleine das im Bayerischen Hauptstaatsarchiv München lagernde Corpus an administrativer Kartografie, Augenscheinplänen und -zeichnungen sowie begleitendem Schriftgut aus der Frühen Neuzeit ist, wie Gerhard Leidel und Monika Ruth Franz zeigen können, ebenso umfangreich wie thematisch einschlägig.73 Eines aber zieht sich wie ein roter Faden durch die genannte Überlieferung: die stets aufs Neue konfliktträchtige Kollision von politischadministrativen und ökonomischen Praktiken der Flussnutzung auf der einen und fluvialer Dynamik auf der anderen Seite. Das eingangs referierte Beispiel des Fürstbistums Freising kann dies unterstreichen. Text und Bildprogramm der Merian-Topografie vermitteln das Bild einer vom Isarstrom durchteilten, harmonischen Auen- und Flusslandschaft. Flüsse sind es auch, die helfen, geistlichen und weltlichen Herrschaftsbereich abzustecken. Diese Demarkation aber gestaltete sich – wie die von Leidel und Franz dokumentierten Materialien zeigen – genauso schwierig wie der Umgang bayerischer Bauern des Dorfes Garching und bischöflich Freisinger Bauern des Dorfes Ismaning mit dem vielgliedrigen, instabilen und durch Flussverbauung in die eine oder andere Richtung manipulierbaren Flusslauf. Der daraus resultierende Streit um diese „nasse Grenze“ zwischen Bayern und dem Fürstbistum Freising überdauerte denn auch die gesamte Frühe Neuzeit – und erzeugte reiches Quellenmaterial.74

Fazit Die Donau der untersuchten Topografien und ihre Zubringerflüsse werden im Rahmen kommunikativer Praktiken der geografischen Publizistik gattungstypisch instrumentalisiert. Sie erfüllen zentrale Aufgaben bei der Strukturierung geografischer Informationsbestände und bei der regionalen und territorialen Ordnungs- und Sinnstiftung. Die Beurteilung ihrer Repräsentation als sozionaturale Schauplätze, als Gefüge von menschlichen Praktiken und materiellen Arrangements, muss ambivalent ausfallen. Menschliche Flussnutzung und gar Extremereignisse fluvialer Dynamik werden in unterschiedlichem Maße, selten aber angemessen repräsentiert. Die Flüsse der Topografien sind Teile einer statischen Landschaft und linear gegen diese abgegrenzt. So wirkt das Bild des vormodernen Flusses in der historisch-topografischen 73

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Vgl. Leidel, Gerhard/Franz, Monika Ruth (Hrsg.): Altbayerische Flußlandschaften an Donau, Lech, Isar und Inn. Handgezeichnete Karten des 16. bis 18. Jahrhunderts aus dem Bayerischen Hauptstaatsarchiv. Ausstellung in München, 24. Juni bis 16. August 1998. Weißenhorn 1998 (= Ausstellungskataloge der Staatlichen Archive Bayerns 37). Vgl. ebd., S. 188-196.

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Literatur mitunter wie ein Postulat seiner späteren „Zähmung“. Denn erst der seiner „Natürlichkeit“ beraubte Kanal sollte in der Lage sein, seine Rolle als „natürliche“ Grenze angemessen zu spielen.

ACHIM LANDWEHR

Die Zeichen der Natur lesen „Natürliche“ Autorität im habsburgisch-venezianischen Grenzgebiet in der Frühen Neuzeit

Frühneuzeitliche Grenzkonflikte Konflikte um Grenzen erweisen sich für die historische Betrachtung als Möglichkeit, um einen genaueren Blick auf das jeweilige Verständnis von Grenzen zu erhalten. 1 In solchen Auseinandersetzungen mussten sich die Beteiligten intensiver mit diesem „randständig“ gelegenen Phänomen beschäftigen. Malcolm Anderson benennt für die historische Entwicklung bis 1914 vier vornehmliche Auslöser von Grenzkonflikten: Erstens handelte es sich um territoriale Auseinandersetzungen, in denen sich Konkurrenzsituationen zwischen Staaten konkretisierten; zweitens sind positionale Auseinandersetzungen zu nennen, die die exakte Bestimmung einer Grenzlinie zum Gegenstand hatten, da die beiden beteiligten Seiten möglicherweise ein unterschiedliches Verständnis von den Prinzipien hatten, aufgrund derer die Grenze gezogen wurde; zum dritten wurden Grenzstreitigkeiten durch Begehrlichkeiten auf ökonomische Ressourcen oder strategisch bedeutsame Gebiete ausgelöst; viertens waren es schließlich revolutionäre Phasen einzelner Staaten, die regelmäßig die überkommenen Grenzziehungen in Frage stellten. 2 Um die Rolle besser beleuchten zu können, die die Natur in frühneuzeitlichen Grenzkonflikten spielte, muss der spezifisch frühneuzeitliche Charakter solcher Grenzkonflikte näher in den Blick genommen werden. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass Grenzen als Elemente frühneuzeitlicher Staatlichkeit gewissermaßen ein sekundäres Ergebnis tradierter Vorstellungen von Herrschaft waren. Aus der Addition rechtlich verbürgter Herrschaftskompetenzen über Personen, Kommunen oder Flächen ergab sich indirekt die Form des jeweiligen Herrschaftsterritoriums. 3 Vorrangig war daher das Ziel, entsprechende Herrschaftsrechte zu akkumulieren, nicht so sehr 1 2 3

Dieser Beitrag verdankt Martin Schmid (Wien) wichtige Hinweise und Korrekturen. Vgl. Anderson, Malcolm: Frontiers. Territory and State Formation in the Modern World. Cambridge 1997, S. 26. Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf Landwehr, Achim: Die Erschaffung Venedigs. Raum, Bevölkerung, Mythos 1570-1750. Paderborn u.a. 2007.

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ein geschlossenes Territorium zu formen, das sich durch eindeutige Grenzen auszeichnete. Da die territorialen Grenzen sich auf dem Weg von Verfügungsrechten, nicht von räumlichen Definitionen herauskristallisierten, nahmen sie auch im Konfliktfall einen gänzlich anderen Charakter an. Denn in Herrschaftsrechten, die sich räumlich auswirkten, wurden nur die Inhalte näher bestimmt, nicht aber die Ränder räumlicher Zugriffsrechte. Die Grenze war in der Minderzahl der Fälle eigentlicher Gegenstand der Regelung. Territoriale Grenzen näher zu bestimmen, wurde daher erst im Konfliktfall notwendig und auch möglich. Erst wenn herrschaftliche Rechtsansprüche aufeinander prallten, stand eine lineare Definition des Territoriums auf der Tagesordnung. Dies brachte jedoch zwei gravierende Probleme mit sich. Erstens zeigt sich mit Blick auf die Gesamtgrenze frühneuzeitlicher Territorien, dass diese keineswegs durchgehend war. Dass sich frühneuzeitliche Territorien noch nicht durch ein geschlossenes und rechtlich einheitlich erschlossenes Staatsgebiet im modernen Sinn auszeichneten, ist eine Binsenweisheit.4 Daraus folgt aber zugleich, dass sie keine durchgehende Grenze besaßen, die dieses Territorium hätte definieren können. Vielmehr gab es eine Vielzahl einzelner Grenzabschnitte. Dort, wo es politisch notwendig oder wirtschaftlich vorteilhaft erschien, versuchte man – in einzelnen territorialen Abschnitten – Grenzen zu etablieren. Wo es aber sowohl rechtlich als auch ökonomisch nicht notwendig war, beispielsweise in eher unwirtlichen Bergregionen, konnte man es getrost bei einer ungefähren Grenzbestimmung belassen. Zum zweiten ergab sich als nahezu unweigerliche Konsequenz, dass sich vor diesem Hintergrund Grenzkonflikte nur schwerlich lösen ließen. Bei Grenzauseinandersetzungen ging man gerade nicht so vor, dass sich zwei territorial geschlossene Staaten an einen Tisch setzten, um nach möglichst rationalen Kriterien einen Grenzverlauf zu bestimmen, der beiden Seiten entgegenkam. Vielmehr wurde versucht, mittels unterschiedlicher juristischer Techniken einen Grenzverlauf zu belegen, der sich durch sein möglichst hohes Alter auszeichnete und bei dem man davon ausging, dass er einen vorherbestimmten Verlauf besaß, den es nun nur noch zu rekonstruieren galt. Als juristische Techniken auf dem Weg zu diesem Ziel etablierten sich die Vorlage möglichst weit in die Vergangenheit zurückreichender Rechtstitel, das Auffinden alter Grenzzeichen, die Befragung der Grenzbevölkerung oder – worauf noch näher einzugehen sein wird – die Lektüre der Zeichen der Natur. Nur mit dem beiderseits unternommenen Versuch, alte Dokumente oder möglichst alte Bewohner von Grenzdörfern aufzubieten, um die eigene Ver4

Grundlegend hierzu ist Reinhard, Wolfgang: Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart. München 1999.

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sion eines Grenzverlaufs zur verbindlichen zu machen, konnte man nicht zu einem Ergebnis kommen. Dies zeigt auch das ganz praktische Vorgehen bei Grenzkonflikten, das auf zwei Ebenen vor sich ging: Einerseits sollten Kommissionen die Situation in der Grenzregion vor Ort begutachten, andererseits versuchten Delegationen am Verhandlungstisch zu einer Einigung zu gelangen. Allerdings schalteten sich beide in eine verhängnisvolle Schleife des Informationsdefizits ein. Am Verhandlungstisch benötigte man, um zu einer Lösung zu gelangen, mehr Informationen über den Raum. Zu diesem Zweck schickte man Kommissionen aus. Doch auch ihnen fehlten zur Orientierung und zur angemessenen Organisation ihrer Arbeit Informationen über den Raum, die sie von den politischen Zentren anforderten – worauf nicht selten die Antwort kam, dass man sich genau diese Informationen eigentlich von den Kommissionen erwartet hätte. Diese Schleife des Informationsdefizits mag aus heutiger Perspektive etwas lächerlich erscheinen, da die nötigen Informationen offensichtlich nicht vorhanden waren, weist aber auf den zentralen Aspekt der Wissensproduktion von Grenzen hin: Denn dahinter stand der Gedanke, dass man Grenzen nur finden, nicht aber machen konnte; deswegen mussten die Informationen irgendwie zu Tage gefördert werden, da den Zeitgenossen der Gedanke fern lag, selbst eine Grenze hervorzubringen. Diese soweit beschriebene Situation trifft für das 16. und den größeren Teil des 17. Jahrhunderts zu. Für diesen Zeitraum kann man davon sprechen, dass Grenzen nicht gemacht, sondern nur gefunden werden konnten. 5 Bei diesen Versuchen des Grenzen-Findens, die mit den zur Verfügung stehenden politischen und juristischen Mitteln kaum einmal zu einem wirklich zufriedenstellenden Ergebnis kommen konnten, stellte sich immer wieder das Autoritätsproblem: Welcher Seite war es mit welchen Mitteln möglich, in autoritativer Weise Wissen über den „tatsächlichen“ Verlauf der Grenze zu etablieren?

Grenzkonflikte zwischen Venedig und Habsburg Die Grenzauseinandersetzungen, auf die ich im Folgenden eingehen werde, spielten sich zwischen der Republik Venedig und den habsburgischen Territorien in der Frühen Neuzeit ab. Diese Auseinandersetzungen haben ihren Ursprung in politischen Konflikten, die bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts 5

Vgl. Landwehr, Achim: Raumgestalter. Die Konstitution politischer Räume in Venedig um 1600. In: Martschukat, Jürgen/Patzold, Steffen (Hrsg.): Geschichtswissenschaft und „performative turn“. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit. Köln/Weimar/Wien 2003 (= Norm und Struktur 19), S. 161-183.

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Achim Landwehr

zurückreichen und in deren Zentrum die Kontrolle der Adria als wichtiger Umschlagplatz des mittelmeerischen Handels stand. Im Verlauf des Kriegs der Liga von Cambrai (1508-1517) hatte Venedig nach der Schlacht von Agnadello (1509) zunächst seine gesamten norditalienischen Besitzungen verloren, sie dann aber nach und nach wieder zurückerobert. In Verträgen aus den Jahren 1516, 1518 und 1521 wurden Regelungen darüber getroffen, wie nach dem Ende des Krieges, der für Venedig insgesamt noch relativ glimpflich verlaufen war, die Gebietsverteilungen im habsburgisch-venezianischen Grenzraum aussehen sollten. Diese Regelungen führten aber zu keiner einvernehmlichen Lösung, bewirkten vielmehr, dass vom 16. bis weit in das 18. Jahrhundert hinein die Grenzkonflikte zwischen Venedig und Habsburg endemisch blieben und immer wieder in Form von Streitigkeiten unterschiedlicher Größenordnungen ausbrachen. Grenztechnisch besonders problematisch war, dass es – je nachdem, von welcher Seite man das Phänomen betrachtete – in diesem Grenzgebiet mehrere Enklaven beziehungsweise Exklaven gab, also Herrschaftsrechte im jeweils anderen Territorium. Die Beseitigung solcher territorialen Unklarheiten war ebenso Gegenstand von Auseinandersetzungen zwischen Venedig und Habsburg wie die Frage der freien Schifffahrt auf der Adria, die Kontrolle diverser Adriahäfen und die Rechtsnachfolge für das Patriarchat von Aquileia.6 Ein marginales und an sich nicht besonders aussagekräftiges Beispiel soll illustrieren, wie sich diese großen politischen Zusammenhänge in den alltäglichen, lokalen Grenzauseinandersetzungen konkretisierten. An einem knappen Schreiben der friaulischen Gemeinde Pontebba vom 18. Februar 1584 (in Venedig schrieb man aufgrund des Jahresanfangs am 1. März noch das Jahr 1583) lassen sich unterschiedliche Aspekte aufzeigen. Der Brief ist in Form einer Bittschrift an den venezianischen Unterhändler Erasmo Graziano gerichtet. Darin bitten die Einwohner von Pontebba darum, dass ihre Anliegen bei den Grenzverhandlungen mit den Habsburgern nicht vergessen werden mögen. Es ging ihnen vor allem darum, dass ihr Gebiet nicht zur Verhandlungsmasse werde, sie stattdessen die angestammten Verfügungsrechte über die nahe gelegenen Berge mit ihren Feldern und Weiden behalten könnten. Ganz konkret hatte ihr Anliegen die Streitigkeiten zum Inhalt, die zwischen den Einwohnern von „Pontebba Venetiana“ (es gab auch noch ein „Pontebba Imperiale“, das auf habsburgischer Seite lag) und denjenigen von Gesia immer wieder auftraten. Die Einwohner von Gesia, Untertanen der Habsburger, verletzten nämlich nach Ansicht der Einwohner von Pontebba die 6

Vgl. Trebbi, Giuseppe: Il Friuli dal 1420 al 1797. La storia politica e sociale. Udine 1998; Bin, Alberto: La Repubblica di Venezia e la questione adriatica 1600-1620. Rom 1992; De Vivo, Filippo: Historical Justifications of Venetian Power in the Adriatic. In: Journal of the History of Ideas 64 (2003), S. 159-176.

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„Grenzen“ („confini“) zwischen beiden Orten, die auf den Gipfeln der Berge Boriz, Monfort und Pozet verliefen. Die Einwohner von Gesia, so der Vorwurf, überschritten diese Grenzen immer wieder, um auf den Berghängen auf venezianischer Seite ihr Vieh weiden zu lassen, Holz zu schlagen oder zu köhlern. Piero Rizzo, der im Namen der Einwohner von Pontebba das Schreiben unterzeichnete, betonte, dass man um die angestammten Rechte kämpfen werde und die Kommissare um Unterstützung in dieser Sache bitte. 7 Es muss nicht gesondert hervorgehoben werden, dass sich die Situation aus habsburgischer Sicht exakt spiegelbildlich darstellte, dass also auch die Einwohner von Gesia überzeugt waren, dass die Nutzung von Weiden und Wäldern zu ihren angestammten Rechten gehörte. Es sind vier Punkte, die an diesem eigentlich unscheinbaren Schreiben auffallen. Zum einen bestätigt sich hier – wenn auch eher implizit – das bereits angesprochene Raum- und Grenzverständnis: Auch die Einwohner von Pontebba dachten nicht an eine durchgezogene Grenzlinie, die ein Territorium in seiner Gesamtheit umfasste, nicht an eine Naht, die den Raum lückenlos abschloss, 8 sondern sie hatten offensichtlich eine Mehrzahl von verschiedenen Grenzabschnitten oder Grenzpunkten im Kopf, wenn sie von derartigen Streitigkeiten berichteten. In diesem Fall waren es „die Grenzen“ auf den Gipfeln der drei Berge, die zur Diskussion standen, und die schon rein sprachlich in diesem wie in zahlreichen anderen Beschreibungen immer im Plural, niemals im vereinheitlichenden Singular vorkommen. Zum zweiten waren diese Grenzen nicht in einem nationalen Sinne aufgeladen. Denn „die Anderen“ von jenseits der Grenze wurden nicht aufgrund nationaler Stereotype angegriffen, sondern aufgrund ihres wirtschaftlich schädigenden Verhaltens. Dies wird bereits deutlich in den neutralen Bezeichnungen, mit denen hier operiert wurde. Es waren eben nicht „die Kaiserlichen“, „die Habsburger“ und schon gar nicht „die Österreicher“, sondern schlicht die Einwohner von Gesia, Untertanen des Kaisers und des Erzherzogs von Niederösterreich, denen man Vorwürfe machte. Folglich waren es drittens nicht nationalistische, sondern ökonomische Fragen, die im Vordergrund standen und die die Grenzen überhaupt erst bedeutsam werden ließen. Hier ging es also nicht um Verteidigung des eigenen Landes um jeden Preis, sondern um wirtschaftliche Nutzungsrechte, die in Gefahr waren („Conservando lo nostro possesso con tutte le nostre forze“). Viertens kam schließlich ein Argument ins Spiel, das 7

8

Vgl. Archivio di Stato di Venezia (ASV): Provveditori sopraintendenti alla camera dei confini (PSCC), Busta 165 (Lettere delli huomeni della Ponteba Veneta, 18. Februar 1583), nicht foliiert. Vgl. Landwehr, Achim.: Der Raum als „genähte“ Einheit. Venezianische Grenzen im 18. Jahrhundert. In: Behrisch, Lars (Hrsg.): Vermessen, Zählen, Berechnen. Die politische Ordnung des Raums im 18. Jahrhundert. Frankfurt a.M./New York 2006 (Historische Politikforschung 6), S. 45-64.

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im Kontext solcher Grenzstreitigkeiten von sehr großer Bedeutung war, und zwar ein zeitliches beziehungsweise historisches Argument: Die Einwohner von Pontebba pochten darauf, dass es sich bei den von ihnen beanspruchten Grenzen um sehr alte Grenzen handele („ansignißimj Confinj“) und ihnen diese Grundstücke an den Berghängen auch „schon immer“ („sempre“) gehört hätten, wie die überlieferten Dokumente zeigten. 9 Es muss kaum noch erwähnt werden, dass die Einwohner von Gesia die beschriebenen „Grenzen“ ohne Zweifel an einer anderen Stelle verortet hätten, als die Einwohner von Pontebba dies taten.

Die Zeichen der Natur Kommen wir nun aber zur Rolle der Natur in diesen Auseinandersetzungen. Sie wird spätestens dann relevant, wenn es um wirtschaftliche Nutzungsrechte geht, die den Grenzstreitigkeiten unterlagen, die, mit anderen Worten, die naturalen Ressourcen betrafen. Daher ließe sich bereits fragen, inwiefern sich wiederholende Grenzverletzungen mit der Beschaffenheit der jeweiligen Ökosysteme und deren land- oder forstwirtschaftlichen Nutzungsmöglichkeiten in Zusammenhang stehen. Darüber hinaus wurde „Natur“ in Konflikten, wie sie in Grenzziehungsvorhaben im habsburgisch-venezianischen Grenzgebiet auftraten, genutzt um Techniken zu etablieren, mit denen versucht wurde, „wahre Aussagen“ über die Grenze zu produzieren. Die Natur in all ihrer Vielfalt und kaum durchschaubaren Komplexität spielte dabei eine wesentliche Rolle. 10 Ihre Zeichen galt es zu lesen und angemessen zu entziffern, um dem „wirklichen“, dem eigentlich intendierten Grenzverlauf auf die Spur zu kommen. Die Natur kam in all diesen Auseinandersetzungen in vielfacher Weise zum Einsatz, sowohl im Klein-Klein der Inaugenscheinnahmen und Ortsbesichtigungen wie auch bei den großen juristischen Fragen europäischen Ausmaßes. Angesichts der Tatsache, dass die gewichtige Frage des Grenzverlaufs zwischen Venedig und Habsburg im Friaul mit der sicherlich noch gewichtigeren Frage der Kontrolle über die Adria verknüpft war, 11 wurde versucht, unterschiedliche Argumente in Anschlag zu bringen. Bei der Grenzkonferenz 9 10

11

ASV: PSCC, Busta 165 (Lettere delli huomeni della Ponteba Veneta, 18. Februar 1583), nicht foliiert. Für einen anderen, sehr gelungenen Versuch mit Blick auf Venedig umwelt- und politikhistorische Perspektiven zu verbinden, vgl. Mathieu, Christian: Inselstadt Venedig. Umweltgeschichte eines Mythos in der Frühen Neuzeit. Köln/Weimar/Wien 2007. Vgl. beispielsweise Braudel, Fernand: Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II. 3 Bde. Frankfurt a.M. 1998, hier Bd. 1, S. 176-189.

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von Udine und Cormons, die in den Jahren 1563 und 1564 abgehalten wurde, 12 brachte Venedig nicht nur historisch-juristische Argumente vor, um den Anspruch auf die Adria zu begründen, beispielsweise indem es die Rechtsnachfolge von Byzanz und damit auch die Herrschaft über den östlichen Teil des Mittelmeers für sich beanspruchte. Nein, die Serenissima argumentierte auch „naturalistisch“, indem beispielsweise einer ihrer Vertreter bei dieser Konferenz, Giovanni Battista Chizzola, anführte, dass Venedig so vom Wasser leben würde wie andere vom Land und die Adria deshalb quasi naturgemäß zum Herrschaftsgebiet Venedigs gehöre. Hintergrund dieser Argumentation war die ebenfalls naturalistisch fundierte juristische Theorie zu Grenzfragen des Bartolus von Sassoferrato, der den Grundsatz aufgestellt hatte, dass das Meer gewissermaßen eine Verlängerung des Landes darstellte, weshalb auch territoriale Grenzen in diesen Bereich verlängert werden müssten. 13 Doch es waren nicht nur diese übergreifenden Fragen, bei denen die Natur als Argument zum Einsatz kam. Viel weitreichender und für die historische Betrachtung auch erstaunlicher war die Art und Weise, wie man bei konkreten Grenzauseinandersetzungen vor Ort mit dem Faktor Natur umging. Dabei stellten vor allem die Beziehungen zwischen der rechtlich verbindlichen schriftlichen Überlieferung und den natürlichen Gegebenheiten die größten Schwierigkeiten dar. Zwischen diesen beiden Polen musste irgendwie vermittelt, ja, musste im eigentlichen Sinn übersetzt werden, was nicht selten ein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen war. Die Problemsituation lässt sich in zweifacher Weise auffächern. Erstens versuchten die Kommissionen zur Eruierung der Grenzsituation vor Ort eine Übereinstimmung herzustellen zwischen der archivalisch überlieferten Informationssituation, die nun einmal als rechtsverbindlich anerkannt wurde, und den jeweiligen natürlichen Gegebenheiten. Sehr häufig kam es jedoch bei Ortsbesichtigungen zu unliebsamen Überraschungen, zu einer Eigendynamik ökologischer Prozesse: Was wenn aus den kleinen und wenigen Bäumchen, die einen Grenzsaum bei seiner letzten Besichtigung malerisch umrahmt hatten, inzwischen ein Wald geworden war, der die Grenze unauffindbar machte? Was wenn Grenzsteine nicht mehr aufzufinden waren? Was wenn ein Fluss seinen Lauf verändert oder ein Bergrutsch die Situation grundlegend verändert hatte? Diese und ähnliche Aspekte haben auch in der bisherigen Forschung bereits eine recht breite Aufmerksamkeit erfahren. 14 12 13

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Vgl. das umfangreiche Material zu dieser Konferenz im ASV: PSCC, Buste 153-160. Vgl. Bin 1992 (wie Anm. 6), S. 24f.; Kretschmayr, Heinrich: Geschichte von Venedig. 3 Bde. Gotha/Stuttgart 1905-1934 (ND Aalen 1964), hier Bd. 3, S. 277f.; Marchetti, Paolo: De iure finium. Diritto e confini tra tardo medioevo ed età moderna. Mailand 2001, S. 205209. Vgl. Marchetti 2001 (wie Anm. 13), S. 187-199; Hellwig, Fritz: Tyberiade und Augenschein. Zur forensischen Kartographie im 16. Jahrhundert. In: Baur, Jürgen F./Müller-Graff, Pe-

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Ein zweites Problem ist bisher jedoch weniger beachtet worden. Es handelt sich um das Übersetzungsproblem, mit dem frühneuzeitliche Grenzkonflikte immer wieder behaftet waren. Denn eine ganz grundsätzliche Schwierigkeit bestand in der korrekten – und das heißt natürlich politisch vorteilhaften – Lektüre der Zeichen, die man in der Natur antraf. Man muss sich die Situation einer mehrfachen Lektüre, Relektüre und Übersetzung vor Augen halten: In einer ersten Grenzbeschreibung wurde die Situation vor Ort für administrative Zwecke in Worte gefasst – die Grenze wurde also verbalisiert. Im Fall von Grenzstreitigkeiten mussten Kommissionen bei einer Ortsbesichtigung diese verbalisierte Grenze nicht nur einer erneuten Lektüre unterziehen, sondern deren Ergebnisse auch in die Natur zurückübersetzen. Die Zeichen der Natur, die den frühneuzeitlichen Administrationen nicht den Gefallen getan hatten, unverändert zu bleiben, mussten korrekt gedeutet werden. Hierfür nur ein knappes, illustrierendes Beispiel: 1663 stritten sich venezianische und habsburgische Amtsträger einmal mehr um diverse Grenzabschnitte zwischen den beiden Territorien. Unter anderem ging es um die Insel Morton in der Nähe von Aquileia, die von beiden Seiten beansprucht wurde. Francesco della Torre, der habsburgische Statthalter von Gradisca, wählte einen interessanten Weg, um deutlich zu machen, dass die Insel „natürlich“ zu Habsburg, nicht zu Venedig gehörte. Denn eigentlich, so sein Argument, sei diese Insel Bestandteil der Sümpfe um Aquileia und damit des habsburgischen Territoriums gewesen. Das Meer hätte die sumpfige Erde aufgeweicht, so dass sich die Insel vom Rest des Landes getrennt habe. Dadurch verliere, wie della Torre weiter ausführte, die Insel jedoch nicht ihre Identität („di non perdere identità delli siti“). 15 Vielmehr, so kann man seinen Gedankengang fortführen, müsse der ursprüngliche Zustand der Natur wieder hergestellt werden, um gesichertes Wissen über die Besitzverhältnisse und damit über den Grenzverlauf zu erhalten. Die Spuren der Zeit mussten retuschiert werden, um zum ursprünglichen Schöpfungszustand zurückzukehren. 16 Der natürliche Raum war also, wie auch andere Beispiele zeigen, nicht das kontingente Ergebnis erdgeschichtlicher Entwicklungen. Vielmehr war und blieb die

15 16

ter-Christian/Zuleeg, Manfred (Hrsg.): Europarecht – Energierecht – Wirtschaftsrecht. Festschrift für Bodo Börner zum 70. Geburtstag. Köln u.a. 1992, S. 805-834; Sahlins, Peter: Natural Frontiers Revisited. France’s Boundaries since the Seventeenth Century. In: American Historical Review 95 (1990), S. 1423-1451. ASV: PSCC, Busta 175 (Bericht von Francesco della Torre, 9. September 1663), nicht foliiert. Vgl. Wieland, Christian: Fürsten, Freunde, Diplomaten. Die römisch-florentinischen Beziehungen unter Paul V. (1605-1621). Köln/Weimar/Wien 2004, S. 276f.; Harrison, Peter: Original Sin and the Problem of Knowledge in Early Modern Europe. In: Journal of the History of Ideas 63 (2002), S. 239-259, hier S. 254f.

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biblische Schöpfungsgeschichte das zentrale Begründungsschema zur Erklärung natürlicher Phänomene. Die bisher benannten Aspekte treffen für den Zeitraum des 16. und weite Teile des 17. Jahrhunderts zu. Etwa seit der Mitte des 17. Jahrhunderts, spätestens jedoch seit der Wende zum 18. Jahrhundert zeigt sich aber, wie sich diese Wissensproduktion mit und über die Natur im Verlauf der Frühen Neuzeit veränderte. Aus der Natur, die während des 16. und 17. Jahrhunderts noch eine „aktive“ Rolle in Grenzziehungsprozessen spielen konnte, wurde allmählich ein passives Objekt obrigkeitlichen Handelns. Dies wird insbesondere am Einsatz von Landvermessern deutlich, die bis weit ins 17. Jahrhundert hinein praktisch keine Rolle gespielt hatten, die aber nun eingesetzt wurden, um die natürlichen Gegebenheiten nach mathematischen und geographischen Prinzipien zu vermessen Die Natur war nun deutlich weniger religiös aufgeladen, sie verwies nicht mehr ausschließlich auf die göttliche Schöpfung, sondern sie konnte nun zunehmend zum Gegenstand menschlicher Eingriffe werden, zum Objekt der Ingenieurskunst. Grenzen wurden nun nicht mehr gefunden, sie konnten gemacht werden. Der Raum der Natur ließ sich dadurch gänzlich neu gestalten. Zuane Domenico Tiepolo, ein venezianischer Patrizier, der sich mit dem Problem der Grenzen auseinandersetzte, sprach Mitte des 18. Jahrhunderts beispielsweise von „la monstruosità di quella Provincia del Friuli“, also vom Friaul als einem Monster, das in seinem jetzigen Zustand zu keiner zivilisierten Ordnung fähig sei („uno stato non suscettibile di alcuna Civil disciplina“). 17 Im gleichen Zeitraum kam der Patrizier Zuane Donado zu dem Ergebnis, dass es nötig sei, „di dare una nuova faccia ad un intera Provincia“, also einer gesamten Region ein neues Gesicht zu geben. 18 Deutlicher lässt sich kaum zum Ausdruck bringen, dass es während der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts diskursiv keinen Sinn mehr machte, Grenzen finden zu wollen – Grenzen konnten (und mussten) nun gemacht werden.

Die Autorität der Natur Wenn man auf diese Art und Weise von der Autorität spricht, welche der Natur in frühneuzeitlichen Grenzkonflikten zugesprochen wurde, dann muss dieses Verständnis in das historische Autoritätsgefüge bei Wissensproduktionsprozessen eingeordnet werden. Wer konnte also in der Frühen Neuzeit

17 18

ASV: PSCC, Busta 145 (Scritture del N.H. Tiepolo sopra Confini, ca. 1745), S. 4. ASV: PSCC, Busta 226 (Comissario à Confini del Friuli, et Istria, Brief Zuane Donado, 22. März 1752), nicht foliiert.

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mit Autorität von sich behaupten, Wissen hervorzubringen – und wie ordnete sich die Natur in diesen Zusammenhang ein? Fragen der Objektivität, der Zuverlässigkeit und der Autorität standen in der Frühen Neuzeit in unmittelbarer Verbindung. Denn: „In der frühen Neuzeit bestand in Europa zwischen sozialem Status und epistemologischer Glaubwürdigkeit ein enger Zusammenhang.“ 19 Diese für den Bereich der Wissenschaftsgeschichte getroffene Feststellung lässt sich ohne Weiteres auf Grenzkonflikte übertragen, denn auch hier bestand ein Konnex zwischen den Bewertungsmaßstäben für die Zuverlässigkeit von Aussagen und dem Stand einer Person. Je höher die soziale Herkunft der Berichterstatter war, desto größer war die Glaubwürdigkeit, die ihre Berichte genossen. Nicht nur das, der soziale Status bestimmte sogar die bloße Möglichkeit der Kommunikation. Diese beiden Aspekte, die Möglichkeit zur Kommunikation sowie die Verbindung von sozialem Status und Glaubwürdigkeit, generierten gemeinsam die Voraussetzung dafür, Wissen produzieren zu können. Von anderer Seite, das heißt aus einer niedrigeren sozialen Position, hätten Versuche zur Wissensherstellung kaum eine Chance gehabt – falls sie denn überhaupt angehört worden wären. Auch und gerade deshalb ist es gerechtfertigt und notwendig, sich auf die Berichte von Kommissionen zu konzentrieren, weil sie mit ihrer sozial hochkarätigen Besetzung die Bedingung der Möglichkeit in sich bargen, Wahres zu sprechen und Wirkliches zu schaffen. Die Wissenschaftsgeschichte hat sich mit derartigen Phänomenen wesentlich ausführlicher beschäftigt, als dies in anderen Bereichen der historischen Wissenschaften der Fall war. Peter Dear berichtet von dem Beispiel Galileo Galileis und seinem Sidereus Nuncius (1610), in dem er unter anderem die Entdeckung der vier Jupitermonde, der von ihm so genannten „mediceischen Sterne“ darlegte. Außergewöhnlich an diesem Werk war nicht nur sein Inhalt, sondern auch die Tatsache, dass – zumindest vorerst – niemand außer Galilei diese Beobachtung machen konnte, weil (noch) niemand über derartig hochwertige Fernrohre verfügte. Damit stand aber die Frage im Raum, ob man Galilei überhaupt glauben könne, denn überprüfen konnte seine Behauptungen niemand. Tatsache ist, dass Galileis Aussagen weitgehend akzeptiert wurden. Die Frage nach dem „Warum“ kann anhand eines Briefes beantwortet werden, den Johannes Kepler an Galilei schrieb und auch publizierte. Darin führte Kepler aus, dass es voreilig erscheinen mag, Galileis Aussagen zu vertrauen, ohne sie selbst überprüft zu haben. Aber aufgrund der sozialen Position Galileis sah Kepler keinen Grund, ihm zu misstrauen, denn schließlich handele es sich um einen Gelehrten und einen Bürger von Florenz, der es wohl kaum wagen würde, die Familie Medici als Großherzöge von Florenz an 19

Vgl. Biagioli, Mario: Galilei, der Höfling. Entdeckungen und Etikette. Vom Aufstieg der neuen Wissenschaft. Frankfurt a.M. 1999, S. 28.

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der Nase herumzuführen, indem er ihnen eine Schrift und eine dazugehörige Entdeckung widmete, die es am Ende gar nicht gäbe. Aufgrund dieser sozialen Faktoren, und nicht wegen wissenschaftlicher Argumente, entschloss sich Kepler dazu, Galileis Aussagen zu akzeptieren, und zwar nicht hinter vorgehaltener Hand, sondern in aller Öffentlichkeit. 20 Mit der Bedeutung, die der soziale Status bei der Bewertung von wahrheitskonstituierenden Aussagen spielte, ist ein wichtiges Moment frühneuzeitlicher Autorisierungsverfahren benannt, das auf eine Jahrhunderte lange Tradition zurückblicken konnte. Wahrscheinlichkeit, Zuverlässigkeit und „Objektivität“ ließen sich nur herstellen, indem man sich auf eine Autorität berief. Je größer die Ausstrahlungskraft dieser Autorität, desto mehr Glaubwürdigkeit konnte die Aussage für sich in Anspruch nehmen. Als Standardautoren, die das größte Autoritätspotential bargen, galten bis in die Renaissance und darüber hinaus Aristoteles und, soweit es den Bereich der Medizin betraf, Galen. Der Ort dieser Autorität war typischerweise ein Text, während neue Aussagen, die sich daran anschlossen, die Form der Kommentars wählten. 21 Autorität strahlten diese Texte, wenn man Jan Assman folgen möchte, vor allem dadurch aus, dass sie einerseits fundierend, d.h. normativ und formativ verbindlich wirkten, andererseits aber auch festgelegt waren, das heißt in ihrem Wortlaut und in ihrem Umfang nicht verändert werden durften. Durch Fundierung und Festlegung waren redaktionelle Eingriffe in diese Texte unmöglich geworden. Der Text war unantastbar und damit auch unverständlich geworden. Er erschloss sich nur noch durch den Interpreten, der nun mit dem Kommentar zwischen den Text und den Rezipienten trat. 22 Nun ging es bei der Feststellung von Grenzen nicht um einen Text und die venezianischen Amtsträger verfassten in diesem Sinne auch keine Kommentare. Doch lassen sich eindeutige Parallelen zwischen dem Verfahren der Textautorisierung durch Kommentierung und der Suche nach Grenzen entdecken; denn der Mensch „verhält sich deutend, ausdeutend, auslegend nicht nur in Bezug auf Texte, sondern auf alle möglichen anderen Phänomene, sofern sie ihm als sinnhaltig und daher ausdeutungsfähig erscheinen.“ 23 Und wurden Grenzen nicht wie Texte behandelt? Wurden sie nicht in den Dokumenten gesucht, die man in Archiven aufbewahrt hatte, und versuchte man nicht, die Natur wie einen Text zu lesen, dessen Zeichen richtig gedeutet 20

21 22 23

Vgl. Dear, Peter: From Truth to Disinterestedness in the Seventeenth Century. In: Social Studies of Science 22 (1992), S. 619-631, hier S. 625f.; Padova, Thomas de: Das Weltgeheimnis. Kepler, Galilei und die Vermessung des Himmels. München/Zürich 2009. Vgl. Dear, Peter: Totius in verba. Rhetoric and Authority in the Early Royal Society. In: Isis 76 (1985), S. 145-161, hier S. 148-150. Vgl. Assmann, Jan: Text und Kommentar. Einführung. In: ders./Gladigow, Burkhard (Hrsg.): Text und Kommentar. München 1995, S. 9-34. Vgl. Assmann 1995 (wie Anm. 22), S. 13.

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werden mussten? Wurden Grenzen nicht insofern fundierend und festgelegt gedacht, als sie keinesfalls verändert werden durften, zeitlich überdauernd waren und eine der wichtigsten normativen Manifestationen darstellten, die sich denken ließen? Und war der Autor dieses Textes nicht die höchste Autorität, auf die man sich überhaupt berufen konnte, der Schöpfer selbst, der in seinem Werk eben auch die Grenzen vorgesehen hatte? 24 Diese galt es durch entsprechende Kommentierung – und in diesem Fall sind die zahlreichen Verhandlungen und Inaugenscheinnahmen, Berichte, Briefe und Karten in der Tat als Kommentare zu diesem Text der Schöpfung zu verstehen – wieder ans Tageslicht zu bringen, da sie durch die Korrumpierung der Zeit, durch den Verlust von Dokumenten oder durch die Unterbrechung der Memoria unsicher geworden waren. Über den Weg zeitlich möglichst weit zurückreichender Dokumente aus den Archiven und Erinnerungen der lokalen Bevölkerung sollte eben dieser Urtext wieder rekonstruiert werden. Dies korrespondiert mit der Beobachtung, dass das Geschichtsbewusstsein, das einer solchen Wissensproduktion von Grenzen zugrunde lag, immer noch ein mittelalterlich-theologisches war. Vor diesem Hintergrund eröffnet sich ein weiterer Beleg für die These von der „Kommentierung“ von Grenzen als wären es Texte, denn auch die historia des Mittelalters verstand sich nicht als Wissenschaft, sondern als Methode der Schriftauslegung. Geschichtsschreibung war ein Teilgebiet der Bibelexegese und ihr Ziel bestand in der Erkenntnis des historischen Schriftsinns. 25 In diesem Sinne arbeiteten auch die Amtsträger zu beiden Seiten der Grenze „historisch“, da sie versuchten, der Natur, dem Papier und dem Gedächtnis den ursprünglichen Sinn der Grenze zu entreißen. Nicht minder typisch war der diesem Vorgehen zugrunde liegende Gedanke, dass derartigen Phänomenen der Wirklichkeit ein überzeitlicher, ewiger Charakter eigen ist, den es freizulegen galt. Dies belegt die Aussage von Perin Garzino, einem ungefähr 85-jährigen Einwohner aus dem venezianischen Vermegliano, der, befragt nach der Grenze gegenüber dem habsburgischen Territorium, angab, es habe in diesem Bereich „altri confini vecchi“ gegeben, „che sono stati levati, ò consumati dal tempo“, es seien also andere alte Grenzen vorhanden gewesen, die entweder entfernt wurden oder mit der Zeit verschwunden seien. 26 Als Träger der Memoria – als solcher wurde er nämlich befragt – war Garzino aber in der Lage, den Verlauf dieser Genzen 24 25 26

Vgl. Borst, Arno: Der Turmbau von Babel. Geschichte der Meinungen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker. 4 Bde. Stuttgart 1957-1963, hier Bd. 4, S. 1967-1969. Vgl. Buck, Thomas Martin: Vergangenheit als Gegenwart. Zum Präsentismus im Geschichtsdenken des Mittelalters. In: Saeculum 52 (2001), S. 217-244, hier S. 219f. ASV: PSCC, Busta 173 (Brief 18. Januar 1643 [=1644], Befragung einiger Bewohner von Monfalcone, 10. Januar 1643 [=1644]), fol. 2v.

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wieder ausfindig zu machen. Dieser Umstand korrespondiert mit der Situation des „echten Kommentars“, wie ihn Jan Assmann nennt, der einen Schlussstrich unter das Produzieren von Texten zog und dadurch das Bewusstsein etablierte, dass alles Sagbare gesagt und alles Wissbare aufbewahrt war. Von nun an galt es nur noch, die Tradition dieser Weisheit nicht abreißen zu lassen und die Wahrheit des Textes immer wieder zu aktualisieren. 27 Ähnlich verhielt es sich beim Umgang mit den Grenzen: Sie waren abgeschlossen, der Geschichte und der Veränderung enthoben – nun durfte nur das Wissen von ihnen nicht verloren gehen. Die Grenzzeichen mochten verschwinden, aber deswegen lösten sich die Grenzen noch lange nicht auf. Grenzen hatten demnach keine Geschichte, sondern ließen sich (theoretisch) in ihrer Ursprünglichkeit immer rekonstruieren. Dieses Verfahren, und nur dieses, verhieß Autorität für die Aussagen über den Grenzverlauf. Für die Geschichte der Wissenschaften wurde festgestellt, dass sich diese Formen der Autoritätserzeugung – also die Berufung auf möglichst antike Autoritäten und die Kommentierung ihrer Texte – im Verlauf der sogenannten „wissenschaftlichen Revolution“ während des 17. Jahrhunderts deutlich wandelten. Diese Aussage hat auch für das Feld des Politischen Gültigkeit. Jedoch schaffte auch das 17. Jahrhundert mit seinen tiefgreifenden Wandlungen im Bereich des Wissens und der Wissensproduktion nicht die Bedeutung der sozialen Stellung ab, wenn es um die Herstellung von Autorität und Objektivität ging. In der Royal Society, neben der französischen Académie Royale des Sciences institutionalisierter Ausdruck der „wissenschaftlichen Revolution“, konnten Aussagen nicht nur dadurch auf Glaubwürdigkeit und Akzeptanz hoffen, dass sie den Normen naturwissenschaftlicher Verfahren folgten. Eine hohe soziale Stellung trug unzweifelhaft dazu bei, das Gewicht der jeweiligen Aussage zu erhöhen. 28 Das Axiom, auf dem diese Möglichkeiten zur Herstellung autoritativ aufgeladener Aussagen beruhten, die sich zu Wissen und Wahrheit verdichteten, war schlicht Vertrauen. Für das England des 17. Jahrhunderts hat man von einer Ausweitung der gentleman-Ideale auf den Bereich der Naturphilosophie gesprochen. Demnach wurde den Aussagen eines gentleman, eines Adligen oder eines Mitglieds anderer vornehmer Familien schon deswegen vertraut, weil er bestimmten Ehrenregeln unterworfen war. Dies konnte so weit gehen, dass man eher bereit war, dem Bericht eines – in diesem Sinn – vertrauenswürdigen Zeugen zu glauben als auf die Regelhaftigkeit der Natur zu bauen: „Als beispielsweise die Pariser Académie des Sciences frustriert ihre Versuche aufgab, Johann Bernoullis leuchtende Barometer zu reproduzieren, erhielt Bernoulli vom 27 28

Vgl. Assmann 1995 (wie Anm. 22), S. 29. Vgl. Dear 1985 (wie Anm. 21), S. 156.

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Ständigen Sekretär der Akademie, Bernard de Fontenelle, die Versicherung, daß ‚das Vertrauen, das man in sein [Bernoullis] Wort‘ habe, die Akademiemitglieder eher geneigt mache, an eine unbeständige Natur zu glauben, als seine Aussagen in Zweifel zu ziehen, auch wenn diese nicht verifizierbar waren.“ 29

Neben diesem wichtigen sozialen Aspekt existiert jedoch noch eine juristische Seite bei der Herstellung von Glaubwürdigkeit und Autorität, die nicht nur bei Grenzkommissionen, sondern ebenfalls in den sich im 17. Jahrhundert entwickelnden Naturwissenschaften zu beobachten ist. Notwendig wurden derartige Autorisierungsstrategien durch die neue Vorgehensweise mittels Experimenten. Da im 17. Jahrhundert ein solches Verfahren durchaus neuartig war, mussten – neben der sozialen Stellung der Beteiligten – andere Garantieleistungen entwickelt werden, damit die experimentell hervorgebrachten Tatsachen auch wirklich als Tatsachen akzeptiert wurden und sich gegen die etablierten philosophischen Verfahren durchsetzen konnten. 30 Diese Verfahren bestanden – durchaus in Parallele zu den Grenzauseinandersetzungen – vor allem in der Gewährleistung einer Zeugenschaft. Es genügte also nicht, einfach nur ein Experiment durchzuführen und seinen Erfolg zu konstatieren, sondern dieses Experiment musste vor einer wissenschaftlich relevanten Gemeinschaft durchgeführt werden. Dabei wurden bereits von den Zeitgenossen des 17. Jahrhunderts Parallelen zu juristischen Verfahren gezogen, so beispielsweise, wenn Robert Boyle darauf insistierte, dass die Zeugenschaft bei einem Experiment eine größere Gruppe und nicht nur ein Einzelner sein sollte, denn wie im Strafrecht habe eine Aussage dann ein höheres Gewicht, wenn sie von mehreren Zeugen bestätigt werde, nicht nur von einem einzigen. 31 Der besondere Dreh bei dieser juristischen Argumentation bestand nicht nur darin, dass sich die Autorität der Aussage mit der Zahl der Zeugen multiplizierte, sondern dass sie als nicht mehr anzweifelbar bestätigt wurde. Die Vielzahl der Zeugen unterstrich die Wahrheit einer Tatsache. Mit diesem Umstand korrespondierte auch ein weiteres juristisches Verfahren, dass nämlich die anwesenden Zeugen – beispielsweise die Mitglieder der Royal Society – den Erfolg des Experiments durch ihre Unterschrift bestätigten. Nicht die 29

30

31

Daston, Lorraine: Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität. Frankfurt a.M. 2001, S. 171. Für den Bereich der Produktion geographischen Wissens im späten 17. Jahrhundert finden sich parallele Beobachtungen bei Withers, Charles W.J.: Reporting, Mapping, Trusting. Making Geographical Knowledge in the Late Seventeenth Century. In: Isis 90 (1999), S. 497-521. Am Beispiel der Auseinandersetzung zwischen Robert Boyle und Thomas Hobbes zeigen Steven Shapin und Simon Schaffer diesen Konflikt in ihrem bereits zum Klassiker gewordenen Buch auf: Shapin, Steven/Schaffer, Simon: Leviathan and the Air-Pump. Hobbes, Boyle, and the Experimental Life. Princeton 1985. Vgl. Shapin/Schaffer 1985 (wie Anm. 30), S. 55f.

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Anzahl der Unterschriften spielte hierbei die entscheidende Rolle, sondern die Tatsache, dass die Zeugen unterschrieben und somit „die Wahrheit“ zertifizierten. Nicht weniger bedeutsam war natürlich die Qualität der Zeugen, die sich sowohl wissenschaftlich als auch sozial auszeichnen mussten, um diese Rolle überhaupt übernehmen zu können: „Oxford professors were accounted more reliable witnesses than Oxfordshire peasants.“ 32 Diese Verfahren, um die Autorität wissenschaftlicher Aussagen im 17. Jahrhundert zu gewährleisten, zielen auf den Kern frühneuzeitlicher Wahrheitsherstellung und sind vor allem aufgrund der Parallelen zu den hier betrachteten Grenzkonflikten in der Lage, die Bedeutung derartiger Wissensproduktionstechniken in der Frühen Neuzeit hervorzuheben.

32

Shapin/Schaffer 1985 (wie Anm. 30), S. 58.

CHRISTIAN WIELAND

Grenzen an Flüssen und Grenzen durch Flüsse Natur und Staatlichkeit zwischen Kirchenstaat und Toskana Unannehmlichkeiten in der Provinz 1: Monterchi, Citerna, Flüsse und Straßen Die Einwohner des großherzoglich-toskanischen Kleinstädtchens Monterchi – etwa 30 km südlich von Arezzo – und des zum Kirchenstaat gehörigen, nicht weniger provinziellen Citerna – 50 km nordwestlich von Perugia – verband eine durch die Macht der Tradition geheiligte, herzliche Feindschaft, die sich allerdings weder in ausgeklügelten Feindbildern, noch in grundsätzlichen Strategien einer theoretisch fundierten Abgrenzung niederschlug, sondern in einem nur selten unterbrochenen Kleinkrieg gewissermaßen „von Dorf zu Dorf“ 1 – wie dies im vormodernen Europa üblich war und teilweise im heutigen Europa nach wie vor üblich ist, in dem Sinne beispielsweise, dass ausgerechnet die Bewohner des benachbarten Landkreises am schlechtesten Auto fahren können oder das rüpelhafteste Benehmen überhaupt an den Tag legen. 2 Dieser alltägliche Kleinkrieg spiegelt sich in zahllosen zivil- und strafrechtlichen Auseinandersetzungen um Wälder, Felder, Wiesen und Gewässer, deren Besitz und deren Nutzung, wider, wie sie die Tätigkeit der Land-, Hofund auch der höchsten Gerichte der Frühen Neuzeit zu weiten Teilen prägten. 3 Dass der Dauerkonflikt zwischen Monterchi und Citerna, diesen benachbarten Gemeinden Mittelitaliens, in dessen Zusammenhang sowohl menschliches Tun als auch durch die Natur selbst, durch die Veränderung von Wasserläufen und damit auch von Grenzlinien, hervorgerufene Störungen im Mittelpunkt standen, dass dieser Konflikt also zugleich einer zwischen                                                              1

2

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Zum Folgenden vgl. Wieland, Christian: Fürsten, Freunde, Diplomaten. Die römischflorentinischen Beziehungen unter Paul V. (1605-1621). Köln/Weimar/Wien 2004 (= Norm und Struktur 20), S. 300-308. Vgl. Sahlins, Peter: The Nation in the Village. State-Building and Communal Struggles in the Catalan Borderland during the Eighteenth and Nineteenth Centuries. In: Journal of Modern History 60 (1988), S. 234-263. Vgl. Wieland, Christian: Nach der Fehde. Studien zur Interaktion von Adel und Rechtssystem am Beginn der Neuzeit. Bayern 1500-1600. Freiburg i.Br. 2009 [Manuskript der Habilitationsschrift], S. 433-438. Vgl. zu diesem Zusammenhang auch: Marchetti, Paolo: De iure finium. Diritto e confini tra tardo medioevo ed età moderna. Mailand 2001 (= Unversità degli Studi di Teramo, Facoltà di Giurisprudenza. Collana di Facoltà NS 8), S. 48-61.

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zwei Staaten – eben der Erbmonarchie der Medici 4 und der Wahlmonarchie der Päpste 5 – war, hatte zunächst keine Auswirkungen auf die Verlaufsformen dieser periodisch wiederkehrenden Konflikte selbst, wohl aber auf deren Wahrnehmung und Überlieferung, denn dies bedeutete, dass sie zum Thema der Korrespondenz der bei den jeweiligen Höfen in Rom und Florenz akkreditierten Diplomaten wurden, und dass sie so in vielfacher Brechung und Überlagerung auch bei der Betrachtung von zwischenstaatlichen Beziehungen ins Auge springen. 6 Dabei können die im Folgenden geschilderten Episoden aus dem zweiten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts durchaus den Anspruch erheben, Einblicke in die Strukturen lokaler Grenzkonflikte und ihrer zentralen Verarbeitung überhaupt zu gewähren – denn wenn auch die Diplomaten und Bürokraten der jeweiligen Zentren dazu neigten, die von ihnen zunächst vorgefundenen und schließlich bekämpften Eruptionen von Volk und Natur gleichermaßen als einmalige, punktuelle Störungen eines ursprünglichen, auf Harmonie und Gleichgewicht beruhenden Zustandes zu betrachten, den es wiederherzustellen galt, so schien sich für die unmittelbar betroffene Bevölkerung der Konflikt mit den Nachbarn und die mit ihm verbundene Unberechenbarkeit der Natur als Normalzustand zu präsentieren, an dem die vereinten Bemühungen der Bürokraten und Ingenieure nur wenig zu ändern vermochten. 7 Eine dem heiligen Antimo geweihte Pfarrkirche hatte die schwierige Rolle, zugleich als gemeinsamer Besitz der Gemeinden Monterchi und Citerna und als trennend, als steingewordenes Symbol der Dorf- und Staatsgrenzen, zu wirken – „comune e divisoria fra lo stato di S.ta Chiese, e Fiorenza“, 8 ablesbar an einem Grenzstein, der sich im Glockenturm der Kirche befand. Diese kurios anmutende Konstruktion aus gemeinsamer geistlicher Heimat und scheidenden staatlichen Zuordnungen, die für vormoderne Verhältnisse keineswegs ungewöhnlich war, wurde – eben wegen dieser zum Prinzip erhobenen Uneindeutigkeit – zum Quell ständiger Auseinandersetzungen: Zum einen stellte sich die Frage, in wessen Zuständigkeit diejenigen fielen, die vor dem Zugriff der weltlichen Justiz in das Innere der Kirche von S. Antimo                                                              4

5 6

7 8

Vgl. Fasano Guarini, Elena: Lo stato mediceo di Cosimo I. Florenz 1973 (= Archivio dell’atlante storico italiano dell’età moderna. Quaderno 1); dies.: The Grand Duchy of Tuscany at the Death of Cosimo I. A Historical Map. In: The Journal of Italian History 2 (1979), S. 520-530. Vgl. Caravale, Mario/Caracciolo, Alberto: Lo stato pontificio da Martino V a Pio IX. Turin 1978 (= Storia d’Italia 14). Vergleichbare Phänomene an der Grenze zwischen dem Kirchenstaat und der Republik Venedig benennt Emich, Birgit: Territoriale Integration in der Frühen Neuzeit. Ferrara und der Kirchenstaat. Köln/Weimar/Wien 2005, S. 184-195. Vgl. Wieland 2004 (wie Anm. 1), S. 311-313. Archivio Segreto Vaticano [ASV], Archivium Arcis [AA], Armadio [Arm.] I-XVIII, 4758, fol. 108r-v. Vgl. Wieland 2004 (wie Anm. 1), S. 301.

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geflohen waren, um dort das Kirchenasyl zu beanspruchen, denn irgendwann musste schließlich auch der hartnäckigste Delinquent den Kirchenraum wieder verlassen, und es war üblich, dass beide Gemeinden – je nach juristischem Interesse – Wachen vor der Kirche aufstellten, die nicht nur den einen Zweck erfüllten, jedwede Fluchtversuche des Flüchtigen zu vereiteln, sondern auch den Kollateraleffekt mit sich brachten, dass die Bewohner des jeweils anderen Ortes am Kirchgang gehindert wurden. Zum anderen wurde eben diese Kirche zum Austragungsort ganz unverschleierter nachbarschaftlicher Feindseligkeiten: Während Klerus und Volk beider Orte am Fest der Himmelfahrt Mariens in feierlicher Prozession nach S. Antimo zogen, trugen viele der Prozessierenden ungeachtet des frommen Anlasses Waffen mit sich und nutzten das liturgisch umrahmte Zusammentreffen beider Gemeinden nicht allein, um sich gegenseitig erfrischende Wahrheiten mitzuteilen, sondern auch dazu, der Meinung, die man vom jeweiligen Gegenüber hatte, tatkräftigen Ausdruck zu verleihen. 9 Verständlich, dass diese Form nachbarschaftlichen Zusammenlebens vor allem den klerikalen Regierungsbeamten des Kirchenstaats die Notwendigkeit plastisch vor Augen führte, im Konzert mit den großherzoglich-toskanischen Kollegen an der endgültigen Pazifikation dieses Grenzkonflikts zu arbeiten. Strittig in ihrer limitierenden Funktion war zwischen Monterchi und Citerna jedoch nicht nur die Pfarrkirche, sondern strittig waren ebenso die Straßen und Flussläufe, die sich – auf schwer zu definierende Weise – „zwischen“ den beiden Gemeinden befanden. Das heißt: Es war nicht allein das geistlichweltliche Kulturprodukt „Kirche und Grenzstein“, sondern es waren ebenso in der Natur vorgefundene und kulturell überformte Größen, die Konflikte generierten bzw. die aufgrund konkurrierender Deutungen der Anwohner zum Auslöser von Auseinandersetzungen wurden. Ein Pächter der Kirche von S. Antimo beispielsweise, ein gewisser Giovanliso Orlandini, behauptete hartnäckig, ein Bach, der eines seiner Felder begrenzte, bilde zugleich auch die Grenze zwischen den benachbarten Städten und Staaten, eine Behauptung, die seitens der Gemeinde Citerna und des Kirchenstaates ebenso hartnäckig bestritten wurde: Der Bach befände sich vielmehr innerhalb des Gebiets von Citerna, und die Grenzführung sei nicht an die – immer wieder launenhafte – Natur und den Lauf eines Wassers gebunden, sondern an Überlieferung, Tradition, Kartographie und den Willen der Herrschenden. 10 Die Bewohner von Monterchi hatten am Ufer des Ricianello, eines an der Grenze zwischen ihrer Gemeinde und Citerna fließenden Flusses, Bäume fäl                                                             9 10

Vgl. ASV, AA, Arm. I-XVIII, 4758, fol. 116r-121v; vgl. Wieland 2004 (wie Anm. 1), S. 303. Vgl. ebd., fol. 107r-108r.

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len lassen und dadurch nicht nur das Flussbett verbreitert, sondern auch dessen Lauf derart verändert, dass ihr Gebiet auf Kosten Citernas erweitert wurde. Zusätzlich war es ihnen durch die Errichtung eines Dammes gelungen, sich des regelmäßig wiederkehrenden Problems der in Frühjahr und Herbst auftretenden Überflutungen ihrer Felder, Straßen und Behausungen zu entledigen, während die Bewohner von Citerna nunmehr umso stärker von dieser „gewöhnlichen Katastrophe“ betroffen waren. 11 Bei diesem Vorgang hatte es sich nicht um einen irgendwie gearteten „staatlichen“ Übergriff gehandelt, vielmehr spiegelt er zunächst nichts anderes als das Interesse von Grundeigentümern, ihren Besitz möglichst auszudehnen; und auch die Tatsache, dass die Kühe, Schafe und Ziegen der Viehzüchter der einen und der anderen Seite gelegentlich die Weideflächen ihrer Besitzer verließen und sich an dem Gras eines fremden Herrn erfreuten, war gewiss kein Akt zwischenstaatlicher – avant la lettre „internationaler“ – Kriminalität, sondern den Zufällen und kleinen Schikanen vormoderner Weidewirtschaft geschuldet. 12 Doch in der Wahrnehmung der jeweiligen Gouverneure und Vikare, Botschafter und Nuntien und schließlich der Regierenden, des Großherzogs und des Papstes selbst, war es eben auch dies: eine Beeinträchtigung der eigenen staatlichen Integrität und Souveränität und eine Störung der „reciproca amorevolezza tra l’una, e l’altra parte“ 13 – der wechselseitigen Liebenswürdigkeit, die doch die Grundlage aller zwischenstaatlichen Beziehungen, die auf zwischenfürstliche „amicizia“ ausgerichtet waren, bilden musste. 14 So beurteilte man auch die Neigung der angrenzenden Landbesitzer, eine Straße, die als Grenze zwischen den Stadt- und Staatsgebieten diente, immer wieder zu verschieben und in ihrem Verlauf zu verändern, eher als Ausdruck von „Gier“ oder mangelnder Genauigkeit denn als eine intendierte Schädigung des jeweiligen Nachbarstaates. 15 Die Gegenmaßnahmen, die man den entsprechenden Bürokraten in der Peripherie empfahl, waren denn zunächst auch nichts anderes als das, was jede Obrigkeit bei Fällen dieser Art zu tun pflegte: harte Geldstrafen für alle diejenigen, die ihrer Aufgabe der Straßenpflege nicht gerecht wurden, sowie die Anlage von Gräben, um das Unterspülen der Straße zu verhindern, und                                                              11

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Archivio di Stato di Firenze [ASF], Archivio Mediceo del Principato [AMP], filza [f.] 3328, Piero Guicciardini an Cosimo II., 6.12.1613, sowie Piero Guicciardini an Curzio Picchena, 13.12.1613. Vgl. ASV, AA, Arm. I-XVIII, 4758, fol. 124r-125r. Ebd., fol. 145r-146v. Zur Kategorisierung zwischenstaatlicher bzw. zwischenfürstlicher Beziehungen im frühen 16. Jahrhundert vgl. Mörschel, Tobias: Buona Amicitia? Die römisch-savoyischen Beziehungen unter Paul V. (1605-1621). Studien zur frühneuzeitlichen Mikropolitik in Italien. Mainz 2002 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung für Universalgeschichte 193). Vgl. ASV, AA, Arm. I-XVIII, 4758, fol. 107r-108r.

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das Anpflanzen von Bäumen, die den Straßenverlauf eindeutig, sichtbar und unverrückbar markieren sollten. 16 Diese Maßnahmen erhielten jedoch durch den diplomatischen und zeremoniellen Rahmen, in den sie eingebettet waren, eine Valenz, die das Unmittelbare und Individuelle des im Kern alltäglichen dörflichen Krieges überstieg und auf das Allgemeine und Ewige der Freundschaft zwischen dem Großherzog und dem Papst verwies. Im Januar des Jahres 1614 begaben sich Vertreter beider Seiten an die umstrittene Grenze zwischen Monterchi und Citerna, um sich durch den persönlichen Augenschein vom tatsächlichen Ausmaß der durch Baumschlag und Überschwemmung entstandenen Schäden zu überzeugen, 17 um allgemeine Richtlinien für eine nachhaltige Pazifikation der Grenzbewohner und eine durchgreifende Melioration des Grenzlandes zu erarbeiten und schließlich, um – personifiziert und vor Ort – die Harmonie und Eintracht zu demonstrieren, die einerseits zwischen Papst Paul V. und Großherzog Cosimo II. herrschte und andererseits zwischen den unmittelbar benachbarten Toskanern und Kirchenstaatlern herrschen sollte: gleichsam zur Erziehung des Volkes durch das Vorbild der Herrschenden. 18 Um allerdings dieses vorbildhafte Erscheinungsbild zu realisieren, bedurfte es ausgeklügelter diplomatischer Winkelzüge, denn die Medici drohten zunächst, dem durch den Papst entsandten Gouverneur von Perugia 19 ein in bürokratisch-hierarchischer und ständisch-sozialer Hinsicht vergleichsweise unbedeutendes Pendant entgegenzustellen. Doch nach intensiven Vorhaltungen, die der großherzogliche Botschafter in Rom unter dem Eindruck kurialer Empfindlichkeiten an die Adresse seiner Herren in der toskanischen Heimat machte, entschloss man sich in Florenz, mit dieser Aufgabe den Senator Raffaello de’ Medici zu beauftragen, der allein wegen seiner – wie auch immer entfernten – Verwandtschaft zur Fürstenfamilie als Garant der Hochschätzung des Nachbarstaates, des Papsttums und nicht zuletzt des Hauses Borghese dienen konnte. 20 Die Ausarbeitung eines konkreten, auch technisch validen Plans zur Umsetzung der Vorschläge des Gouverneurs und des Senators überließ man einem – wiederum paritätisch mit Kirchenstaatlern und Toskanern besetzten – Expertengremium aus Architekten und Ingenieuren, deren Arbeit, deren                                                              16 17 18 19

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Vgl. ebd., fol. 124r-125r. Vgl. den Bericht über den Ortstermin an den Nepoten Papst Pauls V., Kardinal Borghese, ebd., fol. 113r-115r. Vgl. ASF, AMP, f. 3328, Piero Guicciardini an Curzio Picchena, 21.12.1613, sowie 27.12.1613. Es handelte sich um Domenico Marino; zur Person: Weber, Christoph (Hrsg.): Legati e governatori dello Stato pontificio (1550-1809). Rom 1994 (= Pubblicazioni degli Archivi di Stato. Sussidi 7), S. 634. Vgl. Mecatti, Giuseppe Maria: Storia genealogica della nobiltà e cittadinanza di Firenze, divisa in quattro parti. Neapel 1754, S. 133.

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Sprache und Symbolik auffällig frei von dem fast zwanghaft anmutenden Drang zur Harmonie, zur Gegenseitigkeit und zur wechselseitigen Ehrerbietung war, der das Tun der fürstlichen Diplomaten auszeichnete. 21 Allerdings blieben die ausgeklügelten Projekte der Fachleute zumindest für die Dauer des Pontifikats Pauls V. vollkommen folgenlos: Einerseits scheint es so, als sei dem primär zeremoniellen Bedürfnis der Herrschenden in den Zentralen bereits mit der Herstellung des Plans an sich Genüge getan, andererseits ließ sich ohnehin keine Einigung darüber erzielen, wer denn eigentlich welchen Anteil an den zu erwartenden Kosten tragen sollte – Monterchi, Citerna, Großherzogtum oder Kirchenstaat. Und schließlich veränderten die betreffenden Flüsse Riccianello und Cerfone im Laufe des Sommers des Jahres 1615 ihren Lauf derart, dass man sich der Notwendigkeit unmittelbaren Handelns zunächst enthoben sah. 22 Allerdings veranlasste die Laune des Wassers Paul V. noch zu einer bemerkenswerten Grundsatzäußerung über das Verhältnis der Größen „Natur“ und „Grenzen“: „Nach der Veränderung der Flussläufe erschien es dem Papst geraten, dass man Grenzmarkierungen aus Stein, fest, stabil und sichtbar, dort setzen müsse, wo die Grenze zwischen dem Kirchenstaat und dem Großherzogtum vorher und tatsächlich gewesen sei, denn dass die Gewässer ihren Lauf änderten, sei kein Grund, dass sich auch die Grenzen änderten“. 23

Frühneuzeitliche Grenzdebatten Die Grenzen der Staaten gehörten in dem Maße, in dem sich die Gemeinwesen des späten Mittelalters zu Staaten transformierten, zunehmend zu den von den Obrigkeiten monopolisierten Objekten der Regierung, ja es ließe sich argumentieren, dass die diskursive Herstellung der Grenzen und die mit ihnen verbundenen Herrschaftspraktiken den Staat erst „machten“ und ihn und seine Aktivitäten in der Peripherie zugleich legitimierten. 24 Zunächst handelte                                                              21 22 23

24

Vgl. ASV, AA, Arm. I-XVIII, 4758, fol. 124r-125r. Zum Wetter – oder allgemeiner: zum Klima – als Faktor der Gestaltung der Grenze vgl. ASF, AMP, f. 3329, fol. 632r, Piero Guicciardini an Curzio Picchena, 12.09.1614. ASF, AMP, f. 3330, Piero Guicciardini an Curzio Picchena, 14.12.1615: „[…] poiche questi fiumi hanno mutato il corso, et il letto gli [dem Papst, C.W.] parrebbe, che si dovessero porre Confini di pietra fermi, stabili, et visibili dove era prima, et è realmente il Confino fra lo stato ecclesiastico, et quello del Gran Duca Nro. Sig. re perche alterando l’acque il lor corso non è ragione si alterino i confini […]“. Zum Vorgang der Herstellung einer linearen Grenze an der Stelle einer diffusen Grenzzone in der Frühen Neuzeit vgl. Sahlins, Peter: Boundaries. The Making of France and Spain in the Pyrenees. Berkeley/Los Angeles/Oxford 1989. Zur Definition von Staaten im Zusammenhang mit der Existenz einer eindeutigen Grenze vgl. Reinhard, Wolfgang: Das Wachstum der Staatsgewalt. Historische Reflexionen. In: Der Staat 31 (1992), S. 59-75,

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es sich bei den mit der Identifizierung, sichtbaren Markierung und Archivierung von Grenzverläufen verbundenen Praktiken nicht um die planvolle Herstellung eines homogenen, eindeutig von den Herrschaftsgebieten benachbarter Souveräne getrennten Territoriums; in vieler Hinsicht stellten die Tätigkeiten der frühneuzeitlichen Obrigkeiten eine zwar konzentriertere, gebündelte und somit zielgerichtetere, im Kern jedoch von ihnen nicht unterschiedene Fortsetzung der Auseinandersetzungen um Jurisdiktions- und damit Herrschaftsrechte des Mittelalters dar. 25 Dennoch nahm das Bemühen, eben diese Rechte zu bewahren, zu verteidigen und auszudehnen, im Laufe der Frühen Neuzeit immer bürokratischere – und damit „staatlichere“ – Formen an: So wurde im Herzogtum Florenz, dem nachmaligen Großherzogtum Toskana, im Jahr 1560 mit den „Nove Conservatori del Dominio e della Giurisdizione“ eine neue „monarchische“ Behörde ins Leben gerufen, deren Zuständigkeitsbereich sich als „Definition des Territoriums“ beschreiben lässt. 26 Im Jahr 1570 erging an alle Richter des Großherzogtums, deren Gerichtssprengel Grenzregionen umfassten, der Befehl, in jährlichem Abstand die Staatsgrenzen zu inspizieren und einen Bericht über diesen Lokaltermin an die „Nove Conservatori“ zu senden. Es ist jedoch fraglich, in welchem Maße sich diese durch eine institutionalisierte Kommunikation zwischen den Amtsträgern des Zentrums und der Peripherie hergestellte, kontinuierlich aktualisierte Grenzbeschreibung tatsächlich als Vorgang der Zentralisierung und damit der Formalisierung und Verstaatlichung des Phänomens der Grenze begreifen lässt, denn die große Zahl der Berichte, die nach Florenz gesandt wurden, führte, zugespitzt formuliert, zu nichts: Die Darstellungen der Richter wurden nicht kontrolliert, das durch den Augenschein erworbene Wissen wurde weder kodifiziert noch inventarisiert (beispielsweise durch die Anlage von Kartenwerken), und auf die Anzeige von offensichtlichen Mängeln wie das Fehlen von Grenzsteinen oder die Verschiebung von Flussläufen oder Straßenzügen, die als Indikatoren von Gemeinde- und Staatsgrenzen gedient hatten, erfolgte keineswegs eine automatisierte, standardisierte Reaktion der Zentrale. 27 Dennoch waren die durch monarchische Weisung erzwungenen regelmäßigen Visitationen und ihr verschriftlichter Niederschlag keineswegs Ausdruck eines sinn- und funktionslosen Aktivismus einer neugeschaffenen Einrichtung, die                                                                                                                                          25 26

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hier S. 59; ders.: Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart. München 1999, S. 42f. Vgl. dazu Landwehr, Achim: Die Erschaffung Venedigs. Raum, Bevölkerung, Mythos 1570-1750. Paderborn u.a. 2007, S. 23-192. Vgl. zum Folgenden Stopani, Antonio: La memoria dei confini. Giurisdizione e diritti comunitari in Toscana (XVI-XVIII secolo). In: Quaderni Storici 118 (2005), S. 73-96. Ähnliche Bürokratisierungsvorgänge lassen sich auch in anderen Territorialstaaten beobachten, so in Venedig mit dessen „Magistrato ai Confini“; vgl. ebd., S. 73. Vgl. ebd., S. 75.

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ihren mangelnden Nutzen durch das Ersinnen von Beschäftigungstherapien für ihre Untergebenen kompensierte und auf diese Weise ihre Existenzberechtigung gleichsam selbst schuf – nur bezog sich die herrschaftsstabilisierende und staatsbildende Wirkung der von den „Nove“ eingeforderten jährlichen Kontrollgängen auf die Peripherien selbst. Die Richter unternahmen diese Besuche immer in Begleitung von mehreren Einwohnern der betreffenden Kommunen, die zwei einander ergänzende Funktionen erfüllten: Zum einen dienten die Autochthonen als Spezialisten dessen, was man in der Natur vorfand. Sie waren die Experten, die in der Lage waren, den Augenschein sprachlich zu benennen und damit zu deuten, sie wiesen dem Beobachteten seine juristische – also die Grenze markierende und schaffende – Bedeutung erst zu, indem sie beispielsweise eine Kirche oder ein Kreuz als Grenzposten benannten oder auf ursprünglich vorhandene, mittlerweile jedoch verschwundene Grenzmarkierungen hinwiesen. Zum anderen sollten die Erfahrenen, die Kenntnisreichen, von jungen Dorfbewohnern begleitet werden, damit sich das lokale Wissen von einer Generation auf die andere übertrug, so dass auf diese Weise die tradierte Memoria regelmäßig aktiviert, konserviert und tradiert wurde; insofern handelte es sich bei den von den „Nove“ geforderten und in deren Auftrag durchgeführten Ortsbegehungen um Akte staatlicher Pädagogik, einer staatsbürgerlichen Disziplinierung der Erinnerung. 28 Zudem blieb das Wissen um die Grenze, indem es durch eine immer wieder ins Werk gesetzte Kommunikation zwischen Untertanen, Beamten der mittleren Ebene und Zentralbehörden zu einer Art von staatlichem und verschriftlichtem Gemeingut gemacht wurde, eben nicht mehr rein örtlich und punktuell, sondern erhielt eine überindividuelle gültige Dignität. Die Art und Weise, wie die Größen „Natur“ sowie „Jurisdiktion“ und „Grenze“ in den Beschreibungen der Richter und Geographen des Ancien Régime zueinander in Beziehung gesetzt wurden, zeichnet sich durch eine eigentümliche Hybridität aus: 29 Zum einen ist die Vorstellung von einer Identität naturgegebener Größen – Bäche, Flüsse oder Bergrücken – und jurisdiktioneller, territorialer und damit staatlicher Grenzen zu erkennen. 30 Zum anderen jedoch durchzieht die im Rahmen der Grenzbeschreibungen produzierten Texte die Überzeugung, dass diese in der Natur vorgefundenen Phänomene nicht nur die explizite Benennung als Grenze benötigen, um als solche                                                              28

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Vgl. ebd., S. 74, 79. Für die Nutzung lokalen Wissens und dessen elitengerechte Transformation durch Geographen des 17. Jahrhunderts vgl.: Withers, Charles W.J.: Reporting, Mapping, Trusting. Making Geographical Knowledge in the Late Seventeenth Century. In: Isis 90 (1999), S. 497-521; zur Praxis der Begleitung der Fachleute durch Ortskundige; vgl. ebd. S. 515f. Vgl. dazu Sahlins, Peter: Natural Frontiers Revisited. France’s Boundaries in the Seventeenth Century. In: American Historical Review 95 (1990), S. 1423-1451. Vgl. Marchetti 2001 (wie Anm. 3), S. 183-209.

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wirksam und anerkannt zu werden, sondern auch der Disziplinierung, der menschlichen Unterstützung und zusätzlicher Markierungen bedürfen, um auf Dauer gestellt zu sein. Und schließlich dienten Erhebungen über die Reichweite von Jurisdiktionsrechten nicht nur der Feststellung eines durch die Tradition sanktionierten Ist-Zustandes, sondern ebenso ihrer Ausweitung: Die Formulierung von Ansprüchen auf Rechtsprechung und der Wille zur Grenzverschiebung hingen aufs Engste miteinander zusammen. 31 Die Grenzaktivitäten der frühneuzeitlichen Territorialstaaten waren im Kern keine aggressiven, expansionistischen, gegen den benachbarten Souverän gerichteten Maßnahmen zur Gebietserweiterung, sondern vielmehr Elemente einer facettenreichen Strategie der Integration und Homogenisierung der Grenzbevölkerung in das sich zum Staat transformierende Territorium. 32 Dennoch lassen sie sich ohne diesen zwischenstaatlichen Aspekt nicht angemessen beschreiben, denn die Versuche der Vereindeutigung von Jurisdiktions- und Zugriffsrechten konnten nie lediglich als beide Seiten gleichermaßen befriedigende Klärung von zuvor Ungeklärtem begriffen werden – immer verbanden sich mit ihnen Vorstellungen von Bereicherung und Verlust, wobei bemerkenswerter Weise diese antagonistische Wahrnehmung bei den unmittelbar Betroffenen sowie den mit den lokalen Verhältnissen vertrauten Herrschaftsträgern sehr viel präsenter war als bei den politischen Eliten der jeweiligen Zentralen.

Unannehmlichkeiten in der Provinz 2: Die Debatte um den Grenzverlauf in der Valdichiana Mit der Debatte um die Valdichiana beherrschte ein Grenzkonflikt den diplomatischen Verkehr zwischen dem Kirchenstaat und der Toskana, der in seinen zeitlichen Dimensionen, seinem zeremoniellen Aufwand und seiner technischen Prominenz das, was im Zusammenhang mit dem Konflikt zwischen Citerna und Monterchi diskutiert wurde, zwar bei Weitem übertraf, der jedoch durch auffallend ähnliche Grundmuster charakterisiert war, was das Verhältnis von „Natur“ und „Volk“, Fürsten und Diplomaten sowie die Profis des Technischen angeht. 33 Es handelt sich bei der Valdichiana um ein ca.                                                              31 32 33

Vgl. ebd., S. 170-174. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt für den Kirchenstaat Emich 2005 (wie Anm. 6), S. 195, 294, 355. Vgl. Wieland 2004 (wie Anm. 1), S. 273-300; ders.: Grenzbewußtsein? Politiker und Bevölkerung in den römisch-florentinischen Auseinandersetzungen um das Chianatal unter Paul V. In: Innsbrucker Historische Studien 23/24 (2004), S. 379-401; ders.: Grenze zwischen

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100 km langes Tal in der westlichen Toskana bzw. im östlichen Umbrien, das aus verschiedenen an den Hauptstrom, die Chiana, ankristallisierten Flüssen und Bächen besteht. 34 Dieses Tal war bereits in vorgeschichtlicher Zeit zu weiten Teilen stark versumpft, so dass seine Trockenlegung schon immer zu den genuinen Aufgaben der Herrscher aller Zeiten zählte – von den Etruskern über die Respublica Romana (und das Imperium Romanum) bis hin zu den Päpsten und den Großherzögen von Toskana, die es sich auf die Fahnen schrieben, ein gleichsam nutzloses und erkranktes Gebiet ihres Herrschaftsbereiches zu heilen, gesund zu machen, es zur Kornkammer zu transformieren und damit einem allgemeinen Nutzen zuzuführen. 35 Allein wegen dieser hochgespannten ökonomischen wie auch auf die Symbolik der Herrschaft ausgerichteten Ansprüche konnte die Valdichiana weit größere Aufmerksamkeit der benachbarten Fürsten beanspruchen als die vergleichsweise zu vernachlässigenden Ufer von Cerfone und Riccianello; 36 das Chianatal wurde zu einem Dauerthema kurialer und florentinischer Auseinandersetzungen, vom frühen 16. Jahrhundert an bis zum Ende des Ancien Régime. Die in den Jahren 1502 und 1503 im Zusammenhang mit Entwässerungsbemühungen eines der Borgia-Söhne entstandene Karte Leonardo da Vincis (Abb. 1) legt beredtes Zeugnis davon ab, wie ernst man dieses Thema nahm – und dass gerade die besten Künstler, Architekten und Ingenieure gut genug für diese Aufgabe waren. 37 Dabei konzentrierten sich die Bemühungen der Diplomaten und Architekten auf das Gebiet zwischen den Städten Chiusi – auf toskanischer – und Città della Pieve – auf kirchenstaatlicher Seite. Hier wie auch im Fall der etwa 50 km nordwestlich gelegenen Monterchi und Citerna waren die nachbarschaftlichen Beziehungen zunächst durch lokale Feindschaften geprägt: Durch das gegenseitige Streitigmachen von Fischereirechten, durch Viehdiebstahl und Baumschlag, durch die einseitige Korrek                                                                                                                                         34

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Natur und Machbarkeit. Technik und Diplomatie in der römisch-florentinischen Diskussion um die Valdichiana (17. Jahrhundert). In: Saeculum 58 (2007), S. 13-32. Vgl. Repetti, Emanuele: Dizionario geografico fisico storico della Toscana contenente la descrizione di tutti luoghi del Granducato, Ducato di Lucca, Garfagnana e Lunigiana. Bd. 1. Florenz 1833, S. 684-687. Zur Gesundungsmetapher vgl. Romby, Giuseppina Carla: Descrizioni della Val di Chiana dal XVI al XVIII secolo. In: Bonifica della Val di Chiana. Mostra Documentaria. Florenz 1981, S. 15-19, hier S. 15. Bereits Cosimo I. de’ Medici plante, die Valdichiana zur „Kornkammer“ der Toskana zu machen; vgl. Casali, Giovanna: Annotazioni archivistiche sulle bonifiche nella Val di Chiana nel periodo mediceo. In: Bonifica 1981 (wie Anm. 35), S. 47-53, hier S. 47. Vgl. Breschi, Riccardo: Rappresentazioni cartografiche della Val di Chiana dal XVI al XIX secolo. In: Bonifica 1981 (wie Anm. 35), S. 23-26. Zur steigenden Bedeutung der Kartographie in den zwischenstaatlichen Beziehungen der Frühen Neuzeit nach 1648 vgl. Black, Jeremy: Change in Ancien Régime International Relations. Diplomacy and Cartography, 1650-1800. In: Diplomacy & Statecraft 20 (2009), S. 20-29.

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Abb. 1: Leonardo da Vinci, Karte der Valdichiana, 1502/03 (Windsor, Royal Library) tur von Grenzverläufen sowie durch die Errichtung von Dämmen und Wällen, die dazu führten, dass man selbst von Überflutungen verschont, der Nachbar jedoch um so mehr von ihnen heimgesucht wurde.38 Die Sprache der Herrschenden über die Untertanen und die Natur war dabei von einer eigentümlichen Parallelität geprägt: Wie die Natur sich – ungezähmt und ungeregelt – sowohl als zerstörerisch als auch als störendes Element der guten Nachbarschaft erwies, so waren auch die Handlungen des Volkes ohne die leitende und ordnende Hand der Eliten destruktiv und unfriedlich, waren sie wie die Natur und handelten die Untertanen mit der Natur, indem sie sich deren negatives Potential zur Verfolgung ihrer individuellen, kleinteiligen und egoistischen Ziele nutzbar machten.39 Dem wollten die Monarchen, wollten Großherzog und Papst Gemeinnutz, Klarheit und Ewigkeit entgegensetzen: Indem das Flussbett der Chiana – und damit auch die Grenze – dauerhaft                                                             38

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Zu den Techniken des Umgangs mit Flüssen und der Gefahr der Überflutung im mittelalterlichen Italien vgl. Magnusson, Roberta/Squatriti, Paolo: The Technologies of Water in Medieval Italy. In: Squatriti, Paolo (Hrsg.): Working with Water in Medieval Europe. Technology and Ressource Use. Leiden/Boston/Köln 2000 (= Technology and Change in History 3), S. 217-266, v.a. S. 221-224 und S. 227-231. Vgl. Wieland 2004 (wie Anm. 1), S. 313; Wieland 2007 (wie Anm. 33), S. 23f.

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fixiert wurde, indem man der Natur, wie man sie vorfand, durch die Errichtung von Dämmen, Kanälen und künstlichen Seen nachhalf, sie also zugleich verbesserte und zähmte, und indem man die Untertanen an dieser Einhegung der Natur durch unablässige Arbeit, durch die Pflege des Flussbetts und der es umgebenden Infrastrukturen, beteiligte, unterwarf man sich beide Größen der Unbotmäßigkeit – Natur und Volk – gleichermaßen und machte sie sowohl zu Objekten als auch zu Instrumenten des freundschaftlich-harmonischen fürstlichen Miteinanders. In den Jahren 1605 und 1607 fanden aufwendig geplante und mit eifersüchtiger Beachtung der zeremoniellen Ebenbürtigkeit der Deputierten inszenierte Lokaltermine zwischen Città della Pieve und Chiusi statt, die sowohl von vornehmen Generalisten als auch von ausgewiesenen Spezialisten der Hydraulik beschickt wurden, jeweils paritätisch mit Untertanen des Papstes und des Großherzogs. 40 Mit großem symbolischem Aufwand wurde schließlich am 7. September 1607 im römischen Palazzo des Kardinals Francesco Maria del Monte ein Vertrag durch Repräsentanten der beiden Monarchen unterzeichnet, der ausführlich die Arbeiten regelte, die zur Fixierung der gemeinsamen Grenze und zur Bonifikation des Grenzgebiets dienen sollten. 41 Den Ansprüchen der „buona amicizia“ war damit – mit der in vollkommener Parallelität hergestellten Eingrenzung und Gestaltung der Landschaft – Genüge getan. Sichtbaren Ausdruck fand dieser auf die Landschaft und die Natur, die Bevölkerung und schließlich das Politische ausgerichtete Gestaltungswille der aristokratischen und technischen Eliten in einer im Jahr 1610 erstellten Karte der Grenzzone, die das Beschlossene nochmals visualisierte und fixierte (Abb. 2): 42 In zwei Exemplaren, jeweils mit dem großherzoglichen und dem päpstlichen Wappen versehen und entsprechend archiviert, repräsentierte sich die Natur als ein geordnetes System von Linien, in dem Grenzziehungen, Dämme und Wasserläufe sich in ihrer Eindeutigkeit und Klarheit kaum voneinander unterscheiden und in dem die jeweiligen Ortschaften, an und mit denen sich die Staaten in guerillaartiger Feindschaft zu begegnen pflegten, eindeutig voneinander geschieden waren. 43 Am rechten oberen Rand der Karte sind die jeweiligen Entfernungen zwischen den relevanten Größen, den Kanälen, Dämmen, Seen und Türmen,                                                              40 41 42 43

Vgl. Wieland 2004 (wie Anm. 1), S. 280-298. Zu den Debatten um die Zusammensetzung der Delegationen vgl. auch Emich 2005 (wie Anm. 6), S. 211. Der Text des Vertrags: ASV, Segreteria di Stato, Congregazione de confini 27, fol. 238r241r. Vgl. ASV, Piante e carte geografiche, 14. Dazu: ASV, AA, Arm. I-XVIII, 1485, Cosimo II. an Kardinal Francesco Maria del Monte, 26.03.1610. Zur zunehmenden Schematisierung der Landschaft in den Kartenwerken der Frühen Neuzeit vgl. Breschi 1981 (wie Anm. 37), S. 24.

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minutiös aufgeführt: Die Natur wird so quantifiziert, mit Hilfe von Zahlen vereindeutigt und so in ihrer Funktion als Grenze nutzbar gemacht. Am unteren linken Rand schließlich finden sich die Unterschriften der jeweiligen Politiker und Architekten, zunächst derjenigen des Papstes, der prominenteste unter ihnen Carlo Maderna, der Baumeister des Petersdoms, dann derjenigen des Großherzogs, so dass auch in der Sprache und den Resultaten der Technik und Kartographie die Suprematie des vicarius Christi vor allen anderen Fürsten der Christenheit gewahrt blieb.

Abb. 2: Carlo Maderna u.a., Karte der Valdichiana, 1610 (Archivio Segreto Vaticano, Piante e carte geografiche 14) Angesichts der Hartnäckigkeit, mit der die Chiana-Problematik die diplomatische Korrespondenz zwischen Rom und Florenz beherrschte, des Aufwandes, mit dem die jeweiligen Ortstermine ins Werk gesetzt worden waren, und des Pompes, mit dem der zwischenstaatliche Grenzvertrag unterzeichnet wurde, kann das Ergebnis dieser Mühen erstaunen – denn es geschah in technischer Hinsicht nichts. Bis der Grenzverlauf zwischen der Toskana und dem Kirchenstaat dauerhaft geregelt, die Chiana eingedämmt und das Sumpfgebiet entwässert wurde, vergingen noch mehr als 170 Jahre: Erst unter der Herrschaft der aufgeklärten Habsburg-Lothringer, die sich frei von den tradierten Rücksichten des von der gegenreformatorischen Kirchlichkeit geprägten Diskurses politisch und auch hydraulisch bewegten, wurde südlich des Lago di Chiusi ein Damm errichtet, der als Wasserscheide zwischen dem Ti-

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Christian Wieland

ber- und dem Arnobecken fungierte. 44 Dies reflektiert wesentliche Veränderungen bezüglich der Auffassungen von „Natur“ und „Staat“ zwischen Frühbarock und Spätaufklärung: Einerseits spielte am Ende des 18. Jahrhunderts die Natur „an sich“ für die Bestimmung von Grenzen nur noch insofern eine entscheidende Rolle, als sie zuvor durch kulturelle, durch menschliche Nachhilfe vereindeutigt worden war, und zwar nicht lediglich als Projekt, sondern auch in der tatsächlichen Umsetzung. Diese Perspektive auf die Beziehung zwischen Grenzen und Natur hing zwar mit sich wandelnden technischen Möglichkeiten zusammen, lässt sich jedoch nicht allein dadurch befriedigend erklären. Andererseits war die Schranke, die das im diplomatischen Diskurs vorherrschende Ideal der Harmonie, Gegenseitigkeit und Ausgeglichenheit für die Realisierung von Plänen bedeutet hatte, offensichtlich gefallen – statt einer sich im Symbolischen erschöpfenden gegenseitigen „Freundschaft“ der Fürsten war nun das deutlich rücksichtslosere Handeln eines einzelnen Staates zur Direktive des Politischen geworden. 45 In der „eigentlichen“ Vormoderne hingegen blieb die durch Unwandelbarkeit der Grenze hergestellte Friedlichkeit der Angrenzenden, blieb die zur Grenze gemachte Natur zu weiten Teilen Ideal der Herrschenden und Projekt der Ingenieure, das der unmittelbaren Erfahrung eines mehr oder weniger konfliktreichen Lebens in der Grenzzone nicht entsprach, sondern sie in einen davon fast völlig unabhängigen Diskurs transformierte.

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Vgl. Repetti 1833 (wie Anm. 34), S. 686; Wieland 2007 (wie Anm. 33), S. 25. Vgl. Sahlins 1990 (wie Anm. 29), S. 1435-1437.

BETTINA BRAUN/JOHANNES WISCHMEYER

Vom Umgang mit konfessionellen Grenzen Aushandlungsprozesse und rechtliche Festlegungen

Konfessionelle Grenzen stellen einen eigenen, für die Frühe Neuzeit spezifischen Typus von Grenzen dar. Der Begriff „konfessionelle Grenze“ bezeichnet zunächst die infolge der europäischen Reformationen entstandene Abgrenzung zwischen unterschiedlichen Konfessionen. Viele Phänomene, die im Kontext derartiger Abgrenzungsprozesse entstanden, sind allerdings auch entlang kirchlicher Grenzen innerhalb derselben Konfessionsgruppe zu beobachten. Konfessionelle Grenzen laufen häufig parallel mit territorialen Grenzen, immer wieder finden sie sich aber auch in soziale Einheiten eingeschrieben. Der Begriff der konfessionellen Grenze ist damit exemplarisch geeignet, die ambivalente – geographische und soziale – Struktur von „Raum“ als historischer Untersuchungskategorie zu veranschaulichen. Im Folgenden werden drei Fallstudien präsentiert, die exemplarisch Konstellationen konfessioneller Grenzen und ihrer gesellschaftlichen Bedeutung vorführen. Alle Beiträge verbindet das Anliegen, in Bezug auf den Leitbegriff „konfessionelle Grenze“ zum einen dessen geographisch-räumliche Konnotation, andererseits seine Implikationen für die soziale Praxis der historischen Akteure gleichberechtigt darzustellen. Dabei geht es nicht in erster Linie um Grenzüberschreitungen (obgleich solche selbstverständlich auch vorkamen), sondern um soziale und juridische Arrangements an bzw. im unmittelbaren Umfeld von Grenzen, die sich der Existenz von Konfessionen verdanken. Im Blickfeld stehen Handlungen, Situationen und Strukturen, die ihre spezifische Qualität im Kontext konfessioneller Grenzen gewannen bzw. erst zureichend historisch erklärbar werden, wenn man das Vorhandensein konfessioneller Grenzen berücksichtigt. Zunächst eine Begriffsklärung: „Konfession“ ist eine Größe der christlichen Religionsgeschichte, die in der Frühen Neuzeit zuerst im Heiligen Römischen Reich juristische Qualität bekommt. 1 Es handelt sich bei „Konfessionen“ zunächst um theologische Bekenntnistexte bzw. um Textcorpora, die Rechtsgeltung für eine religiöse Gruppe bzw. für ein Territorium erlangten. Neben die Pluralität voneinander abgegrenzter Konfessionen trat auch eine 1

Vgl. Oberdorfer, Bernd: Art. „Konfession“. In: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. 4. Aufl., Bd. 1. Tübingen 2001, Sp. 1546f.

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Bettina Braun/Johannes Wischmeyer

interne Pluralisierung der Konfessionsgruppen, abzulesen etwa an den im Vergleich reformatorischer Territorien rasch variierenden theologischen Interpretationen eines primären Konfessionstexts wie der Confessio Augustana von 1530. Allerdings ist prinzipiell davon auszugehen, dass sich auf der Basis der normativen Kraft leitender Konfessionsgruppen allmählich verstetigende gruppenspezifische Handlungs- und entsprechende Abgrenzungsmuster entwickeln. Dieser historische Vorgang kann sowohl in der Perspektive der Konfessionalisierung als auch unter dem Stichwort der „Konfessionskultur“ 2 analysiert werden. Zwei Untersuchungsperspektiven sind dabei zu unterscheiden: zum einen die von den Zeitgenossen im Zusammenhang mit Konfessionalität wahrgenommenen und entsprechend semantisch ausgewiesenen Aspekte von Grenzen und Begrenzungen; zum anderen die von der historischen Forschung mit der Heuristik des modernen Grenzbegriffs bestimmten trennenden Faktoren, die sich im Einflussbereich von Konfessionsregimen finden. Im Folgenden geht es in diesem Sinn erstens um territoriale und juridisch bestimmte Grenzen. Dabei gilt das primäre Forschungsinteresse der Frage, wie diese Grenzen mit dem Ziel von Integration bzw. Distinktion mit konfessioneller Bedeutung aufgeladen werden. Zweitens werden religiöse und mentalitätsbestimmende Grenzen in den Blick genommen, d.h.: konfessionell konnotierte Binnengrenzen im sozialen Raum, hier vor allem im Bereich der Handlungssphäre von Gemeinwesen und Institutionen. Hier wird gefragt, ob und inwiefern sich derartige Grenzen durch konfessionell unterschiedlich determinierte Ausgestaltung gemeinsamer Aufgabenbereiche ergeben. Nicht thematisiert werden in diesem Zusammenhang eine Reihe weiterer an konfessionellen Grenzen festzumachender historischer Phänomene, die jedoch allesamt eher dynamischen Charakter aufweisen: Grenzüberschreitungen im Sinne von religiöser Devianz oder von Konversion, religiöse Migration oder die durch konfessionelle Grenzen generierte soziale Mobilität. Die folgenden Fallstudien sind allesamt im Heiligen Römischen Reich angesiedelt. Da man das Reich einerseits in weiten Teilen geradezu als Summierung von Grenzregionen 3 ansehen kann und da sich der Zusammenhalt des 2

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Vgl. Kaufmann, Thomas/Schubert, Anselm/Greyerz, Kaspar von (Hrsg.): Frühneuzeitliche Konfessionskulturen. Gütersloh 2008 (= Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 207). Vgl. Duhamelle, Christophe: Territoriale Grenze, konfessionelle Differenz und soziale Abgrenzung. Das Eichsfeld im 17. und 18. Jahrhundert. In: François, Etienne/Seifarth, Jörg/Struck, Bernhard (Hrsg.): Die Grenze als Raum, Erfahrung und Konstruktion. Deutschland, Frankreich und Polen vom 17. bis zum 20. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 2007, S. 33-51, hier S. 34. Grenzregionen des Reiches boten womöglich nochmals gesteigerte Gelegenheit, konfessionelle Konfliktdynamiken auszuagieren; vgl. etwa Motsch, Christoph: Grenzgesellschaft und frühmoderner Staat. Die Starostei Draheim zwischen Hinter-

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Reiches andererseits in entscheidendem Maß auf einer rechtlichen Sicherung des konfessionellen Status seiner Einzelterritorien gründete, spielen konfessionelle Grenzen in der frühneuzeitlichen Reichsgeschichte eine herausgehobene Rolle. Die genannten Leitfragen sind allerdings prinzipiell auch auf andere europäische Regionen übertragbar. Einige allgemeine Beobachtungen zum räumlich-geographischen und anschließend zum gesellschaftsprägenden Charakter konfessioneller Grenzen vorweg: Ins Auge fällt vor allem im Gebiet des Heiligen Römischen Reichs und in der Schweiz, doch auch in Teilen Frankreichs, in den habsburgischen Ländern und in Polen die Tendenz zur Gemengelage, also das von Marc Venard mit Blick auf Abgrenzungen innerhalb derselben, katholischen Konfession beschriebene enchevêtrement religiöser Grenzen4 – ebenso in diachroner Perspektive die Unabgeschlossenheit konfessioneller Grenzbildungen, die Gerald Chaix am Beispiel des Mittelrheins beschrieben hat.5 Dabei scheint eine einigermaßen abgeschlossene Territorialbildung eine Voraussetzung dafür gewesen zu sein, dass sich in Territorien eine Dynamik konfessioneller Abgrenzung nach außen entwickeln konnte.6 Es zeigt sich, dass bei der Untersuchung konfessioneller Grenzen das in der Regionenforschung entwickelte Konzept abgestufter räumlicher Größendimensionen hilfreich sein kann: Es unterscheidet die Mikro-, die Meso- und die Makroebene historischer Phänomene.7 Je nach dem gewählten Grundmaßstab können dabei lokale, regionale und überregionale bzw. nationale Prozesse in Beziehung gesetzt werden. Administrative Logiken oder Peripherie-Zentrum-Beziehungen lassen sich so besser verstehen. Konfessionelle Grenzen werden dementsprechend auf der untersten Ebene räumlichgeographisch wahrnehmbar in religiösen Raumordnungen einzelner sakraler Gebäude. Interessant sind hier nicht nur Simultaneen.8 Auf lokaler Ebene

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pommern, der Neumark und Großpolen (1575-1805). Göttingen 2001 (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 164). Vgl. Venard, Marc: Mosaïque politique, carrefour culturel et frontières confessionnelles dans la Province ecclésiastique d’Avignon au XVIe siècle. In: Sauzet, Robert (Hrsg.): Les frontières religieuses en Europe du XVe au XVIIe siècle. Actes du XXXIe Colloque International d’Etudes Humanistes. Paris 1992 (= De Pétrarque à Descartes 55), S. 301-307. Vgl. Chaix, Gérald: La frontière introuvable. Pratiques religieuses et identités confessionnelles dans l’espace Bas-Rhénan. In: Sauzet 1992 (wie Anm. 4), S. 177-183. Vgl. Unger, Tim: Ein Gottesdienst – Zwei Konfessionen. Die Bikonfessionalität des Kirchspiels Goldenstedt als Resultat einer gescheiterten Territorialisierung. In: Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 101 (2003), S. 101-116. Vgl. Wüst, Wolfgang/Blessing, Werner K. (Hrsg.): Mikro – Meso – Makro. Regionenforschung im Aufbruch. Erlangen 2005 (= Zentralinstitut für Regionalforschung, Arbeitspapier 8). Vgl. nur Coster, Will/Spicer, Andrew: Introduction. The dimensions of sacred space in Reformation Europe. In: dies. (Hrsg.): Sacred space in early modern Europe. Cambridge/

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Bettina Braun/Johannes Wischmeyer

finden wir sakrale Topographien – die eine Vielzahl rechtlicher und devotionaler Bindungen des Einzelnen schon unter den Bedingungen einheitlicher Konfession mit sich brachten – vor allem im urbanen Raum. Besonders komplex sind sie in gemischtkonfessionellen Orten und dort, wo Minderheiten Sonderorte, etwa Privatkapellen, zugestanden wurden.9 Die konfessionelle Imprägnierung einer Region durch Baupolitik oder durch die Beeinflussung der Bewegungsmuster von Gläubigen – etwa in Form von Wallfahrten oder des „Auslaufens“ religiöser Minderheiten – führt uns zum Phänomen der „religious landscapes“.10 Konfessionelle Grenzen verliefen aber nicht allein entlang der territorialen Grenzen. Das Ideal des konfessionell homogenen Staates wurde vielmehr auf vielfältige Weise durchbrochen. Dies galt selbst für rechtliche Regelungen. Bereits der Augsburger Religionsfrieden hatte – wenn auch mit umstrittener Verbindlichkeit in der Declaratio Ferdinandea – den evangelischen Adligen und Städten in den geistlichen Territorien das Festhalten an ihrem Bekenntnis gestattet.11 Noch zahlreicher dürften die nicht von vornherein auf rechtlichen Regelungen beruhenden Fälle konfessioneller Koexistenz gewesen sein. In zahlreichen Städten lebten Menschen beider, später auch aller drei Konfessionen. Schon aus wirtschaftlichen Gründen verbot es sich für die Städte vielfach, alle Kaufleute oder Handwerker anderer Konfession auszuweisen oder nicht aufzunehmen. In den Residenzstädten ließ es sich kaum vermeiden, dass Gesandte anderskonfessioneller Herrschaften akkreditiert waren. Und selbst manche geistliche Institution war zeitweise oder dauerhaft mehrkonfessionell. In all diesen Fällen waren die Menschen – mit Benjamin J. Kaplan formuliert – „divided by faith“.12 Diese Grenzen zwischen den Konfessionen waren auf keiner Karte verzeichnet, es handelte sich – um die klassische Dar-

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New York 2005, S. 1-16; Wegmann, Susanne/Wimböck, Gabriele: Konfessionen im Kirchenraum. Dimensionen des Sakralraums in der Frühen Neuzeit. Korb 2007 (= Studien zur Kunstgeschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit 3). Vgl. Rau, Susanne: Raum und Religion. Eine Forschungsskizze. In: dies./Schwerhoff, Gerd (Hrsg.): Topographien des Sakralen. Religion und Raumordnung in der Vormoderne. München 2008, S. 10-33. Vgl. zu dieser im europäischen Kontext noch kaum erprobten interdisziplinären Untersuchungsperspektive Park, Chris C.: Sacred worlds. An introduction to geography and religion. London u.a. 1994. Nicht nur das Reichsrecht kannte derartige Regelungen, die den Bestand gemischtkonfessioneller Einheiten garantierten oder gar erst deren Einführung ermöglichten. Im Zweiten Kappeler Landfrieden wurde 1531 für die Gemeinen Herrschaften in der Eidgenossenschaft festgelegt, dass die einzelnen Gemeinden selbst über ihre Konfessionszugehörigkeit bestimmen sollten. Allerdings wurde den Katholiken in protestantischen Gemeinden das Recht zugesprochen, ihren Glauben zu praktizieren. Kaplan, Benjamin J.: Divided by faith. Religious Conflict and the Practice of Toleration in Early Modern Europe. Cambridge/London 2007.

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stellung von Etienne François über Augsburg zu zitieren – um „unsichtbare Grenzen“. 13 Diese unsichtbaren Grenzen waren deshalb aber nicht weniger real, sie existierten fest verankert in den Köpfen der Menschen und realisierten sich im täglichen sozialen Handeln. Anders als in den geschlossenen Konfessionsstaaten Nord- und Südeuropas gehörte im Reich wie in den anderen Staaten West- und Mitteleuropas die Erfahrung fremdkonfessioneller Nachbarschaft zum Alltag. Kaplan hält deshalb die Frage, wie man sich gegenüber Angehörigen anderer Konfessionen verhalten sollte, für eines der drängendsten Probleme, das sich den Menschen in der Frühen Neuzeit stellte. 14 Und in der Tat mussten die Menschen hierüber im alltäglichen Leben stets aufs Neue Entscheidungen treffen: Durfte man eine Person fremder Konfession heiraten, und wie waren gegebenenfalls die Kinder zu erziehen? Durfte man sein Kind in eine Bildungseinrichtung der anderen Konfession schicken, wenn es am Ort keine Schule des eigenen Bekenntnisses gab oder die anderskonfessionelle Schule als besser galt? Sollte die Konfession bei der Auswahl von Geschäftspartnern eine Rolle spielen? Sollten anderskonfessionelle Handwerker in eine Zunft aufgenommen werden? Wie sollte man sich an den Feiertagen der anderen Konfession verhalten? Durften Angehörige der anderen Konfession auf dem örtlichen Friedhof bestattet werden, und was war dabei zu beachten? Die Liste ließe sich beliebig verlängern. Sie zeigt, dass es hier um Fragen sozialer Praxis der alltäglichen Konvivenz ging, nicht um theoretische Überlegungen zu konfessioneller und religiöser Toleranz, wiewohl solche Überlegungen sich natürlich auf die Praxis auswirken konnten. Um die Fülle dieser Fragen soll es hier jedoch nicht gehen. Vielmehr konzentrieren sich die hier vorgelegten Beiträge auf konfessionelle Grenzen, die eine rechtliche Fundierung aufwiesen. Sie konnten entlang der territorialen Grenzen verlaufen oder sich mit ihnen überschneiden wie im Vogtland, oder sie konnten mitten durch rechtliche Einheiten verlaufen wie in der Residenzstadt Dresden oder den gemischtkonfessionellen Domkapiteln. Dabei interessieren vor allem die Wechselwirkungen zwischen vorgegebenen rechtlichen Regelungen und den Prozessen, in denen die Konfessionsparteien über praktikable Möglichkeiten für deren Umsetzung verhandelten. Denn die rechtlichen Festlegungen, die z.B. durch die territorialen Grenzen, den Westfälischen Frieden oder den im entstehenden Völkerrecht verankerten Diplomatenstatus getroffen waren, konnten nicht mehr als den groben Rahmen vor13

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François, Etienne: Die unsichtbare Grenze. Protestanten und Katholiken in Augsburg 1648-1806. Sigmaringen 1991 (= Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 33). Vgl. zum Thema Langer, Ute: Die konfessionelle Grenze im frühneuzeitlichen Köln. Das Zusammenleben von Reformierten und Katholiken zwischen Anpassung und Abgrenzung. In: Geschichte in Köln 53 (2006), S. 35-62. Vgl. Kaplan 2007 (wie Anm. 12), S. 4.

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geben, innerhalb dessen die an der Grenze lebenden Menschen die Regeln für ihr Zusammenleben immer wieder neu aushandeln mussten – um diese dann gegebenenfalls erneut in rechtliche Regelungen zu gießen. Die Menschen, um die es in den Beiträgen geht, handelten dabei nicht als Privatpersonen, sondern als Funktionsträger im weitesten Sinne: Pfarrer, Gesandte, Domherren, Verwaltungsfachleute. Es ging den Akteuren also nicht allein um den persönlichen Glaubensvollzug, sondern sie mussten stets auch die institutionellen und politischen Folgen ihres Tuns bedenken. 15 Das hier in den Blick genommene soziale Handeln an der konfessionellen Grenze band Öffentlichkeit also stets mit ein, indem es Folgen für eine größere soziale Gruppe als nur die direkt betroffene Gemeinschaft hatte und indem es bewusst Öffentlichkeit suchte, um die eigenen Interessen durchzusetzen. Diese Öffentlichkeiten konnten die Konfessionsparteien vor Ort sein. Es gab die Möglichkeit bilateraler Verträge zwischen benachbarten Territorialherren. Schließlich konnten konfessionelle Konflikte aber auch vor die Öffentlichkeit der Reichsinstitutionen getragen werden. Die in den Beiträgen vorgestellten Beispiele gelten einzelnen Konflikten auf lokaler Ebene. Auf der Mikroebene lassen sich die zahlreichen und mitunter verwirrenden Dimensionen konfessioneller Grenzen und der aus ihnen resultierenden Aushandlungsprozesse im Detail beobachten. Es würde den Geltungsanspruch der angeführten Fälle unangemessen überdehnen, wollte man ihnen exemplarischen Charakter für die soziale Praxis entlang konfessioneller Grenzen im Reich insgesamt zuweisen. Dennoch drängen sich aufgrund der – auf den ersten Blick heterogenen – Einzelfälle einige Beobachtungen auf, die bei weiteren Forschungen zu falsifizieren oder zu erhärten wären. • Die Beispiele setzen die Verfestigung der Konfessionen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts voraus. Die dargestellten Konflikte wurden vor allem im Verlauf des 17. Jahrhunderts ausgetragen, reichen aber weit ins 18. Jahrhundert hinein. Der Westfälische Frieden kann also auch in diesen Fällen nicht als Ende des konfessionellen Zeitalters gelten, er steckte vielmehr einen rechtlichen Rahmen ab, der sich auf konkrete Grenzregime erst auswirken konnte, nachdem ihn die konfessionellen Parteien in oft langwierigen Aushandlungsprozessen mit Detailregelungen gefüllt hatten. • Die Aushandlungsprozesse mündeten häufig in neue, detailliertere rechtliche Regelungen. Diese Tendenz zur Verrechtlichung verfestigte die Grenzen. Eine „Verflüssigung“ der Grenzen vor dem Hintergrund von Früh15

Thematisiert wird also nicht das Handeln der sogenannten einfachen Leute, die als Angehörige einer Grenzgesellschaft die Grenze für ihre eigenen Interessen in Dienst nahmen, wie es Duhamelle 2007 (wie Anm. 3) für das Eichsfeld eindrucksvoll vorgeführt hat.

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aufklärung und Toleranz ist jedenfalls aus den vorgestellten Beispielen nicht abzuleiten. • Dem entlang der konfessionellen Grenzen durch das soziale Handeln gefundenen Usus wohnte eine erhebliche Beharrungskraft inne. Den Parteien ging es um kirchlich-konfessionelle Besitzstandswahrung, Fragen der Praktikabilität spielten höchstens eine untergeordnete Rolle. Nur so ist es zu erklären, dass manche bereits den Zeitgenossen antiquiert erscheinende Praxis bis ins 19. Jahrhundert fortbestand oder erst mit den Institutionen selbst unterging wie die Domkapitel im Reichsdeputationshauptschluss, keineswegs aber, weil sie nicht vernünftig zu begründen war. • Die hier untersuchten Konflikte wurden durchweg friedlich ausgetragen. Dahinter steckte aber weniger eine tolerante Grundhaltung als das Wissen, dass man miteinander auskommen musste, und wohl auch ein Interesse an der Wahrung des Status quo. Im Zweifel war dieser dem Verlust vorzuziehen, den man bei einer Zuspitzung des Konflikts riskierte, sei es etwa in Form der Ausweisung eines Gesandten oder durch die Auflösung einer Vorteile gewährenden Institution. Die friedliche Austragung der Konflikte darf aber nicht über deren Virulenz hinwegtäuschen. Dafür lassen sich zwei Indizien benennen: zum einen die Verbissenheit, mit der um manche Frage gerungen wurde, und, daraus folgend, die Dauer der Konflikte; zum anderen die Tatsache, dass die Streitparteien vielfach nicht in der Lage waren, die Konflikte untereinander zu lösen, und allenfalls übergeordnete Instanzen, vorzugsweise die Reichsgerichte oder den Kaiser, anriefen oder mit deren Anrufung drohten. • Die Konfliktpunkte waren vielfältig. Zwei Komplexe scheinen hervorzuragen, was freilich auch an der Konzentration auf das Handeln von Amtsträgern liegt. Immer wieder strittig waren Fragen der Stellenbesetzung, sei es was die Kriterien für die Auswahl des Personals, sei es was das Procedere der Stellenbesetzung anging. Gerungen wurde außerdem um die Abhaltung von Gottesdiensten und anderen kirchlichen Veranstaltungen, und zwar umso mehr, je deutlicher sichtbar sie im öffentlichen Raum waren. Dabei konnte es um die Beteiligung an Prozessionen, um öffentliche Leichenbegängnisse oder darum gehen, wieweit anderskonfessionelle Gottesdienste in besonderen Sakralräumen für die Öffentlichkeit zugänglich sein durften. Insgesamt bestätigen die folgenden Beiträge exemplarisch die vorgenannte Annahme Benjamin J. Kaplans, dass das konkrete Vorhandensein konfessioneller Grenzen und die damit gegebene Notwendigkeit, entlang dieser Grenzen zu handeln, zu den zentralen Problemen der Menschen in der Frühen Neuzeit gehörte – und zwar auch über das konfessionelle Zeitalter im engeren Sinn hinaus.

BETTINA BRAUN

Die gemischtkonfessionellen Domkapitel im Reich nach dem Westfälischen Frieden Gelebte Ökumene oder Teilung durch eine unsichtbare Grenze?

Seit der Reformation war die lateinische Christenheit von einer Vielzahl konfessioneller Grenzen durchzogen. Dies galt in besonderem Maße für das Reich mit seiner konfessionellen Gemengelage. Die spezifischen Strukturen der Reichsverfassung beförderten die Territorialisierung der konfessionellen Entwicklung, so dass die konfessionellen Grenzen schließlich zumeist mit den territorialen Grenzen übereinstimmten. Diese Territorialisierung fand ihre dauernde rechtliche Festschreibung im Augsburger Religionsfrieden, 1 der in seinen grundsätzlichen Regelungen im Westfälischen Frieden bestätigt wurde, nunmehr unter Einbeziehung der Calvinisten. Allerdings bewirkte die Einführung der Normaljahrsregelung eine Aufweichung des territorialen Prinzips, ohne dass dieser Systembruch jedoch explizit thematisiert worden wäre. Als Konsequenz dieser Regelung wurde im Westfälischen Frieden die Existenz einiger paritätischer Reichsstädte festgeschrieben. 2 In diesen Städten deckte sich die konfessionelle Grenze nicht mit der territorial-rechtlichen, sondern verlief als „unsichtbare Grenze“ mitten durch die Stadt, wie Etienne François am Beispiel von Augsburg eindrucksvoll vorgeführt hat. 3 Die ganze Stadt wurde damit zu einem Grenzraum, in dem die konfessionelle Grenze im täglichen Umgang stets von neuem ausgehandelt werden musste. Die paritätischen Städte sind sicherlich das bekannteste Beispiel für ein reichsrechtlich vorgeschriebenes Nebeneinander der Konfessionen auf engstem Raum. Die Normaljahrsregelung des Westfälischen Friedens führte aber auch dazu, dass die Bi- und sogar Trikonfessionalität einiger geistlicher Institutionen im Reich auf Dauer festgeschrieben wurde. Zahlreiche Kapitel und Stifte vor allem im Nordwesten und der Mitte Deutschlands waren nun für eineinhalb Jahrhunderte offiziell bikonfessionell, manche sogar trikonfessio1

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Allerdings durchbricht bereits der Augsburger Religionsfrieden in Ansätzen das territoriale Prinzip, vor allem durch die – in ihrer rechtlichen Verbindlichkeit freilich umstrittene – Declaratio Ferdinandea. Instrumentum Pacis Osnabrugensis (IPO) Art. V, § 3-11. Vgl. François, Etienne: Die unsichtbare Grenze. Protestanten und Katholiken in Augsburg 1648-1806. Sigmaringen 1991 (= Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 33).

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nell wie das Kanonissenstift Schildesche bei Bielefeld 4 oder die Deutschordensballei Marburg. 5 Im Rahmen dieses Aufsatzes können indessen nicht alle gemischtkonfessionellen Kapitel behandelt werden; die Ausführungen konzentrieren sich deshalb auf die gemischtkonfessionellen Domkapitel. 6 Für das Osnabrücker Domkapitel war im Iburger Nebenrezess von 1651 festgelegt worden, dass 4

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Vgl. Andermann, Ulrich: Das Kanonissenstift Schildesche von der Reformation bis zur Auflösung. Ein gemischter Konvent im Zeitalter des Konfessionalismus. In: ders. (Hrsg.): Stift und Kirche Schildesche 939-1810. Festschrift zur 1050-Jahr-Feier. Bielefeld 1989, S. 67-110. Vgl. Demel, Bernhard: Von der katholischen zur trikonfessionellen Ordensprovinz. Entwicklungslinien in der Personalstruktur der hessischen Deutschordensballei in den Jahren 1526-1680/81. In: Arnold, Uwe/Liebing, Heinz (Hrsg.): Elisabeth, der Deutsche Orden und ihre Kirche. Marburg 1983 (= Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens 18), S. 186-281; Frase, Michael: Zum Selbstverständnis evangelischer Ordensritter in der Ballei Hessen des Deutschen Ordens. In: Jahrbuch der Hessischen Kirchengeschichtlichen Vereinigung 42 (1991), S. 1-11; Niederquell, Theodor: Geschichte der Deutschordensballei Hessen vom Beginn des 16. Jahrhunderts bis zu ihrer Aufhebung 1809. Diss. Marburg 1953; Schaal, Katharina (Hrsg.): Leben und Sterben eines Deutschordensritters in Marburg. Adolph Eitel von Nordeck zur Rabenau 1614-1667. Marburg 2007. Die folgende Darstellung beschränkt sich auf die Zeit der offiziellen Mehrkonfessionalität nach 1648. De facto hatten im 16. Jahrhundert wohl fast alle Domkapitel eine wenigstens bikonfessionelle Phase erlebt, die dann jedoch bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts in den meisten Fällen in eine Bereinigung in der einen oder anderen Richtung mündete. In der Literatur wird unter den gemischtkonfessionellen Domkapiteln gelegentlich auch Straßburg genannt. Der Straßburger Fall ist aber etwas anders gelagert als die im Folgenden behandelten Kapitel. Zwischen der evangelischen und der katholischen Partei im Straßburger Kapitel war es Ende des 16. Jahrhunderts zu heftigen Auseinandersetzungen, dem sogenannten Straßburger Kapitelstreit, gekommen. Diese endeten mit dem Sieg der Katholiken und fanden ihren offiziellen Abschluss im Frieden von Hagenau 1604. Darin wurde festgelegt, dass die acht evangelischen Domherren noch 15 Jahre im Besitz ihrer Einkünfte bleiben dürften. Vgl. Rapp, Francis: Straßburg, Hochstift und Freie Reichsstadt. In: Schindling, Anton/Ziegler, Walter (Hrsg.): Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500-1650. Bd. 5: Der Südwesten. Münster 1993 (= Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung 53), S. 72-95, hier S. 87. 1620 wurde der Hagenauer Vertrag (und damit auch die Regelung für die evangelischen Domherren) um sieben Jahre verlängert. Nach Ablauf des Vertrags 1627 mussten die protestantischen Domherren dann aber auf Befehl Kaiser Ferdinands II. den von ihnen beanspruchten Hof zurückgeben. Aus der Literatur nicht eindeutig zu klären ist, ob die evangelischen Domherren sich selbst ergänzten, es in Straßburg also weiterhin evangelische Domherren gegeben hat. So Schmidlin, Josef: Die katholische Restauration im Elsass am Vorabend des dreissigjährigen Krieges. Freiburg i.Br. 1934, S. 35f. Dagegen Adam, Johann: Evangelische Kirchengeschichte der elsaessischen Territorien bis zur Französischen Revolution. Straßburg 1928, S. 11, der angibt, der Hagenauer Vertrag habe festgelegt, dass künftig nur noch Katholiken in das Domkapitel gewählt werden durften. Mit Sicherheit gab es jedoch in Straßburg seit dem Ende des 16. Jahrhunderts de facto getrennte Korpora, so dass sich die Frage nach dem Umgang der Konfessionsparteien in einem gemischtkonfessionellen Domkapitel für Straßburg nicht stellt.

Die gemischtkonfessionellen Domkapitel im Reich

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von den 24 Domkanonikaten künftig stets drei mit Evangelischen besetzt werden sollten. 7 Im protestantischen Bistum Lübeck waren seit Ende des 16. Jahrhunderts vier der 32 Domkanonikate mit Katholiken besetzt. 8 Das Bistum Minden wiederum hörte mit dem Tod seines letzten Bischofs Franz Wilhelm von Wartenberg 1661 auf zu existieren; das Domkapitel hingegen bestand weiter bis 1810, in ihm waren elf katholische und sieben evangelische Domherren vertreten. 9 Im Domkapitel des ebenfalls säkularisierten Bistums Halberstadt gab es 16 evangelische und vier katholische Domherren. 10 Von ihrem Selbstverständnis her konnten geistliche Institutionen jedoch eigentlich nur monokonfessionell sein. Die Existenz gemischtkonfessioneller 7

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Vgl. Steinert, Mark Alexander: Die alternative Sukzession im Hochstift Osnabrück. Bischofswechsel und das Herrschaftsrecht des Hauses Braunschweig-Lüneburg in Osnabrück 1648-1802. Osnabrück 2003 (= Osnabrücker Geschichtsquellen und Forschungen 47), S. 51. Durch die Einrichtung einer Galenschen Familienpräbende kam 1688 eine weitere katholische Präbende hinzu. Vgl. ebd. Vgl. Prange, Wolfgang: Bistum Lübeck. In: Gatz, Erwin (Hrsg.): Die Bistümer des Heiligen Römischen Reiches von ihren Anfängen bis zur Säkularisation. Freiburg i.Br. 2003, S. 362369, hier S. 368. Die Festlegung der Mehrheitsverhältnisse im Mindener Domkapitel war kompliziert und zwischen den Konfessionen umstritten. 1648 wurde angenommen, dass 1624 13 evangelische und elf katholische Domherren im Domkapitel gesessen hätten – die Evangelischen hielten die Zahl von 13 Domherren ihres Bekenntnisses für zu niedrig, konnten aber keine Belege für ihre Behauptung einer deutlicheren evangelischen Dominanz beibringen. Im Westfälischen Frieden wurde dem Kurfürsten von Brandenburg als neuem Landesherrn zugestanden, das Domkapitel um ein Viertel (also 6 von 24 Sitzen) zu verkleinern (IPO, Art. XI, § 1 und 4), wobei diese Verringerung aber aus den evangelischen Sitzen erfolgen musste, so dass sich ein Verhältnis von sieben evangelischen zu elf katholischen Domherren ergab. Außerdem gestattete der Kurfürst, dass die Katholiken zwei und die Evangelischen eine Stelle aufheben dürften, um damit die Dotierung der übrigen Pfründen zu verbessern. Dies geschah, weshalb künftig von den nur noch 15 Domherren neun katholisch und sechs evangelisch waren. Mit der Einrichtung von zwei katholischen (Galen) und einer evangelischen Familienstiftung (Bussche) erhöhte sich die Zahl der Sitze dann bis 1689 wieder auf 18. Damit war das endgültige Verhältnis von elf Katholiken und sieben Evangelischen erreicht. Entsprechend der Situation 1624 musste der Dompropst stets katholisch und der Domdechant evangelisch sein. Vgl. Rüthing, Heinrich: Das Domkapitel Minden als konfessionell gemischtes Stift. In: Felten, Franz J./Jaspert, Nikolas (Hrsg.): Vita Religiosa im Mittelalter. Festschrift für Kaspar Elm zum 70. Geburtstag. Berlin 1999 (= Berliner historische Studien 13/Ordensstudien 13), S. 767-784, hier S. 775f. Das Bistum Halberstadt verfügte im 16. Jahrhundert über 22 Kanonikate. Der Kurfürst von Brandenburg hatte im Westfälischen Frieden für Halberstadt wie für Minden das Recht erhalten, das Domkapitel um ein Viertel zu verkleinern (IPO Art. XI, § 1). In Verhandlungen mit dem Domkapitel einigte man sich auf die Zahl von 19 Kanonikaten, 1693 kam noch eine Erbpräbende dazu. Bis zur Auflösung des Kapitels saßen im Halberstädter Domkapitel deshalb 16 evangelische und vier katholische Domherren. Vgl. Heckel, Johannes: Die evangelischen Dom- und Kollegiatstifter Preussens insbesondere Brandenburg, Merseburg, Naumburg, Zeitz. Stuttgart 1924 (= Kirchenrechtliche Abhandlungen 100/101), S. 94-98.

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Kapitel ist deshalb in der Literatur immer wieder als früher Ansatz zur Ökumene, als „praktizierter Irenismus“ 11 interpretiert worden. Folgt man dieser Annahme, dann hätte es sich bei den Kapiteln um Grenzgesellschaften gehandelt, die ihre Existenz an der konfessionellen Grenze so ausgestalteten, dass die konfessionelle Differenz kein Hindernis für ein von gegenseitiger Achtung geprägtes Miteinander der konfessionellen Gruppen dargestellt hätte. Allerdings wurde dabei zumeist allein aus der dauerhaften Existenz der gemischtkonfessionellen Kapitel und dem Fehlen spektakulärer Konflikte auf ein friedliches Nebeneinander der unterschiedlichen Konfessionen, gar auf eine Haltung gegenseitiger Toleranz geschlossen, ohne dass der alltägliche Umgang mit der konfessionellen Differenz in den Kapiteln je untersucht worden wäre. Eine solche Untersuchung, die die Domkapitelsprotokolle und die sonstige offizielle Überlieferung der Domkapitel wie auch Nachlässe und Korrespondenzen einzelner Domherren zu berücksichtigen hätte, kann hier nicht geleistet werden. Ziel des Beitrages ist es vielmehr, die vorliegende Literatur und einzelne zentrale Quellen daraufhin zu befragen, wie die Aushandlungsprozesse innerhalb der Kapitel aussahen und zu welchen rechtlichen Regelungen sie führten. Es ist davon auszugehen, dass in diesen Aushandlungsprozessen Konfession mit anderen Werten wie dem Erhalt der Institution oder der Funktion als Versorgungsinstitut des Adels konkurrierte. Für die Hierarchie dieser Werte dürfte es von Bedeutung gewesen sein, dass einem Domkapitel – anders als einer Stadt – eine religiöse Funktion von allem Anfang an stets eingeschrieben war, auch wenn im Alltag längst andere Funktionen in den Vordergrund getreten waren. Ausgehandelt werden mussten zunächst und vor allem die Bedingungen für die Aufnahme in und die Zugehörigkeit zum Domkapitel. Denn anders als in eine städtische Gesellschaft wurde man in ein Domkapitel nicht hineingeboren, sondern die Aufnahme erfolgte nach genau vorgeschriebenen Kriterien, die im Laufe der Zeit ausdifferenziert worden waren. Diese Kriterien 11

Der Abschnitt, in dem sich der Aufsatz von Jürgensmeier, Friedhelm: Bikonfessionalität in geistlichen Territorien. Verhältnisse um 1648 mit besonderer Berücksichtigung des Hochstifts Osnabrück. In: Garber, Klaus/Held, Jutta/Jürgensmeier, Friedhelm/Széll, Ute (Hrsg.): Erfahrung und Deutung von Krieg und Frieden. Religion – Geschlechter – Natur und Kultur. München 2001 (= Der Frieden. Rekonstruktion einer europäischen Vision 1), S. 261-285, findet, ist überschrieben: „Praktizierter Irenismus und konfessionelle Alltagswelt“. Das Resumée Jürgensmeiers geht in dieselbe Richtung: „Es vermochte sich Toleranz zu formieren, so auch im wie kein anderes geistliches Territorium bikonfessionell strukturierten Hochstift Osnabrück. Das insgesamt eher friedliche Zusammenleben in diesem halbsäkularisierten bischöflichen Fürstentum und die wachsende Toleranz wurden auch vom Wissen getragen, dass die nächste Landesherrschaft wieder der anderen Konfession angehört und somit Mäßigung in Handlung und Ton zum eigenen Wohl angeraten war.“ (ebd., S. 285).

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berücksichtigten zum einen die soziale Funktion der Domkapitel als adlige Versorgungsanstalten, zum anderen die religiöse Funktion der Kapitel. Die sozialständischen Kriterien, die mit Hilfe der Ahnenprobe überprüft wurden, waren zwischen den Konfessionen nicht strittig. Anders sah es mit den Kriterien aus, die aus dem Status der Domkapitel als Klerikerkorporationen folgten. Hier wirkte sich das zwischen der katholischen und den protestantischen Kirchen fundamental unterschiedliche Amtsverständnis aus. Nach katholischer Auffassung bildete der Klerus einen herausgehobenen Stand, der sich durch besondere Rechte und Pflichten auszeichnete, während die evangelischen Kirchen einen solchen speziellen Klerikerstand nicht kannten. Aus diesen Unterschieden des Amtsverständnisses folgten unterschiedliche Auffassungen über den Status sowie die Rechte und Pflichten eines Domherrn. Domherren waren Kleriker. Die Tonsur bildete damit – anders als die Weihen – eine Voraussetzung für die Aufnahme in ein Domkapitel. Dennoch scheint die Tonsur zunächst nicht so eindeutig konfessionell konnotiert gewesen zu sein, dass die Evangelischen im Erwerb der Tonsur ein Problem gesehen hätten. Noch bis ins 17. Jahrhundert hinein ließen sich deshalb auch Evangelische, die einen Sitz in einem Domkapitel anstrebten, die Tonsur erteilen.12 Im Verlauf des 17. Jahrhunderts wurde die Tonsur von den Evangelischen allmählich jedoch als so genuin katholisch abgelehnt, dass sie nicht mehr bereit waren, sich dem zu unterwerfen. Soweit erkennbar, gelang es den evangelischen Domherren überall, ihre Auffassung durchzusetzen und in der einen oder anderen Weise die Befreiung von der Tonsur zu erreichen. In Osnabrück verzichtete das Domkapitel bei der Aufnahme der ersten evangelischen Domherren nach dem Dreißigjährigen Krieg „ausnahmsweise“ auf die Tonsur,13 später wurde sie überhaupt nicht mehr verlangt. In Minden wiederum wurde ein entsprechender Streit 1687 so entschieden, dass die Evangelischen sich durch die Zahlung einer bestimmten Geldsumme von der 12

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So wurde Heinrich Julius von Braunschweig-Lüneburg auf Betreiben seines ebenfalls evangelischen Vaters 1578 die Tonsur erteilt, damit er zum Bischof von Halberstadt eingesetzt werden konnte. Später scheint dem Bischof jedoch bewusst geworden zu sein, dass dieser Vorgang höchst problematisch war. In seiner Rede vor dem Domkapitel 1591 forderte er nämlich die Abschaffung der Tonsur, weil viele damit ihr Gewissen beschwert hätten, da die Tonsur Gottes Wort zuwider und nicht biblisch begründet sei, ja: sie sei das „Malzeichen der Babylonischen Hure“. Vgl. Odenthal, Andreas: Die Ordinatio Cultus Divini et Caeremoniarium des Halberstädter Domes von 1591. Untersuchungen zur Liturgie eines gemischtkonfessionellen Domkapitels nach Einführung der Reformation. Münster 2005 (= Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 93), S. 45, 52f. Bei der Aufnahme der ersten evangelischen Domherren nach 1651 wurde 1652 und 1654 jeweils explizit darauf hingewiesen, dass die evangelischen Domherren des Jahres 1624 tonsuriert gewesen seien, dass man aber dieses Mal darauf verzichten wolle, ohne dass diese Entscheidung ein Präjudiz darstellen solle. Vgl. Staatsarchiv (StA) Osnabrück, Rep. 560 III, Nr. 95, fol. 184v, 194r, 313v-314r; auch Steinert 2003 (wie Anm. 7), S. 53.

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Tonsur freikaufen konnten. 14 In Lübeck hingegen nahm die Diskussion eine ganz eigene Richtung. Auch hier wären die Evangelischen zunächst durchaus bereit gewesen, sich die Tonsur erteilen zu lassen, doch stellte es im bald ganz protestantischen Norddeutschland eine immer größere Schwierigkeit dar, einen katholischen Bischof zu finden, der ja allein zur Tonsurerteilung berechtigt war. Man akzeptierte deshalb – entgegen den Bestimmungen des Tridentinums – in Lübeck auch Nachweise über die Zugehörigkeit zum Klerikerstand, die von Äbten ausgestellt worden waren. Nach einem entsprechenden Grundsatzbeschluss des Domkapitels 1587 pendelte sich die Praxis ein, dass die evangelischen Domherren sich die Urkunden von evangelischen Äbten ausstellen ließen. 15 Die evangelischen Domherren der gemischtkonfessionellen Domkapitel des 17. Jahrhunderts waren damit nach katholischem Verständnis keine Kleriker mehr. 16 Anders als man vielleicht erwarten könnte, stellte die Frage der Weihen kein allzu großes Problem dar. Da die höheren Weihen keine Voraussetzung für die Aufnahme in ein Domkapitel waren, verzichteten traditionell auch viele katholische Domherren auf sie, um sich so die Option auf Rückkehr in den weltlichen Stand und eine Heirat offen zu halten, falls die Familienräson dies verlangen sollte. Die evangelischen Domherren unterlagen in ihren Rechten deshalb zumeist denselben Einschränkungen wie die katholischen Domherren ohne höhere Weihen. Das heißt, sie waren bei der Bischofswahl nicht wahlberechtigt 17 und konnten keine Dignität übernehmen. 18 Das führte in Osnabrück zu der paradoxen Situation, dass die evangelischen Domherren bei der Wahl eines evangelischen Bischofs nicht wahlberechtigt waren, da die katholische Seite auch in diesem Fall auf der Anwendung des kanonischen Rechts bestand. 19 In Lübeck fand man – angesichts der Mehrheitsverhältnisse 14 15

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Vgl. Staatsarchiv (StA) Münster, Fürstentum Minden, Urkunde 594 (Vergleich Kurfürst Friedrich Wilhelms von Brandenburg, 21. Juli 1687), fol. 11v. Vgl. Prange, Wolfgang: Der Wandel des Bekenntnisses im Lübecker Domkapitel 15301600. Lübeck 2007 (= Veröffentlichungen zur Geschichte der Hansestadt Lübeck, Reihe B 44), S. 47-52. Nicht klar ist hingegen, wie lange dieser Nachweis dann tatsächlich noch verlangt wurde. Nach evangelischem Verständnis waren sie hingegen Kleriker; allerdings unterzog man die Kandidaten nicht den gleichen Prüfungen wie den Pfarrklerus. Vgl. Heckel 1924 (wie Anm. 10), S. 164. Dazu hätte es des Subdiakonats bedurft. Voraussetzung dafür war die Priesterweihe. Von dieser Bedingung musste allerdings in Minden abgewichen werden, da hier der Domdekan 1624 evangelisch gewesen war, also auch nach 1648 stets evangelisch sein musste. Die Frage wurde erstmals anlässlich der Wahl 1716 diskutiert. Die evangelischen Domkapitulare protestierten gegen ihren Ausschluss von der Wahl, wurden aber vom Haus Braunschweig-Lüneburg zur Mäßigung angehalten, da man in Hannover fürchtete, dass durch den Protest die Wahl Ernst Augusts gefährdet werden könnte. 1764 ließen die evangelischen Kapitulare ihrem Protest eine separate Wahl des braunschweigischen Kandidaten

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nicht erstaunlich – eine andere Lösung. Hier wurde bereits 1595 festgelegt, dass die evangelischen Domherren statt des Subdiakonats eine Bestätigung des Bischofs über ihre Eignung beibringen mussten, d.h. man suchte und fand ein für die Evangelischen akzeptables Äquivalent zur katholischen Weihevorschrift. 20 Die fehlende Weihe grenzte die evangelischen Domherren also nicht stärker von ihren katholischen Mitkapitularen ab, da auch unter jenen nicht alle die höheren Weihen besaßen. Aus dem unterschiedlichen Amtsverständnis folgte eine unterschiedliche Haltung zum Zölibat. Für die Katholiken gehörte der Zölibat zu den Standespflichten des Klerus, dem evangelischen Klerus stand dagegen die Wahl der Lebensform frei. Anders als bei der Tonsur kam es nicht zu einer einheitlichen Regelung, wie hier bei evangelischen Domherren zu verfahren sei. Den evangelischen Domherren in Lübeck, 21 Minden und Halberstadt wurde erlaubt zu heiraten, d.h. die Standespflichten des katholischen Klerus galten für sie nicht. Das war insofern logisch, als sie mangels Tonsur nach katholischer Auffassung auch keine Kleriker waren. In Osnabrück dagegen wurde von den evangelischen wie von den katholischen Domherren verlangt, dass sie im Fall einer Heirat ihre Pfründe resignierten. Diese Regelung wurde von den evangelischen Domherren zunächst offenbar akzeptiert. Als der evangelische Domherr Johann Werner von Hammerstein-Gesmold 1732 heiraten wollte, unternahm er jedenfalls keinerlei Versuche, sein Domkanonikat zu behalten, sondern resignierte dieses zugunsten seines Bruders Ernst August. 22 Erst 1773 kam es über diese Frage zu einer grundsätzlichen Auseinandersetzung. Der evangelische Domherr Philipp Clamor von dem Bussche-Ippenburg beabsichtigte nämlich auch nach seiner Heirat Domherr zu bleiben; die katholischen Domherren lehnten dieses Ansinnen dagegen unter Verweis auf die seit

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folgen. Sowohl die evangelischen als auch die katholischen Osnabrücker Bischöfe wurden also jeweils nur von den emanzipierten katholischen Domherren gewählt. Für ihre Wahl eines evangelischen Bischofs belegte sie der Papst mit der Exkommunikation, beauftragte aber stets sofort den Kölner Nuntius damit, ihnen Absolution zu erteilen. Vgl. Steinert 2003 (wie Anm. 7), S. 62-67. Vgl. Prange 2007 (wie Anm. 15), S. 52-56. In Lübeck hatte bereits 1590 erstmals ein Domherr geheiratet, 1594 hatte der (evangelische) Bischof versichert, dass kein Domherr wegen einer Heirat Schaden an seiner Pfründe erleiden dürfe. Damit galt der Zölibat nur noch für die katholischen Domherren. Dabei blieb es auch künftig. Vgl. ebd., S. 70-72. Vgl. Beckschäfer, Bernhard: Evangelische Domherren im Osnabrücker Domkapitel. In: Osnabrücker Mitteilungen 52 (1930), S. 177-198, hier S. 191. Dass man selbstverständlich davon ausging, dass die evangelischen Domherren bei einer Eheschließung resignierten, zeigt auch ein Kapitelsbeschluss vom 22. Oktober 1708, in dem lediglich die Modalitäten der Resignation genauer geregelt werden, die Resignation als solche aber vorausgesetzt wird. Vgl. ebd., S. 190. Philipp Clamor übrigens wartete das Ende des Streits gar nicht mehr ab, sondern verzichtete Ende 1774 auf sein Kanonikat.

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der Capitulatio perpetua beobachtete Gewohnheit und die Statuten der Osnabrücker Kirche ab. In der folgenden erbitterten, auch publizistisch ausgetragenen Kontroverse setzte sich letztlich die katholische Auffassung durch, dass eine Heirat für evangelische wie für katholische Domherren den Verlust der Präbende nach sich ziehen sollte. 23 Das unterschiedliche Amtsverständnis führte zu einer mehr als nur unsichtbaren Grenze in den Domkapiteln. Nach dem Westfälischen Frieden dauerte es zunächst geraume Zeit, bis für die strittigen Punkte endgültige Regelungen ausgehandelt werden konnten. Diese sahen zumeist so aus, dass für die Evangelischen vom kanonischen Recht abweichende Regelungen gefunden wurden. Damit wurden die Grenzen zwischen den katholischen und den evangelischen Domherren im Laufe der Zeit rechtlich verfestigt. Deutlich sichtbar wurde diese Grenze vor allem in den Domkapiteln von Lübeck, Minden und Halberstadt in den unterschiedlichen Regelungen zum Zölibat. 24 Zur Verfestigung der Grenzen zwischen beiden genau abgegrenzten Teilkorpora trug auch bei, dass die Mitgliedschaft im Domkapitel strikt an die Konfession gekoppelt war. Das heißt, eine Konversion zog unweigerlich den Verlust der Präbende nach sich. Nur so war gewährleistet, dass das numerische Verhältnis der Konfessionen stets auf dem Stand von 1624 blieb. Folgerichtig wurde deshalb der seit 1652 als Evangelischer im Osnabrücker Domkapitel sitzende Otto Heinrich von Oer nach seinem Übertritt zum Katholizismus 1688 seiner Präbende entsetzt. 25 Wie gestaltete sich nun der Alltag in einem gemischtkonfessionellen Domkapitel? Zunächst ist festzuhalten, dass es in allen Domkapiteln deutliche Mehrheitsverhältnisse gab, noch am ausgeglichensten waren die Verhältnisse in Minden mit elf Katholiken und sieben Protestanten. Das bedeutet nun freilich keineswegs, dass die Domherren stets in dieser Zahl anwesend 23

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Die drei evangelischen Kanoniker publizierten eine Schrift mit dem Titel Standhafte Behauptung der Freyheit des Ehestandes der evangelischen Domkapitularen zu Osnabrück, welche ihnen von dem Domkapitel daselbst beim höchstpreislichen Reichshofrath bestritten werden sollen. Im Jahr darauf erschien die Gegenschrift Gründliche Abfertigung der vermeintlichen standhaften Behauptung der Freiheit des Ehestandes deren der Augspurgischen Confession Verwandten Domkapitulare zu Osnabrück. Auf Ersuchen des dasigen hochwürdigen Domkapitels verfasset, der eine weitere Schrift desselben Tenors folgte. Vgl. ebd., S. 193. Die Erlaubnis zu heiraten war nicht nur die aus evangelischer Sicht logische Folge der Tatsache, dass die evangelischen Domherren keine Kleriker waren. Sie folgte auch aus den politischen und den Mehrheitsverhältnissen. Die Domkapitel in Lübeck und Halberstadt besaßen deutliche evangelische Mehrheiten, in Minden verfügten die Katholiken zwar über eine leichte Mehrheit, der Landesherr, der Kurfürst von Brandenburg, war jedoch protestantisch und hätte die Durchsetzung der katholischen Auffassung in diesem Punkt wohl kaum geduldet. Er erhielt aber noch im selben Jahr eine katholische Pfründe, kehrte also wieder in das Domkapitel zurück. Vgl. Hersche, Peter: Die deutschen Domkapitel im 17. und 18. Jahrhundert. 3 Bde. Bern 1984, hier Bd. 1, S. 141f.

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waren und ihr gemeinsames Kapitelleben gestalteten. Aufgrund der üblichen Kumulation mehrerer Domkapitelsitze residierten die Domherren dauerhaft nur in einem Kapitel, in den anderen ließen sie sich von ihrer Residenzpflicht befreien. Allerdings galt dies fast ausschließlich für die katholischen Domherren, da aufgrund der geringen Zahl protestantischer Stifte bei den evangelischen Domherren Pfründenkumulation praktisch nicht vorkam. Für die katholischen Domherren hingegen stellten gerade die Sitze in den gemischtkonfessionellen Domkapiteln reine Einnahmequellen dar, sie nahmen ihre Residenz regelmäßig in einem katholischen Domkapitel. Ein Blick auf die einzelnen Kapitel bestätigt diesen allgemeinen Befund: Die katholischen Domherren des Mindener Kapitels verfügten fast alle noch über Sitze in anderen Domkapiteln, vor allem in Münster. Diese waren selbstverständlich wesentlich attraktiver als eine Dompräbende in einem armen Domkapitel wie Minden, ohne Bischof, aber mit einem protestantischen Landesherrn. Die katholischen Mindener Domherren spielten deshalb in Minden höchstens eine Gastrolle, manche sahen den Mindener Dom überhaupt kein einziges Mal. 26 In Lübeck wiederum residierte teilweise kein einziger, häufig nur einer der katholischen Domherren. 27 Auch die katholischen Osnabrücker Domherren waren vielfach noch an anderen Kapiteln bepfründet, 28 so dass von den 24 Domherren durchschnittlich nur sechs bis acht an den Kapitelsitzungen teilnahmen. 29 Dabei handelte es sich vor allem um die Dignitäre, die, da sie Priester sein mussten, alle katholisch waren. Zumindest während der Zeit ihrer strengen Residenz 30 unmittelbar nach der Emanzipation nahmen auch die evangelischen Domherren an den Sitzungen teil. 31 In den Kapitelsitzungen 26

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Vgl. Rüthing 1999 (wie Anm. 9), S. 777. Siehe als Beispiel den Mindener Dompropst Hugo Franz Karl von Eltz, den Hermann Nottarp ausführlich vorstellt: Nottarp, Hermann: Ein Mindener Dompropst des 18. Jahrhunderts. In: Westfälische Zeitschrift 103/104 (1954), S. 93-163, hier S. 140. In Minden hatte man zudem die Zahl der residierenden Domherren aus finanziellen Gründen auf nur zehn begrenzt. Aus der Residenzpflicht war so ein Residenzrecht geworden. Vgl. StA Münster, Domkapitel Minden, Akten 67, fol. 16r-17v (Domkapitel Minden an König Friedrich Wilhelm I., Minden, 19. November 1722). Auch in Lübeck erfolgte aus finanziellen Gründen eine Begrenzung der Zahl der residierenden Domherren, und zwar auf 19 (von 32), davon höchstens zwei Katholiken. Vgl. Prange, Wolfgang: Das Lübecker Domkapitel. In: 800 Jahre Dom zu Lübeck. Lübeck 1973, S. 109-129, hier S. 127. Vgl. dazu für das 18. Jahrhundert Boeselager, Johannes Freiherr von: Die Osnabrücker Domherren des 18. Jahrhunderts. Osnabrück 1989 (= Osnabrücker Geschichtsquellen und Forschungen 28), S. 93, 96f. Dies ergab eine kursorische Durchsicht einiger Jahrgänge der Domkapitelsprotokolle in StA Osnabrück, Rep. 560 III. Diese dauerte in Osnabrück zunächst sechs Monate, nach 1707 nur noch 6 Wochen. Vgl. Boeselager 1989 (wie Anm. 28), S. 21. Genau feststellen lässt sich dieser Zusammenhang für Baldewin Voß von Mundelnburg, der am 9. Oktober 1654 emanzipiert wurde, am 26. Oktober erstmals an einer Kapitelssit-

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dominierte also stets eindeutig eine Konfession, und zwar noch deutlicher, als es die Verteilung der Kanonikate auf die Konfessionen ohnehin schon nahe legt. So waren die aktiven Mitglieder im Osnabrücker Kapitel fast durchweg katholisch, in Lübeck und Halberstadt dagegen evangelisch. In Minden ergab sich durch die Absenzen der katholischen Kanoniker die paradoxe Situation, dass das mehrheitlich katholische Domkapitel sich vor Ort als eine evangelische Korporation präsentierte. Das stärkste Argument für die Annahme einer gelebten Ökumene in den gemischtkonfessionellen Kapiteln ist zweifellos die sich im täglichen Chordienst stets aufs Neue konstituierende konfessionsübergreifende liturgische Gemeinschaft an den Dom- und Stiftskirchen. Der tägliche Chordienst war die ursprüngliche Aufgabe der Domherren, von der sie sich nicht befreien lassen konnten. Allerdings war es möglich, einen Vikar damit zu beauftragen. Es liegen freilich keine Untersuchungen darüber vor, in welchem Umfang der Chordienst von den Domherren selbst und in welchem Umfang er von Vikaren verrichtet wurde. Nach allem, was wir über die frühneuzeitlichen Domkapitel wissen, erscheint es aber unwahrscheinlich, dass die meist adligen Herren sich in großer Zahl tatsächlich mehrmals täglich zum Chorgebet versammelten. Schon aus diesem Grund ist Skepsis angebracht, was die in der Literatur gelegentlich geäußerte Annahme von der selbstverständlichen Verrichtung des Chordienstes durch die Domherren beider Konfessionen anbelangt. 32

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zung teilnahm und nun exakt ein halbes Jahr lang, bis zum 10. April 1655, regelmäßig als Sitzungsteilnehmer aufgeführt ist. Vgl. StA Osnabrück, Rep. 560 III, Nr. 95. Am 19. April wurde ihm das Ende seiner Residenzzeit bestätigt; vgl. ebd., fol. 355r. Bei seinem evangelischen Kollegen Jodokus Heinrich von Korff-Waghorst lässt sich eine regelmäßige Anwesenheit über ungefähr ein dreiviertel Jahr feststellen; vgl. ebd. Auch Johann Werner von Hammerstein erhielt 1716 die Erfüllung seiner Residenzzeit bestätigt, nun allerdings schon zu den Bedingungen der verkürzten Residenzzeit; vgl. Hoberg, Hermann: Die Gemeinschaft der Bekenntnisse in kirchlichen Dingen. Rechtszustände im Fürstentum Osnabrück vom Westfälischen Frieden bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts. Osnabrück 1939 (= Das Bistum Osnabrück 1), S. 89f. Ob die evangelischen Kanoniker den Sitzungen auch darüber hinaus regelmäßig beiwohnten, könnte erst eine komplette Durchsicht der Domkapitelsprotokolle zeigen. Die Aussage: „Auch dürften sich in Osnabrück die evangelischen Domherren ebenso häufig am Chorgebet und an den verschiedenen Gottesdiensten beteiligt haben wie ihre katholischen Mitkapitulare“ (Jürgensmeier 2001 [wie Anm. 11], S. 284), ließe sich streng genommen auch als „ebenso wenig“ verstehen. Der Satz: „Der Chordienst am Dom wurde bis zur Auflösung des Kapitels in ungeschmälerter kanonischer Form gepflegt“ (Brandt, Hans Jürgen/Hengst, Karl: Victrix Mindensis ecclesia. Die Mindener Bischöfe und Prälaten. Paderborn 1990, S. 91) im Zusammenhang mit der Beschreibung der Aufgaben des Domkapitels erweckt den Eindruck, als ob dieser Chordienst durch die Domherren erfolgt wäre; die Möglichkeit einer Vertretung wird nicht thematisiert. Dagegen rügte König Friedrich Wilhelm I. von Preußen 1722 die Magdeburger, Halberstädter und Mindener Domherren ausdrücklich, weil sie ihre Funktionen in Chor und Kapitel vernachlässigten.

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Es ist also zu trennen zwischen der Fortexistenz des Chordienstes an den Domkapiteln und der Verrichtung dieses Dienstes durch die Domherren. Am Chorgebet wurde selbst in rein evangelischen Domkapiteln lange festgehalten. 33 Denn zum einen legitimierte der Chordienst die Existenz der Kapitel, zum anderen war die Auszahlung der Präsenzgelder an die Verrichtung des Chordienstes gebunden. 34 Allerdings passte man die Chorgebete inhaltlich an, indem z.B. die Anrufung der Heiligen getilgt und der Hinweis auf den Opfercharakter der Messe entfernt wurde, während an der lateinischen Sprache selbstverständlich festgehalten wurde. Genau diese theologischen Inhalte führten nun in den gemischtkonfessionellen Kapiteln zu Diskussionen, an deren Ende die Kapitel zu ganz unterschiedlichen Lösungen kamen. Lediglich in Lübeck stellte sich die Frage nach der Ausgestaltung des Chorgebets nicht mehr, da hier der Chordienst bereits 1535 vollständig eingestellt worden war. 35 Wenn es für Minden heißt, dass hier „der katholische Chordienst vom evangelischen Dechanten geleitet wurde und die evangelischen Kapitulare einträchtig mit den katholischen an den Messen und Prozessionen teilnahmen“, 36 so sind an diesem idyllischen Bild durchaus Zweifel angebracht, wenn man die wiederkehrenden Eingaben der evangelischen Domherren an die Mindener Regierung liest, in denen sie sich über vielfältige Regelverletzungen ihrer Kollegen beschwerten. Dass in dem insgesamt 33 Punkte umfassenden Vergleich, den Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg 1687 verkündete, dann eben auch geregelt wurde, dass die evangelischen Domherren ihre Präsenzgelder künftig auch erhielten, wenn sie lediglich in Minden anwesend waren, d.h. dass sie dafür nicht mehr am Chordienst teilnehmen mussten, zeigt, dass es mit der Eintracht nicht allzu weit her gewesen sein dürfte. 37 Der Chordienst am Mindener Dom wurde also zwar in althergebrachter Form weitergeführt, aber es dürfte sich dabei um eine Veranstaltung weitgehend oder gänzlich ohne Domherren gehandelt haben. Denn die evangelischen Domherren waren von der Teilnahme befreit und katholische

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Vgl. StA Münster, Domkapitel Minden, Akten 67, fol. 9r-12r (Edikt König Friedrich Wilhelms I. von Preußen, Berlin, 18. Oktober 1722). Lediglich Rüthing 1999 (wie Anm. 9), S. 775 meldet Zweifel an, ob die Domherren noch selbst den Chordienst versahen. Vgl. Heckel 1924 (wie Anm. 10), S. 156-159. Vgl. Nottarp, Hermann: Zur Communicatio in sacris cum haereticis. Deutsche Rechtszustände im 17. und 18. Jahrhundert. In: Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft. Geisteswissenschaftliche Klasse 9 (1933), S. 107-125, hier S. 115f. Vgl. ebd., S. 120, Anm. 2; Illigens, Everard: Geschichte der Lübeckischen Kirche von 1530 bis 1896, das ist Geschichte des ehemaligen katholischen Bistums und der nunmehrigen katholischen Gemeinde sowie der katholischen Bischöfe, Domherren und Seelsorger zu Lübeck von 1530 bis 1896. Paderborn 1896, S. 27, 30. Nottarp 1933 (wie Anm. 34), S. 122. Vgl. StA Münster, Fürstentum Minden, Urkunde 594 (Vergleich Kurfürst Friedrich Wilhelms von Brandenburg, 21. Juli 1687), fol. 11v-12r.

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Domherren waren in Minden nur ausnahmsweise anwesend. In Halberstadt wiederum wurde die Anrufung der Heiligen und die Kommemoration der Verstorbenen bei den kleinen Horen und der Vesper weggelassen, die Matutin fand nicht mehr statt. 38 An den Sonn- und Feiertagen wurde im Domchor ein evangelischer Abendmahlsgottesdienst gefeiert, bei dem zwar ein katholischer Diakon assistierte, von einer Teilnahme katholischer Domherren aber nicht die Rede ist. Diese – sofern sie überhaupt einmal in Halberstadt anwesend waren – waren für die Abhaltung der Messe vielmehr auf ihre Privatkapellen verwiesen. Man wird sich also von der kaum hinterfragten Annahme, dass die gemischtkonfessionellen Domkapitel im täglichen Chordienst eine konfessionsübergreifende liturgische Gemeinschaft bildeten, wohl verabschieden müssen. Noch deutlicher grenzten sich die evangelischen Domherren von eindeutig katholisch ausgezeichneten Zeremonien wie Prozessionen ab. Hier begnügten sie sich nicht mit einer stillschweigenden Abwesenheit, sondern bestanden auf einer förmlichen Befreiung, die ihnen in Osnabrück und in Minden schließlich auch gewährt wurde. 39 Die Domkirche war stets der Mehrheitskonfession zugeordnet, d.h. die Dome in Osnabrück und Minden blieben katholische Kirchen, im Lübecker und im Halberstädter Dom hingegen wurde seit dem 16. Jahrhundert nur noch evangelischer Gottesdienst gefeiert. Trotz der gemischtkonfessionellen Zusammensetzung der Domkapitel waren die Domkirchen also keine Simultankirchen, mit der Folge, dass die konfessionelle Minderheit der Domherren keine Möglichkeit hatte, in „ihrer“ Kirche einen Gottesdienst ihrer Konfession zu feiern. Die evangelischen Domherren in Osnabrück und Minden konnten immerhin auf die evangelischen Kirchen in der Stadt ausweichen. Schwieriger war die Situation für die katholischen Domherren in Lübeck. In der Stadt gab es schon lange keinen katholischen Gottesdienst mehr, auch das Umland war vollständig protestantisch. Die katholischen Domherren versammelten sich 38

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Odenthal, Andreas: Gefeierte Ökumene. Zur nachreformatorischen Stundenliturgie des gemischt konfessionellen Domkapitels in Halberstadt. In: Liturgisches Jahrbuch 53 (2003), S. 76-100 betont die sich im gemeinsamen Stundengebet des Halberstädter Domkapitels realisierende Ökumene, geht aber nicht auf die Frage ein, wer dieses Stundengebet verrichtete. Im protestantischen Lübeck und Halberstadt stellte sich dieses Problem nicht. Für Minden vgl. StA Münster, Fürstentum Minden, Urkunde 594 (Vergleich Kurfürst Friedrich Wilhelms von Brandenburg, 21. Juli 1687), fol. 11v-12r. 1716 beschloss das Osnabrücker Domkapitel, dass die evangelischen Domherren nicht länger zum Tragen der Reliquienschreine während der Sakramentsprozessionen verpflichtet sein sollten, sondern dass sie einen anderen Domherrn bitten dürften, sie zu vertreten; vgl. Hoberg 1939 (wie Anm. 31), S. 91. Das von Hoberg zitierte Domkapitelsprotokoll (Bistumsarchiv Osnabrück, D 8, S. 143f.) wurde im Zweiten Weltkrieg vernichtet.

Die gemischtkonfessionellen Domkapitel im Reich

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deshalb zum Gottesdienst in ihren Domkurien, den sie entweder selbst zelebrierten oder von ihren Vikaren, durchreisenden Priestern oder ab den 1670er Jahren von Jesuiten abhalten ließen. Dieses Recht wurde ihnen auch nicht streitig gemacht, da die Domimmunität dem städtischen Zugriff entzogen war. Streit gab es jedoch um die Teilnahme von Bürgern an diesen Gottesdiensten, hier bedurfte es sogar eines Eingreifens des Kaisers, um die Auseinandersetzung 1683 in katholischem Sinne zu beenden. Bei diesen Gottesdiensten handelte es sich keineswegs nur um häusliche Andachten in kleinem Kreis. Für das Jahr 1677 wird berichtet, dass die Jesuiten die Stube der Domkurie durch Aufschlagen einer neuen Kanzel und eines Altars gleichsam zur Kirche umgestaltet hatten. Und 1703 reiste sogar der Weihbischof aus Osnabrück an, um auf der Domkurie 38 Firmungen vorzunehmen. 40 Auch in Halberstadt konnten die katholischen Kapitulare in ihren eigenen Kapellen Messe feiern. Aber nicht nur im Innenleben der Kapitel war die Gemeinsamkeit eher gering, auch in ihren Außenkontakten zerfielen die Domkapitel deutlich in zwei Teile. Die katholischen Domherren dürften sich nicht nur ihren Kollegen in den anderen Domkapiteln, in denen sie vertreten waren, eng verbunden gefühlt haben; sie hielten auch Kontakt zum Nuntius in Köln, zur Congregatio de propaganda fide in Rom, und sie sprachen in Fällen, in denen es um die Interpretation des Reichsreligionsrechts ging, am Kaiserhof und beim Reichshofrat vor. 41 Demgegenüber wandten sich die evangelischen Osnabrücker Domherren an das Haus Braunschweig-Lüneburg, ihre Mindener und Halberstädter Kollegen an ihren Landesherrn, den brandenburgischen Kurfürsten, und die Lübecker Kapitulare an ihren Bischof oder den städtischen Rat. Gerade in den Fällen, in denen es um konfessionelle Streitfragen ging, fiel es den Domkapiteln schwer, diese intern zu regeln, beide Konfessionsparteien vertrauten hier auf Rückhalt von außen. Während es um die Gemeinschaft der Lebenden also nicht zum Besten bestellt war, ist das Bild hinsichtlich der Gemeinschaft der Toten und angesichts des Todes disparater. In Lübeck trugen die evangelischen und katholischen Domherren fast bis zum Ende des 16. Jahrhunderts ihre toten Mitbrüder gemeinsam zu Grabe. Seit den 1590er Jahren fanden die Beerdigungen katholischer Domherren dann jedoch in aller Stille statt, teilweise nachts, um Störungen zu entgehen. 42 Bei den Beerdigungen waren fortan nur noch Mit40 41

42

Vgl. Illigens 1896 (wie Anm. 35), S. 69, 77-81, 85. So erwirkten die Lübecker Katholiken in dem Streit um die Teilnahme am katholischen Gottesdienst in der Domkurie des katholischen Domherrn Rhabanus Heistermann kaiserliche Schutzbriefe, die Einsetzung einer kaiserlichen Kommission und letztlich eine kaiserliche Entscheidung zugunsten der Katholiken. Vgl. ebd., S. 78-81. Vgl. ebd., S. 68.

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Bettina Braun

glieder der eigenen Konfession anwesend. Möglich war es allerdings, dass auch die Angehörigen der Minderheit ihr Grab im anderskonfessionellen Dom erhielten: Für den Lübecker Dom sind bis ins 18. Jahrhundert Gräber katholischer Domherren bezeugt, 43 und im Osnabrücker Dom fanden auch evangelische Domherren ihre letzte Ruhestätte. 44 Es dürfte deutlich geworden sein, dass die gemischtkonfessionellen Kapitel kaum als Horte ökumenischen Zusammenlebens an der konfessionellen Grenze in Anspruch genommen werden dürfen. Allein das Interesse am Erhalt des Status quo, also am Bestand der Institution als solcher, führte dazu, dass man die Ausgestaltung der konfessionellen Grenze aushandeln musste, nicht jedoch ein Interesse an einem möglichst gedeihlichen konfessionellen Miteinander.

43 44

Vgl. ebd., S. 61f. Jodokus Theodor von Korff-Waghorst wurde – wie zahlreiche seiner katholischen Mitkapitulare – 1717 im Portikus des Osnabrücker Doms bestattet, ebenso Jodokus Theodor von Dinklage-Schulenburg 1735 und Karl Christian von Ledebur 1795; vgl. Boeselager 1989 (wie Anm. 28), S. 230, 281, 290.

JOHANNES WISCHMEYER

„Streitpfarren“ – Das innerkonfessionelle Konfliktpotential kirchlicher Hoheitsrechte im politischen Grenzraum

Facettenreichtum und Disparität von „Konfession“ Beinahe immer, wenn es um „konfessionelle Grenzen“ in der Frühen Neuzeit geht, sind die Grenzen zwischen Territorien und sozialen Gruppen unterschiedlicher Konfessionen im Blick: hie altgläubig – dort protestantisch. 1 Doch das Thema „konfessionelle Grenze“ erschöpft sich nicht in dieser Dichotomie. Wie stets muss man auch dort, wo es um die Grenzen konfessioneller Räume geht, den Begriff der „Konfession“ differenziert handhaben. Bereits der juridische Konfessionsbegriff der Zeitgenossen, religio, legt die Notwendigkeit einer weiteren Grenzziehung nahe: Die bis 1648 geltende reichsrechtliche Unterscheidung in Augsburger Konfessionsverwandte und Katholiken vermochte die faktische Existenz reformierter Territorien nicht abzubilden. Das Konfessionalisierungsparadigma hat die vielen über das Religionsverfassungsrecht hinausgehenden Dimensionen aufgezeigt, die Konfessionalität bei der Ausformung von Staat, Gesellschaft und Kultur annahm. In jüngerer Zeit ist außerdem das Bewusstsein dafür gewachsen, dass sich auch einzelne Gesellschaften derselben Konfession teilweise äußerst heterogen

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Vgl. nur: François, Etienne: Die unsichtbare Grenze. Protestanten und Katholiken in Augsburg 1648–1806. Sigmaringen 1991 (= Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 33); Chaix, Gérald: La frontière introuvable. Pratiques religieuses et identités confessionelles dans l’espace Bas-Rhenan. In: Sauzet, Robert (Hrsg.): Les frontières religieuses en Europe du XVe au XVIIe siècle. Paris 1992, S. 177-184; Schilling, Heinz: Confessionalisation and the Rise of Religious and Cultural Frontiers in Early Modern Europe. In: Andor, Eszter/Tóth, István György (Hrsg.): Frontiers of Faith. Religious exchange and the constitution of religious identities 1400-1750. Budapest 2001, S. 21-35; Duhamelle, Christophe: Territoriale Grenze, konfessionelle Differenz und soziale Abgrenzung. Das Eichsfeld im 17. und 18. Jahrhundert. In: François, Etienne/Seifarth, Jörg/Struck, Bernhard (Hrsg.): Die Grenze als Raum, Erfahrung und Konstruktion. Deutschland, Frankreich und Polen vom 17. bis zum 20. Jahrhundert. Frankfurt a.M./New York 2007, S. 33-51; Kaplan, Benjamin J.: Divided by Faith. Religious conflict and the practice of toleration in early modern Europe. Cambridge, Mass. 2007, S. 144-171; Hacke, Daniela: Kommunikation über Räume. Religiöse Koexistenz in eidgenössischen Dorfkirchen in der Frühen Neuzeit. In: Rau, Susanne/Schwerhoff, Gerd (Hrsg.): Topographien des Sakralen. Religion und Raumordnung in der Vormoderne. München 2008, S. 280-304.

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präsentierten. 2 Dies gilt nicht nur für den protestantischen Bereich, der eher als „zersplittert“ wahrgenommen werden mag, sondern auch für den Raum des Katholizismus, innerhalb dessen viele Territorialherrscher ihre religionsrechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten durchaus selbstbewusst in Anspruch nahmen. 3 Prinzipiell war also in der Periode der Frühen Neuzeit jedes einzelne politische Territorium Europas auf eine spezielle Weise konfessionell konfiguriert. Die Konfession im theologischen Verständnis, d.h. ein Corpus von Bekenntnisschriften mit der Funktion religiöser Normen, gehörte zumindest auf der protestantischen Seite zum integralen Rechtsbestand jedes Territoriums. Der sogenannte „Bekenntnisstand“ war festgeschrieben im Rahmen einer Kirchenordnung, die das geistliche Recht ersetzte und weite Teile des sozialen Lebens regelte. Hier herrschte innerhalb des protestantischen Bereichs Pluralität: Bekenntnisstände konnten zwar teilweise identisch sein – etwa in denjenigen Territorien, die seit 1580 das lutherische Konkordienbuch angenommen hatten –, und Kirchenordnungen lassen sich immerhin in bestimmten Rechtsfamilien systematisieren. 4 Doch es blieben überall genügend feine Unterschiede. Nirgendwo war die religionsrechtliche Situation exakt dieselbe, ja: Sie wies auch innerhalb desselben Territoriums teilweise bedeutende Unterschiede auf. Im katholischen Europa spielten zwar nach der Konsolidierung und Vereinheitlichung infolge des Tridentinums variierende theologische Bekenntnistexte als interne Grenzmarkierungen keine Rolle; hier wurde konfessionsinterne Heterogenität vor allem durch rechtliche Begrenzungen unterschiedlicher Qualität hergestellt – durch Konkordate zwischen altgläubigen Territorien und dem Hl. Stuhl 5 sowie durch die von den politischen Grenzen abweichenden Unterstellungsverhältnisse von Metropolien, Bistümern und Abteien mit allen Folgen für das religiöse Leben regionaler und lokaler Gesellschaften. Differierende religiös-politische Herrschaftsbeziehun2

3

4 5

Vgl. Greyerz, Kaspar von/Jakubowki-Tiessen, Manfred/Kaufmann, Thomas u.a. (Hrsg.): Interkonfessionalität – Transkonfessionalität – binnenkonfessionelle Pluralität. Neue Forschungen zur Konfessionsthese. Gütersloh 2003 (= Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 201); die Fortführung dieses Ansatzes durch regional vergleichende Fallstudien ist ein Desiderat. Vgl. nur für das Hl. Römische Reich Willoweit, Dietmar: Das landesherrliche Kirchenregiment. In: Jeserich, Kurt G.A./Pohl, Hans/Unruh, Georg-Christoph von (Hrsg.): Vom Spätmittelalter bis zum Ende des Reiches. Stuttgart 1983 (= Deutsche Verwaltungsgeschichte 1), S. 361-369. Vgl. Sprengler-Ruppenthal, Anneliese: Art. Kirchenordnungen. II/1. Reformationszeit. In: Theologische Realenzyklopädie. Bd. 18. Berlin/New York 1989, S. 670-703. Vgl. Unterburger, Klaus: Das Bayerische Konkordat von 1583. Die Neuorientierung der päpstlichen Deutschlandpolitik nach dem Konzil von Trient und deren Konsequenzen für das Verhältnis von weltlicher und geistlicher Gewalt. Stuttgart 2006 (= Münchner Kirchenhistorische Studien 11).

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gen „vor Ort“ waren aber, wie zu zeigen ist, keineswegs nur ein Spezifikum katholischer Territorien. Ansatzpunkt waren hier wie dort die mit dem ius territoriale des Landesherrn konkurrierenden Rechte Dritter an einzelnen Pfarren, in erster Linie Vogtei und Patronatsrecht. 6 Konfessionelle Grenzen und daraus resultierende Grenzkonflikte existierten im Reich also prinzipiell in jedem politischen Grenzraum. Teilweise währten sie jahrhundertelang und überdauerten das Alte Reich. Sie summierten sich dort, wo politische und kirchliche Grenzen auseinander fielen bzw. eine Gemengelage an abgestuften Jurisdiktionsverhältnissen bestand. Da Grenzen zählebig sind, waren derartige Probleme auch in protestantischen Territorien keineswegs mit der Reformation und Säkularisation erledigt, sie wurden vielmehr im Rahmen der Territorialstaatsbildung instrumentalisiert.

Behauptung der Kirchenhoheit – Dimensionen des innerkonfessionellen Grenzkonflikts Eine solche konfliktreiche Konstellation entwickelte sich auch im Grenzraum zwischen den beiden lutherischen Territorien des albertinischen Sachsen und des hohenzollernschen Brandenburg-Kulmbach (später Bayreuth). 7 Im oberfränkisch-sächsischen Vogtland waren sieben kleine Gemeinden – mit in der Mitte des 16. Jahrhunderts insgesamt knapp 160 Haushalten – jahrhundertelang als sogenannte „Streitpfarren“ bekannt. 8 Zunächst ein Blick auf die 6

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8

Vgl. immer noch Reingrabner, Gustav: Zur Rechtsgeschichte des Parochialsystems in der Reformationszeit. In: Österreichisches Archiv für Kirchenrecht 32 (1981), S. 42-58; zu kirchlichen Rechtsverhältnissen im katholischen Bereich Horling, Thomas: Die Organisation des niederen Kirchenwesens im ehemaligen Landkreis Ochsenfurt zwischen Eigenkirchen-, Patronats- und Zehntrecht, Grundherrschaft und Vogtei. In: Würzburger Diözesangeschichtsblätter 68 (2006), S. 31-107; zum damit verbundenen Konfliktpotential vor Ort vgl. Ammerich, Hans: Die blutigen Auseinandersetzungen in Kirchenarnbach 1757 als Folge des strittigen Patronatsrechts. In: Blätter für pfälzische Kirchengeschichte und religiöse Volkskunde 50 (1983), S. 43-51. Vgl. zum Folgenden allgemein Wartenberg, Günther: Die „Streitpfarreien“ im Vogtland. Territorialpolitische Auseinandersetzungen zwischen Brandenburg-Kulmbach und Sachsen als Erbe der Reformationszeit. In: Zeitschrift für Bayerische Kirchengeschichte 57 (1988), S. 9-25. Der genannte Aufsatz führt umfassend in den Forschungsstand ein und gibt einen Überblick über die auszuwertenden einschlägigen Bestände mehrerer Staatsarchive. Unerwähnt bleibt die dichte Überlieferung im Archiv der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche in Bayern (= LKA Nürnberg), die für den vorliegenden Aufsatz stichprobenhaft ausgewertet worden ist. Vgl. zu den Orten Eichigt, Gefell, Großzöbern, Krebes, Mißlareuth, Sachsgrün und Wiedersberg die Einträge im Digitalen Historischen Ortsverzeichnis von Sachsen (URL: http://hov.isgv.de [letzter Zugriff: 09.07.2010]); näher: Horn, Georg: Großzöbern. In: Sachsens Kirchen-Galerie. Bd. 11: Das Voigtland, umfassend die Ephorien Plauen, Rei-

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rechtliche Situation: Die betreffenden Pfarren lagen im Spätmittelalter größtenteils in einem Gebiet, dessen Zugehörigkeit zur sachsen-ernestinischen Landeshoheit immer weniger bestritten werden konnte. Ein 1524 zwischen Ernestinern und Hohenzollern abgeschlossener Grenzberichtigungsvertrag klärte die Situation auch für die bis dahin noch strittigen Orte. Die Streitpfarren unterstanden jedoch im Unterschied zum Großteil des ernestinischen Territoriums nicht der geistlichen Jurisdiktion des Naumburger Bischofs, sondern – wie eine Reihe weiterer sächsischer Pfarren im fränkischsächsischen Grenzgebiet – dem Bistum Bamberg. 9 Dieses kirchliche Unterstellungsverhältnis schrieb sich aus der Zeit der hochmittelalterlichen Besiedlung des Raumes her, die in diesem Fall von Westen aus verlief und nicht an den Höhenkämmen des Mittelgebirges Halt machte. Häufig werden kirchliche Jurisdiktionsgrenzen damit erklärt, dass man sich im Interesse einer handhabbaren cura animarum, d.h. der flächendeckenden Seelsorge, bei der Grenzfestlegung an geographischen Gegebenheiten orientiert habe. Hier war das offensichtlich nicht der Fall. Die Patronate bzw. Pfarrlehen wurden ebenfalls alle von außersächsischen Herrschaftsträgern bzw. Institutionen gehalten. Großzöbern, Wiedersberg und Sachsgrün waren in die außerordentlich begüterte und territorial ausgedehnte Pfarre St. Lorenz zu Hof inkorporiert. Sie bildeten also bis nach der Reformation keine eigenen Pfarren, sondern hatten den Status von capellae in rurae. 10 Eichigt, Gefell sowie Mißlareuth und das wohl seit dem 15. Jahrhundert verselbständigte Krebes waren als eigene Pfarren demgegenüber weniger stark an die Hofer Kirche gebunden. Hier hielt der Markgraf von Branden-

9

10

chenbach, Auerbach, Markneukirchen, Oelsnitz und Werdau. Dresden 1844, S. 138-140; Wirth, Johann Th.G.: Krebes. Ebd., S. 160-162; Bühring, Max A.: Die Parochie Eichigt. In: Zezschwitz, Carl von (Hrsg.): Neue Sächsische Kirchengalerie. Die Ephorie Oelsnitz. Leipzig 1913, Sp. 250-300; Hochmuth, Wilhelm A.: Die Parochie Sachsgrün. Ebd., Sp. 425-448; Lehmann, Gotthold H.: Die Parochie Wiedersberg. Ebd., Sp. 565-580. Das Territorium des Bistums Bamberg zeigt Gatz, Erwin (Hrsg.): Atlas zur Kirche in Geschichte und Gegenwart. Heiliges Römisches Reich – Deutschsprachige Länder. Regensburg 2009, S. 69; vgl., auch zum Folgenden, Blaschke, Karlheinz: Atlas zur Geschichte und Landeskunde von Sachsen. Beiheft zur Karte E II 1: Kirchenorganisation um 1500. Leipzig/Dresden 2008, S. 9, 49f.; grundlegend ders.: Raumordnung und Grenzbildung in der sächsischen Geschichte. In: Grenzbildende Faktoren in der Geschichte. Forschungsberichte des Ausschusses „Historische Raumforschung“ der Akademie für Raumforschung und Landesplanung. Hannover 1969, S. 87-112, bes. S. 99. Vgl. ausführlich zur Geschichte der Parochie und des Dekanats Hof mit älterer Literatur: Beschreibung der Pfarrei der Stadt Hof, Ms. 1915 (URL: http://www.dekanat-hof.de/ download/Pfarrbeschreibung1915.pdf [letzter Zugriff: 04.03.2010]); vgl. außerdem Gürsching, Heinrich: Rechtsgeschichtliche Grundzüge des Kirchenwesens in Hof (Unter Berücksichtigung des Patronatsrechtes und der Spitalpfarrei), Ms. 1932 (LKA Nürnberg, Dek. Hof XLIX 66).

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burg-Kulmbach das Patronat. 11 Allerdings waren Grundeigentümer in Großzöbern, Sachsgrün, Mißlareuth und Krebes zur Abgabe des sogenannten „Pfaffenscheffels“ an die Hofer Pfarre verpflichtet. Insgesamt brachten in diesem Rahmen um das Jahr 1500 76 Ortschaften – davon noch weitere 15 auf albertinischem Territorium – mit 901 Abgabepflichtigen Getreide im Wert von 500 bis 600 Gulden auf. Die Abgaben wurden prinzipiell nicht entfremdet, sondern vor Ort investiert: Die markgräfliche Kasse war seit Mitte des 16. Jahrhunderts gewillt, aus den auf sächsischem Territorium erlösten Einnahmen den Pfarrern der betroffenen Orte ein Zusatzgehalt zu zahlen – was allerdings in der Praxis nicht immer gelang. Im Hofer Umland wechselte die politische Herrschaftssituation von Ort zu Ort. Durch den Abschluss von Verträgen und den Austausch von Rechtstiteln bemühte man sich bereits vor der Reformation um eine territoriale Konsolidierung. Anders als bei einer Anzahl weiterer Orte rund um Hof gelang es den Markgrafen im Fall der Streitpfarren nicht, die landesherrliche Gewalt auf der Basis der Halsgerichtsbarkeit oder auch des Obereigentumsrechts an Grund und Boden in ihre Hände zu bekommen. Hier behaupteten sich vielmehr im Allgemeinen die Wettiner. Deren Arrondierungen erstreckten sich allerdings in den meisten Fällen zunächst nicht auf die geistlichen Besitzstände. Auf diesem Gebiet gelang vielmehr der hohenzollernschen Seite im Zuge der Reformation ein entscheidender Zugewinn: Durch einen innerfamiliären Tausch erwarb der Markgraf das Patronat der Hofer Pfarre. Damit waren die Patronatsrechte aller Streitpfarren in einer Hand. Die kursächsischen Visitationen seit 1529 respektierten die geistlichen Rechte der Hohenzollern. Als infolge des Schmalkaldischen Krieges die Landeshoheit in der Region vorübergehend unklar war, gelang es den Markgrafen sogar, von Hof aus in den fraglichen Pfarren ihre Kirchenordnung einzuführen. Dieser dauerhaft unbestrittene Umstand wurde später zu einem zentralen Argument dafür, dass man die Kirchenhoheit in Händen habe. 12 Das albertinische Kursachsen, an das das Gebiet nach einer Phase der Unsicherheit übergegan11

12

Die iura episcopalia über den Krebeser Filialort Burgstein (auf den sich das markgräfliche Patronat nicht erstreckte) wurden 1487 auf Antrag der adligen Patrone und im Interesse einer besseren Organisation der Seelsorge von Bamberg ans Bistum Naumburg übertragen. Mit dem Burgsteiner Grundeigentum errichtete man die neue Pfarre Geilsdorf; vgl. Steinhäuser, R.: Geilsdorf. In: Sachsens Kirchen-Galerie 1844 (wie Anm. 8), Bd. 11, S. 91. Mit dem Bistumswechsel wurde die Zuordnung des Orts zum Bereich wettinischer Oberherrschaft bereits vor der Reformation eindeutiger. Eine 1546 erwogene Zerschlagung der gesamten Pfarre Krebes und einer Neuzuordnung ihrer Teile mit demselben Ziel scheiterte, vermutlich wegen politischer Interessen der Markgrafen. Vgl. LKA Nürnberg, Dek. Hof III 3 u.ö. Im Folgenden wird gezeigt, dass die Wettiner diese Bindung, etwa bei Visitationen, prinzipiell respektierten, ohne die hohenzollernsche Interpretation in Sachen Rechtsfolgen zu teilen.

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gen war, reagierte jedoch seinerseits mit einer administrativen Vereinnahmung: Die Pfarren wurden 1566 der Superintendentur Oelsnitz – bzw. Gefell der Superintendentur Plauen – unterstellt. Das 1547 unter den Burggrafen von Meißen für das Vogtland errichtete Fürstlich-Burggräfliche Konsistorium wurde 1569 beim Übergang des Gebiets an das albertinische Sachsen dem Leipziger Konsistorium unterstellt, 1583 wurde es abgeschafft. Die Pfarren gerieten damit endgültig unter den direkten politisch- und kirchlich-administrativen Zugriff Sachsens, ohne dass die verbrieften Rechtstitel der Hohenzollern hinfällig geworden wären. 13 Diese Situation bildet den Hintergrund für die folgenden Überlegungen zum Charakter der innerkonfessionellen Konflikte, die sich in den anschließenden Jahrzehnten in der Grenzregion entspannen. Der einzige jüngere Forschungsbeitrag deutet die Entwicklung – auf der Basis der sächsischen Überlieferung – als einen Machtkampf, bei dem es darum ging, im Zuge territorialer Expansion die kirchlichen Grenzen mit den politischen in Übereinstimmung zu bringen. Früh habe dabei das albertinische Kursachsen als der Sieger festgestanden. 14 Hier soll nun der Akzent anders gesetzt werden, indem nach den Gründen gefragt wird, die gegen den Augenschein der Vernunft die Hohenzollern hartnäckig auf ihren Rechten bestehen ließen. Es wird sich zeigen, dass sie ihren kirchlichen Hoheitsrechten auch gegenüber einem konfessionsverwandten Nachbarterritorium einen Eigenwert beimaßen, der sich nicht in direkte politische oder ökonomische Vorteile übersetzen lässt. Die Konflikte, für die trotz langwieriger bilateraler Aushandlungsprozesse bis in die Napoleonische Zeit keine dauerhafte Lösung erzielt wurde, ließen in der Grenzregion immer wieder auch die feinen Unterschiede der territorialen Konfessionsstände virulent werden. Dabei sind zwei Handlungsebenen im Blick: die Makroebene der markgräflichen Politik sowie die lokale Ebene der Amtsträger vor Ort. Zunächst zur territorialpolitischen Dimension des Konflikts: Strittig war vor allem, ob und inwiefern der von Brandenburg-Kulmbach im Jahr 1576, in einer Zeit politischer Schwäche der Markgrafschaft, abgeschlossene Vertrag von Gefell nur für diesen Ort oder für alle umstrittenen Pfarren gültig sein sollte. 15 Die Markgrafen hatten hier eine Reihe von Rechten aus der Hand gegeben: Der Vertrag konnte so verstanden werden, als räume man dem sächsischen Kurfürsten als dem Landesherrn das Recht auf geistliche Jurisdiktion, Visitation, auf Prüfung und Besitzeinweisung der Geistlichen und Inspektion ihrer 13

14 15

Vgl. Goldammer, Gustav E.: Die kirchliche Entwicklung des Vogtlandes, besonders der Ephorie Plauen bis einschließlich der Reformation. In: Mitteilungen des Altertumsvereins zu Plauen 23 (1913), S. 133-156. Vgl. Wartenberg 1988 (wie Anm. 7), S. 16. Vgl. zum Folgenden: LKA Nürnberg, Dek. Hof II 3.

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Amtsführung ein und bestehe lediglich auf dem Patronatsrecht, dem daraus hervorgehenden Recht zur Präsentation und Kollation der Pfarrstelleninhaber sowie den damit verbundenen allgemeinen Schutzrechten. Die eindeutige Kompetenz in Sachen Pfarrlehen, Widdumsrechten und über den Klerus ausgeübter Niedergerichtsbarkeit war damit gefährdet. Seit Beginn des 17. Jahrhunderts dehnte Kursachsen offensichtlich die Bestimmungen des Vertrags systematisch auf alle Streitpfarren aus. Wie in einem Brennglas spiegelt sich der Grenzkonflikt zunächst im Streit über das Prozedere bei der Neubesetzung der Streitpfarren. 16 1616 verfasste der Hofer Superintendent ein Memorandum, in dem er den Unterschied zwischen der sonst im Kulmbachschen Territorium üblichen Praxis und dem Usus dokumentierte, der sich für die Streitpfarren herausgebildet hatte. Der Ablauf der Besetzung machte eine Reihe von Grenzgängen notwendig, vor allem für den künftigen Pfarrer: Unbestritten vozierte, also berief der Markgraf einen Kandidaten seiner Wahl auf die freie Pfarrstelle (dazu war mit Sicherheit dessen Anwesenheit vor dem Bayreuther Konsistorium notwendig). 17 Nächster Schritt war eine Probepredigt des Kandidaten vor dem zuständigen sächsischen Superintendenten in Oelsnitz oder Plauen. Anschließend wurde er zunächst vor dem Konsistorium in Bayreuth und dann in Leipzig konfirmiert. Leipzig stellte eine lateinische Präsentationsurkunde aus, die vor dem sächsischen Superintendenten vorzuweisen war. Dort erhielt der Kandidat eine handschriftliche deutschsprachige Urkunde, die er dem Dekan in Hof überreichte. Jetzt konnten sich die beiden Superintendenten auf einen für beide passenden Termin einigen, an dem Einführung und Investitur des Geistlichen am Ort seines künftigen Wirkens begangen wurden. Beim Zusammentreffen übergab der Dekan von Hof zuerst seinem Amtskollegen eine Protestation, mit der er sich dagegen verwahrte, dass die Gegenwart des sächsischen Amtsträgers den markgräflichen Episkopalrechten Eintrag tue. Anschließend kam seine Präzedenz dadurch zum Ausdruck, dass er beim Einund Auszug den Vortritt vor dem Oelsnitzer bzw. dem Plauener Kollegen genoss und in der Sitzordnung rechts von ihm plaziert wurde. Im Verlauf des Gottesdiensts setzte nun der sächsische Superintendent den Kandidaten in sein Amt ein. Sein Kollege aus Hof hielt dem Herkommen nach zuvor die Predigt – dieses Recht wurde mit der Zeit allerdings bestritten – und trat dann bei der Investitur gemeinsam mit seinem Senior oder weiteren mark16

17

Vgl. zum Folgenden LKA Nürnberg, Dek. Hof II 3 sowie Jordan, Christoph: Vom Unterscheid eines Episcopi u. Patroni, wie es damit in dieser Höffrischen Sup.intendentz gehalten werde, Ms. 1615 (LKA Nürnberg, Dek. Hof V 1a). Die Pfarrerlisten in den Artikeln der Sächsischen Kirchengalerie (wie Anm. 8) bestätigen, dass sich in allen Streitpfarren die Mehrzahl der Geistlichen bis ins 19. Jahrhundert aus den beiden hohenzollernschen Territorien rekrutierte, die übrigen stammten aus einem der zwischen Sachsen und Kulmbach strittigen Pfarrorte.

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gräflichen Amtleuten neben den sächsischen Superintendenten. Nach dem Gottesdienst prozedierten die markgräflichen Abgesandten mit dem neu investierten Pastor loci ins Pfarrhaus. Der sächsische Superintendent blieb vorerst draußen, weil er mit der nun erfolgenden Einsetzung ins Pfarrlehen nichts zu tun hatte. Beide Parteien nahmen aber gemeinsam am abschließenden Festessen teil.

Arrangements vor Ort – Die konfessionelle Grenze in der Mikroperspektive Der Stil der Auseinandersetzungen über die Grenze hinweg blieb immer gemäßigt: Trotz des zunehmenden Machtgefälles zwischen den beiden Territorien ging man in der administrativen Korrespondenz der Zentralen meist rücksichtsvoll miteinander um. Auch wenn Sachsen immer weniger die markgräfliche Idee der coinspectio oder des Koepiskopats akzeptierte, konnte man sich auf einen Kurs „guter Beliebung“ und „Nachbarschaft“ verständigen. Die markgräfliche Seite profitierte davon, dass der status quo im Zweifel attraktiver erschien als aufwendige Streitigkeiten: Die Drohung, man lasse es notfalls auf einen Prozess vor dem Reichskammergericht ankommen – mit dem Verweis auf aktuelle Präzedenzfälle 18 –, machte man nie wahr. Das führt zu der Frage, wie die herrschaftlichen Funktionsträger vor Ort, auf der lokalen Ebene, mit der kirchlich-konfessionellen Grenzsituation umgingen: Die Praxis der kursächsischen Visitationen spricht dafür, dass die markgräflichen Rechte sensibel beachtet wurden. Die Pfarrer nahmen an den Sitzungen des Hofer Synodus teil, auch wenn das der Plauener Superintendent immer wieder monierte. 19 Das Examen der Geistlichen in Glaubensfragen wurde zunächst zurückgestellt. Einen abweichenden Bekenntnisstand respektierte man insofern, als das Mandat zur Abschaffung des Exorzismus bei der Taufe, das 1581 über die Grenzen des albertinischen Sachsen hinweg Aufruhr im lutherischen Lager verursachte, in den Streitpfarren dauerhaft nicht verkündet wurde. Nach markgräflicher Intervention verzichtete Dresden auch darauf, die betroffenen Geistlichen zur Unterzeichnung der Exorzismusartikel vorzuladen. 20 Bei lokalen Visitationen von sächsischer Seite, die die doctrinalia und confessiones der örtlichen Pfarrerschaft prüften, nahm man auch Rücksicht auf liturgische Differenzen und ließ die markgräfliche Agende, die qua Kirchenordnung überall außer in Eichigt verpflichtend eingeführt 18 19 20

Vgl. LKA Nürnberg, Dek. Hof II 3 (Anspielung auf den Konflikt zwischen der Kurpfalz und Hessen um das ius episcopale in Umstadt). Vgl. LKA Nürnberg, Dek. Hof III 3. Vgl. LKA Nürnberg, Dek. Hof II 3.

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war, unangetastet: Die von sächsischer Seite den Pastoren empfohlenen Gebetsformulare wurden von einigen Pfarrern übernommen, andere blieben bei der Hofer Ordnung. Hier lag der Handlungsspielraum also auf der lokalen Ebene. Die Geistlichen blieben „Verwandte“, also Angehörige, der Hofer Dekanatsinspektion, besuchten die jährlichen Pfarrsynoden und hielten dort vorerst auch die vorgeschriebenen Synodalpredigten 21 – stete Bewegungsmuster verbanden sie also mit dem Raum der markgräflichen Kirchenorganisation. Wenn sächsische Untertanen gegen die Urteile der parochialen Niedergerichtsbarkeit an den Dekan von Hof als vorgesetzte Instanz appellierten, wurde der Klageweg nicht versperrt. Auch die Patenbeziehungen verbanden die Pfarren bis ins 19. Jahrhundert deutlich mit dem kulmbach-bayreuthischen Raum. 22 In anderen Bereichen versuchte man Vereinheitlichungen durchzusetzen: Das Leipziger Konsistorium – also die Ebene der regionalen Kirchenleitung – beschied das Anliegen des Pfarrers in Krebes, bestimmte Feiertage nach markgräflicher Sitte zu halten, in den 1590er Jahren mit Verweis auf die kursächsische Kirchenordnung negativ; es wurde dennoch weitergefeiert. 23 Im Jahr 1663 fand man in mehreren Verhandlungsrunden zu einem Arrangement in zahlreichen strittigen Fragen. 24 Die sächsische Seite diktierte weitgehend die Bedingungen: Ausdrücklich erklärte man jetzt etwa, der Vortritt des Hofer Superintendenten bei der gemeinsamen Investitur sei nur mehr als Zeichen kursächsischer „Höflichkeit“ zu verstehen. Die markgräfliche Präsentation durfte zwar weiterhin vollständig, aber jetzt nicht mehr vom Altar aus, sondern nur von einer Stufe unterhalb verlesen werden. Kollekten- und Trauergebete für das Haus Hohenzollern konnte der markgräfliche Patron nicht mehr direkt befehlen, sondern musste sie über den sächsischen Superintendenten anfordern. Der Bogen wurde allerdings nicht überspannt, und die hohenzollernschen Rechtstitel blieben prinzipiell unangetastet. Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts intensivierte sich im Sinne einer rationalisierten Administrationspraxis der sächsische Zugriff auf die strittigen Pfarren weiter. 1769 kam es zu einem Eklat: Der Oelsnitzer Superintendent untersagte das Trauergeläut für den verstorbenen Markgrafen und jede Erwähnung des Todesfalls im Gottesdienst, da der Dienstweg nicht ein21 22

23 24

Vgl. LKA Nürnberg, Dek. Hof V 1a. Vgl. zu Eichigt Hofmann, Reinhold: Aus den Kirchenbüchern eines vogtländischen Dorfes. In: Deutsche Geschichtsblätter 12 (1910), S. 33-51, hier S. 49f. Grenzen zwischen katholischen und lutherischen Territorien beschränkten in der Frühen Neuzeit im sächsischen Raum offenbar Verwandtschaftsbeziehungen wesentlich deutlicher; vgl. Blaschke 1969 (wie Anm. 9), S. 104. Vgl. Wartenberg 1988 (wie Anm. 7), S. 18. Vgl. ebd., S. 20f. Die Instruktionen der hohenzollernschen Gesandten finden sich in: LKA Nürnberg, Dek. Hof III 3.

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gehalten worden war. 25 Die Pfarrer mussten fortan Befehle aus Hof ungeöffnet an den Vorgesetzten weiterleiten, eine Maßnahme, die man bereits seit Mitte des 17. Jahrhunderts versucht hatte durchzusetzen. Die alljährlichen Mandate, in denen die markgräfliche Regierung die Einziehung des Pfaffenscheffels in den Gemeinden ankündigte, wurden seit ca. 1750 von sächsischer Seite redigiert – alle Zwangsandrohungen gegen Zahlungsverweigerer strich man aus den Texten, obgleich Kursachsen selbstverständlich juristisch nach wie vor im Konfliktfall zum Beistand bei der Durchsetzung verpflichtet war. Offensichtlich wollte man im öffentlichen Raum eine Semantik unterbinden, die den sächsischen Anspruch auf Landeshoheit beeinträchtigte. Die Semantik der administrativen Quellen zeigt, dass sich vor Ort unbeschadet der komplizierten rechtlichen Situation zunehmend ein Grenzbegriff durchsetzte, der sich an den territorialen Verhältnissen orientierte. „Im Sächsischen“, „auf sächsischem Grund und Boden“ gelegen werden die Streitpfarren von den Pastoren und auch vom markgräflichen Konsistorium bezeichnet. Bereits in den achtziger Jahren des 16. Jahrhunderts gab ein Pastor zu Protokoll, er halte sich an die markgräfliche Kirchenordnung, da der Ort Gefell „an der Grenze“ gelegen sei. 26 Die Begründung erfolgte also nicht mehr mit Hinweis auf die Bindung an das markgräfliche Dekanat Hof. Der Begriff der Grenze gewann in den Beschwerdebriefen der Pastoren von Mißlareuth, die über unzumutbare Wohnverhältnisse klagten, eindeutig pejorativen Charakter: 27 Schlimmer als in dieser „Grenz- und Streitpfarre“ könne es wohl nirgendwo ein Pfarrer finden. Der Mißlareuther Amtsinhaber hatte tatsächlich mit einem besonderen Handicap zu kämpfen: Ein nicht unerheblicher Teil seiner Pfarrkinder stammte aus den eingepfarrten Siedlungen Gebersdorf und Rothenacker im Territorium der Fürsten Reuß – die dort Ansässigen kultivierten, wohl gedeckt durch die spezielle politische Situation, von jeher ihre „Widerspruchslust“ und „Widerspenstigkeit“ gegenüber jeder Inanspruchnahme über den Pfaffenscheffel hinaus. Solange aber die „Reußischen“ trotz wiederholter Ermahnung bei der Visitation ihre Hand- und Spanndienste verweigerten, sahen auch die Kursachsen untertänigen Gemeindeglieder und sogar die Dienstpflichtigen aus einem weiteren Filialort, der direkt unter markgräflicher Landeshoheit stand, keinen Anlass, sich zu bewegen. Das mühsam erbettelte Bauholz für ein neues Pfarrhaus verfaulte über diesem Streit gleich mehrmals. Dem frustrierten Pastor blieb in seinen Briefen ans Hofer Consistorium, das er um Mediation ersuchte, nur der Rekurs an die höchste Instanz der Öffentlichkeit: Das Problem der Pfarrwohnung sei keine causa privata, sondern causa publica und letztlich causa ipsius Dei. 25 26 27

Vgl. zum Folgenden Wartenberg 1988 (wie Anm. 7), S. 21f. Ebd., S. 19. Vgl. zum Folgenden LKA Nürnberg, Dek. Hof XLVII 32.

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Der politische Eigenwert konfessioneller Grenzen – Ein Erklärungsversuch Warum hielten die Markgrafen an ihren partiellen, nur infolge mühsamer Arrangements umsetzbaren und zudem von sächsischer Seite stets aus einer überlegenen Machtposition infragegestellten und allmählich reduzierten Vorrechten fest? Das finanzielle Engagement der Hohenzollern für die umstrittenen Pfarren war bedeutend, da man langfristig die gesamte Baulast für die Kirchengebäude übernommen hatte – diese Verpflichtung wurde von Kursachsen auch nie infragegestellt. 28 Noch ungeklärt ist die Frage, ob womöglich das Recht Bayreuths auf den Pfaffenscheffel das fortdauernde Engagement attraktiv machte. Im 19. Jahrhundert ergab sich zwar aus dieser Abgabe ein deutlicher Überschuss. 29 Was das 16. und 17. Jahrhundert betrifft, stellen die Markgrafen zumindest in ihrer offiziellen Korrespondenz die Behauptung der Streitpfarren stets als finanzielles Verlustgeschäft dar. Das Beharren der Markgrafen auf ihren Rechten wird besser erklärbar, wenn man es in den weiteren Rahmen einer Politik kirchlich-konfessioneller Besitzstandswahrung stellt: Immer wieder argumentierte BrandenburgKulmbach im 17. Jahrhundert mit den vielen, in beinahe jedem Fall unterschiedlich abgestuften Patronats- und kirchlichen Jurisdiktionsrechten, die die Markgrafen jenseits der Grenzen des eigenen Territoriums hielten und von denen die Streitpfarren nur eine kleine Teilmenge darstellten. Es gab eine Reihe von Offensiven: Ende des 16. Jahrhunderts dehnte man beispielsweise die Forderungen nach Kirchenhoheit unversehens auf eine Reihe weiterer, bisher noch nicht beanspruchter Orte aus, was man mit dem Auffinden alter Urkunden begründete. 30 Bei den entscheidenden Verhandlungen des Jahres 1663, bei denen die Markgrafen – wie gezeigt, mit nur begrenztem Erfolg – versuchten, den schleichenden Rechteverlust aufzuhalten, war ihr zentrales Argument, dass Landeshoheit und ius episcopale keineswegs notwendig zusammenfielen, sondern dass sich die Kirchenhoheit vielmehr seit der Reformation im Zweifelsfall über vorhandene Patronatsrechte begründe. 31 Zum 28 29

30 31

Vgl. LKA Nürnberg, Dek. Hof III 3. Vgl. die Berechnungen des bayerischen protestantischen Oberkonsistoriums aus dem Jahr 1812 (LKA Nürnberg, OK München 691): Nach Abzug der weiterhin, jetzt von bayerischer Seite, geleisteten Pfarrerbesoldung betrug der finanzielle Überschuss jährlich 1927 fl. Dieser bedeutende Vorteil war ein Grund für die lange Dauer der Ablöseverhandlungen (s.u.). Vgl. LKA Nürnberg, Dek. Hof II 3. Vgl. ebd. Die markgräfliche Argumentation lautete: Nachdem im Zuge der Reformation die weltlichen Fürsten die iura circa sacra und das ius episcopale wahrgenommen hätten, etwa indem sie Kirchenordnungen erließen, hätten sich dementsprechend die iura episcopalia mit den Patronatsrechten „consolidiert“ und seien mit diesen verschmolzen. Zusätzlich ver-

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Beweis wurden aufwendig alle geistlichen Hoheits- und Jurisdiktionsrechte beschrieben, die Bayreuth jenseits seines eigentlichen Territoriums besaß. Die territorial zersplitterte Markgrafschaft beanspruchte mit diesem offensiv vorgetragenen konfessionell-kirchlichen Besitzstand eine Art zweiten, erweiterten Grenzsaum, der den Bereich der durch das Territorium definierten Landeshoheit transzendierte. Er diente dazu, politische Gestaltungsspielräume offenzuhalten: Ohne dass das Ziel ein territorialer Zugewinn sein musste, ließ sich durch die Betonung extraterritorialer Kirchenhoheit auf zusätzliche Kompetenzen und Zuständigkeiten verweisen, die den Herrschaftsbereich auf eine spezifische und gottgefällige Weise erweiterten.

Der Abbau konfessioneller Grenzen als Kennzeichen moderner Staatlichkeit Das 19. Jahrhundert hat im Interesse moderner „Staaten-Purifications-Principien“ auch die „Pfarr-Purification“ der „vermischten Parochial-Verhältnisse“ forciert – diese Begriffe finden sich in den Akten der Münchner Zentralverwaltung, die sich nach der Integration der markgräflichen Territorien in den neuen bayerischen Staat mit der endgültig als anachronistisch empfundenen Situation der Streitpfarren konfrontiert sah. Seit 1811 wurde zwischen sächsischer und bayerischer Krone verhandelt, eine Generation später, 1844, wurde der komplizierte und mit einer hohen einmaligen Ausgleichszahlung der sächsischen Krone zur Ablösung des Pfaffenscheffels verbundene Staatsvertrag geschlossen, der die volle Integration der Streitpfarren in die sächsische Landeskirche mit sich brachte. Doch protestantische Kirchengrenzen sind Phänomene der longue durée, auch wenn ihr Charakter als konfessionelle Grenzen im Sinne des hier zugrunde gelegten Konfessionsbegriffs allmählich schwand. 32 Erst im Zuge der natürlichen Personalfluktuation gelangten nach 1844 sächsische Theologen auf die Pfarrstellen der ehemaligen Streitpfarren, die bis dahin, wie gezeigt, mit fränkisch-hohenzollernschen und seit 1810 mit bayerischen Landeskindern besetzt worden waren. Die sublime konfessionelle Abgrenzung gegenüber der konfessionsverwandten sächsischen Landeskirche kam durch diesen Personaltransfer also noch lange nach dem Anbruch der Moderne zum Ausdruck.

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wies die markgräfliche Seite auch darauf, die beanspruchten Rechte seien durch usus und observantia gesichert. Das sächsische Gegenargument, ein ius episcopale begründe sich nur über die „landesfürstliche Jurisdiktion“ bzw. das „Territorium“ (ebd.), stand auf juristisch bedeutend sichererem Grund, vgl. etwa Willoweit 1983 (wie Anm. 3). Vgl. zur Problemstellung nach dem Ersten Weltkrieg: Dibelius, Otto: Staatsgrenzen und Kirchengrenzen. Eine Studie zur gegenwärtigen Lage des Protestantismus. Berlin 1921.

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Noch heute kommt es angesichts einer Vielzahl von Exklaven hin und wieder zu territorialen Ausgleichen zwischen Landeskirchen, und nach wie vor divergieren in Grenzregionen bisweilen staatliche und kirchliche Grenzen. Um nur eine der nach wie vor im Raum der ehemaligen vogtländischen Streitpfarren herrschenden territorialen Anomalien zu nennen: Im Interesse einer leichteren cura animarum besuchen die Protestanten aus dem „renitenten“ ehemals reußischen Weiler Rothenacker – so sie es denn tun – nach wie vor die Gottesdienste in der Kirchengemeinde Mißlareuth. Zwar wird die Zugehörigkeit der Gemeinde und aller ihrer Filialorte zur sächsischen Landeskirche heute nicht mehr bezweifelt, doch hat die Restitution der Bundesländer nach der deutschen Wiedervereinigung dazu geführt, dass die Einwohner Rothenackers im Unterschied zum Rest der Mißlareuther Gemeindeglieder heute Bürger des Freistaats Thüringen sind.

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Gesandte als Grenzgänger Residenzstädtische Repräsentationskultur und die Konstruktion religiöser Exklaven unter Kurfürst Johann Georg II. von Sachsen

Am 20. Januar 1668 schrieb der kaiserliche Gesandte Heinrich Julius Freiherr von Blum von Dresden aus nach Wien und setzte den Schlusspunkt unter ein schon seit längerem latentes Problem: „Wegen beschränkung des Exercitii der Catholischen Religion in meiner Behausung, nach dehme mich dem beschehenen gesinnen mit aller moderation opponieret, undt die angedrohete fürcht von den praedicanten undt gemeinem pobel, wie billig, mich nicht irren lassen, sondern mit dem Frantzösischen Residenten causam communem daraus gemachet, ist deshalber keine weitere anregung geschehen, wirdt auch wohl allem ansehen nach darbey nunmehr sein Verpleiben haben.“ 1

Baron Blum weilte zu diesem Zeitpunkt seit ungefähr einem Dreivierteljahr in der kursächsischen Residenz. So sehr gut kannte er die Verhältnisse vor Ort offenbar noch nicht. Denn wenn er damit rechnete, dass sich die Konflikte um das exercitium religionis nunmehr erledigt hatten, dann unterlag er einem gewaltigen Irrtum. Die Sache fing gerade erst an spannend zu werden. Für das europäische Gesandtschaftswesen nach dem Dreißigjährigen Krieg war es der Regelfall, dass diplomatische Exponenten in ein Land anderer Konfession entsandt wurden und diese ihre Religion dort auch ausübten. 2 Territoriale Grenzen beanspruchten in Relation zur Nachbarschaft, dauerhafte Konfessionsgrenzen zu sein. 3 Für die interne Ordnung der im Territorium 1

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Österreichisches Staatsarchiv, Haus-, Hof- und Staatsarchiv (künftig: ÖStA, HHStA), Reichskanzlei, Diplomatische Akten, Dresden-Berichte Nr. 1b 1668-1670, Konvolut 1668, pag. 7v (20.1.1668). Vgl. Siegelberg, Jens/Schlichte, Klaus (Hrsg.): Strukturwandel internationaler Beziehungen. Zum Verhältnis von Staat und internationalem System seit dem Westfälischen Frieden. Wiesbaden 2000; Müller, Klaus: Das kaiserliche Gesandtschaftswesen im Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden (1648-1740). Bonn 1976 (= Bonner historische Forschungen 42); Kugeler, Heidrun/Sepp, Christian/Wolf, Georg (Hrsg.): Internationale Beziehungen in der Frühen Neuzeit. Ansätze und Perspektiven. Hamburg 2006 (= Wirklichkeit und Wahrnehmung in der Frühen Neuzeit 3). Vgl. Schilling, Heinz: Confessionalisation and the Rise of Religious and Cultural Frontiers in Early Modern Europe. In: Andor, Eszter/Tóth, István György (Hrsg.): Frontiers of faith. Religious exchange and the constitution of religious identities 1400-1750. Budapest

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vertretenen unterschiedlichen Konfessionen existierte ein Modell abgestufter Zulassung. Den Diplomaten kam nach den Bestimmungen des Westfälischen Friedens der cultus privatus zu. Gemeinsames Kriterium aller Abstufungen innerhalb dieses Modells war die optische, akustische oder sonstige Wahrnehmbarkeit der jeweiligen religiösen Handlungen. 4 Das Wahrnehmungspotenzial bildete also den Kern der juristischen Präskription und bestimmte auch die deskriptiven Ansätze zeitgenössischer Enzyklopädik. 5 Die Frage aber nach dem, was zeitgenössisch nachweislich wahrgenommen wurde und welche Rolle solche Wahrnehmungen – von welcher Seite auch immer – in diesen Konflikten spielte, steht dagegen auf einem anderen Blatt. Dass nun trotz der Festlegungen des Westfälischen Friedens die Praxis in der Frage des Gesandtengottesdienstes Konflikte zeitigte, kann kaum überraschen. Das Konfliktpotenzial und die Szenarien der Aushandlung sind in ihrer jeweiligen Ausprägung jedoch erst noch zu erfassen. Denn die konkreten Kontexte und Konjunkturen des Einzelfalles machten sich – wie dieser Beitrag als Ergänzung bereits untersuchter Fälle noch weiter verdeutlichen kann – stark spürbar. Das weist darauf hin, dass Systematisierung und generalisierende Bewertung der Konflikte um den Gesandtenkultus noch ausstehen. Bei der Bestimmung dessen, was nun unter dem cultus privatus in der Praxis zu verstehen sei, kam es in einigen Fällen zu handfestem Gerangel. Zur Eigenart dieser Art konfessioneller Konflikte trug bei, dass der Gesandte als Repräsentant fungierte. Seine Anwesenheit als Fremder legitimierte sich bereits durch den Verweis auf die entsendende Macht. Auseinandersetzungen um Diplomaten waren daher schnell dazu geeignet, das decorum des entsendenden Potentaten in Frage zu stellen. Gerade Gesandte wurden in der fremden Umgebung daher nur schwerlich als Privatakteure wahrgenommen. Ihren

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2001, S. 21-35; Duhamelle, Christophe: Territoriale Grenze, konfessionelle Differenz und soziale Abgrenzung. Das Eichsfeld im 17. und 18. Jahrhundert. In: François, Etienne/Seifarth, Jörg/Struck, Bernhard (Hrsg.): Die Grenze als Raum, Erfahrung und Konstruktion. Deutschland, Frankreich und Polen vom 17. bis zum 20. Jahrhundert. Frankfurt a.M./New York 2007, S. 33-51. Vgl. Kaplan, Benjamin: Embassy Chapels and the Toleration of Religious Dissent in Early Modern Europe. In: Journal of Early Modern History 6 (2002), S. 341-361; Sägmüller, J.B.: Der Begriff des exercitium religionis publicum, exercitium religionis privatum und der devotio domestica im Westfälischen Frieden. In: Theologische Quartalsschrift 90 (1908), S. 225-279. Vgl. die Ausführungen in Hatje, Frank: Zwischen Repräsentation und Konfession. Konflikte und Bedeutung, Nutzung und Architektur eines hamburgischen Stadtpalais im 18. Jahrhundert. In: Rau, Susanne/Schwerhoff, Gerd (Hrsg.): Zwischen Gotteshaus und Taverne. Öffentliche Räume in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Köln/Weimar/Wien 2004 (= Norm und Struktur 21), S. 155-181, hier S. 157-159, die Adelungs Grammatischkritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart einbeziehen.

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Gottesdiensten wiederum wurde zeitgenössisch eine Spitzenfunktion für die diplomatische Repräsentation eingeräumt. 6 Wenn es also nun darum ging, die Strahlkraft der gottesdienstlichen Handlungen zu begrenzen und ihnen den vorgeschriebenen privaten Charakter zu verleihen, dann bedeutete dies, dass die Messe „bei geschlossenen Türen“ stattzufinden habe, und bei der Teilnehmerschaft war ausschließlich an die zum Haushalt des Gesandten gehörigen Personen gedacht. In der Praxis gestaltete sich die Referenz zur Person des Gesandten aber durchaus locker. So war die Fortsetzung der Gottesdienste während der Abwesenheit des Gesandten üblich, aber – z.B. auch in Dresden – umstritten. Die Etablierung einer eigentlichen Residenz für den Gesandten konnte dazu beitragen, auch die Frage des Gottesdienstes stärker von der Person des Diplomaten abzulösen. In solchem Fall kam es z.B. sogar dazu, dass der kaiserliche Gesandte selbst gar nicht katholisch war, sodass die religiösen Bedürfnisse der Privatperson keinerlei Veranlassung zur Feier einer katholischen Messe gaben, trotzdem aber die Messfeiern in der Residenz regelmäßig abgehalten wurden. 7 Privatheit war demnach nicht lediglich ein ausdeutbarer juristischer Begriff, sondern wird hier sinnvoller als Fiktion, nämlich als völkerrechtlich verbriefte Leitidee eines jeweils eigentümlich geprägten Konstrukts angesehen. 8 Diese Konstruktionen wurden stark von den Anforderungen geprägt, die im Einzelfall an die Repräsentation konfessioneller Einheitlichkeit des jeweiligen Staatswesens gestellt wurden. Die Auswirkungen dekonfessionalisierender Koordinationsbemühungen aus einem Staatsinteresse an der Integration religiöser Gruppen heraus standen andernorts konfessionalisierende Bestrebungen zur Bewahrung bzw. Durchsetzung der Glaubenseinheit gegenüber. Privatheit der Kulthandlungen musste also unter diesen sehr unterschiedlichen Randbedingungen hergestellt werden, sodass es sinnvoll sein kann, sie nicht als Leitidee der Gestaltung der Gottesdienste zu interpretieren, sondern spezifischer als Leitidee der Limitierungsbestrebungen. Auseinandersetzungen entzündeten sich an der baulichen Präsenz, die konfessionelle Prämissen zum Ausdruck brachte, und – auch in Abhängigkeit von der Lage der Gebäude in der städtischen Topografie – in der architektonischen Zeichensprache, deren Geltungsansprüche sie formulierte. Daneben 6

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Vgl. Legutke, Daniel: Die kaiserliche Gesandtschaftskapelle in Den Haag 1658-1718. Konfession und Säkularisierung in mikrohistorischer Sicht. In: Isaiasz, Vera u.a. (Hrsg.): Stadt und Religion in der frühen Neuzeit. Soziale Ordnungen und ihre Repräsentationen. Frankfurt a.M./New York 2007 (= Fremde und eigene Welten 4), S. 245-274, hier S. 260. Vgl. Hatje 2004 (wie Anm. 5), S. 175. Vgl. Kaplan, Benjamin: Divided by Faith. Religious Conflict and The Practise of Toleration in Early Modern Europe. Cambridge, MA/London 2007; ders.: Fictions of Privacy, House Chapels and The Spatial Accomodation of Religious Dissent in Early Modern Europe. In: American Historical Review 107 (2002), S. 1031-1064.

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ging es um Sichtbarkeit und Hörbarkeit der Kulthandlungen außerhalb des Gesandtschaftslokals. Anlass zu Auseinandersetzungen gab insbesondere der Zulauf zu den gottesdienstlichen Veranstaltungen. Sobald der Gesandtengottesdienst den Anschein erweckte, mehr Glaubensgenossen anzuziehen als im Haus beheimatet waren, griff die Argumentation, die Veranstaltungen seien nicht mehr privat. Dieser Zulauf – hier als Anzahl von Personen konzipiert, die den Gottesdienst vollzogen, bzw. bezeugten – war demnach die Einheit, in der der Öffentlichkeitsgrad des Gottesdienstes bemessen wurde. Dass aber auch der Zustrom von Gottesdienstbesuchern innerhalb der Stadt wiederum selbst wahrgenommen werden konnte, formuliert die Frage nach der Wahrnehmbarkeit dann auf einer zweiten, historiografisch ebenfalls interessanten Ebene nochmals anders. Regelmäßig manifestierte sich also in den gottesdienstlichen Handlungen der je aktuelle Status der Glaubensgemeinschaft: die Anzahl der Glaubensgenossen, der Anspruch der Konfessionsgemeinschaft auf Anerkennung und die Akzeptanz dieses Anspruchs. Bereits vorliegende Fallstudien unterscheiden sich schließlich auch hinsichtlich der Frage, wer die Konflikte austrug. Kern war in jedem Fall ein Elitendiskurs, in dem politische und theologische Exponenten die Diskussion bestimmten. Weniger stand bislang der Einfluss des Handelns ständischer Korporationen zur Diskussion. Dokumentiert sind Konfliktfälle bislang aus Hamburg, London, Stockholm sowie aus Den Haag. 9 Hier machten sich katholische Gesandte in protestantischen Umgebungen unbeliebt. Der dänische, also lutherische, Gesandtschaftsgeistliche in Wien verbrachte aus gleichem Grund sogar einige Zeit in Haft. Der Kölner Residentenstreit wiederum betraf einen reformierten Gottesdienst in katholischer Umgebung. 10 Darüber hinaus war das Stadt- bzw. Straßenpublikum ein wichtiger Faktor des Konfliktszenarios. Die Deutung der Teilnehmerschaft an den Gottesdiensten hingegen scheint für die Interpretationsrichtung von Wichtigkeit. Sieht man sie – etwa im Dresdner Fall – als Trägerschicht eines ohnehin existenten und sonst gänzlich im Untergrund von Hausgottesdiensten pulsierenden Kryptokatholizismus an, dann wäre der Gesandtschaftsgottesdienst als neu hinzutretendes Forum zu begreifen, durch das diese Glaubensgruppe ins Sichtfeld geriet. Die konfessionelle Minderheit erreichte aus Sicht der beaufsichtigenden Behörden eine neue Existenzform, gleichzeitig aber musste dies auch die 9

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Vgl. Kaplan 2002 (wie Anm. 4); zu Hamburg vgl. Hajte, Frank: Repräsentationen der Staatsgewalt. Herrschaftsstrukturen und Selbstdarstellung in Hamburg 1700-1900. Basel 1997. Zu London vgl. Smith Anderson, Matthew: The Rise of Modern Diplomacy 14501919. London/New York 1993, S. 53; Kaplan 2007 (wie Anm. 8), S. 187f. Zu Den Haag vgl. Legutke 2007 (wie Anm. 6). Vgl. Meister, Alois: Der preußische Residentenstreit in Köln. Ein Versuch zur Einführung des reformierten Gottesdienstes. In: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 70 (1901), S. 1-30. Vgl. dazu auch den Hamburger Fall bei Hatje 1997 (wie Anm. 9).

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Selbstwahrnehmung der Konfessionsgruppe stark verändern. Sieht man im Zulauf dagegen Rechtgläubige auf Abwegen, die entweder ihrer Neugier und der Gelegenheit oder anderen Motivationen erlagen und damit ihrer primären konfessionellen Identität lediglich den Besuch eines „fremden“ Gottesdienstes hinzufügten, dann ist bereits die Erzählrichtung eine gänzlich andere. Das Interesse ruht dann auf den im rechten Glauben gefährdeten Konfessionsgenossen. Überschneidungen in den konfessionellen Zuordnungen der Einzelnen und ihrem religiösen Handeln werden zuweilen hinsichtlich der konfessionellen Identität der Einzelnen mit einem Weder-noch, zuweilen mit einem Sowohl-als-auch, bewertet und lassen sich dann als Ausdruck sogenannter Liminalität begreifen. 11 Dieser durchaus unterschiedliche Blick auf die umstrittene Gottesdienstteilnehmerschaft zeigt sich aber bereits in den zeitgenössischen Argumentationsmustern, mit denen die Auseinandersetzungen um den Gesandtengottesdienst geführt wurden. Das soll nun für das Fallbeispiel Dresden genauer dargestellt werden.

Der Fall Dresden Auch für den Dresdner Fall eines – wie gezeigt werden wird – komplexen, fortgesetzten, aber gleichwohl diskontinuierlichen Abgrenzungsprozesses spielten die in einer kursächsischen Residenzstadt präsenten sehr unterschiedlichen Öffentlichkeiten eine wichtige Rolle. Sie nahmen im Streitfall je eigene Standpunkte ein, deren Interdependenzen sich selbstverständlich nicht auf das Problem des Gesandtschaftsgottesdienstes beschränkten und sich ausschließlich in dessen Rahmen beschreiben ließen. Hier positionierten sich der Kurfürst, die städtischen Behörden, die Hof- und Stadtgeistlichkeit, das Straßenpublikum und die Stände. In der Debatte war der Usus in anderen europäischen Residenzen ebenso präsent wie andere konfessionalisierte Konflikte. Nicht zu vergessen sind natürlich die Gesandten selbst und ihre Geistlichen. Überregionale Sinngefüge spielten gerade in einer Residenz eine wichtige Rolle, auch bei Genese und Austarierung solcher Konflikte. Gleichwohl verfügte das Konfliktgeschehen über eine lokale Ebene, auf der sich Virulenz bzw. Lösung des Falles zu erweisen hatte. Gerade angesichts dieser Mehrdimensionalität des Problems aus lokaler Perspektive soll für den Dresdner Fall her11

Vgl. Schunka, Alexander: Konfessionelle Liminalität, Kryptokatholiken im lutherischen Territorialstaat. In: Bahlcke, Joachim/Bendel, Rainer (Hrsg.): Migration und kirchliche Praxis. Das Leben religiöser Glaubensflüchtlinge in alltagsgeschichtlicher Perspektive. Köln/Weimar/Wien 2008 (= Forschungen und Quellen zur Kirchen- und Kulturgeschichte Ostdeutschlands 40), S. 113-131. Allerdings bleibt die hier vorausgesetzte Rekonstruierbarkeit des „Glaubens“ der historischen Akteure wohl eine Illusion.

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ausgearbeitet werden, welche Akteure den Konflikt trugen, inwieweit sie ihn in den öffentlichen Raum der Stadt einbrachten, welche Markierungspraktiken hier eine Rolle spielten und wie dies im Hinblick auf Konfliktgenese und Konfliktlösung zu interpretieren ist. In Dresden entzündeten sich die Auseinandersetzungen um den Gesandtenkultus an den Messen sowohl des französischen als auch des kaiserlichen Gesandten. Die beiden damit in der Residenz vertretenen katholischen Potentaten standen einander als Hauptakteure der europäischen Politik jener Periode diametral gegenüber. Die Angelegenheit des katholischen Gottesdienstes hingegen war prinzipiell dieselbe. Das außenpolitische Verhältnis Kursachsens zu beiden Mächten aber alternierte, bzw. mäandrierte unter Johann Georg II. Seine Politik gegenüber Leopold I. und Ludwig XIV. wies keine einheitliche Linie auf. Gleichzeitige, einander widersprechende Verhandlungen mit beiden Seiten kamen vor. 12 Während Johann Georg II. bei der Königswahl 1658 wesentlich dazu beitrug, den Habsburger Leopold gegen Ludwig XIV. durchzusetzen, schloss er 1664 einen Traktat ab, mit dem Sachsen zu einem befristeten Mitglied des Rheinbundes wurde. Seit dem Beginn des Holländischen Krieges orientierte sich Johann Georg wieder gen Wien, wo er bereits seit 1664 Bündnisverhandlungen betrieb, und schloss 1673 dann ein solches Bündnis mit dem Kaiser ab. Ebenso geheim – wie in der Sache folgenlos – blieb ein rein an den pekuniären Vorteilen orientiertes Übereinkommen von 1679, in dem sich der Kurfürst auf ein profranzösisches Verhalten bei einer künftigen Wahl zum römischen König festlegte. Generell war die Bündnispolitik ein erheblicher Faktor in den Finanzkalkulationen des sächsischen Kurfürsten und stand in dieser Hinsicht dem ständischen Einfluss gegenüber. Zwischen 1657 und 1666 hatte Johann Georg seine intensive Konversionsneigung in die mehr oder weniger geheime politische Debatte eingebracht, war aber mangels genügender Resonanz bei seiner Konfession geblieben. Der sächsische Kurfürst hatte den verbrieften Schutz der konfessionellen Verhältnisse in der Oberlausitz zu gewährleisten und stand dem Kaiser damit an der konfliktträchtigen Grenze zu dessen von der Gegenreformation geprägten Territorien in Schlesien und Böhmen gegenüber. 13 Die Gesandten waren zwar nicht die einzigen Akteure, die den 12

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Vgl. Helbig, Karl Gustav.: Die diplomatischen Beziehungen Johann Georgs II. von Sachsen zu Frankreich. In: Archiv für Sächsische Geschichte 1 (1863), S. 289-328; Auerbach, Bertrand: La Diplomatie française et la Cour de Saxe (1648-1680). Paris 1887; Vötsch, Jochen: Kursachsen, das Reich und der mitteldeutsche Raum zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Frankfurt a.M./Berlin/Bern/Wien 2003. Vgl. Schunka, Alexander: Die Oberlausitz zwischen Prager Frieden und Wiener Kongreß (1635-1815). V. Konfessionelle Verhältnisse. In: Bahlcke, Joachim (Hrsg.): Geschichte der Oberlausitz. Herrschaft, Gesellschaft und Kultur vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert. 2. Aufl., Leipzig 2004; Herzig, Arno: Der Zwang zum wahren Glauben. Rekatholisierung

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konfessionellen Gegensatz zum Habsburgerreich in der Residenz repräsentierten, aber die in diesem Zusammenhang ebenfalls zu erwähnenden böhmischen Exulanten führten in Dresden spätestens seit 1650 die Existenz einer Sondergemeinde, deren Integration kein Konfliktthema darstellte. 14 Die folgenden Ausführungen fokussieren daher die Regierungszeit Johann Georgs II., die von jenem eigentümlichen politischen Wechselspiel und der Anwesenheit zweier miteinander konkurrierender auswärtiger Gesandter geprägt war. 15 Das Problem des Kultus stellte sich seit der Ankunft der katholischen Gesandten, und moniert wurde es von den Ständen. 1661 kam es bereits zu einem ersten Verbot, was die besondere Rolle der Residenz etwa gegenüber der Oberlausitz betonte, wo konfessionelle Uneinheitlichkeit bereits herrschte. 16 Die im Folgenden nicht abreißenden Querelen gingen zumeist auf Eingaben der lutherischen Geistlichkeit zurück und zogen zumeist Bitten des Kurfürsten an die Diplomaten nach sich. Diesem kurfürstlichen Drängen auf Beschränkung des katholischen Gottesdienstes in den Gesandtschaften folgte der kaiserliche Gesandte Georg von Plettenberg zunächst offenbar mehr als der französische Gesandte. Denn Henri de Chassan blieb wegen der in seinem Quartier auf der Töpfergasse abgehaltenen Messen permanent in der Kritik. 17 Zu den ersten Bemühungen Chassans hatte es nämlich gehört, in der 3. Etage seines Hauses eine Kapelle einzurichten. Stolz berichtete er als besondere Errungenschaft nach Paris, dass er die dort gefeierte Messe für die prächtigste hielt, die in Dresden seit der Reformation gehalten worden sei. 18 Nach mehrfachem Wechsel des geistlichen Personals im Laufe des Jahres 1667 erhielt Chassan im Mai 1668 die Erlaubnis, einen Priester und sechs

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vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Göttingen 2000. Zu den konkreten Problemen dieser Grenzsituation vgl. auch Schirge, Alfred: Grenz- und Zufluchtskirchen für evangelische Niederschlesier im 17. und 18. Jahrhundert. In: Jahrbuch für Schlesische Kirchengeschichte 76/77 (1997/98), S. 205-225; Wäntig, Wulf: Der Taufbrunnen jenseits der Grenze. Alltagserfahrung, kirchliche Praxis und religiöse Flucht im böhmisch-sächsisch-oberlausitzischen Grenzraum des 17. Jahrhunderts. In: Bahlcke/Bendel 2008 (wie Anm. 11), S. 203-222. Vgl. Metasch, Frank: Die religiöse Integration der böhmischen Exulanten in Dresden während des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Bahlcke/Bendel 2008 (wie Anm. 11), S. 69-94. Der katholische Gesandtengottesdienst blieb in Dresden aber auch nach 1680 ein Thema mit Konfliktpotenzial. Dies wird in einem anderen, chronologisch weiterführenden Beitrag, der die Auswirkungen des Konfessionswechsels des Herrschers 1697 zeitlich übergreift und so die Veränderungen im Gefüge der Residenz pointiert, darzustellen sein. Dieser erste greifbare Impuls, den die Stände dem Landesherrn gegenüber dem katholischen Gottesdienst setzten, ging auf die Religionsversicherung des Kurfürsten bei seinem Regierungsantritt zurück; vgl. Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, Geheimer Rat, Loc. 10331/9, pag. 1f. Vgl. Auerbach 1887 (wie Anm. 12), S. 405f. Vgl. ebd., S. 403.

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Unbeschuhte Karmeliter in seinem Haus Dienst tun zu lassen. Im April 1669 forderte der Kurfürst Chassan auf, seinen Gottesdienst privat zu halten. Anfang Dezember 1669 erließ er ein Dekret, mit dem beide Gesandten aufgefordert wurden, den Gottesdienst keinesfalls über die Zeiten ihrer Anwesenheit hinaus in ihren Wohnungen zu dulden. 19 Der kaiserliche Gesandte Georg von Plettenberg agierte wesentlich verhaltener als Chassan und forderte diesen sogar ebenfalls zur Zurückhaltung auf, wie der Franzose gegenüber Plettenbergs Amtsnachfolger Blum behauptet haben soll. Blum berichtet: „Im Uebrigen haben mich auch dieser tage die alhier anwesende Frantzösischer und Schwedischer Ministri zum erstenmahl besuchet. Iener fragte mich gleich, ob [ich] nicht einen priester mitbracht hätte, undt mich der mier competierender gerechtigkeit in haltung des catholischen Execitii gebrauchen wolte. Er sey gantzer fünff jahr zu Stockholm gewesen, sich dessen allezeit offentlich bedienet, sey ihme auch niemahln deshalber einrede geschehen, wie er aber anhehro kommen, undt unbefraget des Hofes mes lesen lassen, sey ihme solches von dem H[errn] von Plettenberg sehr wiederrathen worden, man würde es nicht gedulden, es sey alhier sedes Lutheranismi. Er habe sich aber nicht daran gekehret. […]“ 20

Die Argumentation, dass man gerade in Dresden als der „sedes Lutheranismi“ besonders streng über den Vorrang der lutherischen Landesreligion wachen müsse, impliziert, der Usus hier habe nicht nur die Qualität eines Präzedenzfalles unter anderen, sondern den Charakter einer notwendigen Machtdemonstration im Zentrum des lutherischen Organismus. Der Sitz des Luthertums hatte sich – zumindest aus der Sicht bestimmer Konfliktparteien – nicht nur als eine seiner Hochburgen zu erweisen, sondern er hatte darüber hinaus Schauplatz seiner Durchsetzungsmacht gegenüber anderen Konfessionen zu sein. Dies führte in Dresden zu Ansprüchen, die den Rahmen der völkerrechtlichen Präskriptive klar überschritten, etwa zu wiederholten Forderungen nach einer vollständigen Einstellung des katholischen Gesandtengottesdienstes. Wichtiger Teil des Problems war, dass es vor Ort eine quantitativ bedeutende katholische Minderheit unterschiedlicher Herkunft gab, der man bereits 1661 den Gottesdienst per Dekret bestritten hatte. 21 Die wichtigsten beiden Gruppen von Betroffenen waren einerseits die „Welschen“, d.h. die italieni19

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Quellentexte bei Frandsen, Mary E.: Crossing Confessional Boundaries. The Patronage of Italian Sacred Music in 17th Century Dresden. New York 2006; Deppe, Uta: Die Festkultur am Dresdner Hofe Johann Georgs II. von Sachsen (1660-1679). Kiel 2006. ÖStA, HHStA, Reichskanzlei, Diplomatische Akten, Dresden-Berichte Nr. 1a 1546-1667, Konvolut 1667, pag. 77 (7./12. 6.1667). Vgl. Schunka 2008 (wie Anm. 11).

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schen Künstler, die Johann Georg II. zahlreich an seinen Hof verpflichtet hatte und dort auch halten wollte, andererseits die bis zu 1000 sogenannten „Kroaten“, die als Garde angestellt waren. 22 Auch aktenkundige Einzelpersonen sind überwiegend dem Umfeld des Hofes zuzurechnen. 23 Ihnen allen waren das nahe Böhmen und die Oberlausitz für Gottesdienst und Sakramente empfohlen. Es wurde also mit einem örtlichen Gegenüber jenseits der erbländischen Territorialgrenzen kalkuliert. Dass dies aber – etwa für einen in der Hofkapelle beschäftigten Musiker – auf die Dauer nicht zu einer regulären gottesdienstlichen Versorgung führen konnte, liegt auf der Hand. Zentraler Akteur im Dresdener Fall war der sächsische Kurfürst. Um ihn jedoch in der Sache des Gesandtengottesdienstes zum Handeln zu bringen, bedurfte es zunächst gehöriger Interventionen. Diese gingen von den lutherischen Geistlichen aus. Eine wichtige Rolle spielte Oberhofprediger Dr. Martin Geier, der immer wieder schriftlich beim Kurfürsten wegen der Gesandtengottesdienste einkam. 24 Der nötige Druck in der Sache aber ging von den kursächsischen Ständen aus. Seit 1631 war Dresden ihr ausschließlicher Versammlungsort. 25 Der Landtag begründete sein vergleichsweise bedeutsames Gewicht dadurch, dass er auch nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges das Recht der Steuerbewilligung hatte verteidigen können. Durch den intensiven Finanzbedarf, den insbesondere die ambitionierte Hofhaltung verursachte, war die Abhängigkeit des Kurfürsten von den ständischen Bewilligungen besonders groß. Das schlug sich auch in der Frage des Gesandtengottesdienstes nieder. Die Lage für die beiden Residenten verschärfte sich mit schöner Regelmäßigkeit, sobald die Stände in der Stadt weilten. Die von ihnen vorgetragenen Gravamina monierten unter anderem Fragen, die die Konfessionsverhältnisse betrafen, und ebenso die Messfeiern, und drängten darauf, diese gänzlich zu unterbinden. 26 Damit waren sie vor allem dann par22

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Zur Dresdner Hofkultur unter Johann Georg II. vgl. Horn, Christian: Der aufgeführte Staat. Zur Theatralik höfischer Repräsentation unter Kurfürst Johann Georg II. von Sachsen. Tübingen/Basel 2004 (= Theatralik 8); Watanabe-O’Kelly, Helen: Court Culture in Early Modern Dresden. New York 2002; Frandsen 2006 (wie Anm. 19). Die Akten erwähnen Adlige, einen italienischen Zitronen- und einen böhmischen Obsthändler, einen Hofkoch, einen Mohren, einen Zwerg, einen Perückenmacher, Stukkateure, Handwerksburschen, Mägde, Schauspieler, Diener und Jäger. Vgl. bereits Schunka 2008 (wie Anm. 11), S. 121. Zu Martin Geier vgl. Hahn, Joachim: Zeitgeschehen im Spiegel der lutherischen Predigt nach dem Dreißigjährigen Krieg. Das Beispiel des kursächsischen Oberhofpredigers Martin Geier (1614-1680). Leipzig 2005; Sommer, Wolfgang: Die lutherischen Hofprediger in Dresden, Grundzüge ihrer Geschichte und Verkündung im Kurfürstentum Sachsen. Stuttgart 2006, S. 187-205. Vgl. Denk, Andreas/Matzerath, Josef: Die drei Dresdner Parlamente, die sächsischen Landtage und ihre Bauten. Indikatoren für die Entwicklung von der ständischen zur pluralisierten Gesellschaft. Wolfratshausen 2000, S. 20f. Vgl. Schunka 2008 (wie Anm. 11), S. 116f.

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tiell erfolgreich, wenn der Kurfürst dringend auf eine Steuerbewilligung wartete. Die Überlieferung zeigt Kulminationen anlässlich des Ausschusstages von 1668, beim Landtag 1673 sowie beim Landtag von 1676. Während das Maximum konfessioneller Desintegration bisher für das Jahr 1673 angesetzt wurde, verlief der Landtag von 1676 aus der Sicht des Wiener Gesandten Bantberg noch dramatischer. 27 Dieser schrieb am 12. Februar 1676: „Eben diesem Tag Ihre [der Stände, S.M.] gravaminibus, worunter die inhibition des access hiesige Catholischen zu der H. Mess in meo privato Sacello begriffen wahre; einkommen, undt dieses punctes halber harte Instantias machten“. Da der Kurfürst „dardurch eine Höchstbenöthigte von Ihnen aber bißhero cunctirte undt abgeschlagene neue extraordinari Bewilligung, dest ehenter undt leichter zuerhallten“ meinte, schickte er umgehend zwei Höflinge, um dem Gesandten mitzuteilen, dass „ein so offentlicher undt starcker Zuegang“ zu seinem Gottesdienst bestünde, dass man diesen unterbinden werde, indem „gegenwertiger ObristZeügmeister befehl hette, Schiltwachen derenwillen auß, auch vor Meine Behausung Zuestelen“. 28 Zwischen dem Gesandten einerseits und einem Kämmerer und dem Oberstzeugmeister von Trandorff andererseits folgte eine heftige Szene. Anschließend protestierte der Gesandte beim Geheimratsdirektor und Oberhofmarschall von Kanne gegen die Pläne und erhielt neben einigen Beschwichtigungen die Versicherung dass „die Wachtbestellung gewiß sondernlich geg[en] oder an Meine Behaussung auß undt zueruckgestellter verbleiben“ werde. 29 Nur ausnahmsweise wurde das Thema des Gottesdienstes zwischen dem Gesandten und dem Kurfürsten persönlich verhandelt, so dass auch die konkrete Ausgestaltung der Limitierungsmaßnahmen offenbar nicht auf die Intention des Landesherrn zurückging, sondern sich aus Verhandlungen mit unterschiedlichen Ansprechpartnern bei Hof ergab. Weil Chassan Dresden aber bereits 1674 – nach der ersten der in diese kriegerische Epoche fallenden Reichskriegsdeklarationen gegen Frankreich – verließ, konzentrierte sich der Unmut im Folgenden auf den verbleibenden kaiserlichen Exponenten. 30 Dass dieser aber auch davor bereits stärker unter Druck stand als sein französischer Kollege, hatte einen Grund darin, dass der Gottesdienst bei ihm weit kontinuierlicher als bei Chassan stattfand und sich der Zulauf zu seinem Hausgottesdienst daher weit stärker gestaltete. Aber 27 28 29 30

So die Einschätzung des Gesandten selbst, vgl. ÖStA, HHStA, Reichskanzlei, Diplomatische Akten, Dresden-Berichte Nr. 2 1671-1679, Konvolut 1676, pag. 26 (12.2.1676). Ebd., pag. 25. Ebd., pag. 26. Zu den Reichskriegserklärungen vgl. Kampmann, Christoph: Reichstag und Reichskriegserklärung im Zeitalter Ludwigs XIV. In: Historisches Jahrbuch 113 (1993), S. 41-59; Müller, Klaus: Zur Reichskriegserklärung im 17. und 18. Jahrhundert. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte GA 90 (1973), S. 246-259.

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auch die Frage des sogenannten reciprocum kam wiederholt ins Spiel. Dazu äußerte sich der Gesandte Blum 1669: „Zuforderst aber würde gantz unbillig sein, was der von Burkersrode mier noch heute im geheimb wissen lassen, das man dem Frantzösischen Residenten zwar anfangs den Catholischen Gottesdienst wohl würde verbieten, aber hernach wieder aus gewissen Uhsachen frey geben, so aber vor mich nicht militierten. Wüßte keine andere, als etwa diese, das ihre Churfl Dl am Königl Französischen Hoff wohl ein Reciprocum aber nicht am Keiserlichen haben köndten, dan dieses Reciproci hat man schon offters vor diesem gegen mier gedacht.“ 31

Aber auch angesichts einer im Mai/Juni 1668 eingetretenen Pause im Hausgottesdienst Blums erwies sich, dass – während auf die gänzliche Einstellung beider Gesandtschaftsgottesdienste gedrungen wurde – Blum und Chassan doch offensichtlich ungleich behandelt wurden: „[…] es hatten ihre Churfl Durchl verschiedentlich, wegen einstellung der messe erinnerung thun lassen, weilen nun das festum Corporis Christi herzunahete, so wollten ihre Churfl Dl, das solche müchte gäntzlich eingestellet werden, undt man hinführo das Exercitium zu Marienstern oder sonsten suchete. […] [Ich] vernehme […], das dem Frantzosischen Residenten dergleichen intimation wie mier nicht geschehen, da dennoch die heilige messe in seinem Hausse taglich mit der hier anwesenden Catholischen grossen concurs celebrieret wirdt, in meiner behausung aber, wie aberal bekandt, der Gottesdienst schon uber die sechs Wochen, wegen Abwesenheit des priesters cessieret, woraus dan eine sondere unverandtwordtliche partialität zu ersehen.“ 32

Der Grundsatz der Reziprozität diplomatischer Beziehungen führte in der Praxis des Nebeneinanders des kaiserlichen und französischen Gesandten dazu, dass der Druck auf beide in der Gottesdienstfrage unterschiedlich stark ausfiel. Ein legitimes Argumentationsmuster war dies, wie die Quellen zeigen, weder aus Sicht der Landesgesetze noch aus der Wiener Perspektive. Primäres Ziel aller Eingrenzungsbemühungen war es – sieht man von der völligen Einstellung der Messen einmal ab –, den Zulauf zu den katholischen Gottesdiensten zu unterbinden. Die Umsetzung dieses Vorhabens aber musste die sächsische Seite gewährleisten. Zwar drängten die kurfürstlichen Minister darauf, der Gesandte solle selbst die Türen versperren. Das aber lehnte dieser stets ab, mit der grundsätzlichen Begründung, dass dies die völkerrechtlich verbürgte Freiheit seines Hauses beschneiden würde. Das decorum 31 32

ÖStA, HHStA, Reichskanzlei, Diplomatische Akten, Dresden-Berichte Nr. 1b 1668-1670, Konvolut 1669, pag. 220f. (24.10.1669). Vgl. ÖStA, HHStA, Reichskanzlei, Diplomatische Akten, Dresden-Berichte Nr. 1b 16681670, Konvolut 1669, pag. 138 (18.6.1668).

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des Kaisers derart zu verletzen, sah er als gänzliche Unmöglichkeit an. Auch Besucher selbst fortzuschicken, lehnte er ab, da er über diese keine Jurisdiktion habe. Überdies seien einheimische Protestanten, denen der Besuch der Messe nicht zukäme, dem Gesandten nicht bekannt, andernfalls würde er sie hinausweisen. 33 Diese seine Haltung – niemanden einzuladen, aber auch ausnahmslos niemanden fortzuschicken – bezeichnete der Gesandte selbst als „indifferent“. Gleichzeitig wies er selbst darauf hin, dass der Kurfürst Zugangsbeschränkungen für seine eigenen Untertanen schon selbst durchsetzen müsse. Dies kann zumindest im Fall der „Kroaten“ auch nachgewiesen werden. Zusätzlich zu solchen gezielten Befehlen an die bekannten Teilnehmer wurden Überwachungsmaßnahmen an den Häusern sowohl für den kaiserlichen als auch den französischen Gesandten getroffen. Hieraus entwickelte sich eine Distanzrechnung, bei der die relative Positionierung der Wachen vom Haus der Gesandten die Ebene für eine Kompromisslösung war, indem so die Abgrenzung unterschiedlicher Hoheitsbereiche voneinander entschärft wurde. Blum wusste bereits, dass „es dem Frantzösischen Residenten schon einmahl wiederfahren, gardes an den neken [d.h. Ecken] der gassen gesetzet worden, die leute von anhörung des Gottesdiensts abzuhalten“. 34 Direkt an seiner Haustür ließ auch der kaiserliche Gesandte die Posten nicht zu, wegen der „Freiheit des Hauses“. 35 Und ein Rückzug der Wachen auf eine größere Distanz von der Eingangstür war auch 1676 offenbar wieder ein tragfähiges Angebot, um den protestierenden Bantberg zu besänftigen. Zwar musste jeder wissen, worauf sich die Kontrollen bezogen, aber die Behauptung, das Gesandtschaftslokal stehe unter Bewachung, ließ sich nicht mehr erheben. Die Wachtposten hatten die Besucherschaft der Gottesdienste nicht nur zu beobachten und zu dokumentieren, sondern ihnen oblag gegebenenfalls auch die Inhaftierung solcher Teilnehmer. Dieser Zugriff erfolgte allerdings sozial selektiv. Denn „vielerley frembde Völcker“, so sah es der Rat, genossen in der Stadt auch hinsichtlich ihrer Glaubenspraxis eine Sonderbehandlung, die durch ihre Stellung zum Hof begründet war. 36 An eine vollständige Abriegelung des Gottesdienstes war demnach in keiner Weise gedacht. 33

34 35 36

So berichtet Blum über die Argumentation Chassans gegenüber dem Kurfürsten, vgl. ÖStA, HHStA, Reichskanzlei, Diplomatische Akten, Dresden-Berichte Nr. 1a 1546-1667, Konvolut 1667, pag. 76 (7./12. 6.1667). ÖStA, HHStA, Reichskanzlei, Diplomatische Akten, Dresden-Berichte Nr. 1b 1668-1670, Konvolut 1668, pag. 54 (27.4.1668). ÖStA, HHStA, Reichskanzlei, Diplomatische Akten, Dresden-Berichte Nr. 2 1671-1679, Konvolut 1671, pag. 11-12v (15.1.1671), pag. 32 (15./5.2.1676) und öfter. Auf diese soziale Abstufung weist Schunka 2008 (wie Anm. 11), S. 120 richtig hin. Trotz bzw. gerade wegen der breiten sozialen Abstufung der Teilnehmerschaft scheinen allerdings Zweifel an der ebd., S. 122 behaupteten sozialen Egalisierung im Rahmen der Messen angebracht.

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Auf sekundäre, jedoch keinesfalls unbedeutende Auswirkungen der Limitierungsbemühungen um den Gesandtschaftsgottesdienst muss hingewiesen werden, da sich daran erweist, dass die Exklusivität auch Rückwirkungen in den residenzstädtischen Kontext hinein zeitigte. Denn der Gottesdienst bot auch sorgsam beobachtete Kommunikationsmöglichkeiten. Darauf wurde Georg von Plettenberg bereits 1667 hingewiesen, wie er dem Kaiserhof mitteilte. Er schreibt, es „hinterbrachte mir ein gutter freundt, daß nach deme der frantzösische Resident sich dahier zur bestendigen wohnung einrichten, Priester undt Capellen halten, undt damitt die Italianer, welche bey ihre Churfürstl. Dhlt: in secreto überauß viel Vermögen, in sein Hauß, sub praetextu des Gottesdiensts, zu aller geheimen benevolentz an sich ziehen würde, so werde derselbe in allen Consiliis die secretissima penetriren, undt pertot obnoxios zu seinem scopo lenckhen können, dagegen dan anderer gutte inclinationes, auch meine diligentzen[,] wenigh gehwinen würden, wie […] der Success weißen werde.“ 37

Höflinge regelmäßig an sich zu ziehen, noch dazu einflussreiche, das war für die allzeit neugierigen und intrigierenden Gesandten von großem Wert. Offenbar galt eine katholische Kapelle unter Dresdner Verhältnissen als eine hervorragende Position im residenzstädtischen Haushalt der Arkana. Die Verschränkung verschiedener Exklusivitätsformen konnte dazu führen, dass sich neue Kommunikationskanäle herausbildeten. Während andere Fallstudien das Straßenpublikum als eigenständige Kraft in der Auseinandersetzung erkennen lassen, mit der sich von obrigkeitlicher Seite durchaus kalkulieren ließ, ist eine protestierende, drohende oder gar zerstörende Menge offenbar im untersuchten Fall kein Faktor gewesen. Das Eingangszitat aus dem Gesandtschaftsbericht bleibt das einzige, das in einem Atemzug von den „praedicanten undt gemeinem pobel“ spricht. Sicher sollte es die Leistung des Gesandten in Wien in besonders positives Licht setzen, wenn er die Situation vor Ort etwas dramatischer andeutete, als sie war. Was sonst an Prekärem von den Dresdner Kanzeln tönte, blieb trotz des härter werdenden Konflikts offenbar im Wesentlichen ohne handgreifliche Folgen. Zielpersonen dieser öffentlichen Kritik waren neben den Messbesuchern selbst noch die Vermieter der Gesandten. Als Hauseigentümer waren sie dem Diskurs nicht entrückt, sondern stadtbekannte Bürger. Für die Prediger waren sie daher eine öffentlich adressierbare Größe, die ihrerseits Druck auf die Gesandten ausüben konnten. Zu den Sonderzuschlägen, durch die die Miete etwa für den französischen Gesandten erhöht wurde, kamen nachweislich 37

ÖStA, HHStA, Reichskanzlei, Diplomatische Akten, Dresden-Berichte Nr. 1a 1546-1667, Konvolut 1667, pag. 20v (22.2.1667).

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auch Bemühungen hinzu, den konfliktträchtigen Mieter wieder loszuwerden. Eine wirksame Kündigung folgte daraus aber offenbar nicht. 38

Resümee Die Frage nach der Öffentlichkeit religiöser Praktiken auswärtigen diplomatischen Personals ist kein ausschließlich vormodernes Problem, sondern kann bis in die Gegenwart hinein verfolgt werden. Der hier am Beispiel diskutierte Gesandtschaftsgottesdienst erhielt durch den repräsentativen Charakter religiösen Handelns angesichts der konfessionellen Prägung der europäischen Mächtekonstellation und der politischen Dynamik in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ein eigenes Konfliktpotenzial. Als Sollbruchstelle des diplomatischen Systems hat er nach derzeitiger Kenntnis jedoch nirgends fungiert. Wenn die Grenzgängerschaft der Gesandten in fremden Residenzen die Konstruktion religiöser Exklaven nach sich zog, dann gab es für deren Limitierung – wie gezeigt – ein ganzes Set von Parametern und eine Mehrzahl von Akteuren, die an Aushandlungsprozessen beteiligt waren. Primäre Referenz für die Abgrenzung des frühneuzeitlichen Gesandtschaftsgottesdienstes bot das Haus im baulich-materiellen Sinne. Als Diplomatenwohnung genoss es völkerrechtlich garantierte Exemtion. Die Beschränkung der Öffentlichkeit des Gottesdienstes konnte Rückwirkungen auf die Gesamtkonstruktion der residenzstädtischen Teilöffentlichkeiten haben. Denn im Gefolge der Exklusivität konstituierten sich unter Umständen neue Kommunikationsstrukturen, die bis in die Arkanbereiche des Hofes hineinreichten. Nicht nur für katholische Diplomaten, sondern allgemein blieb das generelle Verbot des Hausund Grunderwerbs für Katholiken ein fortgesetzt wichtiger Punkt in den Gravamina der sächsischen Stände. Die Zielrichtung dieser Bemühungen wird ebenfalls in der Beschränkung des in den Wohnungen erlaubten Kultus zu sehen sein. Dieser Kontext verlieh den Gesandten wiederum eine Sonderstellung als weithin singuläre Gottesdienstveranstalter, die eine spürbare Anziehungskraft auf die Katholiken der Residenz und darüber hinaus ausübten. Die Diskurse zwischen höfischen, städtischen, ständischen und diplomatischen Exponenten stellen sich im Wesentlichen als Konflikt- bzw. Aushandlungsprozesse zwischen Angehörigen von Eliteformationen dar. Lutherische Geistlichkeit und kursächsische Stände waren die Triebkräfte, die angesichts einer zunehmenden Präsenz von Angehörigen anderer Konfessionen auf die fortgesetzte Repräsentation konfessioneller Einheitlichkeit hinwirkten. Die breitere Stadtöffentlichkeit hingegen wurde zum Zeugen der Konflikte um 38

Vgl. Auerbach 1887 (wie Anm. 12), S. 405f.

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den Gesandtschaftsgottesdienst durch die Predigten der lutherischen Geistlichkeit. Aber auch die gezielten polizeilichen Kontrollmaßnahmen, mit denen der Zugang zu den Gottesdiensten in den Gesandtschaftslokalen unterbunden werden sollte, boten allgemein wahrnehmbare Markierungen im öffentlichen Raum. In einem deutlichen Spannungsverhältnis dazu stand die Wirksamkeit des polizeilichen Handelns, das auf die Restriktion städtischer Zielgruppen beschränkt blieb. Während sich aus der „Grenzgängerschaft“ der Gesandten, d.h. aus ihrer systematischen Mobilität über konfessionell indizierte Territorialgrenzen hinweg, für den Gesandtengottesdienst grundsätzlich gesehen Beschränkungen ergaben, sind die im Rahmen des Beitrags skizzierten Dresdner Limitierungsbemühungen in mehrfacher Hinsicht auffallend variabel. Dies war jedoch nicht ausschließlich eine Folge wechselnder außen- oder innenpolitischer Entwicklungen und eine Frage der gesandtschaftlichen Präsenz, sondern wurde stark durch die intervallhafte Fokussierung der ständischen Öffentlichkeit auf den Gesandtengottesdienst bestimmt. Einer Verfestigung konfessionell koordinierender Arrangements zu Lösungen von dauerhafter Gültigkeit stand daher gerade beim Gesandtengottesdienst das multifaktorielle Aushandlungsgefüge entgegen.

GRENZÜBERSCHREITUNGEN IM REGIONALEN RAHMEN

ANDREAS RUTZ

Grenzüberschreitungen im deutsch-niederländischfranzösischen Grenzraum Die Figur des Grenzgängers ist derzeit in der kulturwissenschaftlich orientierten Forschung allgegenwärtig. Wechsel, Übergänge, Passagen und Transfers zwischen Kulturen, Ethnien, Konfessionen, sozialen Schichten oder den Geschlechtern werden mit der Metapher der Grenzüberschreitung oder Grenzüberwindung beschrieben, um Unterschiede und Gemeinsamkeiten, Identitäten und Alteritäten herauszuarbeiten. Zugleich werden einzelne Menschen, Gruppen und Dinge als verbindende Elemente, Medien des Transfers oder Übersetzer zwischen den Kulturen identifiziert. Hier zeigt sich die Ambivalenz von Grenzen, die sowohl trennen als auch zu Schnittstellen der kulturellen Begegnung und des Austauschs zwischen Menschen werden können. Für die Geschichtswissenschaft sei in diesem Zusammenhang auf aktuelle Forschungsfelder wie die Migrationsgeschichte, die Kulturtransferforschung, die Geschlechtergeschichte oder auch die Konfessionalisierungsforschung verwiesen. Die Diskussion über Grenzen und Grenzüberschreitungen betrifft nicht oder nur am Rande politische, rechtliche und administrative, also territoriale Grenzen. Im Mittelpunkt der Forschung standen und stehen vor allem soziale und kulturelle Trennlinien innerhalb oder zwischen Gesellschaften. Grenzen zwischen politischen Entitäten werden erst seit einiger Zeit im Zuge des „spatial turn“ in den Blick genommen. 1 Diese stehen auch im Themenblock „Grenzüberschreitungen im deutsch-niederländisch-französischen Grenzraum“ im Mittelpunkt, in dem anhand einer Beispielregion der Umgang verschiedener Gruppen von Grenzgängern mit territorialen Grenzen in der Frühen Neuzeit untersucht wird. Im Folgenden sollen knapp die Charakteristika frühneuzeitlicher Territorialgrenzen erörtert, der methodische Zugriff auf solche Grenzen durch die Untersuchung ihrer Überschreitung vorgestellt und schließlich die diesbezüglichen Ergebnisse der Sektion resümiert werden. Frühneuzeitliche Territorialgrenzen waren keine unüberwindlichen physischen Barrieren, wie etwa der Limes, die Große Mauer in China oder der „an1

Vgl. zum aktuellen Forschungsstand ausführlich Rutz, Andreas: Grenzen im Raum – Grenzen in der Geschichte. Probleme und Perspektiven. In: Geulen, Eva/Kraft, Stephan (Hrsg.): Grenzen im Raum – Grenzen in der Literatur. Berlin 2010 (= Zeitschrift für deutsche Philologie, Sonderheft zu Band 129) (im Druck).

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tifaschistische Schutzwall“ der DDR. Vielmehr zeichneten sie sich durch eine nur geringe Wahrnehmbarkeit im Raum aus: 2 Sie konnten sich an natürliche Gegebenheiten anlehnen, etwa Flüsse, Berge, Seen oder Meere. Als Grenzzeichen dienten markante Punkte in der Natur, wie Felsen, größere Steine oder Bäume, darüber hinaus sind seit dem Mittelalter hölzerne Grenzpflöcke belegt. In der Frühen Neuzeit wurden Grenzsäulen und -steine verwandt, um Territorien zu markieren. Nur in Einzelfällen finden sich auch Schlagbäume, Hecken oder Gräben. Grenzposten, die die Ein- und Ausreise kontrollierten, fehlten vollständig. Passkontrollen oder die Erhebung von Abgaben erfolgten an den hierfür seit langem bewährten Stadttoren oder an Zollstationen, also im Inneren des Territoriums. Die Verlagerung dieser Hoheitsrechte an die Außengrenzen begann erst allmählich im 18. Jahrhundert, ist aber vor allem eine Entwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts. Eine Ausnahme bilden Ausweisungen, etwa von Kriminellen, Juden, Vaganten oder Zigeunern, die bereits in der Frühen Neuzeit über die Landesgrenzen verbracht wurden. Die Materialität von Grenzen im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit war also vergleichsweise gering. Ihre Faktizität wurde daher umso vehementer mit anderen Mitteln behauptet und verteidigt: In mehr oder weniger regelmäßigen Abständen führten die Territorialherren Grenzbereitungen oder -begehungen durch, bei denen unter Hinzuziehung von Zeugen und gegebenenfalls anhand schriftlicher Unterlagen die Grenzen abgeschritten, Grenzmarkierungen auf ihre richtige Position hin untersucht, wenn nötig neue Grenzsteine gesetzt und ein entsprechendes Protokoll erstellt wurden. Darüber hinaus nutzten Fürsten die Grenzen zur Inszenierung von Territorialpolitik, indem sie Grenzverhandlungen und Vertragsunterzeichnungen buchstäblich auf der Grenze vornahmen, so dass beide Seiten durch symmetrische Anordnungen und synchrone Handlungen ihre Gleichrangigkeit und zugleich ihre jeweilige räumliche Herrschaftsposition demonstrieren konnten. 3

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Vgl. zu den Charakteristika von Grenzen zusammenfassend Hoke, Rudolf: Art. „Grenze“. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 1. Berlin 1971, Sp. 1801-1804; Metz, Wolfgang: Art. „Grenze“. In: Lexikon des Mittelalters. Bd. 4. München/Zürich 1989, Sp. 1700f.; Akashi, Kinji/Stauber, Reinhard: Art. „Grenze“. In: Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 4. Stuttgart 2006, Sp. 1105-1116 sowie den konzisen Überblick von Jaspert, Nikolas: Grenzen und Grenzräume im Mittelalter. Forschungen, Konzepte und Begriffe. In: Herbers, Klaus/Jaspert, Nikolas (Hrsg.): Grenzräume und Grenzüberschreitungen im Vergleich. Der Osten und der Westen des mittelalterlichen Lateineuropa. Berlin 2007 (= Europa im Mittelalter 7), S. 43-70. Vgl. die Beispiele bei Schneider, Reinhard: Mittelalterliche Verträge auf Brücken und Flüssen (und zur Problematik von Grenzgewässern). In: Archiv für Diplomatik, Schriftgeschichte, Siegel- und Wappenkunde 23 (1977), S. 1-24; Sahlins, Peter: Boundaries. The Making of France and Spain in the Pyrenees. Berkeley/Los Angeles/Oxford 1989, S. 2527; Rahn, Thomas: Grenz-Situationen des Zeremoniells in der Frühen Neuzeit. In: Bauer,

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Neben der symbolischen Markierung von Grenzen durch Umritte oder die genannten Herrschaftsinszenierungen spielte seit dem Spätmittelalter die schriftliche Fixierung des Grenzverlaufs eine entscheidende Rolle. In der Regel wurde der Grenzverlauf in verbalen Beschreibungen Schritt für Schritt und Grenzstein für Grenzstein festgehalten. Grundlage hierfür waren Grenzbereitungen sowie bereits vorhandene schriftliche Dokumentationen, etwa Zeugenaussagen, Verträge oder Protokolle von früheren Umgängen. Seit dem 15. und vor allem 16. Jahrhundert wurden außerdem Karten der betreffenden Gebiete angefertigt. 4 Diese ersetzten jedoch nicht einfach die verbalen Beschreibungen, sondern dienten zunächst vor allem der Illustration bzw. Konkretisierung der schriftlich festgehaltenen Grenzverläufe. Erst allmählich setzten sich Karten als eigenständige Beweismittel und Vertragsbestandteile durch. 5 Die beschriebenen Charakteristika frühneuzeitlicher Territorialgrenzen provozieren die Frage nach der Bedeutung solcher Grenzen für den Lebensvollzug der Menschen. 6 Wenn Grenzen keine physischen Barrieren darstellten, wurden sie dann überhaupt wahrgenommen und spielten sie für das Handeln der Menschen eine Rolle? Aufschlüsse hierüber verspricht die intensivere Beschäftigung mit Grenzgängern, also Personen, die mehr oder weniger regelmäßig Aktivitäten über territoriale Grenzen hinweg entfalteten. Bislang haben sich vor allem Migrationsgeschichte und Kulturtransferforschung mit diesem Phänomen befasst. Das Erkenntnisinteresse richtet sich dabei allerdings vor allem auf die Gesellschaften diesseits und jenseits der Grenze,

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Markus/Rahn, Thomas (Hrsg.): Die Grenze. Begriff und Inszenierung. Berlin 1997, S. 177-206, hier S. 186f. Vgl. die Beispiele bei Veddeler, Peter: Grenzen, Territorien, Verwaltung. In: Behr, HansJoachim/Heyen, Franz-Josef (Hrsg.): Geschichte in Karten. Historische Ansichten aus den Rheinlanden und Westfalen. Düsseldorf 1985 (= Veröffentlichungen der Staatlichen Archive Nordrhein-Westfalen C/21), S. 237-274; Horst, Thomas: Die älteren Manuskriptkarten Altbayerns. Eine kartographische Studie zum Augenscheinplan unter besonderer Berücksichtigung der Kultur- und Klimageschichte. 2 Bde. München 2009 (= Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 161). Vgl. Recker, Gabriele: Prozesskarten in den Reichskammergerichtsakten. Ein methodischer Beitrag zur Erschließung und Auswertung einer Quellengattung. In: Baumann, Annette u.a. (Hrsg.): Prozessakten als Quellen. Neue Ansätze zur Erforschung der Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich. Köln/Weimar/Wien 2001 (= Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 37), S. 165-192, hier S. 179-182 sowie Khan, Daniel-Erasmus: Die Vertragskarte. Völkerrechtliche Untersuchung zu einem besonderen Gestaltungsmittel in der internationalen Rechtsetzung. München 1996 (= Münchener Universitätsschriften, Reihe der Juristischen Fakultät 120), S. 40-51. Erste Anregungen hierzu schon bei Ulbrich, Claudia: Grenze als Chance? Bemerkungen zur Bedeutung der Reichsgrenze im Saar-Lor-Lux-Raum am Vorabend der Französischen Revolution. In: Pilgram, Arno (Hrsg.): Grenzöffnung, Migration, Kriminalität. BadenBaden 1993 (= Jahrbuch für Rechts- und Kriminalsoziologie), S. 139-146.

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zwischen denen sich die Grenzgänger bewegen, sowie die wandernden Menschen und Güter als solche. Der konkrete Grenzübergang wird dagegen nicht oder nur am Rande thematisiert. 7 Die Bedingungen und Möglichkeiten der Überwindung territorialer Grenzen sind daher noch ebenso wenig systematisch erforscht wie die Wahrnehmung und Erfahrung solcher Grenzüberschreitungen durch die Akteure und die diesbezüglichen staatlichen Reaktionen. 8 Als Gruppen von Grenzgängern können in der Frühen Neuzeit Adlige, Diplomaten, Studenten, Kaufleute und Schmuggler, Ordensangehörige, Juden, Exulanten, Ingenieure, Handwerksgesellen, fahrendes Volk, Soldaten und andere mehr identifiziert werden. 9 Aus diesem Spektrum behandeln die folgenden Beiträge von Stefan Ehrenpreis, Stephan Laux und Frank Pohle exemplarisch protestantische Kaufleute, Juden und katholische Ordensangehörige. Der hier leider nicht zum Abdruck kommende Aachener Vortrag von Pieter Martens diskutierte zudem die Gruppe der Architekten und Ingenieure als Grenzgänger („Architects and Engineers in the Conflict Zone HabsburgValois“). 10 Mit dem deutsch-niederländisch-französischen Grenzraum wird in den Beiträgen eine Region mittlerer Größe fokussiert, in der unterschiedliche national- und territorialstaatliche Formationen aufeinander treffen. Das Thema kann hier freilich nicht erschöpfend behandelt werden. Gerade der exemplarische, problemorientierte Zugriff und die gemeinsame Klammer der 7

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Vgl. etwa Bahlcke, Joachim (Hrsg.): Glaubensflüchtlinge. Ursachen, Formen und Auswirkungen frühneuzeitlicher Konfessionsmigration in Europa. Münster/Berlin 2008 (= Religions- und Kirchengeschichte in Ostmittel- und Südosteuropa 4); Braun, Guido: Deutsche Präsenz in Frankreich, französische Präsenz in Deutschland von 1648 bis 1789. Überblick und Probleme der Forschung. In: Francia 35 (2008), S. 381-430. Hinzuweisen ist für die „Sattelzeit“ allerdings auf die wichtige Fallstudie von Heindl, Waltraud/Saurer, Edith (Hrsg.): Grenze und Staat. Paßwesen, Staatsbürgerschaft, Heimatrecht und Fremdengesetzgebung in der österreichischen Monarchie (1750-1867). Wien/Köln/ Weimar 2000. Vgl. u.a. Saurer, Edith: Straße, Schmuggel, Lottospiel. Materielle Kultur und Staat in Niederösterreich, Böhmen und Lombardo-Venetien im frühen 19. Jahrhundert. Göttingen 1989 (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 90); Schneider, Reinhard (Hrsg.): Grenzgänger. Saarbrücken 1998 (= Veröffentlichungen der Kommission für Saarländische Landesgeschichte und Volksforschung 33); Horn, Eva/Kaufmann, Stefan/Bröckling, Ulrich (Hrsg.): Grenzverletzer. Von Schmugglern, Spionen und anderen subversiven Gestalten. Berlin 2002 (= Copyrights 6); Wäntig, Wulf: Grenzerfahrungen. Böhmische Exulanten im 17. Jahrhundert. Konstanz 2007 (= Konflikte und Kultur. Historische Perspektiven 14); Labouvie, Eva (Hrsg.): Adel an der Grenze. Höfische Kultur und Lebenswelt im SaarLorLux-Raum (1697-1815). Saarbrücken 2009 (= Echolot. Historische Beiträge des Landesarchivs Saarbrücken 7). Vgl. Aspekte des Vortrags in: Martens, Pieter: Militaire architectuur en vestingoorlog in de Nederlanden tijdens het regentschap van Maria van Hongarije (1531-1555). De ontwikkeling van de gebastioneerde vestingbouw. 2 Bde. Löwen 2009.

Grenzüberschreitungen im deutsch-niederländisch-französischen Grenzraum

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grenzüberschreitenden Gruppenmobilität ermöglichen es jedoch, aus den Beiträgen über die konkreten Einzelergebnisse hinaus erste allgemeine Leitlinien für die Erforschung von Grenzgängern und Grenzüberschreitungen im territorialstaatlichen Rahmen abzuleiten. Zunächst ist die Differenzierung von Mobilität und Migration grundlegend, da diese Begriffe unterschiedliche Formen des Grenzübergangs beschreiben. Während Migration eine längerfristige Wanderungsbewegung mit intendiert längerfristigem Wohnortwechsel bezeichnet, kann der Begriff Mobilität für solche Bewegungen verwandt werden, die kurzfristig, etwa im Zuge von Handelstätigkeit oder anderen grenzüberschreitenden Reisen mit Rückkehr an den ursprünglichen Wohnort, erfolgen. Wie die Beiträge der Sektion zeigen, können innerhalb einer Gruppe durchaus beide Formen von Grenzüberschreitung vorkommen und müssen im Blick behalten werden, um die verschiedenen Prozesse differenzieren zu können. Zu fragen ist zweitens nach den gruppenspezifischen Merkmalen von Mobilität und Migration. Was waren die jeweiligen Voraussetzungen, Bedingungen und Folgen des Grenzgangs? Zu denken ist hier für jede Gruppe an den rechtlichen Status, die wirtschaftliche Situation, die Konfession oder auch die politischen Rahmenbedingungen. Darüber hinaus ist zu diskutieren, ob sich innerhalb der Gruppen weitere Differenzierungen, etwa sozialer oder geschlechtsspezifischer Art, vornehmen lassen. In diesem Punkt treten Überschneidungen mit abstrakten oder metaphorischen Grenzkonzeptionen auf. Die Überschreitung territorialer Grenzen macht so auch andere, „unsichtbare“ Grenzen sichtbar. Als Beispiel für soziale Differenzierungsprozesse an Grenzen können etwa die Juden genannt werden, bei denen zwischen einer breiten Masse einfacher Landjuden mit geringer, vom Geleit eng begrenzter Mobilität und vergleichsweise wenigen Angehörigen einer Wirtschaftselite zu unterscheiden ist, für die territoriale Grenzüberschreitungen aufgrund ihrer Tätigkeit und ihres Status mehr oder weniger zum Alltag gehörten. Drittens sind territoriale Grenzen nicht die einzigen räumlichen Beschränkungen, die Migration und Mobilität in der Frühen Neuzeit bestimmten. Zu nennen wären hier etwa binnenterritoriale Rechts- und Verwaltungsgrenzen oder Grenzen wie Sprache, Konfession und Kultur. Für jede Gruppe ist auch nach derartigen Grenzen zu fragen und zu analysieren, welcher Stellenwert in der Gesamtheit räumlicher Beschränkungen den territorialen Grenzen überhaupt zukommt. Für die katholischen Ordensleute etwa waren die Grenzen ihrer Ordensprovinzen oftmals viel einschneidender als die territorialen. Während sie letztere problemlos passierten, gab es zwischen den Ordensprovinzen nur in geringem Umfang personellen oder kulturellen Austausch. Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde die Mobilität des Ordensklerus immer stärker territorialstaatlich begrenzt. Für Juden hinge-

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Andreas Rutz

gen waren sowohl die Außengrenzen als auch die Binnengrenzen der Territorien, die durch lokale Rechtsbezirke wie Immunitäten oder Städte gebildet wurden, relevant. Der Wechsel von einer Stadt zur anderen konnte ähnlich einschneidend wie die Überschreitung einer Territorialgrenze sein. Ähnliches gilt auch für Kaufleute, die an unterschiedlichen Gastorten mitunter stark differierende Aufenthaltsbedingungen vorfanden. Zu berücksichtigen ist viertens, dass nicht jede territoriale Grenze die Mobilität einer Gruppe in gleicher Weise einschränkte, denn manche Territorialgrenzen waren durchlässiger als andere. Besonders deutlich zeigt sich dies bei den Ordensleuten, für die die Grenzen zwischen katholischen Territorien keinerlei Hindernis darstellten, während die Reise in anderskonfessionelle Territorien durchaus mit Problemen verbunden war und dementsprechend auch tatsächlich als Grenzüberschreitung erfahren wurde. Solche Unterschiede in der Durchlässigkeit territorialer Grenzen konnten auch aktuelle politische Verhältnisse widerspiegeln, wie im Falle der protestantischen Kaufmannsfamilie van der Meulen, für die die Grenze zu den südlichen Niederlanden nach ihrer Emigration schier unüberwindbar wurde, während sie sich im übrigen nordwesteuropäischen Raum frei bewegten und ihren Handelsgeschäften nachgingen. Anzusprechen ist schließlich die Wechselbeziehung von Grenzgängertum und staatlichem Grenzregime: Grenzüberschreitungen konnten Gegenmaßnahmen in Form stärkerer Kontrollen provozieren, etwa um Schmuggel oder den Zuzug nicht erwünschter Personen, wie Juden, Bettler oder Vaganten, einzudämmen. Umgekehrt war ein funktionierendes Grenzregime notwendig, um zu verhindern, dass sich bestimmte Personengruppen den obrigkeitlichen Herrschaftsansprüchen (Besteuerung, Konskription usw.) entzogen. Zugleich boten Grenzen den Untertanen auch Chancen, etwa wenn in Grenzregionen angesiedelte Juden Handel über die Grenze betrieben und damit die ökonomischen Spezifika des Grenzraums nutzten oder Ordensleute von sogenannten Grenzkapellen auf katholischem Territorium aus über die Grenze predigten, ohne fremdkonfessionelles Gebiet betreten zu müssen. Die genannten Aspekte spielen bei der Untersuchung von territorialen Grenzüberschreitungen eine zentrale Rolle. Durch entsprechende Forschungen werden nicht nur verschiedene Gruppen der frühneuzeitlichen Gesellschaft in ihrer grenzüberschreitenden Mobilität greifbar. Vielmehr erhält so auch die physisch nur bedingt wahrnehmbare Territorialgrenze dieser Zeit ein schärferes Profil.

STEFAN EHRENPREIS

Protestantische Kaufleute als Grenzgänger zwischen dem Rheinland und den Niederlanden im 16. und 17. Jahrhundert I. Die Bedeutung von Grenzen innerhalb Europas unterliegt in der Gegenwart erheblichen Wandlungen: Mit dem Schengen-Abkommen, dem Zusammenschluss zu einem Raum ohne Grenzkontrollen, haben sich viele europäische Staaten, auch einige außerhalb der EU, zu einer Relativierung des Moments des Grenzübertritts für Individuen entschlossen. Dies galt noch vor wenigen Jahren als undenkbar, hat bis heute nicht beseitigte sicherheits- und wirtschaftspolitische Bedenken hervorgerufen und wäre auf anderen Kontinenten nicht vorstellbar. In der europäischen Frühen Neuzeit hätte umgekehrt die Vorstellung von einer Grenze als einer streng bewachten und nur mit Erlaubnis zu überschreitenden Linie als absurd gegolten. Im Handel mit Russland wurde die Kontrolle von Ausländern in den ersten größeren Siedlungen jenseits der polnischen Grenze als ein besonderes Charakteristikum zaristischer Herrschaft und als außergewöhnliche Maßnahme beschrieben. Insofern kann der These von Axel Gotthard zugestimmt werden, dass in der Frühe Neuzeit die Grenze kaum erfahrbar war. 1 Weitergehende Interpretationen, Europa sei in der Frühe Neuzeit ein Raum ohne Grenzen gewesen, vernachlässigen jedoch den Blick auf politische und kulturelle Unterschiede, die Grenzen räumlich erlebbar machten. 2 1

2

Vgl. Gotthard, Axel: In der Ferne. Die Wahrnehmung des Raumes in der Vormoderne. Frankfurt/New York 2007, bes. S. 101-110. Vgl. auch zum Thema Reisen über Grenzen Schwarzwälder, Herbert und Inge: Reisen und Reisende in Nordwestdeutschland. Beschreibungen, Tagebücher und Briefe, Itinerare und Kostenrechnungen. Bd. 1: bis 1620. Hildesheim 1987. Ebd., S. 83 wird betont, dass die Reiseberichte die Rückkehr zu Freunden und Verwandten öfter schildern als eine politisch konnotierte Heimatverbundenheit. Vgl. auch zum Thema Grenzwahrnehmung Bömelburg, Hans-Jürgen: Grenzgesellschaft und mehrfache Loyalitäten. Die brandenburgisch-preußisch-polnische Grenze 1656-1772. In: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 55 (2006), S. 56-78. Ein Beispiel in dieser Hinsicht ist der anlässlich der österreichischen Ratspräsidentschaft in der EU publizierte Wiener Ausstellungskatalog von Seipel, Wilfried (Hrsg.): Europa ohne Grenzen. Beispiele zur Entstehung der künstlerischen Vielfalt Europas. Wien 2006. Adel,

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Grenzen können nicht nur als räumliche Phänomene, sondern kulturell auch als Abgrenzungen zwischen Individuen, Gruppen oder ganzen Kulturen beschrieben werden. Für unsere Fragestellung nach Mobilität und Migration niederländischer Kaufleute sind es gerade die Beziehungen zwischen den politischen und den kulturellen Grenzen, die von Interesse sind, weil sie keineswegs deckungsgleich waren und ihre Folgen sich unterschiedliche intensiv auswirken konnten. Mobilität war nach derzeitigem Forschungsstand ein weit verbreitetes Phänomen der Frühen Neuzeit. Die wirtschaftlich-beruflich bedingte Wanderung ging über die Handwerksgesellen, Künstler und Kunsthandwerker, die Studenten und die Kaufmannschaft weit hinaus: In noch ungeklärtem Ausmaß verließen beispielsweise frühneuzeitliche Saisonarbeiter ihre Dörfer und begaben sich auch in weit entfernte agrarische oder gewerbliche Produktionszentren. 3 Die demographischen und sozialgeschichtlichen, aber auch die kulturellen und mentalen Folgen der europäischen Expansion nach Übersee waren ebenfalls enorm. Auch aus dem Alten Reich gingen Hunderttausende nach Süd- und Nordamerika und nach Asien: ersteres als Auswanderer bzw. Siedler, als christliche Missionare oder als vermietete Soldaten, letzteres vor allem in Diensten der niederländischen Vereinigten Ostindischen Kompanie. Viele wanderten nicht dauerhaft aus, sondern kehrten in ihre Heimatregionen zurück, wo sie ihre außereuropäische Erfahrung kulturell vermittelten. 4 Eine dritte frühneuzeitliche Migrationsgruppe bilden die Glaubensflüchtlinge, die aus religiösen Gründen ihre Heimat verließen. Sie siedelten oft in größerer Zahl und in geschlossenen Gemeinschaften in Aufnahmegebieten, in denen ihnen die Ausübung ihrer Religion erlaubt wurde. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts nahmen im Nordwesten Europas die konfessionell bedingten Flüchtlingsströme größere Ausmaße an. Zuerst kamen seit 1559 französische Hugenotten nach England und in das Alte Reich. Mit dem Beginn der Statthalterschaft Albas und dem Ausbruch des Niederländischen Unabhängigkeitskampfes kamen dann in den 1560er Jahren wallonische und niederländische Glaubens- und Kriegsflüchtlinge in großer Zahl in die rheinischen und westfälischen Handelsstädte. Heinz Schilling hat für Frankfurt,

3

4

Kaufleute und Künstler werden hier als soziale Gruppen vorgestellt, für die Europa immer eine Einheit gewesen sein soll. Allerdings ist in den Texten dann auch von nationalen Eigenheiten und kulturellen Beeinflussungen die Rede. Vgl. Bade, Klaus J. (Hrsg.): Migration in der europäischen Geschichte seit dem späten Mittelalter. Osnabrück 2002 (= IMIS-Beiträge 20). Bekannt sind etwa die „Hollandgänger“ in Westfalen, die bei der Ernte oder im 18. Jahrhundert bei öffentlichen Infrastruktur- und Baumaßnahmen eingesetzt wurden; vgl. die Aufsätze in: Westfälische Forschungen 59 (2010). Vgl. Gelder, Robert van: Das ostindische Abenteuer. Deutsche in Diensten der Vereinigten Ostindischen Compagnie der Niederländer (VOC) 1600-1800. Hamburg 2004.

Protestantische Kaufleute als Grenzgänger

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Köln, Emden, Wesel und Aachen bis 1567 ca. 7.000, ab 1570 ca. 20.000 Flüchtlinge geschätzt. 5 Aus den Gruppen der ersten Welle kehrten Viele nach der Gründung der Republik in die nördlichen Provinzen zurück. Wesentlich größere Flüchtlingswellen, die wahrscheinlich die Zahl von 100.000 überschritten, erreichten die nordniederländischen Städte der Republik nach 1576 aus den unter spanischer Oberherrschaft verbliebenen südlichen Provinzen. Der endgültige Fall von Antwerpen 1585 vertrieb weitere Protestanten nach Osten und Norden. 6 Die vorwiegend südniederländischen Flüchtlinge dieser zweiten Welle kehrten nicht mehr in ihre Heimat zurück, sondern blieben als Migranten in den Aufnahmegebieten, was um 1600 zu politischen Konflikten deutscher Reichsfürsten und Städte mit der spanischen Statthalterschaft in Brüssel führte. 7 Die niederländischen Flüchtlinge bildeten unter der Führung von Mitgliedern ihrer sozialen Oberschicht eigene Gemeinden, die sowohl den gesellschaftlichen als auch den konfessionellen Zusammenhalt wahren halfen. In Emden, Wesel und bis 1598 auch in Aachen lebten sie in einer politisch und konfessionell freundlichen Umwelt, in Frankfurt am Main und Köln hingegen wurden reformierte Glaubensflüchtlinge lediglich zeitweise von den anderskonfessionellen Obrigkeiten geduldet und standen unter der Bedrohung der Ausweisung. 8 Unter den Flüchtlingen stellten die Kaufleute eine große Gruppe, weil ihnen die Entscheidung zur Emigration am leichtesten fiel: Sie waren die Integration in fremde Umwelten gewöhnt, hatten bereits Handelskontakte in den intensiv mit den Niederlanden verflochtenen Handelsstädten Westund Oberdeutschlands, möglicherweise sogar verwandtschaftliche Beziehungen in die Aufnahmegebiete. Ihre innovativen ökonomischen Zielsetzungen verbanden sich oft mit religiösen Gründen bei der Wahl des neuen Wohnsitzes. 9 Frühneuzeitliche Kaufleute gelten zu Recht neben den Handwerksgesellen, Soldaten, Studenten und Künstlern als eine typische Grenzgängergruppe. 10 Das frühneuzeitliche Handelsrecht war auf der Grundlage der Römi5 6 7

8 9 10

Vgl. Schilling, Heinz: Die frühneuzeitliche Konfessionsmigration. In: Bade 2002 (wie Anm. 3), S. 67-89, hier S. 72. Vgl. ebd., S. 73. Vgl. Dünnwald, Achim: Konfessionsstreit und Verfassungskonflikt. Die Aufnahme der niederländischen Flüchtlinge im Herzogtum Kleve 1566-1585. Bielefeld 1998; Bergerhausen, Hans-Wolfgang: Die Stadt Köln und die Reichsversammlungen im konfessionellen Zeitalter. Köln 1990. Vgl. hierzu detailliert Schilling, Heinz: Niederländische Exulanten im 16. Jahrhundert. Gütersloh 1972 (= Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 187). Vgl. zusammenfassend Schilling 2002 (wie Anm. 5), S. 75-80. Die handelsgeschichtlichen Zusammenhänge müssen im Folgenden weitgehend außer Betracht bleiben, vgl. beispielsweise Hoock, Jochen/Reininghaus, Wilfried (Hrsg.): Kauf-

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schen Rechtstradition europäisch weitgehend einheitlich und internationale Handelspraktiken waren seit Jahrhunderten eingeübt. Zu letzteren gehörte auch die Migration von Kaufleuten in die Länder, die Ankauf- und/oder Absatzgebiete darstellten, um langfristig stabile Handelsbeziehungen zu erreichen. Die Migration brachte ein für unseren Zusammenhang typisches Problem mit sich: Die politischen Grenzziehungen hatten an den jeweiligen Gastorten unterschiedliche Aufenthaltsbestimmungen zur Folge, die von zentralen Gesetzen und lokalen Bestimmungen geprägt waren. In zahlreichen Beispielen hat die historische Migrationsforschung solche Verhältnisse untersucht: Gemeinschaften deutscher Kaufleute in Spanien oder in Bordeaux, englischer Kaufleute in Italien und die Merchant Adventurers in Stade, europäische Kaufleute in Istanbul oder Moskau. In vielen dieser Fälle lebten die Kaufleute in von der Aufnahmegesellschaft separierten Gemeinschaften mit besonderem Recht und Status (Privilegierungen, Einschränkungen). 11 Für die niederländischen Kaufleute in den westlichen Gebieten des Reiches galt dies lange Zeit nicht, vielmehr gelang ihnen schon nach einer Generation die rasche Integration. Spätestens seit dem 14. Jahrhundert erhielten sie Bürgerrecht in der Reichsstadt Köln, aber auch in zahlreichen kleineren Territorialstädten des Rheinlands, Westfalens und niedersächsischer Territorien. Umgekehrt wanderten auch deutsche Hansekaufleute in den niederländischen Raum, nach Flandern, Brabant oder in die Ijsselstädte, und wurden dort heimisch. Solche von Grenzziehungen unabhängigen Freiheiten unterlagen jedoch seit der Mitte des 16. Jahrhunderts einem starken Wandel. Noch der Geldrische Erbfolgestreit hatte 1543 bewiesen, dass die Grenzen politischer Herrschaftsräume im Nordwesten des Reiches fließend waren. Mit dem Burgundischen Vertrag von 1548 jedoch schottete sich der flandrisch-niederländische Raum vom Heiligen Römischen Reich politisch und rechtlich ab. Seit dem Ausbruch des Niederländischen Aufstands ab 1566/68 änderten sich zusätzlich politische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen. Einerseits verflüssigten sich Grenzziehungen erneut: Durch die militärischen Entwicklungen im „Achtzigjährigen Krieg“ bedingt, wechselte die genaue politische Grenzziehung zwischen den spanisch beherrschten und den republikanischen Provinzen, die noch bis weit ins 17. Jahrhundert als Einheit betrachtet wurden.

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leute in Europa. Handelshäuser und ihre Überlieferung in vor- und frühindustrieller Zeit. Dortmund 1997. Vgl. für den aktuellen Forschungsstand Bahlcke, Joachim/Bendel, Reiner (Hrsg.): Migration und kirchliche Praxis. Das religiöse Leben frühneuzeitlicher Glaubensflüchtlinge in alltagsgeschichtlicher Perspektive. Köln/Weimar/Wien 2008 (= Forschungen und Quellen zur Kirchen- und Kulturgeschichte Ostdeutschlands 40).

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Auch die Grenze zu den benachbarten Reichsterritorien blieb militärisch unbeachtet, da beide kriegführenden Parteien die Kämpfe in das niederrheinische Vorfeld zu verlagern suchten, um die Ressourcen des eigenen Machtbereichs zu schützen. Sowohl die spanischen als auch die niederländischen Truppen besetzten seit dem Kölner Krieg 1583-1587 für mehrere Jahrzehnte die festen Plätze in rheinischen Territorien des Alten Reiches bis hinein nach Westfalen; lediglich die stark befestigte und beiden Seiten wirtschaftlich offen stehende Reichsstadt Köln blieb unbehelligt. 12 Andererseits erfuhr die Gesamtregion eine rapide Verfestigung unterschiedlich geprägter Räume durch 1. unterschiedliche politische Kulturen: Die republikanisch-föderalen Strukturen in den Generalstaaten entwickelten sich zum Gegenmodell zur fürstlichen Herrschaft. 13 2. unterschiedliche Konfessionskulturen: Die Etablierung der niederländischen reformierten Öffentlichkeitskirche sowie eine begrenzte religionspolitische Toleranz in der Republik prägte die niederländische Kultur in eine Richtung, die dem vorherrschenden rheinischen und südniederländischen Katholizismus fremd war. 14 Obwohl die rheinischen Reformierten bis 1610 der niederländischen Nationalsynode angehörten, konnten sie als Minderheitenkirche im Rheinland zunächst nur geringe kulturelle Prägekraft entfalten. In der Selbstsicht galten sie als „Gemeinden unter dem Kreuz“, anders als die niederländische Öffentlichkeitskirche mit ihrer engen Bindung an die politischen Herrschaftsverhältnisse. 3. die langsame Auseinanderentwicklung ehemals kultureller Gemeinsamkeiten durch die gewandelten sozio-ökonomischen Grundlagen der niederländischen Gesellschaft seit dem späten 16. Jahrhundert: Die Entstehung des globalen niederländischen Handelskolonialismus mit seinen spezifischen kulturellen Perzeptionen; die Entstehung einer frühen Konsumgesellschaft; der Aufstieg der niederländischen Kunst und des Kunstmarktes. 15 12 13

14 15

Vgl. die Karte in Petri, Franz (Hrsg.): Rheinische Geschichte. Bd. 2: Neuzeit. Düsseldorf 1979, S. 98. Diese Auseinanderentwicklung wird auch durch die vielfach erhärtete These einer föderativen, dem niederländischen Modell politiktheoretisch folgenden Orientierung der rheinischen Landstände im 17. Jahrhundert nicht grundsätzlich in Frage gestellt; vgl. Walz, Rainer: Landstände und frühmoderner Staat. Die Landstände von Jülich-Berg im 16. und 17. Jahrhundert. Neustadt/Aisch 1982. Vgl. zuletzt Hsia, Ronnie Po-chia/Nierop, Henk van (Hrsg.): Calvinism and Religious Toleration in the Dutch Golden Age. Cambridge 2002. Zwar könnte man im Anschluss an Schama, Simon: The Embarrasment of the Riches. Oxford 1987 auch weitergehender argumentieren, bei der niederländischen Republik um 1600 handle es sich um eine protonationale Gesellschaft. Dies ist aber von den Zeitgenossen noch nicht in diesem Sinne wahrgenommen worden. Daher sind auch für den hier beobachteten Zeitraum die methodischen Ansätze transnationaler Migrationsforschung nicht

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Diese Verfestigung politischer und kultureller Grenzen nach der Republikgründung 1576/79 hatte zwar keine unmittelbaren Folgen für die Wirtschaftsverbindungen, die nur kurzzeitig durch regionale Kriegshandlungen unterbrochen wurden. Langfristig veränderten sich im späten 16. Jahrhundert allerdings auch die Marktstrukturen weg von den alten hansischen Zentren nach Norden. Insbesondere Antwerpen verlor endgültig nach 1585 seine wirtschaftlich beherrschende Stellung an Amsterdam. Zugleich entstand mit der Republik auch ein neuer Rechtsraum, der sich schon um 1600 deutlich vom Alten Reich abgesetzt hatte. 16 Der Unabhängigkeitskrieg änderte durch die politischen und militärischen Konflikte abrupt die traditionellen Handelsverflechtungen und persönlichen Netzwerke der Kaufleute. Mit dem Ausbruch des Unabhängigkeitskampfes begann eine Flüchtlingswelle in die westlichen Reichsterritorien. Niederländische Kaufleute siedelten sich aber auch in den entfernteren Handelszentren des Reiches in Oberdeutschland an, besonders in den Reichsstädten. 17 Unter den niederländischen Flüchtlingen, die nicht in der unmittelbaren Grenzregion blieben und dort hofften, möglichst bald zurückkehren zu können, sondern sich zu einer dauerhaften Migration entschlossen, bildeten sie die größte Gruppe. Die Migranten organisierten sich seit den 1570er Jahren in Flüchtlingsgemeinden in Frankfurt, Köln, Emden, Bremen, Wesel und Aachen, die politisch und konfessionell einen engen Zusammenhang wahrten. Ihre Aufenthaltsrechte waren jedoch immer umstritten und in allen oben genannten Städten (mit Ausnahme Emdens und Bremens) wurden zeitweise Ausweisungsdekrete erlassen, wenn auch nicht immer umgesetzt. Diese niederländische Migrationsgruppe ist für das Reich gut erforscht, ebenso wie beispielsweise für England. Für unsere Fragestellung sind jedoch die Ergebnisse der Migrationsforschung kaum nutzbringend, da sie die Bedeutung der Grenze nach der Übersiedlung nicht mehr in den Blick nehmen. Es sei daher ein anderer methodischer Weg vorgeschlagen: Analog zu den Untersuchungen von Individualschicksalen im Prozess der europäischen Expansion, wie sie etwa Willem Frijhoff oder Linda Colley vorgelegt haben, stelle ich die Mikrounter-

16

17

sinnvoll anwendbar; vgl. Schubert, Michael: Stand und Aufgaben der historischen Migrationsforschung. In: Westfälische Forschungen 59 (2010), S. 1-19. Vgl. zur Bedeutung der niederländischen Wirtschafts- und Konsumgesellschaft Vries, Jan de/Woude, Ad van der: Nederland 1500-1815. De eerste ronde van moderne economische groei. 2. Aufl., Amsterdam 2005. Vgl. Arndt, Johannes: Das heilige Römische Reich und die Niederlande 1566 bis 1648. Köln/Weimar/Wien 1998. Die Zeit nach 1648 ist hervorragend behandelt durch Gabel, Helmut/Jarren, Volker: Kaufleute und Fürsten. Außenpolitik und politisch-kulturelle Perzeption im Spiegel niederländisch-deutscher Beziehungen 1648-1748. Münster 1998. Vgl. etwa Pilz, Kurt: Nürnberg und die Niederlande. In: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 43 (1952), S. 1-153.

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suchung einer Migrantenfamilie, deren Handlungsspielräume und Grenzerfahrungen in den Vordergrund. 18

II. Die hier als Beispiel ausgewählte, aus Utrechter Patriziat stammende Familie van der Meulen ist durch eine ungewöhnliche, intensive, familiäre und auch individuelle Wanderung zwischen dem Reich und den Niederlanden gekennzeichnet. Im Laufe der Migrationszeit bildeten die beteiligten Familienmitglieder ein deutsch-niederländisches Netzwerk, das im rheinisch-niederländischen Warenaustausch und im südeuropäischen Handel mit Neapel engagiert war. Deutsche und niederländische Städte, in denen Familienmitglieder wohnten, wurden in ein großräumiges Netz integriert, für dessen Wirtschaftstätigkeit Grenzen kaum eine Rolle spielten, das sich aber auf das individuelle Verhalten, die Lebenssituationen und die ökonomische Chancenwahrnehmung auswirkte. Die van der Meulen begründeten ihre Stellung als Handelskaufleute in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts in Antwerpen. Jan d.Ä. hinterließ seinen sechs Kindern, darunter seinen Söhnen Andries (1549-1612) und Daniel (1554-1600), bei seinem Tod 1563 ein erfolgreiches Unternehmen. 19 Die Witwe Elisabeth entschied 1572, auf Grund der Kriegsereignisse ihre drei Töchter mit dem jungen Daniel nach Köln zu schicken, während sie selbst mit den Söhnen Jan d.J. und Andries in Antwerpen verblieb. Die Söhne besuchten in den folgenden Jahren regelmäßig die Frankfurter und Straßburger Messen, wo sie den Kontakt mit deutschen Kaufleuten aufrechterhielten. Wegen zunehmender Unsicherheit zog die Mutter Elisabeth 1574 ebenfalls nach Köln um, wo eine ihrer Töchter mittlerweile mit einem anderen Niederländer verheiratet war. Während des Pogroms der meuternden spanischen Besatzung in Antwerpen 1576 kam Jan d.J. ums Leben und die jüngeren Brüder Daniel (zwischenzeitlich zurückgekehrt) und Andries flüchteten nach Köln. Sie hielten aber persönliche Verbindungen in die Heimat aufrecht und knüpften während des niederländischen Pazifikationskongresses 1579 in Köln enge Kontakte zur Delegation der jungen Republik. Beide Brüder nutz18

19

Vgl. Colley, Linda: The Ordeal of Elizabeth Marsh. A woman in world history. New York 2007; Frijhoff, Willem: Fulfilling God’s mission. The two worlds of Dominie Everardus Bogardus, 1607-1647. Leiden 2007. Die folgenden Ausführungen zur Familiengeschichte stützen sich auf die ausführliche Einleitung in Jongbloet-van Houtte, Gisela (Hrsg.): Brieven en andere Bescheiden betreffende Daniel van der Meulen 1584-1600. Deel 1: augustus 1584-september 1585. ’s-Gravenhage 1986 (= Rijks geschiedskundige publicatiën, grote serie 196).

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ten ihre politischen Kontakte zur Rückkehr nach Antwerpen: Andries wurde Vertreter in einem Komitee zur Überwachung des innerstädtischen Religionsfriedens, Daniel erhielt ein städtisches Amt, und selbst die Mutter kehrte 1582 aus Köln zurück. Als die Spanier zwei Jahre später erneut die Stadt belagerten und endgültig einnahmen, verließ Andries, der zur engeren Führungsschicht um den Bürgermeister Philipp Marnix gehört hatte, Brabant und ging ins Exil nach Bremen, während die Mutter erneut zu ihren Töchtern nach Köln zog. 20 Der Bruder Daniel, der die Provinz Brabant bis dahin in den politischen Gremien der Republik vertreten und in Delft gewohnt hatte, lebte 1585-1591 ebenso in Bremen wie die Schwester Sarah und deren Ehemann Antoine Lempereur, der in Köln ein Handelsgeschäft betrieb. Der andere Schwager, François Pierens, leitete weiter die Kölner Filiale der Firma van der Meulen. 21 Nachdem die Mutter 1587 verstorben war, wurde Andries immer mehr zum Zentrum der van der Meulens und der mit ihnen verschwägerten niederländischen Emigrantenfamilien. Er war seit 1583 mit der Schwester des in Bremen lebenden niederländischen Großkaufmanns Nicolaas de Malapert verheiratet. 22 Gemeinsam mit seinem Schwager und dem Bruder Daniel, der 1591 dauerhaft nach Leiden umsiedelte, gründeten sie eine Handelsgesellschaft, die sich dem Warenaustausch vor allem mit Neapel widmete. Die Familiensitze in der niederländischen Republik und im Westen des Alten Reiches waren damit über viele Jahre hinweg in einem Netzwerk verbunden. Andries van der Meulen zog im Alter, 1607, nach Utrecht, wo er am 12. Januar 1611 verstarb. 23 Noch weit ins 17. Jahrhundert hinein wurde diese Familientradition grenzüberschreitender Art durch die nachfolgende Generation fortgeführt: Daniel d.J. wurde Botschafter der Niederländischen Republik in Paris, Andries d.J. verlegte seinen Wohnsitz ins syrische Aleppo und forcierte von dort aus den niederländischen Handel mit dem Osmanischen Reich. 24

20 21

22 23 24

Vgl. ebd., S. XXVIIIf. Die langjährige Zusammenarbeit der Brüder und ihrer Schwäger und die dauerhafte Verbindung der beteiligten Familien stellt Koijmans, Luuc: Vriendschap en de kunst van het overleven in de zeventiende en achttiende eeuw. Amsterdam 1997 in den Mittelpunkt einer sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Untersuchung. Siehe den Stammbaum bei Jongbloet-van Houtte 1986 (wie Anm. 19), S. CXXIVf. Vgl. ebd., S. XXX. Vgl. zur nachfolgenden Generation Kooijmans, Luuc: Risk and Reputation. On the Mentality of Merchants in the Early Modern Period. In: Lesger, Clé/Nordegraaf, Leo (Hrsg.): Entrepreneurs and Entrepreneurship in Early Modern Times. Merchants and industrialists within the orbit of the Dutch staple market. Den Haag 1995, S. 25-34.

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III. Die für unsere Fragestellung nach dem Umgang mit Grenzen wichtigste Person ist Andries van der Meulen, der die entscheidende Position in der Familie und in den Netzwerken einnahm, dabei freilich auf die kongeniale Gestalt seines Bruders Daniel angewiesen war, der der Familie die fortdauernde Präsenz in der niederländischen Oberschicht sicherte. Die familiären und persönlichen Kontakte, die Emigration nach Deutschland wie auch die politische und wirtschaftliche Verbindung in die nördlichen Provinzen der Niederlande waren Voraussetzungen, um in beiden, sich durch politische Grenzen auseinanderentwickelnden Regionen tätig zu sein. Sowohl als Diplomat wie als Kunstvermittler konnte Andries eine ganz ungewöhnliche Aktivität entfalten, blieb er doch trotz seines Grenzgängerdaseins in der Republik als Interessenvertreter der eigenen Seite akzeptiert. Letzteres ist auf dem Hintergrund der niederländischen Kommunitäten in westlichen Städten des Reiches einmalig: Die niederländisch-flandrischen Emigranten, die nach 1585 nicht in die Niederländische Republik einwanderten, wie etwa die große Gemeinschaft der niederländisch-reformierten Gemeinde und der wallonisch-reformierten Gemeinde in Köln, entwickelten trotz ihrer regen Handelstätigkeit keine dauerhafte Verbundenheit mit der Republik und ihrer politischen Elite, sondern orientierten sich an anderen Möglichkeiten, die die Konfessionsspaltung und die Territorialisierung innerhalb des Alten Reiches boten. So nutzten etwa die Niederländer in Köln die kurzzeitige Aussicht auf eine wirtschaftlich prosperierende Ansiedlung im benachbarten Mülheim, als das Herzogtum Berg 1609/10 protestantisch regiert wurde. 25 Ganz ähnlich verhielten sich die in Frankfurt ansässigen Niederländer und wanderten in die durch reformierte Obrigkeiten initiierten Städtegründungen, beispielsweise Hanau. Die Territorialgrenzen, die im Zeitalter der Konfessionalisierung politisch-konfessionelle Differenzen markierten, sorgten für neue Loyalitäten und dauerhafte Identifikationsmöglichkeiten. Für die Familie van der Meulen wurde im Zuge der Emigration die Grenze zur alten Heimat zu einer undurchdringlichen Barriere. 26 Andries hatte 1583-1585 bei seinen Reisen stets einen „passport“ der brabantischen Stände 25

26

Vgl. Deeters, Joachim: Der „Bau zu Mülheim“ und der Ausschluss der Kölner Protestanten aus der Gemeinschaft der Bürger. In: Rheinische Vierteljahrsblätter 69 (2005), S. 192211. Vgl. den Brief von Jacques de la Faille, Schwager, an Daniel van der Meulen vom September 1585 in Jongbloet-van Houtte 1986 (wie Anm. 19), S. 338f., worin dieser die Hoffnung äußert, vom spanischen Statthalter drei Monate Frist eingeräumt zu erhalten, um noch offenen Verpflichtungen in Antwerpen nachkommen zu können.

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mitgeführt, um sich gegenüber den kriegführenden Parteien als scheinbar „Neutraler“ legitimieren zu können. 27 Nach 1585 hat kein Familienmitglied mehr Antwerpen betreten, wo Daniel und Andries die Verhaftung und der Gesamtfamilie die Beschlagnahmung von Vermögen drohte. Die aufgrund der militärischen Lage hybride Grenze zwischen dem Gebiet der spanischen Oberherrschaft und den republikanischen Provinzen wurde durch Andries auch später beachtet, selbst wenn er diplomatischen Status genoss. Die politischen Grenzen zwischen seinen deutschen Wohnsitzen in Köln und später Bremen und der Niederländischen Republik scheinen jedoch keine Rolle gespielt zu haben. Ohne aus den Quellen fassbare Behinderungen reisten Familienmitglieder seit 1579 aus dem Reich in das Gebiet der neu gegründeten Republik und wieder zurück. Als politischer Vermittler agierte Andries bereits 1584 in seiner Eigenschaft als diplomatische Kontaktperson der Antwerpener Stadtspitze zu den Generalstaaten, die jedoch keine Möglichkeit sahen, der Scheldestadt gegen ihre spanischen Belagerer beizustehen. Die damals geschaffenen Verbindungen mit der politischen Elite der Republik blieben über die weiteren Jahre bestehen und wurden zur Grundlage von Andries’ diplomatischen Grenzgängen. Die enge Verbindung mit seinem in der Republik politisch aktiven Bruder Daniel half ihm, als Ansprechpartner für niederländische Interessen bekannt zu werden. 28 Schon 1591 kam er in Kontakt mit den kaiserlichen Delegationen, die unter Leitung Graf Simons VI. zur Lippe mehrfach im Auftrag Kaiser Rudolfs II. einen Frieden zwischen den nördlichen Provinzen und der spanischen Statthalterschaft in Brüssel herzustellen versuchten. Seine damalige Tätigkeit und die stabilen Kontakte der Familie zur politischen Spitze der Republik führten dazu, dass Andries ein inoffizieller diplomatischer Vertreter der Republik im Reich wurde, den die Haager Regierung bei zahlreichen Gelegenheiten um politische Berichte und Gutachten bat. Gleichzeitig fungierte er bei den protestantischen Reichsständen im Nordwesten als Ansprechpartner für alle Belange, die das Verhältnis zur niederländischen Republik tangierten. In den Kreisen der religionspolitisch tätigen niederländischen reformierten Exilgemeinden und in der niederrheinischen reformierten Synode spielte die Familie nie eine Rolle, obwohl sich alle Mitglieder und besonders Andries als betont reformiert-calvinistisch verstanden und die Konfessionsfrage bei27

28

Vgl. Jongbloet-van Houtte 1986 (wie Anm. 19), S. 70, 107, 171, 274, 307, 317, 320 sowie ebd., S. 67 Anm. 3, 111, 153, 326, 335, 345 (Pässe für den Schwager oder andere Familienmitglieder). Zum politischen Einfluss Daniels in der Republik vgl. Kernkamp, Johannes Herman/ Heijst, Jakob van: De Brieven van Buzanval aan Daniel van der Meulen (1595-1599). In: Bijdragen en Mededelingen van het Historisch Genootschap 76 (1962), S. 175-262. Buzanval war 1592-1606 der erste Botschafter Frankreichs in Den Haag.

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spielsweise die Heiratsverbindungen beeinflusste. 29 Mit seinem Bruder Daniel hatte Andries einen herausragenden Kontaktmann in der Republik, der ihm in allen politischen und kulturellen Belangen half. Die besondere Rolle von Andries resultierte jedoch auch aus seinen weiteren, europaweiten Verbindungen durch seien Handelsunternehmungen, vor allem der „Nieuw Neapelschen Compagnie“. Von Bremen aus baute er ein Korrespondentennetz auf, das ihm und seinem Bruder Daniel Nachrichten aus vielen europäischen Ländern zutrug. Die Sammlung solcher Nachrichten gab er im Stil der „Fuggerzeitungen“ an seine politischen Partner, insbesondere den einflussreichen Bremer reformierten Theologen Christoph Pezel und Graf Simon VI. zur Lippe, weiter. 30 Diese politisch-kommunikative Funktion für die regionale politische Elite im Nordwesten des Reiches kulminierte in der Krisenzeit um 1600. Während der schweren politisch-militärischen Krise, die der Einfall spanischer Truppen unter Mendoza 1598/99 im Nordwesten des Reiches erzeugte, boten sich Andries und sein Bruder Daniel erneut als diplomatische Vermittler an. 31 Die Generalstaaten beauftragten Daniel, im Feldlager des Kreisobersten Graf Simon VI. zur Lippe mit den Oberkommandierenden der Kreistruppen über den Rückzug niederländischer Einheiten aus niederrheinischen Städten zu verhandeln. Zugleich sollte der Einsatz gegen die spanische Armee und deren marodierende Teile koordiniert werden. 32 Über die engen Kontakte mit Simon VI. zur Lippe bereitete Andries diese Gespräche vor. In den Verhandlungen trug das Vertrauen, das der Kreisoberst und sein langjähriger Partner zueinander besaßen, wesentlich dazu bei, mit den Generalstaaten einen Rückzug aus einigen besetzten Plätzen zu vereinbaren. Andries’ Praxis als Grenzgänger kommt zudem besonders in seiner Funktion als Kunstvermittler zwischen dem Reich und den Niederlanden zum

29

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31

32

So lehnte Andries die ökonomisch vorteilhafte Einheirat in eine andere Emigrantenfamilie für seine Tochter ab, weil ihr zukünftiger Ehemann als konfessionell unsicher galt; vgl. Jongbloet-van Houtte 1986 (Anm. 19), S. LXVf. Vgl. ebd., S. LIX-LXXI. Eine Vielzahl solcher politischer Nachrichten sind in der Korrespondenz mit Simon VI. zur Lippe im Nordrhein-Westfälischen Staatsarchiv, Abteilung Detmold erhalten. Zum Hintergrund dieser Vorkommnisse siehe Ehrenpreis, Stefan: Kunst und Politik um 1600. Simon VI. zur Lippe, die Niederlande und der Prager Kaiserhof Rudolfs II. In: Bulst, Neithard/Kastler, José/Rüthing, Heinrich (Hrsg.): Die Weser. EinFluss in Europa. Symposiumsband zur Wirtschafts- und Kulturgeschichte des Weserraums in der Frühen Neuzeit. Lemgo 2001 (= Materialien zur Kunst- und Kulturgeschichte in Nord- und Westdeutschland 27), S. 209-214. Vgl. Boersma, Frederik: De diplomatieke Reis van Daniel van der Meulen en Nicolas Bruyninck naar het Duitse Leger bij Emmerik, August 1599. In: Bijdragen en mededelingen betreffende de Geschiedenis der Nederlanden 84 (1969), S. 27-41.

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Ausdruck. 33 Seine diplomatisch-politische Tätigkeit brachte ihn in Kontakt mit einigen Höfen Nordwestdeutschlands, vor allem mit den Zentren der Renaissance im Weserraum. Die persönlichen Verbindungen in die Niederlande nutzte Andries seit 1596, um in den nördlichen Niederlanden Kunstwerke im Auftrag Simons VI. zur Lippe anzukaufen, die dieser an Kaiser Rudolf II. als Geschenke weiterreichte, um sich dessen Gunst zu erhalten. 34 Diese Tätigkeit als Ankäufer und Vermittler niederländischer älterer und zeitgenössischer Kunst hielt bis 1607 an. Zumindest einmal, im Sommer 1598, reiste Andries selbst in die Republik, um sich in den Kunstkäufen persönlich zu engagieren. 35 Dabei waren bei einigen niederländischen Künstlern Schwierigkeiten zu überwinden, da sie sich weigerten, ihre Kunstwerke ins Ausland zu verkaufen. Als Kunsthändler aus den Niederlanden scheinen die Gebrüder Daniel und Andries erfolgreicher als die Gesandten des Grafen zur Lippe gewesen zu sein. Ob und wie das Grenzgängertum des Andries van der Meulen kulturell prägend gewesen ist, bedarf noch näherer Untersuchungen. Der Umgang mit der Kultur des neuen und das Verhältnis zum alten Wohnsitz lässt sich nach den Quellen am einfachsten an der Sprachpraxis ablesen. Andries erwarb nicht die Fähigkeit, sich der deutschen Schriftsprache zu bedienen, sondern entwarf Texte sprachlich unterschiedlich: Mit seinen Familienangehörigen korrespondierte er überwiegend französisch, während er sich in den Korrespondenzen mit Graf Simon VI. einer Form des Frühneuhochdeutschen bediente, das mit niederländischen Wendungen, falschen deutschen Ausdrücken und falscher deutscher Grammatik durchsetzt war. Eine vollständige sprachliche Integration in sein deutsches Aufenthaltsgebiet blieb aus.

IV. Abschließend bleibt festzuhalten: 1. Die Grenzziehungen des späten 16. Jahrhunderts hatten keine Folgen für die Wirtschaftstätigkeit von Kaufleuten, die zwischen den nördlichen 33

34

35

Vgl. allgemein zu Kaufleuten als Kunsthändler Klebusek, Marika: Commerce and Cultural Transfer. Merchants as Agents in the Early Modern World of Books. In: North, Michael (Hrsg.): Kultureller Austausch. Bilanz und Perspektiven der Frühneuzeitforschung. Köln/ Weimar/Wien 2009, S. 297-308. Vgl. auch Asche, Matthias: Glaubensflüchtlinge und Kulturtransfer. Perspektiven für die Forschung aus der Sicht der sozialhistorischen Migrationsund der vergleichenden Minderheitenforschung. Ebd., S. 89-114. Vgl. Ehrenpreis 2001 (wie Anm. 31), S. 205-207 zu Quellen aus der Korrespondenz zwischen Andries und Simon VI. im Nordrhein-Westfälischen Staatsarchiv, Abteilung Detmold. Vgl. ebd., S. 207.

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Provinzen der Niederlande und den benachbarten Reichsterritorien handelten. Diese richteten sich vielmehr nach ökonomischen Trends aus. 2. Die sich verfestigende politische Grenzziehung im Nordwesten des Reiches wirkte sich rechtlich aus. Sie schuf zwar in Bezug auf die niederländische Republik bzw. die Reichsterritorien keine grundsätzlichen Probleme beim Aufenthaltsstatus oder dem Niederlassungsrecht, doch geschah dies durch wandelbare lokale Rechtsbedingungen, die die niederländischen Kaufleute in den Städten vorfanden, in denen sie um Aufnahme nachsuchten. Die Grenze markierte eine Scheidelinie zwischen politischen Räumen mit unterschiedlichen politischen Kulturen; an die Auswirkungen konnte man sich jedoch anpassen. Im alltäglichen Verkehr bedeuteten eher religiöse als politische Grenzziehungen deutliche Markierungen. 3. Wie am Beispiel der Familie van der Meulen gezeigt wurde, ergaben sich aus sich verfestigenden politischen Grenzen Einschränkungen und Schwierigkeiten, aber auch neue Chancen für kaufmännisches Handeln. Eher ungewöhnlich für das Schicksal anderer niederländischer Emigranten, die sich dauerhaft in ihren deutschen Flüchtungsorten einrichteten, repräsentiert Andries van der Meulen einen Typ von Grenzgänger, der auf zwei Seiten akzeptiert war und daraus spezifischen Nutzen zog. Kulturelle Grenzziehungen blieben vermutlich erhalten, konnten aber partiell durchlöchert werden.

STEPHAN LAUX

Grenzüberschreitende Lebensbezüge von Juden in Nordwesteuropa in der Frühen Neuzeit Eine Skizze I. Das Thema „Grenzen“ ist für eine Betrachtung jüdischen Lebens in der Frühen Neuzeit prädestiniert. 1 Die Stimmigkeit dieser Behauptung hängt nicht zwingend davon ab, ob und in welchem Maße die Dissoziation der Juden von den christlichen Mehrheitsgesellschaften der Vormoderne durch die Aufstellung und Wahrung von Grenzen faktisch und damit im Sinne ihrer Logik erfolgreich betrieben wurde. Denn allein der Umstand, dass die Regulierung – und das heißt auch: die graduelle oder gar konsequente Fernhaltung – von Juden auf persistenten religiösen und gesellschaftlichen Normen fußte, hatte eine wie auch immer geartete Existenz von Grenzen unweigerlich zur Folge. Die näheren Gründe für diese Allgegenwart von Grenzen in der Erfahrungswelt von Juden sollen im Folgenden zunächst anhand allgemeiner Überlegungen, dann für verschiedene Makro- und Mikroebenen der politischen Ordnung des Alten Reiches skizziert werden. Eine auch nur annähernd abschließende Behandlung der Thematik aber wäre weder im gegebenen, engen Rahmen noch auch generell möglich. Denn das Phänomen der Grenze, das unweigerlich nach individueller und kollektiver Grenzkollision respektive Grenzüberschreitung fragen lässt, ist im Rahmen der jüdischen Geschichte bis heute nicht systematisch untersucht, was einen Grund sicher auch in der fachdisziplinären Kluft zwischen historischen und jüdischen Studien hat. Für das Gebiet des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, das hier im Vordergrund stehen soll, gilt vor allem aber die enorme Diffusion von Herrschaftsrechten, die eine entsprechende Multiplikation mehr oder minder materiell ausgeformter Grenzen zur Folge hatte. Dass, auf der einen Seite, die landes- und lokalhistorische Forschung zur Geschichte der Juden in der Frü1

Die schriftliche Ausarbeitung beruht im Wesentlichen auf dem Vortrag vom 25.9.2009. Inhaltlich bzw. methodisch synthetisieren die Darlegungen zentrale Überlegungen meiner unmittelbar vor dem Druck stehenden Habilitationsschrift: Gravamen und Geleit. Die Juden im Ständestaat der Frühen Neuzeit (15.-18. Jahrhundert). Hannover 2010 (= Forschungen zur Geschichte der Juden 21). Auf eine eingehende Dokumentation wurde im Sinne der Kürze der Darstellung verzichtet.

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hen Neuzeit deutlich vermehrt seit den 1980er Jahren ein hohes empirisches wie auch methodisches Niveau erreicht hat, und dass hierin vielfach auch Grenzen thematisiert werden, soll nicht in Abrede gestellt werden. Auf der anderen Seite spiegelt sich in der zunehmenden Regionalisierung der Forschung eine Fragmentierung der historisch vorfindlichen Konstellationen. Einer einheitlichen Problembehandlung ist dies nicht immer förderlich. In diesem Lichte verstehen sich die folgenden Ausführungen als eine bewusst knapp gehaltene Fortführung jenes „Problemaufrisses“, den Friedrich Battenberg 2007 zum Thema bereits gezeichnet hat und dessen empirische Füllung weiterhin als Aufgabe der Forschung zu bezeichnen ist. 2

II. Der Aspekt der „Begrenzung“ jüdischen Lebens hat von einer allgemeinen und einer spezifischen Prämisse auszugehen. Zunächst bedarf die Ermittlung der elementaren Bedingungen jüdischen Lebens in der Frühen Neuzeit durchaus nicht der tiefgründigen historischen Exegese, sondern der Vergegenwärtigung allgemeiner gesellschaftlicher Voraussetzungen jener Zeit. Ein jeder Christ, dem es – abstrakt gesprochen – um die Integration in die traditionalistisch verfasste Gesellschaft zu tun war, sah sich schließlich ebenfalls mit kategorischen Exklusivitätsgrundsätzen konfrontiert: Wer nach Maßgabe von Herkunft, Religion und Konfession, Geschlecht, Ehrbarkeit und Wohlstand bzw. Steuerfähigkeit u.a.m. nicht duldungsfähig war, wurde – unter der theoretischen Annahme eines konsequenten Normenvollzugs – nicht geduldet, sondern verfolgt respektive marginalisiert und auf eine randständige, bestenfalls auf die Caritas gestützte Existenzform abgedrängt. Rechtliche und physische Niederlassung, Kauf, Anmietung oder Bau eines Hauses, Bildungserwerb und Ausbildung, Gewerbetätigkeit, Ausübung von Religiosität, Mobilität, Teilhabe an Formen der Soziabilität und an den Foren politischer Repräsentation, allen voran aber die vitalen Faktoren: Heirat, Sexualität und Fortpflanzung, Weitergabe der persönlichen Freiheit auf die Ehepartner, Kinder und die weitere Familie bis hin zum Recht auf ein würdiges Begräbnis – all dies und manches mehr berührte Grundkategorien menschlichen Daseins. Deren Regulierung oblag in der Frühen Neuzeit teils obrigkeitlicher Autorität, teils aber einer in den Verzweigungen der ständischen Gesellschaft informell verankerten und daher manchmal konsensuellen, oft aber umstrittenen Normierung. Auch für die Juden ergab sich Friedrich Battenberg zufol2

Vgl. Battenberg, Friedrich J.: Grenzerfahrung und Mobilität von Juden in der Vormoderne. Ein Problemaufriß. In: Kießling, Rolf (Hrsg.): Räume und Wege. Jüdische Geschichte im Alten Reich 1300-1800. Berlin 2007 (= Colloquia Augustana 25), S. 207-216.

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ge eine derartige „Konkurrenz verschiedener ‚rechtlicher Rahmenbedingungen‘“, die nicht allein in staatlicher Autorität, sondern auch in einer „Fülle von Rechtssätzen kraft sozialer Geltung“ begründet waren.3

III. Es gibt zwar durchaus Anhaltspunkte dafür, dass die augustinische Vorstellung, die Juden hätten ihren legitimen Platz in der christlichen Gesellschaft als Widerspiegelung ihrer Verworfenheit bzw. als designierte Objekte der christlichen Mission, auch in der gesellschaftlichen Praxis einen Niederschlag fand. Manche mehr oder minder konsequenten Ansätze zur Institutionalisierung der Judenmission, etwa in Form des „Domus Conversorum“ in England vom 14. bis zum frühen 17. Jahrhundert, zeugen davon. Bemerkenswerterweise findet man dieses Argument auch in den Präambeln mancher Judenordnungen im Alten Reich, in denen einerseits die Misslichkeit der Existenz des jüdischen Glaubens ausgesprochen, andererseits die Unterwerfung und Bewahrung der Juden zur Demonstration christlicher Wahrheit erhoben wurde. Die Folge war eine Separierung der Juden von der christlichen Gesellschaft um ihrer schieren Niederlassungsfähigkeit willen, wobei das kamerale Interesse des Gesetzgebers aber zweifelsfrei absoluten Vorrang vor allen anderen Erwägungen besaß. Der religiös definierte Status der Juden als einer inferioren und geradezu auch malignen Gruppe wurde seit dem Spätmittelalter bis noch in die Hochaufklärung hinein, da man im Sinne Christian Wilhelm Dohms (1751-1820) über die Notwendigkeit einer „bürgerlichen Verbesserung der Juden“4 zu sinnieren begann, von keiner Seite substanziell angezweifelt. Von diesem Axiom leitete sich ihre Abtrennung von der christlichen Gesellschaft als ein konstitutives Element ihres Daseinsrechts ab. Dies war im Übrigen kein Spezifikum der einen oder der anderen Konfession, sondern die Folge jener „normative[n] Zentrierung von Religion und Gesellschaft“,5 als welche Berndt Hamm die Reformation in ihrer Prozesshaftigkeit bezeichnet hat, die im Sinne der modernen Konfessionalisierungsforschung aber von allgemeiner Art und bereits deutlich in den judenfeindlichen Tendenzen der Reformbewegungen des 3

4 5

Battenberg, Friedrich: Rechtliche Rahmenbedingungen jüdischer Existenz in der Frühneuzeit zwischen Reich und Territorien. In: Kießling, Rolf (Hrsg.): Judengemeinden in Schwaben im Kontext des Alten Reiches. Berlin 1995 (= Colloquia Augustana 2), S. 53-79, hier S. 54. Vgl. Dohm, Christian Wilhelm von: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden. 2 Bde. Berlin 1781/83. Vgl. Hamm, Berndt: Reformation als normative Zentrierung von Religion und Gesellschaft. In: Jahrbuch für biblische Theologie 7 (1992), S. 241-279.

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späteren 15. Jahrhunderts angelegt war. Man sollte sich daher darüber im Klaren sein, dass die von den Fürsten im späten 16. Jahrhundert begonnene, nach dem Dreißigjährigen Krieg mehr oder minder planvoll betriebene Wiederansiedlung von Juden zu keiner Zeit zu den Herrschertugenden gezählt hatte, sondern, ganz im Gegenteil, als eine Normabweichung oder ganz konkret als Grenzüberschreitung empfunden wurde, wenn, wie beispielsweise im Herzogtum Württemberg, die Juden das ihnen zugewiesene Areal der Residenz überschritten. Diese Normabweichung wurde, sofern überhaupt, mit staatlichem Notstandsrecht – einer überhöhten Form der „necessitas“ – begründet. Im Zeichen des „bonum commune“ als Konsensgrundlage zwischen Fürsten und Ständen, so Volker Seresse, war die Durchsetzung von Staatsraison in der politischen Praxis des 17. Jahrhunderts jedoch keineswegs rundweg akzeptiert und wurde auch in der Folgezeit nicht bedenkenlos eingesetzt, weil sich die Landesfürsten für die Sicherung der „Nahrung“ und die Abwehr von „Schaden“ gegenüber ihren Untertanen verantwortlich sahen.6 Dies trifft auch und gerade auf die Behandlung der Juden zu, deren Zulassung seitens der Obrigkeiten einen augenscheinlich stets defensiven Anstrich hatte.

IV. Unter diesen Voraussetzungen konnte jüdisches Leben nicht anders als unter den Bedingungen individueller und korporativer Begrenzung gedeihen. Auf der individuellen Ebene kristallisierte sich diese Begrenzung durch die Institution des Geleits bzw. des Geleitsbriefs heraus, den zu besitzen oder zu entbehren über Bleiben oder Weichen entschied. Das Geleit ist damit zu den „grundlegenden Strukturelementen“ jüdischen Lebens im 17. und 18. Jahrhundert zu rechnen.7 Ungeachtet der somit erforderlichen Binnendifferenzierungen innerhalb des für die Juden geltenden Statuarrechts ist die Identifikation dieser Rechtsfigur in der Regel unproblematisch, worin gegenüber einer ansonsten meist verworrenen Materie ein heuristischer Vorteil zu sehen ist. In den Geleitsbriefen war in der Regel ziemlich genau der Bewegungs- und Handlungsraum seines Inhabers, Mobilität also im Allgemeinen, radiziert. 6

7

Vgl. Seresse, Volker: Politische Normen in Kleve-Mark während des 17. Jahrhunderts. Argumentationsgeschichtliche und herrschaftstheoretische Zugänge zur politischen Kultur der frühen Neuzeit. Epfendorf 2005 (= Frühneuzeit-Forschungen 12). So Johannes Mordstein in seiner vorzüglichen Fallstudie: Selbstbewußte Untertänigkeit. Obrigkeit und Judengemeinden im Spiegel der Judenschutzbriefe der Grafschaft Oettingen 1637-1806. Epfendorf 2005 (= Veröffentlichungen der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft, Reihe II, 2).

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Dass dies insbesondere für jüdische Kleinhändler von größter Bedeutung war, weil sich für sie hiermit der Marktzugang regulierte, liegt auf der Hand. 8 Entsprechendes gilt auf korporativer Ebene für die Generalgeleite der Judenschaften, die oft, allerdings nicht überall, durch Judenordnungen um detaillierte Verbote und Gebote ergänzt wurden. Man muss allerdings große regionale Unterschiede in Rechnung stellen – und eine grundsätzliche Überlegung berücksichtigen: Die Annahme, dass diese elementaren Lebensbedingungen durch die normativen Vorgaben einer jeweils berechtigten und daher autonom handelnden Obrigkeit bemessen wurden, ginge an den Realitäten vorbei. In der Praxis entsprangen Rechtssetzung und Rechtsdurchsetzung vielmehr einem Mixtum von Beziehungen der Juden zu unterschiedlichen in die Gesetzgebung involvierten Instanzen sowie aus dem Verhältnis dieser Instanzen zueinander. Jenseits des landesherrlichen Zugriffs waren die Juden zudem gewissermaßen in substrukturelle, lokale Regelkreise eingebunden: Hier traten Inhaber von Immunitäten, aber auch landesherrliche, kommunale oder auch kirchliche Beamte auf mittlerer oder unterer Ebene in rechtlich relevanter Weise in Aktion, sei es auf Grundlage eines verbrieften Titels, gewohnheitsmäßig oder auch innerhalb einer apparativen Grauzone, in die die Kontrolle der zentralen Obrigkeit nicht hinein langte. Die Vermessung dieser Regelkreise bedeutete aus der Sicht der beteiligten Instanzen oft die Entscheidung darüber, wer über welches geographische Areal welche Verfügungsgewalt besaß. In allen in Frage kommenden Territorien des Reichs, so auch im Nordwesten, waren deshalb Auseinandersetzungen über die zahlenmäßige Obergrenze der Geleite anzutreffen, und zwar auf zentraler wie lokaler Ebene. Der Kölner Kurfürst hielt etwa den Landständen nach langwierigen Debatten 1735 entgegen, er sehe sich ihnen gegenüber prinzipiell wie auch in Folge der aktuellen Landtagsabschlüsse „nit gebunden“, 9 denn schließlich sei er ein souveräner Fürst. Auseinandersetzungen über die numerische Obergrenze jüdischer Niederlassungen in den geistlichen Gebieten des rheinischwestfälischen Raums als Gegenstand von Landtagsverhandlungen sind daher in den Quellen ständischer und administrativer Provenienz mitunter Legion. Anders stellen sich die Verhältnisse in den Herzogtümern Jülich und Berg unter der Herrschaft der Herzöge von Kleve und ab 1609/1614 der Regenten der wechselnden pfälzischen Linien dar: Nach dem Dreißigjährigen Krieg erteilte man je länger desto mehr Geleitsbriefe, vermied dabei aber eine öffentliche Kodifizierung des Judenrechts und hielt sogar im Einklang mit den tradierten judenfeindlichen Bestimmungen der Landes- und Polizeyordnun8 9

Vgl. Treue, Wolfgang: In die „Jeschiwe“ und auf den Jahrmarkt. Jüdische Mobilität in Aschkenas in der Frühen Neuzeit. In: Kießling 2007 (wie Anm. 2), S. 191-205. Landesarchiv NRW, Abt. Rheinland (Standort Düsseldorf), Kurköln IV, 4568, fol. 285v286v (Hofkammerprotokoll vom 13.6.1725).

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gen die Fiktion aufrecht, es lebten gar keine Juden im Lande. Durchaus auch unter Grenzaspekten sind unter den skizzierten Voraussetzungen innerhalb der Herrschaftsgebiete des Alten Reichs in großer Zahl vor allem aber lokale Auseinandersetzungen um die Niederlassung von Juden zu fassen. Bei diesen Streitigkeiten zwischen lokalen Instanzen (Magistrate, Amtleute, Niederadlige, kirchliche Vertreter etc.), bei denen es insbesondere für die bedürftigen oder gar mittellosen Juden meist um Existenzielles ging, behielt oftmals nicht diejenige Seite die Oberhand, die die formalrechtlich überzeugendste Argumentation vorbringen konnte (d.h. in aller Regel: Privilegien zur Untermauerung des eigenen Standpunkts). Vielmehr spielte es eine große Rolle, wer über die tradierte Praxis in den Grenzen der jeweiligen Rechtsbezirke gesicherte bzw. glaubhafte Auskunft geben konnte. Auf nähere Ausführungen ist hier unter Verweis auf die Bedeutung von Binnengrenzen angesichts der angedeuteten Existenz autonomisierter Bereiche durch Immunitäten und Reservatrechte zu verzichten. Zu diesen Bereichen gehörten kleine, in ihrem verfassungsrechtlichen Status meist heftig umstrittene Adelsherrschaften, insbesondere auch im Rheinland, im östlichen Westfalen und in Ostfriesland. Das konsequente Fernhalten von Juden war dagegen eher typisch und im Selbstverständnis kommunaler Freiheit gewissermaßen systemisch für sogenannte Autonomiestädte in vielen Territorien des Alten Reiches (und als Massenphänomen in Polen-Litauen): Man hielt sich auf der Grundlage formell erteilter oder gewohnheitsrechtlich in Anspruch genommener Nichtduldungsprivilegien 10 für berechtigt, den Juden die Tore zu versperren, sofern sich nicht die Möglichkeit eröffnete, ihnen aus eigenem Recht die Niederlassungsfreiheit zu erteilen. Klare rechtliche Tatbestände waren aber selten gegeben. Das ständige Ringen um die Juden in der Frühen Neuzeit in lokalen Kontexten war somit von einer Informationskonkurrenz zwischen Obrigkeiten (Fürsten, Zentralverwaltungen) und den ihnen untergeordneten partikularen Instanzen geprägt, innerhalb derer austariert wurde, wessen Rechtsauslegung die höchste Verbindlichkeit beanspruchen konnte. Ein dritter wichtiger Aspekt des Themas ergibt sich aus dem sozialen Mechanismus von Ausgrenzung durch Eingrenzung. Die Bekämpfung der Interaktion zwischen Juden und Christen über reine Geschäftstätigkeiten hinaus hat eine je länger desto stärkere Normenproduktion ausgelöst. Wobei es bei den Normen nicht blieb: Wir wissen natürlich vom Hineinzwingen der Juden in Judenviertel – in Trier und nach diesem Vorbild in Bonn beispielsweise noch im 18. Jahrhundert, wenn nicht die kategorische Fernhaltung von Juden, 10

Maßgeblich hierzu ist Battenberg, Friedrich J.: Die „Privilegia contra Iudaeos“. Zur Privilegienpraxis der römisch-deutschen Kaiser in der Frühen Neuzeit. In: Dölemeyer, Barbara/Mohnhaupt, Heinz (Hrsg.): Das Privileg im europäischen Vergleich. Bd. 2. Frankfurt a.M. 1999 (= Ius Commune, Sonderheft 125), S. 85-115.

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wie in den Reichsstädten Köln und Aachen, betrieben wurde. In der Alltagsrealität finden sich viele Beweise für diesen oft genug allerdings vergeblichen Kampf gegen die Vermischung der Lebenssphären, gegen die gelebte Nachbarschaft in Theorie und Praxis also. Ein Beispiel ist die inkriminierte Praxis des Lichtzündens am Sabbat in Häusern von Juden durch Kinder christlichen Glaubens – nur eines von zahlreichen Indizien dafür, dass zwischen Christen und Juden nicht nur ideelle, sondern auch materielle Grenzen gezogen wurden, die aber letztlich durchlässig waren.

V. In einem letzten Schritt konkretisiert und materialisiert sich Begrenztheit der Lebenssphäre zur Grenze als Kontroll- und Vollzugsinstanz: Der Verfügungsanspruch der Obrigkeiten gegenüber den Juden setzte das technische Funktionieren der Grenzkontrolle voraus. Entsprechende normative Regelungen sind daher allerorten anzutreffen. In Preußen erforderte aus der Sicht der Regenten allein schon die fortwährende Abschöpfung von Geld von den Juden ein auf Grenzen basierendes Kontrollsystem. Dies korrelierte freilich mit allgemeinen fiskalpolitischen Maßnahmen wie der Einführung der Akzise seit dem späten 17. Jahrhundert. Eine der von den Juden erhobenen Zwangsabgaben war der stets als besonders herabwürdigend empfundene Leibzoll. Anfangs, d.h. 1671, den jüdischen Neusiedlern in Berlin erlassen, erfolgte per Verordnung vom Januar 1700 „zu Verhütung aller Unterschleife“ dann doch wieder dessen Einführung. 11 1717 wurde der Leibzoll in der Neumark annulliert, 12 in der Kurmark dagegen auf Intervention der Vertreter der Judenschaft erst 1787, also kurz nach dem Tod König Friedrichs. 13 Preußen ist freilich in der Gesamtschau des Reiches nicht als repräsentativ anzusehen. Nimmt man nochmals den rheinisch-westfälischen Großraum mit Ausnahme eben der früh preußisch gewordenen Territorien (Kleve, Mark, Ravensberg) 11

12 13

Verordnung vom 24.1.1700, Art. 3 (u.a. bei Stern, Selma [Hrsg.]: Der preußische Staat und die Juden. 8 Bde. Tübingen 1962-1975 (= Wissenschaftliche Abhandlungen des Leo-BaeckInstituts 7,1-2; 8,1-2; 24,1-2; 32), hier Bd. I,2, Nr. 246. Der Leibzoll war auch von nicht vergleiteten, fremden Juden zu entrichten; vgl. Verordnung vom 16.5.1706, ebd., Nr. 280. Vgl. das berühmt gewordene Privileg für 47 jüdische Familien in der Neumark vom 30.10.1717; dazu Stern (wie Anm. 11), Bd. II,1, S. 91f. Vgl. Kabinettsordre vom 12.12.1787 (nach der Verordnung vom 31.12.1787). In: Mylius, Christian Otto (Hrsg.): Novum Corpus Constitutionum Prussico-Brandenburgensium Praecipue Marchicarum, Oder Neue Sammlung Königl. Preuß. und Churfürstl. Brandenburgischer, sonderlich in der Chur- und Marck-Brandenburg, wie auch in andern Provintzien, publicirten und ergangenen Ordnungen, Edicten, Mandaten, Rescripten […]. Bd. 8. Berlin 1787, Nr. 112.

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in den Blick, so ist hier von einem mehr oder minder ‚grenzlosen‘ Zustand zu sprechen: Die administrative Verfügungsgewalt der Landesherren wurde dort mehr postuliert als in praxi auch realisiert, nicht zuletzt eben weil funktionsfähige Grenzbefestigungen nicht existierten. Für die Juden, die individuell wie korporativ in vielfältige Konflikte mit den lokalen Obrigkeiten verwickelt waren, bot sich hiermit – bei allen Beschwernissen, die dies im Einzelfall impliziert haben wird – oftmals die Möglichkeit zu einem Wechsel von Herrschaft zu Herrschaft. Besonders evident ist diese situativ bedingte innerjüdische Mobilität zwischen den Territorien Kurköln und Jülich, die mit bestimmten Einschränkungen durchaus als ein offener Siedlungsraum anzusehen sind. Ein funktionsfähiges Grenzsystem hätte nicht zuletzt effektivere repressive Maßnahmen gegen die sogenannten „Betteljuden“ vorausgesetzt. In der Logik der preußischen Gesetzgebung mussten dies keineswegs genuine „Bettler“ sein, denn alle nicht Niederlassungsberechtigten fielen aus dem gesetzlichen Rahmen heraus und wurden der im 18. Jahrhundert immer größer werdenden Masse der Gesetzlosen zugeordnet. Dass die erzwungene Entrechtung auch von genuinen Pauperisierungstendenzen unter den Juden begleitet wurde, ist dabei unbestritten. In Preußen erging deshalb 1780 ein Berliner Edikt Friedrichs II. „wegen der überhandnehmenden fremden BettelJuden“. 14 Selbst sich ausweisende fremde Juden sollten an den Grenzen zurückgewiesen werden, mit Ausnahme nur der Besucher der Frankfurter Messe, denen vom „Grenz-Zoll-Amt“ ein „Attest“ beizugeben sei über Wohnund Zielort, Anzeige der Geschäftstätigkeit, Beschreibung der Person mit Größe, Alter, Bart- und Haarfarbe und besonderen Kennzeichen. Über die Umsetzung dieser Direktiven ist in den preußischen Verwaltungsakten, insbesondere in den seriell überlieferten Korrespondenzen der in den 1720er Jahren gegründeten Kriegs- und Domänenkammern mit den Lokalverwaltungen bzw. Magistraten, manches zu erfahren. Allerdings steht die Forschung hier noch weitgehend in den Anfängen. 15 Zur Behebung oder vielmehr zur Bekämpfung der im 18. Jahrhundert immer größer werdenden Unterschichtenproblematik reagierte der aufgeklärtabsolutistische Staat aus seinem notorischen Unverständnis für sozialökonomische Kausalitäten, und dies in aller Regel mit rein repressiven Mitteln. Diese richteten sich prinzipiell gegen alle sich der staatlichen Kontrolle entziehenden niederen sozialen Gruppen – so auch und gerade in Preußen und

14 15

Erneuertes und geschärftes Edict wegen der überhandnehmenden fremden Bettel-Juden, Berlin, 12.12.1780. In: Mylius (wie Anm. 13), Bd. 6. Berlin 1780, Nr. 21. Ein hervorragendes Forschungsbehelf bietet im gegebenen Zusammenhang Kohnke, Meta (Bearb.): Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz. Teil I. München 1999 (= Quellen zur Geschichte der Juden in den Archiven der neuen Bundesländer 2).

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auch und gerade im Krisenjahrzehnt vor der Französischen Revolution. 16 Im gegebenen Fall ist allerdings auf die spezifisch antijüdische Politik Friedrichs des Großen zu verweisen, der sich zweier Mittel bediente: erstens der bereits angeklungenen Verweigerung des Schutzrechts für nachgeborene Kinder jüdischen Glaubens per Gesetz seit 1750, zweitens der Verlegung der Juden auf die Städte und die rigorose Grenzkontrolle. 17 Denn, so in der schon genannten Verordnung von 1780, damit die Lande von unerlaubten Juden „gereiniget werden“, sollen die „Judenältesten oder Vorsteher jeden Orts“ alle am Ort lebenden Juden binnen vier Wochen dem jeweiligen Magistrat melden. 18 Die Magistrate sollen dem „Commissarius loci“ Meldung tun, dieser soll der Kriegs- und Domänenkammer Anzeige machen. Die Aufgreifung und Arrestierung unvergleiteter Juden oblag am Ende der Befehlskette den „PoliceyAusreutern“. 19 1758 wurden nach turnusmäßig durchgeführten Hausdurchsuchungen die Juden aus vielen Haushalten vertrieben, immer häufiger auch unter Einsatz von Soldaten. Erzwungene Grenzüberschreitungen als Reaktion auf repressives obrigkeitliches Verhalten prägten somit in ungezählten, da weithin unerforschten Fällen die Realität der sozial unterprivilegierten jüdischen Bevölkerung. Die zahllosen siedlungspolitisch relevanten Maßnahmen der Obrigkeiten gegenüber den Juden führten in der Konsequenz dazu, dass sich Zentren jüdischen Lebens sehr häufig in Grenzregionen konzentrierten – beispielsweise in der preußischen Neumark, von wo aus niederlassungsberechtigte jüdische Händler oft nach Pommern handelten, wo noch restriktivere Bedingungen herrschten. 1753 verfügte König Friedrich II. dagegen, „die schlechten und geringen Juden“ an die nahe der polnischen Grenze gelegenen Kleinstädte umzusiedeln – um Beschwerden der Stände abzustellen und die Juden als Händler preußischer Manufakturwaren nach Polen hinein zu instrumentalisie16

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Ich verweise generell auf die Studien von Karl Härter, u.a.: Zur Stellung der Juden im frühneuzeitlichen Strafrecht. Gesetzgebung, Rechtswissenschaft und Justizpraxis. In: Gotzmann, Andreas/Wendehorst, Stephan (Hrsg.): Juden im Recht. Neue Zugänge zur Rechtsgeschichte der Juden im Alten Reich. Berlin 2007 (= Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 39), S. 347-379. In diesem Zusammenhang ist maßgeblich auf die aktuellen Publikationen von Tobias Schenk zu verweisen, insbes. auf seine Dissertationsschrift: Wegbereiter der Emanzipation? Studien zur Judenpolitik des „Aufgeklärten Absolutismus“ in Preußen (1763-1812). Berlin 2010 (= Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 39). Erneuertes und geschärftes Edict wegen der überhandnehmenden fremden Bettel-Juden, Berlin, 12.12.1780. In: Mylius (wie Anm. 13), Bd. 6. Berlin 1780, Nr. 21, Punkt 10. Instruktion für die „Policey-Ausreuter“ der Mittel-, Ucker- und Altmark u. Prignitz, Berlin, 23.2.1754. In: Mylius (wie Anm. 13), Bd. 1. Berlin 1754, Nr. 13, Punkt 15,1 und Auszug aus einer übergeordneten Instruktion für die „Ausreuter“, Berlin, 25.3.1754 (ebd., Nr. 27, hier Punkte 10 und 15).

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ren. 20 Unter dem Strich ist somit entsprechend eine Häufung von Konflikten um jüdische Niederlassungen bzw. Individuen an der Peripherie von Herrschaftsräumen festzustellen, also in Grenznähe.

VI. Grenzerfahrungen im Sinne der Erfahrung von Grenze bildeten im kollektiven wie im individuellen Horizont der Menschen jüdischen Glaubens in der Frühen Neuzeit eine Konstante. Eine Phänomenologie dieser Konstante liegt allerdings noch nicht vor, weil auch die Phänomenologie jüdischer Lebenserfahrungen bislang höchstens punktuell entwickelt wurde. Am Weitesten ist man hier mit Blick auf die sogenannten Hofjuden und die sephardischen, dann auch die aschkenasischen Fernhändler in den holländischen Städten und in London gekommen. Die Niederlande bildeten angesichts der dort seit dem 17. Jahrhundert weitenteils herrschenden Bekenntnisfreiheit in der Tat einen Sonderfall, dessen Komplexität an dieser Stelle nicht abgebildet werden kann. 21 Was das Reich mit seinen norddeutschen Siedlungen in Emden, vor allem aber Hamburg, Glückstadt oder Stade und einigen jüdischen Exulantenansiedlungen wie in Fürth und Hanau anbetrifft, so haben wir hier Angehörige einer Wirtschaftselite vor uns, für die Grenzüberschreitungen in der Tat genauso wie für die aschkenasischen „Hoffaktoren“ an Normalität heranreichten und für die sich ansatzweise auch Aussichten auf eine bürgerliche Integration boten – freilich ohne Bürgerrecht. Aber es ist eben die exklusive Oberschicht, die natürlich in einem verschwindend geringen Zahlenverhältnis zur Masse jener einfachen, meist auf das Land versprengten Leute stand, die ebenfalls aktenkundig geworden sind. Für die empirisch in den Quellen fundierte Forschung bergen diese kulturellen Prozesse von Inklusion und Exklusion im Horizont der jüdischen wie der nicht-jüdischen Geschichte diesseits aller theoretischen Durchdringung nach wie vor große Herausforderungen.

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Reskript Friedrichs II. an die Kammern in Preußen (Ostpreußen), 9.8.1753. In: Mylius (wie Anm. 13), Bd. 1. Berlin 1753, Nr. 50. Für die Gesetzeskompilation Mylius’ wie für ähnliche Werke des 18. Jahrhunderts gilt, dass sie im Zusammenhang der Grenzthematik eine Fülle normativer Quellen bergen, die in Einzelfällen durchaus valide Rückschlüsse auf die soziale Praxis erlauben. Vgl. etwa die Beiträge zur Frühen Neuzeit bei Kaplan, Joseph (Hrsg.): The Dutch Intersection. The Jews and the Netherlands in Modern History. Leiden u.a. 2008 (= Brill’s Series in Jewish Studies 38).

FRANK POHLE

Kloster – Territorium – Ordensprovinz Zur Mobilität von Ordensleuten im Rhein-Maas-Raum im 17. und 18. Jahrhundert

Ordensgeistliche, durch ihre Kleidung und Lebensweise als Angehörige distinkter Gruppen erkennbar, gehörten zu den typischen Grenzgängern der Frühen Neuzeit, sind aber bislang unter dem Gesichtspunkt ihrer Mobilität kaum untersucht.1 Da aber die Angehörigen nicht aller Orden gleichermaßen mobil gewesen sind, beschränken sich die folgenden Ausführungen auf solche geistlichen Gemeinschaften, in denen prinzipiell Mobilität herrschte und der Schritt über die Klosterschwelle nicht bereits eine Ausnahme darstellte – die großen Bettelorden und, an herausgehobener Stelle, die Jesuiten, denen man die Reiselust über alle Grenzen hinweg „usque ad ultimum terrae“ ja schon fast sprichwörtlich nachsagt: „Join the Jesuits – see the world“.2 Ignatius von Loyola und seine Gefährten waren davon überzeugt, dass eine zeitgemäße Seelsorge Mobilität voraussetze. Wenn es im Zuge der raschen Ausbreitung des Ordens auch zur Ausbildung fester Institutionen kommen sollte, die die Jesuiten langfristig banden, so blieb doch der Gedanke der Sendung ein zentraler: Der Jesuit geht dort hin, wohin ihm der Papst und seine 1

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Für den Rhein-Maas-Raum liegen keine einschlägigen Studien unter dem Gesichtspunkt der „Grenzüberschreitung“ vor. Der Überblicksaufsatz von Braun, Guido: Deutsche Präsenz in Frankreich, französische Präsenz in Deutschland von 1648 bis 1789. Überblick und Probleme der Forschung. In: Francia 35 (2008), S. 381-430 behandelt Ordensleute nicht; sie fallen in Brauns Terminologie am ehesten unter die „beruflich bedingten Migrationsbewegungen“, die jedoch am Beispiel des Militärs nur kurz angerissen sind. Jendorff, Alexander: Römischer Katholizismus als Kulturtransfer. Die Gesellschaft Jesu und die Implementierung tridentinischer Religionskultur. In: Fuchs, Thomas/Trakulhun, Sven (Hrsg.): Das eine Europa und die Vielfalt der Kulturen. Kulturtransfer in Europa 1500-1850. (= Aufklärung in Europa 12), S. 109-136 kommt für die hier angerissene Fragestellung keine Bedeutung zu, da der Orden als solcher, nicht aber die Mobilität der einzelnen Mitglieder im Fokus der Betrachtung steht. So etwa noch kürzlich Rhodes, Elizabeth: „Join the Jesuits, See the World“. Women and the Society of Jesus. In: O’Malley, John W. u.a. (Hrsg.): The Jesuits II. Cultures, Sciences and the Arts, 1540-1773. Toronto 2006, S. 33-47. Zur Verwendung des ignatianischen Mottos „usque ad ultimum terrae“ in der jüngeren Forschungsliteratur vgl. etwa Meier, Johannes (Hrsg.): „... usque ad ultimum terrae“. Die Jesuiten und die transkontinentale Ausbreitung des Christentums 1540-1773. Göttingen 2000 (= Studien zur Außereuropäischen Christentumsgeschichte 3).

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Oberen zu gehen befehlen; er führt ein Leben auf Abruf, das sich nur zeitweise, in der Ausübung seiner Sendung, auch örtlich verstetigt. 3 Ein hohes Maß von Mobilität bis hin zu Tätigkeiten in den außereuropäischen Missionen stellte ein besonderes Unterscheidungsmerkmal der Jesuiten gegenüber anderen Ordensgemeinschaften dar und war ein wichtiger Bestandteil des Ordensprofils. 4 Auch in den Bettelorden war die Mobilität ihrer Angehörigen von Anfang an ausgeprägt. Franziskus und Dominikus organisierten ihre Orden als internationale Gemeinschaften und richteten sie auf ein Wanderleben aus, im Idealfall ohne Bindung an irdischen Besitz und dazu bestimmt, das Vertraute zu verlassen, um in der Fremde den Fremden das Evangelium zu predigen. Noch in der Frühen Neuzeit zeichnete sich die Mobilität in den Bettelorden gerade der franziskanischen Ordensfamilie durch eine ausgeprägte Versetzungspraxis aus; 5 alltägliche Mobilität war durch das Terminieren innerhalb fester Bezirke, 6 durch die Übernahme auswärtiger Messstipendien und Kate-

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Der Begriff der „Sendung“ innerhalb der Gesellschaft Jesu, seine Verankerung in den Constitutiones des Ordens und sein Zusammenhang mit der ignatianischen Spiritualität sind bereits umfassend, wenn auch meist im Zusammenhang mit der Betätigung des Ordens in der Weltmission untersucht. Es sei hier nur verwiesen auf Otto, Joseph Albert: Wesen und Werden des ignatianischen Missionswillens. In: Missionswissenschaft und Religionswissenschaft 3 (1940), S. 109-127 und Huonder, Anton: Der hl. Ignatius von Loyola und der Missionsberuf der Gesellschaft Jesu. Aachen 1922 (= Abhandlungen aus Missionskunde und Missionsgeschichte 35); zur älteren Literatur vgl. ferner Polgár, Lászlo: Bibliographie sur l’histoire de la Compagnie de Jésu, 1901-1980. Bd. 1. Rom 1981, S. 386-390. Vgl. Nebgen, Christoph: Missionarsberufungen nach Übersee in drei Deutschen Provinzen der Gesellschaft Jesu im 17. und 18. Jahrhundert. Regensburg 2007 (= Jesuitica 14), S. 120, 244. Dies gilt insbesondere für „Spezialisten“ wie die Lehrpatres der Schulen und die Lektoren der Ordensstudien sowie jene, die für Leitungsfunktionen innerhalb des Ordens qualifiziert waren. So ist etwa der Minorit P. Athanasius Opladen 1761-1769 in verschiedenen Funktionen (Guardian und Vikar) im Kloster Neersen, 1769-1771 als Guardian in Monschau, 1771-1773 wieder in Neersen, 1775 als Guardian in Ratingen nachgewiesen, 1776-1779 in Duisburg, 1779-1782 in Oberwesel, 1782-1784 wieder in Ratingen, 1784-1787 in Lennep und ab 1787 als Vikar wieder in Neersen. Vgl. Pohle, Frank: Glaube und Beredsamkeit. Katholisches Schultheater in Jülich-Berg, Ravenstein und Aachen (1601-1817). Münster 2010 (= Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 29), S. 767. Das Versetzungsverhalten der Dominikaner ist für die Frühe Neuzeit bisher kaum untersucht; da das Netz ihrer Ordensniederlassungen viel weitmaschiger war als bei den Orden der franziskanischen Ordensfamilie und der Zuschnitt ihrer Ordensprovinzen im Kontext dieses Aufsatzes eine Vergleichbarkeit erschwert, bleiben sie im Folgenden ausgeklammert. Die Terminierbezirke bedurften der bischöflichen wie landesherrlichen Genehmigung, und bei deren Zuschnitt waren auch Absprachen mit anderen Bettelordensklöstern von Vorteil, wenn nicht gefordert. Es bildeten sich so relativ fixe Räume aus, deren Überschreitung Sanktionen nach sich zog, wenn sie mit dem Ausüben bestimmter Handlungen verbunden war. Im Falle von Streitigkeiten zwischen weltlicher Obrigkeit und Orden gehörte es zu

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chismusverpflichtungen bis hinunter zu einfachen Ordensbrüdern unerlässlich. Es ist jedoch schwierig, zwischen Mobilität und Migration der Ordensgeistlichen strikt zu unterscheiden, da die Absicht, sich an einem neuen Ort dauerhaft niederzulassen, zwar den hier behandelten Orden als Organisation, nicht aber dem einzelnen Ordensgeistlichen eignete, der mit seiner Abberufung spätestens nach einigen Jahren rechnen musste. Von Migrationsbewegungen ließe sich nur dann sprechen, wenn man den Begriff als dauerhaften Wechsel von Bezugsnetzwerken (als Gesamtheit möglicher Aktions- und Interaktionsräume) versteht, innerhalb derer Mobilität möglich ist, aber auch das hat seine Tücken: Ein Jesuit aus Köln etwa, der für die Guaraní-Mission ausgewählt wurde, 7 lässt sich mit den Parametern der ordensüblichen Mobilität nur noch schwer fassen – ohne ihnen jedoch gänzlich zu entschlüpfen, denn seine Bindung an die Niederrheinische Ordensprovinz stand nicht in Frage. Er galt ordensrechtlich gleichsam als „Leihgabe“ an die Mission, auch wenn er sich recht sicher sein konnte, dass seine neue Sendung eine lebenslängliche werden würde. 8

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den drastischsten Mitteln, den Mönchen das Terminieren innerhalb der territorialen Grenzen zu verbieten. Er konnte damit rechnen, seiner neuen Aufgabe bis an sein Lebensende nachzukommen. P. Florentius Consbruch (Coesfeld 1687-1753 Manila) etwa, Jesuit seit 1705, lebte von 1723 bis zu seinem Tod in Asien, P. Georg Deitermann (Münster 1692-1740 Bengalen), Jesuit seit 1710, war von 1726 bis zu seinem Tod in Indien, P. Everhard Hellen (Xanten 1679-1757 Tepotzotán), Jesuit seit 1699, seit 1718 in Mexiko und Niederkalifornien tätig. Eine Rückkehr war gleichwohl nicht gänzlich ausgeschlossen: P. Peter Kreis (Amel 16871736 Siegen), Jesuit seit 1706, wirkte eine Zeit lang auf den Antillen und kehrte dann an seinen Geburtsort Siegen zurück. Vgl. das bei Nebgen 2007 (wie Anm. 4) im Anhang ausgebreitete biographische Material. Vgl. dazu auch Duhr, Bernhard: Geschichte der Jesuiten in den Ländern deutscher Zunge. 4 Bde.; Bde. I-II Freiburg i.Br. 1907/13, Bde. III-IV München/Regensburg 1921/28, hier Bd. IV, 2, S. 516-519, der die große Anhänglichkeit der Missionare an ihre Heimatprovinzen durch Zitate aus einem regen und sehr persönlichen Briefwechsel unterstreicht. Aus den zitierten Zeugnissen geht hervor, dass die in die Mission entsandten Jesuiten den Status als Angehörige der sie entsendenden Provinzen nicht durch die Unterstellung unter die Missionsoberen verloren. Ähnlich verhält es sich mit jenen Ordensangehörigen, die nach den Ausweisungen der Jesuiten aus den spanischen und portugiesischen Kolonialgebieten nach Europa zurückkehrten, denn sie wurden von ihren Heimatprovinzen durchaus noch immer als ihre Angehörigen betrachtet und behandelt. Von P. Matthias Scherpenzeel (1720-?), Jesuit seit 1738, nach der Priesterweihe 1749 in Köln tätig und 1752 in die indischen Missionsgebiete entsandt, heißt es noch im Personalkatalog der Niederrheinischen Provinz 1771/72, er befände sich gegenwärtig in „India orientalis“; ein vollständiges Überwechseln der Person etwa in die Ordensprovinz Goa erfolgte nicht. Vgl. Huonder, Anton: Deutsche Jesuitenmissionäre des 17. und 18. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Missionsgeschichte und zur deutschen Biographie. Freiburg i.Br. 1899, S. 178; Schüller, Andreas: Die Volkskatechese der Jesuiten in der Stadt Köln (1586-1773). In: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 114 (1929), S. 34-86; Audenaert, Willem (Hrsg.): Proso-

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Im Folgenden sei daher allgemein von „Mobilität“ die Rede, wenn gefragt wird: Wie bewegten sich die Ordensmänner im Rhein-Maas-Raum, genauer: Welche Erfahrung machten sie dort mit territorialen Grenzen? Was ist spezifisch für ihre Gruppe? Welche anderen „Grenzerfahrungen“ räumlicher und Räume konstituierender Art machten sie?

Bedeutung territorialer Grenzen Im Mobilitätsverhalten des Ordensklerus spielten Territorialgrenzen als solche – dies als These – bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts hinein eine eher untergeordnete Rolle. Zu beachten ist zwar die Rolle der Territorien im Prozess der Ausbreitung eines Ordens, nicht aber im Hinblick auf die individuelle Mobilität der Ordensangehörigen. Im 16. und 17. Jahrhundert, auch noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts überschritten Ordensleute Territorialgrenzen in der Regel ohne Probleme. In katholischen Territorien unterlagen sie keinen Reisebeschränkungen, auch die Jesuiten bewegten sich im katholischen Europa bis zu den Verboten des Ordens in den bourbonischen Staaten weitestgehend unbehelligt. 9 Innerhalb der katholischen Territorien hing es sehr von den ordnungspolitischen Vorstellungen der jeweiligen Obrigkeiten ab, ob sie die Personalbewegungen der Ordensleute überhaupt registrierten – insbesondere wenn es sich um Geistliche auf der Durchreise handelte. Es fällt zudem auf, dass Berichte von Ordensleuten über Reiseschwierigkeiten Grenzfragen kaum berühren. Sie klagen über den Zustand der Reisewege und über ungenügende Reisemittel, über schlechte Gasthöfe

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pographia Iesuitica Belgica Antiqua (PIBA). A biographical dictionary of the Jesuits in the Low Countries 1542-1773. 4 Bde. Leuven-Heverlee 2000, hier Bd. III, App. I, und Pohle 2010 (wie Anm. 5), S. 375, Anm. 632. Nebgen 2007 (wie Anm. 4), S. 64f. machte auf eine kolorierte Karte der Provinzen der deutschen Assistenz im Archivum Romanum Societatis Iesu (Germ. 190) aufmerksam, die neben den Territorien der einzelnen Provinzen auch ein Schiff zeigt, mit dem die „Indipetae Socii“, die in die Mission entsandten Genossen, auf dem Weg zu ihren neuen Wirkungsstätten sind: Sie sind Teil der Deutschen Assistenz, aber in territorialen Karten kaum zu erfassen. Auf staatliche Repressionsmaßnahmen, die in größeren Kontexten auch die Ausweisung von Jesuiten nach sich ziehen konnten, sei jedoch schon für das 17. Jahrhundert hingewiesen: Aus Böhmen wurde die Gesellschaft Jesu 1618 für kurze Zeit, aus Venedig 1606 für lange Jahre ausgewiesen. Vgl. Kroess, Alois: Geschichte der böhmischen Provinz der Gesellschaft Jesu, nach den Quellen bearbeitet. Bd. 1: Geschichte der ersten Kollegien in Böhmen, Mähren und Glatz von ihrer Gründung bis zu ihrer Auflösung durch die böhmischen Stände 1556-1619. Wien 1910 (= Quellen und Forschungen zur Geschichte, Literatur und Sprache Österreichs und seiner Kronländer 11) und Signorotto, Giovanni Vittorio: Venezia e il ritorno dei Gesuiti (1606-1657). In: Rivista di storia e letteratura religiosa 28 (1992), S. 277-317.

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und über Räuber, 10 behandeln Grenzübertritte aber zumeist nur dann, wenn sie mit dem Überschreiten konfessioneller oder signifikanter natürlicher Grenzen wie Flüssen und Gebirgen verbunden waren. In katholischen Gebieten konnten Territorialgrenzen allerdings die Art oder Form der Aktivitäten bestimmen, die die Ordensgeistlichen ausüben durften. Deutlich wird dies am Beispiel der Volksmissionen am Niederrhein: 11 1715 griffen dort die Jesuiten der Jülisch-Bergischen Mission auf Wunsch der Kurfürstin Anna Maria Luisa de’ Medici für ihre Arbeit die italienische Segneri-Methode auf. 12 Diese Methode beinhaltete nun aber auch 10

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Einen Ausweis im engeren Sinne mussten sie nicht mitführen. Oftmals trugen sie jedoch eine Art Beglaubigungsschreiben mit sich, mit dem sie sich ihren eigenen Ordensangehörigen gegenüber ausweisen konnten. Ignatius riet, dass die Provinz- oder Hausoberen den reisenden Jesuiten zu diesem Zwecke Empfehlungsschreiben mitgeben – es habe nämlich in Italien Betrüger gegeben, die sich Essen und Unterkunft und andere Wohltaten in Verkleidung erschlichen hätten. Vgl. Duhr 1907 (wie Anm. 8), S. 577. Um 1710 gehörten zur Niederrheinischen Provinz ein gutes Dutzend Volksmissionen, von denen zwei für den Niederrhein selbst maßgeblich sind: die Jülisch-Bergische Mission (1690-1794) und die Eifelmission (1704-1794). Daneben berührten auch die Luxemburger Mission (begr. 1665) und die Nassauer Mission (begr. 1683) gelegentlich das Territorium der Herzogtümer Jülich und Berg, ohne dort jedoch eine planmäßige, systematische Arbeit zu leisten. Die Jülisch-Bergische Mission mit Sitz in Düsseldorf war eine Gründung der Landesherrin Maria Anna von Österreich. Ihr Tätigkeitsgebiet blieb im Wesentlichen auf die Herzogtümer Jülich und Berg beschränkt, wenngleich sie vereinzelt auch über diese Grenze hinaus vor allem im Gebiet der unteren Maas wirkte und sich zeitweise sogar in der Kurpfalz betätigte. 1704 trat ihr die Eifelmission zur Seite, die aus Mitteln der Elisabeth Gertrud Charlotte von Palandt-Gladbach eingerichtet worden war und den südlichen Kölner Kurstaat wie den Eifelraum verstärkt abdeckte. Die Pfarreien zwischen Bonn und Gerolstein bildeten das Zentrum ihrer Aktivität. Die Missionare waren dem Kolleg in Münstereifel angegliedert, bezogen aber ein eigenes Quartier auf dem Michelsberg unweit der Stadt, wo sie auch den Wallfahrtsbetrieb betreuten. Durch missionsfremde Territorien konnten die Missionare bei Bedarf durchreisen, aber keine eigenständigen Aktivitäten entfalten. Sie wählten jedoch mitunter Grenzpfarren als Missionsorte, um auch die Bevölkerung außerhalb des eigentlichen Tätigkeitsgebiets ansprechen zu können. Vgl. Füssenich, Karl: Die Volksmission in den Herzogtümern Jülich und Berg während des 18. Jahrhunderts. In: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 78 (1904), S. 117-141; Schüller, Andreas: Die Entwicklung der Volksmissionen im Rheinland und in Westfalen. Ein Überblick (17. und 18. Jahrhundert). In: Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland 171 (1923), S. 317-327; ders.: Die Eifelmission der Jesuiten 1704-1773. In: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 121 (1932), S. 79-130; Nellessen, Ernst: Zur Geschichte der Jesuitenmission in den Herzogtümern Jülich und Berg. In: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 171 (1969), S. 175-199; Wahle, Walter: Die Missionen der Jesuiten zu Arnsberg. Paderborn 1995 und Bers, Günter: Jülich in Sack und Asche. Religiöse Massenphänomene in einer rheinischen Stadt im Jahre 1715. In: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 102 (1999/2000), S. 185-217. Die Reisewege der Mission sind in den ersten Jahren nach Übernahme der Segneri-Mission besonders gut dokumentiert. Der Auftakt war für den 4. April 1715 in Düsseldorf angesetzt. Am 3. Mai erreichten die Missionare Jülich, am 14. Mai Mönchengladbach, dann

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Bußprozessionen mit Kreuzträgern und Geißelgruppen, wie sie das Kölner Generalvikariat erst 1689 und nochmals 1702 verboten hatte. 13 Noch im Todesjahr der Kurfürstin 1717 rang sich Kurköln zu einem generellen Verbot nächtlicher Prozessionen und Geißelungen durch, die allerdings in JülichBerg eine nicht beanstandete Praxis unter dem Schutz des Herrscherhauses blieben. 14 Die Missionare mussten also ihre Methoden durchgreifend ändern, je nachdem, in welchem Territorium sie gerade operierten. Aber damit ließ sich leben. Territoriale Grenzen gewannen schlagartig an Gewicht, wenn sie zugleich konfessionelle Grenzen markierten oder ihre Überschreitung den Übertritt in einen anderskonfessionellen Machtbereich bedeutete. Gerade in der Beispielregion gestalteten sich derartige konfessionelle Grenzen überaus vielfältig; nur in wenigen Fällen fielen territoriale Grenzen zugleich auch mit den konfessionellen Grenzen zusammen, und die nominelle Zugehörigkeit einzelner Herrschaftsräume zu bestimmten Bekenntnissen führte nicht auch zu eindeutigen Reaktionen auf unterer Ebene. Hinzu kam eine lange Phase konfessioneller Uneindeutigkeit und Unordnung, die erst gegen Ende des 16. Jahrhunderts zuende ging. 15 Noch 1583 begründete der Rheinische Jesuitenprovinzial

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Brüggen und Heinsberg, am 11. Juni Richterich bei Aachen, am 22. Juni Düren, am 4. Juli Aachen, dann Monschau, am 24. Juli Münstereifel, 31. Juli Euskirchen, 9. August Siegburg, 19. August Mülheim am Rhein, am 4. September Anholt, 16. September Ravenstein und Anfang Oktober Sittard. Im Anschluss kehrten die Missionare nach Düsseldorf zurück, um dort den Winter zu verbringen. Die Missionare folgten also nicht immer einer „rationalen“ Reiseroute. 1716 ging die Missionsreise von Düsseldorf zunächst nach Megen, dann weiter nach Roermond, Wassenberg, Gemert, Erkelenz und Thorn (also mehr oder weniger entlang der Maas und unter Einschluss von Orten außerhalb des Herzogtums Jülich), um dann in der zweiten Hälfte der Saison ins Bergische überzuwechseln und sich dort einstweilen ebenfalls an den Hauptstädten zu orientieren: Ratingen, Wipperfürth, Sinzig und Breisig (wieder im Jülichschen). Anschließend griff die Missionsarbeit auf die Pfalz aus, wohl auf besonderen Wunsch des Kurfürsten – auf Mannheim, Mosbach, Weinheim und Neuburg a.d. Donau. Auch kleinere Orte am Weg wie Beuel und Wadenheim, Adendorf, Flamersheim und Frauenberg wurden von den Missionaren besucht. 1717 waren das Rurtal und die Eifel bis hinein ins Erfttal an der Reihe: Zülpich, Bürvenich, Nideggen, Lammersdorf, Pier, Langerwehe, Eschweiler, Aldenhoven, Broich, Stolberg, Simmerath, Konzen, Heimbach, Olef, Oberdrees, Hochkirchen, Buir, Bergheim und Kaster. Für den Besuch von Orten außerhalb der Herzogtümer Jülich und Berg holten die Missionare jeweils die Genehmigung des Landesherrn in Düsseldorf sowie der jeweils zuständigen Obrigkeiten ein. Vgl. Pohle 2010 (wie Anm. 5), S. 615, Anm. 498. Vgl. Niessen, Carl: Nachträge zur alten Kölner Theatergeschichte. In: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 40 (1966), S. 130-178, hier S. 147 und Becker, Thomas Paul: Konfessionalisierung in Kurköln. Untersuchungen zur Durchsetzung der katholischen Reform in den Dekanaten Ahrgau und Bonn anhand von Visitationsprotokollen 1583-1761. Bonn 1989 (= Veröffentlichungen des Stadtarchivs Bonn 43), S. 211f. Vgl. Schüller 1932 (wie Anm. 11), S. 86f. Vgl. grundlegend Schindling, Anton/Ziegler, Walter (Hrsg.): Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500-1650. Bd.

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Coster die Anschaffung eigener Pferde damit, dass zuweilen auf Reisen Gefahren von Häretikern drohen, so dass man sich in Eile entfernen müsse, was zu Fuß oder mit dem Wagen nicht möglich sei. 16 In der Rheinischen Provinz reisten Jesuiten zudem bis zum Ende des 16. Jahrhunderts bewaffnet und nicht im Ordensgewand, denn, so hieß es, das Reisen ohne Waffen sei gegen die Landessitte und lüde zu dem Missverständnis ein, man sei Jude oder Wiedertäufer; Reisende im Ordensgewand seien bei der Durchquerung von protestantischen Dörfern und Städten Schmähungen ausgesetzt. 17 Die Beispiele zeigen, dass Probleme bei territorialen Grenzüberschreitungen weniger in scharfen Grenzlinien als in den durch diese abgeschiedenen Aktions- und Interaktionsräumen begründet liegen, die sich in unterschiedlicher, nicht näher definierter Entfernung zur Grenzlinie konstituierten. Dass eine Grenze tatsächlich als Linie erfahrbar ist, ist selten – kommt aber vor. Ein prägnantes Beispiel stellen die Grenzkapellen in den katholischen Herrschaften entlang der Ostgrenze der Generalitätslande dar, in denen katholischen Priestern jede Betätigung untersagt war. Da den Katholiken in NordBrabant wiederum zeitweise verboten war, zum Gottesdienst in Nachbarterritorien auszulaufen, entstanden direkt an der Grenze Kapellenbauten, in denen die Priester auf katholischem Territorium zelebrieren, die Gläubigen aber notfalls auch auf dem Territorium der Generalstaaten der Messe beiwohnen konnten. 18 Hier war ein Wissen um die Grenze als Linie und um ihren genauen Verlauf unumgänglich, um den Aktionsraum grenzüberschreitend zu konstituieren.

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3: Der Nordwesten. Münster 1991 (= Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung 51). Vgl. ferner Franzen, August: Die Herausbildung des Konfessionsbewußtseins am Niederrhein im 16. Jahrhundert. In: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 158 (1956), S. 164-209; Coenen, Dorothea: Die katholische Kirche am Niederrhein von der Reformation bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts. Untersuchungen zur Geschichte der Konfessionsbildung im Bereich des Archidiakonats Xanten unter der klevischen und brandenburgischen Herrschaft. Münster 1967 (= Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 93); Dietz, Burkhard/Ehrenpreis, Stefan (Hrsg.): Drei Konfessionen in einer Region. Beiträge zur Geschichte der Konfessionalisierung im Herzogtum Berg vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Köln 1999 und Molitor, Hansgeorg: Das Erzbistum Köln im Zeitalter der Glaubenskämpfe 1515-1688. Köln 2008 (= Geschichte des Erzbistums Köln 3). Vgl. Duhr 1907 (wie Anm. 8), S. 578. Vgl. ebd., S. 580. Vgl. Jong, Dominicus de: Grenskapellen voor de katholieke inwoners der Generaliteitslanden. Tilburg 1963.

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Grenzen der Ordensprovinzen Eine sehr viel stärkere Bedeutung als die territorialen Grenzen hatten für die Mobilität der hier untersuchten Ordensgeistlichen die Grenzen der Ordensprovinzen. Diese Akkumulationen von Standorten (und der von ihnen aus unter geographischen, politischen, sprachlichen und kulturellen Gründen zweckmäßig erreichbaren Aktionsräume) bildeten in nur geringem Maße Kontaktzonen aus. Ein Blick in die Personallisten der Ordensprovinzen lässt zwar anhand der Namen eine gewisse „Internationalität“ vermuten, wie sie ja auch aus Sachzwängen vielfach durchaus wünschenswert war. Um diese Internationalität herzustellen, waren jedoch kaum Versetzungen über die Provinzgrenzen hinweg nötig: Nahezu alle Jesuiten, deren Muttersprache nicht Deutsch war, kamen schon als Schüler oder Studenten in die Rheinische bzw. Niederrheinische Provinz und hatten dann dort auch den Ordenseintritt vollzogen. 19 Dass sich im 17./18. Jahrhundert zahlreiche Wallonen und Flamen, auch Italiener und Engländer im Personal der Niederrheinischen Provinz finden lassen, ist nicht primär das Resultat einer international ausgerichteten Versetzungspraxis des Ordens, sondern einer internationalen Studienlandschaft, in der sich mit Latein als lingua franca noch trefflich überleben ließ, während die praktische Seelsorge dann doch sehr viel solidere Kenntnisse der Volkssprache erforderte – welche sich aber bis zum Ordenseintritt auch hatten aneignen lassen. Möglichkeiten der Versetzung an Standorte außerhalb der eigenen Ordensprovinz gab es kaum. Sie erforderten besondere Anträge, die den Zweck der Versetzung plausibel begründeten, und eine Notwendigkeit, die die Oberen nachzuvollziehen bereit waren. Ein Leben für die Weltmission, das Kennenlernen neuer Formen der Seelsorge oder medizinisch notwendige Genesungsaufenthalte in besonderen Heilbädern waren im Einzelfall genehmigungsfähige Begründungen. Auch das Erlernen einer für die Arbeit in der eigenen Provinz unabdingbaren Sprache konnte – wiederum im Einzelfall – als Versetzungsgrund über die Provinzgrenzen hinaus herhalten. 20 Der Ex19

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Die Aussage stützt sich auf eine Stichprobenerhebung in den Personalkatalogen der Niederrheinischen Ordensprovinz im Archivum Romanum Societatis Iesu in Rom und im Historischen Archiv der Stadt Köln. Eine systematische Untersuchung ist noch nicht geführt. „Erlernen einer Sprache“ konnte auch das Erlernen einer anderen Mundart bedeuten: Die Verbreitung des Oberdeutschen als Schrift- und Predigtsprache am Niederrhein im 16./17. Jahrhundert ist nur durch Lernprozesse der Prediger selbst, unter denen die Jesuiten eine führende Stellung einnahmen, zu erklären. Vgl. dazu grundlegend Breuer, Dieter: Oberdeutsche Literatur 1565-1650. Deutsche Literaturgeschichte und Territorialgeschichte in frühabsolutistischer Zeit. München 1979 (= Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, Beiheft B 11) und Macha, Jürgen: Rheinische Sprachverhältnisse im 17. Jahrhundert. In:

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tremfall hinsichtlich der Möglichkeiten jesuitischer Mobilität stellte die Entsendung in eines der Missionsgebiete Ost- und Westindiens dar, wenn auch der Personenkreis derjenigen, die insbesondere aus den rheinischen Ordensprovinzen in die Missionsgebiete entsandt wurden, höchst überschaubar war; für Jesuiten der niederländischen Ordensprovinzen standen die Aussichten auf eine Tätigkeit in der Weltmission nicht zuletzt aus politischen Gründen wesentlich besser. 21 Aus den übrigen Gründen versetzte Jesuiten aber machten eine verschwindend kleine Gruppe aus. Im „Regelbetrieb“ kam selbst zwischen unmittelbar benachbarten Ordensprovinzen in unserem Raum kaum ein personeller und kultureller Austausch zustande. Zwischen den deutschen und den niederländischen Provinzen geht der Austausch gegen Null. Die jüngst erschienene Prosopographia Iesuitica Belgica Antiqua, die neben der Belegschaft der niederländischen Ordensniederlassungen auch Jesuiten aus anderen Provinzen anführt, die nur zeitweise in den Niederlanden tätig waren, verzeichnet für die Zeit zwischen etwa 1580 und 1773 ganze sechs Ordensangehörige aus der Provincia Rheni Inferioris 22 – quantité négligeable. Angesichts der geringen Kontakte bildeten sich zwischen den Ordensprovinzen „kulturelle Diskrepanzen“ heraus, wenn sich diese auch im Detail schwer bestimmen lassen. Die Niederdeutsche, Kölnische, Sächsische und Thüringische Ordensprovinz der Franziskanerrekollekten etwa unterschieden sich im Hinblick auf ihre Bereitschaft, Schulen zu gründen. 23 Die Provinzen der Jesuiten kannten – trotz des oft beschworenen Zentralismus des Ordens – jeweils eigene Sitten und Gebräuche, die durch Ausnahmegenehmigungen sogar von jenen Regeln abweichen konnten, die für den Gesamtorden eigentlich verbindlich waren. 24 Darüber hinaus lässt sich selbst bei den Jesuiten ein

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Rheinische Vierteljahrsblätter 57 (1993), S. 158-175. Im 18. Jahrhundert hingegen wurde der oberdeutsche Dialekt, der sich in Westfalen ohnehin keiner sonderlichen Beliebtheit erfreute, eher hinderlich im Umgang mit dem einfachen Volk; die oberdeutschen Jesuiten Loferer und Herdegen drängten auf baldige Ablösung in der Jülisch-Bergischen Volksmission, da sie immer wieder auf sprachlich bedingte Akzeptanzprobleme stießen. Vgl. Nebgen 2007 (wie Anm. 4), S. 236. Vgl. hierzu, aber mit im Detail widersprüchlichen Zahlen, die Studien von Nebgen 2007 (wie Anm. 4) und Glüsenkamp, Uwe: Das Schicksal der Jesuiten aus der Oberdeutschen und den beiden Rheinischen Ordensprovinzen nach ihrer Vertreibung aus den Missionsgebieten des portugiesischen und spanischen Patronats (1755-1809). Münster 2008 (= Spanische Forschungen der Görresgesellschaft, 2. Reihe, 40). Vgl. Audenaert 2000 (wie Anm. 8). Wenn auch das dort präsentierte Material lückenhaft ist, ist das Ergebnis in der Tendenz doch aussagekräftig. Vgl. grundlegend die Ergebnisse der Arbeit von Kistenich, Johannes: Bettelmönche im öffentlichen Schulwesen. Ein Handbuch für die Erzdiözese Köln 1600 bis 1850. 2 Bde. Köln/Weimar/Wien 2001 (= Stadt und Gesellschaft – Studien zum Rheinischen Städteatlas 1). Vgl. mehrere Ordnungen regionaler oder lokaler Gültigkeit bei Pachtler, Georg Michael (Hrsg.): Ratio Studiorum et Institutiones Scholasticae Societatis Jesu per Germaniam olim

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deutliches Unterscheiden in Ordensbrüder aus der eigenen Provinz und „Auswärtigen“ feststellen. So beschweren sich etwa die Aachener Jesuiten regelmäßig über die vielen Gäste aus den niederländischen und französischen Ordensprovinzen, die sie während der Heiligtumsfahrt durchzufüttern hatten, 25 und ein noch auf das späte 16. Jahrhundert zurückgehender „Katalog der Gastfreundschaft“ unterschied zwischen Ordensbrüdern aus der eigenen und solchen aus einer fremden Ordensprovinz: So wurden allen Gästen aus fremden Provinzen bei ihrer Ankunft grundsätzlich die Füße gewaschen; Jesuiten aus der eigenen Provinz kamen nur dann in den Genuss dieser Geste, wenn sie von weither kamen und die Fußwaschung nicht etwa schon in einem anderen, nahe gelegenen Kolleg erfolgt war. 26 Leicht möglich war die Überschreitung der Grenzen der Ordensprovinzen allerdings im Gefolge der Fürsten, als Hofbeichtväter also, als Prinzenerzieher oder in diplomatischen Diensten, als Sekretär eines Nuntius oder als Militärseelsorger. 27 Einige Kurfürsten von Köln nahmen Franziskanerrekollekten als Hofkapläne, die auch auf Reisen zu ihrer Begleitung gehörten. 28 In Bezug auf die Jesuiten etablierte sich auf diesem Wege am Niederrhein ein im ganzen reger Personalaustausch zwischen Düsseldorf in der Niederrheinischen und Neuburg an der Donau in der Oberdeutschen Provinz; Jesuiten aus Neuburg bildeten das Gründungspersonal des Düsseldorfer Kollegs, da sie im Gefolge Pfalzgraf Wolfgang Wilhelms an den Niederrhein gekommen wa-

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vigentes collectae concinnatae dilucidatae a G.M. Pachtler S.J. 4 Bde. Berlin 1887-1894 (= Monumenta Germaniae Paedagogica 2, 5, 9, 16). Vgl. Brecher, August: Die kirchliche Reform in Stadt und Reich Aachen von der Mitte des 16. bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts. Münster 1957 (= Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 80/81), S. 357. Zur Aachener Heiligtumsfahrt als bedeutendem Wallfahrtsereignis vgl. einführend Beissel, Stephan: Die Aachenfahrt. Verehrung der Aachener Heiligtümer seit den Tagen Karls des Großen bis in unsere Zeit. Freiburg i.Br. 1902; Schiffers, Heinrich: Kulturgeschichte der Aachener Heiligtumsfahrt. Köln 1930 und Lermen, Birgit/Wynands, Dieter: Die Aachenfahrt in Geschichte und Literatur. Aachen 1986. Vgl. Duhr 1907 (wie Anm. 8), S. 581. Generell ist freilich zu bedenken, dass sich die Ordensleitung mit der Freigabe von Jesuiten als Hofbeichtväter und Ratgeber im Gefolge der Fürsten im 16. und 17. Jahrhundert schwer getan hat. Man wollte lieber keine Beichtväter schicken, um nicht in die Politik hineingezogen zu werden, und die Frömmigkeit der Patres fern vom Hofleben erhalten – oder doch zumindest selbst einen geeigneten Pater auswählen dürfen. Hofbeichtväter besaßen die Protektion ihres Fürsten; die Interessen der Fürsten regierten in die Gesellschaft Jesu hinein, was nicht geschätzt wurde, da es den Ordensgeist zersetze. Vgl. Duhr 1907 (wie Anm. 8), S. 686. Es wurde zudem versucht, die „Hofjesuiten“ nicht auch noch bei Hofe Wohnung nehmen zu lassen, sondern sie nach Möglichkeit in dem Kolleg der Residenzstadt unterzubringen. Ein Argument für die Gründung der Jesuitenresidenz in Jülich bestand darin, dass man den Jesuiten im Gefolge des Herzogs, wenn dieser sein Residenzschloss in der Zitadelle Jülich aufsuche, ein geeignetes Unterkommen im Kreise der Ordensgemeinschaft bieten müsse. Vgl. Pohle 2010 (wie Anm. 5), S. 182. Vgl. Pohle 2010 (wie Anm. 5), S. 874.

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ren. 29 Wenn der Herzog von Jülich-Berg zudem einen Beichtvater aus der Oberdeutschen Provinz wählte, konnte dieser relativ sicher sein, in der Niederrheinischen Provinz zugleich Rektor des Düsseldorfer Kollegs zu werden, auch wenn er seinen Status als Angehöriger „seiner“ Ordensprovinz nie wirklich verlor und nach Beendigung des Beichtigeramtes in aller Regel in den alten Wirkungskreis zurückkehrte. 30

Gruppenspezifische Merkmale, Homogenität der Gruppen Ordensleute zeichnet sicherlich – insbesondere in Friedenszeiten – ein gruppenspezifisches Mobilitätsverhalten aus, wenn auch die Bewegungsmuster einzelner Ordensgemeinschaften spezifischer herauszuarbeiten sind. Bei den Jesuiten etwa herrschte innerhalb der Ordensprovinzen eine ausgeprägte, vor allem für den Bildungsgang des Ordensnachwuchses verbindliche Versetzungspraxis vor, die sich auch im späteren Ordensleben noch innerhalb gewisser Muster fortsetzte. Hinzu kamen typische Mobilitätsanforderungen, die sich nach den Tätigkeitsbereichen der einzelnen Ordensmitglieder richteten, sei es in der Landkatechese, 31 sei es in den Volksmissionen. Der vielfache Wechsel der Ämter und Bestimmungsorte und die vielen Visitationen 32 bedingten weitere Reisen, regelmäßige Zusammenkünfte wie Provinzialkongregationen, Rektorenkonferenzen oder Generalkongregationen nötigten Funktionsträgern ein hohes Maß an Reisebereitschaft ab. 33 29

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Vgl. kurz Duhr 1913 (wie Anm. 8), Bd. 2, S. 269 und Duhr 1921 (wie Anm. 8), S. 860-896. Bezüge finden sich auch bei anderen Ordensgemeinschaften: Als Herzog Philipp Wilhelm 1661 das Neuburger Karmeliterinnen-Kloster stiftete, kamen die ersten sechs Nonnen des Konvents aus Düsseldorf. Vgl. Jaitner, Klaus: Die Konfessionspolitik des Pfalzgrafen Philipp Wilhelm von Neuburg in Jülich-Berg von 1647-1679. Münster 1973 (= Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 107), S. 27. Umgekehrt war etwa P. Theodor Rhay, gebürtig aus Rees und mehrfach Rektor des Dürener Kollegs, zeitweise Instruktor der Neuburger Prinzen und Superior der Jesuitenresidenz im neuburgischen Sulzbach. Als Reisebegleiter für seine Söhne auf ihrer Grand Tour wählte Herzog Philipp Wilhelm Jesuiten aus beiden Ordensprovinzen: P. Herwartz aus der Niederrheinischen und P. Dirrhaimer aus der Oberdeutschen Provinz. Die Beichtväter der Herzöge Wolfgang Wilhelm und Philipp Wilhelm kamen in der Regel aus der Oberdeutschen Provinz (Ausnahme: P. Otterstedt); erst Kurfürst Johann Wilhelm wählte seine Beichtväter aus der Niederrheinischen Provinz. Vgl. Pohle 2010 (wie Anm. 5), S. 137, 295f. Katechismusunterricht als Grund für Mobilität griff allerdings eher innerhalb eines Territoriums, da nur der fußläufig erreichbare Raum im unmittelbaren Umfeld einer größeren Ordensniederlassung mit solchen Aktivitäten bedacht wurde. Vgl. Pohle 2010 (wie Anm. 5), S. 580-585. Vgl. Duhr 1907 (wie Anm. 8), S. 576. In der Versetzungspraxis lässt sich vielfach beobachten, dass spezialisierte oder besonders erfahrene Kräfte für einzelne Aufgaben an unterschiedlichen Standorten herangezogen

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In Krisenzeiten, vor allem während des Dreißigjährigen Krieges, lassen sich allerdings innerhalb der Ordensprovinzen kaum noch Regeln für eine ordnungsgemäße Versetzungspraxis erkennen. 34 In großer Hast wurden die Lücken gestopft, wie es eben ging, die besondere Eignung der Versetzten für die ihnen zugedachten Aufgaben spielte eine untergeordnete Rolle, die Häufigkeit der Versetzungen und damit die Mobilität des Personals nahm rapide zu – aber dies war nicht der angestrebte „Normalfall“. Dieser „Normalfall“ konnte sogar einschränkend auf die Mobilität der einzelnen Ordensleute wirken, wenn die Praxis Versetzungen innerhalb kleinerer Räume anstrebte. Selbst innerhalb einer Ordensprovinz konnte einge-

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wurden. Insbesondere besonders befähigte Ordensangehörige – in Leitungsfunktionen erfahrene Patres etwa oder Künstler – waren im Dienste ihres Ordens zu großer Mobilität gezwungen. Auch versetzten etwa die Bettelorden erfahrene Kräfte im Zuge von Schulneugründungen an die entsprechenden Klöster und machten – wie auch die Jesuiten in der Gründungsphase umstrittener neuer Niederlassungen – in erkennbarem Maße von Einheimischen Gebrauch, da diese als Wegbereiter des Ordens dienen und ihre persönlichen und familiären Kontakte nutzen konnten. Prägnant ist in dieser Hinsicht das Vorgehen der Jesuiten in Düren: 1628 kamen auf Wunsch des Landesherrn und gegen beträchtliche Widerstände der Stadt die Patres Nikolaus Lehm und Hubert Reuter als Vorhut der Jesuiten nach Düren, Söhne hoch angesehener Dürener Schöffenfamilien. Vgl. Schoop, August: Beiträge zur Schul- und Kirchengeschichte Dürens. In: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 26 (1904), S. 278-326, hier S. 296f. und Pohle 2010 (wie Anm. 5), S. 170, 210. Wenig später stieß P. Everhard Meyradt zu ihnen, Sohn eines bedeutenden Grundbesitzers in Düren, dessen Erbe den Standort langfristig sicherstellen konnte. Vgl. Geuenich, Josef: Zur Geschichte des Jesuitenhofes in Düren. In: Dürener Geschichtsblätter 63 (1974), S. 101-110 und Pohle 2010 (wie Anm. 5), S. 172, 210. Vgl. ferner für die Gruppe der Künstler und Kunsthandwerker Christoph Wamser, der als Architekt in der ganzen Rheinischen Provinz umherreiste und etwa für die Jesuitenkirchen in Köln und Molsheim, eventuell auch für Aachen verantwortlich zeichnete, oder Fr. Johann Münch (1599-1658), ein Bildhauer, der sein Können u.a. in Aachen, Koblenz, Trier und Münster unter Beweis stellte. Fr. Bernhard Fuckeradt (1601-1662), der als Maler für die Ausstattung von Kirchen und Festsälen sorgte, führte sein Lebensweg sogar über die Grenzen der Ordensprovinz hinaus, da es seine Oberen für nötig erachteten, ihn eine Weile im Atelier von Peter Paul Rubens in Antwerpen hospitieren zu lassen. Vgl. Schild, Ingeborg: Die Bauten der Jesuiten in Aachen. In: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 106 (2004), S. 207-301, hier S. 231 und Braun, Joseph: Die Kirchenbauten der deutschen Jesuiten. Ein Beitrag zur Kulturund Kunstgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts. 2 Bde. Freiburg i.Br. 1908/10, passim. Dies lässt sich sowohl aus den Personalkatalogen der Niederländischen wie der Niederrheinischen Ordensprovinz ableiten und zeigt sich besonders da, wo es gewöhnlich ausbildungsbedingte mehrjährige Aufenthalte an einem Ort geben müsste. Ein besonders drastisches Beispiel für Auflösungserscheinungen der Ordensstrukturen stellt aber die Oberrheinische Provinz der Gesellschaft Jesu im Dreißigjährigen Krieg dar: Die Jesuiten waren gezwungen, fast alle Ordensniederlassungen in diesem Gebiet zeitweilig aufzugeben, und lebten über halb Europa verstreut. Vgl. Duhr 1913 (wie Anm. 8), Bd. 1, S. 143; Nebgen 2007 (wie Anm. 4), S. 83f. und bes. Heinrich Schrohe: Zur Geschichte der oberrheinischen Jesuitenprovinz im 17. und 18. Jahrhundert. In: Freiburger Diözesan-Archiv NF 27 (1926), S. 227-253.

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schränkte Mobilität herrschen: In den letzten Jahren vor der Aufhebung der alten Societas Jesu etwa schälten sich allmählich innerhalb der Niederrheinischen Provinz zwei größere Versetzungsbereiche heraus: Rheinland einerseits und Westfalen mit Norddeutschland andererseits – Versetzungen zwischen beiden Bereichen nahmen bis 1773 immer mehr ab, so dass sich eine Teilung der Niederrheinischen Ordensprovinz wohl abzeichnete, wegen der Aufhebung des Ordens aber nicht weiterverfolgt werden konnte. 35 Es lassen sich also gewisse Charakteristika in den Wanderungsbewegungen der Ordensleute feststellen, die von ihrer Ausbildung, ihrem Amt und ihrer Sendung abhingen, die in Friedenszeiten phasenweise durchaus planbare Elemente umfassten, in der Regel auf die Territorien innerhalb der eigenen Ordensprovinz beschränkt blieben und sich – wiederum in der Regel – innerhalb der Ordensprovinzen auf die katholischen bzw. katholisch regierten Territorien konzentrierten.

Veränderungen im Laufe des 18. Jahrhunderts Mit fortschreitender Territorialisierung und mit der Ausdehnung der staatlichen Zuständigkeiten im 18. Jahrhundert erhöhte sich die Bedeutung der territorialen Grenze auch für den Ordensklerus schnell. Versuche, den Ordensklerus als Untertanen zu behandeln und staatlich zu disziplinieren, finden sich allenthalben. Kurtrier verfügte etwa in den 1760er Jahren weit reichende Schulreformen, die den Jesuiten und Franziskanern völlig neue Stundenpläne und Schulbücher bescherten, mit denen sie außerhalb Kurtriers wenig anzufangen wussten. 36 Die Josephinischen Reformen drängten in den Habsburgischen Niederlanden ab 1786 auf eine Zentralisierung und Vereinheitlichung der Klerikerausbildung unter staatlicher Aufsicht, in deren Rahmen die Ausbildung und Vermittlung einer bestimmten Ordensspiritualität nicht mehr vorgesehen war. Kurfürst Karl Theodor, auch Landesherr in Jülich-Berg, erzwang 1769/70 sogar bei allen großen Orden die Gründung eigener, auf Bayern zugeschnittener Ordensprovinzen, in denen zu fünf Sechsteln nur noch „Landeskinder“ tätig sein und die aus den Ordenshierarchien weitgehend herausgelöst werden sollten. 37 35 36

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Vgl. Clemens Steinbicker: Westfalen in der niederrheinischen Provinz der Gesellschaft Jesu 1626-1773. In: Beiträge zur westfälischen Familienforschung 51 (1993), S. 149-223. Die Schulreformen auf der Ebene von Territorialstaaten im 18. Jahrhundert waren ein ernstes Problem für die Orden (Jesuiten wie unterrichtende Bettelorden). Vgl. Kistenich 2001 (wie Anm. 23), passim und Pohle 2010 (wie Anm. 5), S. 310-326. Vgl. Duhr 1928 (wie Anm. 8), Bd. 1, S. 222-224. Die überzähligen „Auswärtigen“ hatten die neue Provinz zu verlassen. Auch war verfügt, dass die neue Ordensprovinz künftig nicht mehr den Ordensgeneralen unterstellt sein solle, von diesen oder von anderen Pro-

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Die zunehmende Territorialisierung des 18. Jahrhunderts, die fraglos auf die Zerschlagung älterer, konkurrierender räumlicher Strukturen abzielte, führte also auch zu einer merklichen Einschränkung der Mobilität des Ordensklerus. Staatlich begründete, ordensähnliche Kongregationen auf der Ebene von Territorialstaaten für die Exjesuiten nach 1773/74 belegen dies überdeutlich. 38

Fazit Für den Ordensklerus zeichnet sich anhand der gewählten Beispiele ab, dass Territorialgrenzen als solche bei der Mobilität dieser Gruppe bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts hinein eine untergeordnete Rolle spielten; konfessionelle Grenzen besaßen für sie eine weit höhere Bedeutung. Insbesondere die Grenzen der eigenen Ordensprovinzen, die auch unter Berücksichtigung sprachlicher und kultureller Unterschiede zustande gekommen waren, ermöglichten einerseits die Mobilität der Ordensleute, indem sie einen größeren geographischen Aktionsrahmen absteckten, beschränkten sie aber zugleich in erheblichem Maße. Der Eindruck, es handele sich bei manchen Ordensgemeinschaften – und dabei insbesondere bei den Jesuiten – gleichsam um frühneuzeitliche Reiseagenturen mit Clubmitgliedschaft, wie es aus populäreren Darstellungen mitunter herauszulesen ist, ist für die Lande an Rhein und Maas falsch. „Join the Jesuits – see the world“? Die Wahrscheinlichkeit für den einzelnen Jesuiten, tatsächlich „die Welt“ zu sehen, war eher gering. Dem Franziskaner erging es kaum anders, im Gegenteil: Seine Ordensprovinzen an Rhein und Maas waren noch kleinräumiger zugeschnitten als die der Jesuiten. Doch blieb ihm noch der Trost eines Vordringens in ungeahnte Welten: „Join the Franciscans – see outer space.“

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vinzen keine Visitatoren mehr annehme und auch kein Geld an die Ordenszentrale oder an andere Provinzen überweise. Die Aufhebung der alten Gesellschaft Jesu gestaltete sich von Territorium zu Territorium höchst unterschiedlich; vgl. dazu jüngst Glüsenkamp 2008 (wie Anm. 21), S. 135-160. Eine Geschichte der Exjesuiten-Kongregationen am Niederrhein ist noch nicht geschrieben.

CHRISTOPH KAMPMANN

Der Tod des Herrschers als Grenze und Übergang Die normative Funktion der Herrschermemoria in der Frühen Neuzeit

Am 22. Juni 1634 wurde der 20 Monate zuvor bei Lützen gefallene König Gustav II. Adolf in der Stockholmer Riddarsholm-Kirche feierlich beigesetzt. 1 In den Monaten zuvor war eine Fülle von Flugschriften erschienen, die immer wieder an den König erinnerten, seine Taten feierten und sein Vermächtnis beschworen. 2 Ein Leitthema dieser Publizistik wurde prägnant von einem großformatigen Flugblatt erfasst, das den aufgebahrten Monarchen zeigte, unter der geradezu provozierend klingenden Überschrift „In regem non mortuum“: Für den König, der nicht gestorben ist. 3 Das Flugblatt spielte dabei mit dem doppelten Bedeutungsgehalt dieses Widmungsspruchs. Auf der einen Seite wurde er religiös verstanden: Der König sei vom irdischen Leben in die Unvergänglichkeit eingegangen. 4 Wohl noch wichtiger war eine zweite Bedeutungsebene. Der König lebe, so wurde in dem Flugblatt betont, in seiner Erinnerung, in seiner Memoria fort. Dadurch sei er als lebendes Vor-

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Vgl. zu den Trauerfeierlichkeiten und zur Leichenpredigt, in deren Mittelpunkt der Heldentod des Judas Makkabäus für Israel stand, Oredsson, Sverker: Die Erinnerung an Gustav Adolf in Deutschland und Schweden. In: Reichel, Maik/Schuberth, Inger (Hrsg.): Gustav Adolf, König von Schweden. Die Kraft der Erinnerung 1632-2007. Dößel 2007, S. 1726, hier S. 17. Eine Zusammenstellung zahlreicher deutschsprachiger Flugschriften zum Tode Gustav Adolfs findet sich bei Tschopp, Silvia Serena: Heilsgeschichtliche Deutungsmuster in der Publizistik des Dreißigjährigen Krieges. Pro- und antischwedische Propaganda in Deutschland 1628-1635. Frankfurt a.M. 1991 (= Mikrokosmos 29), S. 341-349, laufende Nrn. 104139. Zur Untersuchung der entsprechenden schwedischen Publizistik liegen lediglich ältere Untersuchungen vor, wenn ich richtig sehe; vgl. z.B. Arnoldsson, Sverker: Krigspropagandan i Sverige före trettioåriga kriget. In: Göteborgs Högskolas Ǻrsskrift 47 (1941), S. 3-33. Abdruck der Flugschrift in Harms, Wolfgang: Deutsche illustrierte Flugblätter des 16. und 17. Jahrhunderts. Bd. 4. Tübingen 1983, Nr. 226. Vgl. zu diesem Flugblatt auch Tschopp 1991 (wie Anm. 2), S. 177f. Zum Motiv des Märtyrertodes und der Christusähnlichkeit in der posthumen Publizistik über Gustav Adolf vgl. Tschopp 1991 (wie Anm. 2), S. 175f., 178f.; Mörke, Olaf: „Der Schwede lebet noch“. Die Bildformung Gustav Adolfs in Deutschland nach der Schlacht von Lützen. In: Reichel/Schuberth 2007 (wie Anm. 1), S. 83-92, hier S. 88.

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bild nach wie vor mitten unter den Seinen präsent und gebe ihnen Kraft: „Per mea funera vivo“. 5 Diese beschwörende Formel vom verstorbenen König, der doch gar nicht tot sei, sondern durch seine Memoria mitten unter den Lebenden bleibe und sie durch sein Exempel mahne und ansporne, führt direkt in die zentrale Thematik dieses Themenblocks: Die Formel beleuchtet schlaglichtartig, welche Bedeutung die Herrschermemoria für die Menschen in der Frühen Neuzeit besaß, um die Herausforderung zu bewältigen, die der Herrschertod als Grenze und Übergang für die monarchisch verfassten frühmodernen Gesellschaften darstellte. Schon seit langem wird in der Historiographie darauf hingewiesen, wie sehr gerade im Herrschertod die strukturelle Krisenanfälligkeit des frühmodernen monarchisch-dynastischen Staats sinnfällig wird und welche Bedrohung von dieser Grenze im frühneuzeitlichen Europa prinzipiell ausging. Dies gilt vor allem für den Herrschertod als Grenze und Übergang zur Herrschaft seines Nachfolgers. Jeder Herrschertod wurde in den nach wie vor personalistisch verfassten monarchischen Gemeinwesen der Frühen Neuzeit als markanter Bruch in der Kontinuität der Herrschaft empfunden – ein Bruch, der die staatliche Stabilität insgesamt erschüttern konnte. 6 Der Grad der Bedrohung war natürlich nicht immer gleich. Es gab Situationen, in denen dieser Kontinuitätsbruch in besonders ausgeprägter Weise deutlich wurde. Dies galt etwa, wenn mit dem Tod des Monarchen die ganze Dynastie ausstarb oder wenn der Tod eines Monarchen eine tiefe Lücke in die politische und militärische Führung riss, weil kein mündiger Thronfolger vorhanden war und eine Regentschaftsregierung folgte – wie es bei Gustav Adolf der Fall war. Johannes Kunisch gebührt das Verdienst, in seinen Arbeiten sehr eindringlich auf die grundsätzliche Strukturschwäche hingewiesen zu haben, die die personelle Verfasstheit für die monarchisch-dynastischen Gemeinwesen der Frühen Neuzeit darstellte. 7 Kunisch war es auch, der in seinen Forschungen herausgearbeitet hat, dass sich die politischen Führungsgruppen dieser Bedrohung vollständig bewusst waren und dass sie institutionell darauf zu reagieren suchten. Eine Antwort stellten die Ehe- und Erbschaftsverträge sowie die Sukzessionsordnungen in der Frühen Neuzeit dar, die uns in hoher

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Vgl. zum Bezug dieses Zitats aus dem unter Anm. 3 genannten Flugblatt zur Memoria Tschopp 1991 (wie Anm. 2), S. 77. Vgl. Mörke 2007 (wie Anm. 4), S. 90. Vgl. zur personalisierten Staatsbildung Kunisch, Johannes: Fürst – Gesellschaft – Krieg. Studien zur bellizistischen Disposition des absoluten Fürstenstaates. Köln/Weimar/Wien 1992, S. 23-27.

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Zahl überliefert sind und selbstverständliches Mittel der Staatenpolitik des Ancien Régime waren. 8 Insgesamt war den Versuchen, sich gegen den Kontinuitätsbruch, den der Herrschertod bedeutete, institutionell zu sichern, nur begrenzter Erfolg beschieden. Der Erbfolgekrieg blieb Teil der politischen Normalität. Hier lag, wie Johannes Burkhardt herausgestellt hat, eine der Wurzeln der „Bellizität“ des frühmodernen Staates. 9 In diesem Zusammenhang ist entscheidend, dass die Menschen während der Frühen Neuzeit die Herausforderung des Herrschertods keineswegs nur auf institutioneller Ebene zu bewältigen versuchten. Dies nun führt zum eingangs genannten Quellenbeispiel zurück. Man versuchte, die Kontinuität der monarchischen Herrschaft auch dadurch sinnfällig zu machen, dass das Leben und die Lebensleistung des verstorbenen Herrschers über seinen Tod hinaus vergegenwärtigt wurden. Dabei wurde die gesamte Vielfalt der medialen Formen genutzt, die in der Frühen Neuzeit zur Verfügung stand. Indem der Verstorbene präsent blieb, versuchte man, der Grenze des Herrschertods etwas von seinem bedrohlichen Charakter zu nehmen. 10 Dies ist der Ort der Herrschermemoria, 11 die uns in breiter Form überliefert ist. Nicht zufällig wurde die Herrschermemoria gerade in den Situationen wirksam, in denen der Herrschertod im oben genannten Sinne die Krisen8

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Vgl. Kunisch, Johannes: Hausgesetzgebung und Mächtesystem. Zur Einbeziehung hausvertraglicher Erbfolgeregelungen in die Staatenpolitik des Ancien Régime. In: ders. (Hrsg.): Der dynastische Fürstenstaat. Zur Bedeutung der Sukzessionsordnungen für die Entstehung des frühmodernen Staates. Berlin 1982, S. 49-80. Vgl. zur grundsätzlichen Problematik zuletzt Knöfel, Anne-Simone: Dynastie und Prestige. Die Heiratspolitik der Wettiner. Köln u.a. 2009, S. 79-81. Eine weitere Erforschung dieser Ehe- und Erbregelungen und ihrer vertraglichen Vorbereitung bleibt trotz dieser Ansätze im Übrigen eine Aufgabe der Frühneuzeitforschung, wegen ihrer Bedeutung für die innere und äußere Sicherheit der frühmodernen Fürstenstaaten, aber auch wegen ihrer Brisanz in zeremoniell-repräsentativer Hinsicht. Vgl. Burkhardt, Johannes: Die Friedlosigkeit der Frühen Neuzeit. Grundlegung einer Theorie der Bellizität Europas. In: Zeitschrift für Historische Forschung 24 (1997), S. 509-574, hier S. 538-541. Vgl. auch Duchhardt, Heinz: Europa am Vorabend der Moderne 16501800. Stuttgart 2003, S. 22: „Recht betrachtet waren die eineinhalb Jahrhunderte, die hier zu behandeln sind [1650-1800], zu einem guten Teil geprägt vom Warten auf die nächste dynastische Krise und von deren politischer Vorbereitung.“ Vgl. in diesem Sinne Papenheim, Martin: Erinnerung und Unsterblichkeit. Semantische Studien zum Totenkult in Frankreich (1715-1794). Stuttgart 1992, S. 4, 33; Schumann, Jutta: Die andere Sonne. Kaiserbild und Medienstrategien im Zeitalter Leopolds I. Berlin 2003, S. 350f. Zum Begriff „Herrschermemoria“, unter dem die unmittelbar nach dem Tod des Herrschers veröffentlichten Predigten und Gedenkschriften, aber auch in größerem Abstand verfasste Erinnerungsliteratur subsummiert werden, vgl. Kampmann, Christoph: Herrschermemoria und politische Norm. Geschichtliche Persönlichkeiten als Leitbilder vom Mittelalter bis zur Moderne. In: Historisches Jahrbuch 129 (2009), S. 3-17, hier S. 9f.

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anfälligkeit des monarchisch-dynastischen Staates in besonders bedrohlicher Weise zeigte. Es war also durchaus charakteristisch, dass gerade in der Krisensituation nach dem Schlachtentod des Königs Gustav Adolf die Herrschermemoria solche Bedeutung gewann. 12 Ein anderes, durchaus ähnliches Beispiel ist die Ermordung König Heinrichs IV. von Frankreich im Jahre 1610. Die Tatsache, dass für den minderjährigen Thronfolger eine landfremde Regentin die Regierung übernahm, rief in Frankreich und ganz Europa ungute Erinnerungen an die katastrophalen Folgen des vor einem halben Jahrhundert erfolgten Herrscherwechsels im Hause der Valois wach, als die französische Monarchie nach dem frühen Tod Heinrichs II. in eine Krise geriet und im Chaos der Religionskriege versank. Nach der Ermordung Heinrichs IV. war die Furcht vor einer Wiederkehr dieser Ereignisse weit verbreitet. 13 Eine Antwort auf diese Herausforderung war die intensive Herrschermemoria um den Verstorbenen. In außerordentlich aufwendiger Weise wurde nach dem Tod Heinrichs IV. das Vermächtnis des dahingegangenen Königs beschworen; durch seine Memoria blieb er in der französischen und europäischen Öffentlichkeit präsent. 14 Im Rahmen unseres Themas „Grenze und Grenzüberschreitungen“ ist dabei auffällig, dass durch den intensiven Rekurs auf die Memoria des Verstorbenen die Phase des Übergangs in solchen Fällen ganz bewusst ausgeweitet und verlängert wurde. Hier liegt ein klarer Unterschied zur institutionellen Bewältigung des Herrscherwechsels vor: Bei der institutionellen Bewältigung des Herrschertods ging es darum, den Herrscherwechsel möglichst rasch und reibungslos zu bewerkstelligen, ganz in dem Sinne des berühmten „Der König ist tot, es lebe der König“. 15 Beim Umgang mit der Herrschermemoria verhielt es sich jedoch anders: Der König war tot, aber er war eben doch nicht tot, sondern wurde für die Erinnerung der Zeitgenossen und der Nachwelt lebendig erhalten. Entsprechend wurde in dramatischen Fällen des Herrscherwechsels auch die Zeit der unmittel12 13

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Vgl. Mörke 2007 (wie Anm. 4), S. 90. Vgl. Greengrass, Mark: France in the Age of Henri IV. The Struggle for Stability. 2. Aufl., London/New York 1995, S. 257f.; zu den Parallelen zwischen 1589, als die Ermordung Heinrichs III. die dramatischste Phase der Religionskriege auslöste, und 1610 vgl. Chevallier, Pierre: Les Régicides. Clement, Ravaillac, Damiens. Paris 1989, S. 287. Vgl. Kampmann, Christoph: Arbiter und Friedensstiftung. Die Auseinandersetzung um den politischen Schiedsrichter im Europa der Frühen Neuzeit. Paderborn u.a. 2001, S. 107113; vgl. auch Hennequin, Jacques: Henri IV dans ses oraisons funèbres ou la naissance d’une légende. Paris 1977. Zum Bestreben, die Übergangszeit bis zum Herrschaftsantritt des dynastischen Nachfolgers theoretisch so weit wie möglich abzukürzen, am besten gar keine Unterbrechung sichtbar werden zu lassen, vgl. schon Kantorowicz, Ernst H.: Die zwei Körper des Königs. The King’s two Bodies. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters. München 1990, S. 337f.

Der Tod des Herrschers als Grenze und Übergang

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baren Trauerrituale, die immer wieder Gelegenheit gaben, an den Verstorbenen zu erinnern, bewusst und absichtlich ausgedehnt. Wie bereits erwähnt, fand die eigentliche Beisetzung des Schwedenkönigs nach zahlreichen vorangegangenen Trauerakten erst 20 Monate nach Lützen statt. Es war eine bewusste Entscheidung der schwedischen Führung, die Trauerzeit, also die Zeit des Übergangs, auszuweiten. Eine ähnliche Ausdehnung der Phase des Abschieds und des Übergangs fand bezeichnenderweise auch im Fall des Todes König Heinrichs IV. statt. Bis 1613 wurden immer wieder Leichenpredigten und Leichenreden gehalten, veröffentlicht und in Kompendien verschiedener Leichenpredigten zudem noch vielfach erneut publiziert. 16 In dieser unmittelbar dem Tod folgenden, sehr ausgedehnten Trauerzeit war das Bild des jeweils verstorbenen Königs in der Öffentlichkeit weit präsenter als das seiner jeweiligen Nachfolgerin bzw. seines Nachfolgers. Die institutionelle Bewältigung des Herrscherwechsels zielte darauf, den „Grenzübergang“ möglichst gefahrlos zu sichern, während es beim Einsatz der Herrschermemoria darum ging, die finale Grenze des Herrschertods verschwinden zu lassen, durch fortgesetzte Präsenz der Memoria den Eindruck vollständiger Bruchlosigkeit der monarchischen Herrschaft entstehen zu lassen. Zugespitzt könnte man sagen, dass durch die Herrschermemoria der Versuch unternommen wurde, den Herrscherwechsel symbolisch zu „entgrenzen“. Um diesen Vorgang der „Entgrenzung“ des Herrscherwechsels angemessen zu verstehen, ist es unerlässlich, auf ein weiteres Charakteristikum der Herrschermemoria hinzuweisen. Mit Formen von Herrschernostalgie hatte die Memoria nichts zu tun. Kennzeichen der Memoria war vielmehr, dass sie sich zwar auf eine Persönlichkeit der Vergangenheit bezog, also ihren Bezugspunkt in der Person des verstorbenen Monarchen hatte, aber im Kern doch gegenwarts-, besser noch zukunftsorientiert war und auch nur so verstanden werden kann. Dies galt gleich in dreifacher Hinsicht: Auf einen Aspekt wurde bereits hingewiesen, nämlich auf die Stabilisierung und Kontinuitätssicherung der monarchischen Herrschaft angesichts der Zäsur des Herrscherwechsels. Zukunftsorientierung ist aber auch im Hinblick auf die Ausprägung von Normen und Grundvorstellungen von Politik und Herrschaft gegeben. Der verstorbene Monarch wurde als ein Idealbild beschworen, das Vorstellungen von Herrschaft propagierte und transportierte. Dies konnte so weit gehen, dass spezielle Normen und Vorstellungen von guter Herrschaft unmittelbar mit der Person des verstorbenen Herrschers verbunden wurden. 17 Die Ver16 17

Vgl. Kampmann 2001 (wie Anm. 14), S. 126f. Vgl. für einzelne Herrscher bzw. Herrschaftsbereiche etwa Bosbach, Franz: Die politische Bedeutung Karls des Großen für Karl V. In: Archiv für Kulturgeschichte 84 (2002), S.

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storbenen wurden selbst zu Modellen für spezielle Formen von Herrschaft. Die starke Verbreitung der Herrschermemoria zeugt davon, dass diese Modelle im Falle einzelner, herausgehobener Monarchen allgemein geläufig waren, jedenfalls in der politischen Öffentlichkeit, 18 dort zu Chiffren wurden, die für die politisch Interessierten – und häufig nicht nur für sie – keiner Erläuterung mehr bedurften. 19 Auffällig ist, dass diese Modelle, die mit den Namen spezieller Herrscher verbunden wurden, nicht unbedingt konstante Größen waren. Sie konnten sich im Lauf der Zeit auch verändern, was wiederum Rückschlüsse auf den grundsätzlichen Wandel von Normen und Werten zulässt. 20 Dieser letzte Punkt verweist bereits auf einen dritten Aspekt der Zukunftsorientierung der Memoria. Die Beschwörung der Memoria des verstorbenen Herrschers, seine stete Vergegenwärtigung war keineswegs auf die Zeit unmittelbar nach dem Herrscherwechsel beschränkt. Sie konnte über einen längeren Zeitraum fortleben, oder, was häufiger vorkam, in Formen von Konjunkturen der Herrschererinnerung immer wieder neu aufgegriffen werden. Das Bild Gustav Adolfs, das durch die Memoria nach 1632 geprägt worden war, begegnet uns in der Geschichtsschreibung Johann Friedrich Chemnitz’ und Samuel von Pufendorfs in der Zeit nach dem Ende des Dreißigjährigen Kriegs und lebt weiter im weiteren Verlauf des 18., ja auch noch des 19. Jahrhunderts. 21

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113-131; Ranum, Orest: Artisans of Glory. Writers and Historical Thought in SeventeenthCentury France. Chapel Hill 1980; Weiß, Dieter: Maximilian I. von Bayern. Herrschererinnerung und politische Norm im dynastischen Staat des 17. Jahrhunderts. In: Historisches Jahrbuch 129 (2009), S. 83-199, hier S. 98-100; in diesem Sinne auch schon Reese, Armin: Die Rolle der Historie beim Aufstieg des Welfenhauses 1680-1714. Hildesheim 1967. Vgl. zur politischen Öffentlichkeit in der Frühen Neuzeit Schmale, Wolfgang: Öffentlichkeit. In: Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 9. Stuttgart/Weimar 2009, Sp. 358-362, hier Sp. 359. Vgl. zu dieser Chiffrenbildung zusammenfassend Kampmann 2009 (wie Anm. 11), S. 13f. Vgl. Kampmann, Christoph: Dynastisches Vermächtnis und politische Vision. Das Beispiel des Friedensstifters. In: ders./Krause, Katharina/Krems, Eva-Bettina/Tischer, Anuschka (Hrsg.): Konkurrierende Modelle im dynastischen Europa. Bourbon – Habsburg – Oranien 1700. Köln/Wien 2008, S. 212-227. Dies wird deutlich in der umfassenden Arbeit von Oredsson, Sverker: Geschichtsschreibung und Kult. Gustav Adolf, Schweden und der Dreißigjährige Krieg. Berlin 1994, der diese Konjunkturen freilich in seiner deskriptiv angelegten Darstellung nicht eigens thematisiert. Vgl. zur spezifischen Memoria Gustav Adolfs in der Zeitgeschichtsschreibung des Dreißigjährigen Kriegs demnächst Kampmann, Christoph: Der Friedländer als Kontrastfigur. In: Bahlcke, Joachim/Kampmann, Christoph (Hrsg.): Wallensteinbilder im Widerstreit. Historische Symbolfigur in Geschichtsschreibung und Literatur vom 17. bis zum 20. Jahrhundert. Köln u.a. 2010 (im Druck). Entsprechende Konjunkturen sind auch bei der Erinnerung an die Herrschergestalt Kaiser Karls V. feststellbar, dessen Memoria eng mit der Monarchia Universalis verbunden war und die – je nach Präsenz der Thematik der Monarchia Universalis in der politischen Öffentlichkeit – deutliche Konjunkturen erlebte;

Der Tod des Herrschers als Grenze und Übergang

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Es konnte sogar Fälle geben, in denen die Herrschermemoria und ihre normative Funktion, die Vergegenwärtigung des verstorbenen Herrschers, gar nicht unmittelbar nach dessen Tod einsetzte, sondern mit deutlicher Phasenverzögerung, also noch lange nach dem Ableben der Herrscherpersönlichkeit. Einen solchen Fall demonstriert die Memoria König Ludwigs XVI., die mit einer Phasenverzögerung ihren Einfluss in der Restaurationsphase entfaltete. 22 Insgesamt liegt das Thema dieser Sektion auf dem Schnittpunkt unterschiedlicher, derzeit aktueller Forschungsrichtungen der Frühneuzeitforschung. So hat das Thema Totenkult und Sepulkralkultur interdisziplinär in jüngerer Zeit besondere Bedeutung gewonnen. 23 Zudem interessiert sich die Frühneuzeitforschung seit geraumer Zeit für die grundlegenden Normen, Begriffe und handlungsleitenden Vorstellungen der frühneuzeitlichen Politik. 24 Gerade weil die Thematik unterschiedliche aktuelle Forschungsstränge bündelt, versprach sie im Rahmen der Tagung „Grenzen und Grenzüberschreitungen“ der Arbeitsgemeinschaft Frühe Neuzeit besonders ertragreich zu sein. Irgendeine Form von Vollständigkeit oder auch nur von Repräsentativität war selbstredend dabei nicht intendiert. Vielmehr war es Ziel bei der notwendigen Auswahl, besonders markante Situationen des Herrscherwechsels in den Blick zu nehmen und dabei europäisch vergleichend wie auch diachron vorzugehen. Es wurde gleichermaßen Wert darauf gelegt, Beispiele aus unter-

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vgl. Bosbach, Franz: Die Habsburger und die Entstehung des Dreißigjährigen Kriegs. Die „Monarchia Universalis“. In: Repgen, Konrad (Hrsg.): Krieg und Politik 1618-1648. Europäische Probleme und Perspektiven. München 1988 (= Schriftenreihe des Historischen Kollegs 8), S. 151-168, hier S. 162. Die Personalisierung des Herrschaftsmodells Universalmonarchie in der Erinnerung an Kaiser Karl V. ist noch nicht systematisch und im Zusammenhang untersucht worden. Vgl. den Beitrag von Gudrun Gersmann in diesem Band. Vgl. zur Aktualität des Forschungsthemas aus der Vielzahl der neueren Beiträge Hengerer, Mark (Hrsg.): Macht und Memoria. Begräbniskultur europäischer Oberschichten in der Frühen Neuzeit. Köln 2005; Liebsch, Burkhard/Rüsen, Jörn (Hrsg.): Trauer und Geschichte. Köln u.a. 2001 (= Beiträge zur Geschichtskultur 22) sowie die zahlreichen gewichtigen Beiträge und Sammelbände, die aus dem Forschungsprojekt „Requiem“ hervorgegangen sind; vgl. zuletzt Behrmann, Carolin/Karsten, Arne/Zitzelsberger, Philipp (Hrsg.): Grab – Kult – Memoria. Studien zur politischen Funktion von Erinnerung. Horst Bredekamp zum 60. Geburtstag am 29. April 2007. Köln u.a. 2007. Vgl. zu diesen Publikationen http://www2.hu-berlin.de/requiem/cms/publikationen/buecher/. Vgl. Duchhardt, Heinz: Balance of Power und Pentarchie. Internationale Beziehungen 1700-1785. Paderborn u.a. 1997 (= Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen 4), S. 3f.; vgl. auch die Beiträge in Kraus, Hans-Christof/Nicklas, Thomas (Hrsg.): Geschichte der Politik. Alte und neue Wege. München 2007 (= Beiheft der Historischen Zeitschrift 44).

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schiedlichen Konfessionskulturen und aus unterschiedlichen dynastischen Traditionszusammenhängen zu betrachten. Der Beitrag von Kerstin Weiand untersucht den Tod Elisabeths I. von England (1558-1603) in seiner Wahrnehmung als historische Grenze und fragt danach, in welchem Verhältnis diese zu den jeweiligen politischen Deutungsmustern steht. Die Umdeutung ihres Todes von einer positiv zu einer negativ bewerteten Epochengrenze verweist auf einschneidende Wandlungen in den politischen Prioritäten der frühen Stuartzeit. Auch Maria Golubeva beschäftigt sich mit der Frage, wie die Grenze des Herrschertods genutzt wurde, um posthum Grenzen zu verschieben. Dies geschieht am Beispiel der Memoria Kaiser Leopolds I. (1658-1705). Die sehr engen Grenzen, die Leopold der Religionsausübung in seinen Territorien jenseits der römisch-katholischen Konfession setzte, wurden in einem Teil der Memorialliteratur rückblickend bewusst aufgelöst. Autoren wie Rinck stilisierten Leopold zum Modell eines einheitsstiftenden, in einem dezidiert weltlichen Sinne kompetenten Herrschers. Der Tod Königs Wilhelms III. von England (1688-1702), so zeigt Ulrich Niggemann in seinem Beitrag, bot sich in mindestens zweifacher Weise an, Grenzen zu thematisieren: Erstens stellt der Herrschertod auch hier eine Grenze dar, die symbolisch und inhaltlich-politisch etwa mithilfe von Predigten überbrückt werden sollte; und zweitens wurde die Zeitspanne zwischen der Glorious Revolution und der Thronfolge des Hauses Hannover dann im weiteren historischen Rückblick zum Grenzraum, der als historische Zäsur diskutiert wurde. Mit einem Versuch eigener Art, den Herrschertod durch Memoria zu entgrenzen, beschäftigt sich schließlich in weitem, epochenübergreifenden Zugriff Gudrun Gersmanns Aufsatz. Es geht um die Praxis der Effigies, um Wachsfiguren verstorbener Könige im frühneuzeitlichen Frankreich. Sie dienten dazu, den Verstorbenen über seinen Tod hinaus zu vergegenwärtigen. Die Autorin vermag aufzuzeigen, dass dieser Brauch erhebliche Bedeutung erlangte, und dies über einen bemerkenswert langen Zeitraum, ja, in gewisser Weise sogar über die Zäsur der Revolution hinweg: Die Praxis lebte beim Kult um „Revolutionsmärtyer“ wie Marat in anderer Gestalt fort.

KERSTIN WEIAND

Der englische Regierungs- und Dynastiewechsel 1603 im Spiegel der Funeralschriften Elisabeths I. „Der König ist tot, es lebe der König!“ Dies ist eine bekannte Affirmation der Kontinuität der Monarchie und der Unsterblichkeit des monarchischen Body Politics. Aber auch sie vermochte nicht darüber hinwegzutäuschen, dass der Tod des Herrschers in den monarchisch verfassten Gemeinwesen der Vormoderne eine Zäsur darstellte. Und zwar in zweierlei Hinsicht: Zum einen bedeutete er aufgrund der Ausrichtung der Gesellschaft auf die Person des Herrschers und der Bedeutung personeller Bindungen im Alten Europa einen akuten Moment der Krise. So machte der Herrschertod eine grundsätzliche Neuaustarierung von Einflusssphären erforderlich. In gedanklicher wie rechtlicher Hinsicht mochten Hilfskonstruktionen wie eben jene der Unsterblichkeit des politischen Körpers diese Zäsur zwar abschwächen, der praktische Umgang mit dem Tod des Herrschers dagegen gestaltete sich in der Regel deutlich komplexer. Im Kontext sich erst entwickelnder Institutionalisierung verursachte der Verlust des Herrschers ein Machtvakuum, das es zu überbrücken galt und insofern für die Zeitgenossen eine Art Grenzerfahrung bedeutete. Schließlich traf dieser Verlust das Zentrum eines politischen Systems, das zu einem nicht geringen Grad auf persönlichen Gunstund Treueverhältnissen aufbaute.1 Zum anderen erwies sich der Herrschertod im historischen Rückblick als normativer Bezugspunkt für die eigene Gegenwart. In besonderem Maße bezog sich das Selbstverständnis vormoderner Gesellschaften auf Tradition und Herkommen. Die eigene Geschichte, in deren Fokus häufig die einzelnen Dynastien und Monarchen standen, bestimmte als „Erfahrungsraum“ im Koselleckschen Sinne auch die „Erwartungshaltungen“ der jeweiligen Gegenwart und fand allgemeine Anerkennung als Reservoir normativer und zeitloser Exempla.2 Trotz dieser Kontinuitätslinien waren es vor allem die historischen 1

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Ein Bewusstsein in der Forschung für die Spannung, die aus der Sterblichkeit des einzelnen Herrschers und der Dauerhaftigkeit des Amtes resultiert, hat besonders die Arbeit von Ernst Kantorowicz geweckt, der sich in seiner Studie intensiv mit dem rechtlichen Konstrukt der zwei Körper des Königs, des sterblichen Body Natural und des unsterblichen Body Politic, auseinandersetzte. Vgl. Kantorowicz, Ernst: The King’s Two Bodies. A Study in Mediaeval Political Theology. Princeton 1957. Zum Begriff des „Erfahrungsraums“ und seiner Bedeutung für das Verständnis und die „Erwartungshaltung“ einer Gegenwart vgl. Koselleck, Reinhart: Vergangene Zukunft. Zur

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Zäsuren und die Bewältigung von Krisensituationen, die als Räume verdichteter historischer Erfahrung im Fokus des Interesses standen. Dem Herrscherwechsel als dem Paradebeispiel historischer Grenzerfahrung kam in diesem Sinne eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für das Geschichtsbewusstsein und damit der Wahrnehmung der Gegenwart zu. Dieser doppelte Grenzcharakter des Herrschertodes – als aktuelle Krisenerfahrung und als historische Konstruktion – macht sein Potential als Untersuchungsfeld geschichtswissenschaftlicher Forschung aus. Dies gilt im besonderen Maße für eine historische Politikforschung, die ihren Gegenstand als Aushandlungsprozess begreift und Fragen nach den Deutungen und Sinnstiftungen stellt, die diesen bestimmten.3 Der gegenwärtige, auf Bewältigung ausgerichtete ebenso wie der rückblickende, argumentative Umgang mit dem Herrschertod geben einen vertieften Einblick in politische Wahrnehmungen sowie die Rolle einer vormodernen Öffentlichkeit als deren Träger und Motor. Prägnant lässt sich dies am Tod Elisabeths I. im Jahr 1603 zeigen. Mit ihm verbunden war nicht allein ein Herrscher-, sondern bekanntermaßen auch ein Dynastiewechsel und damit also eine Zäsur von besonderer Tiefe. Mit Jakob VI. von Schottland aus dem Hause Stuart bestieg zudem ein landfremder Monarch den englischen Thron. Im britischen Geschichtsbild ist dieses Ereignis fest verankert: In der historischen Rückschau gilt es als eine Wendemarke, als einstweiliges Ende einer Epoche imperialer Geltung und als Startpunkt einer Reihe fundamentaler ideologischer Konflikte unter den frühen Stuarts. Für die Whig-Historiographie des 19. Jahrhunderts bedeutete der Herrscherwechsel von 1603 gleichsam den Beginn einer Phase nationaler Marginalisierung. So wertete etwa Thomas Babington Macaulay: „On the day of the accession of James the First England descended from the rank which she had hitherto had, and began to be regarded as a power hardly of the second order.“4 Zwar wird von geschichtswissenschaftlicher Seite seit einiger

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Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a.M. 1989 (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 757), S. 349-375. Von den unzähligen Beiträgen, die es mittlerweile zur Kulturgeschichte des Politischen gibt, sollen nur einige wenige genannt werden, die deren Anliegen programmatisch zum Ausdruck bringen: Stollberg-Rilinger, Barbara: Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? Einleitung. In: dies. (Hrsg.): Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? Berlin 2005 (= Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 35), S. 9-24; Landwehr, Achim: Diskurs – Macht – Wissen. Perspektiven einer Kulturgeschichte des Politischen. In: Archiv für Kulturgeschichte 85 (2003), S. 71-117; Frevert, Ute/Haupt, Heinz-Gerhard (Hrsg.): Neue Politikgeschichte. Perspektiven einer historischen Politikforschung. Frankfurt a.M. 2005 (= Historische Politikforschung 1). Macaulay, Thomas Babington: The works of Lord Macaulay, complete. Bd. 1, hrsg. von Trevelyan, Hannah. London 1897, S. 54. Diese Wertung zieht sich durch alle Werke Macaulays.

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Zeit auf die weitreichenden Kontinuitäten über den Dynastiewechsel hinaus hingewiesen, 5 der Gebrauch des Jahres 1603 als Epochenmarke ist jedoch nach wie vor üblich. Anhand der zeitgenössischen ebenso wie der rückblickenden Interpretation des Todes Elisabeths und der Bewertung der durch diesen Tod verursachten Zäsur lässt sich, so die Prämisse dieses Aufsatzes, auf grundsätzliche politische Haltungen schließen. Historisches Bewusstsein und politisches Handeln stehen hier in einem besonderen Verhältnis wechselseitiger Prägung. Diese Prämisse gilt es im Folgenden gemäß dem beschriebenen Doppelcharakter des Herrschertodes in zwei Schritten nachzuvollziehen. Erstens ist anhand der publizistischen und literarischen Reaktion auf den Herrschertod nach dem Umgang der zeitgenössischen Publizistik mit der prekären Situation des Herrscherwechsels 1603 zu fragen. Inwiefern wurde dieser als Grenze wahrgenommen, wie wurde er bewertet und welche kommunikativen Strategien wurden entworfen, um die mit ihm verbundene Krise zu bewältigen? Im zweiten Teil wird die diachrone Bedeutung des Todes Elisabeths als historische Zäsur in den Blick genommen: Die letzten Regierungsjahre von Elisabeths Nachfolger Jakob standen im Zeichen einer intensivierten und aufgeheizten politischen Kommunikation. Vor dem Hintergrund des Dreißigjährigen Krieges stellte sich die Frage nach der Rolle und Stellung Englands im europäischen Mächtesystem in bislang unbekannter Schärfe. 6 Dabei kam der Wahrnehmung der eigenen Geschichte und insbesondere der jüngeren Vergangenheit eine konstitutive Rolle in Bezug auf die Ausbildung politischer Zielrichtungen und deren argumentativer Verbreitung zu. Die Regierungszeit Elisabeths fand neue Aufmerksamkeit. In diesem Zusammenhang lässt sich 5

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Pauline Croft beschreibt die Kontinuitäten folgendermaßen: „The Elizabethan state was rather like a supertanker that keeps ploughing on in the same direction even after the engines have been switched off“ (Croft, Pauline: Rex Pacificus, Robert Cecil, and the 1604 Peace with Spain. In: Burgess, Glenn/Wymer, Rowland/Lawrence, Jason [Hrsg.]: The accession of James I. Historical and cultural consequences. Basingstoke 2006, S. 140-154, hier S. 151). Eine ausgewogene Beurteilung der Kontinuitäten und Brüche, die sich mit dem Herrscherwechsel 1603 verbinden, bieten auch die anderen Beiträge des gennanten Sammelbandes. Diese Kontinuitäten beziehen sich durchaus auch auf strukturelle Probleme, die erst unter den frühen Stuarts ihre volle Konfliktwirkung entfalteten. Ronald G. Asch spricht in diesem Zusammenhang von der „schwierigen Erbschaft“ der Tudors, vgl. Asch, Ronald G.: A Difficult Legacy. Elizabeth I’s Bequest to the Early Stuarts. In: Jansohn, Christa (Hrsg.): Queen Elizabeth I. Past and present. Münster 2004, S. 29-44. Vor allem Thomas Cogswell und Simon Adams haben hierzu wichtige Arbeiten vorgelegt, vgl. z.B. Cogswell, Thomas: Foreign Policy and Parliament. The Case of La Rochelle, 16251626. In: English Historical Review 99 (1984), S. 241-267; ders.: The blessed revolution. English politics and the coming of war, 1621-1624. Cambridge 1989 (= Cambridge Studies in Early Modern British History); Adams, Simon: Foreign Policy and the Parliaments of 1621 and 1624. In: Sharpe, Kevin (Hrsg.): Faction and Parliament. Essays on early Stuart history. Oxford 1978, S. 139-171.

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hier besonders prägnant die Frage stellen, inwieweit veränderte Kontexte und Deutungsmuster die Perzeption des Todes Elisabeths als Epochengrenze prägten und welche Funktion der Erinnerung an Elisabeth in den politischen Auseinandersetzungen unter ihrem Nachfolger zukam.

Der Herrschertod als Erzählung in der Funeralliteratur: Ende einer Epoche oder epochaler Neuanfang? Die letzten Regierungsjahre Elisabeths entsprachen nur wenig dem gloriosen Bild, das gemeinhin von ihrer Herrschaft gezeichnet wird. Seit 1585 währte der bewaffnete englisch-spanische Konflikt. Die große Beachtung, die der Untergang der Armada im Jahr 1588 im historischen Gedächtnis fand, wird hierbei nicht der Tatsache gerecht, dass es sich hier eher um den Auftakt denn um eine Entscheidung in den Auseinandersetzungen handelte. 7 Die Begeisterung für den Krieg, der auf den unterschiedlichsten Schauplätzen – von den Niederlanden über die Britischen Inseln, der Bretagne und dem spanischen Kernland bis in die Karibik und nach Amerika – ausgetragen wurde, war in England zum Ende der 1590er Jahre nur mehr mäßig. 8 Dafür waren neben den ausbleibenden Erfolgen die stete Bedrohung durch einen spanischen Überfall 9 sowie die spanische Unterstützung der irischen Rebellion verantwortlich, die seit 1595 unter Führung des Earl of Tyrone der englischen Regierung Sorge bereitete. 10 Wenn England auch von den unmittelbaren Auswirkungen des Krieges verschont blieb, wuchsen doch die Belastungen,

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So gab es weitere „Armaden“ etwa 1596 und 1597, vgl. dazu ausführlich Wernham, Richard Bruce: The return of the Armadas. The last years of the Elizabethan war against Spain, 1595-1603. Oxford 1994, bes. S. 130-142, 171-190; Hammer, Paul E.J.: Elizabeth’s wars. War, government and society in Tudor England, 1544-1604. Basingstoke 2003, bes. S. 154-235. Zur Armada generell siehe Martin, Colin/Parker, Geoffrey: The Spanish Armada. 2. rev. Ausg., Manchester u.a. 1999; Mattingly, Garrett: The Armada. Boston 1987. Zu dem Verlauf des Krieges vgl. ausführlich Hammer 2003 (wie Anm. 7), S. 121-235; MacCaffrey, Wallace T.: Elizabeth I. London 2004, S. 235-293, hier S. 246-249. Einen guten Überblick über die Außenpolitik unter Elisabeth gibt Ramsay, G.D.: The Foreign Policy of Elizabeth I. In: Haigh, Christopher (Hrsg.): The reign of Elizabeth I. London u.a. 1984, S. 147-168. Neben einigen wenigen als Erfolge gewerteten Aktionen, etwa der Eroberung von Cadiz durch Essex 1596, war der Krieg von englischer Seite wenig mehr als offiziell legitimierte Piraterie eines Drake, Frobisher, Hawkins, Norris und Raleigh, um die bekannteren zu nennen; vgl. Hammer 2003 (wie Anm. 7), S. 163-168. Dies zeigte etwa die Plünderung einiger Orte in Cornwall durch einen spanischen Überfall im Jahr 1594, vgl. dazu Hammer 2003 (wie Anm. 7), S. 188f.; Wernham 1994 (wie Anm. 7), S. 19, 39. Vgl. Hammer 2003 (wie Anm. 7), S. 216-222.

Der englische Regierungs- und Dynastiewechsel 1603

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die der andauernde, ergebnislose Krieg mit sich brachte, zunehmend. 11 Der Finanzbedarf der Krone und damit die Belastung der Bevölkerung durch Steuern wie Aushebung von Soldaten stiegen erheblich. 12 Dazu kamen Missernten und in deren Folge Hungerkrisen sowie der Ausbruch von Seuchen, die gravierende Auswirkungen auf die Bevölkerung hatten. 13 Die Zahl sozial Entwurzelter und Mittelloser wuchs und verstärkte in der Bevölkerung und in der Regierung die Furcht vor sozialen Unruhen. 14 Die Wahrnehmung von Krise und sozialer Instabilität prägte somit die Denkmuster der Zeitgenossen in den sogenannten „nasty nineties“ 15 in nicht unbeträchtlichem Maße. 16 Auch offensichtliche Schwierigkeiten innerhalb des engsten Zirkels der Regierung waren nicht dazu angetan, diese Stimmung zu entkräften. Der Privy Coucil bestand aus den engen Vertrauten der Königin und war mit dieser in die Jahre gekommen, 17 und das kurz aufeinanderfolgende Ableben führender Räte und Politiker hinterließ eine Lücke, die das Gleichgewicht in dem eingespielten Regierungszirkel empfindlich ins Wanken brachte. 18 Die Frikti11

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Insgesamt hatte der Krieg so einschneidende Auswirkungen auf Regierung und Gesellschaft, dass John Guy gar von einem „second reign“ Elisabeths ab 1585 spricht. Vgl. Guy, John: The 1590s. The Second Reign of Elizabeth I? In: ders. (Hrsg.): The Reign of Elizabeth I. Court and culture in the last decade. Cambridge 1995, S. 1-19. Dabei ist es sicherlich als Leistung der Regierung unter Elisabeth zu werten, dass dem hohen Finanzbedarf weitgehend begegnet werden konnte. Zu den Kosten der Kriege und dem steigenden Steuerbedarf vgl. Wernham 1994 (wie Anm. 7), S. 205f.; Outhwaite, R.B.: Dearth, the English Crown and the ‘Crisis of the 1590s’. In: Clark, Peter (Hrsg.): The European Crisis of the 1590s. Essays in comparative history. London 1985, S. 23-43, hier S. 25-27. Vgl. dazu etwa Outhwaite 1985 (wie Anm. 12). Vgl. dazu etwa Sharpe, Jim: Social Strain and Social Dislocation, 1585-1603. In: Guy 1995 (wie Anm. 11), S. 192-211. Diese Furcht fand nicht zuletzt Ausdruck in den Armengesetzen von 1596 und 1601, die auf die wachsende Zahl an Vagabunden oder besser den Wunsch nach der Wiederherstellung bzw. Stärkung gesellschaftlicher Ordnung im Angesicht der Krise reagierte; vgl. dazu Slack, Paul: Poverty and Social Regulation in Elizabethan England. In: Haigh 1984 (wie Anm. 8), S. 221-241. Die von Slack, S. 239 betonte Erkenntnis, es habe sich bei diesen Maßnahmen zur Armutsbekämpfung vor allem auch um rhetorische Unternehmungen gehandelt, zeigt dessen umso größere Bedeutung für die Wahrnehmung der Zeitgenossen. Collinson, Patrick: Ecclesiastical Vitriol. Religious Satire in the 1590s and the Invention of Puritanism. In: Guy 1995 (wie Anm. 11), S. 150-170, hier S. 164. Vgl. Sharpe 1995 (wie Anm. 14), S. 204f. Nach neueren Forschungen kam wohl dieser Grundstimmung eine größere Bedeutung zu als den eigentlichen Krisenerscheinungen, die verglichen mit dem europäischen Maßstab weniger heftig verlief. Dies zeigt vor allem der Sammelband von Peter Clark, dessen Beiträge die europäische Dimension der Krise in den Blick nehmen, vgl. Clark 1985 (wie Anm. 12). Paul Hammer sprach in diesem Zusammenhang von „gerontocracy“, vgl. Hammer, Paul E.J.: The last decade. An Ageing Regime. In: History Today 53 (2003), S. 53-59, hier S. 53. So starben etwa Leicester 1588, Mildmay 1589, Walsingham 1590, Hatton 1591, um nur einige zu nennen; vgl. MacCaffrey 2004 (wie Anm. 8), S. 393.

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onen, die sich aus der Neuaustarierung der Kräfte, etwa zwischen dem Staatssekretär Robert Cecil und dem Earl of Essex, Robert Devereux, ergaben, nahmen zu. Sichtbaren Ausdruck fanden diese Spannungen schließlich in der etwas undurchsichtigen Rebellion Essex’ im Jahr 1601. Dessen Niederschlagung und Hinrichtung stellte zwar formal die gestörte Ordnung wieder her, das Ansehen der Regierung und vor allem der Königin hatte jedoch nachhaltig Schaden genommen.19 Mochten auch einige hämische Stimmen im Nachhinein behaupten, man habe sehnsüchtig auf den Tod der Königin gewartet,20 so war doch mit der Frage ihres Ablebens ein weiteres gravierendes Problem gegeben: Elisabeth weigerte sich bis unmittelbar vor ihrem Tod strikt, ihre Nachfolge zu regeln, und der nächste Anwärter in der Thronfolge, Jakob VI. von Schottland, war aus verschiedenen Gründen ein nicht unproblematischer Kandidat.21 Nicht nur war die Vererbung des englischen Thrones an einen Nichtengländer rechtlich problematisch, seinen Anspruch führte Jakob außerdem väter- wie mütterlicherseits auf Margaret, die älteste Tochter Heinrichs VII., zurück, die jedoch von ihrem Bruder, Heinrich VIII., testamentarisch in der Thronfolge zugunsten ihrer jüngeren Schwester Maria übergangen worden war. Zudem war Maria Stuart, die Mutter Jakobs, in England wegen der Verschwörung gegen das Leben Elisabeths verurteilt und hingerichtet und ihre Nachkommen nach dem Act of Association von 1584 damit eigentlich von der Erbfolge ausgeschlossen worden.22 Zudem gab es weitere mehr oder weniger ernst zu nehmende Aspiranten, darunter etwa die Infantin Isabella oder die in England geborene Arabella Stuart. So formulierte etwa Thomas Wilson in seiner Beschreibung Englands im Jahr 1600: „This Crowne is not like to fall to the ground for want of heads that claime to weare it, but upon whose head it will fall is by many doubted.“23 Innerhalb dieser komplexen und spannungsrei-

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Vgl. zu Essex und den Problemen innerhalb der Regierung ebd., S. 393-416. Vgl. Osborne, Francis: Some Traditional Memorials in the Reign of Q. Elizabeth. London 1673, S. 459. Vgl. zu den Auseinandersetzungen um die Thronfolge etwa den Sammelband von Mayer, Jean-Christophe (Hrsg.): The Struggle for the Succession in late Elizabethan England. Politics, polemics and cultural representations. Montpellier 2004 (= Astraea texts 11). Zu den Bemühungen Jakobs, die eigene Thronfolge in England im Vorfeld zu sichern, vgl. Doran, Susan: James VI and the English Succession. In: Houlbrooke, Ralph Anthony (Hrsg.): James VI and I. Ideas, authority, and government. Aldershot 2006, S. 25-42. Die rechtliche Problematik des Thronanspruchs hat Howard Nenner ausführlich untersucht; vgl. Nenner, Howard: The Right to be King. The succession to the crown of England 1603-1714. Chapel Hill 1995, bes. S. 13-25, 55-71. Wilson, Thomas: The State of England anno dom. 1600, hrsg. von Fisher, F.J. London 1936 (= Camden miscellany 16,[1]), S. 5.

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chen politischen Lage verschärfte der Tod Elisabeths am 24. März 1603 ein verbreitetes Gefühl der Unsicherheit. 24 Der Topograph John Norden etwa verleiht der Ungewissheit und vor allem der Furcht vor einem möglichen Bürgerkrieg Ausdruck, wenn er von „ugly strife“ und „sedition“ spricht. 25 Und auch Thomas Goad, Fellow am King’s College in Cambridge, beklagte die vielfältig drohenden Gefahren, vor allem aber die eines Bürgerkrieges infolge innerer Zwietracht. 26 Seine Klage endet in einem dramatischen Appell: „Adeste cives, efferamus patriam“. 27 Reminiszenzen an das Trauma der englischen Rosenkriege finden sich allenthalben. Welche Bedeutung ihnen zukam, ist auch in dem zentralen Dokument des Herrscherwechsels, der Proklamation Jakobs zum König, ersichtlich. In dieser nämlich wird sein Anspruch maßgeblich auf Heinrich VII. zurückgeführt und explizit mit dessen Beendigung der Rosenkriege verknüpft. Aus diesem Zusammenhang wird hier die vorrangige Aufgabe Jakobs abgeleitet, nämlich alles zu verhindern, „which may prevent or resist either forrein attempts, or popular disorder, tending to breach the present peace“. 28 24

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Die rasche Proklamation Jakobs zum neuen König mochte gleichwohl diesem Gefühl der Unsicherheit sehr wohl begegnen. Bereits eine Stunde nach dem Tod Elisabeths in der Nacht zum 24. März wurde er zum König erklärt, was am folgenden Morgen von Robert Cecil in Whitehall proklamiert und anschließend als Nachricht verbreitet wurde. Vgl. Larkin, James F./Hughes, Paul L. (Hrsg.): Royal Proclamations of King James I. 16031625. Oxford 1973 (= Stuart Royal Proclamations 1), S. 1f.; Nichols, John: The Progresses, Processions and Magnificent Festivities, of King James the First, His Royal Consort, Family and Court. 4 Bde. London 1828, hier Bd. 1, S. 25-31. Vgl. zur Thronfolge Jakobs und der mit ihr verbundenen Erwartungshaltung der Öffentlichkeit auch Burgess, Glenn/Lawrence, Jason/Wymer, Rowland: Introduction. In: Burgess/Wymer/Lawrence 2006 (wie Anm. 5), S. xiii-xvi. Die neuere Sicht der Forschung fokussiert nicht zuletzt auf die schottische und damit britische Dimension der Thronfolge; vgl. ebd., S. xvii. Norden, John: A pensiue soules delight The contents whereof, is shewen in these verses following. […]. London 1603, S. C1: „For Princes dead, then wakes Ambition, And vgly strife starts out of hidious den, And sowes sedition mongst the multitude“. Auch in der Traueranthologie der Universität Cambridge finden sich Beispiele, die die äußere Bedrohung gegenüber innerer Zwietracht zurückstehen lassen. Vgl. Threnothriambeuticon Academiae Cantabrigiensis ob damnum lucrosum, & infoelicitatem foelicissimam, luctuosus triumphus. Cambridge 1603, S. 64f.: „Hostem vocamus exterum? hostili manu Periisse dulce est. Maius hoc maius malum. Iterum cruentas frater in fratrem manus Armabit, iterum sanguine Angligeno Anglicus Madebit ensis. O graves iras Dei!“ Ebd., S. 65 („Auf, Mitbürger, tragen wir das Vaterland zu Grabe!“). Forasmuch as it hath pleased almighty God to call to his mercy out of this transitory life our Soueraigne Lady, the high and mighty prince, Elizabeth late queene of England, France and Ireland […]. London 1603, S. 1.

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Ausdruck fand diese verbreitete Unsicherheit auch in einer großen Zahl von Trauerbekundungen, die den Tod Elisabeths variantenreich zum Gegenstand ihrer literarischen Betrachtungen machten. 29 Neben Beschreibungen des Begräbnisses und des Trauerzuges 30 sowie Trauerreden 31 zählen dazu vor allem dichterische Bearbeitungen in Form von Elegien. Nun zählte das Kommentieren von Fürstenschicksalen seit jeher zu den vorrangigen Professionsfeldern von Literaten und Dichtern. Dennoch ist das Funeralschrifttum von 1603 in mancher Hinsicht bemerkenswert: Hier handelte es sich nämlich nicht vorwiegend um die im engen Kreis zirkulierenden Werke patronagegeförderter Dichter, sondern um Werke, die auch in gedruckter Form zum Verkauf standen und so über ein bestimmtes Umfeld hinaus Verbreitung fanden. Damit aber mussten sie sich auf ein wenn nicht allgemeines, so doch recht breites öffentliches Interesse beziehen. Eine solche literarische Reaktion auf den Tod eines Herrschers, bei der die Bedingungen der sich entwickelnden Printmedien, einer zunehmend am Markt und in abnehmendem Maße an einzelnen Patronen ausgerichteten Literatenszene sowie ein sich im Verlauf der Herrschaft Elisabeths verstärkendes Interesse an monarchischer Herrschaft zusammentrafen, 32 war in England bis dahin ohne Beispiel. Dass diese Schriften zum Teil sogar neu aufgelegt bzw. übersetzt wurden, weist auf ihre breite Rezeption hin. Dies macht sie zu einer in ihrem Wert nicht zu unterschätzenden Quelle für Fragen nach dem Umgang mit Grenzerfahrungen und den zukunftsweisenden Strategien ihrer Bewältigung. Diese Strategien gilt es im Folgenden herauszustellen. 29

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Zu Aufstellungen der Trauerschriften Elisabeths sei auf den Short Title Catalogue verwiesen, der jedoch keine Vollständigkeit garantiert. Zum Abgleich können auch die Aufstellungen bei Jackson, W.A.: The Funeral Procession of Queen Elizabeth. In: The Library 26 (1946), S. 262-271, hier S. 270f. sowie bei Wilson, Elkin Calhoun: England’s Eliza. New York 1966 (= Harvard studies in English 20), S. 370-393 hinzugezogen werden; außerdem mit stärkerem Blick auf die Schriften zur Thronbesteigung Jakobs, aber unter Einbeziehung zahlreicher Trauerschriften zu Elisabeth Nichols 1828 (wie Anm. 24), Bd. 1, S. xxxvii-xli. Eine Beschreibung des Begräbnisses, vornehmlich des Trauerzuges von Whitehall zur Westminster Abbey, bieten etwa ein Anhang an Niccols, Richard: Expicedium [sic]. A funeral oration, vpon the death of the late deceased Princesse of famous memorye, Elizabeth by the grace of God, Queen of England, France and Ireland. London 1603; oder Petowe, Henry: Elizabetha quasi viuens Eliza’s funerall. A fevve Aprill drops, showred on the hearse of dead Eliza. Or The funerall teares af [sic] a true hearted subiect. […]. London 1603. Vgl. auch Nichols, John: The Progresses and Public Processions of Queen Elizabeth. Among which are Interspersed Other Solemnities, Public Expenditures, and Remarkable Events During the Reign of that Illustrious Princess. London 1823, S. 614-652. So etwa Niccols 1603 (wie Anm. 30). Besonders Kevin Sharpe hat sich der Frage nach dem Interesse der englischen Öffentlichkeit an der Monarchie gewidmet, für das er eine Zunahme in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts feststellt, vgl. Sharpe, Kevin: Selling the Tudor Monarchy. Authority and image in Sixteenth-Century England. New Haven 2009, S. 321-323.

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Obwohl sich in der Formulierung der Schreckbilder von Bürgerkrieg und äußerer Bedrohung sehr wohl ein gewisses Krisenbewusstsein spiegelt, liegt der gemeinsame Grundtenor der Funeralschriften in der Affirmation von aktueller Prosperität und innerem Frieden. 33 Die Krisenerscheinungen finden Ausdruck in ihrer Potentialität, nicht ihrer Aktualität. „Peace“, „plenty“ und „prosperity“ lauten die stetig wiederholten Schlüsselbegriffe, 34 die sich in der allegorischen Überhöhung der toten Königin spiegeln. Gleich ob um Elisabeth als jungfräuliche Artemis-Cynthia, als alttestamentarische Deborah oder als Inkarnation der Gerechtigkeit, Astraea, getrauert wird, stets sind Sicherheit und Ordnung, Frieden und Wohlstand die Charakteristika ihrer Herrschaft. 35 Vor allem der „Friede“ ist als Schlüsselbegriff nahezu omnipräsent und wird nicht selten geradezu mantrahaft wiederholt:

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Die Bedeutung der Regierungsjahre Elisabeths als Friedenszeit etwa stellen heraus: Rogers, Thomas: Anglorum lachrimae […]. London 1603, S. B2; Rowlands, Samuel: Aue Caesar. = God saue the King The ioyfull ecchoes of loyall English hartes, entertayning his Maiesties late ariuall in England. […]. London 1603, S. A2; Nixon, Anthony: Elizaes memoriall. King Iames his arriuall. And Romes downefall. London 1603, S. B1-B3; Hayward, John: Gods vniuersal right proclaimed A sermon preached at Paules Crosse […]. London 1603, S. D2; Fenton, John: King Iames his welcome to London With Elizaes tombe and epitaph […]. London 1603, S. A2; Oxoniensis Academiae funebre officium in memoriam honoratissimam serenissimae et beatissimae Elizabethae, nuper Angliae, Franciae, & Hiberniae Reginae. Oxford 1603, passim; Norden 1603 (wie Anm. 25), S. C2; Sorrovves ioy. Or, A lamentation for our late deceased soveraigne Elizabeth, with a triumph for the prosperous succession of our gratious King, Iames, &c. London 1603, S. 9f., 14; Threno-thriambeuticon 1603 (wie Anm. 26), S. 13, 21, 25, 30f., 32, 40f., 53, 55. Außerdem spielte die Wahrung der Gerechtigkeit eine zentrale Rolle; vgl. Rogers 1603 (wie Anm. 33), S. B1; Oxoniensis Academiae funebre officium 1603 (wie Anm. 33), S. 119f., 120, 139, 164. Vgl. zum Beispiel Rowlands 1603 (wie Anm. 33), S. A3: „It were ingrateful to forget the peace, The plentie, and the great prosperitie: The manifold great blessings and encrease, In foure and fourtie yeers felicitie, Vnder the Scepter of our gracious Princesse, Our peace preserving, world admired Empresse.“ So etwa in der jungfräulichen Artemis, vgl. Newton, Thomas: Atropoïon Delion, or, The death of Delia with the teares of her funerall. A poeticall excusiue discourse of our late Eliza. London 1603, passim; Rowlands 1603 (wie Anm. 33), S. A4; Lane, John: An elegie vpon the death of the high and renowned princesse, our late Soueraigne Elizabeth. London 1603, S. A3; Petowe 1603 (wie Anm. 30), S. B3; Threno-thriambeuticon 1603 (wie Anm. 26), S. 2; der biblischen Deborah: Oxoniensis Academiae funebre officium 1603 (wie Anm. 33), S. 4; Rowlands 1603 (wie Anm. 33), S. A4; oder in Astraea, der römischen Göttin der Gerechtigkeit: u.a. Oxoniensis Academiae funebre officium 1603 (wie Anm. 33), S. 54, 67. Zum Teil finden sich auch bukolische Anklänge; vgl. z.B. The lamentation of Melpomene, for the death of Belphaebe our late Queene With a ioy to England for our blessed King. London 1603, S. A4.

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„Peace did her raigne begin, peace it maintaind, Peace gave her leave in peace hence to depart, Peace shee hath left behind; which no way staind With bloody warre reioyceth Englands heart: Though we a king of peace have in her stead, Yet let vs mourne: The Queene of peace is dead.“ 36

Das Begriffsfeld „peace“ besitzt hier zwei Dimensionen: Zunächst die eines Friedens nach außen, zu den europäischen Mächten. Darin liegt zunächst nichts Ungewöhnliches, galt doch Frieden auch noch im nachreformatorischen Europa als Norm unter christlichen Fürsten. 37 Die Funeralschriften zeigen sich jedoch von dieser Friedensnorm wenig beeinflusst. Nicht ein Frieden im positiven Sinne, d.h. also eines allgemeinen Friedenszustandes unter den Mächten, sondern allein eine Abwesenheit von Kriegshandlungen auf dem Boden Englands wird propagiert. Die europäischen Mächte des Kontinents, insbesondere natürlich das mit dem Papst in Verbindung gebrachte Spanien, erscheinen als Aggressoren, als Bedrohung der „pax Anglica“. 38 Nicht ein Frieden mit, sondern Sicherheit vor den europäischen Mächten ist das Thema der Schriften. Im Kontext einer solchen Friedensaffirmation treten andere Aspekte elisabethanischer Außenpolitik zurück, bzw. werden gänzlich übergangen, die im historischen Bewusstsein bis heute untrennbar mit Elisabeth verbunden sind. Dazu zählen etwa die Rolle Englands als Seemacht sowie überraschenderweise auch der nahezu mythische Glanzpunkt der Herrschaft Elisabeths, der Sieg über die Armada. 39 Allenfalls unter dem Signum erfolgreicher Verteidigung und göttlichen Schutzes findet dieses Er36

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Sorrovves ioy 1603 (wie Anm. 33), S. 14. Krieg dagegen erscheint, wo er nicht völlig ausgeklammert wurde, dem Erreichen und Stabilisieren des Friedens untergeordnet. Auch das Ansehen Englands nach außen sei nicht durch militärische Aggression, sondern durch diplomatisches Geschick und „Liebe“ hervorgebracht worden, vgl. z.B. Niccols 1603 (wie Anm. 30), S. A3: „Greater then Alexander she was, for the world which he subdued by force, she conquered by love.“ Vgl. Kampmann, Christoph: Frieden. In: Jaeger, Friedrich (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 4. Stuttgart 2006, Sp. 1-21. Vgl. etwa Oxoniensis Academiae officium funebre 1603 (wie Anm. 33), S. 35: „Salve candida Pax, beata salve, […] Quamvis fulmine Pontifex profano, Hispanus tonitru superbus artro, Divinum violare uterque Cultum, Et pacem voluit fugare nostram“ Einige wenige Anspielungen finden sich, jedoch wird die Niederlage Spaniens hier eher auf göttlichen Schutz denn auf englische Exzellenz zurückgeführt. Vgl. etwa Chettle, Henry: Englandes mourning garment vvorne here by plaine shepheardes; in memorie of their sacred mistresse, Elizabeth, queene of vertue while shee liued, and theame of sorrow, being dead. London 1603, S. B2f.

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eignis Erwähnung. 40 Insgesamt werden der Schutz und die Verteidigung Englands besonders hervorgehoben. 41 Ein übergreifender Frieden unter den Mächten findet keine Erwähnung. Dagegen wird der Gegensatz vom Krieg unter den europäischen Mächten und gleichzeitigen Frieden in England hervorgehoben, was die Inselzentrierung der Schriften noch unterstreicht: „Dum rapiunt alias gentes incendia Martis, Vicinosque omnes bella cruenta premunt, Te duce fida diu fovit concordia cives, Te duce pax & amor, regna Britanna beant.“ 42

Dementsprechend beschäftigen sich die Trauerschriften überwiegend mit der Lage im Innern. Hier zeigt sich die eigentliche Stoßrichtung und Bedeutungsebene von Frieden als Leitkategorie der Trauerschriften: Die Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit und Ordnung, die sich neben der Verteidigung nach außen vor allem in der Eintracht der Untertanen und in der Behauptung der Rechtsordnung, zu der auch die Unterdrückung potenziell subversiver Kräfte zählt, ausdrückt. 43 Das Ergebnis eines solchen Friedens wird in den bukolischen Bildern eines Goldenen oder Saturnischen Zeitalters, als „aurea aetas“ oder „Halyconis dies“ gepriesen. 44 Die eingangs geschilderten Probleme der Zeit haben dagegen vordergründig keinen Raum in der topischen Scheinrealität der Funeralschriften. Handelt es sich demnach lediglich um gattungsgebundene Panegyrik, die losgelöst von ihrem Entstehungskontext zu betrachten ist? Liegt ihnen überhaupt eine politische Aussageabsicht zu Grunde? 40 41

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Vgl. etwa Hayward 1603 (wie Anm. 33), S. D3. Vgl. Mulcaster, Richard: In mortem serenissimae Reginae Elizabethae. Naenia consolans. London 1603, S. A3; Oxoniensis Academiae funebre officium 1603 (wie Anm. 33), S. 21, 25, 35, 44, 48, 81, 94, 110f., 120, 123, 143; Sorrovves ioy 1603 (wie Anm. 33), S. 9; Threnothriambeuticon 1603 (wie Anm. 26), S. 12; Chettle 1603 (wie Anm. 39), S. B2. Eine Ausnahme stellt Oxoniensis Academiae funebre officium 1603 (wie Anm. 33), S. 174 dar, das sich in seiner martialischen Konnotation von den übrigen Funeralschriften stark unterscheidet. Oxoniensis Academiae funebre officium 1603 (wie Anm. 33), S. 14. Ähnlich: Nixon 1603 (wie Anm. 33), S. B2, Übersetzung d. lat. Orig. durch d. Verf.: „Während das Verderben des Krieges die anderen Völker dahinrafft und blutige Kämpfe alle Nachbarn bedrücken, wärmte unter deiner Herrschaft sichere Eintracht die Bürger, erfreuen unter deiner Herrschaft Pax und Amor die britannischen Reiche.“ Zur Betonung der Eintracht siehe etwa Threno-thriambeuticon 1603 (wie Anm. 26), S. 59; Oxoniensis Academiae funebre officium 1603 (wie Anm. 33), S. 35, zur Rechtsordnung vgl. ebd. S. 119; Hayward 1603 (wie Anm. 33), S. D2. Vgl. Oxoniensis Academiae funebre officium 1603 (wie Anm. 33), S. 176: „Aurea tunc aetas, vere Saturania secla; Halcyonis vere vidimus isse dies“.

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Ein genauerer Blick erscheint nötig. Aussagen lassen sich gemeinhin nicht nur explizit, sondern auch implizit und mitunter durch Auslassungen treffen: So erscheinen die hier beschworene soziale Eintracht 45 und ökonomische Prosperität 46 als Gegenbilder zur Furcht vor sozialen und politischen Unruhen im Angesicht der angespannten wirtschaftlichen Lage, der außenpolitischen Bedrohungsszenarien, der sozialen Friktionen sowie des Dynastiewechsels. Komplexe oder kontroverse Themen, wie etwa die Frage der religiösen Ausrichtung des Gemeinwesens, verdichten sich auf eindringliche und vor allem einheitsstiftende Schlagworte, etwa auf die Bewahrung der Kircheneinheit und die Beschwörung des gemeinsamen Kampfes gegen den Katholizismus. 47 Insgesamt entwerfen die Autoren ein Idealbild und damit gleichsam eine Orientierung für politisches Handeln, das sich zwar am historischen Kontext orientiert, ihn aber gerade nicht abbildet. Stattdessen wird er in nur auf den ersten Blick panegyrischen Gemeinplätzen beschrieben, die jedoch insgesamt spezifische Wahrnehmungsmuster der Zeitgenossen im Krisenjahr 1603 spiegeln: Vor allem eine starke Konzentration auf die Grundfragen der Ordnung, Sicherheit und Einheit des englischen Gemeinwesens, die einhergeht mit einer gewissen Marginalisierung außenpolitischer Themen. Dies hat auch Einfluss auf die Darstellung der verstorbenen Herrscherin: Ganz gleich ob im bukolischen, mythischen oder biblischen Gewand, Elisabeth erscheint stets als die über den Dingen stehende, ja geradezu der Handlungssphäre entrückte Garantin von Frieden und Prosperität. 48 Schilderungen ihrer Duldsamkeit und ihrer Opferbereitschaft werden etwa in dem häufigen Bezug auf die Leidensgeschichte der jungen Elisabeth unter der Herrschaft ihrer katholischen Schwester, Maria I., herausgestellt und unterstreichen die Friedenszentrierung der Schriften. 49 Trotz dieser durchaus positiven Schilderungen sind die Schriften insgesamt jedoch nicht allein auf ihre eulogische Dimension zu beschränken. Als 45 46 47

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Vgl. etwa Hayward 1603 (wie Anm. 33), S. D2; Oxoniensis Academiae funebre officium 1603 (wie Anm. 33), S. 119; Threno-thriambeuticon 1603 (wie Anm. 26), S. 50-52, 59. Vgl. Nixon 1603 (wie Anm. 33), S. B3, B4; Oxoniensis Academiae funebre officium 1603 (wie Anm. 33), S. 44, 120, 130, 142, 144; Rowlands 1603 (wie Anm. 33), S. A3. Zur Beschwörung der Kircheneinheit und des gemeinsamen Kampfes gegen den Katholizismus vgl. Nixon 1603 (wie Anm. 33), S. B2-B3; Oxoniensis Academiae funebre officium 1603 (wie Anm. 33), S. 43, 70, 94, 125, 128f., 160, 162, 164, 175. Zu Elisabeth als Garantin von Frieden und Prosperität siehe u.a. Hayward 1603 (wie Anm. 33), S. D2, D3; Nixon 1603 (wie Anm. 33), S. B2-B3; Oxoniensis Academiae funebre officium 1603 (wie Anm. 33), S. 142-144; Threno-thriambeuticon 1603 (wie Anm. 26), S. 21, 31, 33, 49. Vgl. The poores lamentation for the death of our late dread soueraigne the high and mightie Princesse Elizabeth, late Queene of England, France and Ireland VVith their prayers to God for the high and mightie Prince Iames by the grace of God King of England, Scotland, France and Ireland, defender of the faith. London 1603, S. A3-B1.

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Gattung sind die Funeralschriften sicherlich zu Recht der Panegyrik zuzuordnen. Umso erstaunlicher ist es, dass sich in den untersuchten Texten zahlreiche kritische, ja sogar polemische Stimmen finden. John Howson etwa, Vizekanzler der Universität Oxford, textete kurzerhand das Triumph- und Trinklied des Horaz auf den Tod der Kleopatra um, das einige Berühmtheit durch seinen programmatischen ersten Vers: „Nunc est bibendum“ 50 besitzt. Zwar heißt es bei Howson „Nunc est dolendum“ – „Jetzt muss man trauern“, der Kontext des antiken Vorbildes schwingt aber in jeder Zeile mit. 51 Für den gebildeten Leser muss die hier aufgeworfene Parallelität zwischen dem Tod der Tyrannin und dem Elisabeths offenbar gewesen sein. Aber auch abseits derartiger Spitzen ist der Herrscherwechsel in den Funeralschriften eindeutig positiv belegt. 52 In den Worten John Fentons liest sich dies so: „Shee was a Maiden Princes and her life Was never fashion’d to be christned wife: But now (O blessed now) we have a King: From whom both grace, peace, hope, and heirs doe spring“. 53

Die Aufbruchsstimmung, die sich mit dem Tod der altjungferlichen Königin und der Thronbesteigung eines Vaters zweier Söhne verband, manifestiert sich häufig in einem Bild: Der Mond Elisabeths – ein wichtiges Element ihrer Selbstdarstellung 54 – wird der Sonne Jakobs gegenübergestellt: Die Nacht weicht dem Tag. „Luna’s extinct, and now beholde the Sunne.“ 55 Das Aufgreifen und die Umwertung bekannter Bilder ist von großer Bedeutung innerhalb der zeichenorientierten Kommunikation der Vormoderne. 56 Der Mond, den Elisabeth als Emblem ihrer Jungfräulichkeit und Sakrali50 51 52

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Horaz, Carmina, I, 37. Oxoniensis Academiae funebre officium 1603 (wie Anm. 33), S. 177. Grundsätzlich zum Aszendenzgedanken vgl. u.a. Petowe 1603 (wie Anm. 30), S. A2, B3; Hayward 1603 (wie Anm. 33), S. C8f., D1; Fenton 1603 (wie Anm. 33), S. B4; The lamentation of Melpomene 1603 (wie Anm. 35), S. B4; Oxoniensis Academiae funebre officium 1603 (wie Anm. 33), S. 2, 9, 14, 15f., 41, 46, 62, 95, 97, 135, 140, 170, Sorrovves ioy 1603 (wie Anm. 33), S. 6, 14, 27; Threno-thriambeuticon 1603 (wie Anm. 26), S. A4, 2f., 10, 20, 22, 25, 26, 36, 37, 54; Chettle 1603 (wie Anm. 39), S. F3f. Fenton 1603 (wie Anm. 33), S. B4. Zur Bedeutung des Mondes in der Darstellung Elisabeths vgl. Yates, Frances Amelia: Astraea. The imperial theme in the sixteenth century. London u.a. 1975, S. 76-79. Petowe, Henry: Englands Caesar His Maiesties most royall coronation. Together with the manner of the solemne shewes prepared for the honour of his entry into the cittie of London. […]. London 1603, S. B3. Vgl. zum Sonne-Mond Vergleich außerdem Threnothriambeuticon 1603 (wie Anm. 26), S. 2f., 10, 20, 26. Vgl. dazu neuerdings die Ergebnisse des Tagungsbandes Kampmann, Christoph u.a. (Hrsg.): Bourbon – Habsburg – Oranien. Konkurrierende Modelle im dynastischen Euro-

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tät verwendete, gilt auch als klassisches Geschlechtssymbol des Weiblichen komplementär zur Sonne als Symbol des Männlichen. 57 Diese Deutung wird in den Funeralschriften aufgegriffen, wobei die Sonne bzw. der männliche Teil eine deutliche Aufwertung gegenüber dem weiblichen erfährt. Angesichts solcher Stimmen bleibt Elisabeth bei aller panegyrischen Erhöhung dem Idealbild eines Herrschers nur angenähert. Dessen Verwirklichung bleibt ihrem Nachfolger überlassen. Die Ideale von „peace and plenty“ bezogen sich mithin nicht auf die zurückliegende Regierungszeit, sondern formulierten vielmehr positive Erwartungen an die Regierung Jakobs. Zwar wurden Trauer und Panegyrik gattungsbedingt Genüge getan. Der Tod Elisabeths wurde jedoch im Kontext der aktuellen Krise und des Dynastiewechsels als positive Grenze oder – besser – als Aufbruch wahrgenommen. Versteht man das Funeralschrifttum als Ausdruck einer breiteren öffentlichen Wahrnehmung, kann 1603 von Rückwärtsgewandtheit oder gar „Nostalgie“ keine Rede sein. 58 Das ist erstaunlich: Entgegen der Bedeutung, die Tradition und Präzedenz gerade in der vormodernen Monarchie für die Legitimierung politischer Zielsetzungen einnahmen, 59 entgegen dem Verständnis von Reform als der Wiederherstellung eines ursprünglichen Zustandes, 60 wird hier eine Art Fortschrittsdenken formuliert. Das Vergangene bleibt hinter dem Gegenwärtigen und, wichtiger, hinter dem Zukünftigen zurück. Der Wandel, „change“, wird explizit begrüßt. 61 57

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pa um 1700. Köln 2008. Ursprünglich ist diese Symbolik also auf eine Einheit und Ergänzung und nicht auf eine Hierarchie der Geschlechter ausgerichtet, wie dies Heide Wunder sehr luzide herausgearbeitet hat; vgl. Wunder, Heide: „Er ist die Sonn’, sie ist der Mond“. Frauen in der frühen Neuzeit. München 1992, S. 262-268. Hier dagegen, wenn gleichsam eine Wahl zwischen Mond und Sonne getroffen werden soll, erscheint das männliche Element dem weiblichen eindeutig als das überlegene. In der Forschung wurde die Stuartsche Erinnerung an Elisabeth häufig als nostalgischer Reflex und als Rückwendung zu einer verklärten Zeit gesehen, vgl. etwa Strong, Roy: The cult of Elizabeth. Elizabethan portraiture and pageantry. London 1977, S. 187 u.ö.; Kay, Dennis: Melodious tears. The English funeral elegy from Spenser to Milton. Oxford 1990, S. 68; Walker, Julia M.: Reading the Tombs of Elizabeth I. In: English Literary Renaissance 26 (1996), S. 511-530; McCoy, Richard: Alterations of State. Sacred Kingship in the English Reformation. New York 2002, S. 80-85. Relativierend hierzu Perry, Curtis: The Citizen Politics of Nostalgia. Elizabeth in Early Jacobean London. In: Journal of Medieval and Renaissance Studies 23 (1993), S. 89-111. Zur Bedeutung von Dynastiegeschichte zur Legitimation frühneuzeitlicher Herrschaft siehe etwa Studt, Birgit: Dynastiegeschichte. In: Jaeger, Friedrich (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 3. Stuttgart 2006, Sp. 11-14 Vgl. zu diesem Verständnis von Reform prägnant Schilling, Lothar: Reform. In: Jaeger, Friedrich (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 10. Stuttgart 2009, Sp. 777-785. Vgl. Sorrovves ioy 1603 (wie Anm. 33), S. 27: „And since her death such changes doth reveale, Say, well-rung Changes make the sweetest peale.

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Dass diese aszendentielle Erwartungshaltung keineswegs auf eine literarische Strategie beschränkt blieb, zeigen Entsprechungen im Kreis der englischen Regierung. Francis Bacon etwa hatte noch vor der Ankunft Jakobs in England den Entwurf für eine königliche Proklamation verfasst. 62 Zentrales Thema darin ist nicht der Bezug auf die verstorbene Vorgängerin und deren Politik, wie angesichts der Bedeutung monarchischer Kontinuität zu erwarten gewesen wäre. Stattdessen findet sich die Ankündigung einer Reformpolitik „for the amendment of the estate and times“. 63 Mit der schottisch-englischen Personalunion werden – gerade wegen ihrer Neuartigkeit – nahezu providentielle Heilserwartungen verbunden. Bacon versucht nicht, eine Kontinuitätslinie zu konstruieren. Vielmehr hebt er die Tatsache hervor, dass es sich um einen präzedenzlosen Vorgang handelt: „It appeareth not in the records of any true history, no nor scarceley in the conceit of any fabulous narration or tradition“. 64 Gerade darin zeige sich eine besondere göttliche Gunst, „a singular honour and favour of God unto ourselves“. 65 Diese Gunst deutet Bacon als Anbrechen einer dauerhaften Friedenszeit. Jakob selbst erscheint als ein keiner Traditionslinie verhafteter Friedensstifter sui generis. Tatsächlich formulierte Jakob selbst in seiner ersten Rede vor dem Parlament 1604 sehr ähnliche Gedanken. Nicht nur hob er die Begeisterung hervor, mit der er in England nach dem Tod Elisabeths empfangen wurde, er betonte auch das Anbrechen eines äußeren, „outward peace“, vor allem aber inneren Friedens, „peace within“. Damit stilisierte er sich zum neuen Friedensbringer. Dies geschah offensichtlich in bewusster Abgrenzung zu Elisabeth, denn auf seine Vorgängerin bezog sich Jakob an keiner Stelle und verzichtete damit also darauf, seine eigene Herrschaft in eine Kontinuitätslinie mit der der letzten Tudorherrscherin zu stellen. 66 Auch über seine rhetorischen Manifeste hinaus blieb Jakob dieser Linie treu, legte er doch in den ersten Jahren seiner Herrschaft einen erstaunlichen Reformeifer an den Tag. 67

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Take comfort heavie minde: For though thy moone decaies, thy sun doth rise.“ Vgl. Spedding, James (Hrsg.): The Letters and the Life of Francis Bacon. Including All His Occasional Works Namely Letters Speeches Tracts State Papers Memorials Devices and All Authentic Writings Not Already Printed Among His Philosophical Literary Or Professional Works. Bd. 3. London 1868, S. 67-71. Ebd., S. 71. Ebd., S. 68f. Ebd. Vgl. James I and VI: A Speach, as it was delivered in the vpper House of Parliament to the Lords Spiritvall and temporall, and to the Knights, Citizens and Burgesses there assembled, on monday the XIX. day of March 1603. Being the first day of the first Parliament. In: Sommerville, Johann P. (Hrsg.): Political writings. Cambridge 2001 (= Cambridge texts in the history of political thought), S. 132-146, Zitate ebd., S. 133-135. Vgl. etwa Munden, R.C.: James I and ‘the growth of mutual distrust’. King, Commons, and Reform, 1603-1604. In: Sharpe 1978 (wie Anm. 6), S. 43-72.

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Vor diesem Hintergrund sind die publizierten Trauerschriften mehr als nur eine Ansammlung elegischer Gemeinplätze. Vielmehr spiegelt sich in ihnen eine Haltung, die den Tod Elisabeths und das Ende der Tudordynastie als eine Grenze im positiven Sinne, als einen Aufbruch begreift. Eine solche aszendentielle Zukunftserwartung ist für eine frühneuzeitliche Monarchie, deren Legitimation sich ja gerade aus Kontinuität und Tradition speist, verblüffend und weist auf ein verstärktes Krisenbewusstsein und einen aus diesem folgenden Reformwillen über den Kreis der unmittelbare Regierungsverantwortung Tragenden hinaus hin.

Die argumentative Instrumentalisierung des Herrscherwechsels 1603 in den politischen Auseinandersetzungen der 1620er Jahre Der Umgang der Zeitgenossen mit der Grenzerfahrung von 1603 mag umso mehr überraschen, bedenkt man die eingangs aufgezeigte Problematik von Dynastiewechseln im historischen Bewusstsein bis ins 20. Jahrhundert. Diese Diskrepanz legt die Frage nach der Perzeption im diachronen Wandel nahe: Wie wurde der Tod Elisabeths und der Dynastiewechsel in der historischen Rückschau gewertet? Dies soll im zweiten Abschnitt dieses Beitrages anhand der Spätzeit der Regierung Jakobs I., den 1620er Jahren, in wenigen Zügen skizziert werden. Unter Jakob I. hatte England eine dauerhafte Friedensphase erlebt. Das Bedrohungsgefühl durch spanische Invasionspläne oder innere Unruhen war kaum noch greifbar. 68 Damit hatten sich auch innerhalb der publizistischen Öffentlichkeit die Prioritäten verschoben: Statt der inneren Ruhe und Sicherheit war vermehrt die Rolle Englands auf dem Kontinent in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Den Hintergrund dieser Interessenverschiebung bildeten neben dem Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges und der damit verbundenen Frage nach der Positionierung Englands unter den europäischen Mächten 69 die unpopulären Pläne Jakobs, England durch eine dynastische Eheverbindung außenpolitisch enger an das katholische Spanien zu binden. 70 Im Verlauf hitziger Debatten um das sogenannte „Spanish Match“ geriet die 68

69 70

Auch die ökonomische Basis hatte sich zunächst im Zuge des Friedens durch eine Ausweitung des Handels gebessert; vgl. Supple, Barry E.: Commercial Crisis and Change in England, 1600-1642. A study in the instability of a mercantile economy. Cambridge 1959, S. 28-32. Vgl. dazu etwa Adams, Simon: Foreign Policy and the Parliaments of 1621 and 1624. In: Sharpe 1978 (wie Anm. 6), S. 139-171. Zum sogenannten Spanish Match siehe Cogswell, Thomas: England and the Spanish Match. In: Cust, Richard/Hughes, Ann (Hrsg.): Conflict in early Stuart England. Studies in religion and politics 1603-1642. London u.a. 1989, S. 107-133.

Der englische Regierungs- und Dynastiewechsel 1603

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pazifistische und überkonfessionelle Ausgleichspolitik Jakobs verstärkt unter Legitimationsdruck. 71 Welche Konsequenzen ergaben sich aus dieser politischen Ausgangslage für die Wahrnehmung der dynastischen Zäsur von 1603? Hatte die Erinnerung an Elisabeth in den politischen Auseinandersetzungen lange Zeit eine marginale Rolle gespielt, so änderte sich dies nun grundsätzlich. Dabei unterschied sich das hier vermittelte Bild von den herkömmlichen Darstellungen in signifikanter Weise: Nicht mehr die Friedensherrscherin und Garantin innerer Ruhe und Sicherheit, sondern die siegreiche Kriegsherrin gegen das spanische Habsburg und die Mehrerin englischen Ruhms beherrschte die Erinnerung. Martialische und hegemoniale Konnotationen, die zuvor im Elisabeth-Bild kaum eine Rolle gespielt hatten, traten mit Vehemenz hervor, wie die Betonung englischer Seeherrschaft. John Reynolds etwa lässt seine Elisabeth in einer weit verbreiteten Flugschrift gegen das Spanish Match in einer martialischen Sprache ihre eigene militärische Dominanz über Spanien reflektieren. „When […] I raigned, our Valour could stop the Progression of Spaine; yea my Ships domineerd in his Seas and Ports, and their Clouds of smoke and fire, with their Peales of Thunder, struck such amazements to the hearts, that every Spanish Bird kept his owne Nest, not powerfull enough to defend themselves, much lesse to offend any, and lest of all England, who was then in her Triumphes, in her lustre, in her glory.“ 72

Die Dominanz Englands unter Elisabeths Herrschaft stellt Reynolds der angeblichen englischen Schwäche unter Jakob in der Gegenwart gegenüber. Ähnliche Vorstellungen englischer Hegemonie waren bereits zuvor artikuliert worden, so etwa im Zusammenhang mit dem Tod des Prince of Wales, Henry Frederick, im Jahr 1612, der als Hoffnungsträger nationaler Expansionsbestrebungen betrauert wurde. 73 Durch ihre Bündelung und Konzentration auf die Person Elisabeths vermochten diese Vorstellungen aber eine zuvor nicht gekannte Dynamik zu entfalten. Elisabeth entwickelte sich zum Modell einer konfessionellen und aggressiven Außenpolitik, und damit gleichsam zu einem Gegenmodell zum Friedensstifter Jakob. 74 Von zentraler Bedeutung für diese 71 72

73 74

Zu den außenpolitischen Auseinandersetzungen in den 1620er Jahren siehe etwa Adams 1978 (wie Anm. 69). Vox coeli, or, Newes from heaven, of a consultation there held by the high and mighty princes, King Hen. 8., King Edw. 6., Prince Henry, Queene Mary, Queene Elizabeth, and Queene Anne […] written by S.R.N.I. London 1624, S. 37. Vgl. dazu die Traueranthologie der Universität von Oxford: Iusta Oxoniensium. London 1612, S. A1, B3, D2, E3 u.ö. Große Bedeutung erlangten etwa die Flugschrift Vox Coeli 1624 (wie Anm. 72) oder der handschriftlich verbreitete Text „If Saints in heaven cann either see or heare“. In: Bellany, Alastair/McRae, Andrew (Hrsg.): Early Stuart Libels. An edition of poetry from manu-

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Entwicklung war die Entstehung eines einheitlichen Diskurses über die Erinnerung an die verstorbene Königin, das heißt die Verselbstständigung des Sprechens über Elisabeth und die Homogenisierung des darin transportierten Bedeutungsgehalts. Anstelle einer Vielzahl möglicher Narrationen, die unter dem allgemeinen Begriff von „Peace and Plenty“ subsumiert werden konnten, trat eine einheitliche und hegemoniale Deutung und Sinngebung von Elisabeths Herrschaft. Diese Vereinheitlichung und Reduzierung des ElisabethBildes war Voraussetzung für die normative Wirkung, die es in den folgenden Jahren entfalten konnte. Im Kontext politischer Debatten kam Elisabeth nun gleichsam eine Rolle als Maßstab aktueller Politik zu, bei der Frage englischer Mittelmeerpiraten ebenso wie bei der Idee einer protestantischen Union. 75 Im Zentrum dieser Argumentation stand aber der Ruhm Englands und damit verbunden das militärische Eingreifen in den Dreißigjährigen Krieg auf Seiten der Gegner der katholischen Habsburger, für das nun Elisabeths Herrschaft gleichsam als Präzedenz bemüht wurde. 76 Dieses kontinentaleuropäischprotestantische Engagement sollte – vermittelt durch das Modell Elisabeth – besonders zu Beginn der Herrschaft Karls I. vorübergehend zu einer Leitkategorie der englischen Regierung avancieren. 77 Der Wandel der Erinnerung an Elisabeth hin zu Ikonisierung und Modellbildung sowie die normative Aufladung der Erinnerung bewirkten eine folgenschwere Neubewertung des Herrscherwechsels von 1603. Zwangsläufig stellte er nun eine negativ konnotierte Grenze dar, eine Abgrenzung der als ideal und normsetzend beschriebenen Herrschaft Elisabeths zu der zunehmend als defizitär wahrgenommenen Stuartherrschaft. Langfristig verfestigte

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76

77

script sources. Early Modern Literary Studies, Text Series I (2005) (URL: http://purl.oclc. org/emls/texts/libels/ [letzter Zugriff: 11.06.2010]), Nr. Niv1. Letzteres wurde nach Wegfall der Zensur sogar noch in den 1640er Jahren gedruckt. Gegen die Mittelmeerpiraten argumentierte der venezianische Botschafter Alvise Contarini mit Elisabeth, vgl. den Bericht Contarinis vom 3. November 1628 in Hinds, Allen B. (Hrsg.): Calendar of State Papers Relating to English Affairs in the Archives of Venice. Bd. 21. 1628-1629. London 1916, S. 368-386 (URL: http://www.british-history.ac.uk/source. aspx?pubid=1020 [letzter Zugriff: 08.07.2009]). Zu Elisabeth als Argument für eine protestantische Union siehe etwa den Brief von Sir Thomas Roe an Secretary Windebank vom 8. Januar 1634 in: Bruce, John (Hrsg.): Calendar of State Papers Domestic. Charles I, 1633-4. London 1863, S. 390-480 (URL: http://www.british-history.ac.uk/source.aspx?pubid=477 [letzter Zugriff: 09.04.2009]). So etwa im Dezember 1627; vgl. Hamilton, William Douglas/Lomas, Sophia Crawford (Hrsg.): Calendar of State Papers Domestic. Charles I, 1625-49 – Addenda. London 1897, S. 236-257 (URL: http://www.british-history.ac.uk/source.aspx?pubid=644 [letzter Zugriff: 08.04.2009]). So finden sich Verweise auf Elisabeth in nahezu allen politischen Debatten der Zeit. Dass sie politikleitend waren, zeigen nicht zuletzt der Eintritt Englands in den Dreißigjährigen Krieg und vor allem die militärischen Aktionen Buckinghams, die nahezu eine Imitation maritimer Unternehmungen unter Elisabeth darstellten.

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sich diese Wertung, die sich im Folgenden als schwere Hypothek für die Herrschaft der Stuartkönige erweisen sollte. Hatte bislang die grundsätzliche Vorstellung von Aszendenz und Entwicklung hin zu einem Idealzustand den politischen Denkrahmen geprägt, so trat nun das Gegenteil ein: Gegenüber der idealen Herrschaft Elisabeths musste jede Regierung eine Verschlechterung sein, im besten Falle war sie eine Annäherung. Dieser Wandel in der Haltung zur Stuartherrschaft entwickelte sich im Kontext außenpolitischer Diskurse in der Spätzeit der Regierung Jakobs I. Wirkung entfaltete er dann jedoch besonders unter seinem Nachfolger, Karl I.

Fazit Am Beispiel Elisabeths I. von England wird demnach deutlich, dass der Tod des Herrschers in vormodernen Staaten zwei unterschiedliche Bedeutungsebenen besaß: die Konfrontation der Zeitgenossen mit der aktuellen Krise des Herrscherwechsels sowie dessen Bewertung und argumentative Aufladung und Umdeutung als Epochengrenze im historischen Rückblick. Auf beiden Ebenen lässt sich der Umgang mit dem Tod des Herrschers als Prozess beschreiben, der durch eine durchgehende Wechselseitigkeit von Narration und Ereignis geprägt ist: Die Beurteilung des Herrschertodes und die Wahrnehmung der eigenen Gegenwart sind untrennbar miteinander verknüpft – das eine bedingt das andere. Seine Wertung als Zäsur wird von der jeweiligen Gegenwart geprägt und kann in ihrer normsetzenden Funktion auf eben diese wieder zurückwirken und somit handlungsleitenden Charakter entfalten. Die Perzeption und Konstruktion historischer Zäsuren im diachronen Vergleich erlaubt somit Einblicke in Wandlungen und Kontinuitäten politischer Deutungsmuster im zeitlichen Verlauf. Im vorliegenden Fall deutet die Neubewertung des Todes Elisabeths als negativ konnotierte Epochengrenze auch auf eine grundsätzliche Verschiebung in der Wahrnehmung und im Bewertungsmaßstab der Stuartherrschaft hin.

MARIA GOLUBEVA

Crossing the Confessional Border Discourses of political competence in contemporaries’ evaluations of Leopold I around 1705

The reign of Emperor Leopold I, spanning most of the period from the aftermath of the Thirty Years’ War until the War of Spanish Succession, saw several major crises. Anxiety over securing physical successors in the 1660s and 1670s was followed by the crisis of control over territories in Hungary in the face of rebellion and Ottoman conquest, halted at Vienna in 1683. The reign ended in a loss of certainty in the security of Habsburg succession in Spain, but there were troubles also closer to home – the new rebels’ raids on the outskirts of Vienna disrupted the celebrations of the ageing monarch’s birthday in 1704. In other words, the entire reign can be seen as a series of challenges in which the monarchy knew very little stability. As Christoph Kampmann notes in this volume, the death of the ruler in early modern Europe always presents an illustration of the structural vulnerability of personally ruled states to crisis. Death of a monarch endangers the dynastic state precisely because the question of succession in itself may present political and other difficulties. It is usually considered that one of the few things that remained stable during Leopold’s reign was the staunchly Catholic and confessional character of Leopold’s politics.1 This paper will strive to demonstrate that the Habsburg emperor’s political confessionalism was seriously contested immediately after his death in the most famous history of his reign. A ruler’s death has always been a boundary, even when it was not followed by a change of dynasty. In the case of Leopold, the instability of the political situation at the time of his death, in the midst of another war with France, contributed to a sense of minor apocalypse that some funerary sermons on his demise seem to describe.2 This added to the necessity, for the 1

2

See, for instance, Jean Berenger describing Leopold as a possible leader of Catholic Europe in Berenger, Jean: Leopold Ier fondateur de la puissance autrichienne. Paris 2004. On the image of Leopold as a Catholic monarch, see Goloubeva, Maria: Glorification of Emperor Leopold I in Image, Spectacle and Text. Mainz 2000, Chapter 6. Funerary sermons on Leopold’s death were pronounced in a number of Austrian, imperial and European cities. The catalogue of funerary sermons in German and Latin at the Forschungsstelle für Personalschriften at the Philipps-Universität Marburg (http://web.unimarburg.de/fpmr/) has 58 entries on Leopold I from the year 1705. For apocalyptic quo-

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emperor’s supporters within the Empire, to salvage the glory of Leopold as a successful ruler, who had resisted the two arch-enemies – the Ottomans and Louis XIV – as best he could. In the sermons following his death, from Rome to Breslau, Leopold’s reign was presented as a series of miraculous successes, largely owing to his piety and prayers, which God chose to reward with victories. 3 In other words, in 1705 and shortly thereafter, Leopold was for the most part presented as a successful ruler. His success, however, could be alternatively seen as success in confessional or non-confessional terms. In the German-speaking lands, the geographical boundaries between the hereditary domains of the Habsburgs in Central Europe and the Protestant territories of the Empire became also the (approximate) borders between two posthumous images of Leopold – that of a staunchly Catholic confessional ruler and that of a non-confessional benevolent father of the Empire and of ‘German freedom’. This paper will discuss two important sources illustrating the two opposite tendencies of posthumous representation of the Habsburg ruler in confessional terms – the well-known biography of Leopold by Gottlieb Eucharius Rinck, published some years after the emperor’s death, 4 and the funerary sermon by the court preacher Ferdinand Widmann SJ, entitled Morgenstern bei der Sonne. 5 It would not be too speculative to suggest that when Gottlieb Eucharius Rinck, a Protestant and a student of the major German political theorist of his time, Christian Thomasius, 6 embarked on his enterprise to write what he presented as the most complete and objective history of Leopold’s reign, he also faced the task of dispelling the suspicions that the German Protestant audiences could have had about the emperor’s role in religious persecutions. Those reservations had substantial grounding in contemporary evidence and ideological texts published in the Protestant lands of the Empire. Anton Reiser’s fiery accounts of the sufferings of Hungarian Protestants, printed in Hamburg, 7 were rather widely known, and so were some other writings on

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tations in this context, see especially Pollich, Peter Paul: Leopoldina Corona Cadens. Schweinfurt 1705. See Goloubeva 2000 (see note 1), p. 227. For this paper, the following edition was used: Rinck, Gottlieb Eucharius: Leopolds des Grossen […] wunderwürdiges Leben und Thaten. 3rd ed., 2 vols., Leipzig 1713. See Widmann, Ferdinand: Morgenstern bei der Sonne. Der Kaiser mit Gott. Vienna 1705. A number of recent works reinterpret the doctrines of Christian Thomasius in view of the current developments in the history of political philosophy and even in literary theory. See especially Kühnel, Martin: Das politische Denken von Christian Thomasius. Berlin 2001 and Jaumann, Herbert/Beetz, Manfred (ed.): Thomasius im literarischen Feld. Neue Beiträge zur Erforschung seines Werkes im historischen Kontext. Tübingen 2003. See Reiser, Anton: Antoni Reisers Fünff unterschiedliche Schrifften von seiner und anderer evangelischer Lehrer [...] Verfolgung. Hamburg 1683.

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the matter – such as the letters of Hungarian Lutherans on the persecutions in Pressburg, published by Diarium Europaeum in 1673. 8 At the same time, Catholic apologists of the emperor made no secret of the repression of Protestants in Upper Hungary and of other instances of confessional partisanship that Leopold showed in his day – indeed, as we shall see later from Widmann’s sermon, they sometimes glorified him specifically as a ruler who shunned toleration. When Rinck undertakes the task of justifying the emperor in the face of Protestant critiques, he is induced to deviate from the earlier model of Habsburg political competence, predicated on loyalty to the Catholic Church. This model, embedded in the dynastic historiography of the mid-seventeenth century, 9 had been in existence at least since the days of Charles V. Confronted with the political turmoil of the Reformation in the sixteenth century, the Habsburgs had gravitated towards an increasingly confessional understanding of the rulers’ mission and qualities necessary to accomplish that mission. The model of political competence that Robert Bireley has termed ‘Catholic statecraft’ was developed to perfection by the early-seventeenth-century apologists of the dynasty. 10 The militant confessional stance, however, was becoming untenable outside the Hereditary Lands towards the end of the seventeenth century. The reasons for that were many, and they deserve a separate detailed study. The most obvious reason for the decline of the confessional model of statecraft was probably the need to maintain alliances with Protestant powers inside and outside the Empire, both in the wars with the Ottoman Porte and in the ever-renewed conflict with Louis XIV. In this context, the history written by Rinck, a German Protestant aiming his writings also at a Protestant audience, provides interesting evidence of the extent to which the glorification of the Habsburgs’ policies could be divorced from their traditional confessionalism. To be sure, not all forms of behaviour attributed to the Habsburgs by their confessional advisers and apologists were connected to repression of alternative religious belief as heresy or indeed to political action as 8 9

10

See Diarium Europaeum, Continuatio 15 (1673), p. 8. Striking examples of Catholic confessional stance in the Habsburg dynastic historiography can be found in Vernulaeus, Nicolaus: Historia Austriaca. Louvain 1651; Lotichius, Johann Peter: Austria Parva, id est, gloriae Austriacae, et belli nuper Germanici, sub divo Matthia, Ferdinandis II. et III. Impp. gesti, compendiaria. Frankfurt 1653; Wassenberg, Eberhard: Panegyricus Sacratissimo Imperatori Ferdinando III. Cologne 1647. See especially the posthumous reworking of the pro-Habsburg writings of the Flemish scholar Vernulaeus, Nicolaus: Phosphori Austriaci de Gente Austriaca libri tres. Louvain 1665; praising the staunchly Catholic stance of Ferdinand II and interpreting the rule of previous Habsburg emperors in this light. On Catholic statecraft, see Bireley, Robert: The Counter-Reformation Prince. Anti-Machiavellianism or Catholic statecraft in early modern Europe. London 1990.

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such. Nevertheless, there has existed a line of argument, first espoused already before the Council of Trent by the imperial adviser Mercurino di Gattinara and continued throughout to the seventeenth century, when it was refined by the dynastic historian Vernulaeus, among others, that connects Habsburg piety specifically to repression of heresy, including the suppression of Protestants. This line of argument asserts that politics at all times is subservient to the one true Church and serves its unity above all. 11 Before discussing the ways in which Rinck manages to avoid presenting Leopold I as a champion of Catholic confessional policies, it is important to identify the shape of the Catholic confessional image of the emperor that was still current in Austria at the time. Among the texts that present the posthumous confessional image of Leopold as a Catholic monarch, the funerary sermon by the court preacher Ferdinand Widmann SJ, entitled Morgenstern bei der Sonne, 12 stands out in terms of its confessional vigour. The preacher describes at length the departed emperor’s services to the Catholic Church, in terms that make Leopold appear as a staunch hard-liner in the vein of Ferdinand II. Widmann constructs his image of the uncompromising emperor through rhetorical accumulation, mounting example upon example, beginning from young Leopold’s election to the imperial throne. According to Widmann, at that point, when asked to give more freedom in the Hereditary Lands to the non-Catholics, Leopold answered that he would rather refuse the imperial crown than allow anything to the prejudice of the Catholic religion and faith. In a similar vein, when asked to permit the existence of nonCatholic schools and churches in Vienna in 1664, Leopold answered that like Ferdinand II he would rather go away from the Empire with a staff in his hand than harm the faith. 13 This is a direct reference to an episode from the reign of Ferdinand II quoted by earlier Catholic apologists of the dynasty, from Vernulaeus to Weingarten. 14 More proposals to introduce religious toleration followed shortly thereafter, and here finally Widmann transforms his image of the stoical Catholic emperor into the image of a zealot, ready, if necessary, to shed blood in the defence of his faith:

11

12 13 14

See e.g. A. Mercurino of Gattinara translated from Kodek, Ilse: Der Großkanzler Kaiser Karls V. zieht Bilanz. Die Autobiographie Mercurino Gattinaras aus dem Lateinischen übersetzt. Münster 2004, pp. 198-9; Vernulaeus, Nicolaus: Apologia pro Augustissima Gente Austriaca. Leuven 1640. See Widmann 1705 (see note 5). See ibid., n.p. See Weingarten, Johann Jacob von und zu: Richter-Spiegel oder Vorstellung/ mit was Tugend-Qualität- und Eigenschaften ein Richter oder Oberer begabt oder ja selbe zu erlangen befliessen seyn [...]. Prague 1682, p. 39.

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„Man konnte glauben/ das Begehren die Glaubens-Freyheit zuzulassen/ sey nur in nicht ganz Catholischen Orthen angemasset worden von nicht Catholischen Häubtern. Aber auch in folgenden 1665. Jahr zu Wien/ in geheimben Rath/ von Catholischen Ministern glaubten etwelche/ man könte denen Uncatholischen durch die Finger sehen/ dem zu Regenspurg gemachten Begehren nachgeben/ obschon zum Schimpff Catholischer Religion. Aber LEOPOLD auf die Felß der Kirch gegründet/ von der Sonn unabgesonderter Stern/ hat mit Schamröthe deren lauen Räthen/ und Trost deren besser-vermeinten Catholischen seine vorige Wort: Land und Reich eh zu verlassen/ Bluth eh zu vergiessen/ als mit Glaubens-Verlust dem Begehren beyzufallen/ wiederhollet.“ 15

Further examples of Leopold’s piety from Widmann’s sermon all more or less adhere to the same pattern: he is shown to forbid the exercise of nonCatholic religious rites in hospitals intended for wounded soldiers in Hungary („through which almost all of them died Catholic“). Widmann also states that the emperor bought off plots of land in Silesia in order to avoid the construction of a Protestant church on that ground. 16 In contrast to this and similar strictly black-and-white pictures of a fervently Catholic reign, 17 Rinck has to take great care to construct a more Protestant-friendly or at least neutral image of the monarch. He does this with some subtlety. While his history of the emperor’s reign is also predicated on the thesis that Leopold’s victories were, by and large, a fruit of the emperor’s Christian piety, 18 Rinck manages to divorce this notion of piety from confessional overtones. Thus, fairly early in his narrative of Leopold’s life, when he comes to describe the role of Jesuits in the future emperor’s upbringing, he takes care to refute the rumour that Leopold was himself a secret Jesuit and was therefore always obliged to obey the General of the Society of Jesus. Those who say so, Rinck points out, know little of the Catholic religion – one can subscribe to some spiritual or religious observances of an order without having to follow the rest of its regulations. 19 More difficult to deflect were the accusations of cruelty and Catholic repressions, provoked by the emperor’s policies in Hungary. Here, Rinck’s strategy is once again based on a basic admission of incompetence: It is obvious, that he never knew himself, how strongly people were constrained (gepeiniget) to take another faith, to which God himself forces no one, though he could do it better than all men. How can one then blame the emperor for 15 16 17

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Widmann 1705 (see note 5), n.p. See ibid., n.p. Another example of the same style of rhetoric can be found in the Spanish-language biography of Leopold I: Admirables efectos de la Providencia [...] en la vida e imperio de Leopoldo Primero. Milan 1696. E.g. Rinck 1713 (see note 4), vol. I, pp. 4, 8. See ibid., p. 81.

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those excesses, which should be ascribed to the harshness of General Caraffa, and not to his own commands? This minister, together with the Cardinal Collonitsch, has alone carried this reform in such a horrible form; the last did it out of zeal for religion, the first out of zeal for the Treasury, and for his own purse. When [private] interest sets out to proceed with such rigour, it is impossible to avoid that a veritable monster should spring out of it. 20 This mixture of bigotry and selfish motives ascribed to the ministers effectively leaves the emperor out of the blaming strategy, and another statement of his oversight/incompetence brilliantly serves the purpose of exculpating him from further blame for the sorry state of Hungarian Protestants’ affairs. Note the use of the topos of private interest, introduced by Priorato into the discussion of the failings of Hungarian office-holders under Leopold, which is successfully transferred by Rinck also to blame the new administrators, both secular and religious, appointed by Leopold. A twofold image of Leopold’s relations with religion emerges as the result of Rinck’s rhetorical efforts. The emperor is, on the one hand, a pious Christian relying on God in times of trouble and receiving victories in return. This far, the message of Rinck’s biography is similar to that of the most fervent Catholic apologists. On the other hand, however, Rinck’s emperor is not a Catholic zealot. The persecution of Protestants in his lands is provoked by mismanagement, and not by the ruler’s religious bigotry. However loftily Rinck praises the traditional Habsburg upbringing of his hero, based on the virtues summarised in the dynastic handbook on governance, Princeps in Compendio, 21 a crucial difference exists between the model of political competence represented by the Habsburg handbook on government and the model that Rinck himself constructs. Princeps in Compendio, a mirror of the princes written in the 1630s for the future Ferdinand III, is an example of the anti-Machiavellian rejection of a separation between the spheres of politics and religion central to the Catholic, Counter-Reformation idea of government. 22 Rinck’s vision of virtuous government, on the other hand, is firmly grounded if not in the complete separation of the political and religious spheres, then at least in the firm separation of piety (seen as a desirable quality in a monarch) and religious confessionalism. As a conscientious ruler with a proper upbringing, Rinck’s emperor is morally competent himself and has no need to subject his policies to the guidance of a single Church in order to rule virtuously. 20 21 22

See ibid., pp. 176-7. Rinck 1713 (see note 4), vol. I, pp. 44-74 inserts a German translation of Princeps. See Bosbach, Franz (ed.): ‘Princeps in compendio’. In: Repgen, Konrad (ed.): Das Herrscherbild im 17. Jahrhundert. Münster 1991, pp. 79-114. On anti-Machiavellian stance in the Habsburg ideology, see Bireley 1990 (see note 10).

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It is important at this stage to return to the point that Rinck was, after all, a student of Christian Thomasius. For Thomasius, sovereignty is a secular institution, not springing directly from God’s will, but only a mediated expression of this will. 23 This understanding of politics is far from the model constructed in the first half of the seventeenth century by the ‘organic intellectuals’ that served the House of Austria during the Counter-Reformation era, Vernulaeus and Lamormaini. 24 Another striking similarity between the views of Thomasius and Rinck can be seen in the treatment of the duties and obligations of the subjects. Thomasius does not recognise the right of subjects to oppose an unjust sovereign. However, if the sovereign goes so far as to infringe their freedom of conscience, the subjects are not obliged to follow his commands, but must suffer persecution patiently. Some may emigrate, as a last legitimate refuge. 25 As Ian Hunter points out in his comparison of the ideas of Thomasius und Locke: „As toleration for Thomasius is not grounded in the universal rights of the tolerated, but in an historical campaign to establish a desacralised political authority, the rights and liberties of all churches – dissenting and orthodox – are circumscribed by the sovereign’s absolute right to settle all disputes capable of impacting on civil peace.“ 26 Rinck adopts a similar stance when speaking of the persecutions of the Protestants in Hungary. He reminds his readers that when Louis XIV persecutes the Protestants in his kingdom, „they say that the harshness comes not from his own orders, though it is known in all Europe, that nothing in his kingdom is done without his command“. 27 How much more should the emperor be excused, when his power is weakened by so many factions in his government and his lands. The cruelty may be there, but it surely comes from the excesses of his ministers. Besides, the Evangelicals in Hungary, according to Rinck, have contributed much to their misfortunes by their hot-blooded behaviour („hitzigen Verfahren“): „This nation is much given to hot-headed passions. This can be attributed to both Catholics and Protestants, and so one can conclude that both sides have made similar mistakes”. 28 The Hungarian Protestants are thus presented as religious zealots, whose unreasonable actions had to be restrained by the ruler, striving for supra-confessional peace. Two visions of the nature of Leopold’s politics so different as the vision of Ferdinand Widmann and the vision of Gottlieb Eucharius Rinck could 23 24 25 26 27 28

See Kühnel 2001 (see note 6), p. 92. On the ideas of Vernulaeus and Lamormaini on Catholic statecraft, see Bireley 1990 (see note 10). See Kühnel 2001 (see note 6), p. 88. Hunter, Ian: The Secularisation of the Confessional State. The Political Thought of Christian Thomasius. Cambridge 2008, p. 164. See Rinck 1713 (see note 4), p. 177. Ibid., p. 178.

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coexist in the camp of German-speaking supporters of Habsburg policies around 1700 exactly owing to the fact that the model of the confessional state that Widmann supported and Rinck (after Thomasius) disparaged was itself in flux and most probably in decline. The border between the two visions, seemingly linked to the confessional geography of the German-speaking lands, would soon become purely intellectual, even though the confessional vision would live longer in the Habsburg lands than in some other places of the Empire.

ULRICH NIGGEMANN

Der mediale Umgang mit dem Tod eines umstrittenen Herrschers Die Memoria Wilhelms III. zwischen „Glorious Revolution“ und Hannoverscher Thronfolge I. Der Tod König Wilhelms III. von England am 8. März 1702 fiel mitten in die Transformations- und Übergangsphase zwischen der sogenannten „Glorious Revolution“ von 1688/89 und der Hannoverschen Thronfolge 1714. 1 Die Vertreibung König Jakobs II. im Dezember 1688 und die Krönung Wilhelms zusammen mit seiner Frau Maria im Februar 1689 bildeten trotz aller Relativierungsversuche 2 den Auftakt zu einer Phase beschleunigten und tief greifenden Wandels sowohl im Hinblick auf das Verhältnis von Krone und Parlament, das im 17. Jahrhundert immer wieder zu erheblichen Friktionen geführt hatte, als auch im Hinblick auf zahlreiche weitere Einzelaspekte wie der Gründung der Bank of England 1694 oder der Schaffung des Vereinigten Königreichs von Großbritannien 1707. 3 Insofern scheint es berechtigt, nicht

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An Biographien zu Wilhelm III. (und Maria II.) seien genannt: Baxter, Stephen B.: William III. London 1966; Troost, Wout: William III, the Stadholder-King. Aldershot 2005; Claydon, Tony: William III. London u.a. 2002 sowie die biographische Skizze von Hellmuth, Eckart: Wilhelm III. und Maria II. 1689-1702 und 1689-1694. In: Wende, Peter (Hrsg.): Englische Könige und Königinnen der Neuzeit. München 1998, S. 157-175. Vgl. insbes. Clark, Jonathan C.D.: English Society, 1688-1832. Ideology, Social Structure and Political Practice during the Ancien Regime. Cambridge 1985. Vgl. aber auch die Kritik an Clark etwa durch Innes, Joanna: Jonathan Clark, Social History and England’s „Ancien Regime“. In: Past and Present 115 (1987), S. 165-200. Vgl. aus der Fülle der Literatur: Harris, Tim: Revolution. The Great Crisis of the British Monarchy, 1685-1720. London 2006; Rose, Craig: England in the 1690s. Revolution, Religion and War. London 1999; Hoppit, Julian: A Land of Liberty? England 1689-1727. Oxford 2000 (= The New Oxford History of England) und knapper Greyerz, Kaspar von: England im Jahrhundert der Revolutionen 1603-1714. Stuttgart 1994, S. 219-241 sowie insbes. die Sammelbände von Schwoerer, Lois G. (Hrsg.): The Revolution of 1688-1689. Changing Perspectives. Cambridge 1992; Jones, James R. (Hrsg.): Liberty Secured? Britain before and after 1688. Stanford 1992; Israel, Jonathan I. (Hrsg.): The Anglo-Dutch Moment. Essays on the Glorious Revolution and its World Impact. Cambridge 1991 sowie mit prägnanten Einführungsbeiträgen Dickinson, Harry T. (Hrsg.): A Companion to Eighteenth-Century Britain. Malden 2002 (= Blackwell Companion to British History).

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ein einzelnes Ereignis als Zäsur zu begreifen, sondern eher den gesamten Zeitraum als Grenze und Übergang in den Blick zu nehmen. Wilhelms Tod inmitten dieser Umbruchsphase und zumal am Beginn eines neuen Krieges, des Spanischen Erbfolgekrieges, 4 war daher mehr als nur eine Grenze im Sinne des Übergangs von einem Herrscher auf den nächsten, sondern vielmehr ein Indikator für den Umgang der politischen Öffentlichkeit mit der gesamten Grenz- und Umbruchsperiode nach der Revolution. Es ging letztlich auch um die Frage, ob die Nachfolgerin Anna, die jüngere Tochter Jakobs II., 5 am Revolution Settlement und an der Hannoverschen Sukzession festhalten oder ob mit ihr die Stuart-Restauration eingeleitet würde. Diese Frage war vielleicht in der Wahrnehmung der Zeitgenossen 1702 offener, als es in der Rückschau erscheinen mag. 6 Gewissermaßen handelte es sich um die Grenze zwischen zwei Zukunftsentwürfen. England befand sich am Scheideweg: Dauerhaftigkeit des Revolution Settlement oder Episode? Wie umkämpft diese Frage die gesamte Regierungszeit Annas hindurch noch war, belegt der sogenannte „Rage of Party“, der intensiv geführte Parteienstreit der Jahre 1710 bis 1713. 7 In diesem Kontext scheinen die Memoria Wilhelms III. und – damit zusammenhängend – die Deutung und Konzeptualisierung der Ereignisse seit 1688 durch die Zeitgenossen von einiger Bedeutung für die Durchsetzung

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Vgl. außerdem auch Pincus, Steve: 1688. The First Modern Revolution. New Haven 2009, der allerdings einen beschleunigten Modernisierungsschub schon in der Regierungszeit Jakobs II. sieht. Die Kriegserklärung Königin Annas, der Nachfolgerin Wilhelms, an Ludwig XIV. von Frankreich erfolgte am 4. Mai 1702, im Wortlaut wiedergegeben im Protokoll des Privy Council, St. James’s, 4. Mai 1702, London: The National Archives PC 2/79, S. 113f. Vgl. zum Spanischen Erbfolgekrieg Hattendorf, John B.: England in the War of the Spanish Succession. A Study of the English View and Conduct of Grand Strategy 1702-1712. New York 1987. Zu Anna vgl. Gregg, Edward: Queen Anne. London 1980 und die biographische Skizze von Jordan, Ulrike: Anna. 1702-1714. In: Wende 1998 (wie Anm. 1), S. 176-187. Das gilt trotz der mittlerweile anerkannten Tatsache, dass Anna zu keinem Zeitpunkt ernsthaft eine Restauration der Stuarts angestrebt hatte; vgl. insbes. Gregg, Edward: The Protestant Succession in International Politics, 1710-1716. New York 1986, S. 44. So auch bereits Feiling, Keith: A History of the Tory Party 1640-1714. Oxford 1924, S. 361, 458, der freilich zugleich die Abneigung der Königin gegenüber dem Haus Hannover betont. Dass sie hingegen den Eindruck erweckt haben mochte, dass die Rückkehr zur StuartMonarchie eine Option sei, ist damit unbestritten; vgl. dazu Clark 1988 (wie Anm. 2), S. 130. Der Begriff des „Rage of Party“ zuerst bei Plumb, John H.: The Growth of Political Stability in England, 1675-1725. London 1967 (ND 1982), S. 129-158. Zur publizistischen Debatte in der Schlußphase der Regierung Annas vgl. Müllenbrock, Heinz-Joachim: The Culture of Contention. A Rhetorical Analysis of the Public Controversy about the Ending of the War of the Spanish Succession, 1710-1713. München 1997 (= Monographs on Eighteenth-Century English Literature and Culture).

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von Gegenwarts- und Zukunftsentwürfen gewesen zu sein. Kevin Sharpe hat zu Recht auf die wichtige legitimatorische Funktion von Geschichte bei der Durchsetzung des Revolution Settlement und auf die noch immer bestehenden Forschungsdesiderate in diesem Themenfeld hingewiesen. 8 Im Folgenden soll gezeigt werden, dass die Erinnerungsliteratur von 1702 und den Folgejahren als ein wichtiger Baustein für diesen Vorgang angesehen werden kann. Es geht hier also um die bereits in der Einleitung zu diesem Themenblock herausgestellte Strukturschwäche personal verfasster monarchisch-dynastischer Staatswesen, deren Stabilität beim Tode eines Herrschers stets gefährdet war. Doch über dieses grundsätzliche Problem hinaus stehen im Falle Wilhelms III. von England die zusätzliche Instabilität und das besonders auffällige Legitimationsdefizit innerhalb einer revolutionären Periode im Fokus der Betrachtung. Im Mittelpunkt der Erörterung soll die Frage nach den Inhalten und Funktionen der Memoria Wilhelms III. im Zeitraum zwischen seinem Tod im März 1702 und der Hannoverschen Thronfolge 1714 stehen. Fand innerhalb dieser Umbruchsphase die von Christoph Kampmann angesprochene „Entgrenzung“ des Todes Wilhelms III. statt, um durch seine Memoria die protestantische Thronfolge zu sichern? Woran erinnerte man sich? Welche Ereignisse waren in der Erinnerung von zentraler Bedeutung? Welche Rolle spielte Wilhelm in diesen Ereignissen, und wie wurde der verstorbene König bewertet? Es sei bereits jetzt vorweggenommen, dass der Revolution von 1688/89 während der erhitzten Debatten in der Regierungszeit Annas eine besondere Bedeutung zukam und sie deshalb auch in der Memoria Wilhelms III. von besonderer Relevanz war. Insofern war die Erinnerung an Wilhelm zumindest partiell immer auch Erinnerung an die Revolution. Es wird also auch nach der Funktion der Wilhelm-Memoria im Kontext der Auseinandersetzung um die postrevolutionäre Ordnung nach 1702 zu fragen sein. Dabei stellt sich überdies die Frage nach möglichen Akzentverschiebungen und Umdeutungen. Quellengrundlage ist zunächst einmal die reiche Funeralliteratur, die anlässlich des Todes Wilhelms III. publiziert wurde, darunter zahlreiche Predigttexte und Gedichte. 9 Darüber hinaus ist auch die politische Publizistik bis

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Vgl. Sharpe, Kevin: Remapping Early Modern England. From Revisionism to the Culture of Politics. In: ders. (Hrsg.): Remapping Early Modern England. The Culture of Seventeenth-Century politics. Cambridge 2000, S. 3-37, hier S. 4. Ansätze finden sich bei Zwicker, Steven N.: Lines of Authority. Politics and English Literary Culture 1649-1689. Ithaca 1993, S. 173. Zur Funeralliteratur sind Leichen- und Gedenkpredigten, Nachrufe, Trauerreden und Trauergedichte (Epicedien) und andere unmittelbar im Zusammenhang mit dem Tod einer Person stehende Texte zu rechnen, die v.a. im protestantischen Europa nach der Reforma-

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in die frühen Jahre der Hannoveraner Herrschaft sowie schließlich das historiographische Schrifttum einzubeziehen. Entscheidend für den hier thematisierten Zusammenhang ist, dass diese Texte nicht als Resultate einer monopolisierten und zentral abgestimmten Bemühung um eine offizielle Geschichte sind, sondern weitgehend dezentral und unabhängig formuliert wurden. Da es in England seit 1695 keine Vorzensur mehr gab, war die Bandbreite dessen, was publizierbar war, recht groß. 10 Dass die öffentliche Erinnerung an Wilhelm III. dennoch relativ homogen formuliert wurde, gehört vor diesem Hintergrund sicher zu den überraschenden Tatsachen, die letztlich wohl nur diskursgeschichtlich über die prägende Wirkung der wilhelmitischen Propaganda nach 1688 zu erklären sind. 11

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tion einen beträchtlichen Aufschwung erfuhren, im Falle von Herrschern jedoch auch im katholischen Bereich üblich waren. Vgl. dazu die Beiträge bei Lenz, Rudolf (Hrsg.): Leichenpredigten als Quelle historischer Wissenschaften. Bd. 1-4. Köln/Stuttgart 1975-2004; außerdem ders.: De mortuis nil nisi bene? Leichenpredigten als multidisziplinäre Quelle unter besonderer Berücksichtigung der historischen Familienforschung, der Bildungsgeschichte und der Literaturgeschichte. Sigmaringen 1990 (= Marburger Personalschriftenforschungen 10); ders.: Art. „Leichenpredigt“. In: Theologische Realenzyklopädie. Bd. 20. Berlin/New York 1990, S. 665-669; Papenheim, Martin: Erinnerung und Unsterblichkeit. Semantische Studien zum Totenkult in Frankreich (1715-1794). Stuttgart 1992 (= Sprache und Geschichte 18), S. 35-51 und mit einem Plädoyer für eine weiche Abgrenzung dieser Quellen Kampmann, Christoph: Arbiter und Friedensstiftung. Die Auseinandersetzung um den politischen Schiedsrichter im Europa der Frühen Neuzeit. Paderborn 2001 (= Quellen und Forschungen aus dem Gebiet der Geschichte NF 21), S. 110f., insbes. Anm. 194. Vgl. zum publizistischen Markt und zum Wegfall der Vorzensur in England durch Auslaufen der „Licensing Act“ Winkler, Karl T.: Wörterkrieg. Politische Debattenkultur in England 1689-1750. Stuttgart 1998, S. 5f. und Müllenbrock 1997 (wie Anm. 7), S. 18f. Hinzu kommt im Hinblick auf das Funeralschrifttum, dass es in England nach 1660 (mit der einzigen Ausnahme Marias II. 1695) für Mitglieder der königlichen Familie kein aufwendiges Staatsbegräbnis mehr gab, sondern nur noch im Aufwand sehr reduzierte „private funerals“, bei denen eine Leichenpredigt, die als Richtschnur für die Gedenkpredigten im Land hätte dienen können, nicht mehr üblich war; vgl. dazu Fritz, Paul S.: From „Public“ to „Private“. The Royal Funerals in England, 1500-1830. In: Whaley, Joachim (Hrsg.): Mirrors of Mortality. Studies in the Social History of Death. London 1981 (= The Europe Social History of Human Experience 3), S. 61-69; ders.: The Trade in Death. The Royal Funerals in England, 1685-1830. In: Eighteenth-Century Studies 15 (1982), S. 291-316; Schaich, Michael: The Funerals of the British Monarchy. In: ders. (Hrsg.): Monarchy and Religion. The Transformation of Royal Culture in Eighteenth-Century Europe. Oxford 2007 (= Studies of the German Historical Institute London), S. 421-450. Zur wilhelmitischen Propaganda Schwoerer, Lois G.: Propaganda in the Revolution of 1688-9. In: American Historical Review 82 (1977), S. 843-874; Claydon, Tony: William III and the Godly Revolution. Cambridge 1996; Nürnberger, Kai: Die Kunst der Information. König Wilhelm III. und die Medien seiner Zeit. Heidelberg 2003 (= Britannica et Americana Folge 3, 21).

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II. Wilhelm III. war bekanntlich als landfremder Herrscher, der zudem seinen neuen Untertanen gegenüber reserviert blieb und im Gegensatz etwa zu Karl II. eher unzugänglich war, nicht unbedingt populär. Das intensive militärische Engagement auf dem europäischen Kontinent sowie die damit einhergehende hohe Steuerlast taten ein Übriges, um Kritik am König hervorzurufen, insbesondere als dieser versuchte, nach dem Friedensschluss von Rijswijk sein stehendes Heer beizubehalten. 12 Vor dem Hintergrund dieses in der modernen Forschung vielfach hervorgehobenen Popularitätsdefizits des Niederländers in England muss die Funeralliteratur des Jahres 1702 eher überraschen. Kritik an Wilhelm spiegelt sich in ihr nur insofern, als die Kritiker als undankbare „murmurers“, die mit den unzufriedenen Israeliten beim Auszug aus Ägypten verglichen wurden, scharfe Worte des Tadels hinnehmen mussten. 13 Wilhelm hingegen erschien als neuer Moses, der das englische Volk Gottes in die Frei-

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Vgl. z.B. Troost 2005 (wie Anm. 1), S. 215-220, 233f.; Levillain, Charles-Edouard: Cromwell Redivivus? William III as Military Dictator. Myth and Reality. In: Mijers, Esther/Onnekink, David (Hrsg.): Redefining William III. The Impact of the King-Stadholder in International Context. Aldershot 2007 (= Politics and Culture in North-Western Europe 1650-1720), S. 159-176 sowie speziell zur Kontroverse um das stehende Heer Schwoerer, Lois G.: The Role of King William III of England in the Standing Army Controversy, 1697-1699. In: Journal of British Studies 5 (1966), S. 74-94. Vgl. generell zu den Unzufriedenen Allen, Richard: The Death of a Good King a Great and Public Loss. Exemplify’d in a Sermon Preached March 29th 1702 upon the much Lamented Death of Our late Sovereign William III. London 1702 [ESTC T121048], S. 9f. sowie mit explizitem Bezug zum Auszug aus Ägypten Dennis, John: The Monument. A Poem Sacred to the Immortal Memory of the Best and Greatest of Kings, William the Third. King of Great Britain. London 1702 [ESTC T135780], S. 36; Hext, Francis: A Funeral Oration Sacred to the Immortal Memory of Our late most serene, most puissant Prince William III […]. London 1702 [ESTC N018451], S. 8; The Mournful Muse. An Elegy on the much Lamented Death of King William IIId. London [1702] [ESTC T170288], S. 3. Die zeitgenössischen Drucke werden hier und im Folgenden mit den Nummern des Short Title Catalogue von Donald Wing [Wing] bzw. dem English Short Title Catalogue für das 18. Jahrhundert [ESTC] zitiert; diese Texte sind entweder über die Early English Books Online oder die Eighteenth Century Collections Online verfügbar. Die Ausführungen von Eßer, Raingard: „Constantinus Redivivus“. Wilhelm III. in der englischen Geschichtsschreibung seiner Zeit. In: Kampmann, Christoph u.a. (Hrsg.): Bourbon – Habsburg – Oranien. Konkurrierende Modelle im dynastischen Europa um 1700. Köln/Weimar/Wien 2008, S. 58-73, die eher von einem Negativbild Wilhelms ausgehen, sind wohl zu weitgehend, da Eßer zwar einzelne Kritikpunkte in der zeitgenössischen Historiographie angeben kann, jedoch das geradezu heilsgeschichtlich konnotierte Gesamtbild außer Acht läßt und somit auch die enorme Wirkmacht der Wilhelm-Memoria im 18. Jahrhundert zu wenig berücksichtigt.

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heit geführt habe. 14 Er wurde als heldenhafter Krieger charakterisiert, 15 der bereits 1672 seine niederländische Heimat von den französischen Invasoren befreit habe und 1688 selbstlos zur Rettung Englands geeilt sei. 16 Durch sein Eingreifen in England habe er die alte englische Verfassung wiederhergestellt und dem Parlament, der legitimen Vertretung des Volkes, zu seinem Recht verholfen. Auch während seiner Regierung habe Wilhelm stets das Parlament und das Volk respektiert und sei allen berechtigten Anliegen gegenüber offen

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Zur Gleichsetzung Wilhelms mit Moses vgl. z.B. Tucker, William: A Sermon Preached upon the Much-lamented Death of our Late Glorious Sovereign, King William III. Of Glorious Memory […]. London 1702 [ESTC T136077], S. 10f.; Jenkins, Joseph: A Sermon Preach’d the 22d of March, 1701/2. upon the Mournful Occasion of the Death of the late Glorious and Mighty Prince William the Third, King of England. London 1702 [ESTC T106525], S. 25; Allen 1702 (wie Anm. 13), S. 2f., 7, 24; Hext 1702 (wie Anm. 13), S. 8. Vgl. The Loyalist. A Funeral Poem in Memory of William III. late King of Great Britain. London 1702 [ESTC N010867], S. 2-4; Mauduit, Isaac: A Sermon on the Most Lamented Death of King William III. of Blessed Memory. London 1702 [ESTC T203550], S. 21; Norris, Richard: A Sermon Preach’d on the Death and Funeral of the Late King, William the IIId. London 1702 [ESTC T114922], S. 7; The Divine Soul, or, the Christian’s Guide, amidst the various Opinions of a vain World […]. An Essay of Retired Solitary Life, with an After-Thought on King William III. London 1703 [ESTC T103389], S. 557; The Mournful Congress, a Poem, on the Death of the Illustrious King William III. of Glorious Memory. By a sincere Lover of his Prince and Country. London 1702 [ESTC N026288], S. 5 und Boyer, Abel: The History of King William the Third. 3 Bde. London 1702-1703 [ESTC T091241], hier Bd. 1, Buch 1, Vorwort; Bd. 2, S. 186, 190, 370; Bd. 3, S. 70f., 95. Geradezu zum Kriegsgott stilisiert ihn Dennis 1702 (wie Anm. 13), S. 27. Vgl. auch Baxter, Stephen B.: William III as Hercules. In: Schwoerer 1992 (wie Anm. 3), S. 95-106, hier S. 97; Rose 1999 (wie Anm. 3), S. 18-28 sowie stärker vom literaturwissenschaftlichen Gesichtspunkt Scheltens, Martje: „No Godhead but the First of Men“. The Heroic Image of William III. In: George, C.H.L./Sutherland, Julie (Hrsg.): Heroes and Villains. The Creation and Propagation of an Image. Durham 2004, S. 179-188. Vgl. z.B. Mauduit 1702 (wie Anm. 15), S. 15; Chandler, Samuel: England’s Great Duty on the Death of Their Josiah […]. London 1702 [ESTC T010776], S. 1, 18-22; Stennett, Joseph: A Poem to the Memory of His late Majesty William the Third. London 1702 [ESTC N011765], S. 9; Hext 1702 (wie Anm. 13), S. 3; Pead, Deuel: Greatness and Goodness Reprieve not from Death. A Sermon Occasion’d by the Death Of that Glorious Monarch William the Third, King of England, Scotland, France, and Ireland […]. London 1702 [ESTC T010567], S. 10-12, 19; Allen 1702 (wie Anm. 13), S. 5f.; Brady, Nicholas: A Sermon upon Occasion of the Death of Our late Sovereign King William […]. London 1702 [ESTC T060262], S. 7f.; Goodwin, Thomas: A Sermon Preached on The Sad Occasion Of the Death of The Best of Kings, William the IIId. London 1702 [ESTC T060278], S. 18f.; Jenkins 1702 (wie Anm. 14), S. 18; Norris 1702 (wie Anm. 15), S. 8f. und zu den Niederlanden The Loyalist 1702 (wie Anm. 15), S. 4; Brady 1702 (wie oben), S. 6f.; Caesar, John J.: The Glorious Memory of a faithful Prince by a Thankful Posterity. In a Sermon Preach’d upon the most lamented Death of King William III. […]. London 1702 [ESTC T114942], S. 29.

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gewesen. 17 Generell wurde Wilhelms Frömmigkeit, seine Hingabe an die Vorsehung gelobt. Anglikanische Prediger hoben zudem hervor, dass Wilhelm als niederländischer Calvinist sich nie gescheut habe, anglikanische Gottesdienste zu besuchen, während dissentierende Prediger eher Wilhelms Toleranz und seine Förderung für nonkonforme Kirchengemeinden betonten. 18 Außenpolitisch habe Wilhelm die Reputation Englands in Europa wiederhergestellt, indem er das Königreich von einem Vasallen Frankreichs in seinen ursprünglichen Rang als „arbiter“ und „holder of the balance of Europe“ zurückgeführt habe. 19 Erwartungsgemäß nimmt die Revolution, „the late happy Revolution“ oder auch die „Glorious Revolution“, 20 breiten Raum in den meisten Memo-

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Zur Bewahrung der Verfassung durch den König z.B. Chandler 1702 (wie Anm. 16), S. 10; Clarke, Edward: A Sermon Preach’d at St. Mary’s Nottingham. On Sunday the 15th of March, 1701/2. Upon Occasion of the Death of King William. 3. Aufl., London 1702 [ESTC N022805], S. 3; [Gatton, Benjamin]: A Sermon Preach’d on the Occasion of the Death of our late Sovereign King William III. of Glorious Memory. London 1702 [ESTC T094637], S. 15f.; Graile, John: Trusting in God better than Trusting in the Best of Men, or the Greatest of Princes […]. London 1702 [ESTC T051956], S. 24; Jenkins 1702 (wie Anm. 14), S. 19; Pead 1702 (wie Anm. 16), S. 12f.; zum Respekt für das Parlament und das Volk vgl. ebd., S. 16; Fleming, Robert: The Blessedness of those who die in the Lord. A Practical Discourse Occasioned by the Death of King William […]. London 1702 [ESTC T079766], S. 151f.; Boyer 1702-1703 (wie Anm. 15), Bd. 3, S. 518; Goodwin 1702 (wie Anm. 16), S. 21 sowie zu dem Vertrauensverhältnis zwischen dem König und seinen Untertanen Graile 1702 (wie oben), S. 21f. Ganz deutlich wird dies auch in der – freilich durchaus topischen – Vatermetapher; vgl. Goodwin 1702 (wie Anm. 16), S. 22; Tucker 1702 (wie Anm. 14), S. 9; Caesar 1702 (wie Anm. 16), S. 6; Gatton 1702 (wie oben), S. 15; Hext 1702 (wie Anm. 13), S. 6; Piggott, John: The Natural Frailty of Princes Consider’d […]. Upon the sad Occasion of the Death of the late High and Mighty Prince William the Third, King of England. 2. Aufl., London 1702 [ESTC T060302], S. 17. Zur Toleranz vgl. Robinson, Benjamin: Serving their Generation the Duty and Honour of the Greatest Princes. A Sermon Preach’d on Occasion of the Death and Funeral Of the most Illustrious and best of Kings William the IIId. London 1702 [ESTC N22209], S. 39 und mit leiser Kritik an dieser Toleranzpolitik Wise, Thomas: A Sermon Preach’d at the Church of Richmond in Surry, upon the Death of William III. […]. London 1702 [ESTC T114923], S. 9. Zur Teilnahme Wilhelms am anglikanischen Abendmahl vgl. ebd., S. 6f. Vgl. z.B. Piggott 1702 (wie Anm. 17), S. 18; Brady 1702 (wie Anm. 16), S. 10; Dennis 1702 (wie Anm. 13), S. 13, 33; Fleming 1702 (wie Anm. 17), S. 164; Hext 1702 (wie Anm. 13), S. 3; Norris 1702 (wie Anm. 15), S. 9f.; Tucker 1702 (wie Anm. 14), S. 13; Boyer 1702-1703 (wie Anm. 15), Bd. 1, Buch 2, S. 189; ebd. Bd. 2, S. 402; ebd. Bd. 3, S. 517. Vgl. dazu auch Kampmann 2001 (wie Anm. 9), S. 298f. und ders.: Dynastisches Vermächtnis und politische Vision. Das Beispiel des Friedensstifters. In: Kampmann 2008 (wie Anm. 13), S. 212227, hier S. 225f. Laut James R. Hertzler wurde der Begriff „Glorious Revolution“ erst nach 1706 verwendet; Hertzler, James R.: Who Dubbed it „The Glorious Revolution“? In: Albion 19 (1987), S. 579-585. Tatsächlich ist er jedoch seit 1690 nachweisbar; so in einer Predigt zum 5. November 1690: Freeman, S.A.: A Sermon Preached before the Honourable House of Com-

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rialschriften ein. Dabei dominiert ganz deutlich eine Interpretation der Ereignisse, die bereits kurz nach der erfolgreichen Invasion des Oraniers etwa von Gilbert Burnet ausformuliert worden war. War das Eingreifen Wilhelms III. in England zunächst noch vor allem mithilfe einer Argumentationslinie legitimiert worden, die auf die Wiederherstellung der „ancient constitution“, der geradezu mythischen althergebrachten englischen Verfassung, die von Jakob II. korrumpiert worden sei, zielte, 21 so hatte Burnet in seiner Predigt vom 23. Dezember 1688 ein neues Argument eingebracht, das fortan den Diskurs wesentlich mitbestimmte: In Auslegung des Psalmverses „It is the Lord’s doing, and it is marvellous in our Eyes“ (Ps. 118, 23) entfaltete er ein Bild von der Revolution, das die Ereignisse ganz wesentlich als Resultat des unmittelbaren Eingreifens der göttlichen Vorsehung interpretierte – eine Deutung die Burnet auch in seinem enorm einflussreichen Werk History of My Own Time prominent platzierte. 22 Diese Deutung der Ereignisse wurde weiter entfaltet und verstärkt durch den offiziellen Dank- und Feiertag, den das House of Lords für den 31. Januar 1689 anordnete. 23 Es ist das Verdienst Tony Claydons, auf die ausgeprägt chiliastische Tendenz schon der Regierungspropaganda unmittelbar nach der Revolution hingewiesen zu haben. In einer Art manichäischer Geschichtsdeutung, in deren Zentrum der endzeitliche, von guten und bösen, göttlichen und teuflischen

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mons, at St. Margaret’s Westminster, On Wednesday the Fifth of November, 1690. London 1690 [Wing/F2146], S. 16. Maßgeblich für diese zunächst als offizielle Begründung konzipierte Argumentationsstrategie ist die Declaration of Reasons, die Wilhelm kurz vor der Invasion in England verbreiten ließ; abgedruckt z.B. bei Williams, E. Neville: The Eighteenth-Century Constitution 1688-1815. Documents and Commentary. Cambridge 1960, S. 10-16. Vgl. Burnet, Gilbert: A Sermon Preached in the Chappel of St. James, Before His Highness the Prince of Orange, 23d of December, 1688. London 1689 [Wing/B5884]; ders.: History of My Own Time, hrsg. von Routh, Martin J. 6 Bde. Oxford 1833 (ND Hildesheim 1969), hier z.B. Bd. 3, S. 327. Vgl. zu diesem Wechsel der Argumentationsstrategien v.a. Claydon, Tony: William III’s Declaration of Reasons and the Glorious Revolution. In: The Historical Journal 39 (1996), S. 87-108 und Claydon 1996 (wie Anm. 11), S. 28f., 51f. Zur Argumentation mit der Vorsehung auch Clark 1988 (wie Anm. 2), S. 124 und Straka, Gerald: The Final Phase of the Divine Right Theory in England 1688-1702. In: English Historical Review 77 (1962), S. 638-658. Vgl. die Anordnung im Journal of the House of Lords. London 1767-1830, hier Bd. 14, S. 102. Zum Tenor der Feierlichkeiten vgl. etwa A Form of Prayer for His Highness the Prince of Orange, To be used immediately after the Prayer for The Royal Family, In the Savoy. [London] 1688 [1689]. Ganz wichtig in diesem Zusammenhang auch die Predigt von John Tillotson, dem späteren Erzbischof von Canterbury; gedruckt: Tillotson, John: A Sermon Preached at Lincolns-Inn-Chappel, On the 31th of January, 1688. Being the Day Appointed for A Publick Thanksgiving to Almighty God For having made His Highness The Prince of Orange The Glorious Instrument of the Great Deliverance of This Kingdom from Popery & Arbitrary Power. London 1689.

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Kräften bestimmte Kampf zwischen der wahren und der falschen Kirche gestanden habe, konnte das Eingreifen der Vorsehung 1688 als bedeutender Schritt hin zum Sieg der wahren Kirche über die Kräfte des Bösen gedeutet werden. 24 Anscheinend entfaltete diese Deutung der Ereignisse beträchtliche Wirkung, so dass sie in der Gedenkliteratur breit rezipiert wurde. Trotz des einhelligen Lobes für seine Verdienste als „our glorious deliverer“ 25 erschien der König vor allem als Instrument der göttlichen Vorsehung, die als die Kraft dargestellt wurde, die ihn auf den Thron von England gebracht habe. Sie habe ihn von Geburt an zum Retter Englands und zum Befreier Europas bestimmt. 26 Sogar die ansonsten eher nüchterne Zeitungsliteratur griff diese Interpretation auf, wie sich etwa am Post-Man vom 7. bis 10. März 1702 zeigt: Hier heißt es: Wilhelm „came in the year 1688 to the Crown of Great Britain, which Providence […] had designed for his Sacred Head“. 27 Auch im weiteren Verlauf der Narrative der Regierungszeit Wilhelms finden sich immer wieder Verweise auf die schützende Hand, die den König auch in größter Gefahr bewahrt habe. 28 Auch die Begriffe „deliverer“ oder gar „saviour“, 29 mit 24

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Vgl. Claydon 1996 (wie Anm. 11), S. 28-52. Zu den rhetorischen Techniken der whiggistischen Legitimation der Revolution, für die insbesondere klare Zuordnungen von „gut“ und „böse“ eine zentrale Rolle spielten, vgl. auch Newton, John: „Heroick stranger“. William of Orange and the Propagation of the Myth of the „Glorious Revolution“ through the Medium of Ballads. In: George/Sutherland 2004 (wie Anm. 15), S. 159-177. Z.B. Allen 1702 (wie Anm. 13), S. 6, 8, 23; Caesar 1702 (wie Anm. 16), S. 27, 29; Chandler 1702 (wie Anm. 16), S. 1; Dennis 1702 (wie Anm. 13), S. viii; Goodwin 1702 (wie Anm. 16), S. 19f., 22, 26; Graile 1702 (wie Anm. 17), S. 22, 24; Hext 1702 (wie Anm. 13), S. 9, 12; Mauduit 1702 (wie Anm. 15), Vorwort und S. 15; Mauduit 1702 (wie Anm. 23), S. 14; Norris 1702 (wie Anm. 15), S. 8f., 28; Pead 1702 (wie Anm. 16), S. 12; Piggott 1702 (wie Anm. 17), S. 15f., 19; Tucker 1702 (wie Anm. 14), S. 5, 12; The Mournful Muse 1702 (wie Anm. 13), S. 2; The Character of King William III. O.O. [1702] [London: British Library C.121.g.9.(137)]; An Exact History of all the Glorious Actions of William III. Late King of England. London 1702 [London: British Library L.R.305.a.7.(35.)] und Boyer 1702-1703 (wie Anm. 15), Bd. 3, Vorwort. „Providence conducted him to the Throne of these Realms“ (Piggott 1702 [wie Anm. 17], S. 16); ähnlich auch Gatton 1702 (wie Anm. 17), S. 14f., 17; Allen 1702 (wie Anm. 13), S. 7; Brady 1702 (wie Anm. 16), S. 13; Caesar 1702 (wie Anm. 16), S. 28; Fleming 1702 (wie Anm. 17), S. 120, 163f.; Pead 1702 (wie Anm. 16), S. 10, 19. Zur Revolution als providentielles Ereignis z.B. Jenkins 1702 (wie Anm. 14), S. 17; Norris 1702 (wie Anm. 15), S. 28; Hext 1702 (wie Anm. 13), S. 8; Boyer 1702-1703 (wie Anm. 15), Bd. 1, Buch 2, S. 237; Fleming 1702 (wie Anm. 17), S. 161, 166f. The Post-Man. And the Historical Account, &c., Nr. 940, 7.-10. März 1702 [Göttingen: Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek MA 83-74:538]. Vgl. Pead 1702 (wie Anm. 16), S. 12; An Exact History 1702 (wie Anm. 25); Boyer 17021703 (wie Anm. 15), Bd. 2, S. 370. „Deliverer“ z.B. bei Allen 1702 (wie Anm. 13), S. 6, 8, 23; Caesar 1702 (wie Anm. 16), S. 27, 29; Chandler 1702 (wie Anm. 16), S. 1; Dennis 1702 (wie Anm. 13), S. viii; Goodwin

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denen Wilhelm als Retter Englands gefeiert wurde, enthielten eine religiöse Heilsdimension, verwiesen sie doch auf Christus als Erlöser. 30 Offenkundig konnte diese Argumentation konsensstiftend wirken, indem sie eben nicht eindeutig einer bestimmten politischen Richtung zuzuordnen war. Selbst dort, wo kontrakttheoretische und widerstandsrechtliche Ansätze in den Funeralschriften aufgegriffen wurden, die den Thronwechsel stärker mit dem Bruch der „ancient constitution“ und des Herrschaftsvertrags durch Jakob II., und damit im Sinne der Whigs, rechtfertigten, 31 wurde zumeist gleichwohl die argumentative Verknüpfung mit dem Konzept der göttlichen Vorsehung gesucht, indem nämlich die Zustimmung des Volkes oder gar die Wahl Wilhelms durch das Volk postuliert und im Sinne einer vox populi, vox dei gedeutet wurde. 32 Die Wahl des Königs durch das Volk geschah eben im Einklang mit der göttlichen Vorsehung. Anscheinend war das Argument des „Divine Right by Providence“ also ein Konsensargument, das die exzeptionelle Bedeutung der Revolution, ihre Gottgewolltheit unterstrich und zugleich das Widerstandshandeln des Volkes oder seiner Vertreter herunterspielte. 33 Die Revolution erhielt darüber hinaus einen übergeordneten Sinn, der der Ordnung des Revolution Settlement höhere Geltung verlieh und zugleich die legitimatorischen Defizite der Regierung Wilhelms und Marias auszugleichen imstande war.

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1702 (wie Anm. 16), S. 19f., 22, 26; Graile 1702 (wie Anm. 17), S. 22, 24; Hext 1702 (wie Anm. 13), S. 9, 12; Mauduit 1702 (wie Anm. 15), Vorwort und S. 15; ders.: A Sermon on the Coronation of Her Most Excellent Majesty Queen Anne […]. London 1702 [ESTC T197930], S. 14; Norris 1702 (wie Anm. 15), S. 8f., 28; Pead 1702 (wie Anm. 16), S. 12; Piggott 1702 (wie Anm. 17), S. 15f., 19; Tucker 1702 (wie Anm. 14), S. 5, 12; The Mournful Muse 1702 (wie Anm. 13), S. 2; The Character of King William 1702 (wie Anm. 25); An Exact History 1702 (wie Anm. 25) und Boyer 1702-1703 (wie Anm. 15), Bd. 3, Vorwort. „Saviour“ bei Gatton 1702 (wie Anm. 17), S. 15; Chandler 1702 (wie Anm. 16), S. 18; Mauduit 1702 (wie Anm. 15), S. 15; Norris 1702 (wie Anm. 15), S. 8 und Wise 1702 (wie Anm. 18), S. 8. Wise 1702 (wie Anm. 18), S. 8 vergleicht ihn sogar explizit mit dem „Saviour of the World“. Ganz deutlich bei Piggott 1702 (wie Anm. 17), S. 5-7; eher ins allgemeine gewendet bei Pead 1702 (wie Anm. 16), S. 6 und Defoe, Daniel: Mock Mourners. A Satyr, by Way of Elegy on King William. 2. Aufl., London 1702 [ESTC N004689], S. 4. Zustimmung bzw. Wahl durch das Volk bei Mauduit 1702 (wie Anm. 15), S. 22; The Divine Soul 1703 (wie Anm. 15), S. 569; Boyer 1702-1703 (wie Anm. 15), Bd. 2, S. 302. Zur Verbindung mit der Vorsehung Piggott 1702 (wie Anm. 17), S. 16 oder Allen 1702 (wie Anm. 13), S. 4. Zur Ausblendung des Widerstands vgl. Dickinson, Harry T.: The Eighteenth-Century Debate on the Glorious Revolution. In: History 61 (1976), S. 28-45, hier S. 32-35; Nenner, Howard: The later Stuart Age. In: Pocock, John G.A. (Hrsg.): The Varieties of British Political Thought, 1500-1800. Cambridge 1993, S. 180-208, hier S. 198-203 sowie zur Forschungsgeschichte Pincus 2009 (wie Anm. 3), S. 14-29.

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III. Freilich führte diese Darstellung Wilhelms III. und der „Glorious Revolution“ zu einem impliziten Widerspruch: Mit der Charakterisierung der Revolution als providentielles Ereignis wurde vor allem der Zäsurcharakter von 1688 betont. Völlig unerwartet und in exzeptioneller Weise hatte die göttliche Vorsehung in den Lauf der Geschichte eingegriffen. Verstärkt wurde dieser Eindruck noch dadurch, dass viele der Funeralschriften von 1702 die Jahre vor der Revolution als ausweglose Entwicklung hin zum endgültigen Untergang der anglikanischen Kirche und der althergebrachten englischen Freiheiten beschrieben. „Not many Years ago, our Circumstances were such, that we had a certain prospect of Misery, without any hopes of deliverance; […] our Liberties were invaded, and Religion in danger of being lost.“ 34 Umso drastischer konnte die Kehrtwende zum Positiven hervorgehoben werden. Gerade dadurch aber erschien die Revolution als Zäsur. Zugleich indes enthält das Narrativ ebenso wie die Charakterisierung Wilhelms ein deutliches Kontinuitätsmoment. Der verstorbene König wurde nämlich keineswegs als revolutionärer Neuerer präsentiert, sondern eher als Bewahrer und Restaurator des Althergebrachten. 35 Gerade darin unterschied er sich jedoch positiv von Jakob II., der gerade der Veränderung und Umgestaltung der englischen Verfassung bezichtigt wurde. 36 Der exzeptionelle Eingriff der Vorsehung 1688 war somit inhaltlich eher konservativ und restaurativ konnotiert. Trotz der vielfachen Verwendung des Begriffs „Revolution“ war also gerade keine Revolution im modernen, auf Umsturz der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse abzielenden Sinne gemeint. Die historiographiegeschichtliche Forschung hat bereits hervorgehoben, dass es gerade die whiggistische Geschichtsdeutung des ausgehenden 17. Jahrhunderts war, die sich intensiv auf Kontinuität gerichteter Geschichtsargumente bediente, indem sie immer wieder die „ancient constitution“ als politische Norm anführte. Erst später, in den 1720er Jahren, habe die Regierung Robert Walpole eine Geschichtsinterpretation favorisiert, die den Beginn der englischen Freiheiten erst mit der Revolution von 1688 einsetzen ließ, die also explizit die Revolution zum Wendepunkt der englischen oder britischen Ge-

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Gatton 1702 (wie Anm. 17), S. 14f.; ähnlich auch Jenkins 1702 (wie Anm. 14), S. 17; Norris 1702 (wie Anm. 15), S. 8f.; Pead 1702 (wie Anm. 16), S. 11; Piggott 1702 (wie Anm. 17), S. 15f.; Wise 1702 (wie Anm. 18), S. 1f.; Fleming 1702 (wie Anm. 17), S. 162; Dennis 1702 (wie Anm. 13), S. 34. So auch Eßer 2008 (wie Anm. 13), S. 73. Diese Sichtweise wird neuerdings in der Forschung wieder vertreten von Pincus 2009 (wie Anm. 3), S. 118-178.

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schichte machte. 37 Ansätze dazu lassen sich freilich bereits in der Memoria Wilhelms III. während der späteren Regierungszeit Annas und insbesondere im Umfeld der Hannoverschen Sukzession feststellen. Das durchaus positive Bild Wilhelms blieb – sieht man einmal von der jakobitischen Untergrundliteratur, die hier nicht Thema sein soll, 38 ab – während der Jahre nach seinem Tod konstant. Er galt weiterhin als Vorkämpfer für den Protestantismus in Großbritannien und Europa 39 und als „glorious deliverer“, als Retter Englands vor Papismus und Tyrannei. 40 Zugleich wurden sein Heldentum und seine Opferbereitschaft für das Gemeinwohl hervorgehoben. 41 Eine Akzentverschiebung ist freilich im Hinblick auf die Bedeutung der Revolution festzustellen. In der whiggistischen Literatur der Jahre um 1714 trat die Rechtfertigung der Revolution mithilfe des Ancient-ConstitutionArguments nun deutlich zurück. Stattdessen wurde der Dynastiewechsel jetzt

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Vgl. dazu Kramnick, Isaac: Augustan Politics and English Historiography: The Debate on the English Past, 1730-35. In: History and Theory 6 (1967), S. 33-56, hier bes. S. 40-46; Okie, Laird: Augustan Historical Writing. Histories of England in the English Enlightenment. Lanham 1991, S. 19; und Dickinson 1976 (wie Anm. 33), S. 38-40. Locus classicus zu den Debatten um die „ancient constitution“ und die normannische Eroberung ist nach wie vor Pocock, John G.A.: The Ancient Constitution and the Feudal Law. A Study of English Historical Thought in the Seventeenth Century. A Reissue with a Retrospect. Cambridge u.a. 1987 (zuerst 1957). Vgl. aber Dickinson 1976 (wie Anm. 33), S. 30f.; Rose 1999 (wie Anm. 3), S. 28-37 und Erskine-Hill, Howard: Literature and the Jacobite Cause. Was there a Rhetoric of Jacobitism? In: Cruickshanks, Eveline (Hrsg.): Ideology and Conspiracy. Aspects of Jacobitism, 1689-1759. Edinburgh 1982, S. 49-69. Vgl. Gough, Strickland: A Sermon Occasion’d by the happy Accession of King George to the Throne of Great Britain. London 1714 [ESTC T45843], S. 25; Harding, Nathanael: The Peoples [sic!] Part in Blessing their King […]. London 1715 [ESTC T101719], S. 23f. So etwa der Spectator Nr. 516 vom Mittwoch, 22. Oktober [1712], abgedruckt bei Bond, Donald F.: The Spectator. 5 Bde. Oxford 1965, hier Bd. 4, S. 335; Dunton, John: The Golden Age. Exemplified in the Glorious Life and Reign of his Present Majesty King George, and his Numerous Issue. Or, a Vision of the future Happiness of Great Britain […]. London 1714 [ESTC T35664], S. 0; Bowden, John: A Sermon Preach’d at Frome, in the County of Somerset […] Being the Day of Publick Thanksgiving for his Majesty King George’s […] Accession to the Throne. London 1715 [ESTC T104404], S. 19; Harding 1715 (wie Anm. 39), S. 23f.; Steele, Richard: The Crisis, Or a Discourse Representing, from the most Authentick Records, the just Causes of the Late Happy Revolution. London 1713/14 [ESTC T034401], S. 2, 9; Bedford, Arthur: Three Sermons Preach’d on three particular Subjects […]. London 1717 [London: British Library 225.h.6.(15)], S. 8f.; Defoe, Daniel: Commendatory Sermon Preach’d November the 4th, 1709. Being the Birth-Day of King William, of Glorious Memory. London [1709] [ESTC T56875], S. 4f. Defoe 1709 (wie Anm. 40), S. 3, 6; Duick, J.: The Contest. Being Poetical Essays on the Queen’s Grotto. London 1734 [ESTC T34011], S. 3; The Lives of the Princes of the Illustrious House of Orange. London 1734 [ESTC T172512], S. 0, 199.

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mit Bezug auf Wilhelm III. und das Revolution Settlement gerechtfertigt, indem die prowelfische Publizistik an die Gedenkliteratur von 1702 anknüpfte und die Hannoveraner in eine Kontinuitätslinie mit der Regierung und den Zielen Wilhelms III. stellte. In zahlreichen Texten wurde die vorsorgliche Regelung der protestantischen Thronfolge durch Wilhelm als seine wichtigste Hinterlassenschaft gelobt. 42 Als Vermächtnis, „too sacred ever to be violated“, wurde die protestantische Thronfolge gar zur unhinterfragbaren Grundlage der englischen Verfassung. 43 Die Thronbesteigung Georg Ludwigs von Hannover als Georg I. von Großbritannien konnte so geradezu zur Vollendung der Revolution stilisiert werden. 44 Wilhelm lebe in Georg weiter, und Georg sei Wilhelms eigentlicher Erbe. 45 Diese Argumentationsstrategie konnte freilich nur funktionieren, wenn davon ausgegangen werden konnte, dass die Revolution und ihre Resultate in einer breiteren politischen Öffentlichkeit als politische Realität anerkannt waren. Deshalb konnte von einer stärkeren Konzentration auf die Begründung der Revolution abgesehen werden und eine Fokussierung auf die Legitimierung der neuen Dynastie mit Berufung auf die Revolution erfolgen.

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Vgl. A.E.: Three Discourses on Is [Isajah] XL. ch. vers. 6, 7, 8 abridged […]. With an Application to the important Occasion of the Death of Queen Anne, and the Accession of her Illustrious Successor, King George, to the Throne. Dublin 1714 [ESTC T225981], S. 17; Abernethy, John: The People’s Choice, the Lord’s Annointed. A Thanksgiving Sermon for his Most Excellent Majesty King George his happy Accession to the Throne, his Arrival, and Coronation. Belfast 1714 [ESTC T86823], S. 16; Asgill, John: The Succession of the House of Hanover Vindicated […]. 2. Aufl., London 1714 [ESTC T48808], S. 66; Stinton, Benjamin: A Discourse of Divine Providence. Occasion’d by the Demise of Her Late Majesty Queen Anne, and the happy Accession of Our present Sovereign, King George. London 1714 [ESTC T67181], S. 26; Harding 1715 (wie Anm. 39), S. 24; Steele 1713 (wie Anm. 40), S. 17. Owen, Jonathan: An Occasional Sermon upon the Proclamation of King George. London 1714 [ESTC T99404], S. 21. Zur Bedeutung der Act of Settlement als Verfassungsdokument vgl. Dickinson, Harry T.: The British Constitution. In: Dickinson 2002 (wie Anm. 3), S. 3-18, hier S. 3. Vgl. Dunton 1714 (wie Anm. 40), S. 0. Vgl. Whitelock, J.C.: Right Brunswick-mum. A safe and speedy Remedy, the Remove the unnatural Heat of the Stomach, and Giddiness in the Head, Contracted by Drinking French Brandy. Or King George’s Welcome to London […]. London 1715 [ESTC T107214], S. 3; Settle, Elkanah: Eusebia triumphans. To the most happy Inauguration of the Hanover Succession in the most August Prince, George, […] A Congratulatory Poem. London 1715 [ESTC N5661], S. 33. Vgl. dazu auch Smith, Hannah: Georgian Monarchy. Politics and Culture, 1714-1760. Cambridge 2006 (= Cambridge Studies in Early Modern British History), S. 24f.

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IV. Anders ausgedrückt und zusammengefasst: Das Revolution Settlement hatte als normative Ordnung allgemeine Geltung erlangt und konnte deshalb als Bezugspunkt politischer Rechtfertigungen funktionieren. Die Gedenkliteratur von 1702 hat zweifellos dazu beigetragen, dieser Ordnung Geltung zu verschaffen, indem sie eine bestimmte Deutung der Ereignisse von 1688 und der Rolle Wilhelms III. im kollektiven Gedächtnis zu verankern half. Sie produzierte, um mit Gert Melville und Hans Vorländer zu sprechen, eine „Geltungsgeschichte“ 46 der Umbrüche von 1688 bis 1714 und half die Grenze zwischen der Stuartzeit und der Hannoveraner Zeit zu überbrücken. 1714 war sie bereits soweit anerkannt, dass sie keiner expliziten Begründung mehr bedurfte, sondern selbst als Legitimation für den Dynastiewechsel herangezogen werden konnte.

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Melville, Gert/Vorländer, Hans: Geltungsgeschichten und Institutionengeltung. Einleitende Aspekte. In: dies. (Hrsg.): Geltungsgeschichten. Über die Stabilisierung und Legitimierung institutioneller Ordnungen. Köln u.a. 2002, S. IX-XV sowie Schönrich, Gerhard/Baltzer, Ulrich: Die Geltung von Geltungsgeschichten. Ebd., S. 1-26.

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Le Roi est mort, vive la Révolution, vive Marat Anmerkungen zum Gebrauch der Effigies in Frankreich von der Frühen Neuzeit bis zur Französischen Revolution

I. „Der Tod (verschonet) der Fürstlichen Palläste so wenig als der Bauernhütten“, 1 mit diesen Worten hat Julius Bernhard von Rohr in seiner Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschaft der Großen Herren im frühen 18. Jahrhundert ein eben so triviales wie unumstößliches Faktum benannt: Gekrönte Häupter sind verwundbar wie jeder Sterbliche und weder vor Unglück noch vor Schmerz oder Krankheit gefeit. Zur gleichen Einsicht gelangte der deutsche Reisende Heinrich Sanders, Professor am Gymnasium Illlustre zu Karlsruhe, als er in den 1770er Jahren die Gräber der französischen Könige in der Abteikirche von Saint-Denis besichtigte. In Gegenwart der Steinsärge und Totendenkmäler fühle man, so Sanders (der selber nur ein Alter von 28 Jahren erreichte), dass auch Könige Menschen seien, die sich durch „Millionen Goldes nicht vom Gesetz der Verwesung und des Todes loskaufen“ könnten. 2 Weitere Zeugnisse mit ähnlichem Tenor ließen sich aus allen Epochen und Kulturen anführen. Der demokratische, alles nivellierende Tod kennt zwar keinen Unterschied zwischen arm und reich. Doch gilt dies keineswegs in Bezug auf die Art und Weise, wie die Überlebenden mit ihren Toten umgehen. In Begräbniszeremonien spiegelt sich bis heute immer auch der Status wider, den der oder die Verstorbene in der gesellschaftlichen Rangordnung innegehabt hat. Während der einfache Privatmann nach einer schlichten und privaten Feier zur letzten Ruhe gebettet zu werden pflegt, unterliegen Könige oder Politiker, deren Sterben als öffentliche Angelegenheit betrachtet wird und mediale Aufmerksamkeit erfährt, anderen Regeln. Wer erinnert sich nicht an die Bilder einer 1

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Rohr, Julius von: Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschaft der Grossen Herren, die in vier besondern Theilen die Meisten Ceremoniel-Handlungen, so die europäischen Puissancen überhaupt und die teutschen Landes-Fürsten insbesonderheit […] zu beachten pflegen. Leipzig 1729, S. 272. Sanders, Heinrich: Beschreibung seiner Reisen durch Frankreich, die Niederlande, Holland, Deutschland und Italien. In Beziehung auf Menschenkenntnis, Industrie, Litteratur und Naturkunde insonderheit. Bd. 1. Leipzig 1783, S. 345.

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archaischen kollektiven Trauer, die die Polen nach dem Flugzeugabsturz ihres Präsidenten Kaczynski im Frühjahr 2010 erfasste? Wer hat die Bilder vom Unfalltod der englischen Prinzessin Diana vergessen, die im Sommer 1997 jeden Tag weltweit über die Fernsehschirme liefen? Auf ein großes Medienecho waren jedoch auch schon frühere Herrschertode gestoßen: Der allerletzte Gang eines Königs auf Erden entwickelte sich in der Vergangenheit häufig genug zu einem theatralischen „Spektakel der Sinne“, einem opulenten Fest der Farben, Gerüche und Bewegungen, das bei den Teilnehmern durch die gezielte Verwendung visueller und ästhetischer Strategien einen nachhaltigen Eindruck hinterließ. In ihrer Untersuchung zur ephemeren Trauerarchitektur hat Liselotte Popelka zu Recht vom barocken Begräbnis als einem „Theatrum Doloris“ gesprochen. 3 Zahlreiche historische Beispiele belegen eindrucksvoll, wie stark der Ablauf der meisten Herrscherbegräbnisse immer auch von Instrumentalisierungsversuchen unterschiedlichster Art bestimmt wurde, egal ob mächtige Adelsfamilien ihre eigene „Memoria“ oder treue Parteianhänger den Ruhm ihres Helden im Gedächtnis der Nachwelt festschreiben wollten. Noch die kleinsten scheinbar spontanen Gesten sind gewöhnlich auf Wirkung berechnet und sorgfältig einstudiert. Unzählige Male im Laufe der Geschichte wurden Beisetzungen zu echten Propagandaveranstaltungen umfunktioniert: Ein Stalin, der die mit Formalin, Glyzerin und Kaliumazetat konservierte Leiche seines Vorgängers Lenin zum populärsten Aushängeschild der Russischen Revolution stilisierte, rangiert in der Reihe der politisch motivierten Begräbnisregisseure ebenso weit vorn wie ein Karl V., der die Brüsseler Trauerfeier für Ferdinand den Katholischen 1516 in eigener Sache nutzte, indem er sich durch Herolde zum König aller spanischen Reiche, zum Rex Hispaniarum, ausrufen ließ und mit diesem „virtuellen Staatsstreich“ die Ansprüche seiner Mutter einfach aus der Wahrnehmung der Zeitgenossen auszublenden versuchte. 4 Wenn der Tod eines Staatsmannes, eines Königs oder Präsidenten ein Land auch heute noch in eine Art Schockzustand, in ein Trauma stürzen kann, wie wurde ein solches Ereignis dann in den vormodernen europäischen Gesellschaften wahrgenommen, in denen die konkrete Erfahrung von Verlust und Zäsur angesichts unsicherer Machtstrukturen und ungeklärter Nachfolgeregelungen eine um so einschneidendere Bedeutung für die Untertanen ge3 4

Popelka, Liselotte: Untersuchungen zu Entstehung und Wesen ephemerer Architektur. Wien 1994 (= Veröffentlichungen der Kommission für Kunstgeschichte 2), u.a. S. 245. Vgl. Edelmayer, Friedrich: Die Leichenfeiern für Ferdinand den Katholischen in den Niederlanden (1516). In: Kolmer, Lothar (Hrsg.): Der Tod des Mächtigen. Kult und Kultur des Todes spätmittelalterlicher Herrscher. Paderborn 1997, S. 229-247; Ennker, Benno: Die Anfänge des Leninkults in der Sowjetunion. Köln/Wien 1997 (= Beiträge zur Geschichte Osteuropas 22), S. 158.

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habt haben muss? Aus welchen zeichenhaften und symbolischen Elementen setzte sich das Begräbniszeremoniell zusammen? Wie „funktionierte“ das Zeremoniell? Was sagen Veränderungen des Zeremoniells wiederum über die politische Kaste oder Führungsschicht aus, die den Wandel jeweils forcierte und inszenierte? Auf diese offenen, in der Einleitung von Christoph Kampmann angesprochenen Fragen hat eine in den vergangenen Jahren außerordentlich fruchtbare historische und kunsthistorische Forschung weiterführende Antworten formulieren können. 5 Große Forschungsvorhaben wie das Berliner RequiemProjekt haben gerade aufgrund ihres interdisziplinären Zugriffs und ihrer vielfältigen methodischen Zugangsweisen die Bedeutung des Komplexes Herrschertod und -bestattung für die Rekonstruktion einer europäischen Politik-, Sozial-, Symbol- und Mentalitätsgeschichte der Frühen Neuzeit anhand einer Fülle von Quellen eindrucksvoll nachweisen können. 6 Obwohl sich die systematische Erschließung und Kartierung dieses neuen Forschungsfeldes bereits in zahlreichen einschlägigen Publikationen niedergeschlagen hat, existiert in manchen Punkten jedoch noch immer ein erheblicher Klärungsbedarf. Dies betrifft selbst ein so bekanntes Thema wie die Verwendung der sogenannten „Effigies“ im Totenzeremoniell der französischen Könige, denen der Mediävist Ernst Kantorowicz bahnbrechende Studien gewidmet hat. 7 Der von Kantorowicz beschriebene Effigies-Gebrauch ist ebenso wie die daraus hergeleitete „Zwei-Körper-Lehre“ des Königs, die in dem berühmten Satz „Le Roy est mort, vive le Roy“ gipfelte, in der Fachliteratur lediglich im Hinblick auf die frühneuzeitliche Blütezeit der Effigies analysiert worden. 8

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Exemplarisch seien genannt Kolmer 1997 (wie Anm. 4); Hawlik-van de Water, Magdalena: Der schöne Tod. Zeremonialstrukturen des Wiener Hofes bei Tod und Begräbnis zwischen 1640 und 1740. Wien/Freiburg/Basel 1989; Bepler, Jill: Al incognito bei der Beerdigung Herzog Johann Friedrichs von Braunschweig-Lüneburg in Hannover 1680. In: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 58 (1986), S. 235-251. Zum Requiem-Projekt finden sich Informationen unter URL: http://www2.hu-berlin.de/ requiem/cns/ (letzter Zugriff: 13.07.2010). Eine spezielle Anlaufstelle für die Forschung stellt das Kasseler Zentralinstitut für Sepulkralkultur dar, dessen umfangreiche Sammlung an Monographien und Zeitschriftenaufsätzen auch die Verfasserin des vorliegenden Beitrags genutzt hat. Das Zentralinstitut gibt seit 1994 die Jahresbibliographie zur Sepulkralkultur heraus, die einen repräsentativen Überblick über die verfügbare Literatur zum Thema Tod und Bestattung liefert. Seit der Ausgabe 1999 erscheint die Jahresbibliographie ausschließlich in elektronischer Form. Die Bestände der Bibliothek des Zentralinstituts sind über einen Web-Opac zugänglich. Vgl. Kantorowicz, Ernst: The King’s Two Bodies. A Study in Mediaeval Political Theology. Princeton 1957. Vgl. allgemein zu den Effigies Brückner, Wolfgang: Funeral- und Exekutionseffigies. In: Stefenelli, Norbert (Hrsg.): Körper ohne Leben. Begegnung und Umgang mit Toten. Köln/Wien 1998, S. 799-808.

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Doch endete die Ära der Effigies tatsächlich, wie in der Literatur nachzulesen, schon in der Frühen Neuzeit? Und waren sie wirklich nur bizarre Begleiterscheinungen eines längst überwundenen und überholten vormodernen Trauerzeremoniells, wie der Autor einer anlässlich der Bestattung Ludwigs XVIII. im Jahre 1824 entstandenen Schrift meinte? 9 Die folgenden Seiten wollen den Gegenbeweis erbringen, indem sie zeigen, wie die „Idee“ der Effigies gerade in der Französischen Revolution noch einmal zum Zwecke der revolutionären Kontinuitätsstiftung und Stabilisierung revitalisiert und aktualisiert wurde.

II. Eine minutiöse Schilderung über die Verwendung der Effigies im frühneuzeitlichen Totenzeremoniell in Frankreich findet sich in den Berichten über den Tod des Königs Franz I. Ihnen zufolge war der seit langem bettlägerige, an einem bösartigen Tumor leidende Herrscher am Morgen des 31. März 1547 im Schloss von Rambouillet ins Koma gefallen. Ob er nach der letzten Ölung die Worte „In manus tuas, Domine, commendo spiritum meum“ ausgestoßen hat und ob seine Hände bis zum Schluss das Zeichen des Kreuzes auf die Bettdecke malten, wie von den Anwesenden später behauptet wurde, ist allerdings mehr als fraglich: Bei den vorgeblich authentischen Zeugnissen handelte es sich bekanntlich um hochgradig konstruierte, zielgerichtete, von den Topoi einer Ars Moriendi geprägte Texte, deren Aufgabe darin bestand, das richtige Sterben des Herrschers im Einklang mit der christlichen Tradition zu dokumentieren. Sicher ist jedoch, dass das irdische Leben des „très haut, très puissant et très magnanime Roi François“ zwischen 1 und 2 Uhr mittags endgültig erloschen war. 10 In seinem Céremonial de France aus dem frühen 17. Jahrhundert hat Théodore Godefroy die nun folgenden Vorgänge geschildert, die in der Anfertigung einer wächsernen Effigie gipfelten. 11 Obwohl die sterblichen Überreste 9 10

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Vgl. Barginet, Alexandre: Funérailles des Rois de France, et cérémonies anciennement observées pour leurs obsèques. Paris 1824, S. 14. Legrand d’Aussy, Pierre Jean-Baptiste: Des Sépultures Nationales, et particulièrement de celles des Rois de France, suivi des Funérailles des Rois, Reines, Princes et Princesses de la Monarchie Française, depuis les origines jusques et compris celles de Louis XVIII (par M. de Roquefort). Paris 1824, S. 412. Vgl. Godefroy, Théodore: Le Cérémonial de France. Paris 1619, S. 278f.; Berthevin, JulesJulien-Gabriel: Recherches historiques sur les derniers jours des rois de France, leurs funérailles, leurs tombeaux. Paris 1825; Castan, Auguste: La Mort de François Ier et l’avènement de Henri II, d’après les dépêches secrètes de l’ambassadeur impérial, Jean de Saint-Mauris. In: Mémoires de la Société d’émulation du Doubs 5e ser. 3 (1878), S. 420-454; Corlieu, Auguste:

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Franz’ I. erst im Mai 1547 feierlich in der Abteikirche von Saint-Denis bestattet wurden, setzte schon in seiner Todesstunde hektische Betriebsamkeit ein. Noch vor der Leichenöffnung, vor der Herausnahme der inneren Organe, der Einbalsamierung und Einsargung nahm der in aller Eile aus Paris herbeigeholte Hofmaler François Clouet dem Verstorbenen die Totenmaske ab. Mit Hilfe seiner Gipsabdrücke modellierte Clouet danach einen verblüffend lebendig wirkenden – dem Toten geradezu frappierend ähnlich sehenden – Wachskopf, den er mit Glasaugen sowie den Haupt- und Barthaaren Franz’ I. schmückte. Nach vollbrachter Arbeit setzte der Künstler sein Wachsgebilde einem sogenannten Mannequin auf, d.h. einer lebensgroßen Puppe aus Stroh oder Weidengeflecht, die festlich ausstaffiert auf einem erhöhten Prunklager unter einem Baldachin aufgebahrt wurde. Diese war mit einem Hemd aus holländischer Leinwand, mit seidenen Gewändern und dem hermelinverbrämten, lilienübersäten Krönungsmantel der französischen Könige bekleidet und trug über einer karmesinroten Samtmütze die Königskrone, die aus Wachs geformten Hände lagen gefaltet auf der Brust. 12 Über eine Zeitspanne von elf Tagen hinweg konzentrierte sich den zeitgenössischen Quellen zufolge die gesamte Aufmerksamkeit des Hofes und der Trauerbesucher auf das wächserne Ebenbild des Herrschers, während der Sarg mit der königlichen Leiche in einem Nebenraum ein unbeachtetes Dasein fristete. Die Wachsfigur wurde während der elf Tage so behandelt, als handele es sich um Franz I. selbst: Regelmäßig mittags und abends servierten Höflinge und Bedienstete der Puppe Brot, Wein und Fleisch, reinigten die Hände ihres wächsernen Seigneur mit einer Serviette, stellten mit frischem Wasser gefüllte Becken bereit und erwiesen ihm auch darüber hinaus alle erdenklichen Ehrenbezeugungen. Nach Ablauf der elf Tage verlor die Effigie allerdings schlagartig an Bedeutung: Die königliche Wachsfigur wurde zwar im Trauerzug, der sich am 22. Mai 1547 von Paris nach Saint-Denis bewegte, noch mitgeführt, verschwand aber gleich nach der Ankunft in den Tresorschränken der Abtei, die als Archiv für die Effigies fungierten. 13 Der am Beispiel Franz I. geschilderte Effigies-Brauch wurde in Frankreich – mit Abwandlungen – von 1422 bis zum Tode Ludwigs XIII. praktiziert. 14 Seine Ursprünge reichen weit zurück: Wächserne Scheinleiber tauchen schon in antiken Funeralritualen auf und wurden offenbar auch in einzelnen franzö-

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La Mort des Rois de France depuis François I. Paris 1892; Doucet, Roger: La mort de François I. In: Revue historique 113 (1913), S. 309-316. Zur Geschichte der Effigies allgemein vgl. auch Benkard, Ernst: Das ewige Antlitz. 3. Aufl., Berlin 1929; Howgrave-Graham, Robert P.: Royal Portraits in Effigy. Some New Discoveries in Westminster Abbey. In: The Journal of the Royal Society of Arts 101 (1953), S. 465-474. Vgl. Une Relation nouvelle des Obsèques de François Ier à Paris et à Saint-Denis en 1547. In: Bulletin de la Société de l’Histoire de Paris et de l’Ile de France 33 (1906), S. 144-150. Vgl. Barginet 1824 (wie Anm. 9), S. 14.

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sischen Adelsbegräbnissen des Mittelalters verwendet. Ihre ursprüngliche Funktion war, wie es scheint, zunächst praktischer Natur: Sie ersetzten bei der Aufbahrung den echten Körper eines Verstorbenen, der aufgrund des unaufhaltsam fortschreitenden Verwesungsvorgangs nur kurze Zeit in der Öffentlichkeit präsentiert werden konnte. Da in Westeuropa während des Mittelalters nur rohe und unzureichende Konservierungsmaßnahmen – wie das Auskochen von Leichen – bekannt waren, verwundert es nicht, wenn ein Adliger wie der Herzog von Berry in seinem Testament aus dem Jahre 1415 nachdrücklich den Wunsch äußerte, man solle einen Wachsersatz für ihn herstellen, wenn sein Leichnam gar zu stark zu stinken anfange. Seit dem 16. Jahrhundert haben die Effigies immer wieder ihre Chronisten gefunden: Das Verdienst einer systematischen Erforschung und Deutung des frühneuzeitlichen Wachsfigurenkultes mit all seinen archaischen Bestandteilen gebührt jedoch vor allem dem bereits erwähnten Mediävisten Ernst Kantorowicz, der als in die Vereinigten Staaten emigrierter Hochschullehrer 1957 in Princeton ein brillantes, erst mehr als 30 Jahre nach seiner Erstpublikation in die deutsche Sprache übersetztes Buch unter dem Titel The Kings Two Bodies veröffentlichte. 15 Diese Untersuchung, die längst als Klassiker, als eines der großen Meisterwerke der Geschichtswissenschaft des 20. Jahrhunderts gilt, baute ihrerseits in starkem Maße auf den Vorarbeiten Ralph Gieseys auf, der bereits 1954 bei Kantorowicz seine Dissertation über die französischen Funeralpraktiken der Renaissance verfasst hatte. 16 In The Kings Two Bodies erklärte Kantorowicz die vielerorts im Europa des Mittelalters und der Frühen Neuzeit verbreiteten Wachseffigies zu unverzichtbaren Bestandteilen einer zuerst von englischen Juristen entwickelten, später von französischen Rechtsgelehrten wie Pierre Grégoire adaptierten Theorie des Königtums, die sich ungeachtet ihrer juristischen Komplexität auf einen einfachen Nenner bringen lässt. Der König verfügt demnach über zwei Körper. Der eine ist irdisch, schwach, krankheitsanfällig, sterblich und wird begraben wie der Körper des einfachen Untertanen. Der andere Körper des Königs aber ist symbolisch und unsterblich, in ihm manifestiert sich das Wesen, die Würde, die dignitas der Monarchie schlechthin, die niemals vergeht: dignitas non moritur. In diesem Wahrnehmungshorizont manifestiert die Effigie den von der einzelnen Herrscherpersönlichkeit unabhängigen Ewigkeitscharakter des Königtums. Ihre leibliche Präsenz überbrückt das sich nach dem Tode eines Herrschers auftuende Vakuum, indem sie dessen Unsterblichkeit bis zur Regelung der Nachfolge zum Ausdruck bringt. Deshalb also wird sie nicht wie ein lebloser Gegenstand, sondern wie eine lebende Person behandelt. Und deshalb übt die Wachsfigur auch einen beruhigenden 15 16

Vgl. oben, Anm. 7. Vgl. Giesey, Ralph: The Royal funeral ceremony in Renaissance France. Genf 1960.

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und stabilisierenden Einfluss auf die Betrachter aus, weil sie die entstandene Leere überwölbt, den Verlust kompensiert und die gestörte kosmische Ordnung gleichsam „repariert“: „Le Roi est mort – vive le Roi.“ Ihre Faszinationskraft verdankten die Effigies in hohem Maße der Magie des Wachses, das auch einen elementaren Bestandteil des magischen Universums der frühen Neuzeit bildete. 17 Bienenwachs ist von alters her ein in praktisch allen Kulturen bekannter Werkstoff. Seine Bedeutung für die frühneuzeitlichen Bereiche der Votivkunst, Anatomiegeschichte und Funeralplastik kann kaum hoch genug veranschlagt werden. Die Besonderheit des Materials rührt aus der spezifischen Natur der Substanz und ihren figurativen Eigenschaften. Die aus transluzidem und gefärbtem Wachs modellierten Figuren zeichneten sich durch eine atemberaubende Ähnlichkeit mit den menschlichen Vorbildern aus, bis hin zur Nachahmung des seidigen Schimmers menschlicher Haut suggerierten sie auf irritierende Weise Lebendigkeit und Leiblichkeit. Man glaube, „der menschliche Cörper selbst“ sei „vorhanden“, heißt es im Zedlerschen Lexikon, und Ernst Gombrich spricht „von jenen oft zitierten Wachsfiguren“, die umso beklemmender seien, als sie „tatsächlich jene Grenze zwischen Symbol und Wirklichkeit überschneiden.“ 18 Die besondere Qualität des Wachses ließ kleine Wachspuppen in der Frühen Neuzeit bekanntlich zu den bevorzugten und viel erprobten Experimentierfeldern des Liebes- und Schadenszaubers werden: Wer eine Wachspuppe, die nach Möglichkeit noch mit den Fingernägeln, Haaren oder einzelnen Kleiderfetzen des jeweils zu verzaubernden Kontrahenten verziert war, mit Nadeln durchstach und unter geflüsterten Zaubersprüchen im Feuer verbrannte, ging im Horizont des Analogiezaubers von der sicheren Annahme aus, dass mit der Puppe zugleich die echte Person vernichtet werden würde. 19 17

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Zur Geschichte der Wachskunst vgl. u.a. Lessmann, Johanna/König-Lein, Susanne: Wachsarbeiten des 16. bis 20. Jahrhunderts. Braunschweig 2002. Vgl. ferner die Darstellung bei Lemire, Michel: Artistes et Mortels. Paris o.J., S. 76-80; zu den medizinischen Wachspräparaten vgl. auch die Beiträge in: Hahn, Susanne/Ambatielos, Dimitrios (Hrsg.): Wachs-Moulagen und Modelle. Internationales Kolloquium, 26.-27. Februar 1993. Dresden 1994 (= Wissenschaft im Deutschen Hygiene-Museum 1). Weitere Überblicksdarstellungen finden sich in: Garborit, Jean-René/Ligot, Jack (Hrsg.): Sculptures en cire de l’ancienne Egypte à l’art abstrait. Paris 1987 sowie in Gantner, Theo: Geformtes Wachs. Ausstellung 1980/81, Führer durch das Museum für Völkerkunde und Schweizerische Museum für Volkskunde Basel. Basel 1980. Gombrich, Ernst: Kunst und Illusion. Zur Psychologie der bildlichen Darstellung. Stuttgart/Zürich 1986, S. 82. Vgl. Habiger-Tuczay, Christa: Die Darstellung des populären Zauberwissens in mittelalterlichen literarischen Texten und Gebrauchstexten am Beispiel des Wachspuppenzaubers bzw. Bildzaubers und der Dämonenbeschwörung. In: Harmening, Dieter/Rudolph, Andrea (Hrsg.): Hexenverfolgung in Mecklenburg. Regionale und überregionale Aspekte. Dettelbach 1997, S. 247-268.

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Von der magischen Repräsentationsfähigkeit des Wachses lebten auch die anatomischen Wachsmodelle, wie man sie heute noch im Florentiner Museum La Specola mit seiner berühmten Sammlung von Exponaten aus der keroplastischen Werkstatt des Gaetano Gulio Zumbo betrachten kann. Weltweiten Ruhm erlangte in Frankreich der Wachskünstler Guillaume Desnoues (ca. 1650-1735): Zu seinen bekanntesten Schöpfungen gehörte die Darstellung des Körpers einer während des Geburtsvorgangs gestorbenen Frau, aus deren Vulva der Kopf des ebenfalls toten Kindes herausragte. Das im anatomischen Theater Desnoues’ gezeigte Exponat hatte ursprünglich eigentlich nur den Pariser Ärzten und Chirurgen als Unterrichtsmaterial präsentiert werden sollen, war aber schnell zum Objekt der allgemeinen Begierde geworden. Ein paar Tausend Schaulustige sind anscheinend dem Bann des „chef d’œuvre“ erlegen. Stellvertretend für viele lobte das Journal des Jésuites später mit emphatischen Worten den begabten Wachskünstler, der dem medizinischen Nachwuchs sein Metier erleichtere, weil es den jungen Ärzten die Untersuchung der rasch verwesenden und entsetzlich stinkenden Kadaver erspare. 20 Zu Recht hat der französische Kunsthistoriker Georges Didi-Hubermann in seiner Geschichte der Wachsplastik Wachs und Fleisch miteinander gleichgesetzt: 21 Gerade aufgrund ihrer irritierenden und frappierenden Nähe zum lebenden Menschen – bis hin zur peinlich genauen Wiedergabe von Hautunreinheiten und Krankheitsmerkmalen – haben die königlichen Wachsfiguren den Untertanen gegenüber naturgemäß Wirkung erzielen können. Die von dem Wachsbossierer Pietro Tacca für den 1621 verstorbenen Großherzog Cosimo II. angefertigte Wachsbüste war beispielsweise, dem Bericht 20 21

Zu Desnoues auch Kleindienst, Heike: Ästhetisierte Anatomie aus Wachs. Ursprung – Genese – Integration I. Diss. (masch.) Marburg 1989, S. 27-29. Didi-Hubermann, Georges: Fleisch aus Wachs. Circuli vitiosi. In: Encyclopaedia Anatomica. Museo La Specola. Köln 1999, S. 75-86, hier S. 81. Dass die magische Qualität des Wachses leicht zur Verwechslung von Wachsfigur und leibhaftigem Menschen führt, ist seit eh und je ein beliebtes literarisches wie filmisches Motiv. Eben die durch die Natur des Wachses bewirkte Aufhebung der Distanz zwischen „Original“ und „Kopie“ hat andererseits jedoch wesentlich zur Ächtung der „rein imitierenden“ Wachsbildnerei durch die klassizistische Ästhetik beigetragen. Stellvertretend für viele Kritiker des 19. Jahrhunderts warf Emile Campardon den Wachsfiguren ihre „allzu servile Imitation“ der „lebenden Natur“ vor (Campardon, Emile: Les Spectacles de la Foire. Paris 1877, S. 220). Das gleiche Verdikt findet sich in Walter Benjamins Passagenwerk, in dem es an einer Stelle heißt, die Wachsfigur bringe „Oberfläche, Teint und Kolorit des Menschen so vollkommen und unüberbietbar treu zum Ausdruck, daß diese Wiedergabe seines Scheins sich selber“ überschlage und die Puppe nichts anderes mehr darstelle als die „schreckliche durchtriebne Vermittlung zwischen Eingeweide und Kostum.“ (Benjamin, Walter: Das Passagenwerk. 7. Aufl., Frankfurt a.M. 1983, Bd. 1, S. 516). Vgl. dazu auch Steinhauser, Monika: „Die Anatomie Selbdritt“. Das Bild des zergliederten Körpers zwischen Wissenschaft und Kunst. In: Müller-Tamm, Pia/Sykora, Katharina (Hrsg.): Puppen – Körper – Automaten. Phantasmen der Moderne. Düsseldorf 1999, S. 106-125.

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eines Zeitzeugen zufolge, „mit Augenwimpern, Bart und echtem Haar und Augen aus Kristall von einem solchen Farbton geschmückt,“ sie habe „nicht wie eine Nachbildung“, sondern wie eine „echte und lebende Person“ ausgesehen. Als die „hocherlauchteste Fürstin Christina von Lothringen, seine Mutter,“ nach Cosimos Tod in Taccas Haus trat, habe sie dem Bildhauer vorher befohlen, „dieses Bild von der Stelle entfernen zu lassen, weil ihr Herz es nicht ertragen konnte, den lieben Sohn, der doch schon eine Beute des Todes war, wieder gleichsam lebendig zu sehen, aber dennoch nur als stummes Abbild.“ 22 Die große Zeit der Effigies endete in Frankreich, wenn man der einschlägigen Sekundärliteratur glaubt, im 17. Jahrhundert. Obwohl beim Tode Ludwigs XIII. noch einmal eine Wachseffigie angefertigt wurde, hatte eine eklatante Regelverletzung das Effigies-Ritual schon beim Tod seines Vaters Heinrich IV. im Jahre 1610 seiner Substanz entleert. Bis zu diesem historischen Moment hatte sich der Nachfolger des verstorbenen Herrschers – in Einklang mit einem Grundprinzip der Zwei-Körper-Lehre – während der Zeit der Präsentation der Effigie stets versteckt halten müssen bzw. nicht in Erscheinung treten dürfen, um nicht die unmögliche Situation des Nebeneinanders zweier Könige heraufzubeschwören. Ungeachtet dieses Reglements, das einen zentralen Bestandteil des Effigiesgebrauchs bildete, nahm der junge, erst achtjährige Sohn Heinrichs, der künftige König Ludwig XIII., jedoch schon wenige Stunden nach dem Tod seines Vaters demonstrativ in seiner Eigenschaft als Thronerbe an einem Lit de Justice des obersten Pariser Gerichtshofes teil. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Angesichts des durch den Tod des Königs ausgelösten Machtvakuums muss sich die Familie von der demonstrativen leiblichen Präsenz des Nachfolgers vor dem Parlement mehr als von der suggestiven Wirkung der Wachsfigur erhofft haben. Die Effigie wurde mithin neuen Formen monarchischer Inszenierung geopfert, der symbolische Auftritt vor dem Parlement hatte der Perpetuierung des alten Totenkults den Rang abgelaufen. Viele Indizien sprechen dafür, dass die Wachseffigies während dieser Zeit einem Prozess zunehmender Entmystifizierung zum Opfer fielen. Ein Novum war bezeichnenderweise der nach dem Attentat auf Heinrich IV. ausgeschriebene Wettbewerb zur Modellierung der Königseffigie, aus dem der Wachsbildner Michel Bourdin als Gewinner hervorging. Während die sakralen Königsfiguren zuvor ausschließlich im Totenzeremoniell Verwendung 22

Vgl. dazu unter anderem Schlosser, Julius von: Tote Blicke. Geschichte der Porträtbildnerei in Wachs. Ein Versuch. Berlin 1993, S. 22 (zuerst in: Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses 29 (1910/11), S. 171-258); interessant sind in diesem Kontext auch die Anmerkungen von Kriss-Rettenbeck, Lenz: Geformtes Wachs. In: Atlantis 32 (1960), S. 599-602, hier bes. S. 602.

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gefunden hatten, ließ Bourdin die von ihm gefertigte Wachsbüste Heinrichs IV. mehrfach reproduzieren, ab 1611 öffentlich ausstellen und im Rahmen einer Wanderschau überall im Land herumreichen. Zum ersten Mal wurde eine Effigie damit zu einem geradezu kommerziell genutzten Ausstellungsobjekt umfunktioniert: Von hier bis zu den in der Folgezeit kommerziell organisierten Wachsfigurenkabinetten, als deren Gründervater u.a. der französische Wachsbildhauer Anoine Benoist gilt, war der Weg nicht weit. 23 Benoist hatte seine Kunden zunächst mit wächsernen Nachbildungen u.a. der Liselotte von der Pfalz, ihres Ehegatten und weiterer Vertreter des Hofadels in Versailles überrascht, ehe er Ende der 1680er Jahre seine – durch ein königliches Privileg geadelte – Ausstellung auf die außereuropäischen Höfe ausweitete. Obwohl über die Besucher von Benoists Kabinett wenig bekannt ist, wissen wir, dass das Kabinett die Aufmerksamkeit des Königs und des höfischen Adels, aber auch die auswärtiger Gesandter gefunden hat. Die Tatsache, dass das für Benoist ausgefertigte Privileg mit einem scharfen Verbot ähnlicher Ausstellungen verbunden war, deutet eine schon zu diesem Zeitpunkt entstehende Konkurrenzsituation an, die sich im folgenden Jahrhundert noch verschärfen sollte. Im Zuge des skizzierten Trivialisierungsprozesses verwandelten sich die ehemals fest und ausschließlich in das monarchische Begräbniszeremoniell eingebundenen königlichen Wachsfiguren im 18. Jahrhundert vielerorts in Europa in populäre Schaustücke, bei denen vor allem das Sensationelle oder Makabre zählte. Ein Wachsfigurenkabinettbesitzer namens Kirkener sorgte im Jahre 1774 für eine Sensation, als er auf dem Jahrmarkt von St. Germain lebensgroße Wachsnachbildungen der russischen Zarin und des türkischen Sultans zeigte. 24 Ein anderer Wachsunternehmer, Johann Baptiste Matre, präsentierte in seiner Sammlung 1787 neben „allerhand Könige(n)“ gleich noch Voltaire, Rousseau sowie den „Philosophen Werther, der sich aus Liebe erschossen hat“. 25 Die Unternehmer Padovany und Salleneuve, die um 1800 23

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Vgl. dazu Gatacre, Edward/Dru, Laura: Portraiture in Le Cabinet de Cire de Curtius and its Successor Madame Tussaud’s Exhibition. In: La Ceroplastica nella Scienza e nell’Arte. Atti del I Congresso Internazionale Firenze, giugno 1975. Florenz 1977, S. 617-635; Un Musée de Figures de cire au XVIIe siècle. In: Bulletin de la Société de l’Histoire de Paris et de l’Ile-de-France 23 (1896), S. 201-203, hier S. 201: Der königliche „sculpteur en cire“ Antoine Benoist erhielt am 23. September 1668 die Erlaubnis, „à exposer au public, dans toute l’étendue du royaume, la représentation par lui faite en cire de tous les princes, princesses, ducs, duchesses etc., qui composaient le cercle de la feue reine. En 1688, il obtint que cette autorisation fût convertie en un privilège, qui lui conférait de plus le droit d’exposer au public des figures en cire des ambassadeurs de Siam, du Maroc, de Moscovie, d’Alger, du doge de Gêne et autres.“ Vgl. Campardon 1877 (wie Anm. 21), S. 13. Oettermann, Stephan: Alles-Schau. Wachsfigurenkabinette und Panoptiken. In: Kosok, Lisa/Jamin, Mathilde (Hrsg.): Viel Vergnügen. Öffentliche Lustbarkeiten im Ruhrgebiet

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mit einem Kabinett von 60 Figuren reisten, sahen als ihre Spezialität später geradezu die Nachahmung von „Spitzbuben“ an. 26 So bildeten sie nicht nur einen Überfall von vier Banditen auf eine arglose Familie, sondern auch die Befreiung einer unschuldigen Jungfrau aus den Händen von Straßenräubern in Wachs nach. Im Salon des Philippe Curtius konnte das Pariser Publikum in den 1780er Jahren „berühmte Könige und berühmte Räuber, berühmte Schriftsteller und berühmte Narren, berühmte Königinnen und berühmte Kourtisanen, in Büsten und in Lebensgröße aus Wachs gegossen bunt bey einander“ besichtigen. 27 Auf besonderes Interesse stieß, den zeitgenössischen Quellen zufolge, die Darstellung der königlichen Familie – „vom Könige und der Königinn bis auf Madame und Msgr. Le Comte d’Artois“ 28 – beim Abendessen. Ihnen gegenüber hatte Curtius eine Wachsfigur Friedrichs des Großen mitsamt zerdrücktem Hut und Krückstock platziert. 29 Der Schriftsteller August von Kotzebue, der Curtius’ Kabinett im Palais-Royal im Winter des Jahres 1790 besuchte, war von der außergewöhnlichen Ähnlichkeit der Wachsfiguren, unter denen neben den Angehörigen der Königsfamilie der berüchtigte Bastille-Flüchtling Latude, Benjamin Franklin sowie der Astronom und Revolutionspolitiker Jean-Sylvain Bailly figurierten, mehr als beeindruckt. 30 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts lockten Wachsfigurenkabinette wie das des Curtius ihre Besucher durch ein bemerkenswertes Sammelsurium von Exponaten an: Neben den Wachsfiguren noch lebender oder schon verstorbener prominenter Prinzen und Könige waren nun auch immer öfter Mumien und (angeblich) „authentische historische Erinnerungsstücke“ wie das blutbefleckte Hemd Heinrichs IV. zu bewundern. 31

III. Jene Wachsfiguren, die einst als zentrales Element des königlichen Totenzeremoniells so bedeutenden Königseffigies, die man am Ende der königlichen Bestattungsfeierlichkeiten in den Tresorschränken der Abteikirche verschlossen hatte, waren im Zuge des oben skizzierten Trivialisierungsprozesses

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der Jahrhundertwende. Eine Ausstellung des Ruhrlandmuseums der Stadt Essen, 25. Oktober 1992 bis 12. April 1993. Essen 1992, S. 36-63, hier S. 37. Vgl. ebd. Vgl. dazu auch Fournel, Victor: Le Vieux Paris. Fêtes, Jeux et Spectacles. Tours 1887, hier S. 329. Schulze, Friedrich: Ueber Paris und die Pariser. Bd. 1. Berlin 1791, S. 306. Vgl. ebd. Vgl. Kotzebue, August von: Meine Flucht nach Paris im Winter 1790. Leipzig 1791, S. 107. Prudhomme, Louis-Marie: Miroir de l’Ancien et du Nouveau Paris, avec treize voyages en vélocifères, dans ses environs II. Paris 1804, S. 318.

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im späten Ancien Régime mithin fast ganz in Vergessenheit geraten. Der eingangs bereits zitierte Reisende Heinrich Sanders konnte dies bei einer Besichtigung vor Ort bestätigen, nachdem er die zuständigen Geistlichen auf Empfehlung eines Bekannten hin um die Öffnung der Schränke gebeten hatte. „Man sieht also hier die Könige von Karl VIII. an bis auf König Louis XIII.“, so notierte Sanders, dessen Bericht eine gespenstische Szenerie heraufbeschwor: „Bei Louis XIV. hats aufgehört. Sie sitzen da oben in einem rothen tuchenen Kleide mit Lilien gestickt, mit schlechten Kronen auf dem Kopfe und Sceptern in den Händen [...]. Es sind in 4 Schränken, Karl VIII. und Ludwig XII., Franz I. und Heinrich II., Karl IX. […] und Heinrich III., endlich Heinrich IV. und Ludwig XIII.“ Während der Besucher den „Protestantenmörder“ Karl IX. am liebsten gar nicht betrachten wollte, äußerte er sich recht positiv zu den meisten anderen Königseffigies: „Der Franz I. sieht lieblich aus; die beiden Heinriche haben nichts besonders; das schönste Gesicht hat immer Heinrich IV.“ 32 Andere Reisende – wie Johann Jacob Volkmann – haben diese Eindrücke aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen in Saint-Denis bekräftigt. 33 Die verstaubten Wachsfiguren, an denen die Zeit nicht spurlos vorbei gegangen war, rückten nur wenige Jahre später allerdings im Kontext des revolutionären Bildersturms unerwartet in den Mittelpunkt aktueller politischer Diskussionen. Mit der Radikalisierung der Revolution begann sich ab dem Sommer 1792 in Frankreich eine zunehmend aggressiver werdende antiroyalistische Stimmung auszubreiten, die auch die in ihrem Versteck schlummernden Effigies keineswegs verschonte. Als die Abgeordneten der Nationalversammlung am 11. August von den gewaltsamen Angriffen Pariser Bürger auf die Königsstatuen der Place Vendôme und Place Louis XV erfuhren, sahen sie sich zum Handeln gezwungen. Per Dekret wurde drei Tage später, am 14. August 1792, die Zerstörung sämtlicher feudalistischer und royalistischer Statuen, Inschriften und Monumente angeordnet. 34 Dies bildete den Auftakt zu einer Vielzahl weiterer vandalistischer Exzesse, als deren konsequenter Verfechter u.a. der einflussreiche Journalist Sylvain Maréchal in Er32 33 34

Sanders 1783 (wie Anm. 2), S. 341. Vgl. Volkmann, Johann Jacob: Neueste Reisen durch Frankreich. Bd. 1. Leipzig 1787, S. 529. Immer noch informativ die Darstellung von Steinmann, Ernst: Die Zerstörung der Königsdenkmäler in Paris. In: Monatshefte für Kunstwissenschaft 10 (1917), S. 337-379, hier S. 339; vgl. auch Lombard-Jourdan, Anne: Traque et Abolition des Marques de Religion, de Royauté et de Féodalité à Saint-Denis après 1789. In: Saint-Denis ou le Jugement Dernier des Rois. Actes du Colloque organisé par l’Université Paris VIII. Saint-Denis 1993, S. 209-229, hier S. 209: „Aucune ville en France, à la veille de la Révolution, ne portait plus profondément que Saint-Denis l’empreinte de la religion, de la royauté et de la féodalité. Mieux et plus encore que la cathédrale du sacre à Reims, sa basilique funéraire royale symbolisait la continuité monarchique et les religieux bénédictins, associés depuis 1686 aux Dames de Saint-Cyr, dominaient les habitants en véritables seigneurs.“

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scheinung trat. In dem Wochenblatt Révolutions de Paris rief Maréchal die Bevölkerung explizit zu ikonoklastischen Aktionen auf. Der republikanische Geist, so führte er aus, passe mit den im Land überall noch sichtbaren Herrschaftszeichen der alten Monarchie nicht zusammen. Jeder gute Republikaner müsse es doch als eine Ohrfeige empfinden, wenn in der „vormaligen Abtei Saint-Denis“ neben der „unreinen Asche“ der ehemaligen Könige weiterhin auch deren wächserne Abbilder aufbewahrt blieben. Aus diesem Grund müssten die Königsgräber wie die Wachseffigies so schnell wie möglich zerstört werden. 35 Als der Konvent im Sommer 1793 über die Gedenkfeiern beriet, die anlässlich des ersten Jahrestages des 10. August 1792 veranstaltet werden sollten, erreichte die Debatte auch in Bezug auf den künftigen Umgang mit den Effigies einen neuen Höhepunkt. Ihr Schicksal war endgültig besiegelt, als die Abgeordneten Anfang August 1793 dem flammenden Plädoyer des „Königsmörders“ Barère für eine völlige Zerstörung der „Tyrannenmausoleen“ in Saint-Denis Folge leisteten. Für den Vorschlag, die Wachsfiguren einzuschmelzen, um daraus Kerzen für die geplanten Illuminationen des 10. August 1793 drehen zu können, vermochte sich allerdings niemand zu erwärmen. So ließ der Bürgermeister von Saint-Denis die königlichen Wachsfiguren am Ende einfach in kleine Stücke zerschlagen, nicht ohne zuvor jedoch die goldenen Kronen und Königslilien entfernt zu haben. Von ähnlicher Brutalität blieben auch die Königsgräber selbst nicht verschont: Zwischen dem 12. und 25. Oktober wurden in Saint-Denis insgesamt 157 Särge aufgebrochen und geleert, die Skelette und mumifizierten Überreste der gekrönten Häupter Frankreichs in zwei hastig ausgehobenen Gruben verscharrt. 36 Die düsteren Gemälde des Malers Hubert Robert, der die Grabschändungen in Saint-Denis im Bild festgehalten hat, vermitteln noch heute einen Eindruck von der gespenstischen Szenerie, die damals in der alten Königsnekropole geherrscht haben muss. „Die Gräber sind erbrochen, die Fenster sind bis auf die letzte Scheibe zerschlagen, Staub und Gebeine zerstreuet“, klagte der erwähnte Johann Friedrich Meyer bei einem erneuten Saint-Denis-Besuch Anfang des 19. Jahrhunderts. 37 Von dem doppelten Leib der König war, so schien es, nur wenig übrig geblieben. 35 36

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Vgl. dazu unter anderem Leniaud, Jean-Michel: Saint-Denis de 1760 à nos jours. Paris 1996, S. 25; Zitat ebd. Zur Bedeutung der Aktionen von 1793 vgl. auch Leniaud, Jean-Michel: Der zweite Tod der französischen Könige oder: die damnatio memoriae. In: Kramp, Mario (Hrsg.): Krönungen. Könige in Aachen – Geschichte und Mythos. Mainz 2000, Bd. 2, S. 690-698, hier S. 697: „Was in Saint-Denis passiert ist, ist wahrscheinlich einmalig in der Geschichte Europas und trifft wahrscheinlich mitten ins Herz des revolutionären Systems.“ Meyer, Friedrich Johann: Briefe aus der Hauptstadt und dem Innern Frankreichs. Tübingen 1803, Bd. 1, S. 207.

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Es klingt wie eine Ironie der Geschichte, dass die Wachseffigies ausgerechnet in jenem historischen Moment, in dem sie als Relikte einer monarchischen Vergangenheit einem Prozess brutalster Vernichtung zum Opfer fielen, unter veränderten politischen Vorzeichen reanimiert und mit neuem Sinn gefüllt wurden. Denn der Künstler Jacques Louis David, ein Anhänger der Revolution und selber Abgeordneter des Konvents, schuf im Sommer 1793 eine unsterbliche (Wachs)ikone, die naturgemäß zwar nicht mehr den Ewigkeitsanspruch der Monarchie in Frankreich, dafür jedoch die zeitenübergreifende Dauerhaftigkeit der Revolution symbolisieren sollte. 38 Gemeint ist Davids Hommage an den Publizisten und Politiker Jean-Paul Marat, dessen gewaltsamer Tod am 13. Juli 1793 ganz Frankreich erschütterte und einen in Teilen hysterischen Marat-Kult auslöste. 39 Dank der umfangreichen, in den Revolutionsarchiven überlieferten und schon im 19. Jahrhundert veröffentlichten Polizeiberichte lassen sich die Ereignisse minutiös wie folgt rekonstruieren: Die 25jährige Charlotte Corday aus Caen hatte es am Abend des 13. Juli nach mehreren missglückten Versuchen endlich geschafft, zu dem ebenso beliebten wie gefürchteten Volkstribunen vorzudringen. Marat, der aufgrund diverser schwerer Krankheiten und eines zermürbenden Hautleidens die meiste Zeit des Tages in medizinischen Bädern zubrachte, die ihm als einziges Mittel Linderung verschafften, hatte die hartnäckige Bittstellerin in einer schuhförmigen Badewanne empfangen. Nach kurzer Unterhaltung hatte ihm Charlotte Corday ein am Morgen im Palais-Royal gekauftes Messer in die Brust gestoßen. Der rasch herbeigerufene Arzt konnte bei seiner Ankunft in Marats Wohnung keinerlei Lebenszeichen mehr feststellen. 40 Unter all den hektischen Aktivitäten, die im Anschluss an das Attentat rund um den Leichnam und die Attentäterin entfaltet wurden, fällt eine besonders auf: Eine junge Wachsmodelliererin nahm Marat die Totenmaske ab. Besagte Marie Grosholtz war zu diesem Zeitpunkt in Paris längst keine Unbekannte mehr, 41 hatte sie doch ihr Handwerk bei dem bereits genannten 38 39

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Zu David immer noch aktuell Dowd, David: Pageant-Master of the Republic. Jacques Louis David and the French Revolution. Lincoln 1988 (= University of Nebraska Studies NS 3). Der Tod Marats hat die Historiker als zentrales Ereignis der Revolutionsgeschichte seit dem späten 18. Jahrhundert beschäftigt. Die extreme Ideologielastigkeit der Literatur pro oder contra Charlotte Corday sei hier lediglich am Rande erwähnt. Gute Überblicke liefern die neueren Arbeiten Mazeau, Guillaume: Le bain de l’histoire. Charlotte Corday et l’attentat contre Marat 1793-2009. Paris 2009 und Beise, Arnd: Marats Tod 1793-1993. St. Ingbert 2000. Zu den Vorgängen nach dem Attentat vgl. inbesondere die Studien von Guilhaumou, Jacques: 1793. La Mort de Marat. Brüssel 1989 und Andries, Lise/Bonnet, Jean-Claude: La Mort de Marat. Paris 1986. Über ihre Aktivitäten während der Französischen Revolution hat Marie Grosholtz in ihrer – in Bezug auf ihre Glaubwürdigkeit allerdings fragwürdigen – Autobiographie Auskunft gegeben; vgl. Tussaud, Marie: Madame Tussaud’s Memoirs and Reminiscences of France, Forming an Abridged History of the French Revolution, redigiert von Hervé, Francis.

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Philippe Curtius, einem angeblich aus Bern stammenden Anatomen, erlernt, dem die Zeitgenossen magisches Geschick bei der Anfertigung seiner lebensecht wirkenden Wachsfiguren zuschrieben. Curtius betrieb im vorrevolutionären Paris mindestens zwei stark frequentierte Wachsfigurenkabinette auf dem Boulevard du Temple und im Palais-Royal, während er als einträgliches Nebengeschäft zugleich eine reiche Privatklientel mit kleinen Wachsfigürchen in erotischen Posen versorgte. Die Geschichte des umtriebigen Geschäftemachers Pierre Curtius, der den Typ des Abenteurers und Scharlatans, wie ihn das 18. Jahrhundert immer wieder hervorbrachte, glänzend verkörperte, ist an anderer Stelle beschrieben worden. 42 Hier reiche der Hinweis aus, dass die junge Marie Grosholtz nach dem Tod ihres Lehrmeisters 43 mit den von ihm ererbten Wachspuppen als Grundstock eine Sammlung aufbaute, mit der sie Anfang des 19. Jahrhunderts nach England auswanderte. Nach Jahren eines ruhelosen Tourneedaseins, in denen sie als Schaustellerin mit ihren Wachsfiguren über Land tingelte, siedelte sie ihr Kabinett schließlich ab 1835 dauerhaft in der Hauptstadt London an. In der Marylebone Street kann man die aktuelle Version des Wachsfigurenkabinetts der Marie Grosholtz noch heute besichtigen. Den Namen Grosholtz hatte die Wachsmodelliererin mit ihrer Eheschließung im Jahre 1795 allerdings gegen einen neuen Namen eingetauscht. Ihre Heirat mit einem gewissen François Tussaud machte sie zu jener legendären Madame Tussaud, deren Wachskunst in der ganzen Welt berühmt werden sollte, 44 wenn auch die Kunsthistoriker dem Werkstoff Wachs aufgrund seiner veristischen Eigenschaften stets skeptisch gegenüberstanden. In ihren Memoiren hat die greise Madame Tussaud den Verlauf des 13. Juli 1793 in allen Einzelheiten geschildert. Schon kurz nach dem Vorfall sei sie

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London 1838. Eine kunsthistorische Dissertation über Madame Tussaud stammt aus der Feder von Kornmeier, Uta: Taken from Life. Madame Tussaud und die Geschichte des Wachsfigurenkabinetts vom 17. bis frühen 20. Jahrhundert. Berlin 2003. Diese Arbeit ist in elektronischer Form auf dem edoc-Server der HU unter URL: http://edoc.hu-berlin.de/ docviews/abstract.php?id=27565 zugänglich. Zur Geschichte des Philippe Curtius im vorrevolutionären Paris zuletzt Gersmann, Gudrun: Philippe Curtius. Wachsfigurenmacher, Medienunternehmer, Revolutionär. Eine biographische Skizze. In: Vogel, Christine u.a. (Hrsg.): Medienereignisse im 18. und 19. Jahrhundert. Beiträge einer interdisziplinären Tagung aus Anlass des 65. Geburtstages von Rolf Reichardt. München 2009, S. 55-76. Wichtige Quellen zum Werdegang des Wachsfigurenmachers finden sich in der Bibliothèque historique de la Ville de Paris, Manuscrits 1212, darin u.a. eine Kopie der Geburtsurkunde des Curtius. Das Verwandtschaftsverhältnis zwischen Marie Grosholtz und Curtius bleibt zum aktuellen Zeitpunkt unklar, teilweise wird sie in der Literatur als illegitime Tochter des Curtius bezeichnet. Vgl. dazu Sorel, Philippe: Le salon des cires de Curtius. In: Le Palais Royal. Musée Carnavalet, 9 mai-4 septembre 1988. Paris 1988, S. 179f. Vgl. dazu auch Kornmeier, Uta: Madame Tussaud’s Exhibition als Monument. In: Kritische Berichte 1999, S. 40-54, zu den England-Tourneen bes. S. 42.

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von einigen Gendarmen im Auftrag Jacques Louis Davids in das Haus des Ermordeten gebracht worden. Der Körper sei noch warm, der Anblick der nun im Tod erstarrten, fast teuflischen Züge des „Volksfreundes“ sei schrecklich gewesen. 45 Dessen ungeachtet habe sie sich sogleich an den Wachsabguss gemacht, der David als Muster für sein späteres Monumentalgemälde gedient habe. Auch wenn die mit beträchtlichem zeitlichem Abstand zu den Ereignissen selbst niedergeschriebenen Erinnerungen der Schaustellerin in der Regel mit größter Vorsicht zu lesen sind, da sie dem britischen Publikum die makellose Biographie einer aufrechten Royalistin und erfolgreichen Geschäftsfrau präsentieren wollten, 46 sprechen weitere Quellenbelege für die Richtigkeit ihrer Darstellung. Ungewöhnlich war Davids Ansinnen nicht, erfreuten sich die Pariser Wachsmodellierer in den Zeiten der Französischen Revolution doch einer makabren Hochbeschäftigung. Die vielen Hinrichtungsopfer boten ihnen hinreichend Gelegenheit, ihre Kunst zu erproben. Curtius selbst hat angeblich 1793 auf dem Pariser Madeleine-Friedhof, auf dem die Guillotinierten der Place de la Révolution in anonymen Massengräbern bestattet wurden, reiche Feldstudien betrieben: So soll er in ein Erdloch flüssiges Wachs eingefüllt haben, um den abgeschlagenen Kopf der Madame Du Barry mit dem Ziel der Herstellung eines authentischen Wachsabdrucks dort hineinzudrücken. 47 Solche Darstellungen dürften zwar ebenso wie die wiederholten Beteuerungen der Madame Tussaud, alle prominenten Revolutionsopfer – von der königlichen Familie bis hin zu Robespierre und Charlotte Corday – nach der Hinrichtung bzw. noch im Gefängnis in Wachs verewigt zu haben, zum Bereich der Legenden zählen. Doch grundsätzlich konnten Totenmasken mit wenigen, leicht zu transportierenden Hilfsmitteln innerhalb von 10-20 Minuten gleich vor Ort, d.h. noch an der Hinrichtungsstätte, angefertigt werden. 48 Neben Marie Grosholtz versuchten sich im Übrigen auch noch andere Pariser Wachsbossierer als Porträtisten des toten Revolutionsführers: Unter dem Datum des 18. Juli 1793 annoncierte der taubstumme Bildhauer Deseine sei45 46

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Vgl. Tussaud 1838 (wie Anm. 41), S. 199, 279. Die einschlägige Tussaud-Literatur hat der Mythenbildung lange Zeit Vorschub geleistet, als Beispiel dafür seien die Arbeiten der langjährigen Archivarin bei Tussauds, Pauline Chapman, zitiert. Vgl. u.a. Chapman, Pauline: Madame Tussaud’s Chamber of Horrors. London 1984; dies.: The French Revolution as seen by Madame Tussaud. Witness Extraordinary. London 1989. Vgl. Kornmeier 2003 (wie Anm. 41), S. 67. Dieses Auskunft stammt von dem Bonner Bildhauer Holger Schmidt, der zu den wenigen Künstlern gehört, die sich noch heute auf das Anfertigen von Totenmasken verstehen (vgl. URL: http://www.totenmasken.de [letzter Zugriff: 13.07.2010]). Unglaubwürdig sind Curtius’ Behauptungen also nicht, auch wenn man sich heute schwer vorstellen kann, dass er oder Marie Grosholtz auf dem Madeleine-Friedhof auf die Ankunft der enthaupteten Leichen gewartet haben, um in Ruhe ihre Arbeit zu vollbringen.

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nen Mitbürgern in der Chronique de Paris, dass er am Morgen des 14. Juli 1793 bei dem toten Bürger Marat gewesen sei, um einen Wachsabdruck „nach der Natur“ zu erstellen. Kurz nach dem Attentat wurde auch ein Mitglied des Jakobinerclubs namens Bonvallet vom Konvent mit der Abnahme einer Moulage beauftragt. 49 Diese Wachsreproduktionen wurden kurz darauf in den Wachsfigurenkabinetten der Pariser Boulevards und des Palais-Royal gezeigt und lockten in den Sommermonaten des Jahres 1793 eine große Zahl von Neugierigen an. Warum hat Jacques Louis David auf die Abnahme der Totenmaske Marats gedrängt? Rein praktisch gesehen war die Anfertigung einer Wachsmoulage zunächst schon allein aufgrund des Verwesungsprozesses notwendig, der in den heißen Sommertagen des Jahres 1793 unaufhaltsam seinen Lauf nahm. Beherztes und rasches Eingreifen war erforderlich, wollte man ein naturgetreues Abbild des populären Revolutionsführers schaffen, das in die „Memoria“ eingehen, aber auch als eine Art Ersatz für den echten, nur allzu bald nicht mehr vorzeigbaren Leichnam fungieren konnte. Obwohl die Pariser Sektion „Théâtre Français“, die Marats „kostbare Überreste“ bewachte, den Konventsabgeordneten am 15. Juli 1793 mit Nachdruck zusicherte, alles, was in ihren Kräften stehe, für die Erhaltung des Toten tun zu wollen, 50 erwiesen sich ernst gemeinte Vorschläge, den präparierten Körper des Revolutionsmärtyrers in allen französischen Départements zu zeigen, sowohl unter hygienischen wie unter olfaktorischen Gesichtspunkten schnell als unrealistisch. 51 Der Wunsch der republikanischen Gesellschaft von Belfort, den „blutigen Kadaver Marats“ den Blicken des ganzen Volkes preiszugeben, um dessen Wut gegen die Gegner der Revolution anzufachen, scheiterte an den verheerenden Folgen der Juli-Hitze. 52 Am 16. Juli 1793, drei Tage nach dem Anschlag auf Marat, stattete David dem Konvent einen äußerst ernüchternden Bericht vom Zustand der Leiche ab, von dem er sich kurz zuvor in Gegenwart einiger revolutionärer Kollegen mit eigenen Augen überzeugt hatte. Angesichts der eingetretenen Zersetzung sei es unmöglich, so lautete sein Urteil, Marat in aufrechter Position in seiner Badewanne aufzubahren, wie man es anfangs geplant habe. Allenfalls könne man den aufrechten Republikaner und Märtyrer unter einem dünnen feuchten Laken, das nur sehr wenig von ihm enthülle und den Verwesungsvorgang zugleich etwas eindämme, auf einem Totenbett der Öffentlichkeit präsentieren. Die von David organisierte Begräbnisfeier, die kurz darauf, früher als vorgesehen, am Abend des 16. Juli 49 50 51 52

Defrance, Eugène: Charlotte Corday et la mort de Marat. Paris 1909, S. 278. Vgl. die Angaben bei Tuetey, Alexandre: Répertoire Général des Sources Manuscrites de l’Histoire de Paris pendant la Révolution Française IX. Paris 1910, S. 250. Vgl. ebd., S. 251. Vgl. ebd., S. 250.

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unter massivem Einsatz aromatischer Kräuter gegen den Leichengestank stattfand, zeigte – zeitgenössischen Illustrationen zufolge – den kunstvoll arrangierten Körper Marats auf einem Paradebett. Der bösen royalistischen Propanda zufolge hatte man keine Mühen gescheut, um die Überreste des von Krankheiten wie der Lepra gezeichneten „Volksfreundes“ in eine überhaupt noch präsentable Form zu bringen; so habe man dem Toten die aus dem Mund heraushängende Zunge herausschneiden müssen, um die Kiefer schließen zu können, wie der Anblick des schwarz angelaufenen Oberkörpers und der grünlich angelaufenen pockennarbigen Haut ohnehin für die Zuschauer an der Grenze des Erträglichen gewesen sei. Über die Inszenierung des Totenzuges hinaus verhalf David Marat endgültig zur Unsterblichkeit, in dem er ihm sein berühmtestes Werk, ein 165 x 128 cm großes, heute im Musée de Bruxelles hängendes Gemälde mit dem Titel „Marat à son dernier soupir“ widmete, das den toten Revolutionär gleichzeitig zum antiken Helden wie zum leidenden Christus stilisierte. 53 Über den Willen einer Bewahrung der Züge Marats für die Nachwelt hinaus knüpfte Jacques Louis David mit der Beauftragung der Wachsbildnerin Marie Grosholtz in einem zweiten Schritt aber explizit auch wieder an die Effigies-Traditionen an, die das französische Königtum so lange geprägt hatten. David kannte die Geschichte der Königseffigies sehr genau – und war in den 1790er Jahren umso intensiver darum bemüht, das alte monarchische Begräbniszeremoniell in den Dienst der revolutionären Sache zu stellen. Die Rekonstruktion der kultartigen Verehrung, die den „Märtyrern der Revolution“ unter seiner Regie im Zusammenspiel von Printmedien, Liedern, Hymnen und öffentlichen Festveranstaltungen zu Teil wurde, 54 liefert zahlreiche Belege für diese These. Auf der Suche nach Zeichensystemen, die die Sache der noch jungen Republik angemessen repräsentieren und ihr eine solide symbolische Grundlage verleihen konnten, griff David, wie es scheint, auf die bewährten Gedenkformen zurück, die er geschickt zu Vehikeln der revolutionären Botschaft umfunktionierte. So hatte er schon vor Marat den am 20. Januar 1793, am Tag vor der Hinrichtung Ludwigs XVI., ermordeten Revolutionsmärtyrer Le Pelletier de Saint-Fargeau bewusst auf jenem Pariser Platz aufbahren lassen, auf dem im Ancien Régime ein Königsdenkmal zu sehen gewesen war: Die Figur des heroischen Königs wurde im Rahmen eines raffinierten Substituierungsvorgangs durch den Revolutionsmärtyrer ersetzt, der 53

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Vgl. dazu die Darstellung bei Sauerländer, Willibald: Davids „Marat à son dernier soupir“ oder Malerei und Terreur. In: Idea 2 (1983), S. 49-88; Traeger, Jörg: Der Tod des Marat. Revolution des Menschenbildes. München 1986. Vgl. Ein kulturhistorisches Experimentierfeld par excellence. Rolf Reichardt über Revolutionsforschung, Totenkult und Erinnerungskultur. In: Zeitenblicke 3 (2004), Nr. 1 (09.06.2003) (URL: http://www.zeitenblicke.historicum.net/2004/01/interview/index.html [letzter Zugriff: 13.07.2010]).

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als neues Adorationsobjekt der Pariser Massen von der Dignität des Ortes profitierte. Bei der Gestaltung der Totenfeier Marats ging Jacques Louis David, so könnte man sagen, über das historische Vorbild jedoch sogar noch einen Schritt hinaus. Denn letztlich verzichtete er auf das Hilfsmittel der Wachsmaske, indem er den Körper des Revolutionsmärtyrers gewissermaßen zu seiner eigenen Effigie umformte: Die kunstvoll arrangierten „echten“ Revolutionstoten machten das wächserne Abbild überflüssig. Die Lektion, die das Publikum der revolutionären Totenfeiern lernen sollte, war unmissverständlich: Mochten die Revolutionsführer sterben, war die Revolution selbst doch unsterblich. Hinter der Revitalisierung der Effigies steckten mithin keineswegs ästhetische, sondern vielmehr hochpolitische Ambitionen. Die alte Magie wurde nun zu neuen Zwecken eingesetzt: Wiederum sollte damit in symbolischer Weise ein Anspruch auf Unsterblichkeit zum Ausdruck gebracht werden, doch handelte es sich nicht mehr um die dignitas der Monarchie, sondern um einen Versuch der Legitimierung der Revolution selbst. Funktionieren konnten diese Inszenierungen ein weiteres Mal nur deshalb, weil sie eben keine zerebralen Kunstprodukte darstellten, sondern an die uralten, magischen, im Gedächtnis der Nachwelt fest verankerten Effigiestraditionen anschlossen.

IV. Der vorliegende Beitrag hat die Geschichte der Effigies in Frankreich nachzuzeichnen versucht, ausgehend von der Annahme, dass der „Tod eines Mächtigen“ gerade in vormodernen Gesellschaften eine gefährliche Leerstelle schuf, die es im Sinne der Herstellung von Kontinuität zu füllen galt. Die für die Untertanen aus dem Verlust ihres Königs resultierende Situation der Instabilität wurde im 16. und 17. Jahrhundert mit den wächsernen „Scheinleibern“ der verstorbenen Herrscher überbrückt, die zu einem zentralen Bestandteil des Begräbniszeremoniells avancierten. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts erlebten die Königseffigies in neuer Gestalt ihre politische Wiedergeburt: Im Rahmen des Kults um die „Freiheitsmärtyrer“ gelang es Jacques Louis David, wie das Beispiel der Marat-Heroisierung im Juli 1793 zeigte, die Erinnerung an die Königseffigies in einer republikanischen Variante erfolgreich in das revolutionäre Symbolsystem zu überführen. Hatte sich schon David nicht mehr allein auf die wächsernen Ebenbilder eines Le Peletier de Saint-Fargeau oder Marat verlassen, sondern die Körper der Revolutionshelden durch eine kunstvolle Aufbahrungstechnik selbst in ihre eigene Effigie verwandelt, so machte der Siegeszug der neuen optischen Medien gegen En-

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de des 18. Jahrhunderts dem Wachs endgültig seine bis dahin unübertroffenen Dokumentationsqualitäten streitig. Das Pariser Publikum strömte in Scharen in das 1798 eröffnete „Theater der Fantasmagorien“ des Schaustellers Etienne Gaspard Robertson, 55 der jeden Abend ab sieben Uhr zu einem gespenstischen Schauspiel einlud: Nach dem Betreten eines großen Saals, dessen Wände mit „vortrefflichen, größtentheils seltenen physikalischen, besonders optischen Kunstwerken“ geschmückt waren, konnten die Besucher zunächst u.a. eine Karikatur mit dem „Bilde zweyer Köpfe berühmter Gelehrten“ bestaunen, welche sich, sobald man an einer daran befestigten Schnur zog, in Eselsköpfe verwandelten. Die eigentliche Attraktion erwartete sie dann jedoch in dem sogenannten „optischen Saal“, in dem Robertson seine elektrischen, galvanischen und hydraulischen Versuche durchführte. Hier steigerte sich die Spannung ins Unerträgliche: Kaum hatten die Zuschauer ihre Sitze eingenommen, erloschen die Lampen, während zugleich die „unglücklichen Propheten des Todes, Käuzchen und Uhus“, aber auch „wüthende Sturmwinde“, Kettengerassel und Donnerschläge zu hören waren. Dank eines geschickten Spiels mit Licht- und Geräuscheffekten sahen sich die Anwesenden bald von geisterhaften „grässlichen Gestalten der Unterwelt“ umringt. 56 Den Höhepunkt bildete eine Geisterbeschwörung, in deren Verlauf Robertson mit Hilfe einer Laterna Magica Jean-Paul Marat aus dem Reich der Toten ins Reich der Lebenden zurückrief. Die Darstellung war so überzeugend, dass nicht einmal die Wachsfiguren der Madame Tussaud mehr damit konkurrieren konnten.

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Vgl. dazu auch Mercier de Compiègne, Claude-François-Xavier: Manuel du voyageur à Paris. Contenant la description des spectacles, manufactures, etablissements publics, jardins, cabinets curieux, la nouvelle constitution, la division de Paris en 12 arrondissements, et généralement tout ce qui peut intéresser les étrangers. Paris 1800, S. 250. Murhard, Johann Carl Adam: Blicke auf Paris. Von einem Augenzeugen. Altenburg 1805, S. 38.

RALF PRÖVE

Grenzen markieren und überschreiten Die Lebenswelt „Militär“ in der Perspektive des „performative turn“

I. Mittlerweile ist das Thema „Militär“ integraler Bestandteil der Frühneuzeitforschung geworden, stellt kein Schmuddelkind mehr dar. 1 Gerade Historikern der jüngeren und mittleren Generation ist dies bewusst; zum guten Teil haben sie selbst Qualifikationsarbeiten zum Thema verfasst, bieten zu diesem Wissensfeld Lehrveranstaltungen an oder sind Mitglied im Arbeitskreis Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit. 2 Vor zehn bis fünfzehn Jahren war dies keine Selbstverständlichkeit. So weit, so gut. Doch noch immer wird „Militär“ letztlich als selbsterklärendes und idealtypisches Phänomen gefasst und nicht in einen Quellen- und einen Forschungsbegriff „Militär“ getrennt. Viele Forscher und Forscherinnen haben letztlich stets die Ideenwelt des 19. Jahrhunderts im Hinterkopf und aktuelle Vorstellungen vom Militär im Arbeitsspeicher, die unbewusst oder auch bewusst reflektiert auf das 17. und 18. Jahrhundert übertragen werden. Sicherlich wird diese kognitive Engführung noch verstärkt durch methodische Hürden und ein Quellenproblem. Denn die (administrativ-obrigkeitlichen) Quellen sind stets im Wahrnehmungshorizont von Herrschaftsträgern verfasst, so dass sie eine Gleichsetzung von Anspruch und Durchsetzung von Lenkung und Kontrolle auf den ersten Blick zu bestätigen scheinen. Uniformen und Kriegsgerät in den Museen, Beförderungslisten, Schlachtenaufstellungen oder Materialübersichten in den Archiven verstärken solche Vorstellungen. Offensichtlich liegen hier jedoch ganze Bündel hermeneutischer Fallstricke versteckt. Nach wie vor fehlt es an einer brauchbaren analytischen Zuschreibung von „Militär“. Allein die gängige Vorstellung, als Militär bezeichne man die 1

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Vgl. Pröve, Ralf: Vom Schmuddelkind zur anerkannten Subdisziplin? Die „neue Militärgeschichte“ der Frühen Neuzeit. Perspektiven, Entwicklungen, Probleme. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 51 (2000), S. 597-612 sowie etwa Kühne, Thomas/Ziemann, Benjamin (Hrsg.): Was ist Militärgeschichte? Paderborn 2000 oder Nowosadtko, Jutta: Krieg, Gewalt und Ordnung. Einführung in die Militärgeschichte. Tübingen 2002. Vgl. zum Arbeitskreis Militär und Gesellschaft (AMG) www.amg-fnz.de.

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bewaffneten Verbände eines Staates oder eines Bündnisses, die dieser zur Verteidigung gegen einen Angriff von außen aufstelle, verdeutlicht den rein beschreibenden Fokus auf die phänomenologische, funktionale Dimension. Diese Einschränkung ist mit Blick auf die Frühe Neuzeit besonders problematisch, da einerseits die Konfigurationen bewaffneter Verbände stets fluktuierten und andererseits es mangels klarer Abgrenzungen vielfältige Übergänge zu anderen nichtmilitärischen Bereichen gegeben hat. Es sollte das frühneuzeitliche Militär viel intensiver als komplexes Teilmilieu begriffen werden, das sich mit anderen Teilmilieus überlappt, welche erst in der Summe die Lebensform Frühe Neuzeit ergeben. Denn selbst wenn das frühneuzeitliche Militär als genuine Lebenswelt im Husserlschen Sinne 3 gedeutet werden soll, bleibt die Frage nach deren Abgrenzung. Denn schließlich prallen verschiedene alteuropäische Lebenswelten und Konzepte aufeinander, vermengen sich zu einer neuen Schnittmenge. So ist etwa zu fragen, ob ein adliger Offizier sich primär als Militär oder als Adliger begriffen hat, oder wie sehr sich der einfache Soldat seinen nichtmilitärischen Wurzeln, auch seinen „zivilen“ Zukunftsplänen verpflichtet gefühlt hat, oder wie sehr religiöse und soziale Orientierungen abseits des militärischen Milieus handlungsleitend waren. Damit nähert sich der Themenblock sozialen, lebensweltlichen „Grenzen“ auf zwei Ebenen, einmal geht es um jene Schwellen, die die Militärgesellschaft von anderen Gesellschaften trennen, und einmal um Grenzen innerhalb der Militärgesellschaft. Gerade weil diese Grenzen nicht eindeutig zugeordnet sind, geht es um die Wahrnehmung dieser Grenzen, um deren Markierung und Überwindung. Es sollen deshalb mit bisher ungewohnten Perspektiven tiefenscharfe Einblicke und neue Erkenntnisse über die Lebenswelt der frühneuzeitlichen Militärgesellschaft gewonnen werden. Diese Perspektiven abseits der Routine eröffnen sich im Licht der kulturalistischen Wende durch die Ritual- und Performanzforschung.

II. Obwohl die performative Wende schon seit einigen Jahren in der wissenschaftlichen Diskussion steht, ist eine Umsetzung auf historische Sachverhal3

Edmund Husserl fasst Lebenswelt als die natürliche, soziale und politische Umgebung für eine Gruppe von Menschen auf. Diese beinhaltet deren Wahrnehmung, Interpretation, Bewertung und Darstellung. Vgl. Husserl, Edmund: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Tübingen 1936 und dazu jetzt auch Sowa, Rochus (Hrsg.): Die Lebenswelt. Auslegungen der vorgegebenen Welt und ihrer Konstitution. Dordrecht 2008.

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te bisher vergleichsweise behutsam erfolgt. In den diversen Sonderforschungsbereichen, die an die Gesamtthematik anknüpfen (SFB 447 Kulturen des Performativen, SFB 619 Ritualdynamik oder SFB 496 Symbolische Kommunikation), dominieren zumeist die nichthistorischen Disziplinen, so dass die Geschichtswissenschaft noch Entwicklungspotenziale aufweist. 4 Immerhin aber hat sich die Frühneuzeitforschung bisher vor allem der Rekonstruktion ritualdynamischer Prozesse gewidmet und deren transformative Rolle in verschiedenen Kontexten untersucht. So wurden etwa Begräbniszeremonien ebenso wie Trauungen als soziokulturelle Phänomene beleuchtet und dabei sowohl kirchliche Normierungen als auch alltagskulturelle Bedeutungszuweisungen beachtet. Ebenso rückten am Beispiel von Handwerkszünften und Adelsgesellschaften spezifisch berufsständische Übergangsrituale in den Mittelpunkt des Interesses; für die Militärgeschichte der Frühen Neuzeit stellt das performative Konzept jedoch vollständiges Neuland dar. Insofern sollen mit diesem Themenblock auch die Konzeptionen von Performanz und Ritual für die gesamte Frühe Neuzeit erprobt werden. Zunächst sollte geklärt werden, was denn Performanz überhaupt ist und welche Begrifflichkeiten angewendet werden. Die bekannte Berliner Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte, die seit Jahren mehrere große DFGProgramme zu diesem Thema verantwortet, deutet Performanz (auch gerne als Theatralität bezeichnet) als jede Art von Aufführung. 5 Jede Aufführung ist ein einmaliges Ereignis, flüchtig und transitorisch, in der Regel werden mehrere Sinne parallel beeindruckt, es werden Räumlichkeit, Körperlichkeit und Lautlichkeit erfahren und – dies gilt es eigens hervorzuheben – es erfolgt eine Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern. War diese Performanz zunächst eher ein theaterwissenschaftlich wahrgenommenes Phänomen, so ist in den 1990er Jahren immer deutlicher geworden, dass dieses Ereignis sich nicht nur im Theater, sondern auch im Sport, bei Politikerauftritten, im privaten Bereich auf Hochzeiten und Begräbnissen, ja letztlich andauernd und alltäglich, für jeden Menschen vollzieht und beobachten lässt. Zu den aktuellen Diskursen gehören deshalb nicht umsonst der Funktionszusammenhang von Per4

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Ein stärkerer Fokus lag bisher auf Antike und Mittelalter. Die Mediävistik hat versucht, Funktionszusammenhänge von Handlungen und Zeichenketten herauszufiltern. In der Neuzeit hat man sich entweder mit körper- und geschlechtergeschichtlichen Fragestellungen dem Thema genähert oder symbolische Kommunikationsformen erforscht, vgl. dazu auch Martschukat, Jürgen/Patzold, Steffen: Geschichtswissenschaft und „performative turn“. Eine Einführung in Fragestellungen, Konzepte und Literatur. In: dies. (Hrsg.): Geschichtswissenschaft und „performative turn“. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit. Köln 2003, S. 1-31, bes. S. 11f. Vgl. im Folgenden Fischer-Lichte, Erika: Performance, Inszenierung, Ritual. Zur Klärung kulturwissenschaftlicher Schlüsselbegriffe. In: Martschukat/Patzold 2003 (wie Anm. 4), S. 33-54.

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formativität und Korporalität; evoziert doch der Doppelcharakter des Körpers (physischer Körper und semiotischer Körper) stets performative Prozesse. Fischer-Lichte trennt von der Performanz noch die Inszenierung, die als Modus der Herstellung von Aufführungen zu verstehen ist. In ihrem Sammelband Geschichtswissenschaft und „performative turn“ aus dem Jahre 2003 fordern Jürgen Martschukat und Steffen Patzold den Paradigmenwechsel von text- zu handlungsorientierten Betrachtungsweisen. Performanz sei ein „kulturwissenschaftlicher Leitbegriff“ geworden, der Handlungskonzepte fasse, in denen „individuelle wie kulturelle Selbstschöpfung durch Handlungsweisen“ begründet und wiederbegründet werden. Historiker und Historikerinnen sollten der „produktiven, bedeutungskonstituierenden Kraft von menschlichen Handlungsweisen“ nachspüren. 6

III. Ein zentraler Aspekt der Performanzforschung ist das Ritual. Eingebettet in die Performanzlogik kann das Ritual als besondere Gattung von Aufführung, von Performanz interpretiert werden. Rituale sind kulturelle Äußerungen, die ihren Sinn in der Erhaltung und Bestätigung, der Festigung und Bekräftigung sozialer oder kultureller Ordnungen haben. Zu den Merkmalen zählen etwa standardisierte Wiederholungen von Handlungen, dramatisches und expressives Pathos. In Ritualen dominiert eine Prozessabfolge, die von den an ihnen Beteiligten zwar aktiv initiiert und vollzogen wird, von der diese aber im Akt des Vollzuges selbst erfasst werden. Sie werden also einerseits geplant, initiiert, inszeniert und ausgeübt, andererseits vollziehen sie sich quasi von selbst, schreiben den Beteiligten ihre Handlungen weitgehend vor, und sie entfalten ihre Wirkung umso effizienter, je undurchsichtiger ihre Wirkungsweise für die an ihnen Beteiligten bleibt. 7 Rituale konstituieren oder bestätigen Bindungen ganz unterschiedlicher Art. Sie vermitteln zwischen verschiedenen Sphären. Rituale sind Orte von Grenzerfahrungen. Die Fähigkeit von Ritualen, Bedeutung hervorzubringen und Schwellenüberschreitungen zu erwirken, lässt sie als performative Akte – geschichtsphilosophisch betrachtet – zwischen dem Autonomieanspruch des Subjekts und entsubjektivierenden Verhaltensmustern oszillieren. Der transformative, grenzüberschreitende Charakter von Ritualen, nämlich von Initiationsritualen, wurde maßgeblich von Arnold van Gennep beschrieben. Dieser französische Ethnologe hatte 1909 sein Werk Les rites de 6 7

Vgl. Martschukat/Patzold 2003 (wie Anm. 4), S. 2. Vgl. Fischer-Lichte 2003 (wie Anm. 5), bes. S. 50f.; Belliger, Andréa/Krieger, David J. (Hrsg.): Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch. 4. Aufl., Wiesbaden 2008.

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passage publiziert, das sich jedoch zunächst in Frankreich gegen die dominierende Durkheim-Schule nicht durchsetzen konnte und erst späte Anerkennung fand. 8 Van Gennep geht von der Vorstellung aus, dass die Dynamik des sozialen Lebens (Alters-, Status-, Berufsänderungen) ständig Grenzüberschreitungen erfordere; diese möglicherweise als Störung empfundenen Übergänge seien zu kontrollieren und zu regeln. Vor allem lebenszyklische Rituale wie Schwangerschaft und Geburt, Pubertät, Verlobung und Heirat, Bestattung und Tod werden thematisiert. Van Genneps Leistung besteht nicht nur darin, auf diese Phänomene hingewiesen zu haben (er hat dafür Gesellschaften inner- und außerhalb Europas beobachtet), sondern die Initiationsrituale auch aus der damaligen Engführung einer nur religiös gedachten Interpretation herauszuholen (Durkheim, Mauss). In den letzten Jahren sind über die lebenszyklischen Initiationsrituale hinaus weitere Rituale und Übergangsriten in anderen Zusammenhängen beschrieben worden. Dabei wurde die enorme Bedeutung und Funktion dieser Rituale noch einmal sichtbar: So dienen sie dazu, Beziehungen und Antagonismen zum Ausdruck zu bringen, soziale Konflikte zu verhindern bzw. einzugrenzen, Menschen in neue Sozialpositionen und gesellschaftliche Rollen einzuweisen und lokale Gemeinschaften wie soziale Gruppen zu stabilisieren. Rituale sind damit Ausdruck verdichteter Kommunikation, die Strukturen schaffen bzw. vermitteln und sichtbar werden lassen. Rituale verbergen oder maskieren damit nicht nur Machtverhältnisse, sondern sie sind Teil von Aushandlungsprozessen. 9 Van Gennep trennt das Übergangsritual in drei Phasen: eine Trennungsphase, eine Schwellen- und Übergangsphase sowie eine Angliederungsphase. Besonderes Augenmerk liegt auf der mittleren Phase, die einen besonderen Zwischenstand anzeigt, der nicht selten Merkmale des Unstrukturierten, Paradoxen, Undifferenzierten und Inversiven ausmacht. Victor Turner hat diese Phase als Vorbereitung auf den Wandel durch die Initiation ausgemacht, in der sich die altbekannten Konventionen und Verhaltensmuster auflösen und die Potenziale der Transformation andeuten. 10 8

9

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Vgl. Gennep, Arnold van: Les rites de passage (dt. Übergangsriten). Frankfurt a.M. 1986 (zuerst 1909) und hierzu auch das Nachwort von Sylvia M. Schomburg-Scherff ebd., S. 233-253. Vgl. Bell, Catherine: Ritualkonstruktion. In: Belliger/Krieger 2008 (wie Anm. 7), S. 37-47; Brunotte, Ulrike: Ritual und Erlebnis. Theorien der Initiation und ihre Aktualität in der Moderne. In: Wulf, Christoph/Zirfas, Jörg (Hrsg.): Rituelle Welten. Berlin 2003 (= Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 12 [2003], H. 1 und 2), S. 29-53; Köpping, Klaus-Peter/Rao, Ursula (Hrsg.): Im Rausch des Rituals. Gestaltung und Transformation der Wirklichkeit in körperlicher Performanz. Münster 2000 sowie Wimmer, Michael/Schäfer, Alfred: Einleitung. Zur Aktualität des Ritualbegriffs. In: dies. (Hrsg.): Rituale und Ritualisierungen. Opladen 1998, S. 9-47. Vgl. Turner, Victor Witter: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Frankfurt a.M. 2005; ders.: Liminalität und Communitas. In: Belliger/Krieger 2008 (wie Anm. 7), S. 249-260.

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Bereits ein erster flüchtiger Blick auf die Militärgesellschaft lässt auf das Vorhandensein vielfältiger Ritualformen schließen, so etwa Strafrechtsrituale (Gassenlaufen, öffentliche Züchtigung), der Eintritt in das Militär (Einkleidung, Fahneneid), Rituale der Verabschiedung (Beendigung des Dienstes oder Tod und Begräbnis), Formen der Konfliktregelung oder Rituale der Begrüßung.

IV. Die nachfolgenden Beiträge widmen sich vor dem skizzierten Hintergrund der Erkenntnismöglichkeiten der Performanz- und Ritualforschung insbesondere den berufsständischen Initiationsritualen der Militärgesellschaft; die gleichsam damit einhergehenden religiösen Übergänge werden kontextualisiert und ihre jeweilige Funktion herausgearbeitet. Einerseits wird offen gelegt, in welchem Ausmaß die Binnenlogiken des Militärsystems Übergangsrituale geprägt haben, andererseits wird die transformative Rolle dieser Rituale im Wirkungszusammenhang sozialer Grenzüberschreitungen und politischer Wandlungen erarbeitet und somit auch die Ausprägung sozio-kultureller Identitäten untersucht. Insbesondere das Eintrittsritual in die Militärgesellschaft wird von komplexen Handlungen und symbolischen Ausdeutungen geprägt, sei es bei den Rekrutierungs- und Aufnahmevorgängen junger Männer, die die Grenze zu einer neuen ständischen Berufswelt überschreiten, sei es bei der Taufe eines Kindes von Soldaten, das durch die Initiation in doppelter Weise in eine Sakral- und Berufsgemeinschaft aufgenommen wird. Eine wichtige Funktion nehmen Bestrafungs- und Versöhnungsrituale ein, wird doch der Delinquent im Augenblick des Regelverstoßes aus der Gemeinschaft ausgestoßen, um nach Verbüßung der Strafe wieder in ritualisierter Form aufgenommen zu werden. Gleichsam säkular-dienstliche wie privat-religiöse Grenzüberschreitungen bilden die Trauung von Soldaten und die im Rahmen einer Beförderung sich vollziehenden Übergangsrituale. Insbesondere in der noch lange territorial übergreifend präsenten Adelsgesellschaft waren im Wortsinn grenzüberschreitende Berufswechsel von Offizieren üblich. Tod und Beerdigung schließlich versinnbildlichen den Übergang der Soldaten in die jenseitige Welt, der in stark ritualisierter Form vollzogen wurde. Es sollen dabei Rituale in der Militärgesellschaft als Seismographen, als Sensoren der Lebenswelt Militär in der Frühen Neuzeit genutzt und so neue Einsichten gewonnen werden. Es gilt, einmal nicht das Militärische im Militär, sondern das Frühneuzeitliche im Militär zu erkennen.

Die Lebenswelt „Militär“

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Wo finden sich bekannte, offene, aber auch eher verdeckte und versteckte Rituale? Wobei das Verdeckte sowohl bereits durch die zeitgenössische Codierung als auch durch die Filterung der Quellensprache verursacht sein kann. Welche Funktionen erfüllen diese speziellen Rituale? Was sagen sie über den Zusammenhalt, über die Gruppenkohäsion aus, was aber auch über Bewältigungsstrategien des militärischen Alltags? Und wer sind eigentlich die Initiatoren dieser Rituale? Sind sie obrigkeitlich evoziert oder zumindest gelenkt? Was ist an den Ritualen typisch militärisch, was sieht nur auf den ersten Blick so aus? Lässt sich etwas zum Ausmaß der Herrschaftsdurchdringung sagen bzw. über ritualisierte Formen der Aushandlung? Welche Formen der Körperinszenierung und der vestimentären Bekleidungsperformanz lassen sich indizieren und angemessen bewerten? In den folgenden drei Beiträgen sollen einige dieser Überlegungen weiter verfolgt werden. Carmen Winkel untersucht die Grenzüberschreitung hin zur Militärgesellschaft. Als zentrales Initiationsritual fungiert der Eintritt in den Dienst, der zäsurhaften Charakter in der Biographie der Betroffenen erfährt und gleichsam sein Gennepsches Äquivalent in den Übergangsritualen von Geburt und Niederkunft hat. Es wird auch deutlich, wie unterschiedlich intensiv die Grenzziehung und damit die jeweilige persönliche Leistung der Grenzüberschreitung wahrgenommen wurde. Bestrafungs- und Versöhnungsrituale spielen für Gemeinschaftsstiftung und Konfliktbewältigung in der Militärgesellschaft eine zentrale Rolle; die exkludierenden und inkludierenden Konsequenzen werden auf fest gefügte, symbolhafte Weise implementiert. Jutta Nowosadtko zeichnet in ihrem Beitrag nach, mit welchen Mitteln und Intentionen soziale Grenzen gezogen werden und wie die Überschreitung dieser Grenzen ermöglicht oder erschwert wird. Angela Strauß beleuchtet Abschiedsrituale, die als rites de passage den Übergang aus dem Leben bzw. dem Militärdienst markieren. Dabei traten die Unterschiede besonders deutlich zu Tage. Während die soziale (und physische) Grenze zum Tod weitaus stärker markiert und der Übergang performativ nachhaltig umgesetzt wurde, unterblieben häufig notwendige Sequenzen und Bestandteile des Entlassungsrituals. Offensichtlich wurde die soziale Ordnung bei dieser Form der Grenzüberschreitung von den Zeitgenossen als wenig systemgefährdend interpretiert. Ebenfalls zu den alltäglichen Vorgängen während der Dienstzeit zählen ritualhafte Gewalthandlungen als Markierungen von Übergangsphasen. Auch hier geht es um Grenzziehungen. Ein Beitrag gerade zu diesem Thema konnte jedoch im vorliegenden Band leider nicht abgedruckt werden, da sich Maren Lorenz außer Stande gesehen hat, ihren Vortrag in schriftliche Form zu gießen.

CARMEN WINKEL

Geburt und Eintritt Initiationsrituale beim Eintritt in das preußische Offizierkorps im 18. Jahrhundert

I. Der Eintritt in das Militär bedeutet heute – wie vor 300 Jahren auch – einen tiefen biografischen Einschnitt: Angefangen vom Verlassen des Elternhauses und des gewohnten sozialen Umfeldes über die Unter- bzw. Einordnung in eine klare Hierarchie bis hin zur Änderung des Haarschnittes und der Kleidung. Der Eintritt in das Militär wird aber nicht nur durch Vorgänge auf der Verwaltungsebene vollzogen, sondern auch durch vielfältige Rituale. Zu einem dieser Rituale gehört der Fahneneid, der seit den Landsknechtsheeren zum festen Bestandteil des militärischen Initiationsritus gehört. 1 Neben diesem offiziellen Ritual gehören aber auch Initiationsrituale auf der „informellen“, also der Kameradenebene in fast allen Ländern bis auf den heutigen Tag zum festen Repertoire. 2 Die Rituale verdeutlichen dem Initianden sowie seiner Umwelt den Wechsel von der zivilen in die militärische Existenz und vollziehen diesen. Trotz der prominenten Rolle, die Übergangs- oder Initiationsrituale im Militär spielen, fehlt es in der Geschichtswissenschaft dazu an einschlägigen kulturwissenschaftlich ausgerichteten Untersuchungen. Die Übergangsrituale sind aber nicht nur beim Übergang in eine andere soziale Gruppe – wie eben dem Militär – von Bedeutung, sondern prägen das Leben jedes Menschen. Der Übergang in eine andere Altersgruppe (z.B. Pubertät), Tätigkeit (Berufseinstieg) bzw. der Veränderung der sozialen Stellung (Heirat) wird durch Rituale angezeigt und vollzogen. Der französische Ethno1 2

Vgl. Stein, Hans-Peter: Symbol und Zeremoniell in deutschen Streitkräften vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Herford 1984 (= Entwicklung deutscher militärischer Tradition 3). Beispielhaft sei hier nur auf die Initiationsriten in der Nationalen Volksarmee (NVA) verwiesen: In vielen Einheiten wurden die neuen Rekruten von den älteren Kameraden einem Taufritual, der sogenannten „Dachsdusche“, unterzogen, vgl. dazu Müller, Christian Th.: Die „EK-Bewegung“ in den Kasernen der NVA. Eine Form „sekundärer Anpassung“ in „totalen Institutionen“. In: Ehlert, Hans/Rogg, Matthias (Hrsg.): Militär, Staat und Gesellschaft in der DDR. Forschungsfelder, Ergebnisse, Perspektiven. Berlin 2004 (= Militärgeschichte der DDR 8), S. 559-583. Für diesen Hinweis danke ich Denis Strohmeier.

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Carmen Winkel

loge Arnold van Gennep hat in seiner inzwischen klassischen Untersuchung zu den „rites des passage“ deutlich gemacht, dass diese Rituale in jeder Gesellschaft nach dem immer gleichen Muster verlaufen: Auf eine Trennungsfolgt die Schwellen- bzw. Übergangsphase und schließlich die Angliederungsphase. 3 Das dreiphasige Modell van Genneps soll im Folgenden als interpretatorische „Schablone“ dienen. Als Äquivalent zu der von van Gennep als Übergangsritual bezeichneten Geburt wird der Eintritt in die Militärgesellschaft betrachtet. Am Beispiel adliger Offiziere des 18. Jahrhunderts wird untersucht, mit welchen Initiationsritualen deren Eintritt in die preußische Armee vollzogen wurde. Die adligen Offiziere bieten sich als Untersuchungsgegenstand an, da aus ihrer Gruppe zahlreiche Memoiren überliefert sind. 4 Bevor das Modell van Genneps am Beispiel der Offiziere „durchexerziert“ wird, sollen aber die Rahmenbedingungen, besser: die besondere Verbindung zwischen Adels- und Militärstand im 18. Jahrhundert erläutert werden.

II. Der Adel verstand sich seit dem Mittelalter als „Wehrstand“ – ein Selbstverständnis, dass sich auch nach dem Ende der ritterlichen Lehnsfolge hielt bzw. angesichts der Herausbildung von stehenden Heeren vom Adel neu definierte wurde. 5 In allen großen europäischen Armeen kam es zur Entstehung adlig dominierter Offizierkorps. In Bayern waren im 18. Jahrhundert nahezu 50%

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Vgl. Gennep, Arnold van: Übergangsriten (Les rites de passage). Frankfurt a.M. 1986, S. 233-253, hier S. 246. Zum Mangel an Selbstzeugnissen in der Militärgeschichte der Frühen Neuzeit vgl. Kroener, Bernhard R.: Militär in der Gesellschaft. In: Kühne, Thomas/Ziemann, Benjamin (Hrsg.): Was ist Militärgeschichte? Paderborn 2000, S. 283-300, hier S. 295. An Selbstzeugnissen der preußischen Offiziere seien hier nur stellvertretend genannt: Hülsen, Carl Wilhelm von: Unter Friedrich dem Großen. Aus den Memoiren 1752-1773. Mit einer Einführung von P.C. Marten. Berlin 1890 (ND Osnabrück 1973); Prittwitz, Christian Wilhelm von: „Ich bin ein Preuße...“ Jugend und Kriegsleben eines preußischen Offiziers im Siebenjährigen Krieg. Mit einem Vorwort von Hans Bleckwenn. Paderborn 1989; Lossow, Ludwig Matthias von: Denkwürdigkeiten zur Charakteristik der preußischen Armee, unter dem großen König Friedrich dem Zweiten. Aus dem Nachlasse eines alten preußischen Offiziers. Glogau 1826; Barsewisch, Ernst Rudolf von: Von Rossbach bis Freiberg. Tagebuchblätter eines friderizianischen Fahnenjunkers und Offiziers, hrsg. von Olmes, Jürgen. Krefeld 1959. Vgl. dazu Asch, Ronald G.: Staatsbildung und adlige Führungsschichten in der Frühen Neuzeit. Auf dem Weg zur Auflösung der ständischen Identität des Adels? In: Geschichte und Gesellschaft 33 (2007), S. 375-397.

Geburt und Eintritt

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aller Offiziere adlig, in Sachsen 70% und in Baden 56%. 6 In Frankreich und der Habsburgermonarchie wurden im gesamten 18. Jahrhundert wohl annährend 90% der Offiziersstellen mit Adligen besetzt. 7 Als Paradebeispiel für ein sozial homogenes – weil adliges –Offizierkorps wird häufig Preußen angeführt. Schließlich waren hier nicht nur 90% aller Offiziere adlig, fast alle dieser Offiziere stammten auch aus dem heimischen Adel, der im Laufe des 18. Jahrhunderts immer seltener den Dienst unter „fremden Fahnen“ suchte. 8 Bürgerliche Offiziere wurden nur in Einzelfällen geduldet; insbesondere im Siebenjährigen Krieg, der in vielen brandenburgischen Adelsfamilien einen hohen Blutzoll gefordert hatte, 9 mussten Bürgerliche die gelichteten Reihen im Offizierkorps auffüllen, die dann allerdings nach Friedensschluss schnell wieder entlassen wurden. 10 Im Laufe des 18. Jahrhunderts kam es in allen adlig dominierten Offizierkorps zu einer zunehmenden Professionalisierung und damit auch zu einer verbesserten Ausbildung der militärischen Elite. 11 Nicht mehr der nach Ruhm und Ehre strebende „Einzelkämpfer“, sondern der professionelle Offizier war gefragt, ein Umstand, der den Übertritt in das Militär für die jungen Adligen zu einem tief greifenden Lebenseinschnitt werden ließ. Denn die zunehmende Professionalisierung bedeutete in erster Linie Anpassung und Unterordnung, was zu Konflikten innerhalb des Offizierkorps führte, das sich als eine Gruppe von sozial Gleichgestellten verstand. 12 Die dienstlichen Anforderungen an die Offiziere stiegen merklich an. Waren den Regelungen und Vorgaben hinsichtlich des Offizierkorps im preußischen Infanteriereglement von 1714 ganze neun Seiten gewidmet, so waren es im Reglement von 1726 6 7

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Zahlen nach Demel, Walter: Der europäische Adel. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. München 2005, S. 85. Zahlenangabe nach Kroener, Bernhard R.: Des Königs Rock. Das Offizierkorps in Frankreich, Österreich und Preußen im 18. Jahrhundert – Werkzeug sozialer Militarisierung oder Symbol gesellschaftlicher Integration? In: Baumgart, Peter/Kroener, Bernhard R./Stübig, Heinz (Hrsg.): Die Preussische Armee. Zwischen Ancien Regime und Staatsgründung. Paderborn 2009, S. 72-95, hier S. 82. Vgl. Heinrich, Gerd: Der Adel in Brandenburg-Preussen. In: Rössler, Helmuth (Hrsg.): Deutscher Adel 1555-1740. Darmstadt 1965, S. 308. Vgl. Melton, Edgar: The Prussian Junkers, 1600-1789. In: Scott, Hamish M. (Hrsg.): The European Nobilities in the Seventeenth and Eighteenth Centuries. Bd. 2: Northern, Central and Eastern Europe. London 1995, S. 71-110. Zu neueren Zahlen für den Anteil bürgerlicher Offiziere vgl. Hebbelmann, Georg: Das preußische „Offizierkorps“ im 18. Jahrhundert. Analyse der Sozialstruktur einer Funktionselite. Münster 1998 (= Uni Press, Hochschulschriften 113), S. 195-203. Vgl. Die Bildung des Offiziers in der Aufklärung. Ferdinand Friedrich von Nicolai und seine enzyklopädischen Sammlungen. Ausstellungskatalog, bearb. von Hohrath, Daniel. Stuttgart 1990. Vgl. dazu auch sehr pointiert Luh, Jürgen: Kriegskunst in Europa 1650-1800. Köln 2004, S. 208-216.

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Carmen Winkel

bereits 56 Seiten. 13 Wachdienste, Exerzierübungen und anstrengende Manöver prägten den Dienstalltag der Offiziere. Gleichwohl blieb der Dienst in der Armee für die brandenburgisch-preußischen Adligen fast alternativlos. Kirchliche Ämter standen im lutherischen Brandenburg kaum zur Verfügung, genauso wenig wie einträgliche Hofchargen. Die Armee war damit für den zahlreichen, wenig begüterten Adel ein ideales Versorgungsinstitut, das den nachgeborenen Söhnen zwar keine einträgliche, aber eine standesgemäße Beschäftigung bot. 14

a) Die Trennungsphase Die Entscheidung für den Dienst in der Armee war in den meisten Fällen keine Entscheidung der jungen Vasallen, sondern beruhte auf familiären und oft auch auf wirtschaftlichen Erwägungen. 15 Da Garnisonsort und Herkunftskreis nur selten beieinander lagen, stand für die Adelssöhne vor dem Eintritt in das Militär die räumliche Trennung von der Familie und der Heimat. Doch die „Nabelschnur“ zur Familie wurde nicht völlig gekappt, denn der Fortgang aus dem häuslichen Umfeld vollzog sich meist Schritt für Schritt, da viele Adlige in ein Regiment eintraten, in dem bereits ein Verwandter diente. 16 Familiäre Netzwerke spielten bei der Offiziersstellenbesetzung – nicht nur im preußischen Heer – im 18. Jahrhundert eine bedeutende Rolle. Der junge Christian von Prittwitz, dessen Tagebuch für den Prozess des Eintritts in die Militärgesellschaft wichtige Einsichten liefert, wurde bei der Ankunft in seinem Garnisonsort von einem Verwandten empfangen, der bereits länger im Regiment diente. 17 Der räumlichen Abspaltung ging die sym13

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Vgl. Bleckwenn, Hans: Einleitung. In: Reglement vor die Königl. Preußische Infanterie von 1726. Berlin 1726 (ND Osnabrück 1968), S. XLII. Das Reglement von 1714 wurde vier Jahre später aktualisiert. Dieses Reglement aus dem Jahre 1718 ist heute verschollen. Vgl. dazu auch Göse, Frank: Zwischen Rittergut und Garnison. Aspekte der Verknüpfung von Adelsforschung und Militärgeschichte am Beispiel Brandenburg-Preußens. In: Pröve, Ralf (Hrsg.): Klio in Uniform? Probleme und Perspektiven einer modernen Militärgeschichte der Frühen Neuzeit. Köln/Weimar/Wien 1997, S. 109-143. Vgl. zur Rolle der Familie bei der Entscheidung für die Offizierslaufbahn Winkel, Carmen: „Getreue wie goldt“ oder „malicieus wie der deuffel“? Der brandenburg-preußische Adel und der Dienst als Offizier. In: Beck, Friedrich/Göse, Frank (Hrsg.): Brandenburg und seine Landschaften. Zentrum und Region vom Spätmittelalter bis 1800. Berlin 2009, S. 199-219. Zum Zusammenhang zwischen den ökonomischen Verhältnissen einer Familie und der Bereitschaft in der Armee zu dienen vgl. Göse 1997 (wie Anm. 14), S. 109-143. Familiäre Netzwerke waren für die Wahl und auch für die spätere Karriere in der preußischen Armee von großer Bedeutung, erste Überlegungen dazu bei Winkel, Carmen: Offiziere des Königs? Adlige Netzwerke und Patronage im preußischen Offizierkorps 17131806. In: Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit 12 (2008), S. 81-89. Vgl. Prittwitz 1989 (wie Anm. 4), S. 17.

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bolische Trennung voran. Prittwitz beschreibt in seinen Erinnerungen, wie er zusammen mit seinem Bruder bereits ein Jahr vor Dienstantritt in die Regimentsrolle eingetragen worden war. 18 Dieser Akt war für die spätere Beförderung, die sich streng nach dem Dienstalter richtete, von enormer Bedeutung, 19 verweist aber noch auf etwas anderes: Mit der „Einschreibung“ der beiden von Prittwitz war der Übertritt in das Regiment besiegelt, ihre Dienstzeit begann offiziell mit diesem Zeitpunkt. Der in der Regimentsrolle vermerkte Name manifestierte den ersten Schritt des Übertritts in die militärische Welt. Dass dieser von den Brüdern als solcher verstanden wurde, zeigt ihr Verhalten nach der Einschreibung: Fortan bereiteten sie sich mit den alten Waffen ihres Vaters auf die bevorstehenden Exerzierübungen vor. 20 Auch der junge Friedrich August Ludwig von der Marwitz erhielt kurz vor seiner Einschreibung als Junker in das prestigeträchtige Kavallerieregiment Gens d’armes zum ersten Mal Reitunterricht. 21 Die Bedeutung der Einschreibung in die Listen des Regiments wird auch durch das preußische Kriegsrecht von 1760 unterstrichen: „Das Einschreiben in die Muster Rolle anreichend: so macht zwar solches keinen Soldaten, es giebt aber wenigstens eine grosse Vermuthung und Praesumption, daß, wer eingeschrieben ein Soldate sey.“ 22

b) Die Schwellen- oder Übergangsphase Der Eintritt der Adelssöhne in die preußische Armee erfolgte in der Regel als Junker. 23 Ausnahmen bildeten hier die Angehörigen hochadliger Geschlechter, zu denen Angehörige des Hauses Hohenzollern, die sogenannten Prinzen 18 19

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Vgl. ebd., S. 18. Vgl. Meier-Welcker, Hans (Hrsg.): Untersuchungen zur Geschichte des Offizierkorps. Anciennität und Beförderung nach Leistung. Stuttgart 1962 (= Beiträge zur Militär- und Kriegsgeschichte 4). Vgl. Prittwitz 1989 (wie Anm. 4), S. 19. Vgl. Marwitz, Friedrich August Ludwig von der: Ein märkischer Edelmann im Zeitalter der Befreiungskriege, hrsg. von Meusel, Friedrich. Berlin 1908, S. 50. Müller, Georg Friedrich: Königlich Preußisches Krieges-Recht, oder vollständiger Innbegriff aller derjenigen publicierten Gesetze, Observantzen und Gewohnheiten, welche bey der königl. Preuß. Armee zu beobachten sind, und ein jeder Officier und Soldate, auch sämmtliche Auditeurs, Räthe, Richters und Advocaten zu wissen nöthig haben. Berlin 1760 (ND Bad Honnef 1982), S. 163. Vgl. Marwitz, Ulrich: Das innere Gefüge der preußischen Armee. In: Ziechmann, Jürgen (Hrsg.): Panorama der Fridericianischen Zeit. Friedrich der Große und seine Epoche. Bremen 1985, S. 404-416, hier S. 406. Der Eintritt mit einer höheren Charge, z.B. als Gefreitencorporal oder als Fähnrich, war nicht die Regel, sondern Absolventen der Kadettenschulen oder Angehörigen des Pagenkorps vorbehalten. Vgl. dazu allgemein Crousaz, Adolf von: Geschichte des Königlich Preußischen Kadetten-Corps nach seiner Entstehung, seinem Entwicklungsgange und seinen Resultaten. Berlin 1857.

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von Geblüt, aber auch regierende Fürsten, die auf Grund von familiären Verbindungen oder politischen Erwägungen im preußischen Heer dienten, zählten. Für sie galten andere „Spielregeln“, d.h. ihre Karrieren verliefen in der Regel weitaus schneller als die ihrer Kameraden. So traten die meisten bereits mit hohen Rängen in die Armee ein.24 Doch der „normale“ Verlauf einer Offizierskarriere sah wie folgt aus: Nach dem Eintritt als Junker und den ersten Monaten der „Grundausbildung“ erfolgte die Beförderung zum Freikorporal, der den Dienst eines Unteroffiziers versah. Die Ernennung zum Fähnrich, die gleichbedeutend mit der Aufnahme in das Offizierkorps war, erfolgte dann – abhängig von den Vakanzen im Regiment – nach einigen Jahren. Der Übergang in die Armee wurde durch verschiedene Rituale vollzogen. Dazu gehörte u.a. der Fahneneid sowie das Anlegen der Uniform,25 die den Soldaten sichtbar von seinem zivilen Umfeld unterschied. Der Fahneneid26 wird in den Lebenserinnerungen nur selten geschildert, obgleich ihm doch ein 24

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Vgl. dazu mit konkreten Zahlen Petter, Wolfgang: Hans Karl von Winterfeldt als General der friderizianischen Armee. In: Kunisch, Johannes (Hrsg.): Persönlichkeiten im Umkreis Friedrichs des Großen. Köln 1988 (= Neue Forschungen zur Brandenburgisch-Preußischen Geschichte 8), S. 59-89, hier S. 71 sowie: Hohrath, Daniel: Die Bildung des Officiers im 18. Jahrhundert. In: ders. (Hrsg.): Die Bildung des Offiziers in der Aufklärung. Ferdinand Friedrich von Nicolai (1730-1814) und seine enzyklopädischen Sammlungen. Katalog zur Ausstellung der Württembergischen Landesbibliothek. Stuttgart 1990, S. 28-63, hier S. 36. Zum Initiationscharakter der Soldatenmontur vgl. Füssel, Marian: Der Wert der Dinge. Materielle Kultur in soldatischen Selbstzeugnissen des Siebenjährigen Krieges. In: Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit 13 (2009), S. 104-122, hier S. 110. Uniformen gab es in der Frühen Neuzeit für die vielfältigsten Berufsgruppen; sie waren allgemein ein Medium, das sozialen Rang symbolisierte. Vgl. dazu Hackspiel-Mikosch, Elisabeth/Haas, Stefan (Hrsg.): Die zivile Uniform als symbolische Kommunikation. Civilian Uniform as Symbolic Communication. Stuttgart 2006 (= Studien zur Geschichte des Alltags 24); Haas, Stefan: Im Kleid der Macht. Symbolische Kommunikation und Herrschaft in der preußischen Verwaltung des 19. Jahrhunderts. In: Pröve, Ralf/Winnige, Norbert (Hrsg.): Wissen ist Macht. Herrschaft und Kommunikation in Brandenburg-Preußen 1600-1850. Berlin 2001 (= Schriftenreihe des Forschungsinstituts für die Geschichte Preußens e.V. 2), S. 137157; Füssel, Marian/Weller, Thomas: Einleitung. In: dies. (Hrsg.): Ordnung und Distinktion. Praktiken sozialer Repräsentation in der ständischen Gesellschaft. Münster 2005 (= Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 8), S. 13. Die Uniformkunde stellt in der deutschen Militärgeschichte weiterhin ein großes Desiderat dar und wurde bisher vornehmlich aus heereskundlicher Sicht untersucht, vgl. dazu Bleckwenn, Hans: Urkunden und Kommentare zur Entwicklung der altpreußischen Uniform als Erscheinungsbild und gesellschaftliche Manifestation. Osnabrück 1970 (= Das altpreußische Heer 1). Die Unteroffiziersuniform unterschied sich durch folgende Merkmale von der eines einfachen Soldaten: silberne oder goldene Borten des Ärmelaufschlages, schwarzweißmelierte Wolle des Quasts am Pallaschriemen, andersfarbige Spitze des Federbusches. Vgl. allgemein Lange, Sven: Der Fahneneid. Geschichte der Schwurverpflichtung im deutschen Militär. Bremen 2002 (= Schriftenreihe des Wissenschaftlichen Forums für Internationale Sicherheit e.V. WIFIS 19).

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rechtsverbindlicher Charakter zukam, schließlich wurden durch ihn die Soldaten der Militärgerichtsbarkeit unterstellt. Der Eid als performativer Akt fand öffentlich statt bzw. wurde im Beisein anderer Militärangehöriger abgelegt. Wie der zivile Untertaneneid 27 sollte der Fahneneid auf die Kriegsartikel den Schwörenden zu Gehorsam verpflichten und symbolisierte zudem die Aufnahme des Initianden in den Kreis der Soldaten – wobei dies auch im übertragenen Sinne bei der Eidesleistung symbolisiert wurde. Denn der Eid fand – zumindest nach dem Reglement – im Kreise des versammelten Regiments statt. Die Fahne, 28 die im 18. Jahrhundert als Feldzeichen durchaus noch von praktischer Bedeutung war, symbolisierte dabei das Regiment sowie dessen Geschichte. In der Realität ging die Eidesleistung wohl meistens etwas weniger feierlich vonstatten, vielleicht ein Grund, warum sie in den Lebenserinnerungen selten erwähnt wird. Der junge von Doering berichtet, dass ihm von einem Unteroffizier die Kriegsartikel vorgelesen wurden und er daraufhin den Eid auf den gezogenen Säbel desselben tat. 29 Doch machte der Fahneneid allein noch keinen Soldaten aus den Junkern. So heißt es im Kommentar zum preußischen Kriegsrecht von 1760: „Macht nicht auch der Eyd einen Soldaten? Respond. Nein [...] Allein der Eyd ist nur ein accessorium, welches sich nach der Handlung, der es beygefügt wird, richtet. Wann dannenhero die Handlung vitieus ist, so verbindet auch kein Eyd.“ 30 Gewaltsam gepresste Soldaten, die zum Eid gezwungen wurden, waren damit von diesem entbunden. Gleichzeitig wird deutlich, dass der Fahneneid nur ein Ritual von vielen war, das den Übergang vom Zivilen zum Militärischen begleitete. Bedeutender als die Eidesleistung scheint die Einkleidung gewesen zu sein. Die ersten Monate versahen die Junker zwar den Dienst als Gemeine, trugen aber schon die Uniform eines Unteroffiziers. Mit dem Anlegen der Uniform wurde der Körper zum Träger eines Symbols und die Statusveränderung durch die neue Kleidung sichtbar vollzogen. 31 Dazu gehörte auch die 27

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Vgl. Holenstein, André: Seelenheil und Untertanenpflicht. Zur gesellschaftlichen Funktion und theoretischen Begründung des Eides in der ständischen Gesellschaft. In: Blickle, Peter (Hrsg.): Der Fluch und der Eid. Die metaphysische Begründung gesellschaftlichen Zusammenlebens und politischer Ordnung in der ständischen Gesellschaft. Berlin 1993 (= Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 15), S. 11-65, hier S. 19. Zur Bedeutung der Fahnen allgemein vgl. Hohrath, Daniel (Hrsg.): Farben der Geschichte. Fahnen und Flaggen. Berlin 2007 (= Aus den Sammlungen des Deutschen Historischen Museums). Vgl. Doering, Wilhelm von: Erinnerungen aus meinem Leben. 1791-1810. Osnabrück 1975 (= Altpreußischer Kommiss 23), S. 25. Müller 1760 (wie Anm. 22), S. 167. Vgl. Haas, Stefan: Der Körper als Medium symbolischer und performativer Praktiken. Eheschließungen als Übergangsrituale im 16. und 17. Jahrhundert. In: Burkhardt, Johannes/Werkstetter, Christine (Hrsg.): Kommunikation und Medien in der Frühen Neuzeit. München 2005, S. 499-517, hier S. 503.

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Änderung der Haartracht: Der Soldatenzopf, 32 mit Draht und Hammelfett in Form gebracht, ist ebenso als Teil eines Initiationsritus zu deuten. Die Erinnerungen des Offiziers von Doering sind im Hinblick auf die Bedeutung der Uniform besonders aufschlussreich. Doering trat 1805 als Junker in ein Füsilierregiment ein, das ein enger Freund der Familie kommandierte. Wilhelm von Doering schildert ausführlich die Beschaffenheit der Kleidung und die Besonderheit der Uniformierung der adligen Junker in seiner Einheit. Diese bestand darin, dass sie von Beginn an Offiziersuniform und nicht wie sonst üblich die Unteroffiziersuniform tragen durften. Wilhelm von Doering berichtet, wie er als 14-jähriger Junker stolz die Uniform eines Offiziers trug und dafür von den Kameraden anderer Regimenter beneidet wurde. 33 Die Uniform der Junker, die sich nur in der Verarbeitung des Säbels von der eines Offiziers unterschied, bedeutete, dass ihnen von den Schildwachen anderer Regimenter die Ehrenbezeugungen entgegengebracht wurden, die sonst nur den Offizieren zustand. Der Übergang vom gemeinen Soldaten zum Unteroffizier nach einigen Monaten Dienstzeit vollzog sich durch den Dienst selbst. So berichtet Hülsen, dass er, nachdem er die wichtigsten Exerziergriffe erlernt hatte, mit auf Wache ziehen musste. In seinen Memoiren heißt es dazu: „Ich mußte eine halbe Stunde am Baume, als Gefreiter, stehen, eine halbe Stunde vor dem Gewehr, eine halbe Stunde Nachts, auf dem Wall bei der Haberbergschen Kirche, denn er [der Offizier vom Dienst, C.W.] wollte wissen, ob ich auch furchtsam wäre.“ 34 Die Bedeutung der ersten Wachdienste wird an verschiedenen symbolischen Handlungen sichtbar. So wurde einem von Dalwigk auf seiner ersten Wache von den gemeinen Soldaten eine mit einem seidenen Band umwickelte Pritsche – die zum Inventar der Hauptwache gehörte – übergeben, die er den Soldaten „abkaufen“ musste. Allgemein mussten in vielen Regimentern die Junker auf der ersten Wache die Mannschaften mit Wein und Bier bewirten, um damit symbolisch in ihren Kreis aufgenommen zu werden. 35 Die formelle Ernennung zum Unteroffizier erfolgte dann 32

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Die Haartracht der Offiziere war nicht verbindlich geregelt, nur der Zopf war vorgeschrieben. Die Anzahl der Seitenlocken (Boucles) wurde von jedem Regiment selbst geregelt und damit auch Ausdruck einer spezifischen Regimentskultur. Vgl. Kloosterhuis, Jürgen: Le vrai portrait d’un officier prussien. Militärische Kostümkunde als Historische Hilfswissenschaft bei der Interpretation preußischer Offizierporträts des 18. Jahrhunderts. In: Wirtgen, Rolf (Hrsg.): Das preussische Offizierkorps 1701-1806. Uniformierung – Bewaffnung – Ausrüstung. Katalog zur Sonderausstellung der Wehrtechnischen Studiensammlung Koblenz. Koblenz 2004, S. 53-67, hier S. 57. Vgl. Doering 1975 (wie Anm. 29), S. 14-17. Hülsen 1890 (wie Anm. 4), S. 19. Vgl. Scharfenort, Louis von: Kulturbilder aus der Vergangenheit des altpreußischen Heeres. Berlin 1914, S. 67.

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schlicht durch den Obristen; die Wachdienste sowie Dienstgeschäfte wie das Visitieren etc. „machte“ aus dem gemeinen Soldaten den Unteroffizier. Die Einführung in die Dienstgeschäfte übernahmen alte und erfahrene Unteroffiziere. Hülsen wohnte überdies auch bei seinem militärischen „Mentor“. 36 Sollten die Offiziere möglichst wenig Umgang mit Bürgerlichen bzw. mit den unteren Chargen haben, 37 wohnten die zukünftigen Offiziere zusammen mit den Unteroffizieren oder teilweise auch mit den Gemeinen. Der Schweizer Ulrich Bräker, der wohl zu Recht als der bekannteste preußische Deserteur gelten kann, berichtete, dass er mit einem Kameraden „Cran“ und anderen „Gemeinen“ eine Stube bewohnte. Dieser Cran war der junge Adlige Christian Heinrich von Krahn, der seit fünf Jahren als Freikorporal diente. 38 Die adlige Herkunft, die für die Aufnahme und das Selbstverständnis des Korps so entscheidend war, spielte in der Phase des Übergangs offenbar keine dominante Rolle. Dieser Phase kam nach Victor Turner eine ganz besondere Bedeutung zu: 39 Da sie nahezu unstrukturiert war, bestand in dieser Zwischenzeit ein eigentliches Paradoxon, so dass der Initiand nicht mehr der alten, aber auch noch nicht der neuen Gruppe angehörte. 40 Der Aspekt dieses „nicht mehr“ und „noch nicht“ wurde durch eigenständige Rituale und Symbole zum Ausdruck gebracht. 41 So gehörten die Freikorporale 42 zur Gruppe der Mittel-Unteroffiziere und hatten die ehrenvolle Aufgabe, bei Revuen und auf dem Schlachtfeld die Fahne zu tragen. 43 36 37

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Vgl. Hülsen 1890 (wie Anm. 4), S. 18. So hieß es in der Instruktion Friedrichs II. für die Kommandeure der Infanterieregimenter vom 11. Mai 1763: „Den Officieren muß nicht gestattet werden mit gemeinen Leuten und Bürgern umzugehen, sondern sie müssen ihren Umgang immer mit höheren Officieren und ihren Cameraden, so sich gut conduisiren und Ambition besitzen, haben.“ (zit. nach: Meier-Welcker, Hans [Hrsg.]: Offiziere im Bild von Dokumenten aus drei Jahrhunderten. Stuttgart 1964, S. 150). Vgl. Eckert, Helmut: Archivalischer Beitrag zu Ulrich Bräkers Erzählung seiner Soldatenzeit. In: Ulrich Bräker: Das Leben und die Abenteuer des Armen Mannes im Tockenburg. Osnabrück 1980 (= Altpreußischer Kommiss 25), S. 1-39, hier S. 19. Victor Turner baut auf van Genneps Modell der dreiphasigen Übergangsriten auf und betont dabei die zweite Phase besonders, vgl. Turner, Victor: Betwixt and Between. The Liminal Period in Rites de Passage. In: ders.: The Forest of Symbols. Aspects of Ndembu Ritual. New York 1967, S. 93-112. Vgl. Schomburg-Scherff, Sylvia M.: Nachwort. In: van Gennep 1986 (wie Anm. 3), S. 233253, hier S. 246. Bei den Freimaurern wird der Initiand während des Aufnahmerituals als Toter behandelt, dessen Auferstehung dann das Ritual abschließt und ihn in den Kreis seiner „Brüder“ integriert. Vgl. dazu Hasselmann, Kristiane: Performative Entwürfe des Selbst. Die Rituale der Freimaurer-Bruderschaft. In: Paragrana 12 (2003), S. 297-307. Diese wurden auch als Gefreiten-Corporale bzw. Fahnenjunker (Kavallerie) bezeichnet. Vgl. Schmidt, Oliver H.: Zur Sozialgeschichte des Unteroffiziers in der altpreußischen Armee 1726-1806. Vorüberlegungen zu einer genealogisch-prosopographischen Analyse. In: Herold Jahrbuch NF 3 (1998), S. 109-158, hier S. 110.

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Darüber hinaus durften sie am Freitisch des Obristen teilnehmen, was den übrigen Unteroffizieren verwehrt blieb und ein alleiniges Vorrecht der Offiziere darstellte – allerdings durfte man erst ab dem Rang eines Leutnants auch zum „Braten“ bleiben. 44 Das gemeinsame Mahl mit dem Kompaniechef bzw. Obristen hatte neben handfesten ökonomischen Gründen – die Junker waren äußerst schlecht besoldet und daher häufig auf den Freitisch angewiesen – auch symbolische Funktion. Das gemeinsame Essen symbolisierte bereits seit dem Mittelalter Zusammengehörigkeit, 45 die Auffassung vom Offizierkorps als (Tisch-)Gemeinschaft von sozial Gleichen fand darin seinen sichtbaren Ausdruck.

c) Angliederungsphase Vom „Mittel-Unteroffizier“ zum Fähnrich und damit zur untersten Offizierscharge war es oft ein langer Weg. In Friedenszeiten konnten mehrere Jahre ins Land gehen, bis man endlich zum Offizier avancierte. 46 Christian Wilhelm von Prittwitz erhielt nach drei Jahren – allerdings mitten im Krieg – die Beförderung zum Offizier. Er beschreibt die ganz praktische Statusveränderung, die mit der Ernennung verbunden war: „Statt der unbequemen Stiefeletten erhielt ich Stiefel, statt des Strohlagers ein gutes Bett, statt des kleinen und dem Regen nicht ganz widerstehenden Zeltes ein rechtes, doppeltes […]. Ehedem mußte ich zu Fuße gehen, nun aber konnte ich reiten. […] Statt der schweren Fahne oder Kurzgewehr bekam ich einen leichten Sponton […] und einen Burschen aus der Kompanie […].“ 47 Prittwitz spricht hier Vorrechte und Symbole an, die einen Offizier deutlich von den unteren Chargen unterschied und somit die Angliederung verdeutlichte. Er übernahm – geschuldet der Ausnahmesituation durch den Krieg 48 – die Uniform seines gefallenen Vorgängers und gehörte damit nun sichtbar dem Offizierkorps an. Neben dem bereits erwähnten Sponton zählten dazu: Degen, Portepee, Ringkragen, Stock und Schärpe. 49 Insbesondere Waffen waren 44 45

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47 48 49

Vgl. Ortenburg, Georg: Das altpreußische Offizierkorps. In: Wirtgen 2004 (wie Anm. 32), S. 9-25, hier S. 19. Vgl. dazu Althoff, Gerd: Rituelle Verhaltensmuster an der Tafel. Vom frühmittelalterlichen Gelage zum höfischen Fest. In: Ottomeyer, Hans/Völkl, Michaela (Hrsg.): Die öffentliche Tafel. Tafelzeremoniell in Europa 1300-1900. Berlin 2002, S. 32-37, hier S. 32. Während man in der Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. rund 17 Jahre benötigte, um die einträgliche Charge eines Kapitäns bzw. Rittmeisters zu erreichen, benötigte man unter Friedrich II. rund 20 Jahre bis zur Erlangung dieses Ranges. Dazu mit weiterem Zahlenmaterial: Hebbelmann 1998 (wie Anm. 10), S. 242. Prittwitz 1989 (wie Anm. 4), S. 51. Zur materiellen Bedeutung der Uniform im Krieg vgl. Füssel 2009 (wie Anm. 25), S. 112. Vgl. ausführlich Müller, Heinrich: Waffen- und Rüstungsteile der Offiziere als Adelssymbole, Ehren- und Dienstzeichen. In: Wirtgen 2004 (wie Anm. 32), S. 25-39.

Geburt und Eintritt

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in der Frühen Neuzeit wichtige Symbolträger, die u.a. als soziale Symbole fungierten. 50 So waren Degen und Stock klare Attribute des Adels, die dieser vom Herrscher übernommen hatte. Der Stock, der auch vom „zivilen“ Adel bei Hofe getragen wurde, entwickelte sich im Militär zum kunstreich verzierten Kommandostab, der sich auch auf vielen Offiziersporträts wiederfindet. 51 Der Degen wurde zum Symbol für die Offiziere schlechthin, in vielen Armeen bis in unsere Zeit hinein. Der performative Akt der Neueinkleidung, der dem Initianden selbst seine Statusveränderung innerhalb der militärischen Welt vor Augen führte, wurde flankiert von einem weiteren symbolischen Akt, der auf der Verwaltungsebene stattfand: die Ernennung durch den König persönlich, die ihre schriftliche Bestätigung im Patent fand. 52 Mit der Ausstellung des Patents war der Übergang vom Soldaten zum Offizier abgeschlossen. Die doppelte Anzeige der Statusveränderung durch Uniform und Patent verdeutlicht, dass man der Schrift allein kein Vertrauen schenkte, 53 ja die Statusveränderung einer mehrfachen symbolischen Absicherung bedurfte.

III. Der Eintritt in das Offizierkorps wurde von verschiedenen Ritualen begleitet. Doch stellen der hier vorgestellte Fahneneid und das Anlegen der Uniform keine speziellen Offiziersrituale dar, sondern wurden auch von einfachen Soldaten vollzogen und begleiteten so den Übergang in die Militärgesellschaft. War die adlige Geburt Voraussetzung für den Eintritt in das Offizierkorps, so trat sie während der ersten Monate der Ausbildung scheinbar völlig in den Hintergrund. Die Aufnahme in das Offizierkorps erfolgte erst – Ausnahmen bildeten hier die Angehörigen des Hochadels –, nachdem die Offiziersanwärter den Dienst als „gemeine“ Soldaten geleistet hatten. Die hier geschilderten Rituale, seien sie nun formeller Natur wie der Fahneneid oder eher informeller wie das Ableisten der ersten Wachdienste, sollten den zukünftigen Offizier generell in die Militärgesellschaft einführen. Darüber hinaus wurde mit dem Anlegen der Offiziersuniform und den dazugehörigen 50

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53

Vgl. ausführlich Evert, Urte: „Gute Sach stärkt den Mann.“ Sachkundliche Überlegungen zu symbolischen Funktionen der frühneuzeitlichen Militärwaffen. In: Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit 13 (2009), S. 50-75, hier S. 61-65. Vgl. Evert 2009 (wie Anm. 50), S. 64 und Müller 2004 (wie Anm. 49), S. 25. Die offizielle Ernennung fand durch den König statt, das Vorschlagsrecht für die Stellenbesetzung im Offizierkorps hatte allerdings der kommandierende Obrist. Die Ernennung via Patent fand nur für die Offiziere statt. Vgl. Stollberg-Rilinger, Barbara: Zeremoniell, Ritual, Symbol. Neue Forschungen zur symbolischen Kommunikation in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. In: Zeitschrift für Historische Forschung 27 (2000), S. 389-405, hier S. 516.

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Carmen Winkel

Symbolen dann aber ein deutlicher Unterschied zu den gemeinen Soldaten gemacht und der junge Adlige sichtbar aus ihrer Mitte herausgehoben. Die vorgestellten Rituale und ihre Bedeutung für die Militärgesellschaft allgemein sowie für das Offizierkorps im Besonderen konnten hier nur skizziert werden. Die methodische Schablone van Genneps, hat für das Beispiel des preußischen Offizierkorps mehr Fragen als Antworten aufgeworfen. Waren die Armeen und insbesondere das Offizierkorps wirklich so stark ständisch geprägt? Gab es einen über die militärischen Ränge und somit auch über Standesgrenzen hinausreichenden Korpsgeist? Unterscheiden sich die Initiationsrituale im Militär wesentlich von anderen „zivilen“ Ritualen? Es bedarfgerade für die binnenmilitärischen Verhältnisse der Armeen des 18. Jahrhunderts weiterer Detailstudien, die sich z.B. den Fragen der Kameradschaft und des Korpsgeistes widmen.

JUTTA NOWOSADTKO

Exklusionen, Inklusionen Militärrechtliche Passagerituale

Grundsätzlich können militärrechtliche Passagerituale aus zwei unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden: Einerseits handelte es sich um eine Sonderform frühneuzeitlicher Rechts- und Strafrituale, die aber gleichwohl in einen allgemeinen rechtlichen Kontext eingebettet blieben. Es kann also im Einzelnen festgestellt werden, ob und inwieweit die jeweiligen militärrechtlichen Rituale den auch in der übrigen Gesellschaft allgemein verbreiteten Rechts- und Strafritualen entsprachen oder ob es sich gar um originäre Handlungsmuster und Eigenentwicklungen des militärischen Sozialbereichs handelte. Der zweite Ansatz interessiert sich andererseits dafür, wie sich das frühneuzeitliche Militär in seinen Ritualen als soziale Gruppe über sich selbst verständigte und sich als solche nach außen darstellte. Der erste Ansatz wird an dieser Stelle ausgeklammert, da dies zunächst in eine umfängliche Darstellung der frühneuzeitlichen Militärjustiz münden würde. Grundsätzlich steht zur Deutung der militärrechtlichen Rituale dasselbe Spektrum an theoretischen Zugängen zur Verfügung, das bereits an den in der Vormoderne insgesamt üblichen Strafritualen (insbesondere an Hinrichtungen) erprobt und weiterentwickelt wurde. 1 Diese unterschiedlichen RitualLesarten könnten selbstverständlich auch an den öffentlichen Bestrafungen von Deserteuren oder anderen militärischen Straftätern auf ihre Tragfähigkeit geprüft werden. Die Konzentration auf Übergangsrituale stellt insofern eine 1

Öffentliche Hinrichtungen sind in den unterschiedlichsten rituellen Funktionen und Kontexten gedeutet worden. In der Literatur wurden sie bereits als Herrschafts-, Macht-, Abschreckungs-, Reinigungs- oder Vergeltungsritual, als religiöses, als magisch-heidnisches oder gar als triebhaftes „Bauchritual“ im Gegensatz zu den rationalen „Kopfritualen“ oder eben auch als Übergangsritual beschrieben. Wahrscheinlich gibt es keine Ritualtheorie, die nicht auf diesen Kontext angewandt wurde. Vgl. Nowosadtko, Jutta: Hinrichtungsrituale. Funktion und Logik öffentlicher Exekutionen in der Frühen Neuzeit. In: Schmitt, Sigrid/ Matheus, Michael (Hrsg.): Kriminalität und Gesellschaft in Spätmittelalter und Neuzeit. Stuttgart 2005 (= Mainzer Vorträge 8), S. 71-94, hier S. 74-77. Der aktuellste Ansatz untersucht Hinrichtungsrituale in der Kontinuität zu den vorhergehenden Strafverfahren im Hinblick auf die Herstellung von Legitimität und Verbindlichkeit der Todesurteile. Vgl. Krischer, André: Hinrichtungen als Fortsetzung des vormodernen Strafverfahrens. Die Rituale obrigkeitlichen Tötens am Beispiel englischer Hochverräter in der Frühen Neuzeit. In: Traverse. Zeitschrift für Geschichte – Revue d’histoire 15 (2008), S. 62-74.

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klare Einschränkung dar. Im Folgenden soll vor allem betrachtet werden, wie militärrechtliche Rituale dazu dienten, Gruppensolidaritäten zu aktivieren, konformes Verhalten sicherzustellen und Sozialstrukturen zu stabilisieren. 2 Durch welche symbolischen Schranken und Grenzziehungen wurde die soziale Gruppe, der soziale Bezirk „Militär“ gesichert? Welche Status- und Rollenzuschreibungen wurden durch transitorische Zeremonien aufgehoben, um dadurch wieder die gewohnte Ordnung zu bestätigen und der Struktur zu dienen? 3 Zu den auffälligsten und bekanntesten Strafritualen im militärischen Kontext gehört ganz sicher das Gassen- bzw. Spießrutenlaufen, das seit dem 18. Jahrhundert ins Zentrum der aufgeklärten Kritik am zeitgenössischen Militärsystem rückte und seit dem 19. Jahrhundert zum zentralen Symbol der barbarischen Disziplinarmethoden des Ancien Régime aufstieg. Die zeitgenössischen Juristen und Handbücher beschrieben den Gassenlauf stereotyp und auch größtenteils wortgleich als „absonderliche“ peinliche Leibesstrafe bei Soldaten: „Das Gassen, oder Spießruthenlauffen und geschiehet solches durch ein, zwey oder mehr hundert Soldaten, drey, vier, fünf bis zwölf und mehrmahl, nachdem 2

3

Vgl. Douglas, Mary: Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Sozialanthropologische Studien in Industriegesellschaft und Stammeskultur. Frankfurt a.M. 1993, S. 74f., 80-83. Der Ansatz von Douglas kann nicht mehr voraussetzungslos und in Gänze überzeugen. Vor allem die Annahme der Existenz gemeinsamer, gesamtgesellschaftlicher Welt- und Wirklichkeitsmuster als Grundvoraussetzung für das Funktionieren ritueller Kommunikation wurde in der Folgezeit heftig kritisiert. Zur Kritik des Ansatzes vgl. ganz ausführlich Wiedenmann, Rainer E.: Ritual und Sinntransformation. Ein Beitrag zur Semiotik soziokultureller Interpenetrationsprozesse. Berlin 1991 (= Soziologische Schriften 57), S. 105-163. Die erwähnten Kernfunktionen der Rituale halten jedoch den Einwänden stand, sofern eine personale Adressierung und damit die grundsätzliche Lesbarkeit der Rituale akzeptiert und nicht ganz radikal von ihrer semantischen Leere ausgegangen wird. Vgl. Jäger, Ludwig: Zur medialen Logik der Rituale. Bemerkungen zu einigen Aspekten des Verhältnisses von Sprache und Ritual. In: Wulf, Christoph/Zirfas, Jörg (Hrsg.): Die Kultur des Rituals. Inszenierungen, Praktiken, Symbole. München 2004, S. 303-317, hier S. 312. Vgl. Gennep, Arnold van: Übergangsriten (Les rites de passage). Frankfurt a.M./New York 1999, S. 13-16 und S. 179. Während van Gennep dem Zwischenzustand der rituellen Passage noch keine hervorragende Bedeutung beimaß, stellte Victor Turner ihn ins Zentrum seines Communitas-Konzeptes und wertete ihn damit zum eigenständigen Ritualabschnitt auf. Als Phase zwischen zwei klar definierten Situationen weise dieser Abschnitt Merkmale der Unstrukturiertheit, Ambiguität und des Paradoxen auf. Diesen Zustand der Antistruktur bezeichnet Turner mit „communitas“. Soziale Strukturkomponenten wie Status- und Rollenzuschreibungen, durch deren Existenz alle Gesellschaften gekennzeichnet seien, werden nach seiner Vorstellung im Übergangsritual nicht grundsätzlich in Frage gestellt, sondern lediglich kurzfristig aufgehoben. Die rituell verankerte Antistruktur bestätige dadurch die gewohnte Ordnung und diene letztlich der Struktur. Turner, Victor: The Ritual Process. Structure and Anti-Structure. New York 1995, S. 94-97, 125-132.

Militärrechtliche Passagerituale

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das Verbrechen groß oder geringe ist. Dafern aber einer zwey bis drey Tage nach einander lauffen muß, geschiehet es nicht so vielmahl, es wird auch wohl ein Tag ausgesetzet, da denn der Delinquent, weil die Wunden schon in etwas verharschet, noch grössere Schmertzen empfindet. Wer gut lauffen kan, komt desto leichter von der Straffe. Allein, wenn es die Grösse des Verbrechens erfordert, oder es sonst bey einigen Truppen gebräuchlich ist, muß ein Unter=Officier mit verkehrten kurtzen Gewehr vor dem Delinquenten Schritt vor Schritt hergehen, daß er nach Belieben nicht lauffen kan und die Soldaten desto besser zuhauen können. Die Dragoner müssen gleichfalß, wie die Mußquetier, durch die Spieß=Ruthen lauffen, bey den Reutern aber werden an stat der Spießruthen die Steigbügel=Riemen genommen.“ 4

Über den Entstehungszusammenhang dieser Strafe ist wenig bekannt. Letztlich handelt es sich um eine herrschaftlich überformte und regulierte Bestrafung „zur gemeinsamen Hand“, die sich bereits im Umfeld der spätmittelalterlichen Kameradengerichte, den sogenannten Spießgerichten, nachweisen lässt. 5 Von den militärischen Obrigkeiten des 18. Jahrhunderts wurde das Gassenlaufen geschätzt, weil diese Strafform beliebig dosierbar und deshalb vielfach anwendbar war und zudem auf den konkreten Einzelfall abgestimmt werden konnte. 6 Aber auch Todesstrafen – so das Arquebusieren oder Erschießen, welches als „gelindeste Lebensstrafe“ eingestuft wurde – wurden bei Soldaten und Offizieren zur gemeinsamen Hand vollzogen. 7 Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang, dass die Ungewissheit der Täterschaft, deren Sicherstellung für moderne Standgerichte zentral ist, in der Frühen Neuzeit noch keine Rolle spielte. Damals führten sämtliche Mitglieder der Exekutionskommandos scharf geladene Gewehre mit sich. Allerdings wurde bei der Auswahl auf Standesgleichheit von Schützen und Delinquenten geachtet, so dass die militärische Hierarchie auch im Falle von Hinrichtungen gewahrt blieb. Rangniedere durften weder über Ranghöhere richten noch an deren Exekution beteiligt sein. Dies war eine grundsätzliche Grenze, die unter keinen Umständen überschritten werden durfte. Einen früheren Kameraden zu erschießen, wurde in der Frühen Neuzeit offensichtlich noch nicht als 4

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Fleming, Hanns Friedrich von: Der Vollkommene Teutsche Soldat. Leipzig 1726 (ND Osnabrück 1967), S. 515. Als ein weiteres Beispiel unter vielen sei ferner genannt: Knorr, Carl Gottlieb: Gründliche Anleitung zum Krieges-Proceß. Halle (Saale) 1738, S. 357f., § 4. Vgl. Möller, Hans-Michael: Das Regiment der Landsknechte. Untersuchungen zu Verfassung, Recht und Selbstverständnis in deutschen Söldnerheeren des 16. Jahrhunderts. Wiesbaden 1976 (= Frankfurter Historische Abhandlungen 12), S. 247, 254-259. Vgl. Sikora, Michael: Disziplin und Desertion. Strukturprobleme militärischer Organisation im 18. Jahrhundert. Berlin 1996, S. 135. Vgl. Zincken, Carl Friedrich Wilhelm: Kurze und deutliche Einleitung zur Kriegs-RechtsGelehrsamkeit. Nebst einer Vorrede von den Pflichten eines Auditeurs. Magdeburg 1774, S. 57f.

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Problem betrachtet; das Gegenteil war vielmehr der Fall. Das Offiziersprivileg äußerte sich beim Erschießen darin, dass die Verurteilten auf einem Stuhl Platz nehmen und die Mitglieder ihres Exekutionskommandos selbst benennen konnten. 8 Da Offiziere, soweit bislang bekannt ist, jedoch nur in außerordentlich seltenen Fällen mit Leibesstrafen belegt wurden, 9 kam solchen Bestimmungen in der Praxis wohl eher ein symbolischer Charakter zu, der jedoch einiges über den zeitgenössischen Corpsgeist verrät. Bei Todesstrafen, die durch einen Scharfrichter ausgeführt wurden, stand immerhin das komplette Bataillon des Delinquenten im akkuraten, fest geschlossenen Kreis um die Richtstätte aufgestellt, ohne allerdings selbst Hand anzulegen. 10 Wie bei anderen öffentlichen Exekutionen auch war darüber hinaus eine größere, zivile Zuschauermenge ausdrücklich erwünscht. Zeitgenössische Theologen hoben dabei darauf ab, dass die bäuerlichen und bürgerlichen Zeugen solche Ereignisse durchaus schadenfroh im Sinne einer ausgleichenden Gerechtigkeit umdeuteten. 11 Ob dergleichen tatsächlich häufiger zu beobachten war, lässt sich nur schwer einschätzen, da solche Schilderungen der Kritik an einer Militärjustiz dienten, die drakonisch auch kleinste Disziplinarverstöße ahndete, jedoch Übergriffe gegenüber der Zivilbevölkerung nicht mit der gleichen Intensität verfolgte. Gänzlich ausgeschlossen ist ein solches Zuschauerverhalten jedoch nicht. Auch die Anwesenden bei regulären öffentlichen Hinrichtungen waren schließlich zu differenzierten Kommentaren in der Lage und konnten im Einzelfall recht unterschiedlich auf das vollzogene Ritual reagieren. 12

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Laut Knorr bestanden die Exekutionskommandos immer aus sechs Männern, von denen zunächst nur drei auf den Delinquenten feuerten. Nur falls der Verurteilte die erste Salve überlebte, schössen auch die anderen drei auf ihn. Vgl. Knorr 1738 (wie Anm. 4), S. 375f., § 10. Die Befunde von Maren Lorenz für die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts können, was die leibliche Bestrafung von Offizieren betrifft, trotz aller gebotenen Vorsicht wohl auch auf das 18. Jahrhundert ausgedehnt werden. Sofern Offiziere überhaupt vor Gericht standen, was ebenfalls selten der Fall war, wurden sie üblicherweise mit Hausarrest, Kassation oder Geldbußen belegt. Vgl. Lorenz, Maren: Das Rad der Gewalt. Militär und Zivilbevölkerung in Norddeutschland nach dem Dreißigjährigen Krieg (1650-1700). Köln u.a. 2007, S. 322. Vgl. Fleming 1726 (wie Anm. 4), Abb. Hhh. Vgl. Nowosadtko, Jutta: Vom Kriegsprozeß in bürgerlichen und peinlichen Sachen. Die Militärjustiz des Fürstbistum Münsters im 18. Jahrhundert. In: Rudolph, Harriet/SchnabelSchüle, Helga (Hrsg.): Justiz = Justice = Justicia. Rahmenbedingungen von Strafjustiz im frühneuzeitlichen Europa. Trier 2003 (= Trierer Historische Forschungen 48), S. 491-514, hier S. 496f. Vgl. Gatrell, Valentin Arthur Charles: The Hanging Tree. Executions and the English People, 1770-1868. 2. Aufl., Oxford 1996, S. 56-67.

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Die Frage der Lesbarkeit von Ritualen ist innerhalb der Forschung umstritten.13 Allein die konkurrierende Zuschreibung ritueller Funktionen und die Möglichkeiten, sich widersprechende schlüssige Deutungen für ein und dasselbe Ritual zu entwickeln, zeigen, dass dem Verstehen Grenzen gesetzt sind.14 Aufgrund der körperlichen Inszenierung der Rituale liegen Bezüge und Vergleiche zu Theateraufführungen nahe. Mit der Performance ist allerdings ein kontroverser Punkt der Ritualforschung berührt, nämlich das Problem der Reflexivität. Während die traditionelle Interpretation vor allem die repetitive Eigenschaft der Rituale betonte, indem sie diese als mechanisch und unreflektiert durchgeführte Verhaltensmuster betrachtete, hob der soziodramatische Erklärungsansatz den expressiven Charakter der Rituale stärker hervor.15 In jedem Fall musste die Frage beantwortet werden, wie viel bewusste Inszenierung und kritische Distanz ihrer Teilnehmer eine symbolische Handlung verträgt, um noch als Ritual durchgehen zu können.16 Die gängige Choreogra13

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Bereits Edmund Leach unterschied innerhalb der Rituale zunächst eine Handlungs- von einer Kommunikationsebene mit der Begründung, dass menschliche Handlungen sowohl dazu dienten, Dinge zu tun, als auch Dinge zu sagen. Vgl. Leach, Edmund R.: Ritual. In: Sills, David L. (Hrsg.): International Encyclopedia of the Social Sciences. Bd. 13. London 1972, S. 520-526, hier S. 523f. In der Folgezeit hob Leach den kommunikativen Aspekt immer stärker hervor. Nach dieser Lesart betätigten sich Menschen in Ritualen, um sich selbst kollektive Botschaften zu übermitteln. Vgl. Leach, Edmund R.: Kultur und Kommunikation. Zur Logik symbolischer Zusammenhänge. Frankfurt a.M. 1978, S. 59. Noch weiter ging Rainer Wiedenmann, indem er das Ritual als „‚körpersymbolisch‘ generalisiertes Kommunikationsmedium“ definierte. Vgl. Wiedenmann 1991 (wie Anm. 2), S. 206229. Die Annahme der Lesbarkeit der Welt durch das Medium der Rituale sieht sich prinzipiell mit dem Vorwurf der Imagination konfrontiert. Vgl. dazu allgemein Pruisken, Thomas: Medialität und Zeichen. Konzeption einer pragmatisch-sinnkritischen Theorie medialer Erfahrung. Würzburg 2007, S. 41. Insgesamt erscheint daher die durch Jennings aufgeworfene Frage, inwieweit Rituale tatsächlich „Wissen“ vermitteln können oder lediglich als Demonstration und Illustration dessen zu verstehen sind, was die Teilnehmer ohnehin schon auf andere Art wissen, noch immer offen, wiewohl Jennings selbst letzteres verneinte. Jennings, Theodore W. Jr.: Rituelles Wissen. In: Krieger, David J./Belliger, Andréa (Hrsg.): Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch. Opladen 1998, S. 157-172, hier S. 161. In der extremsten Form kann das Ritual deshalb durchaus als „Inszenierung totaler Zweckfreiheit und Intentionslosigkeit“ gedeutet werden. Vgl. Michaels, Axel: Ex opere operato. Zur Intentionalität promissorischer Akte in Ritualen. In: Köpping, Klaus-Peter/ Rao, Ursula (Hrsg.): Im Rausch des Rituals. Gestaltung und Transformation der Wirklichkeit in körperlicher Performanz. Hamburg 2000, S. 104-123, hier S. 120. Vgl. Wulf, Christoph/Zirfas, Jörg: Performative Welten. Einführung in die historischen, systematischen und methodischen Dimensionen des Rituals. In: Wulf/Zirfas 2004 (wie Anm. 2), S. 7-45, hier S. 17. Vgl. dazu grundsätzlich Douglas 1993 (wie Anm. 2), S. 11-14; Wiedenmann 1991 (wie Anm. 2), S. 29-31. Zum Verhältnis von Intentionalität und Formalisierung vgl. Eming, Jutta: Emotion und Expression. Untersuchungen zu deutschen und französischen Liebesund Abenteuerromanen des 12. bis 16. Jahrhunderts. Berlin 2006, S. 109f. Turner hat in diesem Zusammenhang vorgeschlagen, den Begriff des Rituals für segmentäre Gesellschaften zu reservieren, deren Mitglieder sowohl als rituelle Akteure wie auch als

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phie des Gassenlaufens wurde von den zeitgenössischen Standardwerken jedenfalls übereinstimmend wie folgt beschrieben: „[Beim Gassenlaufen] muß die Mannschafft so darzu commandirt wird, Gliederweise vier Mann breit aufmarchiren, hernach läst man auf den Platz die zwey mittelsten Reyhen lincks und rechts die äusersten Reyhen doupliren, mit welchen Commando eine richtige Gasse formiret, und die Mannschafft in zwey Reyhen en haye gestellet wird. Die Unter-Officiers treten nach ihren Rang und Posten mit ein, die Ober-Officierer aber stellen sich meistens vor an beyde Flügel, woselbst auch die Tambours bey der Execution ihren Würbel zu schlagen pflegen, der Major aber und der Adjutant, oder der den Troup aufführet, sind zu Pferde, und reiten auswerts der Gassen hin und wieder, und geben Achtung, daß nicht allein der Delinquent gebührend fortlaufe, sondern auch die andern recht zuhauen. Die Spißruthen muß der Steckknecht anschaffen, er nimmt solche unter einen oder beyde Arme, nachdem viel Soldaten commandirt sind, gehet damit durch die Gasse, da denn ein jedweder Soldat bey den dicken Theil eine fasset, und solche in den Vorbeygehen des Steckenknechts hinterwerts herausziehet. Die Soldaten setzen ihr Gewehr etwas vorwarts vor den Fuß, damit der Delinquent recht in der Mitten der Gassen bleiben müsse, und von einen jedweden recht getroffen werde. Ist die Execution aus, oder die Spißruthen sollen changirt werden, so pflegen die Soldaten solche erstens an ihren Gewehr bey den Spitzen abzuschlagen, und hinter sich über das Volck zu werfen.“17

Für den Delinquenten begann der Gassenlauf üblicherweise damit, dass ihm die Uniform demonstrativ vom Körper gerissen, d.h. der Oberkörper entblößt wurde. Fleming ging nicht auf dieses Detail ein, aber auf die zeitgenös-

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Zuschauer ganz vom gemeinsamen Vollzug der Zeremonien ergriffen und zusammengeschlossen seien. Demgegenüber sei dem modernen und eher distanzierten Umgang mit symbolischer Kommunikation der Begriff des Theaters angemessener, weil dieser auch die Einsicht der Teilnehmer in die Bedingungen des Rollenspiels berücksichtige. Vgl. Turner, Victor: Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels. Frankfurt a.M./New York 1989, S. 83-94, 126, 131-138, 178-180. Ungeachtet dieser Differenzierung werden die Begriffe Ritual und Performance nicht selten simultan verwendet. Letztlich betont die Theatermetapher aber nur eine Eigenschaft, die sämtlichen Ritualen per Definition aneignet. Vgl. Krieger, David J./Belliger, Andréa: Einführung. In: Krieger/Belliger 1998 (wie Anm. 13), S. 7-33, hier S. 9-17. Für die konsequente begriffliche Trennung von Ritualen und Zeremonien hat sich vor allem Stollberg-Rilinger ausgesprochen. Nach diesem Modell verweisen Rituale immer auf eine größere Ordnung, bekräftigen diese und werden mit einer geringen Variationsbreite immer wieder gleich vollzogen. Ein weiterer zentraler Unterschied zur variableren und auf konkrete Anlässe abgestimmten zeremoniellen Inszenierung ist darin zu erkennen, dass Rituale einen Statuswechsel – durchaus im Sinne der van Gennep’schen Passagerituale – bewirken. Vgl. Stollberg-Rilinger, Barbara: Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe – Thesen – Forschungsperspektiven. In: Zeitschrift für Historische Forschung 31 (2004), S. 489-527, hier S. 504. Fleming 1726 (wie Anm. 4), S. 517.

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sischen Zuschauer übte diese symbolische Handlung großen Eindruck aus.18 Dies erscheint nicht nur aufgrund der gewalttätigen Begleiterscheinungen verständlich. Denn an dieser Stelle fand, klassisch nach Arnold van Gennep, die Trennung des einzelnen von der Gruppe statt. Die Bestrafung durch die Gruppe erlebte der solchermaßen Vereinzelte im Zwischenzustand der rituellen Passage. Letztere konnte unterschiedlich abgeschlossen werden: Mit der Wiederaufnahme des Bestraften in seine Gruppe, mit seinem dauerhaften Ausschluss und bleibenden körperlichen Schäden oder im schlimmsten Fall mit dem Tod.19 Auffälligerweise liegen zu der in der Praxis bei weitem häufigsten Reintegration des Soldaten in sein Regiment kaum zeitgenössische Berichte vor. Weil diese Strafe nicht infamierte, kamen aufwändige Folgerituale wie das Fahnenschwenken nicht in Betracht.20 Tatsächlich scheinen die meisten Betroffenen, nachdem ihre Wunden verheilt waren, vergleichsweise unspektakulär im Rahmen der regelmäßig abgehaltenen Wachparade wieder ihren Platz eingenommen zu haben. Eine genauere Untersuchung steht in diesem Bereich noch aus. Jedenfalls erscheint bemerkenswert, dass das Passageritual hier eine bemerkenswerte Leerstelle aufweist. Die Performance überließ den Delinquenten im Zwischenzustand. Seine Wiederaufnahme erfolgte stillschweigend und außerhalb der Öffentlichkeit. Dass sich an dieser Stelle eine soziale Gruppe demonstrativ inszenierte und organisierte, steht außer Zweifel. Nach zeitgenössischem Verständnis sollte sich der Bestrafte der Disziplin unterworfen fühlen, aber nicht der „Caprice und Missachtung“ seines Vorgesetzten. Ersteres war mit der militärischen Ehre vereinbar, letzteres galt als Sklavenschicksal und machte „die Subordination gehässig“.21 Gleichwohl gibt der nur partiell öffentliche Charakter des Strafrituals mit Blick auf die disziplinären Rücksichtnahmen und Notwendigkeiten noch weitere Rätsel auf. Die demonstrative Öffentlichkeit traf nämlich, soweit dies zum jetzigen Zeitpunkt zu erkennen ist, hauptsäch18

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Vgl. Nowosadtko, Jutta: Militärjustiz in der Frühen Neuzeit. Anmerkungen zu einem vernachlässigten Feld der historischen Kriminalitätsforschung. In: Unrecht und Recht. Kriminalität und Gesellschaft im Wandel von 1500-2000. Gemeinsame Landesausstellung der rheinland-pfälzischen und saarländischen Archive. Wissenschaftlicher Begleitband. Koblenz 2002 (= Veröffentlichungen der Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz 98), S. 638651, hier S. 638f. Vgl. Ackermann, Johann Christian Gottlieb: Handbuch der Kriegsarzneikunde, oder: Über die Erhaltung der Gesundheit der Soldaten im Felde, über die Anstalten zur Heilung der Krankheiten derselben, und über die Kenntniß und Kur der wichtigsten Feldkrankheiten. Bd. 1. Leipzig 1795, S. 216, 218f. Vgl. Beust, Joachim Ernst von: Observatorium Militarium continuatio, Sive pars tertia, d.i. Fortsetzung der Kriegs=Anmerckungen, Oder derselben Dritter Theil. Gotha 1746, S. 344-348. Bistumsarchiv Münster: Nachlass Fürstenberg, Nr. 31/1, Teil D, Pro Memoria, ohne Signatur und Datum (Philipp Ernst zu Schaumburg-Lippe, 1774).

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lich die einfachen Dienstränge. Unteroffiziere wurden anscheinend eher im geschlossenen Raum der Hauptwache sanktioniert, obschon auch sie mit harten und schmerzhaften körperlichen Strafen zu rechnen hatten. Sofern Offiziere überhaupt bestraft wurden, geschah dies völlig außerhalb der Öffentlichkeit.22

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Vgl. Krünitz, Johann Georg: Kriegs-Verbrechen und Strafen. In: ders.: Oeconomische Encyclopädie oder allgemeines System der Land-, Haus- und Staats-Wirthschaft. Bd. 52. Berlin 1790, S. 475-487, 535f.; Zincken 1774 (wie Anm. 7), S. 57-59.

ANGELA STRAUSS

Abschied und Tod Rituale am Ende des Offizierslebens im 18. Jahrhundert

Soziale Grenzüberschreitung nach Arnold van Gennep Die als „Übergangsriten“ bezeichneten sozialen Praktiken repräsentieren die Trennung eines Individuums von seinem sozialen Bezugssystem bzw. seine Herauslösung aus einer sozialen Gruppe. Die theoretische Grundlage für die Auseinandersetzung mit dem „Abschied“ vom Militär, die Gegenstand dieses Beitrags ist, sind die Ausführungen des Ethnologen Arnold van Gennep hinsichtlich der Überschreitung von Grenzen in der sozialen Dimension. 1 „Van Gennep zeigt, daß nicht allein das Passieren einer räumlichen Grenze oft

Bestandteil und Ausdruckselement von Übergangsriten aller Art ist (z.B. von Geburts-, Initiations-, Hochzeits-, Bestattungs-, Jahreszeitenriten), sondern daß den Übergangsriten generell ein räumliches Anschauungsmodell, nämlich die Vorstellung von Grenzüberschreitungen, zugrundeliegt.“ 2

Die sozialen Grenzüberschreitungen werden als potenziell bedrohlich charakterisiert: Jede Gesellschaft, so van Gennep, ist in ihrer Stabilität gefährdet, wenn ein Individuum aus einer bestimmten Statusgruppe in eine andere Gruppe wechselt. Daher wird der Zugehörigkeitswechsel von Riten begleitet, welche die situative Instabilität kompensieren sollen. In Ritualen verdeutlicht und manifestiert sich die Herauslösung und Überführung eines Menschen aus einer Gemeinschaft beziehungsweise in eine Ge1

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Vgl. Gennep, Arnold van: Übergangsriten (Les rites de passage). 3. erw. Aufl., Frankfurt a.M. 2005 (zuerst 1909); schon vor hundert Jahren kritisiert von Starr, Frederick: Review Les rites de passage. In: The American Journal of Sociology 15 (1910), 707-709; dennoch Rezeption etwa durch Turner, Terence S.: Transformation, Hierarchy and Transcendence. A Reformulation of Van Gennep’s Model of the Structure of Rites de Passage. In: Moore, Sally F./Myerhoff, Barbara G. (Hrsg.): Secular Ritual. Assen u.a. 1977, S. 53-70 sowie Turner, Victor: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Frankfurt a.M./New York 2005 (zuerst 1969). Turner erforschte vor allem die Schwellenphase von Übergangsriten, während hier besonders die Trennungsphase interessiert. Schomburg-Scherff, Sylvia M.: Arnold van Gennep (1873–1957). In: Michaels, Axel (Hrsg.): Klassiker der Religionswissenschaft. Von Friedrich Schleiermacher bis Mircea Eliade. München 1997, S. 222-233, hier S. 229.

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meinschaft, wobei, laut van Gennep, drei Phasen zu unterscheiden sind: die Phase der Trennung, die der Umwandlung und die der Angliederung. Die diese Phasen begleitenden „rites de passage“ bilden demnach symbolische Handlungen, welche das Leben eines Menschen strukturieren. Auch in der Frühen Neuzeit kennzeichneten Rituale den Wechsel von Lebensabschnitten und der Gruppenzugehörigkeit; die Übergänge wurden sozial markiert. 3 Dieser Beitrag geht von der These aus, dass die unter der Kategorie „Abschied“ gefassten (und mit dem Verlassen von sozialen Gemeinschaften einhergehenden) Wechsel von Lebensabschnitten symbolisch aufgeladen waren und sich als „rites de passage“ deuten lassen. Untersuchungsgegenstand ist die Gruppe der preußischen Offiziere des 18. Jahrhunderts. Mit Blick auf diese Gruppe bedarf es noch des Verweises auf zwei unterschiedliche semantische Ebenen des Begriffs „Abschied“: Er bezeichnet zum einen „entlassen, weggeschickt werden“ (als ein aktiver Umgang mit einem passiven „Akteur“) und zum anderen „weggehen“ (als ein aktives Agieren des Akteurs). Beim militärischen „Abschied nehmen“ und „Abschied erhalten“ war der Offizier gleichermaßen Subjekt und Objekt, Handelnder und „Behandelter“ in einem Übergangsprozess in eine andere Welt. Weiterhin muss die Kategorie „Abschied“ differenziert werden: Unter „Abschied“ fallen bei Offizieren zwei verschiedene Formen der Herauslösung aus einer sozialen Gruppe, erstens der militärische Abschied im Sinne des Quittierens des Dienstes, zweitens der „biologische“ Abschied, der Tod und das damit verbundene Begräbnis. Mit dieser Differenzierung verbinden sich wiederum zwei Erkenntnisziele: Einerseits soll die Analyse von symbolischer Kommunikation innerhalb des Offizierslebens bis zu einem gewissen Grad Schlussfolgerungen auf Wahrnehmungen und Bedeutungszuschreibungen der historischen Subjekte zulassen, für welche sonst kaum schriftliche Quellen vorliegen. Andererseits bietet der vergleichende Blick auf den militärischen Abschied sowie auf Tod und Begräbnis die Möglichkeit, Aufschluss darüber zu gewinnen, wie weitgehend bereits das Ende des militärischen Dienstes von den Zeitgenossen als „militärischer Tod“ wahrgenommen wurde. 4

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Vgl. Král, Pavel: Rites de passage et cycles de vie de la famille noble. In: Histoire, économie & société 26 (2007), H. 3, S. 111-126; Cressy, David: Birth, Marriage and Death. Ritual, Religion, and the Life-Cycle in Tudor and Stuart England. Oxford 1997; Muir, Edward: Ritual in Early Modern Europe. 2. überarb. Aufl., Cambridge 2007. Zur methodischen Einordnung vgl. Stollberg-Rilinger, Barbara: Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe – Thesen – Forschungsperspektiven. In: Zeitschrift für Historische Forschung 31 (2004), S. 489-527; dies.: Zeremoniell, Ritual, Symbol. Neue Forschungen zur symbolischen Kommunikation in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. In: Zeitschrift für Historische Forschung 27 (2000), S. 389-405; Assmann, Jan: Die Lebenden

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Der Blick auf Übergangsriten im Leben von Offizieren bietet sich an, weil diese erstens über soziopolitischen Einfluss verfügten und, davon ausgehend, zweitens für weitere soziale Gruppen wie das Bürgertum Vorbildcharakter besaßen 5 und militärische Übergangsriten daher auch signifikant für die – vom Militär eben nicht so klar abgrenzbare – „zivile“ Gesellschaft sind. Bereits die Zeitgenossen sahen das Militär als eine rechtlich-soziale Gruppe in der Gesellschaft, eine Perspektive, die sich in den vergangenen Jahrzehnten auch in der Geschichtswissenschaft durchgesetzt hat, wobei die zivil-militärischen Beziehungen zu einem wichtigen Untersuchungsgegenstand geworden sind. 6 Das fortwährende Interesse an der Wechselwirkung von Militär und Gesellschaft, verbunden mit der Auseinandersetzung mit dem anthropologischen Phänomen des Übergangs zwischen sozialen Situationen, wirft die Frage nach den synchronen und den diachronen Referenzen für die Gestaltung des Abschieds vom Militärleben auf. Der Abschied vom Militär hat einen wesentlichen Bezugspunkt beim Eintritt in das frühneuzeitliche Heer, entsprechend korrespondieren die Entlassungsriten mit den Einsetzungsriten. Im Vordergrund steht hier aber die Frage, wie man die Militärgesellschaft in der Vormoderne verließ. 7 Die These dieser Skizze – Abschiede beim Militär trugen rituellperformative Züge, die als Übergangsriten auf Brüche mit den sozialen Systemen verwiesen 8 – soll in diesem Beitrag sowohl illustriert als auch analysiert

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und die Toten. In: ders./Michaels, Axel/Maciejewski, Franz (Hrsg.): Der Abschied von den Toten. Trauerrituale im Kulturvergleich. Göttingen 2007, S. 16-36. Entsprechend die Popularisierungsprozesse und die Traditionspflege; vgl. Kloosterhuis, Jürgen: Der Husar aus dem Buch. Die Zietenbiographie der Frau von Blumenthal im Kontext der Pflege brandenburg-preußischer Militärtradition um 1800. In: Jahrbuch für Brandenburgische Landesgeschichte 52 (2001), S. 139-168. Vgl. Kroener, Bernhard R.: Kriegerische Gewalt und militärische Präsenz in der Neuzeit. Ausgewählte Schriften, hrsg. von Pröve, Ralf/Thoß, Bruno. Paderborn u.a. 2008; Nowosadtko, Jutta: Krieg, Gewalt und Ordnung. Einführung in die Militärgeschichte. Tübingen 2002 (= Historische Einführungen 6); Showalter, Dennis E./Astore, William J. (Hrsg.): Soldiers’ Lives through History. Bd. 3: The Early Modern World. Westport u.a. 2007. Der Tod im Krieg und die Desertion stellten dabei besondere Formen dar. Ebenso die „Entlassungen ohne Abschied“; vgl. Publicandum wegen Abstellung verschiedener Missbräuche bei der Armee bei der leider fast gäntzlichen Auflösung der verschiedenen gegen Frankreich ins Feld gerückten Armee-Corps vom 12. Januar 1806, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (im Folgenden GSTA PK), IV. HA, Preußische Armee, Rep. 16, Nr. 470. Zur Symboltheorie in der Frühneuzeithistoriografie vgl. Soefner, Hans-Georg: Protosoziologische Überlegungen zur Soziologie des Symbols und des Rituals. In: Schlögl, Rudolf/Pflüger, Christine (Hrsg.): Die Wirklichkeit der Symbole. Grundlagen der Kommunikation in historischen und gegenwärtigen Gesellschaften. Konstanz 2004 (= Historische Kulturwissenschaft 1), S. 41-72; Roeck, Bernd: Die Wahrnehmung von Symbolen in der Frühen Neuzeit. Sensibilität und Alltag in der Vormoderne. In: Melville, Gert (Hrsg.): In-

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werden. Die Analyse geht von der Frage aus, inwiefern die sogenannte Dimission, also die Verabschiedung aus dem militärischen Dienst, eine Grenzüberschreitung zwischen sozialen Welten darstellte. Ein Vergleich der Formen dieses militärischen Abschieds mit Bestattungsritualen sollte sichtbar werden lassen, inwieweit auch hier die Merkmale von „rites de passage“ erkenntlich werden.

Der militärischer Abschied – die Dimission Der militärische Abschied wird in der frühneuzeitlichen Quellensprache als Dimission beziehungsweise Demission bezeichnet. Mit diesem Begriff benannte man in der Frühen Neuzeit allgemein die Entlassung aus einem Dienstverhältnis, nicht nur den Abschied aus dem Militär. Entlassungen hatten in der Frühen Neuzeit – wie in der Gegenwart – soziale Konsequenzen. 9 Diese soziale Dimension wird bei der Theorie der „rites de passage“ berücksichtigt. Die Ausführungen von van Gennep zu den Übergangsriten bieten trotz der an ihnen geübten Kritik 10 ein anregendes Instrumentarium, um ein Ritual analytisch zu erfassen und in Phasen unterteilen zu können. Dadurch gelingt eine Beschreibung von rituellen Sequenzen. Die Erfassung und Beschreibung der Sequenzen ist die Voraussetzung dafür, die mit diesen verbundenen Funktionen zu dechiffrieren. In zeitgenössischen Militärschriften werden als gängige Gründe für den Abschied aus dem Militär angeführt die Sehnsucht nach der Ruhe aufgrund des Alters sowie Verletzungen und Krankheiten, welche den Soldaten für den Dienst unbrauchbar gemacht hatten; der Offizier konnte aber nur aus der

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stitutionalität und Symbolisierung. Verstetigungen kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit und Gegenwart. Köln u.a. 2001, S. 525-539. Art. „Abschied“. In: Krünitz, Johann Georg: Oekonomische Encyklopädie oder allgemeines System der Staats- Stadt- Haus- und Landwirtschaft 1 (1773), Sp. 137; zum Übergang bei anderen frühneuzeitlichen sozialen Gruppen, etwa den Geistlichen, vgl. Schreiner, Klaus: Wahl, Amtsantritt und Amtsenthebung von Bischöfen. Rituelle Handlungsmuster. In: Stollberg-Rilinger, Barbara (Hrsg.): Vormoderne politische Verfahren. Berlin 2001 (= Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 25), S. 73-117; Füssel, Marian: Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Ritual und Konflikt an der Universität der Frühen Neuzeit. Darmstadt 2006, insbesondere zur Promotion als Trennungsritual ebd., S. 156166. Schon Marcel Mauss und die Durkheim-Schule beurteilten van Genneps „rites de passage“ als zu undifferenziert und verallgemeinernd; rituelle Handlungen würden also zu stark reduziert und in ein Schema eingepasst. Streitpunkt war außerdem die Rolle des Individuums in der Gesellschaft und die Entwicklung sozialer Institutionen. Vgl. Belier, Wouter W.: Arnold van Gennep and the Rise of French Sociology of Religion. In: Numen 41 (1994), S. 141-162.

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Armee ausscheiden, wenn es der König genehmigte. 11 Hiervon ausgehend, kann auch der militärische Abschied in mehrere Akte beziehungsweise rituelle Sequenzen unterteilt werden. Zentral war der Akt, in dem die Zustimmung des Monarchen erlangt werden musste. Diesen Akt der Zustimmung des Königs für den Abschied eines Offiziers – in diesem Fall eines gewissen Leutnants von Aller – thematisiert der Leutnant Carl Wilhelm Hülsen in seinen Memoiren. Ihm zufolge wechselten im Rahmen einer Revue im Jahre 1752 der König Friedrich II. und der General von Below, von Allers Regimentschef, die folgenden Worte: „‚Hat er noch mehr Abgang, Below?‘ ‚Ja, Majestät. Der Lieutenant von Aller bittet unterthänigst um den Abschied. Er ist auch invalide!‘ ‚Will er versorgt sein?‘ ‚Nein, Ihre Majestät, er hat zu leben!‘ ‚Nun gut. Ich akkordire ihm den Abschied, Below! – Ist das Alles?‘ ‚Ja, Majestät.‘“ 12

Die Beschreibung der Szene legt offen, dass der Offizier von Aller, der Aspirant, beim Aushandeln seines Abschiedes nicht anwesend war. Seine Entlassung aus der Welt des Militärs wird in der face-to-face-Kommunikation zwischen seinem Regimentschef und dem Monarchen arrangiert. Wie beim Eintritt in die Armee, so stand auch beim Abschied hinter der offiziellen Entscheidung des Königs das Vorschlagrecht des kommandierenden Obristen beziehungsweise des Regimentschefs. Die geschilderte Szene scheint einer verbreiteten Praxis von Abschied geben und nehmen zu entsprechen. Der letzte Akt beim militärischen Abschied war die Aushändigung des Abschiedsbriefes; der erste Akt der Dimission war der Entschluss, den Abschied zu nehmen, und dieser ging vom Offizier selbst aus. Dazu eine andere Szene im Rahmen eines autobiographischen Rückblicks des Offiziers Christian Wilhelm Prittwitz auf das Jahr 1762: „In diesem Zeitraum kam ich auf den Gedanken, meinen Abschied zu nehmen und, da ich glaubte, eine Charaktererhöhung könnte mir nützen, so schrieb ich

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Vgl. Art. „Soldaten-Abschied“. In: Zedler, Johann Heinrich: Großes vollständiges Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste 38 (1743), Sp. 449-452; Fleming, Hanns Friedrich: Der Vollkommene Teutsche Soldat welcher die gantze Kriegs-Wissenschafft, insonderheit was bey der Infanterie vorkommt, ordentlich und deutlich vorträgt. Leipzig 1726, S. 131-133; Reglement, Vor die Königl. Preußische Infanterie, Berlin 1. Juni 1750, S. 464-467. Hülsen, Carl Wilhelm von: Unter Friedrich dem Großen. Aus den Memoiren 1752-1773. Osnabrück 1890 (ND Berlin 1974), S. 29f.

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deshalb an den Herzog [von Bevern]. [...] In der Folge aber fand ich mich darinnen enttäuscht, indem ich die unerwartete Nachricht von ihm erhielt, daß solches S.M. vorzutragen nicht tunlich gewesen wäre“. 13

Bei dieser Situation ist bereits der erste Auftritt falsch gelaufen. An die Dimission koppelte Prittwitz die Bitte um eine Rangerhöhung. 14 Sein Versuch seinen Abschied zu nehmen scheiterte allerdings bereits im Ansatz. Zahlreiche Akten zeugen heute von dem häufigen Misslingen des Ersuchens um die Gnade des Monarchen: Der Aspirant oder sein „Agent“ erhielten auf ihre Bitten Ablehnungen. Auch die Fürsprache des Regimentschefs oder von Familienangehörigen war nicht immer erfolgreich. Besonders häufig wurde der Abschied dann verweigert, wenn der Offizier aus der Sicht des Königs nicht lange oder nicht engagiert genug an Kriegen teilgenommen hatte. Ein unschlagbares Argument, den Abschied zu erhalten, war Krankheit. Körperliche Unfähigkeit ermöglichte fast immer das Ausscheiden aus dem Militärdienst, obgleich alle beteiligten Akteure wussten, dass es ein Scheinargument sein konnte – wie bei den Entlassungen der Enkelsöhne des „Alten Dessauers“, Friedrich und Albrecht Graf zu Anhalt, die wegen zu geringer Aufstiegschancen 1776 und 1781 ihren Abschied aus der preußischen Armee nahmen, aber mit ihrer schlechten Gesundheit argumentierten. 15 Dabei war die Gratwanderung zwischen wohlwollender Entlassung und Sanktion in Form der Cassierung des Antragstellers aber schmal. 16 Der Körper ist grundsätzlich ein zentraler Gegenstand von Übergangsriten 17 und er war es auch beim militärischen Abschied im 18. Jahrhundert. Die Riten beschränkten sich nicht allein auf den Körper, sondern in Ver13 14

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Prittwitz, Christian Wilhelm von: „Ich bin ein Preuße ...“. Jugend und Kriegsleben eines preußischen Offiziers im Siebenjährigen Krieg. Paderborn 1989, S. 140. Bewilligung der Dimission mit gleichzeitiger Charaktererhöhung auch beim Leutnant der Artillerie Hart mit Bitte um Kapitänsrang bei dessen Gesuch vom 28. August 1795, GStA PK BPH, 192 Ritz, A, Nr. 845. König Friedrich II. an Generalmajor Friedrich Christoph von Saldern, 8. April 1781, GStA PK, I. HA Rep. 96 B Geheimes Zivilkabinett äP, Minüten, Nr. 81, fol. 239; Friedrich (1732-1794) und Albrecht (1735-1802) waren Söhne von Wilhelm Gustav. Vgl. Art. „Anhalt“. In: Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. 1 (1875), S. 462f., zu Albrecht Graf zu Anhalt vgl. Priesdorff, Kurt von: Soldatisches Führertum. Bd. 2: Die preußischen Generale von 1763 bis zum Tode Friedrichs des Großen. Die preußischen Generale vom Tode Friedrichs des Großen bis 1797. Hamburg 1937, S. 409. Absetzen eines Bedienten oder Beamten, vgl. Art. „Cassieren“. In: Krünitz, Johann Georg: Oekonomische Encyklopädie oder allgemeines System der Staats- Stadt- Haus- und Landwirtschaft 7 (1776), Sp. 709. Vgl. Haas, Stefan: Der Körper als Medium symbolischer und performativer Praktiken. Eheschließungen als Übergangsrituale im 16. und 17. Jahrhundert. In: Burkhardt, Johannes/Werkstetter, Christine (Hrsg.): Kommunikation und Medien in der Frühen Neuzeit. München 2005, S. 499-518.

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knüpfung der Kategorien Körper und Raum – in Übereinstimmung mit van Genneps Ansatz – hatte der Körper selbst Teil am performativen Akt. Denn eine alternative Strategie des Aspiranten zum Abschiedsgesuch stellte nicht zuletzt deswegen die körperliche Entfernung dar. Der Offizier zog sich etwa auf die eigenen Güter zurück, bevor die königliche Entscheidung über ein Abschiedsgesuch anstand. Das gelang, indem er Urlaub nahm. Der Beurlaubte galt nicht umsonst als „ein unglücklich Mittelding“, 18 als eine unausgelöste Person. Das Zwischenfazit lautet jedenfalls, dass für das Gelingen der Dimission einerseits die körperliche Abwesenheit des Aspiranten entscheidend war. Andererseits waren für den Erfolg des Abschiedsgesuchs die Verhältnisse in der zu verlassenden Militärgemeinschaft relevant. Denn ein nicht auszuhebelndes Gegenargument des Königs lautete „personeller Engpass“. So erhielt der Regimentschef Friedrich Christoph von Saldern wiederholt keine Erlaubnis zum Abgang, weil ihn – so der König – niemand ersetzen konnte. 19

Tod und Begräbnis verglichen mit der Dimission Von über 10000 Offizieren, die zwischen 1713 und 1786 in der preußischen Armee dienten, schieden fast 7200 vorzeitig, also durch die Dimission, aus der Armee und somit aus der Welt des Militärs aus. 20 Neben dem „durchdienenden Karrieremilitär“ 21 dienten viele Adlige nur einige Jahre in der preußischen Armee. Der militärische Abschied war neben der Desertion die einzige Alternative zum Tod, um die Militärgesellschaft zu verlassen; Dimission und Tod waren also funktional ähnliche Phasen eines sozialen Übergangs. Das lässt es naheliegend erscheinen, den Ablauf der Dimission dem 18

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Lehmann, Max: Werbung, Wehrpflicht und Beurlaubung im Heere Friedrich Wilhelm’s I. In: Historische Zeitschrift 67 (1891), S. 254-289, hier S. 274 mit Referenz auf Berenhorst, Georg Heinrich: Betrachtungen über die Kriegskunst, über ihre Fortschritte, ihre Widersprüche und ihre Zuverlässigkeit. Abt. 2. Auch für Layen verständlich, wenn sie nur Geschichte wissen. Leipzig 1798. Friedrich II. an Friedrich Christoph von Saldern [Antwort auf das Abschiedsgesuch], 29. Juni 1784, GStA PK, I. HA Rep. 96 B Geheimes Zivilkabinett äP, Minüten, Nr. 84 und bei Priesdorff, Kurt von: Soldatisches Führertum. Bd. 1: 1580-1762. Hamburg 1937, S. 479 ohne Angabe des Datums; Friedrich II. an Friedrich Christoph von Saldern [Ablehnung des Entlassungsgesuchs], 17. September 1784, GStA PK, I. HA Rep. 94, IV L d, Nr. 67. Vgl. Hebbelmann, Georg: Das preußische „Offizierkorps“ im 18. Jahrhundert. Analyse der Sozialstruktur einer Funktionselite. Münster 1999, S. 275-309. Kroener, Bernhard R.: „Des Königs Rock“. Das Offizierkorps in Frankreich, Österreich und Preußen im 18. Jahrhundert – Werkzeug sozialer Militarisierung oder Symbol gesellschaftlicher Integration? In: ders./Stübig, Heinz (Hrsg.): Die Preußische Armee. Zwischen Ancien Régime und Reichsgründung. Paderborn u.a. 2008, S. 54-78, hier S. 58.

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Ablauf von Offiziersbestattungen gegenüberzustellen. Dadurch soll der Blick für die symbolischen Einbettungen beider, in einem weit gefassten Sinne unter „militärischem Tod“ zu fassenden Situationen geschärft und Aufschluss hinsichtlich der gesellschaftstheoretischen Annahmen van Genneps für die genannten Grenzüberschreitungen im Offiziersleben gewonnen werden. 22 Der Vergleich zwischen Dimission einerseits sowie Tod und Begräbnis von Offizieren andererseits soll ausgehend von dem analytischen Instrumentarium von van Gennep im Folgenden in drei Schritten erfolgen: 1) Gemeinsamkeiten zwischen Dimission und Bestattung, 2) Unterschiede zwischen den Abschiedsformen und 3) die Reflexion von Ritualen. Zu den Gemeinsamkeiten zwischen Dimission und Bestattung zählt, dass im Falle beider „Grenzüberschreitungen“ der Akt der formalen Zustimmung von Autoritäten zum Abschied als Trennungsphase gewertet werden kann. Beim militärischen Abschied mussten die Obrigkeiten, also letztlich der König, zustimmen, der irdische Abschied musste von Predigern begleitet werden. Ohne die Zustimmung der militärischen bzw. die Begleitung der geistlichen Eliten war ein Übertritt also nicht zu vollziehen. Außerdem glichen sich beide Situationen darin, dass die Angliederung nicht beschrieben wird. Die Angliederungsphase blieb nach dem Tode in der Frühen Neuzeit ebenso unbeschreiblich wie das Leben nach dem Militärdienst. Zwar gab es jeweils Vorstellungen vom Jenseits – im Verlauf des 18. Jahrhunderts übrigens zunehmend auf Natur und Romantik bezogen wie bei Heinrich von Kleist, der 1799 entlassen wurde und der von der Ruhe des Landlebens schwärmte. 23 Doch die Schilderungen aus den „neuen“ Welten sind rar; so schlug sich etwa die Ankunft der Offiziere auf ihren Gütern schriftlich zumeist nicht nieder. Des Weiteren ging in beiden Situationen, Dimission und Tod, der soziale Wechsel oft einher mit der räumlichen Veränderung. Für die Leichenprozession ist es offensichtlich, dass mit der Strecke, die zurückgelegt wurde, symbolisch eine Schwelle überwunden wurde. 24 Diese Schwellenphase ließe sich

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Vgl. Deisenroth, Karlheinz: Der Bornstedter Friedhof in Potsdam. Militärisches Zeremoniell und Totenkult als Faktor gesellschaftlicher Reputation. In: Kroener, Bernhard R. (Hrsg.): Potsdam. Staat, Armee, Residenz in der preußisch-deutschen Militärgeschichte. Berlin/Frankfurt a.M. 1993, S. 323-343; ders.: Märkische Grablege im höfischen Glanze. Der Bornstedter Friedhof zu Potsdam. 2. erw. Aufl., Berlin 2003; mit der Wehrpflicht kam das Bedürfnis nach Denkmälern für einfache Soldaten auf. Vgl. Koselleck, Reinhart/Jeismann, Michael (Hrsg.): Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne. München 1994. Den Abschied rechtfertigte er mit Selbstzweifeln. Vgl. Vierhaus, Rudolf: Heinrich von Kleist und die Krise des Preußischen Staates um 1800. In: Kleist-Jahrbuch 1980, S. 9-33. Vgl. Frie, Ewald: Herrschaftsstäbe, Adelskreise und des Königs Rock. Vom Bestattungsverhalten der brandenburgischen Nobilität im 18. Jahrhundert. In: Hengerer, Mark (Hrsg.): Macht und Memoria. Begräbniskultur europäischer Oberschichten in der Frühen Neuzeit.

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mit der Reise des Offiziers auf seine Güter parallel setzen. 25 Zugleich existierte bei den Zeitgenossen beim Abschied wie beim Tod die Idee der Rückkehr. Nach dem Ableben kehrten die nicht zur Ruhe gekommenen Seelen als Wiedergänger zurück; entlassene Offiziere konnten erneut in das Heer eintreten. Eine Fallstudie über den Offizier Friedrich August Ludwig von der Marwitz, der nach seiner ersten Dimission 1802 wieder eintrat, würde die dafür notwendigen Handlungsakte veranschaulichen. 26 Dass es sich beim militärischen Abschied nicht um einen „militärischen Tod“ handelte, verdeutlicht vor allem die fehlende Trennungsphase, welche erst durch den direkten Vergleich von Abschied aus dem Militär und Begräbniszeremonien greifbar wird. Während bei der Bestattung – selbst in der Aufklärung und im Rationalismus – eine Zeremonie die Herauslösung des Menschen aus seinem sozialen Kontext symbolisierte, lassen sich beim Militär beim Verlassen der Armee bzw. des Offizierkorps keine Übergangsriten nachweisen. Diese Negativmeldung schließt Eid, Gebet, Fahnen, Waffen ein sowie andere Handlungen und Dinge, wie sie teils aus einer Bestattung mit militärischen Ehren bekannt sind: Kanonenschläge und Prozessionen. 27 Ebenso wenig fand über die Kleidung eine klare und endgültige Trennung statt. Bei zeitlichen wie räumlichen Grenzüberschreitungen konnte die Kleidung als Symbol des Körpers dessen Gegenwart ersetzen und das Dasein verlängern. 28 Die Uniform behielten viele Offiziere nach ihrer Dienstzeit, wenn hier auch ein gesonderter Bitt- und Zustimmungsakt erfolgen musste. 29 Darüber, wie über die Erwirtschaftung des Lebensunterhaltes entschied der Monarch, der unzählige Verordnungen zu Pensionszahlungen, Zivilstellen

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Köln u.a. 2005, S. 291-315; Beschreibung der Beerdigung des Feldmarschalls Jakob Keiths. In: Berlinische Nachrichten von Staats- und Gelehrten Sachen vom 06. Februar 1759. Bei der weiteren Erforschung könnten sich Parallelen mit dem Abschiedsmoment von Auswanderern zeigen. Vgl. Pelc, Ortwin: Verabschiedung von Auswanderern in bildender Kunst und Fotografie. In: Gestrich, Andreas (Hrsg.): Zurückbleiben. Der vernachlässigte Teil der Migrationsgeschichte. Stuttgart 2006 (= Stuttgarter Beiträge zur historischen Migrationsforschung 6), S. 49-76. Vgl. Frie, Ewald: Friedrich August Ludwig von der Marwitz 1777-1837. Biographien eines Preußen. Paderborn u.a. 2001, bes. S. 159-168. Reglement für die Kürassier- und Dragoner-Regimenter der Königlich-Preußischen Armee. De Dato Berlin, den 6. Febr. 1796, Theil 10, Tit. XIV („Wie die Officiers, Unterofficiers und Gemeinen begraben werden sollen.“), S. 271-277; Stein, Hans-Peter: Symbole und Zeremoniell in deutschen Streitkräften vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Bonn 1984 (= Entwicklung deutscher militärischer Tradition 3), bes. S. 273-275. In Anlehnung an die Projektionsfläche des „politischen Körpers“ des Königs vgl. Kantorowicz, Ernst Hartwig: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters. 2. Aufl., München 1994. Publicandum, das Recht auserwählte Offiziere a.D. betreffend, weiterhin Uniform zu tragen, vom 01. Februar 1787, Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz.

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und Invalidität erließ. Jedoch mehr als die damit verbundenen bürokratischen Verfahren interessiert hier die anthropologische Dimension, genauer: der Umgang mit der „verlassenen“ sozialen Gruppe. Die verlassene Gemeinschaft musste mittels exkludierender Riten vor einer möglichen Destabilisierung bewahrt werden. Diese lassen sich bei Tod und Begräbnis nachweisen, etwa in Form der Sakramente, der Ansprache des Geistlichen und Ähnlichem. Daneben konstituierte sich die verlassene Gemeinschaft durch Rituale neu, wie von den Handwerkerzünften bekannt ist. 30 Dagegen kam es beim militärischen Abschied nicht zu Körperberührungen oder Emotionen der Zurückgelassenen, wie es beim Tod in Leichenpredigten dargestellt wurde. 31 Formen der Trauer sowie des Gedenkens fehlen ebenso wie rituelle Reaktionen einer entlassenden und einer aufnehmenden Gemeinschaft. Bereits diese Befunde geben wenig Anlass, die militärische Dimission als Übergangsritual zu begreifen. Das zentrale Argument gegen eine solche Deutung lautet jedoch: Es fehlte der Dimission eine wie auch immer geartete Öffentlichkeit. 32 Im Rahmen des militärischen Abschieds fand im 18. Jahrhundert weder eine Mahlzeit noch eine andere gemeinschaftliche Zeremonie statt, deren Beschreibung erhalten ist. Aber gleichzeitig zeugen von der rituellen Form von Offiziersbestattungen Reglements und Zeitungsberichte. Dort wurden mit der Anzahl der Kanonenschläge der Verstorbene und bei der Prozession die Zurückgelassenen den Stufen der sozialen Hierarchie zugeordnet. So wurde die kurze Zeit einer instabilen sozialen Ordnung überbrückt. 33 Die Reflexion der Grenzüberschreitung gilt als ein wesentlicher Teil eines Rituals. 34 Es gab zwar Handlungsmuster beim Abschied der Offiziere, aber es gab keine als feierliche und sakrale Handlungen verstandenen Zeremonien. 30

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Vgl. Löffler, Peter: Studien zum Totenbrauchtum in den Gilden, Bruderschaften und Nachbarschaften Westfalens vom Ende des 15. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Münster 1975. Etwa Raabe, George Erdmann: Ehrenvoller Lebens-Lauff Sr. Excellence, des sel. Herrn Friedrichs, Reichs Frey-Herrn von Derfflinger, Sr. Königl. Majestät in Preussen Hochbestallten General-Lieutenants bey Dero Cavallerie Obristen über ein Regiment Grenadiers zu Pferde, Erb-Herrn auf Guso, Platko, Wulcko, Hermersdorff, Cleßin, Schildberg, Theeren, Kercko und Krause-Eiche. Berlin 1724. Vgl. Schlögl, Rudolf: Politik beobachten. Öffentlichkeit und Medien in der Frühen Neuzeit. In: Zeitschrift für Historische Forschung 35 (2008), S. 581-616. Etwa Beschreibung des Leichenzuges von Friedrich Christoph von Saldern. In: Berlinische Nachrichten von Staats- und Gelehrten Sachen vom 24. März 1785 und Königlich-privilegirte Berlinische Staats- und gelehrte Zeitung (Vossische Zeitung) vom 17. März 1785. Vgl. Stollberg-Rilinger 2004 (wie Anm. 4), S. 517-522; Althoff, Gerd: Beratungen über die Gestaltung zeremonieller und ritueller Verfahren im Mittelalter. In: Stollberg-Rilinger 2001 (wie Anm. 9), S. 53-71.

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Die Autobiographien lassen darauf schließen, dass der militärische Abschied von den Verabschiedeten nur eingeschränkt reflektiert wurde. Zugleich lassen sich einzelne Indizien für eine einsetzende „Ritualisierung“ ausmachen: Von den Zeitgenossen wurden Dimissionen vereinzelt in Zeitungen reflektiert. 35 Es könnte deshalb gemutmaßt werden, dass im 19. Jahrhundert im Kontext der „Invention of Tradition“ 36 ein „Evolutionsprozess“ militärischer Rituale einsetzte. 37

Ein vorläufiges Fazit Abschließend lässt sich auf die Frage nach dem rituellen Charakter der beiden Formen des Abschieds antworten: Es lassen sich im Rahmen von „Grenzüberschreitungen“ von Angehörigen der sozialen Gruppe „Offiziere“ spezifische rituell-performative Züge nachweisen, vor allem im Zusammenhang mit Bestattungen. Diese erlauben es, Rituale und Performanz der „Militärgesellschaft“ zum Forschungsgegenstand zu erheben. Demgegenüber deutet vieles darauf hin, dass der militärische Abschied im Vergleich mit den Zeichenhandlungen und Inszenierungen beim Tod keine biographische Grenzüberschreitung darstellte. Die Trennung von der militärischen Gemeinschaft ohne deren Beteiligung sowie die fehlende Reflektion deuten auf eine primär funktionale Loslösung hin. Immerhin konnte gezeigt werden, dass die Rezeption von van Genneps Theorie der Übergangsriten auch für das frühneuzeitliche Militär neue Perspektiven eröffnet, welche soziale Dynamiken und soziale Grenzen des Militärs deutlicher sichtbar werden lassen. Der Vergleich zwischen Dimission und Begräbnis sensibilisiert für die Abweichungen der militärischen Abschiedsformen vom Übergangsritual Bestattung. Die Unterschiede lassen erkennen, dass die Entlassung aus der Armee weder die Vorwegnahme des Todes noch ein „militärischer Tod“ war. Die Analogie von Abschied und Tod funktioniert nicht uneingeschränkt. Der Tod war in der frühneuzeitlichen Vorstellung zweifelsfrei die Überschreitung

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Etwa Abschied des Leutnants von Treskow. In: Königlich-privilegirte Berlinische Staatsund gelehrte Zeitung (Vossische Zeitung) vom 2. Juni 1787. Vgl. Hobsbawm, Eric/Ranger, Terence O. (Hrsg.): The Invention of Tradition. 7. Aufl., Cambridge 2009. Vgl. Euskirchen, Markus: Das Zeremoniell der Bundeswehr. Banalisierung von Staatsgewalt durch Militärrituale. In: Thomas, Tanja/Virchow, Fabian (Hrsg.): Banal Militarism. Zur Veralltäglichung des Militärischen im Zivilen. Bielefeld 2006, S. 187-202; ders.: Militärrituale. Analyse und Kritik eines Herrschaftsinstruments. Köln 2005.

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Angela Strauß

einer Grenze, die durch Rituale vergegenwärtigt und gleichzeitig konstruiert wurde – der militärische Abschied (noch) nicht. 38 Die Wirkungsmacht der Handlung ist beim militärischen Abschied grundsätzlich zu erkennen. Doch die für Übergangsriten notwendigen rituellen Sequenzen waren unvollständig. Ihr Fehlen lässt sich auf verschiedene Erklärungsansätze zurückführen, die empirisch zu prüfen wären. Gemäß dem Ansatz von van Gennep ließe sich das Fehlen von Abschiedsritualen dahingehend deuten, dass bei der Dimission die verlassene soziale Gruppe – das Regiment – nicht „destabilisiert“ wurde, so dass keine stabilisierenden Rituale erforderlich waren. Dies ließe wiederum den Schluss zu, dass der König für den Abschied nehmenden Offizier im Vergleich zu dem eigenen Regiment das wichtigere soziale Gegenüber darstellte 39 – im Unterschied etwa zum 19. Jahrhundert, als die militärische Einheit zunehmend als Organisation mit der Tendenz zu einer sozialen Vergemeinschaftung erscheint, die auch den Offizier einbezog. Zugleich wäre gedanklich mit einer „relativen Herauslösung“ aus der Militärgesellschaft zu experimentieren. Hierfür stehen ebenfalls detaillierte Untersuchungen von einzelnen Abschiedssituationen aus. Die Einbindung des Menschen in das Militär und die Überschneidung von Rollen im Militär und in der Zivilgesellschaft lösten in der Militärgeschichte immer wieder die Frage nach der Militarisierung der Gesellschaft aus, 40 auch dieses Problem könnte ein Rückgriff auf ethnologische Überlegungen reformulieren helfen.

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39 40

Vgl. Dörk, Uwe: Memoria und Gemeinschaft. Städtische Identitätskonstruktion im Totenkult. Drei Bestattungen in Bern und Ulm. In: Schlögl, Rudolf (Hrsg.): Interaktion und Herrschaft. Die Politik der frühneuzeitlichen Stadt. Konstanz 2004, S. 517-561; Weller, Thomas: Das Begräbnis des Bürgermeisters. Städtische Begräbniskultur, Trauerzeremoniell und soziale Repräsentation im frühneuzeitlichen Leipzig. In: Füssel, Marian/Weller, Thomas (Hrsg.): Ordnung und Distinktion. Praktiken sozialer Repräsentation in der ständischen Gesellschaft. Münster 2005 (= Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 8), S. 75-101. Vgl. Büschel, Hubertus: Untertanenliebe. Der Kult um deutsche Monarchen 1770-1830. Göttingen 2006. Vgl. Winter, Martin: Untertanengeist durch Militärpflicht? Das preußische Kantonsystem in brandenburgischen Städten im 18. Jahrhundert. Bielefeld 2005 (= Studien zur Regionalgeschichte 20). Widerlegt, aber immer noch stark rezipiert, ist Büsch, Otto: Militärsystem und Sozialleben im Alten Preußen 1713-1807. Die Anfänge der sozialen Militarisierung der preußisch-deutschen Gesellschaft. Berlin 1962.

GRENZEN DER NACHBARSCHAFT

INKEN SCHMIDT-VOGES/SIEGRID WESTPHAL

Nachbarn und Nachbarschaft Grenzräume und Grenzerfahrung in der sozialen Ordnung frühneuzeitlicher Gemeinden

In Krünitz’ Oeconomischer Encyklopädie wurde 1805 der Nachbar definiert als „jemand der zunächst an uns wohnt, sich zunächst neben uns aufhält. Personen, welche neben uns sitzen, oder ihre Zimmer neben dem unsrigen haben, heißen in dieser Rücksicht unsere Nachbarn. Personen, deren Häuser an einander stoßen, oder nicht weit von einander entlegen sind, heißen Nachbarn. Mein Kirchennachbar, welcher in der Kirche neben mir sitzt. Auch Personen, deren Grundstücke an einander gränzen, werden in dieser Rücksicht Nachbarn genannt.“1

Grenzen und Nachbarschaft gehören als Themen eng zusammen: Nachbarn sind Nachbarn, weil eine gemeinsame Grenze ihr jeweiliges Eigentum voneinander scheidet; wo Grenzen gezogen werden, finden sich Nachbarn. Es sind aber nicht nur lineare räumliche Grenzen, die hier angesprochen sind, vielmehr verweist die Krünitz’sche Definition auch auf soziale und kulturelle Grenzen, wenn sie etwa die Sitzordnung in der Kirche anspricht. Nachbarn in Nachbarschaften definieren sich aber nicht nur über gemeinsam geteilte Grenzen, sie bilden vor allem Beziehungsgefüge innerhalb dieser Grenzen, die durch Normen, Werte, Zeichen, Symbole und Rituale reguliert werden. Diese Beziehungsgefüge konstituieren sich in physischen, sozialen, kulturellen und rechtlichen Räumen, die ihrerseits eingebunden sind in Netzwerke und Räume von Familien, Freundschaften, Gemeinden und Obrigkeiten. Insbesondere in frühneuzeitlichen Städten verdichteten sich diese Räume, Grenzen und Netzwerke zu einer immensen Komplexität,2 die sie prädestinieren für das Ausloten der Funktionen von Grenzen, Grenzsetzungen und Grenzüberschreitungen in den dynamischen sozialen Ordnungsprozessen. 1

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Art. „Nachbar“. In: Oeconomische Encyklopädie oder allgemeines System der Stadt-, Staat-, Haus- und Landwirthschaft in alphabetischer Folge von D. Johann Georg Krünitz. Bd. 99. Berlin 1805, S. 679. Vgl. Wunder, Heide: Zur Einführung. Grenzen und Grenzüberschreitungen. Leipzig im 17. und 18. Jahrhundert. In: dies. (Hrsg.): Jedem das Seine. Abgrenzungen und Grenzüberschreitungen im Leipzig des 17. und 18. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. 2000 (= Zeitsprünge 4), S. 285-289, hier S. 287.

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Räume und Grenzen bestimmen die Wahrnehmungsmuster der Akteure, die soziale Räume und deren konstitutive Normen und Praktiken ganz eng mit den objektivierten physischen Räumen verbinden. 3 Verhaltensweisen, Praktiken und Rituale finden ihre Grenzen also nicht nur im Kontext zustimmender oder ablehnender Reaktionen, sondern ganz maßgeblich auch in den Bezügen physischer Räumlichkeit. Die Normen und Werte, Verhaltensweisen, Entscheidungen über Inklusion und Exklusion waren dabei nur zu einem Teil obrigkeitlich gesetzt und durchgesetzt, es ließ sich auch ein erhebliches Maß an sozialer Selbstregulierung im Rahmen nachbarschaftlichen Mit- und Gegeneinanders finden, durch die Grenzen und Räume immer wieder neu definiert, hinterfragt, angepasst, wiederhergestellt und gefestigt wurden – nicht immer in Übereinstimmung mit den obrigkeitlichen Normen. 4 Wenngleich diese Verortung der Nachbarschaft zwischen politischen und sozialen Ordnungsgefügen in vielen mikrohistorischen, sozialhistorischen und historisch-anthropologischen Studien hervorgehoben wird, 5 ist das Bild von Nachbarschaft in der frühneuzeitlichen Forschung erstaunlich fragmentarisch geblieben. Es finden sich zwei monographische Untersuchungen, die sich den sozialen Ordnungsdynamiken und -funktionen von Nachbarschaft in frühneuzeitlichen Städten widmen: Etwa zur gleichen Zeit untersuchten David Garrioch und Jeremy Boulton in der Mitte der 1980er-Jahre Pariser Nachbarschaften in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bzw. Londoner Quartiere im 17. Jahrhundert. 6 3 4

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Vgl. Bourdieu, Pierre: Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum. In: Wentz, Martin (Hrsg.): Stadt-Räume. Die Zukunft des Städtischen. Frankfurt a.M. 1991, S. 25-34. Vgl. Hoffmann, Carl A.: Nachbarschaften als Akteure und Instrumente der sozialen Kontrolle in urbanen Gesellschaften des Sechzehnten Jahrhunderts. In: Schilling, Heinz (Hrsg.): Institutionen, Instrumente und Akteure sozialer Kontrolle und Disziplinierung im frühneuzeitlichen Europa. Institutions, Instruments and Agents of Social Control and Discipline in Early Modern Europe. Frankfurt a.M. 1999, S. 187-202; ders.: Social Control and the Neighborhood in European Cities. In: Roodenburg, Herman/Spierenburg, Pieter (Hrsg.): Social Control in Europe. Vol. 1. 1500-1800. Columbus 2004, S. 309-327. Vgl. z.B. Foucault, Michel/Farge, Arlette: Le désordre des familles. Lettres de cachet des Archives de la Bastille au 18e siècle. Paris 1982; Klapisch-Zuber, Christiane: Women, Family and Ritual in Renaissance Italy. Chicago 1986; Briggs, Robin: Witches and Neighbours. The Social and Cultural Context of European Witchcraft. London 1996; Heidegger, Maria: Soziale Dramen und Beziehungen im Dorf. Das Gericht Laudegg in der frühen Neuzeit – eine historische Ethnographie. Innsbruck 1999; Capp, Bernard: When Gossips Meet. Women, Family and Neighbourhood in Early Modern England. Oxford 2003; Hardwick, Julie: Family Business. Litigation and the Political Economies of Daily Life in Early Modern France. Oxford 2009. Vgl. Boulton, Jeremy: Neighbourhood and Society. A London Suburb in the Seventeenth Century. Cambridge 1987 (unveränderter Nachdruck 2005); Garrioch, David: Neighbourhood and Community in Paris. 1740-1790. Cambridge 1986. Vgl. ferner bereits zum Spätmittelalter Sutter, Pascale: Von guten und bösen Nachbarn. Nachbarschaft als Beziehungsform im spätmittelalterlichen Zürich. Zürich 2002.

Nachbarn und Nachbarschaft

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Für das Gebiet des Alten Reiches sind einzelne Aufsätze zu verzeichnen, die sich mit der Bedeutung der Nachbarschaft als sozialer Formation und ihrer Bedeutung für politische Ordnungsprozesse auseinandersetzen. So hat beispielsweise Paul Münch 1984 im Zusammenhang mit der Kirchenzucht auf die Bedeutung der Nachbarschaft als übergreifende, zwischen Familie und Gemeinde eingeschobene Sozialgruppe mit zahlreichen Funktionen verwiesen, gleichzeitig aber betont, dass das Thema Nachbarschaft erstaunlicherweise noch nicht von der deutschen Geschichtswissenschaft entdeckt worden sei. 7 1991 bemängelte Robert Jütte im Kontext stadtgeschichtlicher Forschungen, dass das Thema Nachbarschaft – im Unterschied zu einigen angrenzenden Disziplinen wie der Rechtsgeschichte, der Volkskunde, der Soziologie oder der Sozialgeographie – in der Geschichtswissenschaft wenig Beachtung gefunden habe. 8 1994 widmete sich schließlich Heinrich-Richard Schmidt im Zusammenhang mit der Konfessionalisierungsforschung einer stärkeren Konturierung dessen, was Nachbarschaft bedeutete. Nachbarschaft sei demnach als ethischer Wert zu bezeichnen, der Begriffe wie Liebe, Friede, Freundschaft und Einigkeit beinhalte. Die Wiederherstellung der guten Nachbarschaft, die „Pazifizierung des Dorfes“, sei im Streitfall das Hauptziel der Obrigkeit gewesen, ohne dass dafür eigene Normen notwendig gewesen wären. 9 Martin Dinges betonte 1994 dagegen am Beispiel von Injurienklagen vor dem Pariser Polizeikommissar im 18. Jahrhundert die große Bedeutung der Ehre bei Nachbarschaftskonflikten und ihre Instrumentalisierung zur Diskreditierung unliebsamer Nachbarschaft. 10 Abgesehen von diesen Aufsätzen fehlen jedoch umfassendere Forschungen zur Nachbarschaft. Erst in jüngster Zeit scheint sich die deutsche Frühneuzeitforschung wieder intensiver damit zu beschäftigen, wobei der Fokus auf rechtsgeschichtlichen Aspekten, insbesondere dem Nachbarschaftskonflikt, liegt. 2007 hat Christine Schedensack am Beispiel des frühneuzeitlichen Münster Rechtsstreitigkeiten zwischen Nachbarn um Haus und Hof unter7

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Vgl. Münch, Paul: Kirchenzucht und Nachbarschaft. Zur Sozialen Problematik des Calvinistischen Seniorats um 1600. In: Zeeden, Ernst Walter/Lang, Peter Thaddäus (Hrsg.): Kirche und Visitation. Beiträge zur Erforschung des frühneuzeitlichen Visitationswesens in Europa. Stuttgart 1984 (= Spätmittelalter und Frühe Neuzeit 14), S. 216-248. Vgl. Jütte, Robert: Das Stadtviertel als Problem und Gegenstand der frühneuzeitlichen Stadtgeschichtsforschung. In: Blätter für deutsche Landesgeschichte 127 (1991), S. 235269. Vgl. Schmidt, Heinrich Richard: Pazifizierung des Dorfes. Struktur und Wandel von Nachbarschaftskonflikten vor Berner Sittengerichten 1570-1800. In: Schilling, Heinz (Hrsg.): Kirchenzucht und Sozialdisziplinierung im frühneuzeitlichen Europa. Berlin 1994 (= Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 16), S. 91-128. Vgl. Dinges, Martin: Der Maurermeister und der Finanzrichter. Ehre, Geld und soziale Kontrolle im Paris des 18. Jahrhunderts. Göttingen 1994.

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sucht, wobei Fälle des Nachbarrechts im Zentrum stehen. 11 Die jüngst abgeschlossene Dissertation von Hendrikje Carius widmet sich dem Nachbarrecht aus der Perspektive der Eigentumskultur, Eric Piltz untersucht korporativ verfasste Nachbarschaften in frühneuzeitlichen Städten. 12 Bündelt man den jetzigen Stand der Forschungen, dann sind unter Nachbarn – wie bereits bei Krünitz angedeutet – die Nächstwohnenden zu verstehen, deren Wohnungen, Häuser, Äcker oder andere Grundstücke aneinandergrenzen. „Nachbarschaft“ besitzt dabei einen dreifachen Bedeutungsgehalt: 1. handelt es sich um einen lokalen Personenverband in nicht institutionalisierter oder institutionalisierter, mit Rechtsbefugnissen ausgestatteter Form, die mehrere Häuser, Straßen, ein Stadtviertel oder gar ein ganzes Dorf umfassen konnte. 2. bezieht sich Nachbarschaft auf eine topographische Nähe, die nicht freiwillig ist. 3. bezeichnet Nachbarschaft das Verhältnis der Nachbarn untereinander, wobei die Qualität dieses Verhältnisses schon in der Frühen Neuzeit mit „guter“ oder „böser Nachbarschaft“ umschrieben wurde. So besteht der größte Teil des Artikels „Nachbarschaft“ in Zedlers Universal-Lexicon aus einem Verhaltenskodex für den Hausvater, um Neid und Feindschaft seiner Nachbarn zu entgehen. Als wichtigste Maßregel wurde ihm mitgegeben, „daß weder von ihm selbst, noch von seinen Bedienten und Haußgenossen der Nachbarschafft sich über ihn zu beschweren und ihm gehäßig zu seyn, die geringste Ursach […] gegeben werde“. 13 Während böse Nachbarschaft mit den Worten „lieblos“, „Verdruß verursachen“, „Schaden zufügen“ und „Schadenfreude“ umschrieben wird, wird gute Nachbarschaft mit Liebe und Freundschaft, Mitleid und Hilfe in der Not, das Beste im Sinne haben und aufrichtige Freude über das Wohlergehen verbunden. In diesen Begriffen spiegeln sich die konstitutiven Normen des sozialen Raumes, so dass „Nachbarschaft den wechselseitigen Zusammenhang zwischen sozialer und räumlicher Organisation von Gesellschaft so konkret, so elementar und so unmittelbar erfahrbar macht, wie kaum ein anderer Typ 11

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Vgl. Schedensack, Christine: Nachbarn im Konflikt. Zur Entstehung und Beilegung von Rechtsstreitigkeiten um Haus und Hof im frühneuzeitlichen Münster. Münster 2007 (= Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Münster NF 24). Vgl. die Beiträge in diesem Band und Carius, Hendrikje: Recht durch Eigentum. Eigentums- und Besitzrechtskonflikte vor dem Jenaer Hofgericht (1648-1806). Diss. phil. Jena 2010. Der Beitrag von Hanna Sonkajärvi (Duisburg/Essen) über organisierte Nachbarschaften in Gent konnte hier leider nicht abgedruckt werden; die Beiträge von Eric Piltz und Hendrikje Carius wurden dafür als Ergänzungen aufgenommen. Grosses Universal-Lexicon der Künste und Wissenschaften, hrsg. von Zedler, Johann Heinrich. Bd. 23. Leipzig 1749, Sp. 54.

Nachbarn und Nachbarschaft

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persönlicher Beziehungen“ – wie es der Stadtsoziologe Bernd Hamm formulierte. 14 Zugleich war Nachbarschaft ein „Typus sozialer Beziehungen, die Einzelpersonen und Gruppen aufgrund ihrer räumlichen Nähe durch die gemeinsame Bindung an einen Wohnort eingehen.“ 15 Diese sozialen Beziehungen sind es, die in der Frühen Neuzeit sehr viel existenzieller als heute für die Bewältigung der Herausforderungen des Alltags, aber auch in Problem- und Krisensituationen aktiviert wurden; sie sind der Hintergrund, auf dem Unterstützung, Integration und Rückhalt gewährt wurden, die aber auch soziale Kontrolle, Konflikte und Belastungen mit sich brachten. Nachbarschaft eröffnete also einen Handlungsspielraum für „gute“ und „böse“ Nachbarn. Auch wenn man keine Sympathien für einander hegte, so waren doch die gegenseitigen Verpflichtungen und Erwartungen klar umrissen. Wie weit diese Handlungsspielräume in die anderen Netzwerke von Ehe, Haus, Familien, Zünften etc. hinein reichen konnten und durften, dafür gab es Grenzen. Diese Grenzen aber waren größtenteils latent, d.h. sie waren nicht permanent sichtbar und präsent – und ob gegebenenfalls eine bestimmte Handlung oder Verhaltensweise als grenzüberschreitend wahrgenommen wurde, war situativ durchaus interpretierbar. Grenzüberschreitungen traten aufgrund des hohen Konfliktpotenzials eines so komplexen wie heterogenen Beziehungsgeflechts meistens im Zusammenhang mit Auseinandersetzungen auf. Drei Typen von Grenzen, die eng mit den unterschiedlichen räumlichen Bezügen zusammenhängen, scheinen dabei für den Interaktionsraum „Nachbarschaft“ von besonderer Bedeutung gewesen zu sein. 1. Grenzen des physischen Raumes: Häuser, Wohnungen und Höfe waren nicht frei zugänglich, das Übertreten der Hausschwelle setzte immer das Einverständnis der Hausherren voraus. Wenngleich eine gewisse Zugänglichkeit in den vorderen Räumen und Werkstätten oft als unausgesprochene Selbstverständlichkeit galt, war das unerwünschte Betreten oder das zu weit reichende Eindringen in die Häuser der Nachbarn eine klar formulierte Grenzüberschreitung. 16 Das war der Fall, wenn Nachbarn in innerhäusliche Konflikte eingriffen oder im eigenen Hause Schutz gewährten. Aber auch eskalierende Auseinandersetzungen zwischen Nachbarn im Hause wurden als Grenzüberschreitung und Hausfriedensbruch erfahren. Die Nutzung gemein14 15 16

Hamm, Bernd: Nachbarschaft. In: Häußermann, Hartmut (Hrsg.): Großstadt. Soziologische Stichworte. Opladen 1998, S. 172-181, hier S. 172. Günther, Julia: Nachbarschaft und nachbarschaftliche Beziehungen. In: Lenz, Karl (Hrsg.): Handbuch Persönliche Beziehungen. Weinheim/München 2009, S. 445-463, hier S. 447. Vgl. zu diesem Komplex etwa Eibach, Joachim: Das Haus. Zwischen öffentlicher Zugänglichkeit und geschützter Privatheit (16.-18. Jahrhundert). In: Schwerhoff, Gerd/Rau, Susanne (Hrsg.): Zwischen Gotteshaus und Taverne. Öffentliche Räume in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Köln 2004, S. 183-205.

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samer Anlagen, wie Brunnen, Straßen, Höfe, Plätze, und des Lichtes führte ebenfalls zu nachbarlichen Grenzüberschreitungen. 2. Soziale Grenzen: Soziale Grenzen bestimmten nachbarschaftliches Interagieren vor allem im Zusammenhang mit den bereits angesprochenen anderen sozialen Netzwerken, in die Nachbarn eingebunden waren. Manche Nachbarschaften waren berufsgruppenbezogen sehr homogen, manche in ihrer Sozialstruktur stark durchmischt. Verwandtschaftliche und berufliche Netzwerke konnten innerhalb der Nachbarschaft überschritten, verfestigt oder überwunden werden.17 3. Normative Grenzen: Institutionell verankerte Nachbarschaften, die in Städten in das politische Gefüge eingebunden waren, unterlagen dem städtischen Normensystem, wobei es in der Regel zu Abgrenzungsprozessen und einem immer wieder neuen Aushandeln von Herrschaft zwischen den politischen Akteuren in den Städten kam. Aber auch das dichte Gefüge sozialer Praktiken, Erwartungen und Voraussetzungen bestimmten den performativen Charakter dieser räumlich strukturierten „Grenzverhandlungen“ in der alltäglichen Daseinsbewältigung.18 Ausgangspunkt der hier versammelten Beiträge ist die Annahme, dass die Grenzen innerhalb nachbarschaftlicher Beziehungen oftmals, genau wie die Beziehungen selbst, latent waren, das heißt, sie traten nicht offen zu Tage. Erst im Konfliktfall wurde deutlich, dass eine Grenze überschritten worden war, erst im Konfliktfall wurde auch manifest, wer wie in die Nachbarschaft integriert war, wem Unterstützung gewährt oder versagt wurde. Erst durch Grenzüberschreitungen und die dadurch notwendigen Grenzziehungen konstituierte sich also Nachbarschaft. Grenzen und Grenzräume waren nicht statisch und gesetzt, sie waren „umstritten“,19 „porös“20 und erlangten erst in ihrer Sichtbarmachung durch Überschreitung ihre Gültigkeit. 17

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Vgl. Kroll, Stefan: Stadtgesellschaft und Krieg. Sozialstruktur, Bevölkerung und Wirtschaft in Stralsund und Stade 1700 bis 1715. Göttingen 1997; Wilbertz, Gisela: Familie, Nachbarschaft und Obrigkeit. Soziale Integration und Loyalitätskonflikte im Leben des Lemgoer Scharfrichters David Clauss d.Ä. In: dies. (Hrsg.): Biographieforschung und Stadtgeschichte. Lemgo in der Spätphase der Hexenverfolgung. Bielefeld 2000, S. 247-307; KlapischZuber 1986 (wie Anm. 5), S. 68-93. Vgl. hierzu etwa die Studien von Roodenburg, Herman: Reformierte Kirchenzucht und Ehrenhandel. Das Amsterdamer Nachbarschaftsleben im 17. Jahrhundert. In: Schilling 1994 (wie Anm. 9), S. 129-151; ders.: Social Control Viewed from Below: New Perspectives. In: Roodenburg/Spierenburg 2004 (wie Anm. 4), S. 145-158; ders.: Inzest in der Nachbarschaft. Strategien und Reaktionen in einem ärmeren Viertel Haarlems. In: Mohrmann, Ruth-Elisabeth (Hrsg.): Städtische Volkskultur im 18. Jahrhundert. Köln 2001, S. 99-111. Füssel, Marian: Umstrittene Grenzen. Zur symbolischen Konstitution sozialer Ordnung in einer frühneuzeitlichen Universitätsstadt am Beispiel Helmstedt. In: Hochmuth, Christian/Rau, Susanne (Hrsg.): Machträume der frühneuzeitlichen Stadt. Konstanz 2006, S. 171191, hier S. 171.

Nachbarn und Nachbarschaft

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Grenzen, Grenzräume, Grenzerfahrungen und Grenzüberschreitungen eignen sich demnach in ganz besonderer Weise, die Ambivalenzen in der sozialen Konstruktion, Wahrnehmung und Deutung von Nachbarschaft sowie nachbarschaftlicher Praktiken und Verhaltensmuster herauszuarbeiten. Damit wird es nicht nur möglich, die komplexen Funktionen und Netzwerke der Nachbarschaft, wie sie Rita Voltmer zusammengefasst hat, 21 analytisch greifbar zu machen und in die stadträumlichen Bezüge einzubinden. Umgekehrt mag dieser Zugang über die Nachbarschaft aber auch Aspekte zur Funktion und Gestaltung von Grenzen beitragen, deren Uneindeutigkeit, Mehrdimensionalität und Aushandlungscharakter gerade für die Epoche der Frühen Neuzeit immer wieder betont wurde. 22 Für den städtischen Raum im 18. Jahrhundert zeigen die Beiträge das Ineinandergreifen der physischen, sozialen und normativen Räume der Nachbarschaft, indem die Überschreitung sozialer und normativer Grenzen auf vielfältige Weise an der Überschreitung physischer Grenzen sichtbar gemacht wird. Stefan Kroll setzt sich anhand eines breiten Quellenkorpus mit nachbarschaftlichen Beziehungsgefügen im Stadtraum der Hansestädte Stade und Stralsund auseinander. Soziale Räume öffneten und festigten sich hier durch Heiraten oder Patenschaften, die sich aus der unmittelbaren Nähe im physischen Raum des Wohngebietes ergaben, und durch weitere Beziehungsebenen, etwa der Verwandtschaft oder Berufsgenossenschaft, gefestigt werden konnten. Zugleich wurde dieser physische Raumbezug aber durch Umzüge innerhalb der Stadt immer wieder aufgebrochen. Damit verschoben sich jedoch nicht nur die sozialen Räume einzelner Akteure, auch der Stadtraum konnte sich nachhaltig verändern, wenn dadurch die Sozialstruktur einzelner Nachbarschaften beeinflusst wurde oder neue Nachbarschaften vor den Mauern entstanden. Eric Piltz vermag anhand einer Analyse der Funktionen korporierter Nachbarschaften in den Kleinstädten Coesfeld und Andernach die internen 20 21 22

Chase, Jeanne: Porous Boundaries and Shifting Borderlands. The American Experience in a New World Order. In: Reviews in American History 26 (1998), S. 54-69, hier S. 54. Vgl. Voltmer, Rita: Art. „Nachbarschaft“. In: Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 8. Stuttgart 2008, Sp. 1007-1009. Vgl. etwa Lottes, Günther: Frontiers between Geography and History. In: Ellis, Steven G. (Hrsg.): Frontiers and the Writing of Histories. 1500-1850. Hannover 2006, S. 37-46; Vogler, Günter: Borders and Boundaries in Early Modern Europe. Problems and Possibilities. Ebd., S. 21-36; Marchal, Guy P.: Grenzerfahrung und Raumvorstellungen. Zur Thematik. In: ders. (Hrsg.): Grenzen und Raumvorstellungen. Frontières et conceptions de l’espace. Zürich 1996 (= Clio lucernensis 3), S. 11-26; François, Etienne: Grenzen und Grenzräume. Erfahrungen und Konstruktionen. In: ders. (Hrsg.): Die Grenze als Raum. Erfahrung und Konstruktion. Deutschland, Frankreich und Polen vom 17. bis zum 20. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 2007, S. 7-29.

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Abgrenzungs- und Integrationsstrategien zu verdeutlichen. Sie verstanden sich selbst als soziale Gemeinschaft gegenseitigen Schutzes und gegenseitiger Hilfe, verfügten über Gemeinschaft stiftende Elemente, wie das gemeinsame Mahl, hielten Wahlen für eine Vertretungskörperschaft ab und hinterließen eigene Quellen in Form von Protokollbüchern. Als bedeutend erscheinen dabei der ausgeprägte Organisationsgrad der Nachbarschaften sowie die Konstruktion von gestufter Zugehörigkeit zur Gemeinschaft über das Haus. Inken Schmidt-Voges untersucht die Grenzziehungspraktiken zwischen „Haus“ und „Nachbarschaft“ anhand von Konfliktfällen, in denen das bewusste und vorsätzliche Überschreiten physischer Grenzen (Türschwelle) thematisiert wurde. Dieses wurde in der Regel damit begründet, dass im Vorfeld soziale und normative Grenzen überschritten worden waren – sei es, dass Nachbarn in eskalierende innerhäusliche Konflikte eingriffen oder aber bestimmte Dienstleistungen und Erwartungen von anderen Nachbarn nicht erfüllt und vehement eingefordert wurden. Hendrikje Carius zeigt in einer Analyse von nachbarrechtlichen Konfliktfällen, in welchen semantischen Zusammenhängen gerichtliche Auseinandersetzungen um Grenzüberschreitungen und -ziehungen standen. Nachbarschaftskonflikte wurden dabei gerichtsstrategisch als justiziable Eigentumskonflikte formuliert, um Rechtsbedarf auf Eigentumsschutz zu legitimieren. Die Konfliktregulierung vor Gericht bot dabei den Akteuren eine Option, vor dem Hintergrund physischer und normativer Grenzverletzungen über die Qualität von Eigentum immer auch die Qualität der Nachbarschaft an sich auszuhandeln.

ERIC PILTZ

Vergemeinschaftung durch Anwesenheit Sozialräumliche Grenzen der Nachbarschaft in Andernach und Coesfeld

Nachbarschaft als räumlich definierte Korporation 1589 verordnete der Rat der Stadt Andernach, die Stadt in „vier theill und Fendtlein“ zu teilen. 1 Diese klassische Vierteilung der Stadt ist auch im westmünsterländischen Coesfeld anzutreffen. 2 Hier waren es die sogenannten Kluchten, 3 die im Verwaltungsapparat der Stadt zur Organisation der Stadtverteidigung, 4 der Feuerabwehr und der Ratswahl benutzt wurden. 5 Neben der funktionalen und administrativen Gliederung der Stadt in Viertel existier1

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Ratsprotokolle der Stadt Andernach. Staatsarchiv Koblenz 612/2003, S. 402. Die Einteilung diente der Notdurft und in Kriegsfällen der Verteidigung; vgl. Bau- und Polizeiordnung der Stadt Andernach im 16. Jahrhundert. Stadtarchiv (StA) Koblenz 612/1997; 2/2918. Der Beitrag ist Teil meines laufenden Dissertationsprojektes „Der gemeine Nachbar. Organisation, Gemeinschaft und Konflikt in der frühneuzeitlichen Stadt“ bei Prof. Gerd Schwerhoff an der TU Dresden. Allgemein zur Einteilung des Stadtraums vgl. Rogge, Jörg: Viertel, Bauer- und Nachbarschaften. Bemerkungen zu Gliederung und Funktion des Stadtraumes im 15. Jahrhundert. In: Puhle, Matthias (Hrsg.): Hanse – Städte – Bünde. Die sächsischen Städte zwischen Elbe und Weser um 1500. Bd. 1. Magdeburg 1996, S. 231-240. Große, Kleine, Pinxter und Jakobi-Klucht. Die im Folgenden mehrfach erwähnte Große Viehstraße lag in der Großen Klucht, die am dichtesten bewohnt war. Vgl. zur Sozialstruktur Coesfelds Ditt, Hildegard/Kirchhoff, Karl-Heinz: Struktur und Raumbeziehungen der Stadt Coesfeld im 16. Jahrhundert. Untersuchungen zur Zentralität einer westfälischen Mittelstadt. In: Westfälische Forschungen 25 (1973), S. 1-58; für Andernach Krüger, Hans Jürgen: Andernach in neuerer Zeit (16.-18. Jahrhundert). In: Heyen, Franz-Josef (Hrsg.): Andernach. Geschichte einer Stadt. 2. Aufl., Andernach 1994, S. 97-136. Vgl. Bestimmung, wo die Bürgerrotten der Stadtkluchten bei nächtlicher Kriegsgefahr sich sammeln sollen (um 1400). In: Darpe, Franz: Coesfelder Urkundenbuch. Coesfeld 1906, II. Teil, S. 144. Vgl. Frohne, Ludwig: Nachbarschaften – Kluchten. In: Damberg, Norbert (Hrsg.): Coesfeld 1197-1997. Beiträge zu 800 Jahren städtischer Geschichte. Bd. 2. Münster 1999, S. 1285-1297, hier S. 1293. Aus den Kluchten wurden acht Männer gewählt, die Wahlmänner für die Ratswahl wählten. Der Anteil der Nachbarschaften an administrativen Aufgaben stellt einen wichtigen Aspekt der weiteren Untersuchung der Nachbarschaften dar, muss aber hier mit Blick auf die internen Integrations- und Exklusionspraktiken ausgeblendet werden.

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Eric Piltz

ten in Andernach und im westfälischen Coesfeld in der Frühen Neuzeit zusätzlich Nachbarschaften als eine substädtische Struktur, die man als infraadministrativ bezeichnen könnte, da sie sich als autochthon gewachsen und nicht städtisch verordnet verstanden. 6 Zugleich aber nahmen sie policeyliche Aufgaben wahr, von der Straßenreinigung, der Versorgung der Brunnen, 7 dem Feuerschutz bis zur Regelung kleiner Streitigkeiten. 8 In ihrer korporierten oder organisierten Gestalt wird hier Nachbarschaft als eine Form von substädtischer Gemeinschaftsbildung sichtbar, die für das Funktionieren einer Stadt essentiell war, da sie zugleich hochintegrativ und sozial exklusiv wirken konnte, ja den alltäglichen Lebensbereich des Einzelnen bestimmte. 9 Bei der Untersuchung dieser Form der Nachbarschaftsorganisation treten die zentripetalen Aspekte der nachbarschaftlichen Gemeinschaft stärker in den Vordergrund. Wer nach den Grenzen dieser Nachbarschaft fragt, muss demnach nach den Praktiken der Gemeinschaftsbildung fragen, durch die sich die Nachbarschaft als solche definierte, und nach den Kriterien, die über Zugehörigkeit und Ausschluss entschieden. 6

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Der Vergleich der Städte wird durch die umfangreiche Überlieferung der Protokollbücher der Nachbarschaften ermöglicht; siehe unten, Anm. 12. Der korporierte Nachbarschaftstypus findet sich im westfälisch-westmünsterländischen Raum und in mittelrheinischen Gebieten. Ebenso anzutreffen ist er in größeren Städten in den Niederlanden. Hier liegen Einzeluntersuchungen vor zu Gent und Leiden. Vgl. Ruland, Josef: Nachbarschaft und Gemeinschaft in Dorf und Stadt. Formen auf dem Vorderhunsrück, auf dem Maifeld und in der Stadt Andernach. Düsseldorf 1963; Krins, Franz: Nachbarschaften im westlichen Münsterland. Münster 1952 (= Schriften der Volkskundlichen Kommission 10); Walle, Kees: Buurthouden. De geschiedenis van burengebruiken en buurtorganisaties in Leiden (14e-19e eeuw). Leiden 2005; Deceulaer, Harald: Stadsbestuur en buurtbewoners in Gent. Interactie, participatie, en publieke opinie, 1658-1668. In: Bijdragen en mededelingen betreffende de geschiedenis der Nederlanden 110 (1995), S. 3-26. Die Nutzung der Brunnen bot auch Anlass zum Zwist zwischen Nachbarschaften: 1715 stellte die Nachbarschaft der Oberen Kirchgasse in Andernach fest, dass sie ebenso wie die angrenzende Quirinus-Nachbarschaft berechtigt ist, den Brunnen zu nutzen, nachdem sie dafür 2 Reichstaler gezahlt habe. In: Nachbarbuch Obere Kirchgasse, Andernach, Privatbesitz (o. Pag.). Zur Bedeutung der Brunnen als Versammlungsort vgl. Schmid, Wolfgang: Brunnen und Gemeinschaft im Mittelalter. In: Historische Zeitschrift 267 (1998), S. 561586, hier S. 573. In Zürich spielten die Brunnen für die Nachbarschaften eine eher geringe Rolle, dazu Malamud, Sibylle/Sutter, Pascale: Existenziell, repräsentativ, konfliktbeladen. Öffentliche Brunnen im spätmittelalterlichen Zürich. In: Rippman, Dorothee u.a. (Hrsg.): „... zum allgemeinen statt nutzen“. Brunnen in der europäischen Stadtgeschichte. Trier 2008, S. 89-106. Vgl. Schedensack, Christine: Formen der außergerichtlichen gütlichen Konfliktbeilegung. Vermittlung und Schlichtung am Beispiel nachbarrechtlicher Konflikte in Münster (16001650). In: Westfälische Forschungen 47 (1997), S. 643-668. Gemeinschaft sollte hier nicht im emphatischen, sondern eher im Sinne des englischen community-Begriffs verstanden werden. Vgl. Lynch, Katherine A.: Individuals, Families, and Communities in Europe, 1200–1800. The Urban Foundations of Western Society. Cambridge 2003.

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Die Bildung einer nachbarschaftlichen Gemeinschaft vollzog sich in Andernach und Coesfeld über Organisation, geregelte Mitgliedschaft, Vertretungskörperschaft, Sanktionsformen und vergemeinschaftende Rituale, die Selbstdefinition als Hilfs- und Schutzvereinigung und das Fortschreiben einer Eigengeschichte. Sie definierte sich zunächst über strikte räumliche Grenzen, die den geographischen Raum einer Nachbarschaft an Hauptstraßen, Nebenstraßen und einzelnen Häusern bestimmten. Diese Formen der städtischen Kommunität und die damit verbundenen Praktiken der Vernachbarschaftlichung sind für den deutschsprachigen Raum nur partiell untersucht worden, 10 während zu nachbarrechtlichem Konfliktaustrag und -regulierung kriminalitäts- und rechtshistorische Arbeiten vorliegen. 11 Die Fragen der Gemeinschaft und der Vernachbarschaftlichung lassen sich aus diesem Blickwinkel und aufgrund der zur Verfügung stehenden Quellen nur schwer beantworten. Die beiden katholischen Kleinstädte (mit bischöflichem Landesherrn in Münster bzw. Köln) bieten jedoch aufgrund ihrer vergleichbaren stadträumlichen Organisation und der seltenen Überlieferungslage nachbarschaftlicher Eigenquellen eine hervorragende Möglichkeit, diese Lücke zumindest teilweise zu schließen. Anhand der Andernacher und Coesfelder Nachbarschaftsbücher, bei denen es sich im engeren Sinne um Protokollbücher der korporierten Nachbar-

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Robert Jütte hatte erneut für eine Stadtteilgeschichte plädiert in: Das Stadtviertel als Problem und Gegenstand der frühneuzeitlichen Stadtgeschichtsforschung. In: Blätter für deutsche Landesgeschichte 127 (1991), S. 235-269. Vgl. Schultze, Johannes: Die Stadtviertel. Ein städtegeschichtliches Problem. In: Blätter für deutsche Landesgeschichte 92 (1956), S. 18-39. Herman Roodenburg hat darauf hingewiesen, dass „den Übereinstimmungen zwischen Gilden, Bruderschaften und Nachbarschaften, insbesondere den gemeinsamen Werte[n] ‚Einigkeit‘, ‚Brüderlichkeit‘ und ‚Freundschaft‘ als Ausdruck eines spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Vergemeinschaftungsideals, größere Aufmerksamkeit geschenkt werden“ müsste (Roodenburg, Herman: „Freundschaft“, „Brüderlichkeit“ und „Einigkeit“. Städtische Nachbarschaften im Westen der Republik. In: Dekker, Ton u.a. [Hrsg.]: Ausbreitung bürgerlicher Kultur in den Niederlanden und Nordwestdeutschland. Münster 1991 [= Beiträge zur Volkskultur Nordwestdeutschlands 74], S. 10-24, hier S. 12). Beispielhaft genannt seien Eibach, Joachim: Frankfurter Verhöre. Städtische Lebenswelten und Kriminalität im 18. Jahrhundert. Paderborn 2003, S. 266-279; Schedensack, Christine: Nachbarn im Konflikt. Zur Entstehung und Beilegung von Rechtsstreitigkeiten um Haus und Hof im frühneuzeitlichen Münster. Münster 2007 (= Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Münster NF 24); Schwark, Thomas: „… darmit nachbarliche Eynichkeit mochte erhalten werden.“ Nachbarschaftskonflikte und gerichtliche Quellen zum Nachbarschaftsrecht der Stadt Lemgo zwischen 1590 und 1620. In: Mohnhaupt, Heinz/Simon, Dieter (Hrsg.): Vorträge zur Justizforschung. Geschichte und Theorie. Frankfurt a.M. 1993, S. 131-146. Für einen Überblick über die disparate Forschungslandschaft siehe Piltz, Eric: Dresdner Auswahlbibliographie zur Nachbarschaft in der Vormoderne (URL: http://rcswww.urz.tu-dresden.de/~frnz/Bibliographien/Bibliographie_Nachbarschaft.pdf, Stand: 19.02.2010 [letzter Zugriff: 31.03.2010]).

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schaften handelt, 12 können die sozialen Integrations- und Exklusionspraktiken nachvollzogen werden, die sich aus der räumlichen Verfasstheit und den sozialen nachbarschaftlichen, in Statuten geregelten Normen ergeben. Vermerkt wird hierin in mindestens jährlichem Abstand die namentliche Anwesenheit der Nachbarn bei der Versammlung, der Ort derselben, die Wahl des „Vorstandes“, Abgänge und Neuaufnahmen, der Verzehr an Wein oder Bier und die Zahlung der Beiträge. Weiterhin geben sie Auskunft über Konflikte um die Aufnahme neuer Nachbarn oder den Ausschluss aufgrund unnachbarlichen Verhaltens, die Verhängung von Bußgeldern, Hinweise auf Anordnungen des Rates sowie besondere Vorkommnisse z.B. bei Besetzung der Stadt. Die Nachbarschaft verstand sich als ehrbare Gemeinschaft, die, wie Robert Jütte allgemein für das Quartier betont, das soziale Kapital der Ehre kontrollierte. 13 Mithilfe der Nachbarschaftsbücher werden die vielfach beschworenen Inklusions- und Exklusionsmechanismen auf einer substädtischen Ebene strukturell beobachtbar.

Das Haus als innere und äußere Grenze Den Anlass des Protokolls stellen die alljährlichen Treffen der Nachbarschaft dar, die zumeist an Fastnachtsabend (fastelavend) abgehalten wurden. 14 Anhand der Einträge wird deutlich, dass noch zu Beginn des 17. Jahrhunderts nicht die gesamte Nachbarschaft versammelt war, sondern die Vollnachbarn, die über das Bürgerrecht der Stadt verfügten. 15 Als der 1720 in die Anderna12

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„Nur diese“, so sagt es die ältere Volkskunde, „sind geeignet ein fast lückenloses Bild von dem Leben und Treiben und der Bedeutung dieser Vereinigung in älterer Zeit zu geben.“ (Sommer, Jakob: Westfälisches Gildewesen mit Anschluß der geistlichen Brüderschaften und Gewerbsgilden. In: Archiv für Kulturgeschichte 7 [1909], S. 393-476, hier S. 445). Im Stadtarchiv Coesfeld (StA Coe) werden Bücher der folgenden Nachbarschaften verwahrt: Große Viehstraße, Mühlennachbarschaft, Schafsnachbarschaft, Walkenbrückenstraße, Süringstraße, Kuchenstraße. Ein Überblick über die tatsächliche Überlieferung der Andernacher Nachbarschaftsbücher wird dadurch erschwert, dass ein Großteil der Bücher im Besitz der noch heute existierenden Nachbarschaften ist. Acht Bücher mit Protokollen vor 1800 konnten bislang erfasst werden: Eisengasse, Hochstraße, Obere Kirchgasse, Schafbach, Kramgasse, Quirinus-Nachbarschaft, Wollgasse, Steinweg-Nachbarschaft. Für die Hilfe beim Zugang zu den Büchern danke ich Wolfgang P. Fischer. Vgl. Jütte 1991 (wie Anm. 10), S. 259. Zum sozialen Kapital der Ehre siehe Dinges, Martin: Der Maurermeister und der Finanzrichter. Ehre, Geld und soziale Kontrolle im Paris des 18. Jahrhunderts. Göttingen 1994 (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 105). Vgl. StA Coe VII 5/1, Große Viehstraße 1607, S. 14: Verabredung, das Nachbartreffen auf Johannis stattfinden zu lassen. Das Statut der Andernacher Steinweg-Nachbarschaft schrieb vor: „Ehe und bevor Mann zu Elextion eines Neuen Hern ambtmans schreidet, soll niemandt mehr in dem gemach

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cher Quirinus-Nachbarschaft gezogene Johan Feils abgewiesen wurde „aus Ursachen, das derselb noch kein Bürger“ sei, so geschah dies mit dem Hinweis, dass er „auch vorm Jahr […] aus der Statt deswegen gebotten worden“ war, bis er „beßer qualificiert“ sei. 16 Unterschieden werden muss somit zwischen dem Treffen der Vollnachbarn, das den konstitutiven Kreis der Gemeinschaft rituell erneuerte, und offeneren, vor allem auf Geselligkeit abgestellten Nachbarschaftsfesten, die Ende des 18. Jahrhunderts auch die räumliche Abgrenzung als Zutrittskriterium aufweichten. 17 Jegliche Form der Geselligkeit war ein essentieller Bestandteil funktionierender Nachbarschaft, auch für nicht-institutionalisierte Nachbarschaften, wie Pascale Sutter für Zürich festgestellt hat, wenngleich sie für die Bedeutung der Kommensalität, also des gemeinsamen Essens und Trinkens, anhand ihrer Quellen kaum Einzelheiten rekonstruieren kann. 18 Orte der nachbarlichen Soziabilität, die in den Protokollen begegnen, waren Brunnen, Straßen, Wirtshäuser, vornehmlich jedoch die Häuser der Nachbarn selbst. 19 Im Statut der Andernacher Hochstraßennachbarschaft von 1640 heißt es: „Soll daß Verzaben Järlich zur Fastnachtzeit unther den in der Nachbarschaftlich Wohnenden Wirthen, welche im Bezirk der Nachbarschaft wohnen, Nach der reihe umgehen, selber hat für eine geraume Stube

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seyn, alß der zeitliche Her Nachbaarliche Schultheis scheffen und sambtliche Nachbaaren.“ In: Der löblicher Steinweger Nachbahren Lagerbuch oder Prothocollum, Privatbesitz, 1667 (o. Pag.). Stadtarchiv Andernach, Nachbarschaftsbuch Quirinus-Nachbarschaft, 1720 (o. Pag.). Vgl. dazu Loth, Julien/Verger, Charles (Hrsg.): Mémoires de l’Abbé Baston Chanoine de Rouen d’après le manuscit original. Tome II: Années d’exil 1792-1803. Paris 1899. Vgl. Sutter, Pascale: Von guten und bösen Nachbarn. Nachbarschaft als Beziehungsform im spätmittelalterlichen Zürich. Zürich 2002, S. 107-123, hier S. 119f. Sie kann anhand von normativen Bestimmungen und Gerichtsprotokollen Aspekte der Zürcher Festkultur feststellen. So trafen sich die Bewohner der Vorstadt Sihl an Fronleichnam „zu einem gemeinsamen Festessen vor einem Haus in der Nachbarschaft“, am Fastnachtsdienstag war es Brauch, sich gegenseitig zu besuchen und ein „kuechli“ vorbeizubringen. Zu Orten nachbarschaftlicher Soziabilität vgl. Eibach, Joachim: Das Haus. Zwischen öffentlicher Zugänglichkeit und geschützter Privatheit (16.-18. Jahrhundert). In: Schwerhoff, Gerd/Rau, Susanne (Hrsg.): Zwischen Gotteshaus und Taverne. Öffentliche Räume in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Köln 2004, S. 183-205; Farge, Arlette: Vivre dans la rue à Paris au XVIIIe siècle. Paris 1979. Für Paris hat David Garrioch zudem hervorgehoben, dass die Form nachbarlicher Soziabilität im Haus bzw. in der Wohnung stark vom sozialen Status bestimmt war. Bei einfachen Leuten sei die Präsenz von Nachbarn bei Feiern und privaten Einladungen generell höher gewesen als bei wohlhabenderen Bewohnern. Die Soziabilität zu Hause verstärkte die Nachbarschaftsbindung, vor allem für Frauen, die von den Weinschänken ausgeschlossen waren. Der individuelle Faktor, ob eine Person, gemessen an Alter und Geschlecht, etabliert und angesehen war, spielte im Gegensatz zur Großstadt mit mehrstöckigen Häusern und Mietparteien für den klein- und mittelstädtischen Bereich, wie ich ihn hier vorstelle, eine geringere Rolle. Vgl. Garrioch, David: Neighbourhood and Community in Paris. 1740-1790. Cambridge 2002, S. 171.

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zu sorgen und für guten Wein.“ 20 Die Praxis war in Coesfeld die gleiche, wenn auch hier Bier der Treibstoff der Geselligkeit und zugleich Zahlungsmittel war. 21 Auf dem Gelach (Andernach) oder Zech (Coesfeld) vollzogen sich die Neuaufnahmen ebenso wie die Wahlen eines regulären Nachbarschaftsvorstands. 22 Den Charakter üppiger Festmahlzeiten werden diese Versammlungen von Coesfeld oder Andernach, anders als in einigen gebuurten in Leiden, für die sogenannte Kasboeken überliefert sind und beredte Auskunft geben, wohl nicht erreicht haben. 23 Das nachbarliche Gelage wurde stets reihum von den Erbnachbarn ausgerichtet, worunter diejenigen gefasst sind, die im Besitz eines Erbhauses waren, was auch auf Frauen zutreffen konnte, solange sie das Haus nicht weitervererbten. So vermerkt ein Eintrag im Nachbarschaftsbuch der Coesfelder Kuchenstraße, dass sich 1620 die Nachbarn geeinigt hätten, dass Witwer und Witwen, solange sie im Haus wohnten und Nachbarrecht ausübten, verpflichtet seien, wie ein regulärer Nachbar zu bezahlen. 24 Letztlich war es der Status des Hauses, der über den Status des Nachbarn in der Nachbarschaft bestimmte. Waren einzelne Bürger im Besitz mehrerer Grundstücke und Erbhäuser, so gelangten die Mieter in das Recht zur Teilnahme. 25 Die Nachbarschaftsgemeinschaft kannte somit eine Art gestufter Mitgliedschaft, die zwischen Vollnachbarn mit Bürgerrecht und Hausbesitz, den Mietlingen in Erbhäusern und den Miet- und Heuerlingen in Gademen, auf Etagen oder in Hinterhöfen unterschied. Letztere hatten kein

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Nachbarschaftsbuch Hochstraße, Privatbesitz (o. Pag.). Zur sozialen und rituellen Bedeutung des gemeinsamen Trinkens siehe Schwerhoff, Gerd: Das Gelage. Institutionelle Ordnungsarrangements und Machtkämpfe im frühneuzeitlichen Wirtshaus. In: Melville, Gert (Hrsg.): Das Sichtbare und das Unsichtbare der Macht. Institutionelle Prozesse in Antike, Mittelalter und Neuzeit. Köln 2005, S. 159-176 und Kümin, Beat: Drinking matters. Public Houses and Social Exchange in Early Modern Central Europe. Basingstoke 2007. Bestehend aus Amtmann, Schultheiß, Schöffen in Andernach, in Coesfeld neben dem Amtmann und Schöffen, zwei Provisoren. In beiden Städten gibt es den Gerichts- bzw. Protokollschreiber und den Knecht der Nachbarschaft. Vgl. Wijsman, Marieke: Samen sterk. De Leidse gebuurten in de zeventiende eeuw (Doctoraalscriptie Universiteit Leiden). Leiden 2001 (unveröffentlicht), S. 29-33. StA Coe II/201, Nachbarschaftsbuch der Kuchenstraße 1620 (o. Pag.); ebenso MarkNachbarschaft, zit. nach Sommer 1909 (wie Anm. 12), S. 447: „1604 hebben sich die Nabern voreynigett unde beslaten sampt den Wedefrouwens“. „Demnegst hatt Msr. Gerwin den Nachburn eine verehrungh gethaen, also daß auf interzession gutter leute unnd wegen seines dienstlichn erbietend seine behausung von den semptlichn Nachburn zum erbhauß in die Nachburschaft auf unnd angenommen, mit dem bescheide, daß er in der ordnungh den Nachburn dienen unnd vullthuen solle, auch sonsten sich verhalten, wie andere erbnachpurn.“ (Coesfeld, Kleine Viehstraße 1611, zit. nach Sommer 1909 [wie Anm. 12], S. 447).

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Wahlrecht, zählten aber dennoch zur nachbarschaftlichen Gemeinschaft gegenseitigen Schutzes und gegenseitiger Hilfe. 26 Die legitimierende Funktion des Hauses wird noch deutlicher bei der Übertragung des Erbhauses an den Sohn, für den damit unmittelbar das Recht auf volle Mitgliedschaft in der Nachbarschaft einherging, für die er freilich noch ein Einstandsgeld zu zahlen hatte. Die Kopplung nachbarlicher Pflichten und Abgaben an das Haus konnte dazu führen, dass ein nachfolgender Besitzer die Schulden seines Vorgängers, der wegen nicht geleisteter Dienste entnachbart worden war, begleichen musste. 27 Das Haus – so könnte man anhand dieser Beispiele zugespitzt resümieren –, nicht die Person konstituierte die Nachbarschaft, die sich in sozialen Verbindungen konkretisierte. 28 Als am 5. Juli 1722 die Herren Nachbarn der Großen Viehstraße in Coesfeld ihren gewöhnlichen „Zech“ hielten, trafen sie sich im Hause des Bürgers Henrich Sücking. Der Schreiber vermerkte im Nachbarschaftsbuch, dass allerdings jemand anderes an der Reihe gewesen wäre, die Nachbarn zu bewirten: Die Witwe des Juden Isaac. 29 Die Nachbarn mieden das Haus der jüdischen Witwe mit dem Hinweis, man würde in der „Schefferey“ (d.i. die Zusammenkunft der Schöffen) hauptsächlich christliche Geschäfte machen; „die wirdtschaft“ aber zahlte dennoch „obgemelte judinne mit 3 Reichstahler“. 30 Ohne voreilige Schlussfolgerungen für die soziale Integration der jüdischen Witwe zu ziehen, fällt zunächst auf, dass sie als Teil der Nachbarschaft der Großen Viehstraße angesehen wurde. 31 Der Verweis auf die christlichen Geschäfte deutet darauf hin, dass bewusst davon Abstand genommen wurde, das Nachbarzehren in einem Hause stattfinden zu lassen, in dem wahrscheinlich rituelle Handlungen durchgeführt wurden, denn Abraham Isaac, und an-

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So hatte die Große Viehstraße 1586 beschlossen, dass die Heuerlinge der Gademe „nicht der Nachburschaft in Vastabend nur Zech, Zehren und Drunck mitt geneißen sollen“. (Coesfeld, Große Viehstraße 1586, zit. nach Sommer 1909 [wie Anm. 12], S. 446). Vgl. Coesfeld, Kronennachbarschaft 1620, vgl. Krins 1952 (wie Anm. 6), S. 33-38. Zur Praxis der Entnachbarung siehe folgender Abschnitt. Vgl. Morsel, Joseph: Les logiques communautaires entre logiques spatiales et logiques catégorielles (xiie-xve siècles). In: Bulletin du centre d’études médiévales d’Auxerre, hors série 2 (2008) (URL: http://cem.revues.org/index10082.html [letzter Zugriff: 31.03.2010]). StACoe VII 5/1, S. 140. Für das Jahr 1720 sind Isaac Abrahams, Moyses Jacobs, Abraham Isaac und eben Wittib Isaac als jüdische Familienvorstände verzeichnet. Vgl. Aschoff, Diethard: Minderheit in Coesfeld. Die Juden. In: Damberg 1999 (wie Anm. 5), S. 11431214, hier S. 1153. StACoe VII 5/1, S. 140. Es ist wahrscheinlich, dass nachbarschaftliche Pflichten wie Wegearbeiten auch für Juden galten. Für schwäbische Dörfer wurde festgestellt, dass Juden zumindest teilweisen Zugang zum Gemeindeeigentum besaßen. Vgl. Ullmann, Sabine: Nachbarschaft und Konkurrenz. Juden und Christen in Dörfern der Markgrafschaft Burgau 1650-1750. Göttingen 1999, S. 386f. (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 151).

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schließend dessen Sohn Isaac Abraham, waren die Gemeindevorsteher. 32 1748 findet sich ein ähnlicher Fall in dieser Nachbarschaft, wobei der Jude 16 Stüber zahlte, um aufgenommen zu werden. Auch hier fand die Feier in einem anderen Hause statt. In beiden Fällen ist aber die soziale Grenze nicht überformt von der räumlich-organisationalen. Die räumliche Fixierung der Nachbarschaft zeitigte vielmehr soziale Vermittlungsprobleme. Dies zeigt sich auch in anderen Fällen, in denen Scharfrichtern die Mitgliedschaft streitig gemacht oder Geistlichen angelastet wird, sich der Pflichten zu entziehen. 33 Der soziale Status des Nachbarn, die über den Hausbesitz bereits nachgewiesene Integration in die Stadtgemeinde und der aktive Vollzug der nachbarlichen Pflichten gingen dabei Hand in Hand.

Ausschluss und Austritt Waren die Grenzen der Nachbarschaft zunächst durch die räumlichen Vorgaben und den Hausbesitz definiert, bedurfte die nachbarliche Gemeinschaft doch einer permanenten Stabilisierung, gegebenenfalls unter dem Ausschluss von Nachbarn. Die Andernacher und Coesfelder Nachbarschaften hatten keine gerichtliche Handhabe gegen diejenigen, die sich unnachbarlich verhielten. Ein Ausschluss aus den räumlichen Grenzen der Nachbarschaft, vergleichbar mit dem Stadtverweis, war nicht praktikabel. Einen Nachbarschaftsverweis in diesem Sinne gab es nicht. Was aber praktiziert wurde, war der Ausschluss aus dem sozialen Raum der Nachbarschaft. Als Gemeinschaft gegenseitigen Schutzes und gegenseitiger Hilfe war sie auf den Einbezug aller Nachbarn angewiesen. Verstieß ein Nachbar gegen die in den Statuten festgelegten Regeln, legte unnachbarliches Verhalten an den Tag, indem er andere Nachbarn beleidigte, oder zahlte seine verpflichtenden Beiträge nicht, konnte er entnachbart werden. Wer zur Nachbarschaft nicht tauge, der solle mit Bewilligung der sämtlichen Nachbarn „Excludiert und utgesloßen syn und bliewen.“ 34 1611 auf Johannis trifft dies Margrete ten Velthuis, da sie sich nicht mit den Nachbarn vertragen habe; man schloss sie mitsamt ihrem Schwager aus. Bereits am Sonntag nach Mariae Heimsuchung wurde sie auf Bitten ihres älte-

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Für den Hinweis danke ich Norbert Damberg. StA Coe Schafsnachbarschaft VII 20/1, S. 23-27; Stadtarchiv Andernach, Nachbarschaftsbuch Quirinus-Nachbarschaft, 1702; 1721 (o. Pag.). Nachbarschaftsbuch Große Viehstraße, 1582, zit. nach Steinem, Albert: Über die Geschichte der „Nachbarschaft große Viehstr.“ in Coesfeld. In: Heimatblätter für das NordMünsterland 8 (1925), S. 1f., hier S. 1.

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ren Schwagers wieder aufgenommen und begnadigt. 35 Der Zeitraum von Johannis bis Mariae Heimsuchung beläuft sich lediglich auf wenige Tage. 36 Der Ausschluss, so eindeutig er auch in den Statuten formuliert wurde, war und konnte zu keinem Zeitpunkt endgültig sein, sondern kann zum einen als Teil der kleinstädtisch-nachbarlichen Anwesenheitskontrolle verstanden werden. Der hohe Inklusionsdruck wiederum ist aus der Organisationsstruktur erklärlich. 37 1730 wird im Protokollbuch der Quirinus-Nachbarschaft in Andernach vermerkt, dass Johann Christian Veit von der löblichen Nachbarschaft von „Fewer undt Liecht sambt allen nachbahrlichen Nutzen“ ausgeschlossen werde. 38 Dies solle solange gelten, „biß er 2 Viertel Wein, er der Nachbarschafft vor die Unnützigkeit, so er bey den Nahbahrn gebraucht hat, gezallet hat“. Die Ambivalenz nachbarlicher Sozialkontrolle, die einerseits als sehr eng und als Ausdruck einer durch Anwesenheit getragenen Interaktionsgesellschaft gelten kann, andererseits einer eigenen formalrechtlichen Kontrollinstanz entbehrte, zeigte sich kurz darauf. Veit weigerte sich, den Betrag zu zahlen, und habe vielmehr „die angesetzte Straffe verlacht undt sich impertun auffgefürt“. Daraufhin „riservirt“ sich die Nachbarschaft eine weitere Strafe „vor die erzeigte Impertuniteten“. Überdies beleidigte er den Nachbarn Dinckhel, indem er ihn einen „Cujon“ nannte, was von zwei weiteren Nachbarn bezeugt wird. Einem Nachbarn, der seinen nachbarlichen Pflichtanteil nicht gezahlt hat, wird also eine Strafe auferlegt, die dieser mit einer Verbalinjurie kontert. Über die Motive und Ursachen der Auseinandersetzung erfahren wir nichts. Aber ein pikantes Detail in der Angelegenheit ist, dass der Beleidigte eben erst zum neuen nachbarlichen Gerichtsschreiber, also zum Protokollführer, ernannt worden war, während Veit, dessen Beruf als „Wagener“ angegeben wird, gerade ein Jahr zuvor „alß newer Nachbahr eingestanden“ und in der gleichen Wahl, die Dinckhel zum Schreiber machte, zum Nachbarschaftsknecht ernannt worden war. Am 22. Februar 1730 findet sich Veit nun „bey den gehaltenen Nachbahrn Geboht“ ein. Ein Vergleich mit der Nachbarschaft wird herbeigeführt, indem 6 Maß Wein „zur Straff denen großgünstichen Nachbahren zu verzehren geben“. Das symbolische Zahlungsmittel Wein dient der Aufnahme eines neuen Nachbarn und sollte auch Veit

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StA Coe VII 5/1, S. 22f. Die Begnadigung sprach Hindrik Potgeiters aus, der als Provisor fungierte. Vom 24. Juni bis zum 2. Juli. Probleme gab es in Leiden z.B. bei der Zugehörigkeit neuer Gebäude und der Gründung neuer Nachbarschaften, vgl. Walle 2005 (wie Anm. 6), S. 69. Stadtarchiv Andernach, Nachbarschaftsbuch Quirinus-Nachbarschaft, 1730, (o. Pag.). Folgende Zitate ebd. Ob Veit eventuell mit dem bereits 1720 erwähnten Johan Feils identisch ist, lässt sich nicht feststellen.

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wieder in die Gemeinschaft integrieren. 39 Anstatt dass er sich „mit der Nachbahrschafft in Güten will abfinden undt hinfihro in Friedt und Einigkeit leben“, ist Veit aber „ohne Adiu stillschweigendt von der Nachbahrschafft abgegangen.“ Ein Grund für die Halsstarrigkeit des Nachbarn mag darin zu suchen sein, dass er das niedere Amt des Knechts, das ihm als zuletzt eingetretenem Nachbarn zukam, ablehnte. 40 Die Nachbarschaft selbst sah sich aber zum Handeln gezwungen und beschloss, dass für den Abtrünnigen Feuer und Licht samt allem nachbarlichen Nutzen abgesetzt werde. Dies bedeutet, dass Veit aus dem Netz nachbarlicher Hilfe ausgeschlossen wurde. Doch scheint die Option der Wiederaufnahme gegeben, denn die Sanktion galt nur, „solang, biß er die reservirte Straff wirdt abermahlen abgelegt haben“. Über den weiteren Verlauf des Streits wird nichts berichtet. Ein Jahr später wird allerdings vermerkt, dass gewesener „Nachbahr Knecht Johan Christian Veit hatt abgedanckt“, 41 was insofern verblüfft, als nach den Vorfällen ein Jahr zuvor kein neuer Knecht gewählt worden und folglich Veit im Amt, ob tätig oder untätig, verblieben war. Zumindest ist Veits Schuld 1731 von ihm „mit 10 Plaffert zahlt worden“. 42 So war es nicht die faktische Sanktionsgewalt der Nachbarschaft, die hier wirksam wurde, sondern die demonstrative soziale Exklusion Einzelner. Andere Statuten bestätigen die Bedeutung von Beleidigungen als Sanktionsgrund. So verfügt die Andernacher Hochstraßennachbarschaft 1640, wenn „mit Schmereden, Gotteß lästerungk, ärgerlichen Reden, Unzeitigem Zank und Hader, dardurch die einigkeitt, Friedtlighkeit der Ehrliebenden Nachbahren zerstört wirdt, derselbe Soll unumbgängligs daß Gantze Gelach verfallen sein“. 43 Das heißt bei unnachbarlichem Verhalten folgte hier der Ausschluss vom Gelage. 44 Wer wie das Gesinde eines Scharf39

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1607 wurde in der Großen Viehstraße in Coesfeld Berndt Daldrup „aus erheblichen Ursachen entnabert“, der bei seinem Wiedereintritt sechs Schillinge Strafe zahlte, vgl. StA Coe VII 5/1, S. 14. Der Nachbarschaftsknecht hatte z.B. Botengänge zu tätigen oder für die Brunnenreinigung zu sorgen. Stadtarchiv Andernach, Nachbarschaftsbuch Quirinus-Nachbarschaft, 1730 (o. Pag.). Ebd., 1731. Stadtarchiv Andernach, Nachbarschaftsbuch Hochstraßennachbarschaft, S. 4. Ähnlich heißt es 1624 in den Statuten der Andernacher Steinweg-Nachbarschaft: „wofern einer in der Elexion er seye wer er wolle, lacht, schreiet oder andern Narrerey Treibet, der jenige solle unfehlbaar und ohne einige wider Reht mit 1 Viertel Wein gestraffet werden.“ (Extractus Prothocolli, Steinweger-Nachbarschaftsbuch, Privatbesitz [o. Pag.]). Die Regelung einer Nachbarschaft in Gent, das ebenfalls korporierte Nachbarschaften kannte, sah 1624 eine Geldstrafe für Injurien vor: „Oock soo wie inde selve ghebuerte eenighen oproer ofte kiuaige maecte t’sy man oft vrauwe ieghens synen ghebuer oft ghebuerne met iniurieuse woorden ofte andersins sal verben, ren tot profyte van ghebuerte – xii gr.“ (Ordonantie voor de Ghebuerte van St. Pharahilden plaetse, Stadsarchiv Gent BUG, G 6176, 1624 [o. Pag.]).

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richters, der 1690 in die Obere Letterstraße in Coesfeld gezogen war, aufgrund seiner Person und seines Standes bereits als infam galt, dem wurde bereits von vornherein die Fähigkeit abgesprochen, den nachbarschaftlichen Pflichten gerecht und überhaupt Teil der Nachbarschaft werden zu können. 45 Was als unnachbarlich galt, wurde zu gemeinschaftsgefährdendem Verhalten. Die Anwesenheit in einer Nachbarschaft verpflichtete dagegen zur Gemeinschaft. So erscheint es weniger verwunderlich, dass 1731 Johann Christian Veit zum neuen Schultheiß „außgesehen worden“, ein Amt, das er diesmal ohne weitere Klagen antrat. 46 1733, den 16. Februar, ist nach Abdanken des alten Schöffen „erwelt worden der hoch- und wohledeler Herr Christianuß Feidt und hatt seien Iura zahlt mitt einem Reichstahler.“ Erst 16 Jahre später dankte Veit selbst ab, wobei er „von der gantzen Nachbarschaff in allen Sachen befreiet worden“. Seine Schöffenstelle sollte er aber nach der Ordnung behalten, „als einem Jubilarius gleich“. 47 Als sich 1696 Herman Blanke in der Großen Viehstraße anmeldete, weil er in der vorigen Nachbarschaft wegen dortiger Zweifel und Streitigkeit nicht länger zu verbleiben gesinnt war, sind es „die Krizstliche Nachbahrs“, die entscheiden ihn anzunehmen, während sonst die „ehrbaren“ oder „ehrsamen“ Nachbarn genannt werden. 48 Ausschluss und Aufnahme als zentrale soziale Mechanismen zur Aufrechterhaltung der Nachbarschaft erzielten letztlich ihre Wirksamkeit aus der räumlichen Radizierung der Nachbarschaften, die den gesamten Stadtraum umfassten. 49 45

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Die Nachbarschaft lehnte daher ihre Anwesenheit bei Begräbnissen, Zahlungen der Nachbarschaft bei Treffen (Gebührstagen), Notzeiten, Krankheiten oder Auskleidung der Toten ab. Vgl. StA Coe VII 20/1, Schafsnachbarschaft, S. 24f. Der Schultheiß war das wichtigste Amt, das die Nachbarschaft für ein oder zwei Jahre zu vergeben hatte. Er vollzog innerhalb der Nachbarschaft Aufsichtsfunktionen und übte bisweilen eine Policeygewalt aus, nicht selten in enger Kooperation mit dem Rat. Zum einen ergibt sich eine plausible Erklärung, wenn man Josef Ruland folgt, der argumentiert, dass das Amt des Schultheißen in seinen Tätigkeiten das mit Abstand umfangreichste war, „so arbeitsreich, daß es mitunter auch zur Strafe gegeben wurde“. (Ruland 1963 [wie Anm. 6], S. 107). Zum anderen kann die soziale Stellung Veits in beiden Fällen Erklärung sein für die Ablehnung des Knechtsamtes und die Bekleidung des Schultheißen- und Schöffenamtes in der Folge. Stadtarchiv Andernach, Nachbarschaftsbuch Quirinus-Nachbarschaft, 1749 (o. Pag.). StA Coe VII 5/1, S. 121. Das Andernacher Nachbarschaftsbuch der Eisengässer verzeichnet einen Eintrag für 1737, bei dem Hubert Hackenbruch aus der Nachbarschaft ausgezogen ist und sich dennoch „mit den Nachbarn gehalten“ habe, was bedeutete, dass ihm wörtlich von sämtlichen Nachbarn versprochen wurde, ihn „zu halten wie wir andere Nachbarn“. (Nachbarschaftsbuch Eisengasse, Andernach, Privatbesitz, 1737 [o. Pag.]). Ob dieses Versprechen eher symbolischer Natur war, lässt sich nur durch Indizien erhärten. Zum einen war es mehr als ungewöhnlich, einen fortgezogenen Bürger als Nachbarn zu behalten, zumal dieser inner-

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Als dagegen Ende des 18. Jahrhunderts der ehemalige Domherr von Rouen, der Abbé Baston, sich als Flüchtling in Coesfeld aufhielt, strich er nicht nur die Nachbarschaften als ein gut funktionierendes soziales Kontrollsystem heraus, sondern betonte auch, wie stark die Bedeutung der Nachbarschaften als Gemeinschaft von ihrer räumlichen Begrenzung abhing. So sprach er sich dafür aus, die Zugänglichkeit zu den Nachbarschaftsfeiern nicht für fremde Nachbarn zu lockern, und erklärte dies damit, dass ein Teil der Errungenschaften dieser Institution verloren ginge, „wenn man sich zu zugänglich zeigt, und durch die Verbindung mit den anderen Stadtteilen haben die Mitglieder des einzelnen Bereiches untereinander weniger Zusammenhalt. Außerdem wird, wenn man alle zuläßt, die sich einfinden, die geschlossene Gesellschaft eine ganze Gemeinde. Nimmt man aber eine Auswahl vor, so erregt man Eifersucht, und der Schaden ist größer als der Gewinn.“50

Die durch die räumliche Struktur der Nachbarschaft klar definierte Zugehörigkeit kollidierte hier mit einer öffentlichen Form der Geselligkeit und deutet eine Entgrenzung der Nachbarschaften und eine Auflösung des Primats nachbarschaftlicher Vergemeinschaftung an.

Fazit: Grenzen der Nachbarschaft Nachbarschaft in ihrer korporierten Form kann als ein sozialer Raum aufgefasst werden, der sowohl einen lokalen Personenverband von Nachbarn, topographische Nähe als auch das Verhältnis von Nachbarn selbst umfasste.51 Verliefen die Nachbarschaften Andernachs und Coesfelds auch ähnlich wie Stadtviertel und Policeyquartiere entlang klarer räumlicher Grenzen, bedurften sie als Nachbarschaftsgemeinschaft immer wieder aufs Neue einer sozialen Vermittlung und Aktualisierung. Zum einen konstituierte das Haus und dann erst die Person die Nachbarschaft in ihrer Verfasstheit als Organisation. Zum anderen entschied der zum Teil quer dazu liegende soziale Status über

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halb der Stadt in einer neuen Nachbarschaft Fuß fassen musste und auch dort seinen Beitrag zu zahlen hatte. Zum anderen fehlt fürderhin der Name Hackenbruchs im Nachbarschaftsbuch. 1749 wird ein Hubertus Hachenburg in der Quirinus-Nachbarschaft aufgenommen. Vgl. Stadtarchiv Andernach, Nachbarschaftsbuch Quirinus-Nachbarschaft, 1749 (o. Pag.). Weber, Heinrich (Hrsg.): Coesfeld um 1800. Erinnerungen des Abbé Baston. Coesfeld 1980 (= Beiträge zur Landes- und Volkskunde des Kreises Coesfeld 3), S. 96. Vgl. Piltz, Eric: Nachbarschaft, Gemeinschaft und sozialer Raum. Vorschläge für eine frühneuzeitliche Stadtgeschichte aus nachbarschaftlicher Perspektive. Der Beitrag erscheint 2010 in der Reihe discussions des Deutschen Historischen Instituts Paris (URL: www.perspectivia.net/content/publikationen/discussions).

Vergemeinschaftung durch Anwesenheit

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gelingende Integration, die über Abgaben und Pflichten wie über das vergemeinschaftende Gelage bzw. den Zech vollzogen wurde. Anwesenheit kann geradezu als Voraussetzung für den Prozess der Vernachbarschaftlichung bezeichnet werden, der auf zwei Ebenen ablief: Der Integration in die nachbarschaftliche Gemeinschaft in Form einer geregelten Mitgliedschaft mit damit verbundenen Verpflichtungen, denen man sich nur schwer entziehen konnte, und der Vermittlung nachbarschaftlicher Werte. Die Mechanismen der Exklusion arbeiteten dabei entlang räumlichen Kategorien und entlang sozialen Grenzen der Teilhabe (männliche Vollnachbarn, Witwen, Mietlinge). Zur Aufrechterhaltung der Gemeinschaft konnten sich die Nachbarschaften des Mittels der Entnachbarung bedienen, die der Androhung eines sozialen Todes gleichkam.52 Aufgrund der räumlichen Mobilität innerhalb der Stadt und der Tatsache, dass mit sozialem Status und berufsständischer Zugehörigkeit weitere Integrationsfaktoren vorlagen, drohte dieser allerdings nicht wirklich. Aus der Perspektive der Nachbarschaftsgemeinschaft zielte jedoch der formelhafte Ausschluss von Feuer und Licht darauf ab und war notwendiger Bestandteil der Aufrechterhaltung der nachbarschaftlichen Prinzipien, die im Kern mit dem übereinstimmten, was den gemeinen Nutzen und das Gemeinwohl der Stadt förderte. Ein Gegensatz von substädtischen Nachbarschaften und städtischer Policey lässt sich hierin also nicht erkennen. Vielmehr trugen die Nachbarschaften mit dem Primat der Nachbarschaftlichkeit diese aus ihrem korporativen Selbstverständnis heraus.53 52

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Klassisch dazu Patterson, Orlando: Slavery and Social Death. A Comparative Study. Cambridge/London 1982. Für die jüngste Anwendung des Begriffs vgl. den Workshop „Sterben über den Tod hinaus. Politische, soziale und religiöse Ausgrenzung in vormodernen Gesellschaften“, 26.-28.11.2009 Westfälische Wilhelms-Universität Münster. (URL: http:// hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=12692 [letzter Zugriff: 31.03.2010]). Das Statut der Andernacher Hochstraßen-Nachbarschaft von 1640 zeigt die enge Verzahnung städtischer obrigkeitlicher Verordnungen mit nachbarschaftlicher Normierung. Die Nachbarn werden darin aufgefordert, den „grosse[n] Mißbrauch oder Faulheitt in der Straßen“ abzustellen, den „Wust von Seiner thür fort, Vor seines Mitnachbars behaußungh“ zu kehren. So habe nicht nur „dieser statt hochlöbliche policey ordnungh“ dies verboten, vielmehr soll bei Zuwiderhandlung „der Nachbahr Schultheiß mit Zustandt deß Knegts, auff des Seumigen Kosten, solchen laßen abschaffen, darbenebens der Säumigen ein Viertheill Wein zu Straff geben, Undt thete er sich hergegen weigeren soll man Ihme macht haben ein pfandt auß dem hauß zunehmen.“ (Andernach, Nachbarschaftsbuch Hochstraßennachbarschaft, Privatbesitz, S. 2f.). Besonders ausgeprägt ist dies in Leipzig, wo sich jede Vorstadt als Nachbarschaft verstand; vgl. Instruction Vor die Gassen-Meistere, GassenSchreiber und Nachbarschafften in denen Vorstädten, Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, H.Sax.H 398 und dazu Kriese, Verena: Die Vorstädte Leipzigs im 18. Jahrhundert. Eine verfassungs- und sozialgeschichtliche Untersuchung. In: Jahrbuch für Regionalgeschichte 16 (1989), S. 110-125. Zum Verhältnis von genossenschaftlichen, städtischen und territorialen Normen siehe jetzt Härter, Karl: Statut

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Eric Piltz

In der seriellen Überlieferung der Protokolle wird sichtbar, dass in Andernach und Coesfeld nicht allein die Aufnahme in die Bürgerliste in die Stadtgemeinde integrierte, sondern nicht minder die gelungene Teilhabe am sozialen Leben, die formale oder informelle Aufnahme in die Nachbarschaft. Integration und Distinktion als zentrale Prozesse der frühneuzeitlichen Stadt 54 waren durch die Einrichtung der Nachbarschaften auf einer substädtischen infra-administrativen Ebene wirksam. Wenn nun für die moderne Stadt gelten kann, dass Nachbarschaft als Organisation von Nähe begleitet wird durch die Option, dem Nachbarn aus dem Weg zu gehen oder mit ihm in ein Vertrauensverhältnis zu treten, dann „weiß zwar [jeder], was ein Nachbar ist, doch kaum jemand kann auf Anhieb darüber Auskunft geben, wie er sein soll.“ 55 Nimmt man die Coesfelder und Andernacher Beispiele, liegt genau hierin der Unterschied zur vormodernen Nachbarschaft – bei aller Vorsicht einer solchen Gegenüberstellung: Dass sowohl die Person als Nachbar bestimmbar war, als auch ein normatives Bewusstsein darüber bestand, wie ein Nachbar sich verhalten sollte. So verhandelbar sie auch waren, Grenzen waren räumlich wie sozial ein unabdingbares Bestimmungsmerkmal frühneuzeitlicher Nachbarschaft.

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und Policeyordnung: Entwicklung und Verhältnis des Statutarrechts zur Policeygesetzgebung zwischen spätem Mittelalter und Früher Neuzeit in mitteleuropäischen Reichs- und Landstädten. In: Drossbach, Gisela (Hrsg.): Von der Ordnung zur Norm. Statuten in Mittelalter und Früher Neuzeit. Paderborn 2010, S. 127-152. Vgl. Schmidt, Patrick/Carl, Horst: „Integration“ und „Distinktion“ als Kategorien frühneuzeitlicher Gesellschaftsanalyse. In: dies. (Hrsg.): Stadtgemeinde und Ständegesellschaft. Formen der Integration und Distinktion in der frühneuzeitlichen Stadt. Berlin 2007, S. 730. Klös, Peter: Nachbarschaft. Neue Konzepte – alte Sehnsüchte. In: Schilling, Heinz (Hrsg.): Nebenan und gegenüber. Nachbarn und Nachbarschaften heute. Frankfurt a.M. 1997 (= Kulturanthropologie-Notizen 59), S. 13-25, hier S. 23.

STEFAN KROLL

Nachbarschaft und soziale Vernetzung in norddeutschen Städten des 17. und 18. Jahrhunderts In einem 1991 erschienenen, perspektivreichen Aufsatz hat Robert Jütte darauf aufmerksam gemacht, dass das Stadtviertel als Lebenswelt und Aktionsradius von der deutschen stadtgeschichtlichen Forschung zur Frühen Neuzeit in der Vergangenheit kaum thematisiert worden ist. 1 Wesentlich breiter und differenzierter stellte sich auf diesem Gebiet die von ihm ausführlich vorgestellte englische, amerikanische und französische Forschung dar. An diesem sehr disparaten Befund hat sich in den letzten knapp 20 Jahren seit dem Erscheinen des Beitrags nichts Grundlegendes geändert. Während vor allem in England, Frankreich und den USA zahlreiche Untersuchungen erschienen, hat sich der Forschungsstand im deutschsprachigen Raum noch nicht wesentlich verbessert. 2 Das gilt auch für den Teilbereich der personellen Bindungen und Beziehungen innerhalb von lokalen Gemeinschaften, auf den Jütte in seiner Skizzierung einschlägiger Themenfelder und Fragestellungen (darunter unter anderem die Bedeutung der Viertel oder Bezirke für die Organisation der obrigkeitlichen Armenfürsorge, des Feuerlösch- und des Wehrwesens) ausführlich eingegangen war. 3 Christine Schedensack hat in ihrer kürzlich publizierten Münsteraner Dissertation die Ansicht vertreten, dass die Rekonstruktion der vielfältigen sozialen Netzwerke in vormodernen Städten für den deutschsprachigen Raum – von wenigen Ausnahmen abgesehen – auch weiterhin ein Desiderat der Forschung darstellt. 4 Auch wenn Schedensack dabei einige wichtige neuere Arbeiten übersehen hat, 5 ist ihrer Einschätzung im Grundsatz zuzustimmen. 1

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Vgl. Jütte, Robert: Das Stadtviertel als Problem und Gegenstand der frühneuzeitlichen Stadtgeschichtsforschung. In: Blätter für deutsche Landesgeschichte 127 (1991), S. 235269. Als wichtige Ausnahme kann gelten: Johanek, Peter (Hrsg.): Sondergemeinden und Sonderbezirke in der Stadt der Vormoderne. Münster 2004 (= Städteforschung A 59). Vgl. Jütte 1991 (wie Anm. 1), S. 251-255. Vgl. Schedensack, Christine: Nachbarn im Konflikt. Zur Entstehung und Beilegung von Rechtsstreitigkeiten um Haus und Hof im frühneuzeitlichen Münster. Münster 2007 (= Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Münster NF 24). Vgl. für den englischsprachigen Raum zuletzt Garrioch, David/Peel, Marc: The Social History of Urban Neigborhoods. In: Journal of Urban History 32 (2006), S. 663-676. Exemplarisch verwiesen sei hier nur auf zwei monographische Untersuchungen zur süddeutschen Kleinstadt Oettingen: Ostenrieder, Petra: Wohnen und Wirtschaften in Oet-

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Besonders der norddeutsch-protestantische Raum ist bisher wenig untersucht worden. 6 Ein wesentlicher Grund liegt sicher darin, dass für derartige Untersuchungen nicht nur eine sehr günstige Quellenlage, sondern auch der Aufbau einer umfassenden prosopographischen Datensammlung erforderlich ist. Im Idealfall sollten für jeden einzelnen Stadtbewohner und jede einzelne Stadtbewohnerin Informationen zu möglichst vielen Einzelmerkmalen zusammengetragen werden. Dazu sind unter anderem zu zählen: Angaben über das Datum von Geburt bzw. Taufe, Heirat(en) und Tod, berufliche Tätigkeit, genaue Lage der Wohnung und Umzüge, Einkommens- und Vermögensverhältnisse, Mitgliedschaften in Korporationen und Bruderschaften, Gewährung und Aufnahme von Krediten, ausgeübte Ämter, übernommene Bürgschaften sowie die Taufpaten der eigenen Kinder und eigene Patenschaften. Hier möchte der vorliegende Beitrag ansetzen und sich dabei – wie von Schedensack angeregt – auf die Rolle der „Nachbarschaft als ein Gebilde menschlicher Vergesellschaftung und ihre Bedeutung im alltäglichen Zusammenleben“ 7 konzentrieren. Im Mittelpunkt soll der Stellenwert von Nachbarschaft für soziale Netzwerke von Stadtbewohnern stehen. 8 Hinsichtlich der

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tingen 1600-1800. Untersuchungen zur Sozialtopographie und Wirtschaftsstruktur einer bikonfessionellen Residenzstadt. Augsburg 1993 (= Materialien zur Geschichte des Bayerischen Schwabens 19); Rajkay, Barbara: Verflechtung und Entflechtung. Sozialer Wandel in einer bikonfessionellen Stadt. Oettingen 1560-1806. Augsburg 1999 (= Materialien zur Geschichte des Bayerischen Schwabens 25) sowie auf Teuscher, Simon: Bekannte, Klienten, Verwandte. Soziabilität und Politik in der Stadt Bern um 1500. Köln 1998 (= Norm und Struktur 9). Den mangelnden Fortschritt der Forschung – insbesondere hinsichtlich der Untersuchung von Mobilität und lebensweltlicher Interaktion in den Wohnquartieren – kritisiert unter anderem Eibach, Joachim: Frankfurter Verhöre. Städtische Lebenswelten und Kriminalität im 18. Jahrhundert. Paderborn u.a. 2003, S. 269. Zu spätmittelalterlichen Städten sind vor allem methodisch anregend die Untersuchungen von Sutter, Pascale: Von guten und bösen Nachbarn. Nachbarschaft als Beziehungsform im spätmittelalterlichen Zürich. Zürich 2002 und Signori, Gabriela: Geschichte/n einer Straße. Gedanken zur lebenszyklischen Dynamik und schichtenspezifischen Pluralität städtischer Haushalts- und Familienformen. In: Goetz, Hans-Werner (Hrsg.): Die Aktualität des Mittelalters. Bochum 2000, S. 191-230; umfassend für das spätmittelalterliche Köln: Seidel, Kerstin: Freunde und Verwandte. Soziale Beziehungen in einer spätmittelalterlichen Stadt. Frankfurt a.M. 2009. Eine Zusammenschau der Forschung bieten Reitemeier, Arnd u.a.: Kirchspiele und Viertel als „vertikale Einheiten“ der Stadt des späten Mittelalters. In: Blätter für deutsche Landesgeschichte 141/142 (2005/06), S. 603-640, insbes. S. 610-613; vgl. außerdem Rogge, Jörg: Viertel, Bauer- und Nachbarschaften. Bemerkungen zu Gliederung und Funktion des Stadtraumes im 15. Jahrhundert (am Beispiel von Braunschweig, Göttingen, Halberstadt, Halle und Hildesheim). In: Puhle, Matthias (Hrsg.): Hanse, Städte, Bünde. Die sächsischen Städte zwischen Elbe und Weser um 1500. Magdeburg 1996, S. 231-240. Schedensack 2007 (wie Anm. 4), S. 208. Damit knüpft die Untersuchung thematisch auch an die inzwischen klassischen Studien von Boulton zu London und von Garrioch zu Paris im 17. bzw. 18. Jahrhundert an. Vgl. Boulton, Jeremy: Neighbourhood and society. A London Suburb in the Seventeenth Cen-

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Auswahl und Bearbeitung der Quellen ist es notwendig, dass zusätzlich zu den genannten Voraussetzungen möglichst parzellengenaue Angaben über die Wohnstandorte vorliegen. Fehlen derartige, mit den Methoden der Sozialtopographie zu erarbeitende Informationen, 9 so reduziert sich in aller Regel das zur Auswertung verfügbare Quellenmaterial ganz erheblich, was zugleich Rückwirkungen auf die Repräsentativität der ermittelten Beziehungsstrukturen hat. Im Folgenden nutze ich eine eigene prosopographisch-topographische Datensammlung zu etwa 5.000 steuerpflichtigen bürgerlichen Haushaltungsvorständen, die im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert in den beiden norddeutschen, zu dieser Zeit unter schwedischer Herrschaft stehenden Hafenstädten Stade und Stralsund gelebt haben. 10 In einem ersten Schritt möchte ich auf dieser Basis anhand einzelner Beispiele aufzeigen, wie vielfältig die aktive Gestaltung von Nachbarschaft als eine Form sozialer Vernetzung erfolgte. Wie von Natalie Zemon Davis in einem Weg weisenden Aufsatz postuliert, 11 gilt den drei Ereignissen Heirat, Tod und Patenschaft ein besonderes Augenmerk, denn bei derartigen Anlässen bestand die Gelegenheit, den Nachbarschaftsgeist und die Solidarität der Gemeinde zu stärken. Im Anschluss an Pascale Sutter, die sich ausführlich mit Nachbarschaft als Beziehungsform im spätmittelalterlichen Zürich beschäftigt hat, unterscheide ich zwischen unmittelbaren und mittelbaren Nachbarn, wobei zu letzteren kein direkter Sicht- und Hörkontakt bestand und diese nicht im gleichen, angrenzenden oder gegenüberliegenden Gebäude wohnten. 12 Als räumliche Grenze wird bei Sutter wie bei mir eine maximale Entfernung von 100 Metern zu Grunde gelegt. Anschließend möchte ich mich am konkreten Beispiel Stralsunds mit der Kontinuität nachbarschaftlicher Netzwerke auseinandersetzen sowie außerdem der Frage nachgehen, welche räumlichen und sozialen Grenzen für die Stadtbewohnerinnen und -bewohner von Bedeutung waren.

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tury. Cambridge 2005 (unveränderter Nachdruck der Ausgabe Cambridge 1987); Garrioch, David: Neighbourhood and Community in Paris. 1740-1790. Cambridge 1986. Vgl. hierzu vor allem die Beiträge in dem Sammelband von Meinhardt, Matthias/Ranft, Andreas (Hrsg.): Die Sozialstruktur und Sozialtopographie der vorindustriellen Stadt. Berlin 2005 (= Hallische Beiträge zur Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit 1). Näheres dazu bei Kroll, Stefan: Stadtgesellschaft und Krieg. Sozialstruktur, Bevölkerung und Wirtschaft in Stralsund und Stade 1700 bis 1715. Göttingen 1997 (= Göttinger Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 18). Vgl. Davis, Natalie Zemon: Glaube und nachbarschaftliche Beziehungen. Die Steine von Sainte-Croix. In: dies.: Frauen und Gesellschaft am Beginn der Neuzeit. Studien über Familie, Religion und die Wandlungsfähigkeit des sozialen Körpers. Frankfurt a.M. 1989, S. 52-63. Vgl. Sutter 2002 (wie Anm. 6), S. 47-50.

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Die aktive Gestaltung von Nachbarschaft als Form sozialer Vernetzung und Kapitalbildung Ein bedeutendes Problem, das besonders junge, ökonomisch wenig abgesicherte Ehepaare, die von außerhalb in eine Stadt zogen, beim Aufbau eines tragfähigen sozialen Netzes beschäftigte, war die sichere Versorgung ihrer Kinder für den – keinesfalls seltenen – Fall eines eigenen frühen Todes. Zu den wichtigsten vorbeugenden Strategien gehörte hier die Auswahl der Taufpaten.13 Im Falle Stades lässt sich nachweisen, dass neben Verwandten, beruflich verbundenen oder besonders wohlhabenden Bürgern häufig auch Nachbarn ausgewählt wurden.14 Aus den zahlreichen Einzelfällen seien zwei exemplarisch herausgegriffen.15 Der aus einem Dorf unweit Stades gebürtige Mälzer und Branntweinbrenner Bruno Ölckers war am 1. Oktober 1700 Stader Bürger geworden. Zwei Wochen später heiratete er die ebenfalls aus der ländlichen Umgebung der Stadt stammende Anne Bube. Bis etwa 1709 bewohnte das Ehepaar eine Mietwohnung in der im Nordteil Stades gelegenen Bungenstraße, anschließend bezog es ein eigenes Wohnhaus auf der gegenüberliegenden Straßenseite.16 Zwischen Juli 1701 und März 1708 bekamen Bruno Ölckers und seine Frau vier Söhne und eine Tochter. 22 der 28 Taufpaten, die im Kirchenbuch von St. Nicolai eingetragen sind, können zweifelsfrei als Bewohner der Bungenstraße und damit als unmittelbare oder mittelbare Nachbarn identifiziert werden. Das erste Kind, ein Mädchen mit Namen Metta Margareta, ließen Bruno und Anna Ölckers am 10. Juli 1701 taufen. In das Kirchenbuch St. Nicolai wurden dazu sieben weibliche Taufpaten eingetragen, eine sehr hohe, aber zu dieser Zeit in Stade durchaus noch übliche Zahl. Das junge Ehepaar, das erst neun Monate zuvor einen eigenen Hausstand begründet hatte, entschied sich

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Vgl. dazu allgemein Alfani, Guido: Geistige Allianzen: Patenschaft als Instrument sozialer Beziehungen in Italien und Europa (15. bis 20. Jahrhundert). In: Lanzinger, Margareth/ Saurer, Edith (Hrsg.): Politiken der Verwandtschaft. Beziehungsnetze, Geschlecht und Recht. Wien 2007, S. 25-54. Zu ähnlichen Ergebnissen gelangte unter anderem Davis 1989 (wie Anm. 11), S. 57 und zuletzt für Turin Cavallo, Sandra: Artisans of the Body in Early Modern Italy. Identities, Families and Masculinities. Manchester 2007, S. 120f. Für den Hinweis auf diese Studie danke ich Joachim Eibach. Landeskirchliches Archiv Hannover, Kirchenkreisamt Stade: Tauf- und Trauregister Kirchspiele SS. Cosmae et Damiani, St. Wilhadi, St. Nicolai, St. Pankratii. Die räumliche Zuordnung der Wohnstandorte erfolgte auf der Basis einer umfänglichen prosopographischen Datensammlung zur Sozial- und Bevölkerungsgeschichte Stades um 1700. Vgl. dazu Kroll, Stefan: Stade um 1700. Sozialtopographie einer deutschen Provinzhauptstadt unter schwedischer Herrschaft. Stade 1992 (= Veröffentlichungen aus dem Stadtarchiv Stade 16), bes. S. 56-63 sowie Kroll 1997 (wie Anm. 10).

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für eine nahe Verwandte, die den Geburtsnamen der Ehefrau trug, 17 außerdem fungierte eine nicht näher zu bestimmende „Jungfrau Plate“ als Taufpatin. Möglicherweise gab es hier einen Bezug zur ländlichen Herkunft des Elternpaares. Eindeutig identifizierbar sind dann die übrigen fünf Paten: Aufgeführt sind die Ehefrauen des Rotbierbrauers Harmen Suhr, des Bäckers Hinrich Wiencke, des Brauers Claus Albers, des Zimmermeisters Tönnies Feicke und des Branntweinbrenners Hans Hinrich Wiese. Die letzten vier der Genannten lassen sich als Bewohner der Bungenstraße nachweisen, wobei Albers und Wiese unmittelbare Nachbarn sowie Feicke zusätzlich noch der Vermieter von Bruno und Anne Ölckers waren. Anhand verschiedener Steuer- und Vermögenslisten lassen sich alle fünf Familien als wirtschaftlich gut situiert einstufen. Zur ökonomischen Oberschicht gehörten sie allerdings nicht. Weiterhin fällt auf, dass die Bürgerrechtserwerbung jeweils zwischen 1690 und 1698 stattgefunden hatte. Dies lässt die Schlussfolgerung zu, dass die Taufpatinnen in einem ähnlichen Alter wie das Ehepaar Ölckers gewesen sein dürften. Bei der folgenden Taufe des Sohnes Claus am 6. Oktober 1702 waren es dann ausschließlich Nachbarn aus der Bungenstraße, die als Taufpaten ausgewählt wurden: die beiden Seidenkrämer Barthold Diercks und Jost Tamme, die Brauer Claus Albers und Claus Viebrock sowie der Wassermüller Lütje Hincke. Im Jahr darauf kam das dritte Kind des Ehepaars zur Welt. Am 11. November 1703 wurden neben zwei nicht als Stader Bürger nachweisbaren Männern fünf weitere, zuvor noch nicht als Taufpaten der Familie Ölckers in Erscheinung getretene Nachbarn (Brauer, Mälzer, Essigbrauer und ein Chirurg) als Paten in das Taufregister der Kirchengemeinde St. Nicolai eingetragen. Nach ganz ähnlichen Prinzipien erfolgte offensichtlich auch die Patenauswahl bei zwei weiteren Taufen 1706 und 1708. Allerdings wurden jetzt auch mehrere Taufpaten ausgewählt, die selbst erst nach Bruno Ölckers das Stader Bürgerrecht erworben hatten. Nach der Geburt des fünften Kindes hatte das nicht aus Stade stammende Ehepaar zu insgesamt 16 Familien aus der Bungenstraße patenschaftliche Verbindungen hergestellt, und nur sechs von 28 ausgewählten Taufpaten wohnten nicht in dieser Straße. In diesem Fall kann davon ausgegangen werden, dass die bewusste Einbindung in die Nachbarschaft ein entscheidendes Motiv für die Patenwahl war. Umgekehrt wurden allerdings weder Bruno noch Anne Ölckers in ihrer „Stader Zeit“ – sie zogen Anfang 1712 wegen ihres „schlechten [ökonomischen] Zustandes“ nach Glückstadt – selbst als Taufpaten ausgewählt. Anders waren die Verhältnisse bei dem aus Preußen stammenden Schuhflicker Adam Jasche, der bereits 1697 als Schustergeselle in Stade nachzuwei17

Der Eintrag lautet „Dietrich Bubes Frau“ – Anne Ölckers war eine geborene Bube; vgl. Landeskirchliches Archiv Hannover, Kirchenkreisamt Stade, Taufregister Kirchspiel St. Nicolai.

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sen ist und am 22. April 1704, zehn Tage nach seiner Bürgerrechtsgewinnung, die Tochter eines Bauern aus Bevern heiratete. Beide wohnten zunächst in einer Kellerwohnung am Stader Fischmarkt und zogen 1707 in einen anderen Wohnkeller in der Sattelmacherstraße. Zwischen Februar 1705 und September 1711 kamen drei Mädchen und ein Junge zur Welt. Unter den 18 Paten waren nur zwei direkte Nachbarn. Dafür war aber die politische und wirtschaftliche Elite der Stadt durch zahlreiche Ratsherren und Kaufleute umso zahlreicher vertreten. Die Wahl von sozial deutlich höher gestellten Taufpaten ist angesichts der wenig gesicherten wirtschaftlichen Lage der Familie durchaus nachvollziehbar und dürfte gleichfalls Teil einer Vorsorgestrategie zum Schutz der neugeborenen Kinder gewesen sein. 18 Gerade im Fall des Schuhflickers Jasche wird die Unsicherheit der Lebensperspektive in der Frühen Neuzeit überdeutlich: Die gesamte Familie fiel im August 1712 innerhalb weniger Tage einer Seuche zum Opfer, die in Stade fast 20% der Bevölkerung das Leben kostete. 19 Für Angehörige der Oberschicht hingegen diente die Übernahme einer Patenschaft offenbar in erster Linie dem Erwerb von „symbolischem Kapital“: Der Ratsherr und Tabakhändler Joachim von der Aa ließ sich beispielsweise zwischen 1700 und 1712 insgesamt 61 Mal als Pate in die Stader Kirchenbücher einschreiben. Nachbarn kamen auch für die Übernahme einer Vormundschaft über unmündige Waisenkinder in Betracht. In der Stralsunder Waisengerichtsordnung von 1593, die auch im 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts noch Gültigkeit besaß, wird detailliert beschrieben, wie die Versorgung zu erfolgen hatte. 20 Für den Fall, dass beide Elternteile gleichzeitig verstarben, bestand in erster Linie für die nächsten Verwandten und ersatzweise für die direkten Nachbarn die Pflicht zur Anzeige der Todesfälle. Der Rat wählte anschließend aus der Gruppe der Verwandten, Nachbarn und Freunde die vier „tüchtigsten und nähesten“ 21 Personen aus und bestimmte sie zu Vormündern. Nur im Notfall sollten Mitglieder des Rates diese Funktion übernehmen. Auf dem Gebiet der Waisenbetreuung wurde also die nachbarschaftliche Beteiligung am städtischen Fürsorgesystem durch eine Ratsverordnung offiziell ver18

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So auch Dinges, Martin: Aushandeln von Armut in der Frühen Neuzeit. Selbsthilfepotential, Bürgervorstellungen und Verwaltungslogiken. In: WerkstattGeschichte 10 (1995), S. 715, hier S. 8f. Vgl. Kroll, Stefan: Die Pest in Stade 1712 und ihre Opfer. In: Stader Jahrbuch 80 (1990), S. 47-67. Vgl. Dähnert, Johann Carl/Klinckowström, Gustav von: Sammlung gemeiner und besonderer Pommerscher und Rügischer Landes-Urkunden, Gesetze, Privilegien, Verträge, Constitutionen und Ordnungen. Zur Kenntniß der alten und neuen Landes-Verfassung, insonderheit des Königlich-Schwedischen Landes-Theils. Supplement, Bd. 2. Stralsund 1786/88, S. 1088-1090. Ebd., S. 1089.

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fügt. Eintragungen über Vormundschaften in Stralsunder Schossregistern aus dem frühen 18. Jahrhundert belegen, dass neben Verwandten und Freunden auch Nachbarn durch eine in der Regel mit zusätzlichem persönlichen Engagement (wie etwa der Aufnahme in den eigenen Haushalt oder die Berücksichtigung in Testamenten) verbundene sachgemäße Verwaltung des Nachlasses maßgeblich dazu beitrugen, unmündige Waisen vor Armut und Bedürftigkeit zu schützen.22 Offenbar sehr häufig wurden Nachbarn auch als Zeugen für Rechtsgeschäfte gebraucht. Am besten lässt sich dies anhand von Testamenten nachweisen, die sich besonders zahlreich im Stadtarchiv Stralsund erhalten haben.23 Sie sind fast immer von Zeugen unterzeichnet und gesiegelt. Ein Beispiel ist das Testament des Schiffers Matthies Dwars, das dieser am 5. Februar 1711 „bey diesen hinfallenden Zeiten und schleunigen Sterbens Fällen“ errichtet hatte, womit er den letzten großen Ausbruch der Pest in Stralsund meinte, der er nur wenige Wochen später dann auch zum Opfer gefallen ist.24 Insgesamt sieben Zeugen haben dem Testament des Schiffers Dwars mit ihrer Unterschrift und ihrem persönlichen Siegel Rechtskraft verliehen. An erster Stelle steht dabei der Pastor des Kirchspiels St. Jacobi, in dem Dwars wohnte. Es folgen drei Kaufleute und ein Schiffer, die dank der prosopographischen Datenbank alle als mittelbare Nachbarn identifiziert werden können. Unklar ist dagegen der Bezug zweier weiterer Zeugen (ebenfalls Kaufmann bzw. Schiffer), die in entfernteren Stadtvierteln gewohnt haben. Da das Testament zahlreiche Angaben zu den Verwandten des Schiffers enthält, lässt sich mit ziemlicher Sicherheit ausschließen, dass aus diesem Kreis jemand als Zeuge aufgeboten wurde. Im Gegenteil: Bruder Marten Dwars, ebenfalls Schiffer und unmittelbarer Nachbar von Matthies Dwars, wird wegen verschiedener Vorfälle und Streitigkeiten sogar ausdrücklich vom Erbe ausgeschlossen. Unter anderem soll er die im Kindbett liegende Ehefrau seines Bruders, Catharina, geschlagen haben. Auch beim Rottmeister der Träger, Heinrich Ohrbahn, der sich ebenfalls während der Pestherrschaft im Oktober 1710 zur Errichtung seines Testaments entschlossen hatte, können mindestens zwei von sieben Zeugen als mittelbare Nachbarn identifiziert werden.25 22

23 24

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Dem Einfluss verwandtschaftlicher Verflechtungen innerhalb der Stralsunder Kaufmannschaft des 18. Jahrhunderts spürt nach: Rabuzzi, Daniel A.: A Stadtbürgertum Defines Itself. Creating a middling-class consciousness in Early Modern Stralsund. In: Wunder, Heide (Hrsg.): Jedem das Seine. Abgrenzungen und Grenzüberschreitungen im Leipzig des 17. und 18. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. 2000 (= Zeitsprünge 4 [2000], Nr. 4), S. 344-354. Vgl. Stadtarchiv Stralsund, Rep. 24, Nr. 533. Ähnliche Befunde hat für London im 17. Jahrhundert Boulton 2005 (wie Anm. 8), S. 236-242 herausgearbeitet. Stadtarchiv Stralsund, Testamente, D 13. Zur Pest in Stralsund 1710/11 vgl. Zapnik, Jörg: Pest und Krieg im Ostseeraum. Der „Schwarze Tod“ in Stralsund während des Großen Nordischen Krieges (1700-1721). Hamburg 2007 (= Greifswalder historische Studien 7). Vgl. Stadtarchiv Stralsund, Testamente, O 4.

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Dass man sich in manchen Fällen auch nach dem Tod auf seine Nachbarn verlassen konnte, lässt sich anhand Stralsunder Quellen ebenfalls gut belegen. So bat der Schopenbrauer-Bote Christoff Kasche 1711 seine beiden Nachbarn an sein Sterbebett, um ihnen Bargeld für die Unterstützung seiner bedürftigen Kinder auszuhändigen.26 Zahlreicher sind die Belege für nachbarschaftliche Hilfe, wenn es darum ging, ein ehrenvolles Begräbnis zu ermöglichen. Gerade Arme konnten hierfür häufig nicht selbst vorsorgen. Im Totenregister der Stralsunder Kirchgemeinde St. Marien finden sich dazu etliche Beispiele.27 Eine vollständige oder zumindest teilweise Begräbnisfinanzierung durch ihre Nachbarn erhielten 1710 unter anderem der Bäcker Jarchow, der Rademacher Gronow und der Messerschmied Tabbert, die allesamt als „sehr arm“ bezeichnet wurden. Allerdings sorgten gleichzeitig mindestens genau so häufig „Freunde“ von Verstorbenen für ein standesgemäßes Begräbnis. In jedem Fall lässt sich schon anhand dieser wenigen Beispiele zeigen, dass Nachbarn in frühneuzeitlichen Städten eine wichtige Rolle bei der Konstituierung und Bewahrung sozialer Netzwerke gespielt haben. In Anlehnung an die Klassentheorie Pierre Bourdieus und eine Weiterentwicklung von Martin Dinges kann davon ausgegangen werden, dass auch das Investieren in das Netzwerk nachbarschaftlicher Beziehungen vorrangig dem Erwerb von „Sozialkapital“ diente.28 Stadtbewohner versuchten damit, langfristig-strukturellen Gefährdungen (wie z.B. Altersarmut, Witwen- und Waisenschaft) oder kurzfristig-alltäglichen Problemsituationen (wie z.B. Verdienstausfall durch Krankheiten, drohendes Hungern während einer Teuerung oder Wohnungsverlust durch einen Brand) vorzubeugen, sie abzumildern oder zu überwinden. Nachbarschaft gehörte zu den sozialen Strukturen und Beziehungen, in denen „Sozialkapital“ unter der Prämisse der Gegenseitigkeit angesammelt werden konnte. Auch in Haushalten, Familien, unter Verwandten und Freunden, in Arbeits- und Mietverhältnissen, Ämtern bzw. Zünften, Bruderschaften und anderen Korporationen konnte auf ähnliche Weise „Sozialkapital“ erworben werden, das wie im Ausgangsmodell Bourdieus frei konvertierbar mit „ökonomischem Kapital“, „kulturellem Kapital“ und „symbolischem Kapital“ war.

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Vgl. Stadtarchiv Stralsund, Rep. 3, Nr. 5332. Vgl. Stadtarchiv Stralsund, Rep. 28, Nr. 619. Vgl. hierzu Kroll, Stefan: Aufgaben und Perspektiven der Forschung zur Sozialstruktur frühneuzeitlicher Städte. In: Meinhardt/Ranft 2005 (wie Anm. 9), S. 35-48, bes. S. 37-41.

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Stabilität und Grenzen nachbarschaftlicher Netzwerke Um eine bessere Vorstellung vom Stellenwert nachbarschaftlicher Bindungen gegenüber anderen sozialen Verflechtungen, also etwa familiären, verwandtschaftlichen oder beruflichen Netzwerken zu gewinnen, erscheint eine Beschäftigung mit der Frage der Kontinuität als sehr sinnvoll. Wie stabil waren die nachbarschaftlichen Netzwerke überhaupt? Auch hier ist der Forschungsstand mehr als unbefriedigend. Zwar gibt es nicht wenige Studien, die sich mit der Zuwanderung von Neubürgern in frühneuzeitliche Städte befassen, 29 und gelegentlich ist auch die Abwanderung Gegenstand einer Untersuchung gewesen. Wie sesshaft oder mobil insgesamt Haushalte in frühneuzeitlichen Städten waren, ist demgegenüber nur in ganz wenigen Fällen umfassend analysiert worden. Vor allem innerstädtische Umzüge sind so gut wie unerforscht. 30 Dieses Thema ist jedoch für die hier diskutierte Frage sehr wichtig, denn Umzüge hatten in vielen Fällen die Auflösung nachbarschaftlicher Bindungen zur Folge. Leider gibt es wahrscheinlich nur sehr wenige Städte, für die in ausreichendem Maße aussagefähiges Quellenmaterial vorhanden ist. Für die Beispielstadt Stralsund ist dies glücklicherweise der Fall. Über einen Zeitraum von fast 50 Jahren am Ende des 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts sind in dichter Folge sogenannte „Haussteuerregister“ überliefert, die nicht nur die Haushalte von Hausbesitzern, sondern auch die von Mietern umfassen. Es ist genau erfasst, welcher Haushalt in welchem Gebäude gewohnt hat. Dazu existiert ein parzellengenauer Stadtplan aus dem Jahre 1706. Karsten Labahn hat für seine 2006 veröffentlichte Magisterarbeit eine Verknüpfung beider Quellen vorgenommen. 31 Für einen Zeitraum von knapp fünf Jahren (1706-1710) hat er insgesamt 537 Umzugsvorgänge ermitteln und eine grundstücksgenaue Verortung vornehmen können. Letztlich konnten 454 Umzüge einer näheren Analyse unterzogen werden. Die wichtigsten Ergebnisse möchte ich hier vorstellen – in aller Kürze und soweit sie für die Fragestellung von Belang sind. 32 Von allen im Jahre 1706 verzeichneten 1.550 bürgerlichen Haushalten Stralsunds wohnten 68% nach vier Jahren immer noch in derselben Wohnung. Umgekehrt änderte sich die Zusammensetzung der Bewohnerschaft aufgrund von Umzugsvorgängen in fast 40% aller 29

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Für das 13. bis 16. Jahrhundert liegt seit einigen Jahren eine umfassende Bestandsaufnahme vor: Schwinges, Rainer Christoph (Hrsg.): Neubürger im späten Mittelalter. Migration und Austausch in der Städtelandschaft des alten Reiches (1250-1550). Berlin 2002 (= Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 30). Vgl. dazu den aktuellen, auch international ausgerichteten Forschungsüberblick bei Labahn, Karsten: Räumliche Mobilität in der vorindustriellen Stadt. Wohnungswechsel in Stralsund um 1700. Berlin 2006 (= Kleine Stadtgeschichte 1), S. 16-35. Vgl. ebd., S. 49-74. Vgl. ebd., S. 81-134.

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Wohngebäude. In einzelnen Häusern gab es bis zu zehn Ein- und Auszüge. Bei etwa 120 Umzügen pro Jahr errechnete Labahn eine jährliche Mobilitätsrate von 8-9%. Dabei gab es hinsichtlich Alter und beruflicher Tätigkeit erhebliche Unterschiede. Wer erst vor kurzem das Bürgerrecht erworben hatte, zog besonders häufig um (und konnte dementsprechend weniger auf nachbarschaftliche Netzwerke setzen). Als sehr sesshaft erwiesen sich dagegen die Stralsunder Kaufleute, Schmiede und Bäcker. Bei ihnen waren Umzüge eine seltene Ausnahme. Demgegenüber waren Matrosen, Steuerleute, Träger, Maurer, Tagelöhner und Brauerknechte weit überdurchschnittlich mobil. Ein gemeinsames Merkmal war, dass sie ihren Arbeitsplatz außerhalb ihrer Wohnung hatten und zudem zu den Erwerbstätigen mit zumeist geringen Einkünften und Vermögen zählten. Überhaupt gab es einen eindeutig belegbaren Zusammenhang zwischen hoher Wohnungsfluktuation und niedriger sozialer Stellung. Weiterhin zogen Mieter genau zehnmal so häufig in eine andere Wohnung wie Hausbesitzer. Außerdem galt: Je armseliger der Zustand der Wohnung war, desto öfter kamen Bewohnerwechsel vor. Demzufolge waren Umzüge besonders in denjenigen Teilen der Stadt häufig, in denen es einen hohen Anteil an Mietwohnungen gab. Hier waren nachbarschaftliche Netzwerke mit Sicherheit weitaus instabiler als dort, wo viel Hausbesitz vorherrschte und zum Beispiel Kaufmannshäuser das Straßenbild dominierten. Allerdings musste nicht jeder Umzug zwangsläufig nachbarschaftliche Bindungen auflösen. 7% der Umzüge führten nämlich auf ein benachbartes oder direkt angrenzendes Grundstück, und sogar 26% der Umzüge fanden innerhalb der mittelbaren Nachbarschaft statt. Bei einer Entfernung von unter 100 Metern dürfte das nachbarschaftliche Netzwerk durchaus noch intakt geblieben sein. Im Gegenteil: Ein Umzug im Nahbereich kann unter Umständen sogar erfolgt sein, weil das vorhandene nachbarschaftliche Beziehungsnetz als besonders erhaltenswert angesehen wurde. Labahn kommt zu weiteren interessanten Ergebnissen, die auch einiges über Grenzbildungen aussagen. So gab es offenbar eine eindeutige soziale Grenze zwischen den Bewohnern der Vorstädte und denen des innerstädtischen Bereichs. 33 Wenn vorstädtische Haushalte umzogen, dann blieben sie zu mehr als 80% innerhalb ihrer gewohnten nachbarschaftlichen Umgebung. Umgekehrt zog auch kaum jemand aus der Stadt in die Vorstädte, was sicher auch mit der dort vorhandenen Berufsstruktur zusammenhing. Rein rechtlich gesehen bestanden dagegen nur geringe Unterschiede – auch die Vorstädter besaßen beispielsweise das Stralsunder Bürgerrecht und mussten wie alle anderen Steuern und Abgaben leisten.

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Vgl. ebd., S. 115-117.

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Die Auswertung der Umzugsbewegungen ließ noch eine andere soziale Grenze deutlich werden, die sich weder mit den Kirchspielsgrenzen noch der verwaltungsmäßigen Einteilung nach Stadtquartieren deckt. Bereits im 14. Jahrhundert war zwischen der Uferlinie des Hafens und der mittelalterlichen Stadtmauer mit der Bebauung eines Gebietes begonnen worden, das später, allerdings erst im 19. Jahrhundert, als „Wasserstadt“ und in jüngerer Zeit dann als „Hafenvorstadt“ bezeichnet wurde. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts waren fast 80% der hier lebenden Bürger direkt mit Seefahrt, Hafenbetrieb, Schiffbau und Fischfang verbunden – die Berufsstruktur war dementsprechend außergewöhnlich homogen und klar von den Verhältnissen innerhalb der Stadtmauern unterschieden. 34 Es ließ sich eindeutig nachweisen, dass der größte Teil der Umzüge innerhalb des Hafengebiets stattfand und diese innerstädtische Mobilität zudem ganz überwiegend im Nahbereich erfolgte. 35 Da zusätzlich viele Belege für intensive verwandtschaftliche Verflechtungen vorliegen, ist der Wohnbereich vor den Wassertoren als ein milieuartiger Bereich der Stadt anzusehen, der auf seine Bewohner ein hohes Maß an Anziehungskraft ausstrahlte. 36 Eine interessante Frage, die sich daran anschließt, aber bisher noch nicht geklärt wurde, ist die, ob es Verbindendes zwischen denjenigen Bürgern gab, die diese soziale Grenze bei einem Umzug überwanden und sich anders als die große Mehrheit ihrer Nachbarn verhielten. Abschließend möchte ich noch auf eine andere Form der Grenzziehung und Grenzüberschreitung zwischen Nachbarn zu sprechen kommen, die sich ebenfalls anhand Stralsunder Quellenbeispiele belegen lässt. Julia Haack hat für ihre jüngst veröffentlichte Dissertation unter anderem zahlreiche Gerichtsakten des 18. Jahrhunderts aus dem Stadtarchiv Stralsund ausgewertet und diese nach systematischen Gesichtspunkten quantifiziert. 37 Nachbarschaftliche Streitigkeiten kamen bei Auseinandersetzungen vor Gericht nach den Konfliktfeldern „Beleidigung“, „Ehe“ und „Erbschaft“ am vierthäufigsten vor. Fast immer ging es darum, dass Nachbarn sich im Alltag belästigt oder in ihren Rechten eingeschränkt fühlten. Die Versorgung mit Wasser, 34

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Vgl. Kroll, Stefan/Pápay, Gyula: Wohnen und Wirtschaften in Stralsund um 1700. Ein historisches Stadtinformationssystem. In: Krüger, Kersten/Pápay, Gyula (Hrsg.): Stadtgeschichte und Historische Informationssysteme. Der Ostseeraum im 17. und 18. Jahrhundert. Beiträge des wissenschaftlichen Kolloquiums in Rostock vom 21. und 22. März 2002. 2. Aufl., Berlin 2007, S. 90-135, hier S. 123f. Vgl. Labahn 2006 (wie Anm. 30), S. 119f. Vgl. dazu demnächst auch Labahn, Karsten: Quartiere, Dämme und die Hafenvorstadt in Stralsund. Zur sozialräumlichen Gliederung der frühneuzeitlichen Stadt. In: Braun, Frank/ Kroll, Stefan/Krüger, Kersten (Hrsg.): Stadt und Meer im Ostseeraum. Seehandel, Sozialstruktur und Hausbau – dargestellt in historischen Informationssystemen. Beiträge des wissenschaftlichen Kolloquiums in Stralsund vom 8. und 9. September 2005 (im Druck). Vgl. Haack, Julia: Der vergällte Alltag. Zur Streitkultur im 18. Jahrhundert. Köln u.a. 2008.

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noch häufiger die Entsorgung von Abwasser, Geruchsbelästigung, vor allem der Streit um die sogenannten Abtritte, bauliche Fragen und störende Erwerbsarbeit – das waren die beherrschenden Themen. Nur ein weiteres Konfliktfeld war darüber hinaus statistisch gesehen relevant: die vermeintliche Beobachtung von Nachbarn, die sich dadurch in ihrer Privatsphäre verletzt fühlten. An verschiedenen Beispielen wird deutlich, dass es offenbar einen bestimmten Bereich des Hauses bzw. Grundstücks gab, den man für besonders abgrenzungsbedürftig und schützenswert hielt. So fühlte sich der Müller Greike 1761 durch seinen Nachbarn, den Schiffszimmermann Völsch, beobachtet, weil dieser im hinteren Bereich seines Hauses neue Fensteröffnungen ins Mauerwerk gezogen hatte. Greike klagte, dass Völsch über das, was er in Hof und Küche machte, mit anderen tratsche, er also alles gleich auf offener Straße tun könne. 38 Auch die Witwe Schlomann argumentierte ähnlich, als sie 1798 vor Gericht klagte, dass ihr Nachbar Höppner, wenn er ein neues Gebäude zweistöckig aufführe und Fenster einlasse, ihr „auf den Tisch und Bette“ sehen könne. 39 Beide Kläger, die sich in ihrer Privatsphäre verletzt fühlten, konnten sich auf das Fenster- und Lichtrecht berufen, das Bestandteil des Nachbarrechts war. Hof und Küche, Tisch und Bett gehörten in den üblicherweise eng bebauten Straßenzügen frühneuzeitlicher Städte zu den gegen Blicke von außen besonders geschützten Räumen. Wer als Nachbar in diesem sensiblen Bereich Fenster einbauen lassen wollte, musste sich um die Zustimmung der Betroffenen bemühen – oder aber fürchten, als Grenzverletzer angeklagt zu werden.

Schluss Im Ergebnis kann festgehalten werden: Nachbarschaftliche Verbindungen wurden von Bewohnern norddeutscher Städte im 17. und 18. Jahrhundert parallel oder alternativ zu anderen auf Gegenseitigkeit angelegten Formen sozialer Beziehungen eingesetzt, um „Sozialkapital“ anzusammeln und Notlagen vorzubeugen. Es war unter anderem Bestandteil zielgerichteter Strategien, Nachbarn als Paten auszuwählen, ihnen Vormundschaften übertragen zu lassen und sie als Zeugen von Rechtsgeschäften zu gewinnen. Nachbarschaftliche Netzwerke konnten sowohl zur Konstituierung als auch zur Überwindung sozialer Grenzen führen. Das Beispiel Stralsunds hat gezeigt, dass Stadtmauern über ihre rein räumliche Trennungsfunktion hinaus auch eine wichtige soziale Grenzlinie zwischen innerstädtischem Kernbereich und vor38 39

Vgl. ebd., S. 118f. Ebd., S. 119.

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städtischem Milieu markieren konnten. Die Analyse von Umzügen innerhalb einer Stadt kann dazu beitragen, den Stellenwert von Nachbarschaft für die Netzwerkstrategien frühneuzeitlicher Stadtbewohner zu ergründen und vor allem auch die Frage der Dauerhaftigkeit von Netzwerken klären zu helfen. Offenkundig war das Interesse am Aufbau beständiger nachbarschaftlicher Verbindungen in starkem Maße von den individuellen sozialen und ökonomischen Voraussetzungen sowie vom Lebensalter abhängig. Untersuchungen, die auf einer breiten prosopographischen Basis aufbauen, besitzen hinsichtlich der Repräsentativität ihrer Ergebnisse entscheidende Vorteile.

INKEN SCHMIDT-VOGES

Nachbarn im Haus Grenzüberschreitungen und Friedewahrung in der „guten Nachbarschaft“

„Man sagt im gemeinen Sprichwort: Es kan niemand länger Frieden halten, als sein Nachbar will“.1 So oder ähnlich steht dieser Satz in den meisten Haus- und Ehelehren der Frühen Neuzeit. Von Luther bis Florinus und noch in der Ratgeberliteratur des 19. Jahrhunderts wird er angeführt, wenn es darum geht zu zeigen, dass das „Haus“ weder „ganz“ noch ein geschlossener Mikrokosmos ist, sondern von einem dichten Netz an (funktionierenden) Außenbeziehungen abhängt.2 Dabei reflektiert die sogenannte „Hausväterliteratur“ durchaus die Ambivalenzen nachbarschaftlicher Beziehungen, die sich aus der Unfreiwilligkeit dieser Form der persönlichen Beziehungen, ihrer räumlichen Nähe, ihrer Unausweichlichkeit wie ihrer Notwendigkeit ergaben.3 Neben der für die frühneuzeitliche Hauswirtschaft existenziellen Nachbarschaftshilfe in Form von geldwerten Krediten, Verleih von Werkzeugen und der gemeinsamen Nutzung von Infrastruktur wie Waschplätzen oder Backöfen waren die nachbarschaftlichen Kontakte aus der Sicht der Verfasser der Ökonomiken von gemeinsamen Festen und Einladungen sowie direktem oder indirektem Informationsaustausch („Geschwätz“) geprägt. All dies barg aber auch viel Konfliktpotenzial, so dass der Umgang mit Nachbarschaftsstreitigkeiten ein zentrales Thema dieser Schriften darstellte.4

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Hohberg, Wolfgang Helmhard von: Georgica curiosa aucta/ durch ein Mitglied der hochlöblichen Fruchtbringenden Gesellschaft zum vierdten mal ans liecht gegeben. Bd. 1. Nürnberg 1701, Cap. XLIV, S. 45. Zur Bedeutung der sozialen Umwelt für die Konzeption der Ökonomiken vgl. SchmidtVoges, Inken: Oíko-nomía. Wahrnehmung und Beherrschung der Umwelt im Spiegel adeliger Haushaltungslehren im 17. und 18. Jahrhundert. In: Düselder, Heike/Weckenbrock, Olga/Westphal, Siegrid (Hrsg.): Adel und Umwelt. Horizonte adeliger Existenz in der Frühen Neuzeit. Köln 2008, S. 403-429. Zur soziologischen Konzeption von Nachbarschaft vgl. Günther, Julia: Nachbarschaft und nachbarschaftliche Beziehungen. In: Lenz, Karl/Nestmann, Frank (Hrsg.): Handbuch Persönliche Beziehungen. München/Weinheim 2009, S. 445-465. Vgl. Hahn, Philip: Geliebter Nächster oder streitsuchender Nachbar? Die Bewertung der Außenwelt in der „Hausväterliteratur“. In: Zeitensprünge 14 (2010) (im Druck).

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Wie in der Theorie – die „Hausväterliteratur“ war nie ein Spiegel sozialer Praxis, sondern immer eine Theorie derselben – so gingen auch in der sozialen Praxis die „Häuser“ als Kernelemente der „Nachbarschaft“ nicht einfach in dieser sozialen Formation auf. Vielmehr war das Verhältnis durch eine Vielzahl an Grenzen strukturiert, die den Handlungsspielraum wie auch unerwünschte Verhaltensweisen klar definierten. Das „Haus“ war als soziale und politische Institution wie keine andere durch ein ungewöhnliches Maß an Engführung von physischen, sozialen und normativen Grenzen und die durch sie definierten Räume gekennzeichnet: 5 1. Der umbaute Wohnraum mit den zur häuslichen Wirtschaft gehörenden Nebengebäuden (zumeist Stall, Hof und Garten) stellte sowohl in normativen Schriften (z.B. Ökonomiken) wie in juristischen (Kommentare, Gutachten, Dissertationen) den physischen Raum dar, der durch „die vier Pfähle“, das Tor und vor allem die Türschwelle eine sehr klare, markante physische Grenze aufwies. 6 2. Diese Grenze unterschied auch sehr deutlich über die Zugehörigkeit zum sozialen Raum „Haus“ (wer also die Türschwelle berechtigterweise übertreten durfte oder sogar musste 7 ). Dieser soziale Raum war definiert durch die rechtliche Unterstellung unter die patria potestas des Hausvaters und konstituierte sich durch die vielfältigen persönlichen Beziehungen im ehelichen Bereich zwischen Hausvater und Hausmutter, zwischen (Stief-)Eltern und (Stief-)Kindern, zwischen Herrschaft und Gesinde, zwischen den (Stief-)Geschwistern, zwischen Kindern und Gesinde und zwischen den Knechten und Mägden untereinander. 8 Diese Aufzählung macht deutlich, dass die aristoteli-

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Zur allgemeinen Begrifflichkeit von „Raum“ als einem mehrfach relationalen Kräftefeld und der Funktion von Grenzen sei aus der Fülle der mittlerweile erschienenen sozial- und kulturwissenschaftlichen Literatur exemplarisch verwiesen auf Löw, Martina: Raumsoziologie. Frankfurt a.M. 2001, bes. S. 130-138 und 158-179; und Schroer, Markus: Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums. Frankfurt a.M. 2006, bes. S. 174-181. Vgl. zur Bedeutung dieser physischen Grenzen Kramer, Karl-Sigismund: Das Herausfordern aus dem Haus. Lebensbild eines Rechtsbrauchs. In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 1956, S. 121-138. So etwa bei hereinbrechender Nacht, wenn Georg Beyer in seiner Dissertation zur häuslichen Sicherheit von 1701 darauf hinwies, dass es durchaus als Hausfriedensbruch anzusehen sei, wenn einer der Bewohner nach dem Schließen der Häuser um zehn Uhr abends noch Einlass erzwingen wolle. Vgl. Beyer, Georg: De Violatione Securitatis Domesticae. Haus-Friedensbruch. Proposita Wittebergae 1701. Jena 1713, S. 130. Der soziale Raum diente aber auch der Abgrenzung nach außen. Die engen Verflechtungen gerade in verwandtschaftlichen Abhängigkeiten (gerade auch beim Gesinde) waren immer wieder Gegenstand der sozial- und demographiegeschichtlichen Auseinandersetzungen mit dem Thema „Haus“, und aufgrund der starken regionalen Unterschiede ist eine übergreifende Definition sehr schwierig. Ein älterer, gleichwohl das Problem immer noch

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sche Dreiteilung des oikos in die drei Herrschaftsbereiche Ehe, Elternschaft und Herrschaft über das Gesinde die Vielfalt der persönlichen Beziehungen innerhalb einer Haushaltung nicht abdeckte. Da der oikos aber als Modell alle frühneuzeitlichen theoretischen Annäherungen an die Institution „Haus“ leitete, musste sich hier notwendig eine große Lücke zur sozialen Praxis ergeben. Mit den daraus erwachsenden Konflikten hatten sich die erstinstanzlichen Gerichte auseinanderzusetzen. 3. Auch der für diesen sozialen Raum entworfene Normenkatalog orientierte sich an einem aristotelischen Gesellschaftsmodell und deckte die Vielfalt nicht spezifisch ab, sondern verwies implizit auf die allgemeinen christlichen Tugenden. In den frühen, stärker theologisch inspirierten Hauslehren und der zahlreichen Predigtliteratur war das „Haus“ als ein Raum spezifischer Normativität entstanden, die sich vor allem aus der Funktion der oikonomia als Kern innerweltlicher Lebensführung und Bewährung ergeben hatte. 9 Rechtlich fixiert waren die Normen des Hauses nur in geringem Maße – im Hinblick auf den sozialen Raum durch Kirchen- und Eheordnungen. Der physische Raum hingegen war durch äußerst fragmentarische und heterogene Rechtstraditionen zum Hausfriedensbruch vertreten. 10 Führt man sich die Diskrepanz zwischen den theoretischen und juristischen Konzepten und der sozialen Praxis vor Augen, wird die Bedeutung regulierender nachbarlicher Beziehungen umso deutlicher. Überschreitungen dieser vornehmlich im sozialen und kulturellen Wissen verankerten Normen und der in ihnen repräsentierten Grenzen wurden als Störung der sozialen und politischen Ordnung wahrgenommen und entsprechend sanktioniert. Das Agieren frühneuzeitlicher Nachbarn beschränkte sich damit nicht nur auf die Grenzräume, welche die nachbarlichen Beziehungen eröffneten, sondern bedeutete auch das bewusste Überschreiten von häuslichen Grenzen im Falle nicht mehr tolerierbaren Fehlverhaltens innerhalb eines Hauses. Der Nachbarschaft kam also eine bedeutende Rolle bei der Stabilisierung der sozialen Ordnung zu – was in der Forschung vielfach betont wurde und wird: Im Zusammenhang der Forschungen zur Kirchen- und Sittenzucht

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präzise formulierender Beitrag ist Harris, Olivia: Households and Their Boundaries. In: History Workshop Journal 13 (1982), S. 143-152. Vgl. hierzu immer noch Hoffmann, Julius: Die „Hausväterliteratur“ und die „Predigten über den christlichen Hausstand“. Lehre vom Hause und Bildung für das häusliche Leben im 16., 17. und 18. Jahrhundert. Weinheim 1959 und Schorn-Schütte, Luise: Politische Kommunikation in der Frühen Neuzeit. In: Geschichte und Gesellschaft 32 (2006), H. 3, S. 273-314, hier S. 286-288. Neben einzelnen Stadt- und Landrechten kamen vor allem die Bestimmungen der Lex Iulia und entsprechender Abschnitte im Corpus Iuris Civilis zur vis privata zum Tragen. Vgl. hierzu Osenbrügge, Eduard: Der Hausfrieden. Ein Beitrag zur deutschen Rechtsgeschichte. Erlangen 1857 (ND Aalen 1968) und Trabandt, Joachim: Der kriminalrechtliche Schutz des Hausfriedens in seiner geschichtlichen Entwicklung. Hamburg 1970.

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stand die obrigkeitliche Regulierung bzw. die gemeindlich-nachbarliche Selbstregulierung im Mittelpunkt, während aus der Perspektive der Mikrogeschichte und der Historischen Kriminalitätsforschung Streitkulturen und Konfliktlagen behandelt wurden. 11 In Studien, die sich mit Fragen der Herrschaftsvermittlung vor Ort oder mit Machtprozessen auf der lokalen Ebene auseinandergesetzt haben, spielte die Nachbarschaft neben Funktionseliten und Korporationen bisher eine eher untergeordnete Rolle. 12 Zumeist stand dabei die soziale Kontrolle von Nachbarschaft im Mittelpunkt, sei es im Rahmen selbst organisierter Rügepraktiken à la Charivari oder in gerichtlichen Auseinandersetzungen, da Nachbarn aufgrund ihres reichen persönlichen Wissens wichtige Informationsträger waren. 13 11

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Vgl. Schmidt, Heinrich-Richard: Pazifizierung des Dorfes. Struktur und Wandel von Nachbarschaftskonflikten vor Berner Sittengerichten 1570-1800. In: Schilling, Heinz (Hrsg.): Kirchenzucht und Sozialdisziplinierung im frühneuzeitlichen Europa. Berlin 1994, S. 91-128; Friedeburg, Robert von: Anglikanische Kirchenzucht und nachbarschaftliche Sittenreform. Reformierte Sittenzucht zwischen Staat, Kirche und Gemeinde in England 1559-1642. Ebd., S. 153-182. Die Forschungen dazu siehe Munck, Thomas: Keeping the peace. „Good Police“ and civic order in 18th-century Copenhagen. In: Scandinavian Journal of History 32 (2007), S. 38-62; Löffler, Ursula: Dörfliche Amtsträger im Staatswerdungsprozess der Frühen Neuzeit. Die Vermittlung von Herrschaft auf dem Lande im Herzogtum Magdeburg, 17. und 18. Jahrhundert. Münster 2005 (= Herrschaft und soziale Systeme in der Frühen Neuzeit 8), S. 140-160; vgl. hierzu auch die mikrohistorischen Analysen von Schlumbohm, Jürgen: Lebensläufe, Familien, Höfe. Studien zu Bauern und Eigentumslosen in einem agrarisch-proto-industriellen Kirchspiel Nordwestdeutschlands. Belm 1650-1806. Göttingen 1994 und Sabean, David: Property, Production and Family in Neckarhausen, 1700-1870. Cambridge 1990. In den vorliegenden Untersuchungen wurden entweder bestimmte Institutionen und Korporationen behandelt, wie etwa „Schulz und Landgemeinde“, oder aber Korporationen innerhalb von Gemeinden nicht in Zusammenhang mit der Ordnungspolitik gestellt. Siehe hierzu die Aufsätze in den beiden Sammelbänden Rudert, Thomas/Zückert, Hartmut (Hrsg.): Gemeindeleben. Dörfer und kleine Städte im östlichen Deutschland (16.-18. Jahrhundert). Köln 2001; Holenstein, André/Ullmann, Sabine (Hrsg.): Nachbarn, Gemeindegenossen und die anderen. Minderheiten und Sondergruppen im Südwesten des Reiches während der Frühen Neuzeit. Epfendorf 2004 (= Oberschwaben – Geschichte und Kultur 12); Davis, Natalie Zemon: Glaube und nachbarschaftliche Beziehungen. Die Steine von Sainte-Croix. In: dies. (Hrsg.).: Frauen und Gesellschaft am Beginn der Neuzeit. Berlin 1989, S. 52-63; dies.: The Reason of Misrule. Youth Groups and Charrivaris in SixteenthCentury France. In: Past & Present 50 (1971), S. 41-75; dies.: Charivari, honneur et communauté à Lyon et à Genève au XVIIe siècle. In: Le Goff, Jacques/Schmitt, Jean-Claude (Hrsg.): Le Charivari. Actes de la table ronde organisée à Paris (25-27 avril 1977) par l’Ecole des Hautes Etudes en Science Sociales et le Centre National de la Recherche Scientifique. Paris 1981 (= Civilisations et sociétés 67), S. 207-220; Hammerton, A. James: The targets of „rough music“. Respectability and domestic violence in Victorian England. In: Gender & History 3 (1991), S. 23-44; Ingram, Martin: Ridings, rough music and the „reform of popular culture“ in early modern England. In: Past & Present 105 (1984), S. 79-113. Vgl. hierzu die Beiträge im Sammelband von Eriksson, Magnus/Krug-Richter, Barbara: Streitkulturen. Gewalt, Konflikt und Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft (16.-

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Inwieweit in solchen Ordnungsprozessen jene Grenzen, die Nachbarschaft strukturierten, ihre Sichtbarmachung in der Überschreitung und ihre kommunikative Revalidierung in Auseinandersetzungen vor Gericht von Bedeutung waren, wurde bisher allerdings nur ansatzweise beleuchtet. Bei den vornehmlich volkskundlichen Untersuchungen ging es dabei vor allem um das Überschreiten physischer Grenzen und deren symbolischer Aufladung im sozialen Kontext. 14 Denn im Gegensatz zur Nachbarschaft war das „Haus“ zwar auch ein sozialer und normativer Raum, aber sehr viel markanter und deutlicher durch physische Grenzen markiert, was auch tief im lebensweltlichen wie gelehrten Wissen verankert war. Dass die Überschreitung von Grenzen in Konflikten und ihre Wiederherstellung vor Gericht notwendig waren für eine langfristige Stabilisierung der häuslichen und nachbarlichen Beziehungen – und damit für die Ordnung des Gemeinwesens insgesamt –, wird in diesem Beitrag anhand von drei Fällen aufgezeigt. Dabei sollen folgende Fragen beantwortet werden: Was wurde überhaupt als Grenzüberschreitung wahrgenommen, warum wurden diese vor Gericht gebracht und schließlich wie konnten diese Grenzen wiederhergestellt und die Beziehungen stabilisiert werden? Wenn für Großstädte wie Paris oder London die Integrationskraft nichtkorporativer Nachbarschaft im 18. Jahrhundert festgestellt wurde, 15 kann man dies auch für Osnabrück unterstellen: eine normale, mittelgroße Stadt mit 5000-6000 Einwohnern, deren Tuchhandel nicht mehr so blühte wie früher, deren Stadtquartiere recht heterogene Nachbarschaften aufwiesen. Das Nebeneinander zweier Konfessionen bestimmte die Tagespolitik in Stadt und Stift maßgeblich, auf der Ebene der Nachbarschaft lässt es sich aber nur gelegentlich an der Wahl der Beleidigungen ablesen. 16

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19. Jahrhundert). Köln 2003 (= Potsdamer Studien zur Geschichte der ländlichen Gesellschaft 2); Capp, Bernard S.: When Gossips Meet. Women, Family, and Neighbourhood in Early Modern England. Oxford 2003; Dinges, Martin: Der Maurermeister und der Finanzrichter. Ehre, Geld und soziale Kontrolle im Paris des 18. Jahrhunderts. Göttingen 1994 (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 105). Zur Bedeutung der Nachbarn als Informationsträger vgl. Lenz, Karl/Nestmann, Frank: Persönliche Beziehungen – eine Einleitung. In: Lenz/Nestman 2009 (wie Anm. 3), S. 9-29, hier S. 15-20. Vgl. z.B. Kramer 1956 (wie Anm. 6), S. 121-138; Schubert, Hans-Achim: Nachbarschaft und Modernisierung. Eine historische Soziologie traditionaler Lokalgruppen am Beispiel Siebenbürgens. Köln/Wien 1980 (= Studia Transylvanica. Ergänzungsbände des Siebenbürgischen Archivs 6), S. 139-154. Vgl. Garrioch, David: Neighbourhood and Community in Paris. 1740-1790. Cambridge 1986; Boulton, Jeremy: Neighbourhood and Society. A London Suburb in the Seventeenth Century. Cambridge 1987. Dieser Eindruck beruht auf der Lektüre der Osnabrücker Gerichtsherrenprotokolle zwischen 1760 und 1809, ohne jedoch quantifizierend untersucht worden zu sein. Die konfessionelle Zuordnung einzelner Fallstudien ergab, dass protestantische Ehemänner ihre

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Alltagsweltliche Konflikte zwischen Nachbarn finden sich vor allen Dingen in den zivilrechtlichen Protokollen des Ratsgerichts. Die meisten von ihnen wurden als summarische Causae abgehandelt, also als Fälle, die entweder aufgrund ihrer Geringfügigkeit oder aber ihrer Dringlichkeit zügig – d.h. ohne ordentliches, schriftliches Verfahren – zumeist mündlich geschlichtet wurden. 17 Schriftliche Eingaben waren eher selten, ebenso weitere Instanzenzüge, weil dann die Befreiung von Gerichtsgebühren für Arme nicht mehr galt. Befragt man nun diese Protokolle darauf, was in nachbarlichen Auseinandersetzungen eigentlich zum Konflikt geführt hat, welche Grenzen hier so massiv übertreten wurden, dass es nicht mehr toleriert werden konnte, fallen zwei Arten von Grenzen besonders ins Gewicht: die physischen Grenzen als Trennlinie zwischen „häuslichen“ und „öffentlichen“ Bereichen sowie die ethisch-moralischen Grenzen, welche die Verhaltensformen zwischen Nachbarn regulierten. Die Verletzung physischer Grenzen war dabei am offensichtlichsten, zumal das unerwünschte „Eindringen“ in den Herrschaftsbereich eines anderen Hausvaters auch rechtlich als „Hausfriedensbruch“ sanktioniert werden konnte. Inwieweit dieses Eindringen illegitim war oder nicht, stand keineswegs von vornherein fest, wie die Klage des Ehepaares Schröder gegen ihren Nachbarn Hillebrandt im Jahre 1787 zeigt. Hillebrandt habe sich gegen den Willen der Schröders Zutritt zu ihrem Hause verschafft und dabei die Frau geschlagen. Hillebrandt verteidigte sich mit dem Hinweis, dass der Schröder und seine Frau, „welche letztere boshafft gewesen, und welches er mit Zeugen beweisen könnte, […] einen Lärm gemacht als wenn sie sich umbringen wollten“. 18 Auch Hillebrandts Magd bestätigte, sie habe „gehört daß Schröder und seine frau einen gewaltigen lerm im Hause gemacht auch sich geschlagen hätten. Die Kinder hätten abscheulich geschrien und wie sie und andere ein Weinen gehört hätten das Kind wäre todt hätten sie alle den Hillebrandt gebeten hinzugehen und frieden zu halten“. 19

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Frauen gerne als „Frantzosen-Canaille“ beschimpften, während katholische eher die „Domherren-Huhre“ bevorzugten. Eine systematische Untersuchung der frühneuzeitlichen Zivilprozesspraxis auf der niedergerichtlichen Ebene steht noch aus; vgl. hinführend die Beiträge im Band von Oestmann, Peter (Hrsg.): Zwischen Formstrenge und Billigkeit. Forschungen zum vormodernen Zivilprozess. Köln 2009 (= Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 56) und Weinreich, Othmar: Der Zivilprozess nach der Münsterischen Landgerichtsordnung von 1571 sowie der Vechtischen Gerichtsordnung von 1578. Die Praxis des Gogerichtes auf dem Desum im Oldenburgischen Münsterland in den Jahren 1578-1652. Münster 2004 (= Juristische Schriftenreihe 233). Niedersächsisches Landesarchiv Staatsarchiv Osnabrück (NLA StA OS) Dep 3b IV, Nr. 253, fol. 89. Ebd.

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Die vermutete Lebensgefahr rechtfertigte demnach das Eingreifen. Besondere Bedeutung maßen die Zeugen dabei der „Entgrenzung“ des innerhäuslichen Konfliktes zu, da er für viele Nachbarn zu hören und zu sehen gewesen sei. Indem das Ehepaar durch seine hörbare Gewalttätigkeit eine normative Grenze verletzt hatte, die auf der Folie einer seit längerem registrierten, aber tolerierten „Boshafftigkeit“ wahrgenommen worden war, legitimierte dies in den Augen der Nachbarn eine grenzüberschreitende Intervention. Schröders hingegen beharrten auf dem Vorwurf des gewaltsamen Eindringens des Nachbarn, indem sie ihren Streit als einen harmlosen Wortwechsel herunterspielten. Wie wichtig dabei das Übertreten der Türschwelle war, zeigt sich in der intensiven Schilderung dieses kurzen Moments. Schröder gab an, dass „er um weitern Wortwechsel zu vermeiden sich auf der Kammer begeben. Seine Frau sey unten geblieben […] gleich nacher [habe] jemand vor der Thüre des Hauses geklopfet und sie offen gemacht habe sie vor der Thüre Hillebrands Sohn, deren Knecht und Classens Sohn angetroffen. Einer von diesen, sie meyne Joh. Henr. Hillebrandt, habe sie angegriffen, die andern gerufen Schlagt zu – und sie auf den Kopf geschlagen, wovon sie zur Erden gefallen.“ 20

Dagegen erklärte Hillebrandt, dass „[w]ie er nun angeklopft und die frau ihm die Thüre geöfnet habe, sie ihn gleich ausgeschimpft worauf er sie geschlagen, sie zur Erde gefallen und sein Knecht der herzugekommen sie auch geschlagen.“ 21 Beide Parteien greifen damit Argumente auf, die auch im juristischen gelehrten Diskurs eine zentrale Rolle bei der Definition des Hausfriedenbruchs spielen 22 – allerdings hier vor dem Hintergrund lebensweltlicher Wissensbestände und Sinnstrukturen. Nachbarliche Einmischung bedeutete vielfach auch, Stellung in ehelichen Konflikten zu beziehen. Zuflucht im Nachbarhause zu suchen, war in solchen Auseinandersetzungen durchaus üblich. So sagte etwa Johann Elias Hurrelbaum 1763 über den Torwächter Back, dessen Frau sich bei ihm aufhielt, aus: „Es wäre tag und nacht kein friede in Beklagtens Hause“, und erinnerte sich an einen Vorfall vor anderthalb Jahren, als Back seine Frau mit dem Degen so schwer verletzte, dass sie ihr Kind verlor. Auch ein zweiter Nachbar sagte aus, dass „wie die gantze Nachbarschafft bezeugen könne, der Mann immer betrunken sei und seine Frau jämmerlich prügelte […] immer

20 21 22

Ebd. Ebd. Vgl. hierzu etwa Struve, Friedrich Gottlieb: Tractatus de pace domestica vulgo vom HausFrieden in quo haec materia ex iuris naturalis et gentium principiis nec non iuris civilis ac canonici ac feudalis placitis derivatur […]. Jena 1713, Kap. 4, Th. 15.

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ein Lärm im Hause als wann es in Brand stünde.“ 23 Außerdem habe die Back’sche sich schon öfters in verschiedene Nachbarhäuser zurückgezogen, wohin der Mann ihr dennoch gefolgt sei und „sie daselbst weiter geschlagen und stöhrte sich nicht daran ob es Son- oder Fasttag wäre“. 24 Auch in diesem Fall folgte die Verletzung physischer Grenzen der massiven Missachtung normativer Grenzen. Im Unterschied zum vorherigen Fall machte die Ehefrau auf die ihr drohende Gefahr durch ihre Flucht aufmerksam, trug den Konflikt auf die Gasse und band so die Nachbarschaft mit ein. Es war der gewalttätige Ehemann, der sich durch das unerwünschte Eindringen in die Nachbarhäuser hier vermeintliche haus- und eheherrliche Rechte gegenüber seiner Frau angemaßt hatte. Das Ignorieren der grundlegenden Schutzräume und -zeiten wurde von den Nachbarn vor dem Hintergrund einer bereits länger andauernden Missachtung normativer Grenzen besonders herausgestellt – Trunksucht, Gewalttätigkeit und Gottlosigkeit prägten die nachbarliche fama des Mannes. 25 Explizit formulierter „Hausfriedensbruch“ kam dagegen nicht so oft vor, noch seltener wurde er im eigentlichen juristischen Sinne behandelt. Oftmals war es ein rhetorisches Mittel, um die Unzumutbarkeit eines nachbarlichen Verhaltens zu unterstreichen, wie die Rechtfertigungsstrategie des Schlachtermeisters Kroos aus dem Jahre 1768 zeigt: Sein Nachbar Peistrup hatte ihn angeklagt, mit einer Flinte auf seine Frau geschossen zu haben, welche lediglich eine ausstehende Schuld habe eintreiben wollen. Kroos hingegen gab an, die Frau habe ihn bereits „auf öffentlicher Straße“ 26 massiv beschimpft und beleidigt, sei dann in sein Haus gekommen und handgreiflich geworden. Daraufhin habe er, „um solche grobe injurantin und Hausfriedens-störerin loß zu werden und Ruhe im Hauße zu erlangen“, 27 selbige aus dem Hause gestoßen – und weil sie mit ihren Injurien nicht aufhörte, habe er im Hause Pulver gezündet, „so den effect gehabt, daß darauf die Klägerin endlich mit ihrem öffentlichen schelten und schmähen eingehalten und in ihr Hauß gegangen.“ 28 Neben dem Zusammenspiel verschiedener Grenzverletzungen wird auch deutlich, dass die Verortung des Konfliktaustrages, die Nutzung unterschiedlicher Räume und die bewusste Grenzüberschreitung durchaus zur Durchsetzung von Interessen genutzt wurden. Die Beschimpfung auf der Straße machte das Fehlverhalten öffentlich, was vom Beschuldigten ebenso massiv

23 24 25 26 27 28

NLA StA OS Dep 3b IV, Nr. 235, fol. 34. Ebd. Zum Konzept des „repetitiven Alltags“ und seiner Bedeutung für soziale Raum- und Grenzkonstitutionen vgl. Löw 2001 (wie Anm. 5), S. 166-172. NLA StA OS Dep 3b IV, Nr. 236, fol. 247. Ebd. Ebd.

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zurückgewiesen wurde, indem er seine Kontrahentin erst aus seinem Haus heraus und dann mit Hilfe des Schreckschusses in ihr Haus hinein verwies. In der Tat lässt sich feststellen, dass „Hausfriedensbruch“ in vielen Fällen dann im Raum stand, wenn Konflikte eskalierten, die sich aus nachbarschaftlichen Hilfeleistungen ergeben hatten, nach denen eine entsprechende Gegenleistung ausgeblieben war: In diesem Falle ein Kredit, in anderen Fällen eine Gartenpacht, aber auch geliehene Haushaltsgegenstände, Kleider oder Dienstleistungen – etwa von Hebammen oder Prokuratoren. War die Verletzung physischer Grenzen gut zu diagnostizieren, waren Verstöße gegen die ungeschriebenen Gesetze der „guten Nachbarschaft“ aber weniger offensichtlich – zwar wurden Grenzgänge recht deutlich und schnell registriert, aber wann der „point of no return“ erreicht war, war keineswegs eindeutig. Exemplarisch für diese Unschärfe mag hier die Klageschrift des Osnabrücker Kaufmanns Schledehaus gegen seinen Nachbarn und Kollegen Blechen stehen, der wie er selbst aus einer alteingesessenen Ratsfamilie stammte: Blechen habe „die kurtze Zeit, er hie gewohnet […] mit allen Nachbahren so viele Streit gesucht […] gantz keinen frieden halten wollen.“ 29 Ganz „weitläuffig“, wie der Gerichtsschreiber vermerkte, listete er die Grenzüberschreitungen von Blechen auf: Dieser habe ihn mehrfach angepöbelt und wegen Nichtigkeiten unangekündigt vor Gericht zitiert. Darüber hinaus habe er mehrfach mit Knüppeln nach seinen Hühnern auf der Straße geworfen und dabei die Tür einer Witwe beschädigt, die einige Häuser weiter wohnte. Auch andere Nachbarn seien dabei fast am Kopf getroffen worden, bis schließlich ein Kirchenältester, der gerade ein Geschäft abschloss, am Fuß verletzt wurde. Endgültig habe Blechen das „Maß“ voll gemacht, als er des Sonntags beim Mittagessen ins Haus platzte, Schledehaus als Pferdedieb beschimpfte, eine Forke hinter der Tür ergriff und sowohl Schledehaus als auch dessen Familie bedrohte. Was immer der Hintergrund des Konfliktes war, eingeklagt wurde die Ehrverletzung; die Überschreitung der physischen Grenze, die körperliche Bedrohung und Gefährdung im eigenen Haus, die durch den Hinweis auf das Sonntagsessen noch gesteigert wurde, erscheint als Kulminationspunkt und „Marker“ einer Vielzahl von störenden kleineren sozialen und normativen Grenzverletzungen, die erst in der Summe das Bild eines „bösen Nachbarn“ zeichneten. Die wenigen Beispiele haben gezeigt, dass das „Haus“ als ein eigenständiger physischer wie sozialer Raum zugleich das Kernelement von Nachbarschaft war. Deren Intervention in innerhäusliche Angelegenheiten war durch allgemein gültige Grenzen geregelt – so war das Eintreten in ein Haus nur mit Zustimmung möglich, wie auch Hilfe und Unterstützung nicht aufgezwungen werden konnten. Verließ das Verhalten der Hausbewohner aber den Bereich des „Normalen“ (das, wie gezeigt, nicht nur durch abstrakte Normen, son29

Ebd., Nr. 239, fol. 159.

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dern vor allem durch das persönliche Wissen und Erfahrungssedimente geprägt war) und erreichte es ein Ausmaß, das als Verletzung des Friedens wahrgenommen wurde, war ein ungefragtes Eingreifen möglich. Erst die Verletzung des innerhäuslichen Friedens – oft durch verbale und physische Gewalt im Sinne der violentia – rechtfertigte in den Argumentationen vor Gericht den Bruch des Hausfriedens durch die Nachbarn. Nur wenn Nachbarn selbst als Konfliktpartei ihre Auseinandersetzung in das Haus des Kontrahenten trugen, erst dann wurde „Hausfriedensbruch“ explizit als solcher formuliert. Die wenigen Beispiele aus Osnabrück fügen sich in das komplexe Geflecht von konflikthaften nachbarschaftlichen Beziehungen, wie sie für andere Städte beschrieben worden sind. Konflikte entstanden aus einem in großem Maße gemeinsam geteilten Alltag, gemeinsam genutzten Räumen. Im Austrag dieser Konflikte stand dabei nicht nur der eigentliche Anlass zur Debatte, immer ging es dabei auch um den Erhalt und den Ausbau des sozialen Ansehens, der eigenen Ehre. 30 Die Schilderung Schledehausens macht aber auch deutlich, warum solche Nachbarschaftskonflikte vor Gericht ausgetragen wurden und nicht mehr einem Prozess der Selbstregulierung überlassen waren: Das Verhalten seines Nachbarn gefährdete die Sicherheit der Nachbarn sowohl im Hinblick auf ihr Eigentum, ihren Körper und ihre Ehre. Ehrverletzungen bedurften einer öffentlichen, formalen Wiederherstellung, was nur eine gerichtliche Schlichtung erreichen konnte. 31 Aber auch die Bedrohung von Eigentum und Leben von städtischen Einwohnern war eine Angelegenheit, der sich die Obrigkeit anzunehmen hatte. Das wird auch in einigen Protokollen so festgehalten, wenn Kontrahenten darauf hinwiesen, dass die Richter im Sinne der „Aufrechterhaltung öffentlicher Ruhe und Sicherheit den Beklagten als einen vorseetzlichen hausfriedensbrecher und Stöhrer der öffentlichen Sicherheit“ 32 anzusehen hätten. Die Gewährleistung der Sicherheit von körperlicher beziehungsweise materieller Unversehrtheit stellte auch im gelehrten juristischen Diskurs den Hebelpunkt dar, an dem die Obrigkeit solche Vergehen ahnden konnte und musste. 33 30

31

32 33

Vgl. hierzu Garrioch 1986 (wie Anm. 15), S. 16-55; Dinges 1994 (wie Anm. 13), S. 132137; Hardwick, Julie: Family business. Litigation and the political economy in daily life in early Modern France. Oxford 2009, S. 128-167. Zu den vielschichtigen Aspekten der Ehrverletzung und -wiederherstellung in nachbarschaftlichen Kontexten vgl. Dinges 1994 (wie Anm. 13), S. 139-172; Fuchs, Ralf-Peter: Um die Ehre. Westfälische Beleidigungsprozesse vor dem Reichskammergericht 1525-1805. Paderborn 1999 (= Forschungen zur Regionalgeschichte 28); Schreiner, Klaus (Hrsg.): Verletzte Ehre. Ehrkonflikte in Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Köln 1995 (= Norm und Struktur 5). NLA StA OS Dep 3b IV, Nr. 237, fol. 143. Vgl. hierzu den einzigen Versuch einer Rechtssystematisierung zum Hausfriedensbruch im Alten Reich: Struve 1713 (wie Anm. 22).

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Hinter diesen konkreten Rechtsbrüchen lassen sich aber auch weitere Funktionen entdecken, die auf eher grundsätzliche Ordnungsfunktionen eines gerichtlichen Konfliktaustrags abheben. Denn gerade in diesen summarischen Prozessen wurden angeklagte Verhaltensmuster und Handlungen in erster Linie vor dem Hintergrund „sozialen Sinns“ wie auch der moralischen Normen diskutiert und bewertet. Nicht die spitzfindige Auslegung von Recht war entscheidend, sondern eine Konfliktlösung, die in Übereinstimmung mit den Billigkeitsvorstellungen der Konfliktparteien wie auch der beteiligten „Öffentlichkeit“ – hier der weiteren Nachbarschaft – gebracht wurde, ohne jedoch die normativen Grenzen zu verletzten und die Autorität obrigkeitlicher Urteilssprüche in Frage zu stellen. Die Funktion der Nachbarschaft lag gerade in der intensiven Involvierung in häusliche Beziehungen, die sich aus dem oft großen persönlichen Wissen der Nachbarn voneinander speiste. Dieses ergab sich nicht nur durch die Einsehbarkeit von Wohnverhältnissen und Hellhörigkeit, die unbeabsichtigte Teilhabe am familiären und ehelichen Leben gestatteten. Auch die Inanspruchnahme und Gewährung nachbarlicher Unterstützung setzte unweigerlich eine Öffnung und Preisgabe intimerer Aspekte und Schwächen voraus. Aber auch das geliebte wie gefürchtete „Geschwätz“ sorgte für Wissen aus „zweiter Hand“. Soziale Kontrolle als Komplementär nachbarlicher Unterstützung war aber weder unilateral durch die Obrigkeiten abrufbar, noch musste es sich zwangsläufig negativ für die betroffenen Nachbarn auswirken. 34 Immer wieder zeugen die Bezugnahmen von Streitparteien von der affirmativen Funktion der nachbarlichen Zeugenschaft, etwa wenn während einer Auseinandersetzung ein Lärm entstand, dass „die gantze nachbarschafft auf öffentlicher Straße auf die beine gebracht“ 35 worden sei oder jemand so laut schimpfte, „dass die gantze nachbarschafft gegen sie zusammenkomme“. 36 Aber nicht nur das Wissen vom Verlauf eines Konflikts, sondern vor allem das Hintergrundwissen über Charakter und Lebenswandel war bedeutungsvoll: Respektierung oder Verletzung von Grenzen im Alltag, die wahrgenommen, aber nicht unbedingt thematisiert wurden und damit latent blieben. Ein richterlicher Schlichtungs- oder Urteilsspruch schuf eine Verbindlichkeit im Hinblick auf Inklusion und Exklusion bestimmter Verhaltensweisen und war damit für die Stabilisierung der persönlichen Beziehungen wie auch der sozialen Netzwerke vor Ort von maßgeblicher Bedeutung. Vor Gericht zu gehen brachte eine neue Qualität in den Konflikt, zumal zu gewärtigende Strafen lange im sozialen Gedächtnis präsent blieben. Immer wieder lassen 34 35 36

Vgl. Garrioch 1986 (wie Anm. 15), S. 29-32; Capp 2003 (wie Anm. 13), S. 269-271. NLA StA OS Dep 3b IV, Nr. 236, fol. 249. Ebd., Nr. 246, fol. 239.

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sich in den Akten Hinweise finden, dass eine verbüßte Haftstrafe auch nach Jahren in verbalen Auseinandersetzungen durchaus vorgehalten wurde. 37 Wenn demnach in den Gerichtsverhandlungen nicht nur konkrete Tatumstände, sondern vor allem deren Bewertung vor dem Hintergrund eines oft jahrelang beobachteten „Tuns und Lassens“ verhandelt wurde, ging es zentral um die Frage der Ausgestaltung normativer Handlungsvorgaben, die Gültigkeit und Anwendbarkeit von Alternativen in ganz spezifischen, individuellen Konstellationen. Indem sich also Nachbarn, die häuslichen Konfliktparteien und die Obrigkeit darüber auseinandersetzten, wie in einem bestimmten Haushalt Macht, Kompetenzen und Zuständigkeiten verteilt sein sollten, machten sie die Gerichtsverhandlung zu einem besonderen Ort politischer Kommunikation – wenn man die zentrale Bedeutung von „Ehe“ und „Haus“ für die politische Theorie der Frühen Neuzeit bedenkt. Darauf verwies jüngst Julie Hardwick, indem sie auf das gemeinsame Interesse der an solchen erstinstanzlichen Verhandlungen Beteiligten verwies und diese als litigation communities bezeichnete. 38 Dennoch kann gerade im Rahmen der Nachbarschaft und nachbarschaftlicher Auseinandersetzungen keine klare Trennlinie zwischen sozialen und politischen Ordnungsprozessen gezogen werden. Richter, Prokuratoren, Schreiber und Ratsdiener waren allzuoft selbst auch als Nachbarn in Auseinandersetzungen involviert. So beginnt etwa am 12. April 1771 die Verhandlung unter dem vorsitzenden Gerichtsherren Stüve mit den Worten: „Nachdem Censor Dr. Stüve referiret, daß als am vorigen Sonnabend, wie er des Mittages am Tische gesessen, ein gewaltiger auflauff entstanden, und er sich erkundiget was vor sich ginge, er erfahren und selbst gehöret das in Enax Hause ein gewaltiger lerm wäre, Er habe alsobald seinen Haußknecht hingesandt, und dem Enax bedeuten lassen ruhig zu seyn, wiedrigen falls er ihn in die Wache bringen zu lassen genöthiget wäre.“ 39

Der gerichtliche Austrag stellte somit eher einen kommunikativen Aushandlungsprozess dar, durch den sich alle Beteiligten mitsamt der die Obrigkeit vertretenden Richter über die Gültigkeit der Grenzen verständigten und diese damit immer wieder neu bestätigten und auch wiederherstellten. 37

38 39

Vgl. ebd., Nr. 241, fol. 196, 25. Juni 1774: „Tobackmacher Schledehaus wiederholte seine Klage, daß die Ehefrau Schwiterings ihm in voriger Woche unter anderen Schimpfworten zugleich Zibürchenteufel genannt, und ihm dadurch eine ehedem erlittene Strafe aufgerückt hätte, wie sie dann auch vor seinem Fenster des Abends horchte, so sie anderwärts ebenfalls thäte.“ Der „Zibürchen“ war in Osnabrück der Ort für kürzere Haftstrafen. Vgl. hierzu auch Hardwick 2009 (wie Anm. 30), S. 183-219. Vgl. Hardwick 2009 (wie Anm. 30), S. 90-93. NLA StA OS Dep 3b IV, Nr. 238, fol. 9. Auch in diesem Zitat wird die Engführung von physischen, sozialen und normativen Grenzen deutlich.

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Die Problemfelder, die sich bei einem solchen Aushandlungsprozess ergaben, lassen sich im Entscheidungsverhalten sehr gut ablesen. Denn die für die Ordnung des Gemeinwesens notwendige Re-Stabilisierung der nachbarlichen und häuslichen Beziehungen stand allzu oft im Widerspruch zu jeweiligen Gerechtigkeitsvorstellungen – ein Problem, das aktuell in der Politikwissenschaft als das der transitional justice bekannt ist. 40 Hinzu kam, dass die Grenzüberschreitungen in den seltensten Fällen rechtlich fixierte Grenzen betrafen, die durch die Anwendung materiellen Rechts zu lösen gewesen wären, sondern dass die dahinter stehenden Konfliktursachen in gestörten persönlichen Beziehungen begründet waren, die durch Moralnormen reguliert waren – Normen, die man anmahnen und sanktionieren, nicht aber erzwingen konnte. Dies erklärt die aus heutiger Perspektive mitunter etwas hilflos anmutenden Schiedssprüche. Konkrete Gewaltanwendungen beider Seiten verbaler oder körperlicher Art wurden zwar mit Geld- und Haftstrafen belegt: So musste etwa der zur Rettung herangeeilte Hillebrandt aus dem ersten Fall 2 Mariengroschen Strafe zahlen; ebenso das streitende Ehepaar. Der Schlachter mit der Flinte wurde zur Zahlung seiner Schuld sowie zu einer Geldstrafe verurteilt, auch der wütende Kaufmann wurde mit einer Geldstrafe belegt. Der saufende und prügelnde Ehemann wurde für mehrere Tage in den Turm gesperrt und erst nach dem Schwur der Urfehde wieder freigelassen. Diese Maßnahmen betrafen aber nur den unmittelbaren Konflikt. Für die Re-Stabilisierung der zerrütteten Beziehungen stand den Richtern nur die formale Versöhnung und Ehrenerklärung beider Kontrahenten zur Verfügung und die in vielen Fällen anzutreffende Ermahnung, künftig bei arbiträrer Strafe „friedlich miteinander zu leben“. Diese Form der Streitbeilegung ist auch in anderen Untersuchungen als notwendig herausgestellt worden, da für das Funktionieren dieser existentiellen sozialen Netzwerke ein halbwegs gütliches Auskommen wichtig war und man die Kontrahenten nicht auf Dauer herausnehmen konnte. 41 Der Verweis auf den Frieden ist dabei keineswegs als rhetorische Formel zu betrachten. Sie verweist die Kontrahenten ganz nachdrücklich auf den Normenhorizont, vor dem sie ihre nachbarlichen und häuslichen Beziehungen neu aufbauen sollten. Die „gute Nachbarschaft“ beruhte auf der allge-

40

41

Vgl. z.B. Kayser-Whande, Undine/Schell-Fauco, Stephanie: Transitional Justice and Civilian Conflict Transformation. Current research, future questions. Marburg 2008 (= CCS Working Papers 10). Vgl. Dinges 1994 (wie Anm. 13), S. 207-213; Hardwick 2009 (wie Anm. 30), S. 186-195; Muldrew, Craig: The Culture of Reconciliation. Community and the Settlement of Economic Disputes in Early Modern England. In: The Historical Journal 39 (1996), S. 915942.

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meinen Vorstellung eines friedfertigen, respektvollen Umgangs miteinander, die im christlichen Ideal der Nächstenliebe wurzelte. 42 Die Wirkmächtigkeit des Friedensbegriffes zeigte sich bereits in den Aussagen der Konfliktparteien selbst, in denen immer wieder der Bezug auf den „Frieden“ hergestellt wurde, um bestimmte Missstände zu benennen bzw. zu beseitigen. Die Bezugnahme auf den Frieden war für die Benennung dieser Grenzübertretungen ganz entscheidend. War der „Frieden“ durch nachbarliches Fehlverhalten gefährdet, konnte und musste interveniert werden. Das galt auch für die Wiederherstellung der Grenzen vor Gericht. Die Grenzüberschreitungen wurden in der Kommunikation vor Gericht sehr markant mit dem Friedensbegriff verknüpft – sowohl sprachlich als auch symbolisch im rituellen Versöhnungshandschlag. Dabei spielten rechtlich definierte Vorstellungen, wie etwa die des Hausfriedensbruchs, nur eine vordergründige Rolle. Viel wichtiger war zum einen die Abwendung von unmittelbar lebensbedrohlicher Gewalt, zum anderen aber das übergeordnete Ideal der Friedfertigkeit, das immer wieder aufscheint. Den zentralen Bezugspunkt bildete hier die Ehre der Beteiligten, die nach ihrer Verletzung wieder hergestellt werden musste, um stabile Beziehungen zu ermöglichen. Im Umkehrschluss bedeutete dies aber auch, dass die „Friedewahrung“ vor Gericht lediglich ein Minimalprogramm abdecken konnte – nämlich die formale Wiederherstellung von Sicherheit und Integrität von Eigentum, Körper und Ehre. Die moralische Maximallösung konnte allenfalls angemahnt werden. Aus diesen Skizzen zum Zusammenhang zwischen nachbarlichen Grenzziehungen und -übertretungen sowie politischen Ordnungsprozessen soll abschließend festgehalten werden, dass zum einen „Nachbarschaft“ ein ganz entscheidendes Regulativ im Kontext der Ausgestaltung normativer Vorgaben darstellte, da gerade für die Institution des „Hauses“ diese Normen nur zum kleinsten Teil juristisch fixiert waren. Es galt vielmehr, die Vielfalt der Möglichkeiten des Haushaltens – der Eheführung, der Kindererziehung und der Gesindeführung –, also die Komplexität der sozialen Beziehungssysteme und Netzwerke, in die jeder einzelne „häusliche Akteur“ eingebunden war, in ein System normativ strukturierter, aber dennoch dynamischer und flexibler Handlungsräume einzugliedern, um das Funktionieren der sozialen Ordnung zu gewährleisten. Die gerichtlichen Aushandlungsprozesse mit ihren oft der Billigkeit geschuldeten Schlichtungs- und Urteilssprüchen dienten dabei in erster Linie 42

Vgl. Schmidt-Voges, Inken: Das Haus und sein Frieden. Plädoyer für eine Ausweitung des politischen Friedensbegriffs in der Frühen Neuzeit. In: dies./Westphal, Siegrid u.a. (Hrsg.): Pax perpetua. Neuere Forschungen zum Frieden in der Frühen Neuzeit. München 2010 (= Bibliothek Altes Reich 6), S. 197-219.

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der Markierung bestimmter Grenzen, die überschritten worden waren. Durch ihre Sichtbarmachung und richterliche Affirmation war die Gültigkeit dieses dynamischen, nicht auf Rechtsnormen beruhenden Normensystems bestätigt. Dies zeigt sich vor allem darin, dass dabei der zentrale Bezugspunkt und Legitimationsrahmen die Bewahrung bzw. Wiederherstellung des Friedens war. Durch die sprachliche Repräsentation des Friedens wurde auf die Unverletzlichkeit der jeweiligen Grenzen verwiesen – was nicht nur den Ausschluss von Gewalt implizierte, sondern auch ein verlässliches Handlungs- und Verhaltensmuster im täglichen Umgang miteinander. Nachbarschaftlich kommunizierte und regulierte Grenzen waren demnach von zentraler Bedeutung für die Wahrung des gesellschaftlichen Friedens. Anhand der aufgeführten Beispiele konnte gezeigt werden, dass nachbarschaftliche Beziehungen und Funktionsmechanismen von Nachbarschaft sich durch eine Analyse mit raum- und grenzbezogenen Konzepten sehr präzise darstellen lassen. Konfliktursachen, Konfliktgegenstände und Konfliktregulierung bestätigen das in der Forschung bereits gezeichnete Bild frühneuzeitlicher Nachbarschaften; deren Verortung innerhalb der räumlichen Verflechtung von physischen, sozialen und normativen Räumen ermöglicht die Abbildung der charakteristischen komplexen Verflechtungen, Überschneidungen und Überlagerungen mit weiteren sozialen Netzwerken und zeigt, dass Nachbarschaft durch wesentlich mehr Räume und Grenzen strukturiert ist, als der sprichwörtliche Blick über den Gartenzaun glauben lassen mag.

HENDRIKJE CARIUS

Transformierte Eigentumskonflikte Semantiken gerichtlicher Aushandlung nachbarlicher Grenzen

Nachbarschaftliche Konflikte um Grenzen von Eigentumsrechten oder Grenzüberschreitungen tangierten einen für den städtischen Sozial- und Rechtsfrieden außerordentlich sensiblen Bereich. Dies korrespondierte mit der omnipräsenten Sorge um Eigentum und Besitz – einem Charakteristikum der frühneuzeitlichen Eigentümergesellschaft, das mit dem Blick auf die Eigentumsdelinquenz bislang eher auf kriminalitätshistorisches Interesse stieß. 1 Zivilrechtliche Eigentums- und Besitzstreitigkeiten finden als zentrale Elemente städtischer Kultur hingegen erst neuerdings Beachtung. 2 Auch Konflikte im Rahmen von Nachbarschaft als wichtigster familienübergreifender Gruppe innerhalb der städtischen Gesellschaft sind erst jüngst in den Fokus frühneuzeithistorischen Interesses gerückt. 3

1

2

3

Vgl. Eriksson, Magnus/Krug-Richter, Barbara (Hrsg.): Streitkulturen. Gewalt, Konflikt und Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft (16.-19. Jahrhundert). Köln/Weimar/Wien 2003 (= Potsdamer Studien zur Geschichte der ländlichen Gesellschaft 2); Schmidt, Heinrich Richard: Pazifizierung des Dorfes – Struktur und Wandel von Nachbarschaftskonflikten vor Berner Sittengerichten 1570-1800. In: Schilling, Heinz (Hrsg.): Kirchenzucht und Sozialdisziplinierung im frühneuzeitlichen Europa. Berlin 1994 (= Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 16), S. 91-128; Sutter, Pascale: Von guten und bösen Nachbarn. Nachbarschaft als Beziehungsform im spätmittelalterlichen Zürich. Zürich 2002; Habermas, Rebekka: Eigentum vor Gericht. In: WerkstattGeschichte 42 (2006), S. 25-43; Schuster, Peter: Die mittelalterliche Stadtgesellschaft vom Eigentum her denken. Gerichtsquellen und Mentalitäten im späten Mittelalter. In: Monnet, Pierre/Oexle, Otto Gerhard (Hrsg.): Stadt und Recht im Mittelalter. La ville et le droit au Moyen Age. Göttingen 2003, S. 167-180. Vgl. aus der Perspektive der Eigentumsbeziehungen Grochowina, Nicole: Das Eigentum der Frauen. Konflikte vor dem Jenaer Schöppenstuhl im ausgehenden 18. Jahrhundert. Köln 2009 (= Veröffentlichungen der historischen Kommission für Thüringen, Kleine Reihe 28). Vgl. Jütte, Robert: Das Stadtviertel als Problem und Gegenstand der frühneuzeitlichen Stadtgeschichtsforschung. In: Blätter für deutsche Landesgeschichte 127 (1991), S. 235269. Mit der Studie von Christine Schedensack zu frühneuzeitlichen Nachbarrechtskonflikten in Münster liegt erstmals eine Untersuchung über städtische Eigentums- und Besitzrechtskonflikte vor. Vgl. mit weiteren Nachweisen Schedensack, Christine: Nachbarn im Konflikt. Zur Entstehung und Beilegung von Rechtsstreitigkeiten um Haus und Hof im frühneuzeitlichen Münster. Münster 2007 (= Quellen und Forschungen zur Geschichte der

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Im Folgenden werden die beiden Perspektiven „Eigentum“ und „Nachbarschaft“ zusammengeführt und mit der Frage nach Grenzen und Grenzziehung in konfliktiven nachbarschaftlichen Eigentumsbeziehungen verbunden. Der Fokus liegt dabei zum einen auf normativ-rechtlichen Eigentumsgrenzen, zum anderen auf diskursiven und praktischen Grenzüberschreitungen und -ziehungen im Rahmen nachbarschaftlicher Konflikte und ihrer Aushandlungsprozesse vor Gericht: 1. Auf der rechtlichen Ebene konstituierten sich Eigentumsgrenzen im Spannungsfeld von juristisch bzw. vertraglich definierten Eigentumsbeschränkungen und dem Prinzip der naturalis libertas, der Eigentumsfreiheit. So galt im Umgang mit Eigentumsrechten grundsätzlich die Freiheit des Eigentümers, die das Recht zur beliebigen Veräußerung, Teilung, Belastung und Vererbung vorsah. In der Rechtspraxis konkurrierte dieses Prinzip mit gewohnheitsrechtlichen, statutarischen, legislatorischen und vertraglichen Verfügungs- und Nutzungsbeschränkungen. Diese wurden zum einen vor dem Hintergrund fiskal-, standes-, wirtschaftspolitischer sowie policeylicher Motive, zum anderen auch mit Blick auf die unterschiedlichen Interessen benachbarter Eigentümer legitimiert. 2. Bei nachbarlichen Grenzüberschreitungen, die sich juristisch als Turbation bzw. als Besitzstörung formulieren und einklagen ließen, wurden schriftlich fixierte oder mündlich tradierte Eigentumsgrenzen überschritten. Der Gerichtsweg bot in diesen Fällen eine Option, die konkurrierenden Rechtsansprüche durchzusetzen und damit individuelle Grenzziehungen zu legalisieren oder Grenzüberschreitungen zu sanktionieren. Eigentumsgrenzen sowie Grenzüberschreitungen wurden dabei, darauf hebt die zweite an der Rechtspraxis orientierte Perspektive ab, von den Parteien interessegeleitet funktionalisiert. Dazu kamen narrative Grenzziehungen in der gerichtlichen Kommunikation, die durch das Einbringen juristischer Argumentationen auf der Basis gesetzestextlicher Normen und Rechtstraditionen als auch nichtjustiziabler Sachverhalte gekennzeichnet waren. 4 Letztere präsentierten sich als Diskurs zentraler Leitkategorien der ständischen Gesellschaft des Alten Reiches. Vor diesem Hintergrund wurden auch die Kategorien „Eigentum“ und „Nachbarschaft“ in einem topisch organisierten Diskurs semantisch mit kulturellen, sozialen bzw. politischen Sinnbezügen oder Wertvorstellungen aufgeladen.

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Stadt Münster NF 24). Vgl. insbesondere zum Forschungsstand auch den Beitrag von Siegrid Westphal und Inken Schmidt-Voges in diesem Band. Vgl. Bell, John: Policy Arguments in Judicial Decisions. Oxford/Clarendon 1983; Wijffels, Alain: Argumentationsmuster in belgisch-niederländischen Konsiliensammlungen des 16. Jahrhunderts. „Policy considerations“ in der ius commune-Tradition. In: Cordes, Albrecht (Hrsg.): Juristische Argumentation – Argumente der Juristen. Köln/Weimar/Wien 2006 (= Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im alten Reich 49), S. 55-73.

Transformierte Eigentumskonflikte

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Die in rechtlichen Konflikten virulenten Grenzziehungen zwischen Nachbarn liefen aus verschiedenen Gründen über die Kategorie Eigentum. Einerseits war der Status „Nachbar“ prinzipiell durch an Eigentum gebundene Rechte strukturiert. Andererseits bot Eigentum zugleich eine Voraussetzung für den Versuch, divergierende (Rechts-)Ansprüche in der Nachbarschaft vor Gericht durchzusetzen. Möglich war dies nicht zuletzt durch eine Eigentumskultur, die auf einem geradezu „hypertrophen“ Eigentumsverständnis basierte.5 So ließ sich praktisch jedes (behauptete) Recht als Eigentumsrecht qualifizieren und konnte als Grundlage für Besitzschutzverfahren fungieren. Gerichte boten daher als Orte gesellschaftlicher Aushandlung in besonderer Weise eine Arena für nachbarschaftliche Konflikte: Im Konfliktfall wurden im Kontext von Eigentum Grenzüberschreitungen und damit Grenzen definiert, zu deren Durchsetzung auch die Justiz genutzt wurde. Dass dabei die Aushandlung sozialer Hierarchisierungen im nachbarlichen Beziehungsgeflecht über justiziable Eigentumsbeziehungen lief, wird an der Rechtspraxis im Herzogtum Sachsen-Weimar(-Eisenach) am Beispiel von Streitigkeiten vor dem territorialen Obergericht des Herzogtums, dem Jenaer Hofgericht, gezeigt.6 Dazu werden in Bezug auf Nachbarschaft relevante rechtliche Eigentumsgrenzen in den Blick genommen, um vor diesem Hintergrund der rechtspraktischen Aushandlung von Eigentumsgrenzen in Nachbarschaftskonflikten nachzugehen.

Rechtlich-normative Eigentumsgrenzen Nachbarschaftliche Konflikte um konkurrierende Eigentumsrechte bezogen sich ganz dem zeitgenössischen, weiten Eigentumsverständnis entsprechend auf sehr heterogene Streitgegenstände, die neben Eigentum an Grund und Boden alle möglichen Rechtstitel in den Eigentumsvorbehalt integrierten. In diesem Kontext waren neben Eigentumsrechten vor allem Verfügungs- und Nutzungsrechte gerichtlich auszuhandeln und hinsichtlich ihrer Abgrenzung zu definieren. Denn Eigentumsrechte waren nicht nur innerhalb des normativen Rahmens reglementiert, sondern in der Praxis mit Berechtigungen von Inhabern konkurrierender Verfügungs- und Nutzungsrechte konfrontiert. Den normativen Rahmen für Verfügungs- und Nutzungsbeschränkungen von Grundeigentum und damit von Eigentumsgrenzen gaben in Sachsen5 6

Vgl. Flügel, Axel: Bürgerliche Rittergüter. Sozialer Wandel und politische Reform in Kursachsen (1680-1844). Göttingen 2000 (= Bürgertum 16), S. 195. Vgl. zum Jenaer Hofgericht Hellfeld, Bernhard Gottlieb Huldreich: Versuch einer Geschichte der landesherrlichen Gerichtsbarkeit und derer Hofgerichte in Sachsen besonders des gesammten Hofgerichts zu Jena. Jena 1782.

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Weimar(-Eisenach) auf territorialer Ebene die Landesordnung von 1589, die Policeyordnungen von 1706 und 1727 sowie die in landesherrlichen Einzelerlassen getroffenen Bestimmungen vor.7 Auf lokaler Ebene wurden Verfügungs- und Nutzungsbeschränkungen obrigkeitlich geregelt und in Gemeindeordnungen und städtischen Statuten definiert. Insgesamt waren die Regelungen nicht in einem systematisierten Normenkatalog gebündelt, sondern den einzelnen Bestimmungen zum Boden-, Güter-, Grundstücks-, Bau- und Nachbarrecht etc. zugeordnet. Im städtischen Bereich zählten letztere zu den zentralen Ordnungsprinzipien, welche die Eigentümer in ihren Rechten reglementierten.8 So wurde die generelle Baufreiheit des Eigentümers als wesentlicher Bestandteil des Eigentumsrechts zum allgemeinen Besten sowie zugunsten der jeweiligen Haus- und Grundstücksanlieger eingeschränkt.9 Bei Änderungen am Bau und sonstigen Bauvorhaben bestand eine Anzeigepflicht gegenüber der städtischen Obrigkeit; die Anlieger verfügten über ein Einspruchsrecht.10 Das potenziell konfliktbehaftete Rechtsverhältnis zwischen Grundstücksnachbarn wurde dabei zudem durch verschiedene nachbarrechtliche Normen reguliert.11 Dazu gehörte das Rechtsinstitut der Servituten, die sich in diesem Kontext als beschränkte dingliche Rechte mehr oder weniger auf Grunddienstbarkeiten (Grundstücksservituten) bezogen.12 Legten Legalservituten 7 8

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Vgl. Schmidt, Johannes: Aeltere und neuere Gesetze, Ordnungen und Circular-Befehle für das Fürstentum Weimar und für die Jenaische Landes-Portion […]. Bd. 4. Jena 1802. Vgl. dazu mit weiteren Nachweisen Schedensack 2007 (wie Anm. 3); Spohn, Thomas (Hrsg.): Bauen nach Vorschrift? Obrigkeitliche Einflussnahme auf das Bauen und Wohnen in Nordwestdeutschland (14.-18. Jahrhundert). Münster 2002 (= Beiträge zur Volkskultur in Nordwestdeutschland 102). Vgl. ferner normativ z.B.: Rainer, Johannes Michael: Bauund nachbarrechtliche Bestimmungen im klassischen römischen Recht. Graz 1987 (= Grazer rechts- und staatswissenschaftliche Studien 44). Vgl. Selmer, Peter: Art. „Hausbau – öffentlich-rechtlich“. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 1. Berlin 1971, Sp. 2018-2021; Der Durchlauchtigsten Hochgebornen Fürsten und Herren, Herren Friederich Wilhelms und Herren Johansen, Gebrüdern, Hertzogen zu Sachsen, Landgraven in Düringen, und Marggraven zu Meissen etc. Policey und Landesordnunge, zu wolfart, nutz und besten derselben Underthanen und Fürstenthumb bedacht und ausgegangen, gedruckt in Jena 1589 durch Tobiam Steinman. ND Weimar 1768, § 69 (Bausachen); Jenaer Statuten 1704. In: Schmidt, Johannes: Aeltere und neuere Gesetze, Ordnungen und Circular-Befehle für das Fürstentum Weimar und für die Jenaische Landes-Portion […]. Bd. 7. Jena 1803, Tit. XIII, S. 401-404, hier S. 401f., § 1. Vgl. Schmidt 1802 (wie Anm. 7), S. 273-291. Vgl. Ogris, Werner: Art. „Nachbarrecht“. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 3. Berlin 1984, Sp. 815-819. Sie verliehen „ihrem Inhaber die Befugnis, entweder auf ein fremdes Grundstück einzuwirken oder den Eigentümer des fremden Grundstücks in der Nutzung seiner Sache zu beschränken.“ (Schedensack 2007 [wie Anm. 3], S. 67); siehe auch Ogris, Werner: Art. „Servitut“. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 4. Berlin 1990, Sp. 1645-1648.

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(servitutes legales) gesetzliche Eigentumsbeschränkungen vor allem baurechtlicher Art fest, konnte der Eigentümer eines „dienenden“ Grundstückes auch qua Vertrag bestimmte Befugnisse an einem „herrschenden“ Nachbargrundstück erhalten. Grunddienstbarkeiten waren an das Grundstück gebunden, so dass sie bei einem Eigentümerwechsel zusammen mit dem Grund an den neuen Eigentümer übergingen. 13 Duldete der Eigentümer die nachbarliche Nutzung seines Eigentums widerspruchslos, hatte dies rechtliche Folgen für dessen Eigentumsrechte. Denn eine Servitut konnte nach zehn- bis zwanzigjähriger Ausübung ersessen werden. Der Besitzer wurde damit zum rechtlichen Eigentümer. 14 Zu den zentralen Servituten im städtischen Bereich, die Grenzen von Eigentumsrechten definierten, zählten das Fenster-, Licht- und Aussichtsrecht. 15 Danach konnte der Eigentümer eines Hauses nur mit nachbarlicher Zustimmung Veränderungen an den Fenstern der Wand vornehmen, die unmittelbar an das Grundstück des Nachbarn angrenzte. Ferner gehörten zu den städtischen dinglichen Servituten insbesondere das Dachtraufs-, Fußwegs- und Fahrwegsrecht. 16 Dem Besitz an einer Servitut stand als quasipossessio Besitzschutz zu. 17 Konkurrierten das Recht der Baufreiheit mit dinglichen Servituten, bot das Rechtsmittel der novi operis nuntiatio eine Möglichkeit, das nachbarliche Bauvorhaben durch eine richterliche Verfügung, der Inhibition, einstweilig zu unterbinden. 18 Darunter fiel auch der sogenannte Neidbau. Dieses „klassische Beispiel des Rechtsmissbrauchs“ untersagte die Errichtung von Bauten, die dem Grundeigentümer keinen Nutzen brachten, dem Nachbarn jedoch schadeten. 19 Ähnlich war es für Beschränkungen, die 13 14 15 16

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Vgl. Honsell, Heinrich: Römisches Recht. 3. erg. Aufl., Berlin 1994, S. 62. Vgl. Schmachtenberg, Hans-Dieter: Art. „Ersitzung“. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 1. Berlin 1971, Sp. 1006-1008. Vgl. Danz, Wilhelm August Friedrich: Handbuch des heutigen deutschen Privatrechts. Bd. 2. Stuttgart 1797, S. 553, § 284 a. Vgl. Griesinger, Ludwig Friedrich: De servitute luminum et ne luminibus officiatur. Cum duplici appendice de servitute prospectus et fenestrae. Leipzig 1819; Kahn, Richard: Fensterrecht (Aussichtsrecht, Lichtrecht) nach den wichtigeren geltenden Partikularrechten Deutschlands. München 1913. Vgl. Coing, Helmut (Hrsg.): Europäisches Privatrecht. Bd. 1: Älteres Gemeines Recht (1500-1800). München 1985, S. 317. Das Rechtsmittel wurde zeitgenössisch definiert als ein „rechtmäßiges, oder in denen Rechten gegründetes Verbot, so demjenigen, der wider die alte Forme bauet, oder zu bauen vorhat, von dem, welchem wegen des ihm zustehenden dinglichen Rechtes (Juris in re) daran gelegen ist, daß solches unterbleibe, zu dem Ende geschiehet, daß er mit dem Bauen oder Einreißen nicht fortfahre, biß erscheinet, ob er dessen berechtiget oder dessentwegen gnügsame Sicherheit gestellet hat.“ (Art. „Neuen Wercks Verkündigung, Neuen Wercks Verbot, Nunciation“. In: Zedler, Johann Heinrich: Grosses vollständiges UniversalLexicon aller Wissenschaften und Künste. Bd. 24, Leipzig/Halle 1740, Sp. 73-82). Coing 1985 (wie Anm. 17), S. 315; Ogris 1984 (wie Anm. 11), S. 817.

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sich aus dem Verbot übermäßiger Immissionen (Geruch, Feuchtigkeit, Rauch etc.) ergaben.

Nachbarrechtliche Konflikte in der Rechtspraxis In nachbarrechtlichen Konflikten wurde das Jenaer Hofgericht in der Regel als Appellationsinstanz genutzt. 20 Das Gericht übernahm in diesen Fällen dezidiert mediatorische Aufgaben in Form von Vergleichsverhandlungen und Kommissionen, die beispielsweise strittige Bauprojekte begutachteten und begleiteten. Ziel der Rechtsprechung waren pragmatische Konfliktlösungen, die einen Interessenausgleich der beteiligten Akteure anstrebten. Das entsprach den in aller Regel summarisch geführten Verfahren, so dass die eindeutige Klärung von Eigentums- und Besitzverhältnissen oft gar nicht zur Verhandlung stand. Der hohe Anteil außergerichtlicher und gerichtlicher Einigungen deutet in Übereinstimmung mit bisherigen Befunden zur Justiznutzung insgesamt auf die strategische Nutzung des Gerichts in der Funktion eines Pressionsmittels und Katalysators nachbarschaftlicher Konflikte. 21 Insgesamt gelangten mehr als die Hälfte der nachbarrechtlichen Klagen aus dem Herzogtum Sachsen-Weimar(-Eisenach) direkt aus Jena an das Hofgericht. Ausschlaggebend für die Inanspruchnahme des Hofgerichts in Jena war dessen Präsenz vor Ort, was die Zugangsschwellen für die Nutzung des Gerichts als Appellationsinstanz für ansässige Einwohner herabsetzte. Dabei standen in den Auseinandersetzungen zwischen Nachbarn angrenzender Grundstücke in der Regel Fragen der Nutzung, Veränderung, Reparatur bzw. Instandhaltung von Grundstücken und baulichen Einrichtungen im Zentrum. Insgesamt boten die mit Haus, Hof und den dazu gehörigen Grundstücken verbundenen Rechte zwar die entsprechende Ausgangsbasis für Rechtsbehauptungen und spezifische Legitimationsstrategien vor Gericht. Doch die Narrative passten sich auch den jeweiligen Dynamiken der Aushandlungsprozesse an, die aufgrund der Lokaltermine verstärkt die persönliche Präsenz und Interaktion der Prozessteilnehmer erforderten. Mit den jeweiligen Beweisgrundlagen, der Einbindung in öffentlich-rechtliche, stadtpolitische Kontexte und dem Grad des nachbarlichen Dissens sind weitere wichtige Elemente benannt, welche die Rechtsstreitigkeiten auch hinsichtlich der jeweili20 21

Erstinstanzlich war das Hofgericht für schriftsässige Untertanen in zivil- und lehnsrechtlichen Angelegenheiten zuständig. Vgl. Hellfeld 1782 (wie Anm. 6), S. 181-183. Vgl. Dinges, Martin: Justiznutzung als soziale Kontrolle in der Frühen Neuzeit. In: Blauert, Andreas/Schwerhoff, Gerd (Hrsg.): Kriminalitätsgeschichte. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte der Vormoderne. Konstanz 2000 (= Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven 1), S. 503-544.

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gen Semantiken unterschiedlich strukturierten. Vor diesem Hintergrund wird der Blick auf die beiden zentralen Interaktionsräume gerichtet, die den gerichtlichen Austrag von nachbarlichen Grenzüberschreitungen im Kontext von Eigentum flankieren konnten: Zum einen die frühneuzeitliche Stadtgesellschaft und zum anderen die Beziehungsform „Nachbarschaft“ selbst.

Konflikte im stadtpolitischen Kontext Nachbarrechtliche Konflikte sind im Kontext der frühneuzeitlichen Stadtgesellschaft zu verorten, die mit den obrigkeitlich-policeylichen Zielvorstellungen über konkrete Leitbilder der städtischen Eigentümergesellschaft verfügte. 22 Eigentumskonkurrenzen können vor diesem Hintergrund unter einen spezifischen Konflikttypus subsumiert werden, dessen Argumentationshorizont sich insofern als politisiert verstehen lässt, als er sich dezidiert im Kontext stadtpolitischer Konfliktlagen wie (ordnungs-)politischer Leitbilder konstituierte. Diese eigneten sich die Prozessparteien ergebnisorientiert vor allem dann an, wenn die Transformation eines individuellen nachbarlichen zum öffentlich-rechtlich dimensionierten Konflikt Eigentumspositionen zusätzlich zu fundieren und damit Erfolgsaussichten zu verbessern schien. Exemplarisch dafür steht eine Besitzstörungssache, in der Dorothea Regina Brückner am 12. August 1716 gegen Johann Friedrich Rau appellierte. 23 Der Jenaer Gastwirt hatte neben ihrem Haus eine neue Einfahrt in seinen Hof gesetzt. 24 Der daraufhin einsetzende Fahrverkehr der Wagen beschädigte die Hausecke der Appellantin, so dass sie einen Eck- bzw. Weichstein an ihr Haus setzen ließ. Gegen die Ecksteinsetzung intervenierte Johann Friedrich Rau erstinstanzlich erfolgreich beim Jenaer Stadtrat mit der Begründung, dass der Weichstein seine Einfahrt behindere. 25 Dorothea Regina Brückner zog daraufhin vor das Jenaer Hofgericht und konnte eine Kommission zur Ortsbegehung erwirken. In einem Bescheid an den Jenaer Stadtrat vom 27. August 1716 urteilte das Hofgericht dann zugunsten der Klägerin. 26 Auch die Landesregierung, an die Johann Friedrich Rau appellierte, votierte in einem Urteil vom 20. November 1716 in diesem Sinne. Damit wurden die Maß-

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Allgemein zu den städtischen Leitbildern Isenmann, Eberhard: Obrigkeit und Stadtgemeinde in der Frühen Neuzeit. In: Specker, Hans Eugen (Hrsg.): Einwohner und Bürger auf dem Weg zur Demokratie. Ulm 1997 (= Forschungen zur Geschichte der Stadt Ulm 28), S. 74-126. Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar (ThHStAW), Hofgericht Jena, Abteilung Weimar, Nr. 1052, fol. 2r-3r. Ebd., fol. 2r. Vgl. Extrakt aus dem Ratsprotokoll vom 10. August 1716, ebd., fol. 11r-13v. Ebd., fol. 15v-16r.

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nahmen der Klägerin zum Schutz ihres Hauses im zweitinstanzlichen Verfahren bestätigt. 27 Vor dem Hofgericht setzte die klägerische Strategie im Wesentlichen auf die rechtliche Figur des Eigentumsschutzes. Diesen fundierte der Anwalt Dorothea Regina Brückners mit ihrer Notdurft, denn das „continuirliche hin und her fahrens der Posten“ 28 hätte ihrer Hausecke Schaden zugefügt. 29 Mit dem als Notdurft eingeforderten Eigentumsschutz bemühte der Anwalt ein Rechtsprinzip, das auf die „einem zustehende Rechtsbefugnis“ abzielte. 30 Damit wurde die Auseinandersetzung zwischen den Kontrahenten als eindeutig juristisch relevant kategorisiert und gegenüber potenziell unterstellten, nichtjustiziablen nachbarschaftlichen Differenzen abgegrenzt. Der Anwalt des Gastwirts nutzte verschiedene argumentative Stränge. Zunächst versuchte er mittels juristischer Argumente, die Ecksteinsetzung durch seine Kontrahentin tatsächlich als Neidbau zu klassifizieren. Darüber hinaus erweiterte er die juristische Perspektive auf den Sachkonflikt, in dem er den Rechtsstreit als eine Verhandlung über das Gemeinwohl inszenierte und damit das noch vor dem Stadtrat formulierte wirtschaftliche Interesse seines Klienten kaschierte: „Hauptsächlich [ist] auch dieses zu confidiren, daß nicht allein ich als ein privatus an meiner Einfahrth gehindert werde, sondern auch das commune publicum mit darunter leiden muß.“ 31 Auf dieser Linie lag dann auch der Appell an das Hofgericht, nicht auf „das Interesse privatum, als hauptsächl. Publicum zu sehen.“ 32 Mit dem Fokus weg von den eigenen und hin zu den gemeinwohlorientierten Interessen versuchte Raus Anwalt das starke Argument der Notdurft auszuhebeln. Dies verband er mit dem Appell an das Hofgericht, den Einsatz seines Klienten für das Gemeinwesen durch ein entsprechendes Urteil auch rechtlich anzuerkennen. Den Topos des Gemeinnutzes füllte er rechtlich mit dem Argument der städtischen Brandschutzbestimmungen. Wegen des „ungeheuren Weichsteins“ sei die freie Zufahrt bei Bränden beeinträchtigt. 33 Mit dem Einwand einer potenziellen Gefahr für die Stadt und deren Einwohner brachte der Anwalt einen sensiblen Punkt in das Verfahren ein, war Feuerabwehr doch einer der wichtigsten Aufgaben des städtischen Gemeinwesens und im 18. Jahrhundert ein „gesell-

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Ebd., fol. 37r-38v. Ebd., fol. 2r-3r. Ebd., fol. 2v. Vgl. Art. „Nothdurft“. In: Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 13. Leipzig 1889, Sp. 924-936, hier Sp. 926. ThHStAW, Hofgericht Jena, Abteilung Weimar, Nr. 1052, fol. 24v. Schreiben an das Hofgericht, 24. Dezember 1716, ebd., fol. 27r-31v, hier fol. 31r. ThHStAW, Hofgericht Jena, Abteilung Weimar, Nr. 1052, fol. 27r. Vgl. auch Appellation an die Landesregierung, ebd., fol. 40r-42v.

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schaftliches Thema“. 34 Das Hofgericht griff diesen Punkt auf, indem es den Stadtrat anwies, in diesem Fall auf entsprechende vorbeugende Brandschutzaktivitäten zu achten. Hatte der Jenaer Stadtrat erstinstanzlich im Sinne des Gastwirtes entschieden, bestätigte die Landesregierung das Hofgerichtsurteil, das zugunsten Dorothea Regina Brückners votierte. Insgesamt gesehen wurden somit ihre Rechte auf Schutz des Hauseigentums gegenüber konkurrierenden gemeindlichen Ordnungsprinzipien abgewogen und austariert. Mit Eigentum, Interesse und Gemeinnutz sind die wesentlichen Kategorien beschrieben, die den Rechtsstreit strukturierten. Diese Elemente lassen sich in unterschiedlichen Konstellationen in zahlreichen innerstädtischen Rechtskonflikten aus diesem Bereich nachweisen. Das Spannungsverhältnis zwischen diesen drei Elementen politisierte sich zusätzlich dann, wenn über den Rechtsstreit vor dem Hofgericht latente innerstädtische, politische Konfliktlagen ausgetragen wurden. Beispielhaft dafür ist eine Auseinandersetzung zwischen der verwitweten Hofrätin Anna Maria Wedel und dem fürstlich-sächsischen Hofagenten, Kaufmann und späteren Jenaer Bürgermeister Johann Jacob Heinrich Paulsen, gegen den sie am 13. April 1775 eine Klage einreichte. 35 Paulsen hatte neben ihrem Haus ein Gebäude ersteigert, das er nach dessen Abriss neu aufbaute. Da dieser Neubau nach Angaben der Klägerin ihre Aussicht behinderte, erwirkte sie zunächst qua novi operis nuntiatio erfolgreich ein einstweiliges Bauverbot. 36 Nach einem Besichtigungstermin wurde dieses allerdings wieder aufgehoben. Ende April 1775 erreichten die Prozessparteien eine gerichtliche Einigung, worin Johann Jacob Heinrich Paulsen sich verpflichtete, nur eine Viertel Elle mit dem Haus an die Straße herauszurücken. 37 Insgesamt standen vor allem konkurrierende eigentums- und baurechtliche Normen im Zentrum der Auseinandersetzung. Der Anwalt Anna Maria Wedels, Gottfried Justin Wilhelm Salzmann, rekurrierte dabei auf ihre mit

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Ventzke, Markus: Das Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach 1775-1783. Ein Modellfall aufgeklärter Herrschaft. Köln/Weimar/Wien 2004 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen, Kleine Reihe 10), S. 332-438, hier S. 332. ThHStAW, Hofgericht Jena, Abteilung Weimar, Nr. 1010 a, fol. 2r-3r. Johann Jacob Heinrich Paulsen folgte den in diesen Konflikt involvierten Jenaer Bürgermeistern Johann Christian Nicander und Bartholomäus Janson im Bürgermeisteramt, das er 1780 bis 1789 innehatte. Vgl. Deinhardt, Katja: Stapelstadt des Wissens. Jena als Universitätsstadt zwischen 1770 und 1830. Köln/Weimar/Wien 2007 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen, Kleine Reihe 20), S. 158f., 161. Inhibition vom 13. April 1775, ThHStAW, Hofgericht Jena, Abteilung Weimar, Nr. 1010 a, fol. 4r. ThHStAW, Hofgericht Jena, Abteilung Weimar, Nr. 1010 b, fol. 16r-17v. Vgl. die Vergleichsvorschläge Anna Maria Wedels, ebd., fol. 40r-41v.

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dem Haus verbundenen, als „ruhigen Besitz“ definierten Eigentumsrechte. 38 Die rechtlichen Ansprüche, die Salzmann aus dem Licht- und Aussichtsrecht generierte, wurden auch mit Normen aus dem statutarischen Recht Jenas verbunden. So interpretierte er den Bau des Beklagten als Winkelbau, der den Jenaer Statuten gemäß nicht gestattet war. 39 Der gegnerische Anwalt Johann Adolph Hellbach spitzte daraufhin seine Argumentation auf eigentumsrechtliche Fragen zu. 40 Dazu wurde der Klägerin eine negative emotionale Motivlage für ihre Prozessführung zugeschrieben, um so ihre Rechtsansprüche zweifelhaft erscheinen zu lassen. Anna Maria Wedel würde gegen Johann Jacob Heinrich Paulsen aus einem „ganz unbekanten erbitterten Gemüthe als aus einem Grund des Rechtens“ vorgehen. 41 Diese Diffamierungsstrategie sollte jedoch auch zur Profilierung der eigenen Rechtsposition beitragen, die Paulsen mit einer Baugenehmigung des Stadtrates belegen konnte. Genuin eigentumsrechtlich fundiert war das Rechtsprinzip der Eigentumsfreiheit, das der Bauherr gegen seine Nachbarin in Anspruch nahm und in Konkurrenz zu den von ihr behaupteten Eigentumsrechten stand. Von den Freiheiten des Eigentümers ausgehend, negierte die anwaltliche Argumentation prinzipiell ein Recht der Kontrahentin, ihm auf seinem Grund und Boden ein Bauverbot erteilen zu lassen. 42 Diese eigentums- und baurechtliche Dimension wurde um einen politischen Konflikt erweitert. Dabei hob der Anwalt den Fall prozesstaktisch auf eine Ebene, die aus der Angelegenheit seiner Klientin ein städtisches Problem konstruierte: Da der Hausbau nahe an der Kirche gelegen sei, wäre es die Aufgabe der Bürgerschaft gewesen, sich dieser Sache anzunehmen und beim Stadtrat ein Verbot der Bautätigkeit zu erwirken. Indem Anna Maria Wedel die Sache nun übernahm, wurde sie in der Rhetorik ihres Rechtskonsulenten gleichsam zur Anwältin der Bürgerschaft stilisiert. Dies griff Paulsens Anwalt auf, um einen Zusammenhang der gegen ihn gerichteten Aktionen der Nachbarin mit dem offensichtlich doch eingelegten bürgerschaftlichen Veto gegen die Baugenehmigung herzustellen. Vermutlich habe die Bürgerschaft „auf Anfeuern der Frau Hofräthin Wedelin bey dem hiesigen Wohllöb[lichen] Stadtrathe sich meines Baues halber mit gemeldet, von demselben aber ihrer

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Jacob Heinrich Paulsen, so der klägerische Anwalt, sei nicht dazu befugt, sein neues Haus „ein gut Stück heraus in die Strasse [zu] sezzen, mir meine anstehende Fenster und allen Prospekt [zu] verbauen und [zu] benehmen.“ ThHStAW, Hofgericht Jena, Abteilung Weimar, Nr. 1010 a, fol. 2v, 12v. Ebd., fol. 13v. Vgl. Jenaer Statuten 1704 (wie Anm. 9), Tit. XX, § 4, S. 403. Schreiben an das Hofgericht, 14. April 1775, ThHStAW, Hofgericht Jena, Abteilung Weimar, Nr. 1010 a, fol. 5r-8r. Ebd., fol. 5v, 6r. Ebd., fol. 7r.

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Unstatthaftigkeit willen abgewiesen worden ist.“ 43 Das der Klägerin damit unterstellte taktische Agieren und die erfolglose Intervention der Bürgerschaft beim Stadtrat sollten die Unrechtmäßigkeit der Klage einmal mehr akzentuieren. Die Taktik des klägerischen Anwalts bestand nun darin, die Zuständigkeit des Stadtrates zu bestreiten, um die Rechtskraft der Baugenehmigung auszuhebeln. Den Jenaer Bürgermeistern Johann Christian Nicander und Bartholomäus Janson wurde dabei die alleinige Entscheidungskompetenz in dieser Angelegenheit abgesprochen. 44 Der ohne die Einwilligung des ganzen Ratskollegiums vorgenommene Bau auf kommunalem Grund und Boden wurde dazu nicht nur als Grenzüberschreitung zuungunsten der Klägerin, sondern auch der Jenaer Bürgerschaft statuiert: Dies sei nicht nur ein „damnum“ für die Klägerin, sondern ein Nachteil für die „ganze Commun“. 45 Ganz von persönlichen Interessen abstrahierend ließ sich so ihr Widerspruch gegen den nachbarlichen Bau als das „beste Recht“ und die „gröste Pflicht“ konturieren. 46 Ausdruck dieses Programms war Anna Maria Wedels erreichte Mobilisierung der Jenaer Bürgerschaft, die vor dem Hofgericht auf ihr „ohnstreitiges ius prohibendi“ verwies. 47 Dem Schreiben der Klägerin fügte die Bürgerschaft eine Intervention bei, in dem sie sich formelhaft in den Dienst des „Gemeinwohls“ entsprechend ihrer „Bürgerpflicht“ stellte. 48 Sie unterstütze die Klägerin auf der Basis ihrer gemeindlichen Funktion, die ihr „das Wohl der Stadt“ nahelege. 49 Die Mitunterschrift der Viertelsmeister unter das Schreiben Anna Maria Wedels interpretierte Paulsens Anwalt gegenüber dem Hofgericht als Strategie der Klägerin aufgrund ihrer nicht prozessfähigen Ansprüche. Der Beklagte bestritt zudem die Entscheidungskompetenz der Bürgerschaft „in publicis“, die sich in dieser Angelegenheit „a limini iudicii“ befände. 50 Gleichzeitig bezog er sich auch auf die von Wedels Anwalt eingebrachten am Gemeinwohl orientierten Argumentationen. Anders als die Klägerin stellte Paulsens Anwalt dabei die Koinzidenz zwischen Gemeinwohl und eigenen Interessen über die Qualität seines Bauprojektes her. Paulsens Bau wäre durchaus im Sinne des „Wohlstandes“ der Stadt Jena, „damit das Publicum nicht mit einem schiefen Gebäude belästiget werde, geschehen, welches die 43 44 45

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Ebd., fol. 8r. Schreiben an das Hofgericht, 17. April 1775, ebd., fol. 11r-16v, hier fol. 13v. Schreiben an das Hofgericht, 26. April 1775, ebd., fol. 34r-42r, hier fol. 38v. Die Bürgerschaft hatte ein eigenes „Communvermögen“, zu dem auch Grundstücke gehörten. Vgl. Deinhardt 2007 (wie Anm. 35), S. 200f. Schreiben an das Hofgericht, 17. April 1775, ThHStAW, Hofgericht Jena, Abteilung Weimar, Nr. 1010 a, fol. 14v. Schreiben an das Hofgericht, 26. April 1775, ebd., fol. 39v. Schreiben an das Hofgericht, 17. April 1775, ebd., fol. 15v. Ebd. Ebd., fol. 18v.

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Statut Jenensia nicht ver=, sondern vielmehr gebieten. Der Stadt-Magistrat hat sogar die Macht ihren Bürgern vorzuschreiben, wie sie bauen sollen.“ 51 Weder die Bürgerschaft noch die Klägerin hätten daher ein Recht, seinen Bau zu verhindern: „Es ist bekanten Rechtens, daß ich in to meo bauen kann, wenn und wo ich will.“ 52 Ad absurdum geführt sah Paulsen die Klage auch durch die fehlende Verletzung von Grund und Boden der Klägerin, die sie selbst in ihrer Darstellung nicht argumentativ eingebracht habe: „Da nun die Frau Hofräthin Wedelin selbst nicht behauptet, daß ich auf ihren Grund und Boden baue: so ist ihre Contradiction um so unstathafter.“ 53 Zugleich bestritt er jedoch auch die Verletzung der Luft, die Verdunklung der Fenster und die Behinderung der Aussicht. Aus einem Bericht des Hofgerichts an die Landesregierung gehen die Entscheidungsgründe für die Abweisung der Klage von Anna Maria Wedel hervor. Danach ließe sich „im Grunde der Wahrheit weiter nichts zum Vortheil der Hofräthin Wedelin, behaupten, als daß ihr die Aussicht, nach der Seite hinauf durch das Paulßische Gebäude etwas eingeschränket werden könne.“ 54 Weitergehende Rechtsansprüche wie das Aussichts- oder Lichtrecht wurden ihr dabei abgesprochen, da die ihrem Haus „zustehende […] Dienstbarkeit die Ansehung des Paulßischen Haußes vor sich nicht anführen können, und auf die vorgegebene Possess, einer freyen Aussicht hierbey gar nicht ankommt.“ 55 Auch die rechtlichen Ansprüche und Partizipationsforderungen der Bürgerschaft an innerstädtischen Entscheidungen wurden als nicht rechtmäßig zurückgewiesen. Das Hofgericht argumentierte dabei mit der ausschließlich obrigkeitlichen Entscheidungskompetenz des Stadtrates in Policeyfragen, dem auch Baustreitigkeiten zugeordnet wurden. 56 Bezog das Hofgericht damit gegen die Ansprüche der Bürgerschaft Position, nutzte der Hofadvokat Friedrich Gottlieb Otto als Anwalt der Bürgerschaft die Vergleichsverhandlungen, sich dezidiert gegenüber Kompetenzübergriffen des Stadtrates abzugrenzen. 57 Die Bürgerschaft instrumentalisierte diesen Rechtsstreit zwar als Podium, Partizipationsforderungen zu formulieren – blieb al51

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Ebd., fol. 19v. Paulsens Anwalt zielte insgesamt auch auf eine allgemeine Ästhetik des Neubaus (fol. 6rv), wogegen die gegnerische Seite einen anderen Aspekt geltend machte: Durch das vorbeilaufende Wasser sei die ohnehin enge Straße an sich keineswegs eine Zierde. Ebd., fol. 20r. Der pauschale Rechtshinweis wurde bezeichnenderweise nicht aus konkreten Rechtsgrundlagen abgeleitet. Ebd. Bericht des Hofgerichts an die Landesregierung, 26. April 1775, ebd., fol. 30r-33v, hier fol. 32rv. Ebd., fol. 32v. Ebd., fol. 33r. Vergleich, 28. April 1775, ThHStAW, Hofgericht Jena, Abteilung Weimar, Nr. 1010 b, fol. 17v.

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lerdings erfolglos. Am Ende des Verfahrens stand somit die Zementierung des innerstädtischen Konkurrenzverhältnisses zwischen lokaler Obrigkeit und Bürgerschaft.58 Insgesamt gesehen wurden vor dem Hofgericht mit dem Rekurs auf traditionelle Werte der städtischen Gemeinschaft wie dem Gemeinen Nutzen bzw. dem Gemeinwohl versucht, die so in den Hintergrund rückenden jeweiligen Partikularinteressen zu legitimieren. Versprach sich Anna Maria Wedel durch die Einschaltung städtischer Funktionsträger in ihr Verfahren eine in ihrem Sinne vorteilhafte Assistenz bei der gerichtlichen Konfliktregulierung, blieb ihr prozessstrategischer Blick auf die „ganze Commun“ allerdings nicht so erfolgreich, wie sie es sich bei der Initiierung des Verfahrens offenbar vorgestellt hatte. In diesem Fall wurde die Baufreiheit des Eigentümers gegenüber den nachbarrechtlichen Instituten des Licht-, Aussichts- und Immissionsrechts qualitativ stärker bewertet. Die etwaige Frage der Definition von Grenzen beim Bauen auf kommunalem Grundeigentum hatte bereits die städtische Obrigkeit zugunsten des Bauherrn beschieden. Bemerkenswerterweise wurde im Laufe der Auseinandersetzung die anfänglich bemühte narrative Grenzziehung auf der emotionalen Argumentationsebene nicht mehr reaktiviert. Vielmehr rückte mit dem Wunsch nach „Güte“59 bei entsprechender „friedliche[r] Gesinnung“60 der Topos nachbarlicher Einigkeit in das Zentrum der Verhandlungen. Vor allem Johann Jacob Heinrich Paulsen betonte mit Blick auf das eigene Sozialkapital innerhalb der städtischen Gesellschaft, dass er „niemals die Absicht gehabt“ hätte, sich in einen Streit mit seiner Nachbarin einzulassen.61 Am Beispiel der zitierten Fälle wird exemplarisch für den Konflikttypus sinnfällig, wie sich nachbarliche Auseinandersetzungen um Grenzen dezidiert innerhalb eines stadtpolitischen Gefüges konstituierten, das vor Gericht mit ausgehandelt wurde. Scheinbar unberechtigte Grenzüberschreitungen auf nachbarliches Eigentum wurden dabei insgesamt als Eingriff in die Eigentumsfreiheit verstanden, aus der die Bau- und Nutzungsfreiheit abgeleitet wurden. Zwar wurde die postulierte Freiheit des Eigentums zusätzlich durch Argumente mit konkreten Rechtsgrundlagen unterstützt, doch zog das abstrakte Rechtsprinzip die Verhandlung weiterer starker Kategorien, wie des Gemeinwohls, nach sich. Die prozessualen Strategien suggerierten dabei indi58

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Siehe dazu Deinhardt 2007 (wie Anm. 35), S. 121-127; Böckel, Ruth: Die rechtlichen Beziehungen zwischen der Universität Jena, dem Rat der Stadt und der Landesregierung von Sachsen-Weimar(-Eisenach) als Ausdruck der gesellschaftlichen Verhältnisse des 18. Jahrhunderts. Diss. Jena 1958. Schreiben an das Hofgericht, 26. April 1775, ThHStAW, Hofgericht Jena, Abteilung Weimar, Nr. 1010 a, fol. 34v. Ebd., fol. 35r. Schreiben an das Hofgericht, 27. April 1775, ebd., fol. 43r-45v, hier fol. 43rv.

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viduelle Eigentumsrechte als dann besser legitimiert, wenn sie mit dem Gemeinwohl konvergent oder dem öffentlichen Interesse förderlich dargestellt werden konnten. Gemeinwohlargumente waren zwar prädestiniert für gleichsam politisierte, öffentlich-rechtlich dimensionierte Eigentumskonflikte, sie konnten davon unbesehen aber auch in rein „privatrechtlichen“ Auseinandersetzungen funktionalisiert werden.

Konflikte im Kontext der Beziehungsform Nachbarschaft Gerichtliche Auseinandersetzungen um Grenzüberschreitungen blieben so lange verhältnismäßig sachorientiert, wie keine grundlegend eskalierten persönlichen Konfliktlagen hinzukamen. Eine eigenständige Perspektive auf diese emotionalisierten Eigentumskonkurrenzen verspricht Einsichten über argumentative Grenzziehungen. Dieser Konflikttypus umfasst dabei zum einen die Emotionen, die vor Gericht zumeist als argumenta ad personam artikuliert wurden und als Affekte zum typischen rhetorischen Pathos zählten. Von diesen topischen Affektrhetoriken können die Eigentumskonkurrenzen differenziert werden, die auch außerhalb der anwaltlichen Gerichtskommunikation verbal emotional und zum Teil physisch gewaltsam ausgetragen wurden. Ein weiterer Indikator für die Emotionalisierung ist die in der Regel extensiv genutzte Justiz, die parallel zum nachbarschaftlichen Konfliktaustrag verlief. Mit dem Blick auf Eigentum ist dabei auffallend, dass in emotionalisierten Streitigkeiten konkurrierende Rechtsansprüche verstärkt über Eigentumssemantiken ausgefochten wurden – obgleich das Hofgericht im Rahmen der in der Regel summarisch geführten Prozesse nicht über Eigentumsfragen im engeren Sinn zu befinden hatte. Paradigmatisch dafür ist die Auseinandersetzung zwischen der in Jena ansässigen Witwe Susanna Sabina Meix und Anne Christine Trübner um eine gemeinschaftliche Mauer – einer der typischen nachbarrechtlichen Konflikte. 62 Letztere ließ an ihrem Haus ein Gewölbe errichten und dazu einen Balken einziehen, der zur Abstützung auch die nachbarliche Mauer beanspruchte. Gegen diese Baumaßnahme protestierte Susanna Sabina Meix bereits vor dem Jenaer Stadtrat, dort wurde ihre Klage jedoch nach einer Ortsbegehung abschlägig beschieden. Daher wandte sie sich am 11. März 1753 an das Hofgericht. 63 Sie erreichte eine Inhibition, die der Beklagten den Weiterbau bei zehn Reichstalern Strafe untersagte. 64 Die nach mehreren Besichtigungsterminen vor dem Hofgericht vollzogenen Vergleichsverhandlungen scheiterten jedoch, da beide Seiten auf ihrem Eigentums- bzw. Nutzungsrecht an der 62 63 64

ThHStAW, Hofgericht Jena, Abteilung Weimar, Nr. 1333. Klage, 11. Mai 1753, ebd., fol. 2rv. Inhibition, 12. Mai 1753, ebd., fol. 3rv.

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Mauer bestanden. 65 Zudem ignorierte die Beklagte konsequent das an sie ergangene Bauverbot, so dass sich der Konflikt trotz intensiver Bemühungen nicht kanalisieren ließ. Daraufhin vermittelte die Landesregierung zwischen den Parteien. Wie bereits das Hofgericht vorgeschlagen hatte, sollte die Mauer gemeinschaftlich genutzt werden. Zugleich erhielt die Beklagte Auflagen für die Nutzung des Gewölbes, die bei Verstößen auf nachbarlichen Antrag gerichtliche Visitationen zur Folge haben konnten. 66 Die klägerische Argumentation fokussierte sich vor dem Hofgericht ganz auf den Schutz des behaupteten Eigentums. Dabei verliefen Susanna Sabina Meix’ Justiznutzungsstrategien praktisch wie rhetorisch überaus vehement – zumal ihr bereits von dem Stadtgericht „kein ius“ und damit kein Eigentum an der strittigen Mauer zugesprochen wurde, das die nachbarlichen Servituten ausschließen könnte. 67 In dem Klageschreiben war die Sachverhaltsdarstellung zunächst in einem vergleichsweise sachorientierten Duktus gehalten. 68 Dass der Schaden dabei ihr Eigentum betraf und daher Rechtsbedarf bestand, explizierte die Klägerin bzw. ihr Rechtskonsulent in zahlreichen Schreiben an das Hofgericht. Über die ausgesprochen redundante Verteidigung der Mauer als „mein eigen“, als „eigenthümlich zustehend“, 69 artikulierte sich ein dezidiertes Eigentumsbewusstsein. Insgesamt grenzte sie sich so kategorisch von den nachbarlichen Rechtsansprüchen unter Verweis auf ihre qualitativ höherwertigen Eigentumsrechte ab. Dieser Linie entsprach auch die Ablehnung des auf Konsens und Interessenausgleich zielenden hofgerichtlichen Vergleichsvorschlags, der die Mauer als eine „commun-Mauer“ zu deklarieren bestrebt war. 70 Davon unberührt ging es der Klägerin um die kompromisslose Durchsetzung ihrer Eigentumsrechte – und dieser Fokus divergierte erheblich von der Zielvorstellung des Hofgerichts, nach der eine gemeinschaftliche Mauer „iedem Theile mehr verträglich als nachtheilig“ wäre, „da sodann bey […] Reparatur, solche auf gemeinschafftliche Kosten besorget werden müsten“. 71 Auch die gegnerischen Vorschläge wurden unter entsprechenden Anwürfen zurückgewiesen. Anne Christine Trübners Anwalt signalisierte etwa die Bereitschaft seiner Klientin, auf das ihr zustehende, auf der Hauswand lie65 66

67 68 69 70 71

Ebd., fol. 28r-32r; Hofgerichtstermin zur Güte unter Anwesenheit der prozessierenden Frauen, 26. Juni 1753, ebd., fol. 54r-56v. Danach wurde sie bei 20 Reichstalern Strafe dazu angehalten „nichts naßes in dieses Gewölbe zulegen, nicht weniger keine Nägel in diese Mauer nach der Meixin Hauße zu einzuschlagen.“ Urteil der Landesregierung vom 5. Dezember 1753, ebd., fol. 149r-150r. Schreiben an das Hofgericht, 26. Mai 1753, ebd., fol. 24r-27v, hier fol. 24v. Ebd., fol. 2r. Schreiben an das Hofgericht, 10. Juli 1753, ebd., fol. 57r-62r, hier fol. 60v. Ebd. Hofgerichtstermin zur Güte, 26. Juni 1753, ebd., fol. 55v, 56r.

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gende Recht der „servitutes tigni imittendi et oneris ferendi“, „gänzlich und völlig“ verzichten zu wollen. 72 Damit reklamierte die Beklagte das Recht, einen Balken von ihrem Gebäude in die Mauer des nachbarlichen Gebäudes ziehen und darauf ruhen lassen zu können (Trammrecht) sowie das Recht, auf einem Nachbarbauwerk aufzubauen (oneris ferendi). 73 Diese Rechtsbehauptung wies Meix’ Anwalt Christian Beuthold affektgesteuert als „vermeynte Servitut“ 74 zurück, denn die Kontrahentin verlange mit diesem Vorschlag „das Eigenthum von der […] Mauer, und will gestatten, daß solche, so lange sie stehet, mein Gewölbe verschliesen, und ich biß dahin keine neue Mauer zu deßen Verwahrung und Einschliesung machen und aufführen lassen dürffe. O! das sind raisonnable Vorschläge, die denen Sodoms Aepffeln gleichen, von welchen gesagt wird, daß sie auswendig schöne und roth, inwendig aber Asche führen.“75

Diese über plastische Metaphoriken kommunizierten Abgrenzungsstrategien gegenüber der Beklagten bezogen sich jedoch nicht nur auf den rechtlichen Eigentumskonflikt an sich, sondern insgesamt auf die nachbarliche Beziehung. Die Klägerin ließ in ihren vom Jenaer Vizebürgermeister Kromeyer konzipierten Schreiben an das Hofgericht keinen Zweifel an den eskalierten nachbarlichen Differenzen. Anne Christine Trübner wurde mit pejorativen Zuschreibungen („bösen Gutdüncken“ 76 , „listige Art“ 77 , „hintansezzung alles respects und gehorsam“ 78 ) umfänglich diskreditiert, ein Schreiben vom 20. Juli 1753 kündigte „Mord und Todtschlag“ an. 79 Die Diffamierungen operierten auch mit tendenziell blasphemischen Äußerungen. Aus allen Vorschlägen der Nachbarin sei „die Gottlose und wider alles Christenthum streitende Absicht der Gegnerin handgreiffl. zu erkennen“. 80 Ihr Recht auf ihr Eigentum sei dagegen „unter der Banck im finstern gesteckt“. 81 Dieser rhetorischen, injuriöses Vokabular inkludierenden Kontrastierungstaktik der klägerischen Prozesspartei setzte der gegnerische Anwalt Friedrich Gottlob Otto mit dem Topos der „Liebe zum Frieden“ und dem Wunsch nach „nachbarlicher Ei-

72 73 74 75 76 77 78 79 80 81

Ebd., fol. 31v; Vergleichsvorschlag ebd., fol. 47r-48r, hier fol. 47v. Als Beweis für die Servituten wurde vage auf einen Vertrag der Vorbesitzer Bezug genommen. Schreiben an das Hofgericht, 19. Juli 1753, ThHStAW, Hofgericht Jena, Abteilung Weimar, Nr. 1333, fol. 101r-110v, hier fol. 102v. Ebd. Schreiben an das Hofgericht, 10. Juli 1753, ebd., fol. 57v. Ebd., fol. 58r. Ebd. Schreiben an das Hofgericht, 20. Juli 1753, ebd., fol. 57r-62r, hier fol. 57v. Schreiben an das Hofgericht, 20. Juli 1753, ebd., fol. 111r-119r, hier fol. 117v. Ebd.

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nigkeit“ 82 eine Pazifizierungsstrategie entgegen. Gleichzeitig betonte Anna Christina Trübners Anwalt die Konvergenz seiner Partei mit den Vorgaben des städtischen Baurechts. Eine Konfliktbeilegung sah Otto allerdings trotz der angeführten Kompromissbereitschaft seiner Seite kaum realisierbar: „wenn es dieser zum Streiten geneigten Gegnerin nach gehen sollte; so wäre in dieser Sache bey ihrer Leben kein Ende zu hoffen.“ 83 Meix’ Ablehnung des angebotenen Verzichts auf das Trammrecht und damit auf eine Servitut an ihrer Hauswand wurde vor dem Hofgericht dann auch in diese Richtung interpretiert. Zumal sie damit auch gewisser vorgeblicher Vorteile entsage, denn ihr Haus wäre so von „beschwehrlichen oneribus befreyet und um ein ansehliches im Preiß erhöhet“ worden. 84 Auch dies galt als Zeichen der prinzipiellen Kompromissverweigerung der Kontrahentin. 85 Das Engagement des Hofgerichts, in diesem Konflikt zwischen den beiden Frauen mediatisierend zu fungieren, war immens. Allerdings konnten auch mehrere Ortsbegehungen und gerichtliche Vergleichsversuche den hoch emotional ausgefochtenen Rechtsstreit nicht versachlichen. Inwiefern mit dem Eingriff der Weimarer Landesregierung in das Verfahren der Konflikt letztlich befriedet werden konnte, bleibt offen. Der Fall demonstriert einmal mehr die soziale Funktion der Justiz, die sie bei Streitigkeiten um konkurrierende Eigentumsrechte gerade in nachbarschaftlichen Verhältnissen haben konnte. Dabei ging es weniger um die Frage nach dem Eigentum an sich, sondern um die praktische Ausgestaltung nachbarrechtlicher (Eigentums-) Beziehungen. Im Ganzen genommen wurden in diesem Typus von Eigentumskonflikten über Eigentum nachbarliche, mithin soziale Beziehungen verhandelt. Vor Gericht stand damit nicht nur die Eigentumsfrage, sondern die Aushandlung nachbarlicher Machtverhältnisse zur Disposition. Je emotionalisierter die Auseinandersetzung vor Gericht geführt wurde, desto stärker artikulierten sich auch Eigentumsbindungen mit den daraus resultierenden Rechtsansprüchen. Die jeweiligen argumentativen Referenzrahmen waren gleichsam komplementär strukturiert. Gegen die klägerische Polemik sowie den autoritativen Bezug auf religiöse Symboliken und Ordnungsvorstellungen setzte die beklagte Partei auf Irenik und die Orientierung an konkreten rechtlichen Normierungen. So individuell diese Argumentationsmuster im Einzelfall arrangiert wurden, verweisen sie doch auf die gängigen Topiken im Kontext der als Eigentumskonflikte codierten, emotionalen Nachbarschaftskonflikte.

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Vergleichsentwurf ebd., fol. 47r-48v, hier fol. 47r. Schreiben an das Hofgericht, 13. Juli 1753, ebd., fol. 71r-76r, hier fol. 72v. Schreiben an das Hofgericht, 10. Juli 1753, ebd., fol. 65r-68r, hier fol. 65rv. Ebd., fol. 65v.

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Nachbarschaft, Eigentum und Grenzen in gerichtlichen Aushandlungsprozessen Gleichsam als Signum der frühneuzeitlichen Eigentumskultur führte die prinzipielle Überlagerung von konkurrierenden Eigentumsrechten dazu, in der Praxis situativ Grenzen in nachbarlichen Eigentumsbeziehungen definieren und ausgestalten zu müssen. Physisch latente Grenzen wurden dabei so lange konfliktfrei und informell ausgehandelt, wie das soziale Gefüge der Nachbarschaft intakt war. Erst ein spezielles Konglomerat aus räumlichen und sozialen Grenzüberschreitungen führte zu Auseinandersetzungen, die mit dem Justizweg als eine der Konfliktregulierungsoptionen den engeren Interaktionsrahmen der Nachbarschaft verließen. Dabei manifestierte sich in den Konflikten um die Durchsetzung von Eigentumsgrenzen ein Argumentationsrahmen, der in Korrespondenz zu obrigkeitlichen bzw. gemeindlichen Zielvorstellungen eng an gesellschaftlichen Leitbildern orientiert war. Dazu zählten im städtischen Bereich neben Frieden, Eintracht, Gemeinem Nutzen, Recht (z.B. Unabhängigkeit des Gerichts) auch die freie Verfügung über Besitz und Eigentum. 86 Eigentum war damit Bestandteil von gemeindlichen Integrationswerten, die je nach Interessenlage der vor Gericht interagierenden Akteure in Beziehung zu anderen „verbandserhaltenden Normen und Werten“ gesetzt wurden. 87 Appelle an diese Werte waren insofern gerichtsstrategisch, als damit direkt Bezug auf obrigkeitliche Aufgaben genommen und dazu korrespondierend der rechtliche Erwartungshorizont formiert wurde. 88 Angesichts der regulativen Idee von Frieden und stadtbürgerlicher Eigentumssicherheit bestand die Aufgabe des Gerichts darin, kollidierende Interessen der benachbarten Eigentümer konsensorientiert auszutarieren. So galt mit dem Blick auf Rechtsfrieden und Auskommen in der face-to-face-Gesellschaft wie bei anderen Konflikten innerhalb sozialer Näheverhältnisse der 86

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Vgl. Schmidt, Patrick/Carl, Horst (Hrsg.): Stadtgemeinde und Ständegesellschaft. Formen der Integration und Distinktion in der frühneuzeitlichen Stadt. Berlin/Hamburg/Münster 2007 (= Geschichte: Forschung und Wissenschaft 20), S. 22. Rublack, Hans-Christoph: Grundwerte in der Reichsstadt im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit. In: Brunner, Horst (Hrsg.): Literatur in der Stadt. Bedingungen und Beispiele städtischer Literatur des 15. bis 17. Jahrhunderts. Göppingen 1982 (= Göppinger Arbeiten zur Germanistik 343), S. 9-36, hier S. 17; Isenmann 1997 (wie Anm. 22), S. 113; Isenmann, Eberhardt: Norms and Values in the European City. 1300-1800. In: Blickle, Peter (Hrsg.): Resistance, Representation, and Community. Oxford u.a. 1997 (= The origins of the modern state in Europe, 13th to 18th centuries), S. 189-215. Vgl. ähnlich für Suppliken Eibach, Joachim: Städtische Strafjustiz als konsensuale Praxis. In: Schlögl, Rudolf (Hrsg.): Interaktion und Herrschaftsbildung. Politische Kulturen in der frühneuzeitlichen Stadt. Konstanz 2004 (= Historische Kulturwissenschaft 5), S. 181-214, hier S. 202.

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„Primat des Vergleichs“. 89 Der Interessenausgleich avancierte hier gewissermaßen zum topisch aktualisierten Rechtsprinzip, dessen sich die Akteure vor Gericht durch Rekurse auf Eintracht oder „Liebe zum Frieden“ immer wieder neu vergewisserten. Dies korrespondierte mit den Justiznutzungsstrategien der Prozessparteien: Mittels obrigkeitlicher Autorität ließen sich Nachbarn zum Verhandeln bewegen. Die Parteien nutzten dabei die Justiz, um Vergleichsangeboten aufgrund der eingeschalteten amtlichen Autorität einen größeren Nachdruck zu verleihen. Nach der Klageerhebung wurden nicht selten alternative, informelle Regulierungsformen wieder aufgegriffen. 90 Insofern Eigentumssicherung als zentraler Wert in der Rechts- und Eigentumskultur des Alten Reiches fungierte, konnten Nachbarn unter dieser Prämisse auch postulierten Rechtsbesitz, mithin postulierte Eigentumsgrenzen, einklagen. Die gerichtliche Verteidigung von Grenzen korrelierte dabei mit einem (behaupteten) Eigentümerstatus, mit dem sich ein Eigentumsbewusstsein verband, das sich in der Artikulation von Rechtsansprüchen vor Gericht dezidiert äußerte. Eigentumszuordnungen („ich als Eigenthümer/in“) waren keine rein deskriptive Beschreibung von Eigentumsverhältnissen, sondern eine semantisch stark aufgeladene Formel, die individuelle Eigentumsrechte scharf von Gegenansprüchen abgrenzte. Narrative Grenzziehungen waren in diesem Konfliktbereich symptomatisch, da mit den konkurrierenden Eigentumsrechten zugleich die Qualität des Eigentums und damit auch der Eigentümerstatus selbst verhandelt wurde. Entscheidend dafür war, dass gerade in der Kollision von Eigentumsrechten des Eigentümers mit Rechten von Servitutsberechtigten eine potenziell konfliktgeladene Eigentumsbeziehung zur Disposition stand. Entsprechend eng waren die Argumentationen an das Wortfeld Eigentum angelegt und auf die Kategorie Eigentum zugespitzt, auch wenn im Endeffekt lediglich Nutzungsrechte beansprucht werden konnten. Taktisch wurden die auf Besitz- und Eigentumsrechte bezogenen Begrifflichkeiten gegebenenfalls synonym verwandt, um stärkere Rechte zu suggerieren. Genauso taktisch wurde aber auch klar differenziert zwischen Eigentum und 89

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Schwark, Thomas: „... darmit nachbarliche Eynichkeit mochte erhalten werden“. Nachbarschaftskonflikte und gerichtliche Quellen zum Nachbarschaftsrecht der Stadt Lemgo zwischen 1590 und 1620. In: Mohnhaupt, Heinz/Simon, Dieter (Hrsg.): Vorträge zur Justizforschung. Bd. 2. Frankfurt am Main 1993 (= Rechtsprechung 7), S. 131-146, hier S. 146; vgl. Sharpe, John A.: „Such Disagreement betwyx Neighbours“. Litigation and Human Relations in Early Modern England. In: Bossy, Johann (Hrsg.): Disputes and Settlements. Law and Human Relations in the West. Cambridge 1983 (= Past and Present Publications), S. 167-187, hier S. 173. Zur Selbstregulierung von zivil- und strafrechtlich relevanten Konflikten vgl. u.a. Schwerhoff, Gerd: Köln im Kreuzverhör. Kriminalität, Herrschaft und Gesellschaft in einer frühneuzeitlichen Stadt. Bonn 1991, S. 288; Mommertz, Monika: „Ich, Lisa Thielen“. Text als Handlung und als sprachliche Struktur – ein methodischer Vorschlag. In: Historische Anthropologie 4 (1996), S. 303-329, hier S. 315.

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Nichteigentum. Zur zentralen Topik gehörte dabei der Eigentumsschutz, der als rechtliche Notdurft argumentativ legitimiert wurde. Bestimmend waren bei Eigentumskonkurrenzen die in Entsprechung zum zeitgenössischen juristischen Eigentumsverständnis von den Bedeutungsfeldern der (Dispositions-) Freiheit ausgehenden Argumentationen. Denn in den Konflikten um konkurrierende Eigentums- und Nutzungsrechte waren Schutz oder Ausschließung anderer von Besitz und Eigentum die wichtigsten Prozessziele. Vor dieser Folie erweiterte sich der anwaltliche Argumentationsspielraum um die Freiheitskomponente. Dabei gehörte neben statutar- und policeyrechtlich fundierten Rechtsbehauptungen die Rechtsfigur der Eigentumsfreiheit zur zentralen Topik der Verfahren um Eigentumsgrenzen. Mit der Eigentumsfreiheit als abstrakter Normenvorstellung an einem Pol konkurrierte die gesellschaftsund ordnungspolitisch verankerte Normenvorstellung des Gemeinnutzes am anderen Pol. 91 Diese Normenkonkurrenzen wurden von den Prozessparteien zielgerichtet genutzt. So stand gerade in den nachbarrechtlichen Auseinandersetzungen das Verhältnis partikularer Interessen aufgrund individueller Eigentumsrechte und den mit diesen konkurrierenden Rechten bzw. Normen auf der Basis des gemeindlichen Ordnungs- bzw. Policeywesens zur Debatte. Das Recht auf ungehinderten Individualbesitz war prinzipiell mit der leitenden Vorstellung der „Teilhabe aller an den Lasten und Pflichten“ zu harmonisieren. 92 Dieses Grundproblem kam vor Gericht in dem prozessstrategischen Rekurs auf den Gemeinnutz zum Ausdruck. Mit dem Gemeinnutz wurde ein zentraler politisch-sozialer Leitbegriff in die gerichtliche Interessenaushandlung eingebracht, dessen appellativer Charakter sich in seiner Funktion als kommunaler Wert oder als konkrete policeyliche Ordnungsvorstellung funktionalisieren ließ. 93 Individuelle Rechtsansprüche auf Eigentumsschutz sollten so auf eine besondere Legitimationsgrundlage gestellt werden, um taktisch von den Partikularinteressen zu abstrahieren. Angesichts der Gemeinwohlorientierung des Eigentums wurden Eigentumsinteressen dabei als mit dem Gemeinwohl konvergent oder dem öffentlichen Interesse förderlich postuliert. 91

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Vgl. Münkler, Herfried/Bluhm, Harald (Hrsg.): Gemeinwohl und Gemeinsinn. Bd. 1. Historische Semantiken politischer Leitbegriffe. Berlin 2001 (= Forschungsberichte der Interdisziplinären Arbeitsgruppe „Gemeinwohl und Gemeinsinn“ der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften 1); Hibst, Peter: Utilitas publica – gemeiner Nutz – Gemeinwohl. Untersuchungen zur Idee des politischen Leitbegriffs von der Antike bis zum späten Mittelalter. Frankfurt am Main 1991 (= Europäische Hochschulschriften, Reihe 3, 497). Schilling, Heinz: Gab es im späten Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit in Deutschland einen städtischen „Republikanismus“? Zur politischen Kultur des alteuropäischen Stadtbürgertums. In: Koenigsberger, Helmut G. (Hrsg.): Republiken und Republikanismus im Europa der Frühen Neuzeit. München 1988 (= Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 11), S. 101-143, hier S. 107. Vgl. die Beiträge in Münkler/Bluhm 2001 (wie Anm. 91).

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Umgekehrt konnten Prozessgegnern über den Abgrenzungsbegriff „Eigennutz“ Abweichungen von dieser Norm zugeschrieben und damit Rechtsansprüche auf Eigentumspositionen delegitimiert werden. Generell wurde die Kategorie „Gemeinnutz“ topisch genutzt, doch wurde sie auch als Tatbestandsmerkmal an konkrete Rechtsprinzipien und -grundlagen rückgebunden. 94 Dies geschah mal mehr, mal weniger fundiert, so dass gemeinwohlorientierte Argumente von der Rechtsprechung unterschiedlich aufgenommen wurden. Stießen Gemeinnutzargumente nachweislich auf öffentlich-rechtliche Interessen, konnten sie gegenüber dem interesse privatum höher gewichtet werden und Eigentumsbeschränkungen bzw. -grenzen legitimieren. Schließlich sind die Konflikte auch konkret in den nachbarlichen Bezügen zu verorten: Zunächst wurden mit den Rechtsverfahren vor dem Hofgericht konfliktive soziale, nachbarschaftliche Beziehungen auf eine rechtliche Ebene gehoben. Die zuweilen eskalierenden, hoch emotionalen Nachbarschaftskonflikte wurden dabei als Eigentumskonflikte codiert, um für die Aushandlung nachbarlicher, sozialer Beziehungen eine justiziable Grundlage zu bieten. In den Rechtsverfahren wurde mit Blick auf physische und normative Grenzziehungen über die Qualität von Eigentum immer auch die Qualität der Nachbarschaft an sich ausgehandelt. Gleichzeitig wurde mittels diffamierender, tendenziell ehrverletzender Rhetoriken die durch Grenzüberschreitungen verschobenen sozialen Hierarchisierungen gleichsam nivelliert. So kam der Kategorie Ehre auch in nachbarrechtlichen Eigentums- und Besitzstreitigkeiten eine herausragende Rolle zu, die wie Eigentum und Besitz in der frühneuzeitlichen Knappheitsgesellschaft ein limitiertes Gut war. 95 Ehrsemantiken fungierten in den Auseinandersetzungen nicht nur als konfliktverschärfende Antriebsfaktoren, sondern transformierten die Auseinandersetzung um Eigentum auf eine Ebene, auf der zusätzlich über das soziale bzw. symbolische Kapital der Akteure verhandelt wurde. 96 Der Begriff der Nachbarschaft zog sich dabei als Topos durch die Gerichtskommunikation. Denn über die räumliche Nähe hinaus wurde mit diesem Terminus auf soziale und ethische Normen rekurriert, die semantisch mit Wertvorstellungen von Liebe, Frieden und Freundschaft aufgeladen waren. 97 Dementsprechend wurden Grenzüber94

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Einen Katalog von Tatbestandstypen des öffentlichen Interesses bzw. Gemeinwohls hat Häberle, Peter: Öffentliches Interesse als juristisches Problem. 2. Aufl., Bad Homburg 1970 formuliert. Vgl. dazu u.a. Dinges, Martin: Der Maurermeister und der Finanzrichter. Ehre, Geld und soziale Kontrolle im Paris des 18. Jahrhunderts. Göttingen 1994 (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 105). Die Kategorie Geschlecht spielte dabei allenfalls eine marginale Rolle, zumal auch die rechtlichen Normen keine geschlechtsspezifischen Ausdifferenzierungen trafen. Vgl. Schmidt 1994 (wie Anm. 1), S. 105; Muldrew, Craig: The Culture of Reconciliation. Community and the Settlement of Economic Disputes in Early Modern England. In: The Historical Journal 39 (1996), S. 915-942; Schedensack 2007 (wie Anm. 3), S. 204-206.

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schreitungen und überhaupt Eingriffe in nachbarschaftliches Eigentum als Abweichung von dieser Normenvorstellung thematisiert und als Verstoß gegen das gemeindliche Ordnungsgefüge plakatiert. Dies zeigt, wie konstitutiv die gerichtlichen Aushandlungsprozesse von nachbarschaftlichen Grenzen für die soziale und politische Ordnung der frühneuzeitlichen Stadt insgesamt waren. Kam es zu einer Wechselwirkung von Grenzüberschreitungen im physischen wie im rechtlichen bzw. ethisch-moralischen Bereich, waren daran zwangsläufig destabilisierende Rückwirkungen auf den Interaktionsraum Nachbarschaft und Stadtgesellschaft gekoppelt. Über Eigentum ließ sich in diesen Fällen der Rechtsbedarf auf Eigentumsschutz (von Grenzen) erzeugen, der für die gerichtliche Aushandlung und damit die Ausgestaltung des städtischen Friedens maßgeblich war. Eigentum als fundamentaler, rechtlicher und gesellschaftlich-kultureller Leitwert der frühneuzeitlichen Stadtgesellschaft bot dafür die entsprechenden Handlungsspielräume.

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Grenzen kolonialer Herrschaft In den folgenden vier Beiträgen des Themenblocks „Grenzen kolonialer Herrschaft“ wird der Begriff „Grenze“ sowohl räumlich-konkret und als auch metaphorisch verstanden, wobei der Ausgangspunkt bei Felix Hinz und Christoph Marx die versuchte Festlegung geographischer Grenzen darstellt, während Antje Flüchter und Anne-Charlott Trepp die Frage nach der Grenzüberschreitung in den Mittelpunkt stellen. Räumlich erstrecken sich die hier zusammengestellten Fallbeispiele auf Spanisch-Amerika, das südliche Afrika und Indien. Zeitlich resultieren die untersuchten Konflikte aus der gesamten Frühen Neuzeit, vom beginnenden 16. bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert. Sämtliche Beiträge untersuchen Handlungsräume, die in solchen Grenzgebieten und über Grenzüberschreitungen entstehen; Handlungsräume, die man in der Forschung seit einiger Zeit mit den Begriffen „dritte“ oder „hybride“ Räume zu kennzeichnen versucht, weil in diesen Räumen über das Zusammentreffen und die Kommunikation unterschiedlicher Kulturkreise etwas Neues entsteht, das man – im Unterschied zu früheren Erklärungsversuchen – nicht einfach nur im Spannungsgefüge von Zerstörung und Resistenz begreifen kann. 1 Dahinter stehen neuere kulturtheoretische Ansätze, nach denen Kultur grundsätzlich prozessual zu begreifen ist, weil sie stets im Wandel ist. 2 Dieser Wandel entsteht durch Kommunikation und Handlung 1

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Vgl. Bhabha, Homi: Die Verortung von Kultur. Tübingen 2000; Conrad, Sebastian/Randeria, Shalini (Hrsg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. Frankfurt a.M. 2002; Werner, Michael/Zimmermann, Bénédicte: Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der ‘Histoire croisée’ und die Herausforderung des Transnationalen. In: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 607636; Mitterbauer, Helga: „Acting in the Third Space“. Vermittlung im Spannungsfeld kulturwissenschaftlicher Theorien. In: Celestini, Federico/Mitterbauer, Helga (Hrsg.): Verrückte Kulturen. Zur Dynamik kultureller Transfers. Tübingen 2003 (= Stauffenburgdiscussion 22), S. 53-66; Isernhagen, Hartwig: Dominance, Subdominance, Survival. The middle ground as interpretive paradigm. In: Burghartz, Susanna u.a. (Hrsg.): Berichten, Erzählen, Beherrschen. Wahrnehmung und Repräsentation in der frühen Kolonialgeschichte Europas. Frankfurt a.M. 2003 (= Zeitsprünge 7), S. 179-199; Bachmann-Medick, Doris: Cultural turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek 2006. Vgl. Knobloch, Hubert: Kommunikationskultur. Die kommunikative Konstruktion kultureller Kontexte. Berlin 1995; Fuchs, Martin: Übersetzen und Übersetzt-Werden. Plädoyer für eine interaktionsanalytische Reflexion. In: Bachmann-Medick, Doris (Hrsg.): Übersetzung als Repräsentation fremder Kulturen. Berlin 1997, S. 308-328; Horstmann, Axel: Interkulturelle Hermeneutik. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 47 (1993), S. 427-448;

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und ist geprägt von ständigen kleineren wie größeren Übersetzungsprozessen. 3 Damit löst sich die Vorstellung von zwei sich gegenüberstehenden Kulturen auf. Denn jede Kommunikation verändert die an dieser Kommunikation Beteiligten und damit das, was für die Kultur dieser Teilnehmer gehalten wird. Dieser Wandel ist – das sei zur Sicherheit betont – auch ein Ergebnis der jeweils wirkmächtigen Macht- und Herrschaftsstrukturen in diesen Räumen, welche sich jedoch nicht einfach über den Gegensatz von Europäern und Indigenen fassen lassen. Solche Momente wechselseitiger Beeinflussung unter Bedingungen asymmetrischer Machtverhältnisse werden – wie durch Felix Hinz – zumeist unter Rückgriff auf Ortíz und Pratt mit den Begriffen „contact zones“ und „Transkulturation“ zu fassen versucht (Hinz). 4 Auch Antje Flüchter und Anne-Charlott Trepp arbeiten mit diesen Konzepten und fragen folglich nach diskursiv und performativ durch individuelle wie gesellschaftliche Praktiken hervorgerufenen Transformationsprozessen in solchen „Kontaktzonen“ (Flüchter) und betten ihre Untersuchung ein in die neueren Debatten über Verflechtungsgeschichte (Flüchter/Trepp). 5 Christoph Marx wiederum spricht explizit nicht von „contact zones“, weil in dem von ihm untersuchten Grenzraum im südlichen Afrika über viele Jahrzehnte Kommunikation zwar stattfand, die Begegnungen in dem von ihm untersuchten Zeitraum jedoch von (teilweise bewusstem) gegenseitigem Missverstehen geprägt waren. Darum nutzt er stattdessen für diesen Grenzraum den Begriff „interkultureller Begegnungsraum“, ein Begriff, der für die Beschreibung des Aufeinandertreffens unterschiedlicher Kulturen zu Beginn der europäischen Expansion – ein Beginn, der sich an den verschiedenen Orten der Welt in unterschiedlichen Jahrhunderten vollzogen hatte – durchaus

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ders.: Positionen des Verstehens. Hermeneutik zwischen Wissenschaft und Lebenspraxis. In: Jaeger, Friedrich/Straub, Jürgen (Hrsg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Bd. 2. Paradigmen und Disziplinen. Stuttgart 2004, S. 341-364; Renn, Joachim: Perspektiven einer sprachpragmatischen Kulturtheorie. Ebd., S. 430-448. Vgl. Nida, Eugene A./Tabor, Charles R.: The theory and practice of translation. 2. Aufl., Leiden 1982; Reiss, Katharina/Vermeer, Hans: Grundlegung einer allgemeinen Translationstheorie. Tübingen 1984; Bachmann-Medick, Doris: Einleitung. In: Bachmann-Medick 1997 (wie Anm. 2), S. 1-18; Dürr, Renate: Sprachreflexion in der Mission. Die Bedeutung der Kommunikation in den sprachtheoretischen Überlegungen von José de Acosta S.J. und Antonio Ruiz de Montoya S.J. im ausgehenden 16. und beginnenden 17. Jahrhundert. In: Geschichte und Gesellschaft 36 (2010), H. 2 (im Druck). Vgl. Ortíz, Fernando: Contrapunteo cubano del tabaco y el azúcar (1940), hrsg. von Santí, Enrico Maria. Madrid 2002; Pratt, Mary Louise: Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation. London 1992, S. 4-7. Vgl. Conrad, Sebastian/Randeria, Shalini: Einleitung. Geteilte Geschichten – Europa in einer postkolonialen Welt. In: Conrad/Randeria 2002 (wie Anm. 1), S. 9-49; Rothermund, Dietmar: Globalgeschichte und Geschichte der Globalisierung. In: Grandner, Margarete u.a. (Hrsg.): Globalisierung und Globalgeschichte. Wien 2005, S. 12-35.

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Sinn macht. 6 Der Begriff mag auch auf einige der durch die „postcolonial studies“ in der Nachfolge von Edward Said und anderen vehement aufgezeigten Grenzen der Verständigung verweisen. 7 Alle hier versammelten Beiträge zeigen darüber hinaus, dass die „Grenzen kolonialer Herrschaft“ noch sehr viel grundsätzlicher zu begreifen sind, nämlich beim Begriff „kolonial“ selbst, der nur mit großer Vorsicht auf Verhältnisse der Frühen Neuzeit anwendbar ist. 8 So lässt sich etwa in Indien von einem Aufbau einer flächendeckenden, britischen Kolonialherrschaft im Sinne einer rechtlich abgestützten Fremdherrschaft erst seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert sprechen. 9 Zuvor waren hauptsächlich Handelsstützpunkte verschiedener europäischer Länder von Bedeutung, deren Einflusssphären aber auch durch innereuropäische Rivalitäten immer wieder zurückgedrängt worden waren (Flüchter/Trepp). Im südlichen Afrika wiederum lebte die Kapkolonie, die eine Kolonie im Sinne einer Siedlungskolonie war, bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts in der Rechtsfiktion, dass sie Herrschaft allein über die dort lebenden Europäer zu organisieren hatte (Marx). Hier bedeutete koloniale Herrschaft während des 17. und 18. Jahrhunderts also in erster Linie „die politische Ordnung europäischer Siedlergemeinschaften“, wie Christoph Marx schreibt, ein „Verwaltungsminimalismus“, der in erster Linie aus finanziellen Erwägungen zum Tragen kam (Marx). Schließlich ist auch dort, wo – wie in Spanisch-Amerika spätestens seit der Mitte des 16. Jahrhunderts

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Vgl. Bitterli, Urs: Alte Welt – Neue Welt. Formen des europäisch-überseeischen Kulturkontaktes vom 15. bis zum 18. Jahrhundert. München 1986; Osterhammel, Jürgen: Kulturelle Grenzen in der Expansion Europas. In: Saeculum 46 (1995), S. 101-138; Beck, Thomas: Die europäisch-indianischen Beziehungen. Das Problem der Integration – ein Essay. In: Bellers, Jürgen/Gründer, Horst (Hrsg.): Europäisch-indianischer Kulturkontakt in Nordamerika. Hamburg 1999, S. 1-26; Schmitt, Eberhard: Europäische Expansion, Europäisierung der Welt, Globalisierung. Gedanken über einen Prozess langer Dauer. In: Faes, Urs/Ziegler, Béatrice (Hrsg.): Das Eigene und das Fremde. Festschrift für Urs Bitterli. Zürich 2000, S. 263-277. Vgl. Said, Edward: Orientalism. London 2003 (dt.: Frankfurt a.M. 2009); vgl. auch: Pagden, Anthony: European Encounters with the New World. New Haven 1993 (dt.: Das erfundene Amerika. Der Aufbruch des europäischen Denkens in die Neue Welt. München 1996); für eine Auseinandersetzung mit den Thesen von Said vgl. Osterhammel 1995 (wie Anm. 6); MacLean, Gerald: Looking East. English Writing and the Ottoman Empire Before 1800. Basingstoke 2007. Vgl. Reinhard, Wolfgang: Kleine Geschichte des Kolonialismus. Stuttgart 1996 (= Kröners Taschenbuchausgabe 475); Osterhammel, Jürgen: Kolonialismus. Geschichte – Formen – Folgen. 3. Aufl., München 2001 (= Wissen in der Beck’schen Reihe 2002); Eckert, Andreas: Kolonialismus. Frankfurt a.M. 2006 (= Fischer Kompakt 15351). Vgl. Neill, Stephen: A History of Christianity in India, 1707-1858. Cambridge 1985; Bayly, Christopher A.: Indian Society and the Making of the British Empire. Cambridge 1988; Subrahmanyam, Sanjay: The Portuguese Empire in Asia, 1500-1700. London 1993.

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– der Aufbau kolonialer Herrschaft explizites Programm war, 10 noch für lange Zeit festzuhalten, dass die koloniale Verwaltung in erster Linie Städte einbezog, die dann wie ein koloniales „Inselsystem“ in einem weiterhin und noch für lange Zeit durch indigene Machthaber kontrollierten Landgebiet wirkten (Hinz). Die überall auftretenden Stadt-Land-Konflikte sind ein Grund für die von Felix Hinz in seinem Beitrag „Topographische Grenzen als Grenzen kolonialer Herrschaft am Beispiel Lateinamerikas und insbesondere Tlaxcalas im 16. Jahrhundert“ vertretene These, ganz Spanisch-Amerika sei eine Grenzregion gewesen. Ein anderer Grund liegt in der Tatsache, dass es nur sehr wenig grundsätzlich akzeptierte Grenzen gab. So sei die einzige Grenze, die die spanischen Conquistadoren akzeptiert hätten, eine rein fiktive Grenze gewesen, nämlich die Tordesillas-Linie, mit welcher man den Einflussbereich zwischen Spanien und Portugal zu bestimmen versuchte. 11 Soweit ansonsten nötig, übernahmen die spanischen Conquistadoren und Herrschaftsträger alte Grenzverläufe und damit indigene Gliederungen der Region, insbesondere dort, wo diese klar definiert und mit Grenzsteinen markiert waren. Eine besonders deutlich markierte Grenze betraf das Gebiet der mit den Spaniern verbündeten Tlaxcalteken. 12 Tlaxcala konnte wegen seiner Unterstützung der Conquistadoren nach der Eroberung des Aztekenreiches einen beinahe autonomen Status im spanischen Königreich aufrechterhalten, seine Grenzen verteidigen und Sonderbedingungen erwirken. Felix Hinz nimmt diese Ausnahmeprovinz zum Ausgangspunkt für die Frage nach den transkulturellen Verflechtungen in dieser Grenzregion, was er insbesondere am Beispiel der gemeinsamen Verteidigung der Nordgrenze Neuspaniens diskutiert. Christoph Marx setzt sich in seinem Beitrag „Die Grenze und die koloniale Herrschaft. Die ‘Frontier’ der Kapkolonie im 18. Jahrhundert“ mit der Frontier als einem „interkulturellen Begegnungsraum“ auseinander, womit er sich explizit gegen die Vorstellung von einer „Frontier“ im Sinne Turners als eines „unaufhaltsamen räumlichen Voranschreitens der westlichen Zivilisati-

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Vgl. Pietschmann, Horst: Staat und staatliche Entwicklung am Beginn der spanischen Kolonisation Amerikas. Münster 1980 (= Spanische Forschungen der Görresgesellschaft 18); Meyn, Matthias/Beck, Thomas (Hrsg.): Der Aufbau der Kolonialreiche. München 1987 (= Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion 3); König, Hans-Joachim: Kleine Geschichte Lateinamerikas. Stuttgart 2006; Brendecke, Arndt: Imperium und Empire. Funktionen des Wissens in der spanischen Kolonialherrschaft. Köln u.a. 2009. Vgl. Rumeu de Armas, Antonio: El tratado de Tordesillas. Rivalidad hispano-lusa por el dominio de océanos y continentes. Madrid 1992 (= Colecciones MAPFRE 1492, 1/Colección América 92, 12). Vgl. Prem, Hanns J.: Die Azteken. Geschichte – Kultur – Religion. München 1996 (= Wissen in der Beck’schen Reihe 2035).

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on“ wendet. 13 Nicht zwei Gesellschaften, die unterschiedliche Prinzipien verkörperten – Kultur versus Natur etwa –, hätten sich gegenübergestanden und miteinander gerungen. Stattdessen hätten sich in diesem Grenzraum all jene versammeln können, für die in der Kolonie selbst kein Platz war. In dieser vielschichtigen Gesellschaft kam es bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert zu wechselnden Koalitionen und der Ausbildung eigener, der kolonialen Verwaltung eher fern stehender Strukturen, denen Christoph Marx nun in seinem Beitrag weiter nachgeht, indem er insbesondere nach ihrer wirtschaftlichen Bedeutung fragt. Diese zeige, so Christoph Marx, wie sehr schon im 18. Jahrhundert die rechtliche Vorstellung einer Exklusion der einheimischen Bevölkerung aus der Kapkolonie durch die Praxis von Begegnung und Austausch in den Grenzregionen zur Fiktion geworden war. Es gibt wohl wenige Bereiche, in denen das Schlagwort von der „Kultur als Übersetzung“ 14 so augenscheinlich deutlich wird wie in den frühneuzeitlichen Missionsstationen als Kontakt- und Konfliktzonen mindestens zweier Kulturen und Sprachen. 15 Als kulturelle Vermittler arbeiteten Missionare stets an der Grenze zwischen Kulturen, einer höchst konfliktträchtigen Grenze, weil sich unterschiedliche Interessenslagen überlappten, und zwar sowohl von Seiten der Europäer als auch von Seiten der jeweiligen indigenen Bevölkerung. 16 Zwar beruhte die europäische Expansion nicht zuletzt auch auf den Vermittlungsversuchen der Missionare. 17 Zugleich aber relativierte und modi13

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Vgl. Turner, Frederick Jackson: The Frontier in American History. New York 1921; Hine, Robert V./Faragher, John Mack: The American West. A new interpretive history. New Haven 2000. Vgl. Fuchs 1997 (wie Anm. 2), S. 311. Vgl. dazu ausführlicher Dürr, Renate: Wechselseitiger Kulturtransfer. Jesuiten und Guaraní in den Reduktionen von Paraguay. In: Baumgärtner, Ingrid u.a. (Hrsg.): Nation – Europa – Welt. Identitätsentwürfe vom Mittelalter bis 1800. Frankfurt a.M. 2007, S. 422-440; dies.: Übersetzung als Wissenstransfer. Das Beispiel der Guaraní-Wörterbücher von Antonio Ruiz de Montoya S.J. (1639-1640). In: Häberlein, Mark (Hrsg.): Sprachgrenzen, Sprachkontakte und kulturelle Vermittler in der Geschichte der europäisch-überseeischen Beziehungen (im Druck). Vgl. Osterhammel 1995 (wie Anm. 6); Juneja, Monica/Pernau, Margit (Hrsg.): Religion und Grenzen in Indien und Deutschland. Auf dem Weg zu einer transnationalen Historiographie. Göttingen 2008. Vgl. Reinhard, Wolfgang: Christliche Mission und Dialektik des Kolonialismus. In: Historisches Jahrbuch 109 (1989), S. 353-370; Gründer, Horst: Welteroberung und Christentum. Ein Handbuch zur Geschichte der Neuzeit. Gütersloh 1992; Hausberger, Bernd: Für Gott und König. Die Mission der Jesuiten im kolonialen Mexiko. Wien/München 2000; Porter, Andrew: Religion versus Empire? British Protestant Missionaries and Overseas Expansion, 1700-1914. Manchester 2004; Etherington, Norman: Missions and Empire. Oxford 2005; von der Heyden, Ulrich/Stoecker, Holger (Hrsg.): Mission und Macht im Wandel politischer Orientierungen. Europäische Missionsgesellschaften in politischen Spannungsfeldern in Afrika und Asien zwischen 1800 und 1945. Stuttgart 2005.

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fizierte die Mission den kolonialistischen Herrschaftsanspruch in mancherlei Hinsicht, sei es aus didaktisch-erzieherischen Gründen (im Sinne einer „geistlichen“ oder gewaltfreien Eroberung etwa), 18 aus dem Verständnis eines nach Gerechtigkeit strebenden Christentums heraus (wie Bartholomé de Las Casas betonte) 19 oder aufgrund des Verständnisses von der Vielschichtigkeit der Kommunikationssituation in diesen Missionsstationen. 20 Letzteres wiederum war die Voraussetzung für die jesuitische Methode der „Akkomodation“, die mit einigen Variationen auch unter pietistischen Missionaren weit verbreitet war. 21 Solche begrenzenden Momente sind auch in den beiden hier untersuchten Fallbeispielen aus Indien festzustellen, wenn auch mit differenzierenden Nuancen. So konstatiert Antje Flüchter weniger eine kolonialkritische Stoßrichtung der jesuitischen Missionare, als dass deren Mission für den französischen Indienhandel zur Gefahr werden konnte; sehr verständlich in einer Zeit, die vor allem von europäischen Handelsstützpunkten und noch kaum von kolonialen Verwaltungsstrukturen geprägt war. Doch auch da, wo es in kleinerem Maßstab zum Aufbau kolonialer Strukturen kam, wie in Tranquebar durch die Bevollmächtigten des dänischen Königs, war der Bezugspunkt der dortigen pietistisch-lutherischen Missionare zur „kolonialen Herrschaft“ ein recht weitläufiger. Denn innerhalb dieses dänischen Einflussbereiches wirkten ausschließlich deutsche Missionare, die sich nur mittelbar in den Aufbau einer kolonialen Herrschaft einbeziehen ließen und sich darum auch kaum direkt 18

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Vgl. Montoya, Antonio Ruiz de: The spiritual conquest accomplished by the religious of the Society of Jesus in the provinces of Paraguay, Paraná, Uruguay, and Tape. A personal account of the founding and early years of the Jesuit Paraguay Reductions, hrsg. von McNaspy, Clement J. St. Louis 1993. Vgl. Las Casas, Bartolomé de: Sozialethische und staatsrechtliche Schriften, hrsg. von Delgado, Mariano. Paderborn u.a. 1997; ders.: Brevísima relación de la destruición de las Indias, hrsg. von Varela, Consuelo. Madrid 1999. Vgl. Dürr 2010 (wie Anm. 3). Vgl. Reinhard, Wolfgang: Gelenkter Kulturwandel im 17. Jahrhundert. Akkulturation in den Jesuitenmissionen als universalhistorisches Problem. In: Historische Zeitschrift 223 (1976), S. 529-590; O’Malley, John W. u.a. (Hrsg.): The Jesuits. Cultures, Sciences, and the Arts, 1540-1773. Toronto u.a. 2000; Sievernich, Michael: Von der Akkomodation zur Inkulturation. Missionarische Leitideen der Gesellschaft Jesu. In: Zeitschrift für Missionswissenschaft und Religionswissenschaft 86 (2002), S. 260-276; Collani, Claudia von: Aspekte und Problematik der Akkomodation der Jesuiten in China. In: Meier, Johannes (Hrsg.): „… usque ad ultimum terrae“. Die Jesuiten und die transkontinentale Ausbreitung des Christentums, 1540-1773. Göttingen 2000 (= Studien zur außereuropäischen Christentumsgeschichte 3), S. 99-119; Brockey, Liam Matthew: Journey to the East. The Jesuit Mission to China, 1579-1724. Cambridge/London 2007; Hsia, Ronnie Po-chia: The Catholic Mission and Translation in China, 1583-1700. In: Burke, Peter/Hsia, Ronnie Po-chia (Hrsg.): Cultural translation in Early Modern Europe. Cambridge/New York 2007, S. 3951.

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damit auseinandersetzten; jedenfalls nehmen die von Anne-Charlott Trepp untersuchten Schriften hallisch-lutherischer Missionare darauf kaum Bezug. Sowohl von den jesuitischen Missionaren des 17. und 18. Jahrhunderts als auch von den pietistischen Missionaren des 18. und 19. Jahrhunderts ist bekannt, dass sie wenigstens nach ihrem eigenen Selbstverständnis für die Gewinnung neuer Seelen Grenzen zu überwinden versuchten. Welche Grenzen das waren und worin die grenzenüberschreitenden Momente kultureller Anpassungsleistung bestanden, fragt Antje Flüchter in ihrem Beitrag „Mission als Grenzüberschreitung? Die Wahrnehmung französischer Jesuiten in Südindien am Vorabend des Kolonialismus“. Sie untersucht dafür die in der jesuitischen Missionszeitschrift Der Neue Welt-Bott versammelten Berichte französischer Jesuiten der Karnatischen Mission im südindischen Pondicherry. Deutlich wird, dass zwischen drei verschiedenen Arten von Grenzüberschreitung zu differenzieren ist, die Antje Flüchter als „moralisch“, „sozial“ und „kultisch“ bezeichnet. Kaum Schwierigkeiten bereitete es den französischen Jesuiten, einige der von den Indern als unmoralisch betitelten, europäischen Gewohnheiten abzulegen. Auch die Annahme indischer Segregationsstrukturen stellte die Jesuiten nicht vor unlösbare Probleme. Dagegen war die Frage nach der Übernahme lokaler religiöser Riten eine Frage, die ins Zentrum des Selbstverständnisses der christlichen Missionare traf und damit zunächst einmal „Grenzen des Sagbaren“ markiert. Die genaue Untersuchung der jesuitischen Berichte zeigt, wie sich durch Überwindung interkultureller Grenzen diese zum Teil verschoben und zu innerkulturellen sozialen Grenzen werden konnten. Trotz der vielfältigen Grenzüberschreitungen durch jesuitische Missionare, die Antje Flüchter konstatiert, wendet sie sich jedoch gegen die These des vollkommenen „Provincialising Europe“ durch solche Grenzüberschreitungen. 22 Noch expliziter mit den Grenzen der Grenzüberschreitungen beschäftigt sich der Beitrag von Anne-Charlott Trepp: „Zur Dynamik interkultureller Grenzen am Beispiel der protestantischen Indienmission im 18. Jahrhundert“. Sie untersucht die Berichte und wissenschaftlichen Arbeiten von zwei pietistischen Missionaren des beginnenden (Bartholomäus Ziegenbalg und Johann Ernst Gründler) sowie des ausgehenden 18. Jahrhunderts (Christoph Samuel John und Johann Peter Rottler) und kann deutliche Unterschiede darin erkennen, für wie wichtig die kulturelle Grenzüberschreitung als Voraussetzung für eine erfolgreiche Mission gehalten wurde. Hatten sich die Pionie22

Vgl. Chakrabarty, Dipesh: Europa provinzialisieren. Postkolonialität und die Kritik der Geschichte. In: Conrad/Randeria 2002 (wie Anm. 1), S. 283-312; Županov, Ines G./Hsia, Ronnie Po-chia: Reception of Hinduism and Buddhism. In: Hsia, Ronnie Po-chia (Hrsg.): Reform and expansion. 1500-1650. Cambridge 2007 (= The Cambridge History of Christianity 6), S. 577-597.

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re pietistischer Mission ausführlich mit den Grundlagen der zu missionierenden Kultur und Sprache befasst und sich in vielerlei Hinsicht auf die dortige Lebensweise eingelassen, so erschien die indische Kultur den hallischen Geistlichen im ausgehenden 18. Jahrhundert weit weniger vorbildlich und erforschenswert; auch vermieden sie einen direkten Austausch mit der einheimischen Bevölkerung – jedenfalls, sofern dieser nicht die stattdessen mit großer Energie betriebenen Naturstudien der beiden Missionare betraf. Was Anne-Charlott Trepp damit zur Diskussion stellt, ist die Frage nach dem Wandel der Prioritäten im Verlaufe des 18. Jahrhunderts und der damit erst richtig entstehenden Vorstellung europäischer kultureller Überlegenheit.

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Topographische Grenzen als Grenzen kolonialer Herrschaft am Beispiel Lateinamerikas und insbesondere Tlaxcalas im 16. Jahrhundert Altamerikanische Grenzen Dieser Beitrag hat altamerikanische Grenzen und ihren Einfluss auf jene der frühen spanischen Kolonialzeit zum Gegenstand. Es wird dabei hauptsächlich um die Frage gehen, welche Herrschaftsverständnisse aus dem jeweiligen Umgang mit Grenzen abzuleiten sind. Um möglichst greifbare Ergebnisse zu erzielen, soll der Grenzbegriff streng topographisch gefasst sein. Der Ansatz verlangt gleichwohl einen kulturellen Vergleich, wobei zu beachten ist, dass ein solcher sich einerseits vor unzulässigen Vereinfachungen hüten muss, sich andererseits jedoch auch nicht bei der Feststellung nur noch schwer entwirrbarer Verflechtungen erschöpfen darf. Im Bereich der lateinamerikanischen Geschichte hat sich hier das Ortízsche Modell der Transkulturation aus den 40er Jahren1 bewährt, in dessen Bahnen sich die folgenden Ausführungen 1

Der Begriff „transculturación“ wurde von dem kubanischen Ethnologen, Anthropologen, Juristen und Intellektuellen Fernando Ortíz geprägt; vgl. Ortíz, Fernando: Contrapunteo cubano del tabaco y el azúcar (1940), hrsg. von Santí, Enrico Maria. Madrid 2002. In diesem umfangreichen Essay setzt er diesen Neologismus gegen den (von Ortíz etwas missverstandenen) Begriff der „Akkulturation“, den er wegen seiner (eurozentrischen) Unilateralität für ungeeignet hält, der komplexen kubanisch-lateinamerikanischen Kulturentwicklung gerecht zu werden. Mit Transkulturation meint Ortíz einen Prozess aktiver Kulturtransformation, der mit dem (gewaltsamen) Zusammenstoß unterschiedlicher Kulturen beginnt und in der Schaffung neuer kultureller Formen mündet. Jede Transkulturation weist an ihrem Anfang Phasen der „Dekulturation“, also des Kulturverlustes, der kulturellen „Entwurzelung“ auf, was in Lateinamerika bereits für die spanischen Eroberer gilt, die sich in der neuen Welt nicht nur einer anderen Realität und Umwelt gegenübersahen, in denen ihre ursprünglichen kulturellen Deutungs- und Handlungsmuster nicht oder nur eingeschränkt funktionierten, sondern die sich durch die Entfernung vom Mutterland auch ganz bewusst von soziokulturellen Institutionen und Positionen trennen wollten. In ungleich stärkerem Maße hatten dann die (bald nahezu vollständig ausgerotteten) Indios und die nach Kuba verbrachten Sklaven aus Afrika unter dem Kulturverlust durch ihre gewaltsame „Umsiedlung“ in einen anderen soziokulturellen Kontext zu leiden. Auf „Dekulturation“ folgt, in einer solchen Situation des Kulturkontakts, die „Neokulturation“, die Ausbildung neuer kultureller Phänomene, die zwar Ähnlichkeiten mit denen der Ausgangskulturen aufweisen, mit ihnen jedoch nicht identisch sind und die neben anderen, tradierten existierten. Die derart entstandene „neue“ Kultur bleibt der Dynamik der Transkulturation

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bewegen. Entscheidend in diesem Sinne ist die kulturelle Dynamik auf asymmetrischer Grundlage der kolonialen Herrschaftssituation, d.h. weder die indigenen noch die spanischen Kulturen waren oder blieben in sich fix, sondern befanden sich in ständiger gegenseitiger Beeinflussung der De- und Neokulturationen. Diskussionswürdig in diesem Sinne wäre, ob koloniale Herrschaft als Konzept erst mit den Spaniern nach Amerika kam, und wenn ja, welche Kontinuitäten sich hier etwa anhand des Umgangs mit Grenzen aufzeigen ließen. Zwar sind heute eine große Anzahl altamerikanischer Staaten bekannt, doch wenn es darum geht, topographisch genau bestimmbare Grenzverläufe zu identifizieren, sieht man sich mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass die altamerikanische Welt eine sprachlich und kulturell sehr vielfältige, mobile und politisch oft kurzlebige war. Allerdings gibt die Geographie Amerikas einige Gegebenheiten vor, die nicht nur die Macht der (von den Spaniern noch vital angetroffenen) sogenannten Hochkulturen begrenzte, sondern später auch die koloniale Herrschaft der Spanier. Betrachtet man beispielsweise das seit 1230 expandierende Inkareich, 2 stellt man fest, dass sein Territorium von West nach Ost extreme Höhenunterschiede und Klimazonen durchläuft. Die Inka folgten wie ihre Vorgängerkulturen daher der Nord-Südrichtung entlang der Anden, so dass ihr Reich schließlich eine extrem lang gezogene Form annahm. Während ihr Machtbereich im Westen an den Pazifik und im Osten an das Amazonasbecken stieß, endete er im Süden Chiles ebenfalls im Unwirtlichen. Als sie den Río Maule erreichten und dort auf heftigen Widerstand der Mapuche-Araukaner stießen, betrachteten sie diesen Fluss als Südgrenze ihres Reiches. Jene Grenze ist jedoch die einzige, die für die Inka einigermaßen festgelegt war. Jeder InkaHerrscher hatte die Expansion weiter vorangetrieben und das Eroberte durch das berühmte Straßensystem strategisch gesichert. 3 Auf die Azteken (Mexica) trifft es noch weit mehr als auf die Inka zu, dass sie sich zum Zeitpunkt der spanischen Conquista gerade in einer sich schnell ändernden politischen Situation befanden. Denn die Azteken, die als regionale Großmacht erst 150 Jahre vor den Spaniern die geschichtliche Bühne Ame-

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unterworfen und bedeutet eben keine (mehr oder weniger harmonische) „Vermischung“ und Fusion unterschiedlicher Kulturen im Sinne des mestizaje-Konzepts, sondern die Kopräsenz heterogener Formen und Formationen. Vgl. Karte in Stingl, Miloslav: Inka. Ruhm und Untergang der „Sonnensöhne“. 2. Aufl., Leipzig/Jena/Berlin 1989, S. 116. Vgl. Karte in Coe, Michael/Benson, Elisabeth (Hrsg.): Amerika vor Kolumbus. Augsburg 1998, S. 196. Eingängig beschrieben sind diese Straßen zusammen mit Kultur und Geschichte der Inka erstmals und ausführlich von Cieza de León, Pedro: La crónica del Perú. Madrid 2000 (= Dastin Crónicas de América 6).

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rikas betreten hatten, 4 stellten ein kompliziertes politisches Gebilde dar, das genauer als ein Bund der drei zentralmexikanischen Städte Texcoco, Tlacopán und Tenochtitlán anzusprechen ist. Dieser Bund hatte sich nicht zum Ziel gesetzt, ein Reich (im europäischen Sinne) aufzubauen, sondern strebte lediglich danach, möglichst viele Staaten des mexikanischen Hochlandes zu Tributzahlungen zu zwingen. 5 Die Tribute der Unterworfenen wurden unter die drei Mitglieder des Bundes nach einem bestimmten System aufgeteilt. 6 Ansonsten aber verwalteten sich diese Staaten weiterhin selbst, und es gab weder eine aztekische Verwaltung, noch ausgebaute Straßen oder sonstige übergreifende Strukturen. Im Norden endete die aztekische Macht dort, wo die Schere zwischen Aufwand und Nutzen für die Ziele dieses gleichsam kolonialen Tributimperiums unverhältnismäßig weit auseinander ging. Der aride, gebirgige Norden Zentralmexikos wurde von halbnomadischen Chichimeken bewohnt. Diese wurden von den Nahuas, den Völkern des zentralmexikanischen Hochlands, die alle nur wenige hundert Jahre zuvor ebenfalls aus diesen Landstrichen zugewandert waren, mit einer Mischung aus Verachtung und Bewunderung betrachtet. Einerseits fühlten sie sich den Chichimeken kulturell weit überlegen, andererseits waren es in Mexiko stets jene zugewanderten Gruppen aus dem Norden gewesen, die die Kulturvölker unterwarfen und politisch beerbten. Eine klar definierte, geschweige denn noch heute rekonstruierbare Grenze findet man hier genauso wenig wie zu den südmexikanischen Gebieten, wo aztekische Expeditionsheere auf Reste der Mayabevölkerung trafen. Klare Grenzverläufe gab es allerdings zwischen den einzelnen altépetl genannten Nahuastaaten, von denen eine besonders hervorstach: Tlaxcala war ein Gebiet, das im Westen durch zwei Vulkane von den Städten des Dreibundes getrennt, im Norden an Chichimekengebiet angrenzend und im Südosten ebenfalls durch einen Vulkan abgeschirmt, den Azteken trotzte. 7 Obwohl die Azteken mit der Zeit alle Gebiete rund um Tlaxcala unterwarfen, gelang es ihnen trotz mehreren Versuchen nicht, diesen Staat zu erobern. Die Tlaxcalteken waren daher gezwungen, ihre Grenzen in dem Maße zu befestigen, in dem sie die Spanier schließlich vorfanden. Doch bevor dieser beson-

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1345 gilt gemeinhin als Gründungsjahr der Stadt Tenochtitlán; vgl. Davies, Nigel Byam: Die Azteken. Meister der Staatskunst – Schöpfer hoher Kultur. Düsseldorf/Wien 1974, S. 389. Das genaue Datum ist jedoch ungewiss, und einige Autoren nennen zum Teil abweichende Daten, jedoch stets solche im frühen 14. Jahrhundert. Vgl. Karte in: Coe/Benson 1998 (wie Anm. 3), S. 146. Hier einschlägig: Carrasco, Pedro: Estructura político-territorial del Imperio tenochca. La Triple Alianza de Tenochtitlan, Tetzcoco y Tlacopan. Mexiko-Stadt 1996. Vgl. Davies, Nigel Byam: Señoríos independientes del imperio azteca. Mexiko-Stadt 1968, Karte 3: Los señoríos del Valle Puebla-Tlaxcala.

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dere Fall auch für die Kolonialzeit näher erläutert wird, sind zunächst einige Bemerkungen zu den spanischen Kolonialgrenzen im Allgemeinen vonnöten.

Koloniale Grenzen in Lateinamerika Spanische Herrschaft in Amerika war zunächst, wie die aztekische, nicht primär daran orientiert, bestimmte Landflächen zu besitzen und abzustecken. Die spanischen Conquistadoren hatten Amerika nicht erobert, um Bauern zu werden, und heidnische Herrschaft galt als nichtig. Selbst natürliche Grenzen wie der Pazifik wurden demonstrativ ignoriert, wenn ihn sein Entdecker Vasco Nuñez de Balboa 1513, nachdem er die Landenge von Panamá überquert hatte, genauso wie der von Cortés 1521 geschickte Fray Jacinto de San Francisco OFM insgesamt und mit allen Inseln und angrenzenden Ländern für Kastilien in Besitz nahm. Sowohl die geographische Gestalt oder Ausdehnung Amerikas als auch autochthone Grenzen spielten für den Anspruch der frühen Eroberer also keine Rolle. 8 Spanische Herrschaft war in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts vielmehr darauf aus, lukrative Machtzentren zu besetzen und über diese die Schätze der betreffenden Gebiete auszubeuten. Lukrative Machtzentren waren vor allem solche, die die indianischen Hochkulturen, allen voran die Inka und Azteken, aus ähnlichen Motiven vorgefertigt hatten. Die Spanier suchten entweder Zentren, zu denen Tribute flossen, oder solche, von denen aus man am günstigsten die Edelmetallminen kontrollieren konnte. Zusätzlich etablierten sie das aus der Reconquistazeit überkommene feudale EncomiendaSystem, das sich nicht als Herrschaft über Land, sondern als solche über Arbeitskräfte definierte. Dementsprechend konnten Encomiendas auch zunächst schwer in geographischen Grenzen festgemacht werden. 9 8

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Vgl. Fernández de Oviedo y Valdés, Gonzalo: Historia general y natural de las Indias desde la formación del lenguaje hasta nuestros días, hrsg. von Pérez de Tudela Bueso, Juan. 5 Bde. Madrid 1959, hier Bd. 4, S. 153 (lib. XXXIII, cap. XXXI); Carta de Fr. Jacinto de San Francisco al rej Felipe II (20.07.1561) in: Nueva colección de documentos para la historia de México, hrsg. von García Icazbalceta, Joaquín. 5 Bde. Mexiko-Stadt 1886-1892, hier Bd. 2, S. 236. Der spanische Militäringenieur Nicolas de Lafora und sein Vorgesetzter, der Marqués de Rubi, bemerkten jedoch scharfsinnig, dass die spanische Regierung sehr wohl ihre „tatsächlichen“ von ihren „imaginären“ Territorien zu unterscheiden wusste, um notfalls letztere für das Wohl ersterer „opfern“ zu können; vgl. Lafora, Nicolas de: Relación del viaje que hizo a los presidios internos situados en la frontera de la América Septentrional, hrsg. von Robles, Vito Alessio. Mexiko-Stadt 1939, S. 16. Die Inspektionsreise wurde 1766-1768 unternommen. Hierbei sticht das Beispiel des Hernán Cortés hervor: Er erhielt vom spanischen Monarchen den fürstlichen Lohn von 23.000 Vasallen zugesprochen. Zeit seines Lebens konnte jedoch nicht geklärt werden, was genau ein „Vasall“ ist bzw. in welchen Grenzen die zahl-

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Vor diesem Hintergrund war die einzige Grenze, die die spanischen Conquistadoren in Amerika grundsätzlich anerkannten, zunächst eine rein hypothetische: Es ging um die Abgrenzung der iberischen Einflussgebiete untereinander. Ohne dass überhaupt schon ein Portugiese offiziell, d.h. im Namen seiner Krone, seinen Fuß auf amerikanischen Boden gesetzt hatte oder die Gestalt des Kontinents mehr als nur ansatzweise bekannt gewesen wäre, wurde in der Bulle Inter caetera II 1493 eine letztlich willkürliche Linie zwischen Portugiesisch- und Spanisch-Amerika gezogen, 10 die ein Jahr später im Vertrag von Tordesillas zugunsten Portugals noch etwas verschoben wurde. 11 Diese Demarkationslinie konnte mit den damaligen technischen Mitteln topographisch gar nicht genau bestimmt werden und war während des 16. Jahrhunderts auch deshalb von wenig praktischer Bedeutung, weil sie durch Gebiete lief, die nicht kolonial erschlossen waren. 12 Wie sehr die Wege der spanischen Conquista in Bezug auf die amerikanische Geographie ansonsten den vorgegebenen Bahnen der indigenen Hochkulturen folgten, sieht man daran, dass sie im Süden und im Norden auf die gleichen Grenzen stießen wie die Inka und Azteken: 13 So erbten die Conquistadoren im Süden den Grenzkonflikt mit den Mapuche. Nur etwas südlich des Río Maule verläuft der Río Bío-Bío, der zwischen 1536 und 1655 14 die heiß umkämpfte und bald mythisch aufgeladene 15 Grenze zur Araucanía bildete. 16 Und im Norden Neuspaniens, das vom Anspruch her in dieser Richtung ebenso wenig eine Grenze hatte wie das Vizekönigreich Perú im Süden, wurden die Spanier gegen die Chichimeken in den längsten und blu-

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reichen cortesischen Ländereien zu fassen sein sollten; vgl. García Martínez, Bernardo: El Marquesado de Valle. Tres siglos de régimen señorial en Nueva España. Mexiko-Stadt 1969. Vgl. Transkription in Giménez Fernández, Manuel: Nuevas consideraciones sobre la historia, sentido y valor de las Bulas Alejandrinas de 1493. Sevilla 1944, S. 339-425. Vgl. Faksimile des Archivo General de Indias in Sevilla (URL: http://www.mcu.es/ archivos/docs/Documento_Tratado_Tordesillas.pdf [letzter Zugriff: 01.06.2010]). Vgl. Solano, Francisco de: Contactos hispanoportugueses en América a lo largo de la frontera brasileña. (1500-1800). In: Estudios (nuevos y viejos) sobre la frontera, hrsg. von dems./Bernabeu, Salvador. Madrid 1991 (= Anexos de Revista de Indias 4), S. 187-215, hier S. 188f. Hinzu kam, dass Spanien und Portugal von 1580 bis 1640 in Personalunion regiert wurden. Vgl. Hennessy, Alistair: The Frontier in Latin American History. London 1978, S. 64. Vgl. Villalobos R., Sergio: Tres siglos y medio de la vida fronteriza chilena. In: de Solano/Bernabeu 1991 (wie Anm. 12), S. 289-359, hier S. 290. Vgl. Operé, Fernando: Historias de la frontera. El cautiverio en la América hispánica. Buenos Aires 2001, S. 65. Sie sollte bis 1883, also noch über die spanische Kolonialzeit hinaus, Bestand haben. Zur hier nicht näher ausgeführten Geschichte der Ostgrenze des Inkareiches und des späteren Vizekönigreichs Peru vgl. Saignes, Thierry: Los Andes orientales. Historia de un olvido. Cochabamba 1985. Vgl. Karte der Araucanía ebd., S. 64.

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tigsten Indianerkrieg der Geschichte Nordamerikas verwickelt. 17 Anders als die Azteken hatten sie dort nämlich zumindest ein punktuelles Interesse: Das Silber von Zacatecas. Die unfruchtbaren Landstriche zwischen den dortigen Minen und Mexiko-Stadt spielten für sie eigentlich keine große Rolle. Aber die Chichimeken gefährdeten den Nord-Süd-Verkehr von den Silberstädten nach Mexiko, indem sie die spanischen Transportwagen überfielen. 18 Da die Regierung Neuspaniens die hochmobilen und untereinander verfeindeten Chichimeken 19 weder militärisch besiegen noch diplomatisch zu bändigen vermochte, muss im Prinzip die gesamte Gran Chichimeca als Grenze angesehen werden. 20 Sie verlief also weniger von Ost nach West als zunächst vielmehr von Süd nach Nord entlang der Straße Mexiko-Zacatecas beziehungsweise später bis Santa Fé in Nuevo México. 21 An der weiteren Entwicklung lässt sich erkennen, wie nach der ersten Phase der Plünderung von Edelmetallschätzen diejenige der längerwierigen Gewinnung derselben erfolgte. Die goldhungrigen, feudal orientierten Conquistadoren wurden ab 1530 zunehmend von königlichen Beamten ersetzt, die nun durchaus auch flächenstaatliche, institutionelle Strukturen in den neu gewonnenen Provinzen schaffen sollten. 22 Weiterhin bestand jedoch die Tendenz, das weite Land von Städten und Konventen aus in punktueller Manier zu kontrollieren, wobei die einzelnen Munizipalgrenzen zunächst in höchstem Maße vage blieben. Im Wesentlichen wurde Spanisch-Amerika dabei in die República de Españoles und die República de Indios unterteilt, wobei von den verschiedenen Indianern erwartet wurde, dass sie gemäß dem EncomiendaSystem Abgaben und Arbeitsdienste leisteten und sich zwecks besserer Hispanisierung und Kontrolle in Ortschaften organisierten. Während die Provinzen von den spanischen Städten aus verwaltet wurden, blieb auf lokaler 17

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Vgl. ebd., S. 176 sowie die Karte in Powell, Philip Wayne: Capitán mestizo. Miguel Caldera y la frontera norteña. La pacificación de los chichimecas (1548-1597). Mexiko-Stadt 1980, S. 28. Ein interessantes Phänomen besteht darin, dass sowohl die Mapuche im Süden als auch die Chichimeken und später die Apachen im Norden den Spaniern während der langwierigen Guerillakriege das Reiten abschauten und somit für diese noch schwieriger (an)greifbar wurden. Vgl. ebd., S. 17. Vgl. Operé 2001 (wie Anm. 15), S. 174. Ihre Sicherung erfolgte durch die Gründung von befestigten Orten in ihrem Verlauf. Vizekönig Velasco begann diesen Konsolidierungsprozess mit der Gründung von San Miguel el Grande (1555, heute San Miguel de Allende) und San Felipe (1562); vgl. Powell 1980 (wie Anm. 17), S. 52f. Es folgten Celaya (1571) und León (1576); vgl. Hennessy 1978 (wie Anm. 13), S. 73. Das komplizierte spanische Verwaltungssystem ist in Bezug auf Genese und Aufbau bereits in den 80er Jahren von Horst Pietschmann eingehend dargelegt worden; vgl. Pietschmann, Horst: Staat und staatliche Entwicklung am Beginn der spanischen Kolonisation Amerikas. Münster 1980 (= Spanische Forschungen der Görresgesellschaft 18).

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Ebene und in ruralen Gebieten alles in der Hand der indigenen Machthaber. Vor dem Hintergrund, dass vor allem dort markante Grenzen hervortraten, wo Spanier auf nicht-hispanisierte Indianer stießen, und dies im 16. Jahrhundert fast überall der Fall war, ist Fernando Operé soweit gegangen, ganz Spanisch-Amerika als eine gigantische Grenzregion zu bezeichnen. 23 Diese Argumentation ist angesichts der wenigen Spanier und vielen Indigenen in der Conquista-Phase so falsch nicht, muss seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts jedoch eingedenk des königlichen Konsolidierungsprozesses zunehmend eingeschränkt werden. 1570 wurden in Neuspanien beispielsweise 70 Provinzen festgelegt, 24 denen jeweils ein Alcalde Mayor vorstand. Nach Entmachtung der einflussreichsten Conquistadoren wurde zudem 1550 in Spanisch-Amerika das Encomienda-System durch dasjenige des Repartimiento abgelöst. Während die Encomienda eine kaum verhüllte Form der Sklavenarbeit der indigenen Bevölkerung darstellte, wurden bei dem Repartimiento die indianischen Orte dazu verpflichtet, einen Teil des Jahres in reglementierter Form für die Krone zu arbeiten. Damit standen nicht mehr Kopfzahlen, sondern zunehmend Ortschaften im Fokus der Organisation. Mit Ortíz könnte man hier argumentieren, dass nach der Dekulturation durch die Conquistadoren nun die Neokulturation durch die königlichen Beamten in Amerika erfolgte und der ersten hemmungslosen Ausbeutung ein gewisser Riegel vorgeschoben wurde, was autochthone Territorien tendenziell wieder stärkte. Diese Stärkung gilt respektive für indianische Grenzen. Auf der Suche nach klar bestimmbaren topographischen Grenzen stößt man erneut auf das bereits oben erwähnte Beispiel des mexikanischen Tlaxcala.

Das Beispiel Tlaxcala Die Tlaxcalteken waren in mehrfacher Hinsicht etwas Besonderes. Sie hatten nicht nur stets den Eroberungsversuchen der Azteken widerstanden, sondern diese schließlich gemeinsam mit den Conquistadoren besiegt. 25 Bereits den ersten Spaniern, die mit Cortés tlaxcaltekisches Gebiet betraten, fielen Grenzsteine 26 und Wallanlagen 27 auf. Die wohl bekannteste Er-

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Vgl. Operé 2001 (wie Anm. 15), S. 15. Vgl. Gerhard, Peter: A guide to the historical geography of New Spain. Cambridge 1972, S. 15. Aufgrund der besonderen Bedeutung für die Conquista sind über Tlaxcala, durch das zudem der für die Eroberer wichtige Weg von México zur Küste führte und das auch ein Zentrum der frühen Evangelisierung darstellte, mehrere spanische Berichte angefertigt worden. Diese Quellen haben sich zum großen Teil erhalten, so dass sich über Tlaxcalas Grenzen einige recht detaillierte Aussagen machen lassen.

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wähnung findet sich beim spanischen Fußsoldaten Bernal Díaz del Castillo, der von einer Mauer berichtet, die zwischen Ixtacamaxtitlán und Tecoac – also an der Ostgrenze Tlaxcalas – lag: Er schildert sie als eine große Schanze aus Steinen, Kalk und Bergharz. 28 Delgado Gómez erwähnt, dass archäologische Reste dieser Schanze noch im 18. Jahrhundert vorhanden waren, 29 doch neuere Untersuchungen vermögen sie nicht mehr zu lokalisieren 30 und auch eigene Nachforschungen in der fraglichen Gegend blieben trotz begeisterter lokaler Hilfe erfolglos. Die Conquistadoren waren 1519 froh, diese Schanze unbesetzt vorzufinden. Gemäß dem spanisch-tlaxcaltekischen Chronisten Muñoz Camargo gehörte sie zu einem System von Türmen, Bergfestungen und Talsperren 31 rund um das Gebiet Tlaxcalas. 32 Noch 1892 stellte eine Kommission des me26

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Vgl. Muñoz Camargo, Diego: Suma y epíloga de toda la descripción de Tlaxcala, hrsg. von Martínez Baracs, Andrea/Sempat Assadourian, Carlos. Tlaxcala 1994 (= Colección Historia, Serie Historia de Tlaxcala 3), S. 76-86 (mojonera) und Díaz del Castillo, Bernal: Historia verdadera de la conquista de la Nueva España (Manuscrito Guatemala), hrsg. von Barbón Rodríguez, José Antonio. Mexiko-Stadt 2005, cap. LXI, S. 148 (moxones). Vgl. Nava Rodríguez, Luis: Tlaxcala prehispánica de 1519 a 1821. Tlaxcala 1977, S. 142 und 303. Vgl. Díaz del Castillo 2005 (wie Anm. 26), cap. LXII, S. 151. Cortés selbst schildert sie folgendermaßen: „Am Ausgang des genannten Tales stieß ich auf eine große Mauer aus getrockneten Ziegeln, die 1 ½ Mannshöhen hoch war. Sie durchschnitt das gesamte Tal von der einen Talwand zur anderen, war 20 Fuß breit und auf der ganzen Länge mit einer 1 ½ Fuß breiten Brustwehr versehen, um dahinter kämpfen zu können. Es gab nicht mehr als einen Durchgang, der ungefähr zehn Fuß breit war, und an diesem Durchgang war die eine [Mauer] über der anderen so weit wie ungefähr 40 Schritte nach der Art eines Ravelins verdoppelt und so, dass der Durchweg in Windungen, [und] nicht gerade, verlief.“ (Cortés, Hernán: Segunda relación. In: ders.: Cartas de Relación, hrsg. von Delgado Gómez, Ángel. Madrid 1993, S. 173f.; alle Übersetzungen in diesem Beitrag F.H.). Vgl. ebd., Anm. 73. Sie soll sich im Tal „Atonilco“ an einem Ort namens „Tenamascuicuitl“ befunden haben; vgl. Orozco y Berra, Manuel: Historia antigua y de la conquista de México. Bd. 4. Mexiko-Stadt 1978, S. 173, Anm. 32, der sich auf Lorenzana, Francisco Antonio: Viaje de Cortés (1770) bezieht; vgl. auch Davies 1968 (wie Anm. 7), S. 151f. Damit ist wahrscheinlich das heutige Atotonilco gemeint. Gurría Lacroix vermutet sie allerdings im Cerro de la Mitra. Sein Foto von demselben findet sich in: Itinerario de Hernán Cortés, hrsg. von Gurría Lacroix, Jorge. In: Artes de México 15 (1968), Nr. 111, S. 48. Vgl. Lira Parra, Ramón: Algunos monumentos, prehispánicos y coloniales en el Estado de Tlaxcala. O.O. 1978, S. 50f. Vgl. auch Miralles Ostos, Juan: Hernán Cortés. Biografía. Mexiko-Stadt 2001, S. 136. Vgl. Muñoz Camargo, Diego: Descripción de la ciudad y provincia de Tlaxcala, hrsg. von Acuña, René. Mexiko-Stadt 1984, S. 104. Hier soll sogar eine Garnison der Azteken gelegen haben, was allerdings unwahrscheinlich ist. Archäologischen Untersuchungen zufolge hat es offenbar bei Hueyotlipan, im äußersten Nordosten der tlaxcaltekischen Allianz, weitere Befestigungen gegeben. Gleiches gilt für die ebene Südwestgrenze Tlaxcalas. Vgl. Krickeberg, Walter: Altmexikanische Kulturen. Berlin 1956, S. 73 und Meyer, Eugenia/Martínez Baracs, Andrea (Hrsg.): Tlaxcala. Textos de su historia. Tlaxcala 1991, Bd. 5, S. 52. Bei Clavigero, einem spanischen Chronisten des

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xikanischen Heeres unter den Hauptleuten Joaquín Ocampo y Arellano und Antonio Retana Forts bei Mixto und Cacaxtla sowie ein System von Patrouillenwegen und Signalfeueranlagen an der alten tlaxcaltekischen Grenze fest. 33 Im Südosten waren derartige Bollwerke nicht nötig, da sich hier die Grenze an die Flanke des 4500 Meter hohen Vulkans Malintzin anlehnte. 34

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18. Jahrhunderts, heißt es: „Die Grenzlinie des Staates hatten sie im Westen mit Gräben und im Osten mit einer Mauer von zwei Wegstunden Länge gesichert.“ (Clavigero, Francisco Javier Mariano: Historia antigua de México und Disertaciones. Mexiko-Stadt 1945, Bd. 1, lib. II, cap. XVI, S. 217); vgl. auch ebd., Bd. 2, lib. V, cap. IV, S. 24 und ebd., lib. VII, cap. XXVI, S. 262f.; zu den Befestigungen Tlaxcalas vgl. auch Martyr von Anghiera, Peter: Acht Dekaden über die Neue Welt. Aus dem Lateinischen übers., eingef. und mit Anm. versehen von Klingelhöfer, Hans. Bd. 2. Darmstadt 1973, Dek. V, Buch I, Kap. VI, S. 11 und Torquemada, Juan de: Monarquía indiana, hrsg. von León-Portilla, Miguel. Bd. 1. Mexiko-Stadt 1969, lib. III, cap. XII, S. 265. Vgl. Peñafiel, Antonio: La ciudad virreinal de Tlaxcala. 2. Aufl., Mexiko-Stadt 1978, S. 43. Peñafiel 1978, S. 31 bestätigt Reste von Befestigungen an der West-Grenze zu Huejotzingo, und der US-amerikanische Historiker Charles Gibson weiß außerdem von einer Mauer im Norden bei Atlangatepec über den Fluss Zahuapan zu berichten; vgl. Gibson, Charles: Tlaxcala in the sixteenth century. New Haven 1952, S. 9. Dazu kamen offenbar an den strategisch schwachen Punkten größere befestigte Siedlungen zum Schutz des Hinterlandes; vgl. Torquemada 1969 (wie Anm. 32), Bd. 1, lib. III, cap. V, S. 252 und Meyer/Martínez Baracs 1991 (wie Anm. 32), Bd. 4, S. 477f. Die Frage, was es mit diesen Befestigungen auf sich habe, scheint zunächst eher rhetorischen Charakters, da sich Tlaxcala doch über Jahre hinaus im permanenten Belagerungszustand durch die Azteken befunden hatte. Aber es ist durchaus nicht archäologisch bewiesen, dass die Tlaxcalteken sie erbaut hatten. Denkbar wäre auch eine Entstehung während einer älteren geschichtlichen Phase. Auch die Ulmeken hatten bereits starke Befestigungen in Tlaxcala erbaut. Vgl. Muñoz Camargo 1984 (wie Anm. 31), S. 139. Und zumindest an der Westgrenze hatten nicht nur die Tlaxcalteken, sondern offenbar auch die Texcokaner unter Netzahualcóyotl Grenzmarken und -mauern errichtet. Vgl. Gibson, Charles: The Aztecs under Spanish rule. A History of the Indians of the Valley of Mexico (1519-1810). Stanford 1964, S. 23. Die Verbündeten des Cortés gaben ihm die Auskunft, dass die Anlagen von den Tlaxcalteken zum Schutz vor Angriffen erbaut worden seien; vgl. Díaz del Castillo 2005 (wie Anm. 26), cap. LXII, S. 151 und Cortés 1993 (wie Anm. 28), S. 174. Der spanische Chronist López de Gómara besaß allerdings gegenteilige Informationen; vgl. López de Gómara, Francisco: Historia de la conquista de México, hrsg. von Ramírez Cabañas, Joaquín. Bd. 1. Mexiko-Stadt 1943, cap. XLV, S. 157. Dem folgen auch Cervantes de Salazar, Francisco: Crónica de la Nueva España, hrsg. von Magallon, Manuel. Bd. 1. Madrid 1971, lib. III, cap. XXXII, S. 252 und Torquemada 1969 (wie Anm. 32), Bd. 1, lib. IV, cap. XXIX, S. 419: Die Mauer sei gegen die Tlaxcalteken errichtet worden, als diese zu einer Zeit, als sie unter der Herrschaft der Azteken standen, Raubzüge über die Grenze unternommen hätten. Der Deutung von Díaz del Castillo und Cortés widerspricht auch der Umstand, dass die Bollwerke bei Ankunft der Conquistadoren nicht verteidigt wurden. Ebenso wenig ist etwas von einer Verteidigung der Schanzen in anderen Zusammenhängen wie den Feldzügen unter des Aztekenherrschers Axayacátl Sohn Tlacahuepan bekannt, der Anfang des 16. Jahrhunderts bis in das Tal von Atlixco vordrang. Gleichwohl soll die Grenze 1504 sogar nochmals verstärkt worden sein; vgl. Meyer/Martínez Baracs 1991 (wie Anm. 32), S. 55. Angelegentlich des Überfalls der westlich von Tlaxcala beheimateten Hue-

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Insgesamt kann man wohl davon ausgehen, dass viele Grenzen des dicht besiedelten zentralmexikanischen Hochlands von jeweils beiden Seiten markiert waren, wobei sich diejenige Tlaxcalas freilich als besonders gut befestigt darstellte. Tlaxcala überdauerte als Staat die Conquista und blieb während des 16. Jahrhunderts grundsätzlich Sperrgebiet für Spanier. 35 Insofern war es innerhalb des spanischen Überseeimperiums ein Sonderfall. Es fühlte sich nach dem Sieg über die Azteken als eine der wichtigsten Stützen kaiserlicher Macht in Neuspanien. Herrschaft endete daher an den Grenzen dieser Provinz immer dann, wenn sie kolonialen Charakter annahm: So durften Tlaxcalteken (theoretisch) nicht zu Zwangsarbeiten herangezogen werden und mussten keine Tribute zahlen. 36 Wie selbstbewusst die ehemaligen Verbündeten des Hernán Cortés an der Gestaltung Neuspaniens weiterhin teilzunehmen gewillt waren, zeigt sich unter anderem auch an ihrem Beitrag zum Vorschieben der neuspanischen Grenzen weit über das Gebiet hinaus, das einst die Azteken beherrscht hatten. Tlaxcalteken sicherten die Straße México-Zacatecas, 37 kämpften für den spanischen König in Chiapas, Honduras, im heutigen Nicaragua, 38 in Guatemala, 39 in Nueva Galicia, der Gran Chichimeca und bis hin nach Nuevo México, Texas 40 und sogar La Florida. 41 Auf diese Weise definierten sie zu-

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jotzingas berichtet Muñoz Camargo lediglich, die mit den Tlaxcalteken verbündeten Otomís hätten die Grenzen treu und tapfer bewacht und verteidigt; vgl. Muñoz Camargo, Diego: Historia de Tlaxcala, hrsg. von Rosell, Lauro. Mexiko-Stadt 1947, lib. I, cap. XIII, S. 125. Gegen die Überlegung, die Tlaxcalteken seien die ursprünglichen Baumeister, hätten sich dann aber zurückgezogen und den im Norden ihrer Provinz lebenden Otomí die Bewachung der Grenze überlassen, die ihrerseits die Verteidigung mit anderen Methoden bevorzugten, spricht, dass es keine klare Trennung von Siedlungsgebieten der Tlaxcalteken und Otomís gegeben hat. Aufenthaltsgenehmigungen erhielten lediglich der Corregidor, d.h. der Kronbeamte, und eine Handvoll Franziskanermönche. Am deutlichsten werden die Tlaxcala tatsächlich oder angeblich versprochenen Privilegien in: Archivo General de la Nación (México D.F.), Historia, vol. 1, exp. 13, fol. 196r-213v (Ynforme de los méritos de la Ciudad de Tlaxcala de cuyo Archivo sacó Boturini el Original de ésta Copia Ano de 1740), vom Autor transkribiert und online gestellt unter: Página de relación – Berichte über Hernán Cortés (URL: http://www.felixhinz.de/MeritosTlaxcala.htm [letzter Zugriff: 08.07.2010]). Vgl. Archivo Histórico del Estado de Tlaxcala (AHET), histórico, caja 1, no. 20, 3667, 26.09.1560, fol. 7r: Beschluss, dass 1000 Tlaxcalteken entlang der Straße ein oder zwei Siedlungen gründen. Vgl. Archivo General de la Nación, Historia, tomo 1, no. 13. fol. 201v. Las Casas erwähnt Tlaxcalteken in Guatemala, die dort die Kastilier beim Ausbau ihrer Herrschaft unterstützten; vgl. Meyer/Martínez 1991 (wie Anm. 32), Bd. 6, S. 512f. Vgl. Powell 1980 (wie Anm. 17), S. 342. Vgl. Zapata y Mendoza, Juán Buenaventura: Historia cronológica de la noble ciudad de Tlaxcala, hrsg. von García Reyes, Luis/Martínez Baracs, Andrea. Tlaxcala 1995, § 168, S.

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sammen mit den Spaniern auch die Nordgrenzen Neuspaniens entlang der Gebiete zwischen sesshaften und nomadischen Kulturen und nahmen hierbei ihrerseits genauso wenig Rücksicht auf dort etwa bestehende Grenzen wie die Spanier, in deren Auftrag sie vorgingen. 42 Als gelehrige Schüler der Conquistadoren forderten sie dafür neben lebenslanger Steuerfreiheit HidalgoStatus für sich und ihre Nachkommen. 43 Wir haben es hier also bereits mit deutlichen Anzeichen von Transkulturation zu tun. 44 1599 zogen weitere Tlaxcalteken unter Juan de Oñate bis nach Nuevo México, um dort dasselbe zu tun wie ihre erwähnten Landsleute. Entlang der weiten Nordgrenze Neuspaniens entstand so Stück für Stück ein immer dichter werdendes System aus kleinen befestigten Stützpunkten, sogenannten presidios. 45 Sie dienten zunächst nur als Kastelle, in die man sich im Notfall zurückziehen konnte. Wenn sich die Bevölkerung vermehrte und auch die Nomaden der Umgebung sich hier niederließen, entwickelten sich diese Kleinststädte mit ihrem zentralen Platz oft zum Kern größerer Städte, die bei Bedarf weitere presidios gründeten. Doch zurück zur Mutterprovinz Tlaxcala: Da es trotz – oder gerade wegen – der herausragenden Verdienste dieses Staates nicht im Sinne der lokal ansässigen Spanier lag, die Sonderrechte Tlaxcalas zu respektieren, war dieses immer wieder Grenzverletzungen ausgesetzt. Obwohl Karl V. 1533 die Grenzen der autonomen Provinz erneut bestätigte, 46 sah sich Tlaxcala zum wiederholten Mal zu Beschwerden veranlasst. Der tlaxcaltekische Osten grenzte im 16. Jahrhundert an San Juan de los Llanos 47 und scheint in seiner bereits geschilderten Weise weiterhin durch

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159. Auf dem Rückweg wurden sie von den Kastiliern einfach auf Kuba abgesetzt, von wo aus sie nicht aus eigenen Mitteln zurück nach Tlaxcala fahren konnten; vgl. AHET, caja 1, exp. 20, fol. 10r (Pinto, 04.04.1563). Vgl. Powell 1980 (wie Anm. 17), S. 46. Vgl. Hennessy 1978 (wie Anm. 13), S. 62. 1590 schließlich zogen 400 tlaxcaltekische Familien nach Norden, um in den unsicheren Grenzgebieten Neuspaniens acht Siedlungen zu gründen. Sie sollten die jeweilige Umgebung sichern, den Nomaden die sesshafte und allgemein spanische Lebensweise nahebringen und Nuklei für weitere kleine Siedlungen herausbilden. Zu weiteren derartigen Unternehmungen vgl. Bolton, Herbert Eugene: La misión como institución de la frontera en el septentrión de la Nueva Expaña. In: de Solano/Bernabeu 1991 (wie Anm. 12), S. 45-60, hier S. 55. Vgl. mit zahlreichen Einzelansichten Moorhead, Max L.: The Presidio. Bastion of the Spanish Borderlands. Norman 1975; sehr ausführlich und mit ergiebigem Kartenmaterial Simón, Luis Arnal: El presidio en México en el siglo XVI. Mexiko-Stadt 1995 und Sepúlveda, Caesar: La desintegración de la frontera española en Norteamérica. In: ders.: Tres ensayos sobre la frontera septentrional de la Nueva España. Mexiko-Stadt 1977, S. 13-31, hier S. 16. Vgl. AHET, histórico, caja 1, no. 6, 3653 (18.06.1533), fol. 2/3. Dies war die Encomienda des Bartolomé Hernández de Navas; vgl. Gerhard 1972 (wie Anm. 24), S. 228.

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Grenzsteine markiert gewesen zu sein, die die Bewohner der Nachbarorte Ixtacamaxtitlan, 48 Huejotzingo und Cholula 49 mehrfach unzulässiger Weise zu ihren Gunsten versetzten. Als besonders problematisch stellte sich aber die Gründung der rein spanischen Stadt Puebla de los Ángeles heraus, deren Siedler immer wieder Tlaxcalteken entführten, um sie für sich zuerst die Stadt bauen und dann ihre Felder bestellen zu lassen. 50 Der kleine alltägliche Terror bestand des Weiteren darin, dass die Schäfer Pueblas ihre Herden über die fruchtbare Südebene Tlaxcalas trieben und dort die Felder verwüsteten. 51 Es sollen dabei auch immer wieder Tlaxcalteken beiderlei Geschlechts in jeder nur denkbaren Weise misshandelt worden sein. 52 Prekär wurde die Situation für Tlaxcala gegen Ende des 16. Jahrhunderts, als Epidemien unter den Nahuas zu der demographischen Katastrophe führten, dass ca. 90% der indianischen Bevölkerung starben. Dies hatte amerikaweit den Zusammenbruch indianischer staatlicher Strukturen zur Folge. 53 48

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Vgl. AHET, histórico, caja 1, no. 28, 3675 (31.03.1557): Vizekönig Luis de Velasco ermahnt „Iztacamstita“, die Grenze zu Tlaxcala einzuhalten und keine Grenzsteine zu versetzen; ebenso AHET, histórico, caja 1, no. 9, 3693 (15.11.1560): Vizekönig Velasco weist Ixtacamxtitlán erneut an, die Grenze zu respektieren. Vgl. AHET, histórico, caja 1, no. 8, Cédula Real 13.03.1535 (Madrid), fol. 1: Die Königin befiehlt der Audiencia, entsprechende Vorwürfe zu prüfen. Dies verbot eine Cédula Real vom 23.05.1539 (Toledo); vgl. AHET, histórico, caja, 1, no. 8, f. 29, fol. 1. Vgl. auch ebd., no. 10, 3657. Vgl. AHET, histórico, caja 1, no. 8, f. 14, Cédula Real 28.01.1541 (Talavera, kopiert am 01.03.1543 in Madrid), fol. 1: Da das Vieh aus Puebla das Grenzland verwüstet, sind bereits viele Tlaxcalteken von dort fortgezogen. AHET, histórico, caja 1, no. 8, Cédula Real 22.06.1549 (Talavera): Die Tlaxcalteken sollen nicht mehr belästigt und ihr Landbesitz respektiert werden. Vgl. auch AHET, histórico, caja 1, no. 8, f. 13, Cédula Real 02.05.1550 (Valladolid), fol. 1: Die Spanier Pueblas dürfen keine Höfe unterhalten, von denen aus ihr Vieh die Pflanzungen der Tlaxcalteken beschädigen kann. Oft kam es vor, dass ihre Schafe in die dortigen Gatter einbrachen und beim Heraustreiben das eine oder andere tlaxcaltekische Stück Vieh den Weg nach Puebla antrat; vgl. AHET, histórico, caja 1, no. 8, f. 16 u. 17, Cédula Real 11.08.1563 (Madrid), fol. 1r. Vgl. AHET, histórico, caja 1, no. 9, 3656, 07.05.1536 (Zacatlán), fol. 12: Der Indio Don Diego [de Castañeda] erscheint vor einem Richter und beklagt sich über schlechte Behandlung; AHET, histórico, caja 1, no. 20, 3667, 25.03.1563, fol. 8r: Spanier aus Puebla verletzen wiederholt die Grenzen. Daher sollen wieder Grenzsteine aufgestellt werden; AHET, histórico, caja 1, no. 20, 3667, 25.04.1563, fol. 15r: Drei Monate lang pro Jahr treiben die Siedler Pueblas ihr Vieh über die Grenze, rauben Kinder und Frauen und vergewaltigen letztere; AHET, histórico, caja 1, no. 8, f. 12, Cédula Real 11.08.1563 (Madrid), fol. 1: Die Polizeigehilfen dürfen auch in Abwesenheit ihrer Vorgesetzten die Schwarzen und Mestizen festnehmen, die Schäden an den tlaxcaltekischen Haciendas anrichten und die Frauen belästigen. Dieses Phänomen erstreckte sich über ganz Amerika. Es hatte auch an der Südgrenze Chiles, an der ca. 80% der indigenen Bevölkerung starb, zur Folge, dass den spanischen Ansprüchen kein wesentlicher Widerstand mehr entgegengesetzt wurde; vgl. Villalobos 1991 (wie Anm. 14), S. 296.

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Statt also die zweite tragende Säule Neuspaniens zu werden, sank Tlaxcala im 17. Jahrhundert zur unbedeutenden Provinzstadt herab und musste froh sein, seine Grenzen gegen das übermächtige Puebla behaupten zu können. Dass Tlaxcala aufgrund der gleichzeitig von der Krone vorangetriebenen territorialen Konsolidierung zumindest hierin Erfolg hatte, zeigt sich an dem Umstand, dass es in der präkolumbianischen Gestalt die gesamte spanische Herrschaftszeit überdauerte und sogar heute in diesen Grenzen noch als mexikanischer Bundesstaat Bestand hat, obwohl Tlaxcala im mexikanischen Unabhängigkeitskrieg (man ist versucht zu sagen: selbstverständlich) bis fast ganz zuletzt auf Seiten der spanischen Krone gekämpft hatte.

Ergebnisse Als Fazit lassen sich vor diesem Hintergrund folgende Ergebnisse zusammenfassen: Beim Schaffen kolonialer Herrschaftsstrukturen nutzten die Spanier Strukturen jener indianischen Staaten, die solche bereits vorgefertigt hatten. Etwas überspitzt könnte man behaupten, dass sich die Conquistadoren dabei an den Azteken, die spanische Krone eher an den Inka orientierten. Vom Anspruch her endete die koloniale Herrschaft sowohl Spaniens als auch Portugals lediglich an der Einflusssphäre des jeweils anderen. Indianische Grenzen wurden, wenn sie dem kolonialen Prinzip widersprachen, nur in seltenen Ausnahmefällen geduldet. Da spanische Kolonialherrschaft Sesshaftigkeit voraussetzte und die Conquistadoren urban sozialisiert waren, herrschten diese gewissermaßen nach dem Inselsystem. 54 Die Regel waren während der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts hierbei spanische oder zumindest hispanisierte 55 Herrschaftsinseln mit weichen Grenzen inmitten der beherrschten República de Indios. Eine privilegierte indianische Insel mit festen Grenzen wie Tlaxcala war in diesem System eigentlich nicht vorgesehen und wurde nur aufgrund der außerordentlichen Verdienste dieses Staates bei der spanischen Eroberung Mexikos hingenommen. Von Nomaden bewohnte Gebiete waren automatisch Grenzregionen. Am vorliegenden Beispiel lässt sich zudem ableiten, wie sehr sich spanische Herrschaft unter der Führung der ersten Conquistadoren und der spanischen Krone, die sich ab Mitte des 16. Jahrhunderts gegen erstere durchzusetzen vermochte, unterschied. Während die Eroberer personale und feudale Herrschaft ausübten, war die Krone bestrebt, durch Institutionalisierung und 54 55

Vgl. Hennessy 1978 (wie Anm. 13), S. 17 (nach R.M. Morse) und Solano, Francisco de: Introducción. In: ders./Bernabeu 1991 (wie Anm. 12), S. 5-8, hier S. 8. Vgl. Bolton 1991 (wie Anm. 44), S. 53: „Wenn Spanier für die Kolonisierung der Grenze fehlen, kolonisiert Spanien sie mit den Eingeborenen.“

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Territorialisierung den eigenen Einfluss zu sichern. Der Rückgang der indigenen Bevölkerung sowie der schnell voranschreitende Mestizisierungsprozess ebneten die schroffen Gegensätze zwischen spanischen Städten und indianischem Umland zusätzlich ein. Hierdurch erlangten topographische Grenzen in Amerika ab dem Beginn des 17. Jahrhunderts wieder größere Bedeutung.

CHRISTOPH MARX

Die Grenze und die koloniale Herrschaft Die „Frontier“ der Kapkolonie im 18. Jahrhundert

Die Grenzen kolonialer Herrschaft in der Frühen Neuzeit lassen sich bereits am Begriff der kolonialen Herrschaft selbst verdeutlichen. Die uns vertraute Bedeutung des Begriffsfeldes Kolonialismus, koloniale Herrschaft, Kolonie im Sinn von Fremdherrschaft ist erst spät entstanden.1 In der Frühen Neuzeit wurde Kolonie noch im antiken Sinn als Ansiedlung verstanden, abgeleitet vom lateinischen Verb „colere“ (bewohnen, bebauen, bearbeiten), und in die europäischen Sprachen als Pflanzung, Plantage, Plantation2 übersetzt, oder um in der botanischen Bildsprache zu bleiben, als Ableger einer europäischen Siedlung begriffen. Tatsächlich hatten die Zeitgenossen für das, was wir heute koloniale Herrschaft, nämlich europäische Herrschaft über unterworfene Völker („Fremdherrschaft“) nennen würden, keinen generalisierenden Begriff, denn die prominentesten Beispiele zu Beginn der Frühen Neuzeit, die spanische Herrschaft über Süd- und Mittelamerika, sowie an ihrem Ende, als die Briten eine Territorialherrschaft über Indien errichteten, wurden als Sonderfälle europäischer Expansion wahrgenommen; beide wurden nicht als „Kolonien“ bezeichnet. Koloniale Herrschaft hieß darum in erster Linie die politische Ordnung europäischer Siedlergemeinschaften. Die Grenzen dieser kolonialen Herrschaft schlossen darum häufig die einheimische Bevölkerung aus. Am Beispiel der Kapkolonie soll gezeigt werden, dass diese Grenzziehung im Sinn einer Exklusion zwar offiziell als rechtliche Fiktion beibehalten, in der Praxis aber überschritten wurde, denn die einheimische Bevölkerung wurde unterworfen und in den kolonialen Herrschaftsverband eingegliedert. Die Niederländer begegneten in der Tafelbucht und in ihrer gesamten Kolo1

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Leider und vielleicht bezeichnenderweise enthält das große begriffsgeschichtliche Werk von Brunner, Otto/Conze, Werner/Koselleck, Reinhart (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. 8 Bde. Stuttgart 1972-1997 keinen Artikel zum Thema „Kolonialismus“. Der Begriff Kolonialismus ist vermutlich überhaupt erst im 20. Jahrhundert entstanden, womit sich gleichzeitig die Bedeutung von Kolonie in Richtung „Fremdherrschaft“ gewandelt haben dürfte. So war die frühneuzeitliche britische Behörde Board of Trade and Plantations, die 1696 von William III. gegründet wurde, nicht mit Handel und Plantagen (im Sinn landwirtschaftlicher Betriebsformen), sondern mit Handel und Kolonien betraut; sie war der Vorläufer des späteren Colonial Office.

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nie der Bevölkerung der Khoisan, die sie als Hottentotten und Buschleute bezeichneten.3 Erst gegen Ende der niederländischen Kolonialzeit, etwa ab 1780, trafen sie an der Ostgrenze der Kolonie auf bantusprachige Afrikaner, die Xhosa. Die Vereinigte Ostindische Kompanie (VOC) richtete 1652 eine Versorgungsstation für ihre Ostindiensegler in der dafür besonders gut geeigneten Tafelbucht im äußersten Südwesten des afrikanischen Kontinents ein. Wegen ihrer reichlichen Trinkwasservorkommen und des für Europäer gesunden Klimas eignete sich die auf halbem Wege nach Batavia gelegene Bucht für die Regeneration der von Skorbut geplagten Schiffsbesatzungen und Passagiere.4 Aus Kostengründen überließ man den Anbau von Obst und Gemüse bald weißen Siedlern, ehemaligen Angestellten der Kompanie, die ihn mit Sklaven betrieben. Daraus entwickelte sich unbeabsichtigt eine Siedlungskolonie, die aufgrund der extensiven Wirtschaftsform, der hohen Geburtenrate unter den Weißen und der ständigen Zufuhr von Sklaven aus dem Raum des Indischen Ozeans eine enorme Expansionsdynamik entfaltete. In den eineinhalb Jahrhunderten der VOC-Herrschaft dehnte sich das Siedlungsgebiet bis ca. 800 km östlich von Kapstadt aus, obwohl vom späten 17. bis ins frühe 19. Jahrhundert kaum noch Neueinwanderer ins Land kamen. Der Bevölkerungszuwachs war auf die große Kinderzahl der Kolonisten zurückzuführen,5 und diese war wiederum nur möglich aufgrund der Arbeit von Sklavinnen und Khoifrauen in den weißen Haushalten, die die weißen Farmersfrauen von vielen Tätigkeiten entlasteten. Die Entwicklung der Siedlung entglitt zunehmend der Kontrolle der VOC und ihrer Behörden. Das Verharren in einem Verwaltungsminimalismus ebenso wie die Weigerung, eine Küstenschifffahrt einzurichten und neben Kapstadt den Ausbau weiterer Häfen zuzulassen, erklärt sich aus dem Fehlen einer Absicht der VOC, überhaupt eine großflächige Siedlungskolonie zu gründen.6 Die infrastrukturelle Unterentwicklung war der Aufrechterhaltung des Handelsmonopols der VOC geschuldet, denn die erforderliche Kontrolle des Handels war administrativ leicht und zudem preiswert zu bewerkstelligen, wenn aller Handel den einen Hafen Kapstadt als Nadelöhr passieren musste. Mit dem Ver-

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Vgl. Elphick, Richard: Kraal and Castle. Khoikoi and the Founding of White South Africa. New Haven 1977. Zur Bedeutung der Tafelbucht vor 1652 vgl. Raven-Hart, Roland: Before van Riebeeck. Callers at South Africa from 1488 to 1652. Kapstadt 1967. Vgl. Ross, Robert: Beyond the Pale. Essays on the History of Colonial South Africa. Johannesburg 1993, S. 134-136. Vgl. Gaastra, Femme: The Dutch East India Company. Expansion and Decline. Zutphen 2003, S. 80; Boxer, Charles: The Dutch Seaborne Empire 1600-1800. Harmondsworth 1973, S. 290-301.

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waltungszentrum im äußersten Südwesten der Kolonie entwickelte sich ein ausgesprochen schwacher Kolonialstaat mit progressiv abnehmender Handlungsfähigkeit ins Landesinnere, da die VOC die hohen Kosten eines Verwaltungsapparats scheute. Der Zuschnitt der Verwaltungsdistrikte lässt dies deutlich erkennen, da die Kolonie zunächst nur drei Distrikte hatte, denen erst 1786 mit dem Frontier-Distrikt von Graaff-Reinet ein vierter hinzugefügt wurde. Für einen Distrikt war ein von der VOC bestellter Landdrost zuständig, dem zur Ausübung seiner Aufgaben eine kleine Zahl von Amtsträgern, in erster Linie Heemraden und Veldkornets, zur Seite standen, die aus der ländlichen Notablenschicht ausgewählt wurden und für die Untereinheiten der Distrikte zuständig waren.7 Angesichts der Größe der Distrikte im Landesinneren konnte die Staatsverwaltung weder gegenüber der weißen Bevölkerung ihre Normen durchsetzen noch effektiv die lange Außengrenze der Kolonie sichern. Die Entstehung kolonialer Herrschaft in der Kapkolonie muss darum als sozialer Prozess einer weitgehend autonomen Siedlerschaft gesehen werden. In der kolonialen Lebenswelt entwickelten sich soziale Hierarchien und Rangordnungen, die teilweise auf Muster des niederländischen Handelsreiches, insbesondere aus Batavia,8 zurückgreifen konnten, aber keine Vorbilder in der niederländischen Gesellschaft hatten. Vielmehr entstand eine ganz neue Gesellschaftsordnung innerhalb der Kolonie und dort in den kleinsten Siedlungseinheiten, den Farmhaushalten.9 Modifiziert und verändert wurde sie durch die Frontier als Interaktionsraum. Diesen beiden Bereichen, Farmen und Frontier, werde ich mich nun nacheinander kurz zuwenden. Um unnötige Kosten für Militär und Verwaltung zu sparen, setzte die VOC in den Anfangsjahren der Kolonie die rechtliche Fiktion durch, dass die einheimische Bevölkerung der Khoisan nicht zur Kolonie gehörte, obwohl sie innerhalb der kolonialen Grenzen lebte. Der Grund dafür war einmal mehr die Furcht der VOC-Führung vor möglicherweise entstehenden Kosten in Verwaltung und Rechtswesen. Aus diesem Grund galt zunächst auch die Anweisung, dass die Khoisan nicht versklavt werden dürften. Der Überfluss an Land und die Knappheit an billigen Arbeitskräften, solange die Khoisan noch über eigene Ressourcen verfügten, bewogen die VOC, bereits kurz nach der

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Vgl. Katzen, May F.: White Settlers and the Origin of a new Society, 1652-1778. In: Wilson, Monica/Thompson, Leonard (Hrsg.): The Oxford History of South Africa. Bd. 1. Oxford 1975, S. 187-232, hier S. 223-228. Vgl. Taylor, Jean Gelman: The Social World of Batavia. European and Eurasian in Dutch Asia. Madison 1983; Bosma, Ulbe/Raben, Remco: Being 'Dutch' in the Indies. A History of Creolisation and Empire, 1500-1920. Athens 2008. Vgl. Shell, Robert: Children of Bondage. A Social History of the Slave Society at the Cape of Good Hope, 1652-1838. Johannesburg 1994, Kap. 7 und 8.

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Gründung der Kolonie Sklaven aus ihrem Handelsreich des Indischen Ozeans nach Südafrika zu verschleppen.10 Tatsächlich ging vom Modell der mit Sklaven betriebenen Farm der Anstoß zur faktischen Unterwerfung der Khoisan aus, die bereits ab etwa 1720 wie Sklaven behandelt wurden, auch wenn sie nominell frei blieben.11 Mehrere Pockenepidemien im 18. Jahrhundert, die die Khoikhoi um 80% dezimierten, brachen ihren Widerstand und verstärkten einen Prozess, in dessen Verlauf die sozialen Verbände der Khoikhoi sich auflösten und ihre Angehörigen als unfreie Arbeitskräfte in die Farmhaushalte integriert wurden. Es handelte sich demnach um ein Arbeitsverhältnis, das Leibeigenschaft gleichkam und im 19. Jahrhundert auf die bantusprachige Bevölkerung im Osten des Landes ausgedehnt wurde. Die Farm als Haushaltseinheit, die neben der Familie des weißen Farmers Sklaven und/oder Khoikhoi umfasste, wurde zu dem Ort, an dem sich neue Formen von Hierarchien und Rangordnungen, von Freiheit und Unfreiheit einspielten. Die durchaus variantenreiche mikrohistorische Entwicklung auf den einzelnen Farmen, die von brutalen Repressionsregimen zu eher paternalistischen Verhältnissen reichte,12 wurde im Lauf des 18. Jahrhunderts allmählich homogenisiert. Die Kolonialverwaltung griff in diesen Prozess kaum ein, weder sanktionierte sie ihn noch suchte sie ihn zu verhindern. Die Khoikhoi verloren zunächst durch den Viehhandel mit der Kompanie und später durch Landenteignungen durch weiße Farmer ihre Ressourcen, weswegen diejenigen, die dazu in der Lage waren, sich an den Rand der Kolonie zurückzogen. Im Gegenzug zur Verdrängung freier durch unfreie Arbeit beschränkten sich die beruflichen Möglichkeiten der weißen Siedler auf die Farmwirtschaft, da alle anderen Tätigkeiten, wie etwa das Handwerk, als unfreie Arbeit stigmatisiert waren.13

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Bis Ende des 18. Jahrhunderts übertraf die Zahl der Sklaven immer diejenige der Siedler, wobei die Khoisan nicht mitgezählt wurden: Elphick, Richard/Giliomee, Hermann: The Origins and Entrenchment of European Dominance at the Cape, 1652-c.1840. In: dies. (Hrsg): The Shaping of South African Society, 1652-1840. 2. überarb. Aufl., Kapstadt 1989, S. 521-566, hier S. 524. Durch die Sklaverei breiteten sich Formen unfreier Arbeit zunächst auf die Khoisan, dann auch auf die bantusprachigen Afrikaner aus, die über Passgesetze und Masters and Servants Laws bis in die 1970er und 1980er Jahre abgesichert wurden. Zur prägenden Wirkung der Sklaverei über Körperstrafen auf die Praxis der Folter in Südafrika vgl. Marx, Christoph: Folter und Rassismus. Südafrika während der Apartheid. In: Burschel, Peter/Distelrath, Götz/Lembke, Sven (Hrsg.): Das Quälen des Körpers. Eine historische Anthropologie der Folter. Köln/Weimar/Wien 2000, S. 257-279. Vgl. Shell 1994 (wie Anm. 9), S. 30. Shell unterscheidet ebd., S. xxvii-xxix zwischen „patriarchal, paternalistic and patrician family forms“. Vgl. Worden, Nigel/Heyningen, Elizabeth van/Bickford-Smith, Vivian: Cape Town. The Making of a City. Kapstadt 1998, S. 62f.; Ross 1993 (wie Anm. 5), S. 85; Amstrong, James

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Dennoch existierten bis Ende des 18. Jahrhunderts unabhängige KhoiChiefdoms, zunächst noch lange innerhalb des kolonialen Raumes in bestimmten Rückzugsenklaven.14 Die kartographischen Darstellungen der Kolonie sind also unzutreffend, wenn sie das Territorium der Kapkolonie als geschlossene Fläche darstellen; tatsächlich handelte es sich eher um Ansprüche als um Realität, da das beanspruchte Territorium von größeren Flächen durchsetzt war, in denen sich keine weißen Farmen befanden und in die sich marginalisierte Menschen aus der Kolonie zurückgezogen hatten.15 Die Kolonie war überhaupt sehr dünn von Weißen besiedelt, wobei mit wachsender Entfernung von Kapstadt die Farmen nicht nur größer wurden, was mit der ausschließlichen Konzentration auf extensive Weidewirtschaft zu tun hatte, sondern die Besiedlung insgesamt wurde dünner.16 Erst in der zweiten Hälfe der niederländischen Kolonialzeit wurden die Gebiete weiter im Osten und noch viel später diejenigen im Norden aufgesiedelt. Der wachsenden Siedlungsdichte folgte zeitverzögert eine allmähliche Intensivierung der staatlichen Administration. Während also die Rückzugsgebiete auf dem von der Kolonie beanspruchten Territorium allmählich verschwanden und mit der geschlossenen Siedlung auch die staatliche Intensität im Westen zunahm, blieb das Problem der Außengrenze, der Frontier, bestehen. Diese gewann mit dem allmählichen Verschwinden der anderen Rückzugsenklaven sogar noch an Bedeutung, nicht zuletzt für das Gouvernement in Kapstadt. Bereits Anfang der 1980er Jahre haben südafrikanische und nordamerikanische Historiker in einer vergleichenden Untersuchung der Frontier das von Turner stammende triumphalistische Bild eines unaufhaltsamen räumlichen Voranschreitens der westlichen Zivilisation ersetzt durch die Frontier als interkulturellen Begegnungsraum.17 Gleichwohl blieb auch in ihrer Sichtweise

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C./Worden, Nigel: The slaves, 1652-1834. In: Elphick/Giliomee 1989 (wie Anm. 10), S. 109-183, hier S. 139. Vgl. Thunberg, Carl Peter: Travels at the Cape of Good Hope, 1772-1775. Kapstadt 1986 (= van Riebeeck Society, Second Series 17), S. 288-291. Vgl. Penn, Nigel: Anarchy and Authority in the Koue Bokkeveld, 1739-1779. The banishing of Carel Buijtendag. In: Kleio 17 (1985), S. 24-43; ders.: Rogues, Rebels and Runaways. Eighteenth-Century Cape Characters. Kapstadt 1999; ders.: The Forgotten Frontier. Colonist and Khoisan on the Cape's Northern Frontier in the 18th Century. Athens/Kapstadt 2005. So gab es Ende des 18. Jahrhunderts in dem riesigen Distrikt Graaff-Reinet ganze 492 Farmen. Smith, Kenneth Wyndham: From Frontier to Midlands. A History of the GraaffReinet District, 1786-1910. Grahamstown 1976 (= Rhodes University, Institute of Social and Economic Research, Occasional Paper 20), S. 17. Vgl. Lamar, Howard/Thompson, Leonard M. (Hrsg.): The Frontier in History. North America and South Africa Compared. New Haven/London 1981. Zur Geschichte von Turners Begriff vgl. Waechter, Matthias: Die Erfindung des amerikanischen Westens. Die

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die Frontier durch ihre Expansionsdynamik gekennzeichnet. Aufgrund unterschiedlicher Ressourcen konnte sich die koloniale Seite allmählich auf Kosten der anderen ausbreiten. Damit wurde die Geschichte der Frontier zu einer Geschichte von Machtkämpfen und Herrschaftsausbreitung, von kulturellen Techniken und materiellen Ressourcen, die losgelöst wurde von Werturteilen über zivilisatorische Überlegenheit oder nationale Sendung. Die Betonung der Dynamik des Ausbreitens verstellte allerdings den Blick darauf, dass die Frontier nicht von den avanciertesten Kräften vorangetragen wurde, sondern dass sie gleichzeitig ein Rückzugsraum war und dieser Charakter sich sogar noch verstärkte. Tatsächlich sind Frontiervorgänge viel komplexer, weil die Verlierer der Herrschaftsbildung im Inneren zu Protagonisten von deren weiterer Ausbreitung wurden. Es waren gerade diejenigen, die sich Herrschaftsordnungen im Inneren entziehen wollten, diejenigen, die die Homogenisierung staatlicher Macht ablehnten und sich an die territoriale Grenze zurückzogen, die dort die Expansionsdynamik bestimmten. Im Grenzraum sammelten sich alle, für die in der Kolonie kein Platz mehr war: Deserteure aus der Armee, entlaufene Seeleute, geflohene Sklaven, verdrängte Coloureds und Khoisan, wodurch die latenten und offenen Konflikte an Komplexität gewannen, da es keineswegs nur zwei Parteien waren, die hier einander gegenüberstanden. Vielmehr wurden in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf beiden Seiten der Frontier ebenso interne Konflikte ausgetragen, etwa zwischen weißen Farmern und Khoikhoi auf der einen Seite, zwischen verfeindeten Chiefs der bantusprachigen Xhosa auf der anderen Seite.18 Die aus der Kapkolonie abgewanderten Khoikhoi und sogenannten Mischlinge verfügten über Pferde und Feuerwaffen, die ihnen eine Überlegenheit über ihre Nachbarn verschafften, so dass sie eine eigene Frontier gegenüber den afrikanischen Chiefdoms in ihrer Nachbarschaft bildeten. Man kann im Wesentlichen zwei solcher Frontierzonen unterscheiden, nämlich den Osten und den Norden. Im Norden sammelten sich am Oranje-Fluß Menschen, die aus der Kapkolonie abgedrängt worden waren, als diese immer stärker aufgesiedelt wurde. Diese ethnisch höchst heterogenen Gruppen, die sich unter dem Einfluss der Missionare im 19. Jahrhundert den gemeinsamen Namen Griqua zulegten,19 stammten aus verschiedenen Gebieten der Kapko-

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Geschichte der Frontier-Debatte. Freiburg i.Br. 1996 (= Rombach Wissenschaft, Reihe Historiae 9). Zu den Xhosa vgl. Peires, Jeffrey: The House of Phalo. A History of the Xhosa People in the Days of their Independence. Berkeley 1982 (= Perspectives on Southern Africa 32); zu Siedlerkonflikten vgl. Marais, Johannes S.: Maynier and the First Boer Republic. Kapstadt 1962 (zuerst 1944). Vgl. Schoeman, Karel: The Mission at Griquatown 1801-1821. Griquatown 1997, S. 17.

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lonie. Unter ihnen lebten aber auch einzelne Xhosa, das heißt Afrikaner von der anderen Seite der Frontier, die ihrerseits von dort abgedrängt worden waren.20 Hinzu kamen die Frontierdesperados, die ihre eigenen Machtstrukturen aufbauten. Ein Beispiel dafür war der aus Thüringen stammende Jan Bloem, der, nachdem er einen Mord begangen hatte, aus der Kapkolonie fliehen musste und zum Oberhaupt einer ethnisch gemischten Gruppe am Mittellauf des Oranje wurde.21 Die Frontier war offenkundig nicht von einer klar trennbaren Konfrontation zweier Gesellschaften, zweier Ethnien oder gar zweier Zivilisationen geprägt. Sie war ein Raum, in dem Konflikte um Arbeitskräfte und um Land ausgetragen wurden. Im Osten war die Situation besonders kompliziert, weil die Ostgrenze um 1780 soweit hinausgeschoben wurde, dass die weißen Siedler erstmals auf bantusprachige Afrikaner trafen, die sich kulturell und ökonomisch von den Khoisan unterschieden. Die Xhosa, als die westlichste bantusprachige Ethnie, betrieben eine gemischte Wirtschaft aus Ackerbau und Viehzucht, was ihnen nicht nur eine größere Krisenresistenz verlieh, sondern auch eine höhere Bevölkerungsdichte und damit stärkere politische Gemeinwesen ermöglichte. Die Xhosa konnten zunächst durch ihre Überzahl die waffentechnische Überlegenheit der Weißen problemlos kompensieren. Zudem waren sie selbst eine expansive Gesellschaft, was einerseits auf die Transhumanz, also den periodischen Weidewechsel ihrer Rinderherden zurückzuführen war, andererseits auf die Auflösung des ursprünglichen Königreichs in verschiedene, miteinander rivalisierende Chiefdoms, wobei die schwächeren im Westen ihren Rückzugsraum fanden. Die Gqunukhwebe als die westlichste Gruppe hatten ihrerseits Restbestände der unabhängigen Khoisan integriert.22 Das Verhalten eines weißen Farmers dieser Grenzregion, wie Coenraad de Buys, der Schwarze gewaltsam unterdrückte, bei Gelegenheit aber gemeinsame Sache mit ihnen gegen die Kolonie machte,23 belegt, dass die Frontier-

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Vgl. Anderson, Elisabeth: A History of the Xhosa of the Northern Cape 1795-1879. Kapstadt 1987 (= University of Cape Town, Centre for African Studies, UCT, Communications 12); Kallaway, Peter: Danster and the Xhosa of the Gariep. Towards a Political Economy of the Cape Frontier 1790-1820. In: African Studies 41 (1982), H. 1, S. 143-160. Vgl. Penn, Nigel: The Orange River Zone, c. 1700-1805. In: Smith, Andrew B. (Hrsg.): Einiqualand. Studies of the Orange River Frontier. Kapstadt 1995, S. 21-109, hier S. 56. Vgl. Peires 1982 (wie Anm. 18), S. 23, 56; zur afrikanischen Frontier vgl. Kopytoff, Igor: The Internal African Frontier. The Making of African Political Culture. In: ders. (Hrsg.): The African Frontier. The Reproduction of Traditional African Societies. Bloomington/Indianapolis 1987, S. 3-84 und Marx, Christoph: Grenzfälle. Zu Geschichte und Potential des Frontierbegriffs. In: Saeculum 54 (2003), S. 123-143. Vgl. Lichtenstein, Hinrich: Reisen im südlichen Afrika in den Jahren 1803, 1804, 1805 und 1806. 2 Bde. Nachdruck der Originalausgabe von 1811. Stuttgart 1967 (= Quellen und

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Farmer sehr genau erkannten, dass ein regulierend eingreifender Staat ihre Handlungsfreiheit stark einschränken würde. Was de Buys nicht wissen konnte, war, dass der britische Kolonialstaat die Verhältnisse, die sich im Mikrokosmos der Farmen entwickelt hatten, in Richtung einer rassischen Ordnung weiterführen und intensivieren würde.24 Während die Frontier bis Ende des 18. Jahrhunderts in einem Raum lag, in dem Staatlichkeit kaum spürbar wurde und die Machtbalance Resultat autonomer sozialer Prozesse war, trat mit dem Beginn der dauerhaften britischen Herrschaft ab 1806 der moderne Staat auf den Plan, ganz konkret in Gestalt von regulären Truppen, die direkt von den europäischen Kriegsschauplätzen nach Südafrika verlegt wurden. Mit dem Vierten Grenzkrieg von 1811 nahm die Expansion der Kapkolonie eine neue, nämlich staatlich betriebene und zielgerichtete, Form an.25 Damit begann in Südafrika die Geschichte des Kolonialismus in seiner neuen Gestalt, nämlich die Unterwerfung und Eingliederung ganzer Völker mitsamt ihren politischen und sozialen Institutionen in die von Weißen dominierten Herrschaftsverbände. Die ständigen Bemühungen der Briten, die Frontier durch eine linienförmige und rechtlich verbindliche Grenze zu ersetzen, machen deutlich, dass die Expansion europäischer Siedlungen auch im metaphorischen Sinn eine Grenze überschritt, indem sie zu einem staatlichen Projekt wurde. Die Frontier als Raum der Uneinheitlichkeit und Uneindeutigkeit verschwand und wurde abgelöst durch eine Grenzziehung, die sich nicht nur territorial, sondern auch sozial als staatlich sanktionierte Rassenordnung im frühen 19. Jahrhundert manifestierte.

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Forschungen zur Geschichte der Geographie und der Reisen 4), S. 342-345; Schoeman, Agatha Elizabeth: Coenraad de Buys. The first Transvaler. Pretoria 1938. Vgl. Ross 1993 (wie Anm. 5), S. 110; allgemein dazu Keegan, Timothy: Colonial South Africa and the Origins of the Racial Order. Kapstadt 1996. Vgl. Maclennan, Ben: A Proper Degree of Terror. John Graham and the Cape's Eastern Frontier. Johannesburg 1984, S. 110-130; Mostert, Noël: Frontiers. The Epic of South Africa's Creation and the Tragedy of the Xhosa People. New York 1992, S. 385-395; Marx, Christoph: Kolonialkrieg und rassistische Dämonologie. Das südliche Afrika im 19. Jahrhundert. In: Dabag, Mihran/Gründer, Horst/Ketelsen, Uwe-K. (Hrsg.): Kolonialismus. Kolonialdiskurs und Genozid. München 2004, S. 167-184.

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Zur Dynamik interkultureller Grenzen am Beispiel der protestantischen Indienmission im 18. Jahrhundert Missionen galten lange Zeit als Instrument europäischer Kolonialbestrebungen, deren eigene Interessen Hand in Hand mit den expansiven ökonomischen und politischen Mächten gingen. Ungeachtet der vielfach richtigen Einschätzungen missionarischer Verflechtungen zu anderen machtpolitischen Faktoren blieben durch die Fokussierung auf das Verhältnis von Mission und Kolonialismus bzw. Imperialismus wesentliche Aspekte der Mission ausgeblendet. Zum einen wurden die Verbindungen und Kontakte der Missionare zu anderen Menschen oder Strukturen auf ihr politisches und ökonomisches Kalkül reduziert, zum anderen wurden die religiösen Implikationen ihres Handels ausschließlich instrumentell bzw. als bloßer Vorwand gedeutet, deren Scheinhaftigkeit es zu entlarven galt, um die wahren machtpolitischen und ökonomischen Interessen der Missionare ans Licht zu bringen. Erst in jüngerer Zeit hat eine Neubewertung von Missionen stattgefunden.1 Indem Missionen im Zuge des „postcolonial turn“ als Teil einer „entangled history“ begriffen werden,2 zeigt sich, dass die „Streiter Gottes“ nicht isoliert und ab                                                             1

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Vgl. u.a. Porter, Andrew: Religion versus Empire? British Protestant Missionaries and Overseas Expansion, 1700-1914. Manchester 2004; Nehring, Andreas: Orientalismus und Mission. Die Repräsentation der tamilischen Gesellschaft und Religion durch Leipziger Missionare 1840-1940. Wiesbaden 2003; bes. auch den kritischen Forschungsüberblick von Habermas, Rebekka: Mission im 19. Jahrhundert – Globale Netze des Religiösen. In: Historische Zeitschrift 287 (2008), S. 629-679, hier S. 636-639; auch Klein, Thoralf: Wozu erforscht man Missionsgesellschaften? Eine Antwort am Beispiel der Basler Mission in China, 1860-1930. In: Jahrbuch für Europäische Überseegeschichte 5 (2005), S. 73-99. Zur Vernetzungsgeschichte im Kontext des „postcolonial turn“ vgl. bes. Conrad, Sebastian/Randeria, Shalini: Geteilte Geschichten – Europa in einer postkolonialen Welt. In: dies. (Hrsg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. Frankfurt a.M. 2002, S. 9-49; Bachmann-Medick, Doris: Cultural turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek 2006, bes. S. 184-237; zur kritischen Auseinandersetzung mit den Thesen von Said, Edward: Orientalism. London 2003 und seinen Nachfolgern vgl. bes. Osterhammel, Jürgen: Kulturelle Grenzen in der Expansion Europas. In: Saeculum 46 (1995), S. 101-138; auch ders.: Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats. Studien zu Beziehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich. Göttingen 2001 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 147), S. 11-45; weiterführend auch Chakrabarty, Dipesh: Provincialising Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference. Princeton 2000; zur Frage nach der Hybridität oder zum Phänomen der Kontaktzonen als Folge der Vernetzungen vgl. Bhabha, Homi K.: Die Verortung von Kultur. Tübingen 2000 und Pratt, Mary Louise: Imperial Eyes. Travel Writing

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geschnitten von der Welt, d.h. von der westlichen Welt und ihrer Zivilisation, waren, wie sie in ihren Berichten nach Europa immer wieder suggerierten. Die Missionare waren eingebunden in europäische und globale Netzwerke, über die sie nicht nur kommunizierten, sondern die sie auch festigten, erweiterten und vervielfältigten. Wie kaum eine andere Gruppierung standen sie im Schnittpunkt vielfältiger interkultureller Verschränkungen zwischen Europa und Nicht-Europa. Auch wenn die Mission zunächst auf einen einseitigen Glaubens- und Kulturtransfer von Seiten des Christentums zielte, beruhte sie in der Praxis wesentlich auf Vermittlung und Austausch europäischer und nichteuropäischer Kulturen. Insofern liegt die historische Bedeutung von „Mission“ auch, wenn nicht sogar vorrangig, in der Initiierung kultureller Transferprozesse. Durch den Kultur- und Wissenstransfer wurden interkulturelle Grenzen dauerhaft überschritten, aber auch alte bestätigt und neue errichtet. Diese vielschichtigen Dynamiken von Diffusion und gleichzeitiger Zementierung alter und neuer Gegensätze im Kontext des Wissenstransfers zeigen sich auch im Fall der Dänisch-Halleschen Mission in Tranquebar. Im Jahr 1704 fasste der dänische König Friedrich IV. den Entschluss, Missionare in die dänische Handelskolonie Tranquebar an der Südostküste Indiens zu senden. 3 Tranquebar lag im Klein-Königtum von Thanjavur, dessen Territorium etwa das Gebiet des heutigen gleichnamigen Distrikts im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu umfasste. Es wurde von einem Raja aus dem Geschlecht der Marathen regiert, bevor diese 1799 die Oberhoheit der Britischen Ostindien-Kompanie anerkennen mussten. 4 Die Missionsversuche im Protestantismus waren bis zu Beginn des 18. Jahrhunderts im Unterschied zur bedeutenden Jesuitenmission kaum erwähnenswert. Die aufstrebenden protestantischen Mächte waren zunächst nicht daran interessiert,                                                                                                                                         

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and Transculturation. London 1992; ebenso Marshall, Peter J.: Bengal. The British Bridgehead. Eastern India 1749-1828. Cambridge 1987; unter der Perspektive von Religion und Grenze bzw. Grenzüberschreitung vgl. den Sammelband von Juneja, Monica/Pernau, Margit (Hrsg.): Religion und Grenzen in Indien und Deutschland. Auf dem Weg zu einer transnationalen Historiographie. Göttingen 2008. Vgl. Sames, Arno: Beziehungen zwischen Halle, Kopenhagen und London. In: Liebau, Heike (Hrsg.): Geliebtes Europa – Ostindische Welt. 300 Jahre interkultureller Dialog im Spiegel der Dänisch-Halleschen Mission. Halle 2006, S. 28-34, hier S. 28; Nørgaard, Anders: Mission und Obrigkeit. Die Dänisch-Hallische Mission in Tranquebar 1706-1845. Gütersloh 1988 (= Missionswissenschaftliche Forschungen 22), S. 55. Zu den komplexen politischen Verhältnissen in Südindien im 18. Jahrhundert vgl. Mann, Michael: Südindien im 18. Jahrhundert – politische und wirtschaftliche Entwicklung. In: Liebau 2006 (wie Anm. 3), S. 40-51; ders.: Geschichte Indiens vom 18. bis zum 21. Jahrhundert. Paderborn 2005, S. 33-43; Ludden, David: Geschichte Indiens. Essen 2006, S. 120-133. Zur politischen Entwicklung in Indien vgl. desweiteren auch Mann, Michael: Bengalen im Umbruch. Die Herausbildung des britischen Kolonialstaates 1754-1793. Stuttgart 2000.

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missionarische Aktivitäten protestantischer Kirchen, die generell Landeskirchen waren, zu fördern. 5 Außerdem sahen die lutherisch-orthodoxen Theologen die Mission mit der Verkündung der Apostel bereits als abgeschlossen an. 6 Entsprechend gering war das Interesse der lutherischen Kirche Dänemarks am Missionsunternehmen ihres Königs. Mangels dänischer Bewerber präsentierte ihm sein Hofprediger Franz Julius Lütkens durch Vermittlung Joachim Langes, eines Freundes August Hermann Franckes, mit Bartholomäus Ziegenbalg und Heinrich Plütschau zwei pietistische Theologiekandidaten aus Deutschland. 7 Während die Leitung der Mission dauerhaft in Kopenhagen blieb, entwickelte sich Halle zum eigentlichen Zentrum der Mission in Europa. Von Halle aus erfolgte die geistig-theologische Prägung wie auch die materielle Unterstützung der Missionare. Auch die meisten der Missionare kamen aus dem Umfeld der Franckeschen Stiftungen. 8 Als dritter Ort der Tranquebarmission kam London hinzu. Träger der Unterstützung waren erweckte Kreise der Church of England, die in der Restaurationszeit für nationale und religiöse Reformen eintraten. Francke wurde 1699 korrespondierendes Mitglied der ein Jahr zuvor gegründeten „Society for Promoting Christian Knowledge“ (SPCK), die wie die pietistischen Gemeinschaften auf dem Kontinent ihr Ziel in der umfassenden christlichen Erneuerung sah. 9 Von der bald mit Halle in engem Kontakt stehenden Gesellschaft gingen verwaltungs                                                             5

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Vgl. Obst, Helmut: Missionsberichte aus Indien im 18. Jahrhundert. Eine Einführung in den missionsgeschichtlichen Kontext. In: Bergunder, Michael (Hrsg.): Missionsberichte aus Indien im 18. Jahrhundert. Ihre Bedeutung für die europäische Geistesgeschichte und ihr wissenschaftlicher Quellenwert für die Indienkunde. 2. Aufl., Halle 2004, S. 1-5, hier S. 2; ders.: Bekehrung – Mission – Weltreform im Halleschen Pietismus. In: Liebau 2006 (wie Anm. 3), S. 34-39, hier S. 34. Vgl. Beyreuther, Erich: Evangelische Missionstheologie im 16. und 17. Jahrhundert. In: Evangelische Missionszeitschrift 18 (1961), S. 1-10, 33-43. Zur Geschichte der Dänisch-Halleschen Mission in den Anfangsjahren vgl. Nørgaard 1988 (wie Anm. 3), S. 55f.; Germann, Wilhelm: Ziegenbalg und Plütschau. Die Gründungsjahre der Trankebarschen Mission. Ein Beitrag zur Geschichte des Pietismus nach handschriftlichen Quellen und ältesten Drucken. 2 Bde. Erlangen 1868; Neill, Stephen: A History of Christianity in India 1707-1858. Cambridge 1985, S. 28ff. Zum theologischen Hintergrund der Mission im Halleschen Pietismus vgl. Trepp, AnneCharlott: Von der Missionierung der Seelen zur Erforschung der Natur. Die DänischHallesche Südindienmission im ausgehenden 18. Jahrhundert. In: Geschichte und Gesellschaft 36 (2010), H. 2 (im Druck). Auch der dänische König war pietistisch geprägt. Jeyaraj, Daniel: Die Wechselwirkung zwischen Kirche und Kultur in der frühen Tranquebarmission. In: Becker Dieter/Feldtkeller, Andreas (Hrsg.): Es begann in Halle… Missionswissenschaft von Gustav Warneck bis heute. Erlangen 1997 (= Missionswissenschaftliche Forschungen NF 5), S. 136-145, hier S. 136 führt diesen Umstand neben dem Einfluss Lütkens vor allem auf Friedrichs Mutter sowie seine Ehefrau Luise zurück. Vgl. Brecht, Martin: August Hermann Francke und der Hallische Pietismus. In: ders. (Hrsg.): Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert. Göttingen 1993 (= Geschichte des Pietismus 1), S. 440-539, hier S. 522f.

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technische und materielle Hilfen für die Mission aus, beispielsweise die Anschaffung einer Druckerpresse mit lateinischen Lettern, die 1711 nach Tranquebar verschifft wurde. 10 Bei aller Unterstützungsbereitschaft seitens der europäischen Zentren stießen die Missionare in den Anfangsjahren jedoch auf erhebliche Widerstände der dänischen Ostindienkompanie und ihrer Direktion. Als die beiden ersten „königlich-dänischen Missionare“, wie sie sich nannten, am 9. Juli 1706 in Tranquebar ankamen, sahen sie sich einer ausschließlich kommerziell ausgerichteten Kolonialobrigkeit gegenüber, die alles zu vermeiden suchte, was Konflikte mit der indischen Bevölkerung hervorrufen und dem Handel abträglich sein könnte. 11 Dazu achtete sie auf eine weitestmögliche Separierung zwischen Indern und Europäern, welche den Zielen der Missionare völlig zuwider lief. Im Laufe der Zeit mussten die Missionare einsehen, dass die Macht des dänischen Königs in Tranquebar äußerst begrenzt war und es dort keine kirchliche Obrigkeit gab, die ihre Interessen durchsetzen konnte. Hinzu kam die große geographische Distanz zwischen Kopenhagen und Tranquebar, die durch seltene und unregelmäßige Schiffsverbindungen nur unzureichend überbrückt wurde. 12 Nach Jahren schwerwiegender Auseinandersetzungen mit der Kompaniedirektion wurde das Verhältnis 1715 vertraglich neu ausgehandelt. Während Ziegenbalg zusagte, die Mission würde nicht gegen die Interessen bzw. zum Schaden des Handels und der Kompanie agieren, sicherte diese der Mission Beistand zu, wie es „einer christlich wohlgesonnen Obrigkeit geziemt“. 13 Die ökonomische und verwaltungsmäßige Unabhängigkeit von der Kompanieobrigkeit sicherte über Jahrzehnte die Existenz der Mission. Erst seit der Wende zum 19. Jahrhundert war ihr Fortbestehen durch die Neuorganisation der Kolonie und durch die mangelnde Unterstützung aus Europa bedroht. 1845 verkaufte Dänemark die Kolonie Tranquebar an die Engländer, 1847 wurde die königlich-dänische Mission offiziell der „Evangelisch-Lutherischen Missionsgesellschaft zu Dresden“ übergeben. 14                                                              10 11

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Die noch wichtigere tamilische Druckerei kam 1713 allerdings aus Halle; vgl. Brecht 1993 (wie Anm. 9), S. 529. Zur Rolle Tranquebars als Handelsstation vgl. Diller, Stephan: Tranquebar – die Stadt an der Brandung. Dänischer Handelsstützpunkt, Kronkolonie und europäischer Freihandelsplatz (1620-1845). Bamberg 1993 (= Kleine Beiträge zur europäischen Überseegeschichte 22). Vgl. Nørgaard, Anders: Die Anfänge der Mission. In: Liebau 2006 (wie Anm. 3), S. 16-28, hier S. 20. Ebd., S. 23. Vgl. Nørgaard, Anders: Mission und Obrigkeit in Tranquebar 1706-1845. In: Becker/ Feldtkeller 1997 (wie Anm. 8), S. 146-152, hier S. 152.

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Die Missionare aus Halle waren sämtlich Deutsche. Sie waren zwar auf die Unterstützung zunächst der Dänen und dann der Engländer angewiesen, wirkten aber nur bedingt als verlängerter Arm ihrer wechselnden Kolonialherren. Die Aufgabe der Missionare bestand zunächst nicht darin, die Einheimischen von der Macht und Überlegenheit der eigenen Nation zu überzeugen, wohl aber von der Richtigkeit und Überlegenheit des Christentums. Mit großem Sendungsbewusstsein und in der Erwartung, dass der göttliche Funke durch Ansprache und Predigt auf die fremden Herzen überspringen würde, begannen die ersten Missionarsgenerationen in Indien ihr Werk. Nicht um Recht und Unrecht ihrer Religion sollten sie streiten oder sich gar auf intellektuelle Dispute einlassen, sondern unmittelbar über die Herzen sollten sie auch die Seelen der „Heiden“ gewinnen. 15 Diesem urchristlichen Missionsgedanken konnten die von der Aufklärung geprägten Missionare am Ende des 18. Jahrhunderts nur mehr wenig abgewinnen und drangen auf Veränderungen der Missionsmethoden. Nicht mehr der göttliche Funke sollte auf die Herzen der Menschen überspringen, sondern Erziehung, Wissenschaft und Kultur sollten das Christentum nach Indien bringen. Diese Art der Zivilisationsmission zeitigte jedoch deutlich ambivalente Konsequenzen. Während die Missionare zum Ende des 18. Jahrhunderts erheblich zu einem intensivierten Wissens- und Kulturtransfer zwischen Indien und Europa beitrugen und sich damit die Grenzen zwischen den ungleichen Kulturen auf der Makroebene eines neuartigen Wissenstransfers verflüssigten, scheinen sich diejenigen zwischen Indern und Europäern auf der Mikroebene der interkulturellen und direkten Begegnung eher weiter vertieft zu haben. Der Wissenstransfer von Europa nach Indien und mehr noch von Indien nach Europa erreichte zwar ganz neue Dimensionen, aber die Indigenen vor Ort blieben den Missionaren auf neuartige Weise fremd. Diese These soll durch einen ersten Vergleich der Beschäftigung der Halleschen Missionare mit der fremden Kultur bzw. Natur am Anfang und am Ende des 18. Jahrhunderts erhärtet werden. Bartholomäus Ziegenbalg und die ihm folgenden Missionare zielten nicht nur auf die religiöse Bekehrung der Tamilen im engeren Sinne, sie waren auch um eine umfassende Kenntnis der tamilischen Religion und Kultur bemüht. Zunächst nahm Ziegenbalg nach eigenen Angaben gegenüber den indischen „Heiden“ eine sehr kritische Haltung ein. Beeindruckt durch die tamilische Moralphilosophie begann er                                                              15

Vgl. Jürgens, Hanco: Am Scheideweg. Ansichten von Pietisten, Orthodoxen und Aufklärern zur Mission im 18. Jahrhundert. In: Mann, Michael (Hrsg.): Aufgeklärter Geist und evangelische Missionen in Indien. Heidelberg 2008, S. 39-60, hier S. 43f.; Mann, Michael: On the Crossroads. Pietist, Orthodox and Enlightened Views on Mission in the Eighteenth Century. In: Gross, Andreas/Kumaradoss, Vincent/Liebau, Heike (Hrsg.): Halle and the Beginning of Protestant Christianity in India. Vol. I: The Danish-Halle and the English-Halle Mission. Halle 2006, S. 7-36, hier S. 17f.

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jedoch, sich eingehend mit ihren Lehren und Schriften auseinanderzusetzen. 16 Er stellte eine Tamilbibliothek, ein Wörterbuch und eine Grammatik zusammen und studierte indische Bräuche, Moral und Religion. Mit Hilfe eines ganzen „Mitarbeiterstabs“ von indischen Übersetzern, Dichtern, Schulmeistern und Schreibern erstellte er einen Wissensfundus, von dem nicht nur die Missionare in Indien profitierten, sondern mit dem sich auch die europäischen Gelehrten vertraut machen sollten. 17 Die erste wissenschaftliche Abhandlung, die aus dieser indo-europäischen Zusammenarbeit hervorging, war die Ausführliche Beschreibung des Malabarischen Heydenthums aus dem Jahre 1711, die erst rund hundert Jahre später veröffentlicht wurde. 18 Darin beschreibt Ziegenbalg mit akribischer Genauigkeit zentrale Aspekte der religiösen Kultur und Gesellschaftsordnung Südindiens. Obwohl die Anschauungen des pietistischen Predigers nicht zu überhören sind, überwiegt sein Bemühen die tamilische Welt aus ihren eigenen kulturellen Voraussetzungen zu verstehen. Nicht nur die Gesellschaftsformen, auch die verschiedenen religiösen Strömungen beschreibt er nicht in europäischen Kategorien, sondern gemäß tamilischen Ordnungsvorstellungen und in tamilischen Begriffen. 19 Die gleiche ethnographische und religionswissenschaftliche Kompetenz zeigte Ziegenbalg in seiner Genealogie der Malabarischen Götter von 1713. 20 Nachdem er die tamilische Sprache gelernt hatte, engagierte er sich in zahlreichen Diskussionen und Korrespondenzen mit Indern. 21 Gezielt                                                              16

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Vgl. Caland, Wilhelm (Hrsg.): Bartholomäus Ziegenbalgs kleinere Schriften. Amsterdam 1930, S. 11. Zu Ziegenbalgs Rolle bei der Etablierung der Mission vgl. Dharampal-Frick, Gita: Bartholomäus Ziegenbalg and the Foundation of the Tranquebar Mission. In: Neue Zeitschrift für Missionswissenschaft 38 (1982), S. 276-285. Ziegenbalg wird zum Teil immer noch als „Einzelkämpfer ohne Wegweiser und Leitbilder“ dargestellt, der die indische Philosophie ganz allein entdeckte und übersetzte; vgl. Gensichen, Hans-Werner: Bartholomäus Ziegenbalgs Rezeption der Tamil-Spruchweisheit. In: Neue Zeitschrift für Missionswissenschaft 45 (1989), S. 81-91, hier S. 85. Dass dem nicht so war, zeigt bes. die Untersuchung von Jeyaraj, Daniel: Inkulturation in Tranquebar. Der Beitrag der frühen dänisch-halleschen Mission zum Werden einer indischeinheimischen Kirche (1706-1730). Erlangen 1996, S. 68-74 und S. 83-91; vgl. auch Jürgens, Hanco: Forschungen zu Sprache und Religion. In: Liebau 2006 (wie Anm. 3), S. 120135, hier S. 122. Anfänglich erwähnte Ziegenbalg die Übersetzungshilfen seiner Schreiber noch, später unterließ er allerdings entsprechende Hinweise. Vgl. Dharampal-Frick, Gita: Malabarisches Heidenthum. Bartholomäus Ziegenbalg über Religion und Gesellschaft der Tamilen. In: Bergunder 2004 (wie Anm. 5), S. 126-152. Zu Ziegenbalgs differenzierten, v.a. auch die Vorstellungen der Tamilen repräsentierenden Religionsvorstellungen in seinem Malabarischen Heydenthum vgl. Sweetman, Will: Unity and Plurality. Hinduism and the Religions of India in Early European Scholarship. In: Religion 31 (2001), S. 209-224, hier S. 215-218. Vgl. Dharampal-Frick 2004 (wie Anm. 18), S. 127. „Er eignete sich sowohl das gesprochene wie das schriftliche Tamil so perfekt an, dass er mit seinen Gesprächspartnern (aus der ganzen Küstenregion von Madras bis Nagapathnam) frei konversieren und die für seine Forschungen relevante tamilische Literatur le-

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suchte er den Kontakt und den Austausch mit den Einheimischen. Über seine täglichen Dispute mit dem ersten Schulmeister der Mission schrieb er: „Wir gedencken aus ihm einen Christen zu machen/ und er hat die Hoffnung/ daß wir endlich noch einmal würden Malabaren werden.“22 Als Teil seiner missionarischen Praxis schrieb er mehrere Briefe an die Tamilen, die wiederholt abgeschrieben und unter den Indern verbreitet wurden. Zusammen mit dem seit 1709 in Tranquebar tätigen Johann Ernst Gründler begann er die sogenannte Malabarische Korrespondenz, in welcher spezifische Fragen zu tamilischen Gewohnheiten und Überzeugungen gestellt und von lokalen Briefpartnern beantwortet wurden. Die Sammlung enthält 99 Briefe von Südindern, die diese zwischen 1712 und 1714 an die Missionare geschrieben hatten.23 Zur Gruppe der Korrespondenten zählten neben den Brahmanen insbesondere die Anhänger des Gottes Shiva, die unter den hinduistischen Tamilen in Südindien die Mehrheit ausmachten. Sie waren gebildet, hatten zumeist aber keine Kenntnisse des Sanskrit und damit auch keinen Zugang zur Literatur und zu den Lehren der Brahmanen. Nicht zuletzt deshalb zeigten sie sich generell für den Dialog und Kontakt mit den Europäern offener als die Brahmanen. Mit dem Briefwechsel wollten die Missionare bereits vorhandene Kenntnisse überprüfen und vertiefen, die aktuellen Vorstellungen und Argumente von Vertretern des Hinduismus in Erfahrung bringen und damit Möglichkeiten der Missionierung ausloten sowie die Kenntnisse der Europäer über die indische Bevölkerung verbessern.24 Die im zweiten Jahrzehnt entstandenen Arbeiten Ziegenbalgs zum Hinduismus standen in engem Bezug zueinander. Das Malabarische Heydenthum basierte auf Gesprächen mit Tamilen und auf tamilischen Werken. Die Malabarische Korrespondenz ging auf die im Malabarischen Heydenthum erörterten Probleme näher ein und die Genealogie der malabarischen Götter bezog sich ebenfalls auf Schriften und Briefe der Tamilen. Zu Ziegenbalgs Enttäuschung wurde nur                                                                                                                                         

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sen konnte.“ (ebd. S. 128f.). Dadurch erschlossen sich Ziegenbalg Informationsquellen, die seinen europäischen Vorgängern noch unzugänglich geblieben waren. Ein Dokument seines Kenntnisreichtums ist das Verzeichnis seiner diversen tamilischen Lektüren und Quellensammlungen, die für Jahrhunderte einzigartige Bibliotheca Malabarica von 1708. Allerdings wurde auch sie, wie fast alle wichtigen Werke Ziegenbalgs, erst postum veröffentlicht: Germann, Wilhelm (Hrsg.): Bibliotheca Malabarica. In: Missionsnachrichten der Ostindischen Missionsanstalt 32 (1880), S. 1-20, 62-94. Ziegenbalg, Bartholomäus/Plütschau, Heinrich: Merckwuerdige Nachricht aus Ost-Indien. 2. Aufl., Leipzig 1708, S. 16. Vgl. Gründler, Johann Ernst/Ziegenbalg, Bartholomäus: Die Malabrische Korrespondenz. Tamilische Briefe an deutsche Missionare, hrsg. von Kurt Liebau. Sigmaringen 1998; Liebau, Kurt: Die „Malabarische Korrespondenz“ von 1712/1713 und das Bild der Tamilen vom Europäer. In: Asien Afrika Lateinamerika 25 (1997), S. 53-73; vgl. auch Jeyaraj 1996 (wie Anm. 17), S. 116-119. Vgl. Gründler/Ziegenbalg 1998 (wie Anm. 23), S. 22-25.

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die Korrespondenz in den Halleschen Berichten, die ab 1710 halbjährlich im Halleschen Waisenhaus-Verlag der Franckeschen Stiftungen als Berichterstattung über die Arbeit der Tranquebarmission erschienen, 25 veröffentlicht, und dies auch nur, weil sie dem dänischen Kronprinzen gewidmet war, der die Widmung mit Freuden angenommen hatte. 26 In Halle hingegen wollte man sich nicht dem Vorwurf möglicher Kritiker aussetzen, die Missionare hätten Zeit und Muße, um sogenannte tamilische Götzen zu studieren. 27 Um die tamilische Kultur und Gesellschaft möglichst weitgehend zu erfassen, tauschten sich die ersten Missionare mit ihren südindischen Gesprächspartnern auch über deren Vorstellungen von Krankheit und Heilung aus. So sammelte Gründler Schriften zur tamilischen Heilkunde und übersetzte sie mit Hilfe eines kundigen Einheimischen. Zu diesen zählt insbesondere der Malabarische Medicus, den Gründler 1711 in der Überzeugung nach Halle sandte, dass man in Europa von der tamilischen Heilkunst lernen könne. 28 Zie                                                             25

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In den Halleschen und den nachfolgenden Neuen Halleschen Berichten wurden die Briefe, Tagebücher und Abhandlungen der Missionare der europäischen Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die Editionen unterlagen allerdings der Zensur der Halleschen Herausgeber, die bemüht waren, das missionarische Unterfangen durch die Berichte der Missionare gegenüber ihren Kritikern nicht weiter angreifbar zu machen. Ein Vergleich mit den handschriftlichen Quellen zeigt, dass die ursprünglichen Briefe, Diarien und Berichte der Missionare inhaltlich weitgehend wiedergegeben, aber auch, dass immer wieder Kürzungen und Veränderungen vorgenommen wurden. Zur Quellenkritik vgl. eingehend Jeyaraj 1996 (wie Anm. 17), S. 13-23. Nach Kurt Liebau kann nicht undifferenziert von einer rigiden Zensur gesprochen werden, wie im Anschluss an Wilhelm Germann wiederholt zu lesen war, vgl. Gründler/Ziegenbalg 1998 (wie Anm. 23), S. 28f.; vgl. auch Liebau, Heike: Die indischen Mitarbeiter der Tranquebarmission (1706-1845). Katecheten, Schulmeister, Übersetzer. Halle 2008 (= Hallesche Forschungen 26), S. 18f. Über grundsätzliche Aspekte hinaus müssen Umfang und Hintergründe der Zensur am jeweiligen Bericht und seiner Vorlage geprüft werden. Vgl. Jeyaraj 1996 (wie Anm. 17), S. 116f. Wie die Bibliotheca Malabarica wurden postum veröffentlicht: Bartholomäus Ziegenbalg: Malabarisches Heidenthum, hrsg. von Caland, Wilhelm. Amsterdam 1926; Bartholomäus Ziegenbalgs Genealogie der malabarischen Götter. Edition der Originalfassung von 1713 mit Einleitung, Analyse und Glossar von Jeyaraj, Daniel. Halle 2003. Francke fand deutliche Worte der Ablehnung etwa für die Veröffentlichung der Genealogie. Vgl. Dharampal-Frick 2004 (wie Anm. 18), S. 130f.; Jürgens 2006 (wie Anm. 17), S. 126. Der vollständige Titel der nie veröffentlichten und bis dato als verschollen geltenden Abhandlung lautete nach einem Hinweis in den Halleschen Berichten (HB 6, S. 286): „Malabarischen Medicus, welcher kurtzen Bericht giebet, theils was diese Heyden in der Medicin vor Principia haben; theils auf was Art und mit welchen Medikamenten sie die Kranckheiten curieren. Denen Herren medicis in Europa zu dienlicher Nachricht aus den Medicinischen Büchern der Malabaren zusammen getragen und übersetzet von J.E.G.“ Vgl. genauer Lehmann, Arno: Hallesche Mediziner und Medizinen am Anfang deutsch-indischer Beziehungen. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität HalleWittenberg 5 (1955), S. 117-132; vgl. auch Neumann, Josef N.: Medizinische Forschungen. In: Liebau 2006 (wie Anm. 3), S. 180-193; ders.: Tamil Medical Science as Perceived by the

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genbalg berichtete im neunten Kapitel seines Malabarischen Heydenthums ebenfalls „von [der] Medicina oder Artzney-Kunst“ der Inder.29 Es ließen sich noch weitere Beispiele dafür anführen, um die Einschätzung zu unterstreichen, dass die frühen Missionare in ihren Wahrnehmungen und Beschreibungen südindischer Verhältnisse von der Vorstellung einer „grundsätzlichen Vergleichbarkeit der Kulturen“30 oder, wie es die Indologin Gita Dharampal-Frick formuliert hat, von einer „impliziten Anerkennung einer relativen geschichtlichen Gleichzeitigkeit zwischen Europa […] und Indien“ getragen wurden.31 Es ist diese Überzeugung von der Vergleichbarkeit und Gleichwertigkeit der europäischen und indischen Kultur, die sich im Laufe des 18. Jahrhunderts unter den Missionaren in Tranquebar wandelte. Mit dem Einsetzen kultur-zivilisatorischer Umwertungen änderte sich auch der Interessenschwerpunkt an Land und Leuten und vice versa. Die Berichte der späteren Missionare über indische Kultur und Religion fielen deutlich kürzer aus als in den Anfangsjahren. Das anfängliche Bemühen um eine umfassende Darstellung der tamilischen Religion und Kultur wich einem dezidierten Interesse an der indischen Natur, an ihrer systematischen Erfassung und Klassifizierung.32 Die Beschäftigung mit den Naturwissenschaften, genauer mit der Naturgeschichte im Sinne einer auf Beschreibung, Sammlung und Ordnung gerichteten Naturforschung, prägte die Dänisch-Hallesche Mission von Beginn an, unter den in den 1770er Jahren in Tranquebar eingetroffenen Missionaren Christoph Samuel John und Johann Peter Rottler rückte sie jedoch ins Zentrum der Missionsaktivitäten.33 John und Rottler entwickelten sich in Europa und Indien zu angesehenen Naturforschern und Naturaliensammlern. Während John sich der Zoologie zuwandte, wurde Rottler auf dem Gebiet der Botanik eine anerkannte Autorität. Aufgrund ihrer Beschäftigung mit der Naturgeschichte und ihrer unermüdlichen Sammlertätigkeit kamen unzählige Naturalien von Indien nach Europa, die bis heute Magazine und Ausstel                                                                                                                                        

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Missionaries of the Danish-Halle Mission at Tranquebar. In: Gross, Andreas/Kumaradoss, Vincent/Liebau, Heike (Hrsg.): Halle and the Beginning of Protestant Christianity in India. Vol. III: Communication between India and Europe. Halle 2006, S. 1135-1154. Vgl. Lehmann 1955 (wie Anm. 28), S. 118-120. Vgl. Neumann 2006 (wie Anm. 28), S. 180. Vgl. Dharampal-Frick 2004 (wie Anm. 18), S. 135. Vgl. Nehring, Andreas: Natur und Gnade. Zu Theologie und Kulturkritik in den Neuen Halleschen Berichten. In: Bergunder 2004 (wie Anm. 5), S. 225; Obst 2004 (wie Anm. 5), S. 5. Vgl. Hommel, Karsten: Physico-theology as Mission Strategy. Missionary Christoph Samuel John’s (1746-1813) Understanding of Nature. In: Gross/Kumaradoss/Liebau 2006 (wie Anm. 28), S. 1115-1133; ders.: Naturwissenschaftliche Forschungen. In: Liebau 2006 (wie Anm. 3), S. 163-179.

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lungsräume europäischer Museen füllen. 34 Grundlage ihrer Forschungen und Gelehrtenkontakte bildeten ihre Sammlungen. John nannte schon bald eine, von ihm als gemeinnützig deklarierte, zoologische Präparatesammlung sein eigen, die Konchylien, Korallen, Fische, Reptilien, Amphibien und Insekten sowie ausgestopfte Kleinsäugetiere und Vögel umfasste. 35 Zusammen mit dem Missionsarzt Johann Gottfried Klein legte Rottler ein Herbarium an, das 1798 aus über 2000 Pflanzen bestand 36 und sich heute als „Herbarium Rottlerianum“ in der Herbariensammlung des Royal Botanic Garden, Kew, in West Sussex befindet. 37 Gemeinschaftlich waren John und Rottler an der Gründung eines botanischen Gartens in Tranquebar beteiligt. 38 In Europa machten sich die Missionare besonders als Naturalienlieferanten einen Namen, daneben traten sie auch als Verfasser wissenschaftlicher Abhandlungen in Korrespondenzen und Fachzeitschriften hervor. 39 Zudem kommunizierten sie regelmäßig mit den Naturforschern und wissenschaftlichen Gesellschaften in Europa und Indien. Unter den Korrespondenten waren Gelehrte und Physikotheologen, wie der jüdische Arzt und Ichthyologe Marcus Elisier Bloch in Berlin 40 und der Naturforscher Johann Reinhold Forster. Seit dem Ende der 1780er Jahre findet sich in den Halleschen Berichten auch eine eigene Rubrik zur Naturgeschichte. Darin lieferten John und Rottler regelmäßig ausführliche Abhandlungen über diverse Naturgegenstän                                                             34

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Exemplarisch sei hier die Fischpräparatesammlung des Arztes Marcus Elieser Bloch genannt, die sich heute im Museum für Naturkunde der Humboldt-Universität Berlin befindet. Zahlreiche der insgesamt 1500 Objekte stammen von Christoph Samuel John, ebenso viele Fischzeichnungen. Vgl. Paepke, Hans-Joachim: Bloch’s Fish Collection in the Museum für Naturkunde der Humboldt-Universität zu Berlin. An illustrated catalog and historical account. Ruggel 1999 (= Theses Zoologicae 32). Vgl. Ch.S. John an J.L. Schulze am 20.01.1790, Archiv der Franckeschen Stiftungen (AFSt.) M 1 C 31a: 26. Vgl. J.G. Klein an J.L. Schulze am 23.10.1796, AFSt. M 1 C 37 b: 51, hier zit. nach Hommel 2006 (wie Anm. 33), S. 173. Vgl. Stansfield, H.: The missionary botanists of Tranquebar. The discovery of classical collection of plants from Peninsular India (1780-1816). In: Liverpool bulletin 6 (1956), S. 19-42. Vgl. J.G. Klein an S.A. Fabricius am 12.01.1789, AFSt. M 1 C 30c: 19; John an Schulze am 20.01.1789, AFSt. M 1 C 30c: 24. Vgl. Hommel 2006 (wie Anm. 33), S. 178 erwähnt zwei Beiträge Johns: Beschreibung einiger Affen aus Kasi oder Benares im nördlichen Bengalen. In: Die Gesellschaft naturforschender Freunde zu Berlin. Neue Schriften 1, Berlin 1795, S. 211-218 und Johns Beschreibung einiger ostindischer Insekten, ebd. S. 347-352; vgl. auch Leifer, Walter: Indien und die Deutschen. 500 Jahre Begegnung und Partnerschaft. Tübingen/Basel 1969, S. 60. Vgl. Lesser, Richard: Dr. Marcus Elisier Bloch. Ein Jude begründet die moderne Ichthyologie. In: Das achtzehnte Jahrhundert. Zeitschrift der deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts 23 (1999), S. 238-246. Zur Bestückung der Blochschen Fischpräparatesammlung durch John vgl. Paepke 1999 (wie Anm. 34); Hommel 2006 (wie Anm. 33), S. 168, 173.

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de, wie über Schlangen, Spinnen oder bestimmte Bäume und Pflanzen. Wegen ihrer naturwissenschaftlichen Verdienste, insbesondere wegen ihrer Betätigung als Naturalienlieferanten, erhielten sie 1795 den philosophischen Ehrendoktor in der Academia Naturae Curiosorum, der Leopoldina. 41 Woher rührte dieses große Interesse der Missionare an der Natur, und vor allem: Was bezweckten die Missionare mit ihrem naturwissenschaftlichen Engagement? Johns Interesse an indischen Naturalien scheint zunächst primär finanzieller Art gewesen zu sein. 42 Vor allem nach seiner Heirat mit Christiana Sophia Guldberg 1776 sah er sich, wie er seinem Halleschen Vorgesetzten zwei Jahre nach seiner Hochzeit schrieb, genötigt sein Missionsgehalt deutlich aufzubessern. Der Anfang seiner Naturstudien und Naturaliensammlung gestaltete sich wegen fehlender Mittel jedoch schwierig. Um seine eigentlichen Pflichten nicht zu vernachlässigen, ließ er seine Naturstudien zunächst wieder ruhen und konzentrierte sich stattdessen auf den Aufbau einer Art Integrativschule, in der er europäische und tamilische Kinder zusammen unterrichtete – ebenfalls um finanziellen Gewinn daraus zu schöpfen. Aber die indische Natur ließ ihn nicht los. Nach dem Tod seiner beiden Kinder 1782 gelobte er, sich endgültig von seinen Naturstudien loszusagen. 43 Doch auch diesen Mal vergeblich. Er setzte seine Beschäftigung mit der Natur fort und verband sie gezielt mit seiner Missionstätigkeit. Über das Studium einer Reihe naturwissenschaftlicher bzw. naturtheologischer Schriften, wie Carl von Linnés Systema naturae (1735), Heinrich Sanders Ueber Natur und Religion für die Liebhaber und Anbeter Gottes (1779), Johann Elert Bodes Anleitung zur Kenntniß des gestirnten Himmels (1768) und Johannes Florentinus Martinets Katechismus der Natur (1779-1782), 44 entwickelte er in den folgenden Jahren ein physikotheologisches Naturverständnis, nach dem in der bewundernswürdigen Schönheit, Ordnung und Zweckmäßigkeit der Natur Gottes Existenz,                                                              41

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Vgl. Hommel 2006 (wie Anm. 33); Neigebaur, Johann Daniel Ferdinand: Geschichte der Kaiserlichen Leopoldino-Carolinischen Deutschen Akademie der Naturforscher während des zweiten Jahrhunderts ihres Bestehens. Jena 1860, S. 64. Außerdem waren John und Rottler Ehrenmitglieder u.a. der Gesellschaft Naturforschender Freunde zu Berlin, der Regensburger Botanischen Gesellschaft und der Asiatischen Gesellschaft Kalkutta; desweiteren war John Mitbegründer der Gesellschaft zur Beförderung Indianischer Kenntnisse und Industrie sowie der Gelehrtengesellschaft in Tranquebar. Vgl. Hommel 2006 (wie Anm. 33), S. 171-174. Zum allgemeineren Auflärungsprojekt einer weltweiten Erfassung und Klassifikation von Naturalien vgl. u.a. Dietz, Bettina: Aufklärung als Praxis. Naturgeschichte im 18. Jahrhundert. In: Zeitschrift für Historische Forschung 36 (2009), S. 235-257; Dauser, Regina (Hrsg.): Wissen im Netz. Botanik und Pflanzentransfer in europäischen Korrespondenznetzen des 18. Jahrhunderts. Berlin 2008; McClellan, James E.: Science Reorganized. Scientific Societies in the Eighteenth Century. New York 1985; Trepp (im Druck) (wie Anm. 8). Vgl. im Einzelnen Hommel (wie Anm. 33), S. 1118f. Vgl. ebd. S. 1119f.

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seine Allmacht und Güte erkannt werden könne. 45 Gemäß der gängigen, unter Gebildeten in Europa weit verbreiteten Vorstellung, dass jeder Mensch kraft seines natürlichen Verstandes von der Natur auf Gott schließen könne, 46 und der Überzeugung, dass „die Offenbarung Gottes in der Natur die einzig allgemeine ist“, erklärte John die Physikotheologie zur Basis seiner Missionspraxis. 47 Seit den frühen 1780er Jahren wies John seinen Halleschen Vorgesetzten wiederholt darauf hin, wie fruchtlos die bisherige Missionsmethode der Predigt und der ausführlichen Darlegung der Heilsbotschaft sei, und dass stattdessen nach anderen Möglichkeiten gesucht werden müsse, die Heilswahrheiten zu verkünden. 48 John und auch sein Kollege Rottler setzten in den folgenden Jahren zum einen vermehrt auf den Einsatz von sogenannten Nationalarbeitern, von zum Christentum bekehrten Einheimischen, die auf Grund ihrer größeren Nähe zu ihren Landsleuten missionieren sollten. 49 Zum anderen konzentrieren sie sich – dem Franckeschen Modell in Halle folgend – auf die Erziehung und Bildung von Kindern. 50                                                              45

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Johns physikotheologische Sichtweise kommt in Schilderungen wie dieser von 1792 deutlich zum Ausdruck: „Am 14ten April ging ich mit Herrn Rottler aus, um eine bequeme Gelegenheit aufzusuchen mit Heiden zu sprechen […]. Wir durchwanderten eine ziemliche Gegend, ohne eine bequeme Gelegenheit zu finden, uns in ein ordentliches Gespräch mit jemand einzulassen. Endlich verursachte uns ein Scarabaeus pilularius ungemeines Vergnügen, und wir schämten uns nicht, die Arbeitsamkeit dieses Tierchens und darin die Weisheit und Güte Gottes zu bewundern, die er aus solchen Insekten offenbaret.“ (Neue Hallesche Berichte 40 [1792], S. 311f.). Zur Bewegung der Physikotheologie vgl. Trepp, Anne-Charlott: Von der Glückseligkeit alles zu wissen. Die Erforschung der Natur als religiöse Praxis in der Frühen Neuzeit. Frankfurt a.M. 2009; Michel, Paul: Physikotheologie. Ursprünge, Leistungen und Niedergang einer Denkform. Zürich 2008; zur Bedeutung der Physikotheologie in Halle vgl. Ehrhardt-Rein, Susanne: Zwischen Glaubenslehre und Vernunftwahrheit. Natur und Schöpfung bei Hallischen Theologen des 18. Jahrhunderts. Münster 1996 (= Physikotheologie im historischen Kontext 3). Ch.S. John an J.L. Schulze am 15.10.1792, AFSt M 1 C 33c: 13. Zur physikotheologischen Sichtweise der Missionare vgl. genauer Trepp (im Druck) (wie Anm. 8). Vgl. Ch.S. John, Einige Vorschläge die Mission betreffend, 1784 (AFSt M 1 B 74: 22), beigelegt einem Schreiben Johns an G.A. Freylinghausen, 28.02.1784, AFSt M 1 B 74: 21; ebenso Neue Hallesche Berichte 30 (1785), S. 700-709; Neue Hallesche Berichte 33 (1787), S. 903. Vgl. Liebau 2008 (wie Anm. 25), S. 85-93. Der Nationsbegriff wurde von den Missionaren nicht in seiner seit dem 19. Jahrhundert geläufigen Bedeutung gebraucht, sondern „sowohl im ethisch-sprachlichen, geographischen als auch im religiösen Sinn verstanden“ (ebd., S. 98). Vgl. bes. die Arbeiten von Liebau, Heike u.a.: Faith and Knowledge. The Educational System of the Danish-Halle and English-Halle Mission. In: Gross/Kumaradoss/Liebau 2006 (wie Anm. 28), S. 1181-1214.

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In ihrer Ausbildung der indischen Prediger wie auch in der Unterweisung der Kinder maßen sie der Natur und ihrer Erforschung und dem „Unterricht in der Erkenntnis Gottes aus der Natur“ eine wachsende Bedeutung zu. 51 Die Erkenntnis Gottes aus der Natur beruhte in hohem Maß auf rational einsehbaren Argumenten und entsprach damit ihrem sowohl pietistischen als auch aufklärerischen Verständnis, dass sich die Menschen willentlich für oder gegen bestimmte Glaubenswahrheiten entscheiden sollten. 52 Daher sollte für John und Rottler der Bekehrung bzw. Erweckung die Belehrung vorausgehen, d.h. die Heilsordnung, die Gott in Jesus Christus offenbart hat, musste zunächst dem Verstand allgemein einsichtig gemacht werden. Lehre und Predigt sollten deshalb an Fähigkeiten und Kenntnisse, aber auch, wie es heißt, an Vorurteile und Unwissenheit der Zuhörer anknüpfen. 53 Zum Zwecke solcher Belehrungen bestellte John Brahmanen, Ärzte und Bauern zu sich, um sich mit ihnen zunächst über die unterschiedlichsten Wissensbereiche zu verständigen, wie über die indische Sprache, die Mythologie oder auch die Naturgeschichte, und „ihre Kentniße u. Erfahrungen mit den meinigen zu verbinden.“ „Hierdurch“, schreibt John 1797, „lockt man sie gewaltig an, da sie sehen, daß man ihre Kentniße nicht ganz verachtet, auch von ihnen lernen und das Gute schätzen und brauchen will, wo man es findet. […] bey solchen einsamen Unterredungen [findet man] weit mehr Gelegenheit als irgendwo sie auf ihren Schöpfer, Erlöser und geistliches und leibliches Wohl aufmerksam zu machen.“ 54 Mit der Übertragung der klassischen Missionsarbeit auf einheimische Prediger und der Einführung der Physikotheologie als einer betont rationalen Missionsstrategie machten sich die Missionare, wie sie ihren Vorgesetzten in Halle gegenüber beteuerten, keineswegs entbehrlich. 55 Nur sahen sie ihre Aufgabe jetzt weniger in der unmittelbaren Kontaktaufnahme mit der lokalen Bevölkerung als vielmehr in der mittelbaren Missionierung durch die Ausbildung der indischen Mitarbeiter und durch einen vor allem die höheren Kasten ansprechenden physiotheologisch überformten Wissensaustausch.                                                              51 52 53 54

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Hommel 2006 (wie Anm. 33), S. 171. Immer wieder stellen die Missionare die Bedeutung des freien Willens heraus; vgl. u.a. John in: Neue Hallesche Berichte 34 (1789), S. 1223, 1250. Vgl. dazu Nehring 2004 (wie Anm. 32), S. 233f. Ch.S. John an J.L. Schulze am 14.03.1797, AFSt M 1 C 38a: 35. Vgl. auch Nehring, Andreas: The Indian Miracle-worker in the Garden of Species. In: Gross/Kumaradoss/Liebau 2006 (wie Anm. 28), S. 1309-1321, hier S. 1316; Hommel 2006 (wie Anm. 33), S. 171. Zur Veranschaulichung seiner Erläuterungen über Naturerscheinungen bediente sich John wenn möglich wissenschaftlicher Instrumente, wie Erd- und Himmelsgloben, eines Mikroskops oder des vom Prediger der dänischen Gemeinde in Tranquebar auf dem Turm der Zionskirche eingerichteten Observatoriums. Vgl. Liebau 2008 (wie Anm. 25), S. 93.

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Die vor allem von John formulierte Missionsstrategie wurde von seinem Amtskollegen Johann Peter Rottler weitestgehend mitgetragen. Rottler gehörte mit seinen Kenntnissen in Englisch, Portugiesisch, Sanskrit, Malayalam, Telugu und Tamil zu den sprachkundigsten Dänisch-Halleschen Missionaren. Neben einer opulenten vierbändigen Enzyklopädie des Tamilischen und Englischen 56 gehört eine bis heute bedeutsame botanische Konkordanz der einheimischen Pflanzennamen Südindiens und ihrer wissenschaftlichen Namen zu seinen wichtigsten Hinterlassenschaften. 57 Zur Bestimmung der indischen Pflanzenwelt verwendete Rottler den zwischen 1678 und 1693 erschienenen 12 bändigen Hortus Malabaricus des Holländers Hendrik Adriaan van Rheede tot Drakenstein, eines hohen Offiziers und Beamten der Niederländischen Ostindien-Kompagnie. 58 Van Rheedes botanisches Standardwerk beruhte weniger auf älteren arabischen oder auch europäischen Ordnungsvorstellungen, als auf einheimischen Klassifikationssystemen. Bei der Erstellung des Hortus Malabaricus nutzte van Rheede die Informationen und die praktische Hilfe von Einheimischen aus niederen Kasten, besonders aus der EzhavaKaste, deren botanisches Wissen und Taxonomien er weitgehend übernahm. 59 Auch Carl von Linné rezipierte die Ezhava-Klassifikation und fügte 240 neue indische Pflanzenarten in sein Werk ein. Das Linnésche System nutzte Rottler ebenso wie John. Als die Mission 1791 einen neuen Missionsarzt suchte, stellte ein Mediziner in Kopenhagen fest, dass nur ein überzeugter Pietist oder ein enthusiastischer Linnéanist nach Tranquebar gehen könne 60 – offensichtlich in Unkenntnis darüber, wie eng Religion und Wissenschaft bei den Missionaren in Tranquebar verbunden sein konnten. 61 In sei                                                             56 57

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Vgl. Rottler, Johann Peter: A dictionary, Tamil and English, Parts 1-4. Madras 1834-1841; ders.: A Dictionary of the Tamil and English Languages, Parts 1-4. Vepery 1834-1841. Vgl. Stansfield 1956 (wie Anm. 37), S. 19-42; Daniel, P.: Names validated in Rottler’s „Botanicals Oberservations“ of 1803. In: Taxon. Journal of the International Association for Plant Taxonomy 40 (1991), S. 605-611; Hommel 2006 (wie Anm. 33), S. 172f. Zu Rottlers Bemühungen 1793, die vollständige Ausgabe des Hortus zu bekommen, vgl. Nehring 2003 (wie Anm. 1), S. 78. Im Zuge einer seiner Tauschgeschäfte wurde auch John van Rheedes Opus zugesandt, während er Mollusken nach Wernigerode schickte; vgl. Hommel 2006 (wie Anm. 33), S. 1123. Vgl. Grove, Richard: Indigenous Knowledge and Tropical Nature. In: Modern Asian Studies 30 (1996), S. 121-143, hier S. 126f.; ders.: Green Imperialism. Colonial Expansion, Tropical Island Edens and the Origins of Environmentalism, 1600-1860. Cambridge 1995, S. 78. Vgl. Fenger, Johannes F.: Geschichte der Trankebarschen Mission nach den Quellen bearbeitet. Aus dem Dänischen übersetzt von Emil Francke. Grimma 1845, S. 245. Der Missionsarzt Johann Gerhard König, von 1768 bis 1778 in Tranquebar tätig und Vater des Missionars Klein, war ein direkter Schüler Linnés; vgl. Magazin für die neueste Geschichte der evangelischen Missions- und Bibelgesellschaften 3 (1818), S. 257. Zum Ineinandergreifen von Religion und Wissen besonders auch in pietistischen Kreisen vgl. Trepp 2009 (wie Anm. 46).

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nen Beschreibungen von Pflanzen, die er im Umkreis von Tranquebar und in Ceylon sammelte, verzeichnete Rottler alle Gewächse doppelt.62 Indem Rottler allen Pflanzen ihren tamilischen und ihren lateinischen Namen gab, nutzte er sowohl europäisches als auch indisches Wissen und indische Kategorisierungsschemata. Insofern muss man in der Verwendung der Linnéischen Taxonomie nicht zwangsläufig eine systematische Verdrängung der traditionellen Kulturpraktiken zur Durchsetzung europäischer, sprich kolonialer Kulturformen sehen.63 Zunächst einmal glich Rottler die Natur Indiens systematisch mit der Europas ab. Dabei wurde tamilisches Wissen zwar einem europäischen, universal konzipierten Ordnungsschema integriert, tamilische Begriffe und Kategorien wurden jedoch beibehalten. Als scheinbar neutralen, allgemein zugänglichen Kommunikations- und Erkenntnisgegenstand erhoben die Missionare die Natur zum Basismedium ihrer Missionstätigkeit.64 Aber kam ihrem naturtheologischen Konzept, kam der indischen Natur und dem Wissen über sie tatsächlich eine Übersetzungsfunktion zwischen den Missionaren und der indischen Bevölkerung zu?65 Bei aller Wertschätzung indischer Wissenschaft und Kultur bleiben die, deren Wissen geschätzt und gesammelt wurde, in den Berichten der Missionare eigentümlich verschwommen, wenn nicht bis zur Unkenntlichkeit im Hintergrund. Das führt zu der Frage, wie sich die Begegnungen zwischen den Europäern und Nicht-Europäern in der Mission und konkret im Kontext des Wissenstransfers eigentlich gestalteten. Gab es so etwas wie eine zwischen                                                             62 63

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Vgl. Stansfield 1956 (wie Anm. 37). Vgl. die kritische Auseinandersetzung mit der gängigen Verbindung von Linné und der kolonialen Botanik des 19. Jahrhunderts bei Müller-Wille, Staffan: Walnuts at Hudson Bay, Coral Reefs in Gotland. The Colonialism of Linnaean Botany. In: Schiebinger, Londa/ Swan, Claudia (Hrsg.): Colonial Botany. Science, Commerce, and Politics in the Early Modern World. Philadelphia 2007, S. 34-48. Zur Rolle der Linnéischen Nomenklatur im Kolonialismus vgl. u.a. Pratt 1992 (wie Anm. 2), S. 24-37; Barber, Zaheer: The Science of Empire. Scientific Knowledge, Civilization and Colonial Rule in India. New York 1996, S. 175; Drayton, Richard: Nature’s Government. Science, Imperial Britain, and the „Improvement“ of the World. New Haven 2000, S. 19f. Genauer zu untersuchen ist, inwieweit ihr naturwissenschaftliches Engagement bzw. ihr naturtheologischer Missionskurs auch der wachsenden Missionskritik im ausgehenden 18. Jahrhundert, u.a. von Herder, geschuldet ist; zur Missionskritik vgl. Jürgens 2008 (wie Anm. 15). Darüber hinaus stellten sich John und Rottler unter den veränderten politischen Bedingungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts zur Sicherung der Mission auch mit ihren naturwissenschaftlichen Arbeiten gezielt in den Dienst der Engländer, vgl. Hommel 2006 (wie Anm. 33), S. 1131-1133. Zu den theoretischen Grundlagen von interkulturellen Übersetzungsprozessen vgl. u.a. Knobloch, Hubert: Kommunikationskultur. Die kommunikative Konstruktion kultureller Kontexte. Berlin 1995; Fuchs, Martin: Übersetzen und Übersetzt-Werden. Plädoyer für eine interaktionsanalytische Reflexion. In: Bachmann-Medick, Doris (Hrsg.): Übersetzung als Repräsentation fremder Kulturen. Berlin 1997, S. 308-328, hier S. 311-314.

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menschliche Qualität der Begegnungen? Wenn sich die Beziehungen zu den Menschen hinter der anderen Kultur kaum fassen lassen und man die Klagen der Missionare über den mangelnden Zugang zu jenen ernst nimmt, dann drängt sich die Vermutung auf, dass die geradezu obsessive Hinwendung der Missionare zur Natur auch als eine andere Form der Annäherung an eine ihnen letztlich verschlossen gebliebene Welt gedeutet werden kann. Aber an welcher Form der Annäherung waren die aufgeklärten Missionare eigentlich interessiert? Wurde überhaupt eine Oszillierung der Grenzen zwischen ihnen und den Indern angestrebt? Aufschlussreich ist hier ein Blick auf eine Tempelbeschreibung Johns aus dem Jahr 1791. Als John einen Tempel in Thiruvotriyur bei Madras besuchte, beschwerte er sich über das Übermaß an Figuren von Götzen, Menschen und Tieren. Nach Angaben des Missionars würden sie die Augen einfach nur übersättigen. Und wenn man versuchte, die Darstellungen im Detail zu betrachten, dann seien die Arbeiten nicht mehr ansprechend. Solches gälte für sämtliche Pagoden. Daran sähe man, „daß die Malabarische Nation von Alters her noch in der Kindheit ist, welche an Spielereyen und am Buntscheckigten Gefallen hat.“ 66 Ihre neuen Kunstwerke seien, so John, noch gröber als die alten, in klassischer Zeit gefertigten, bedingt durch den Niedergang des Wohlstands. John sah die Pagode in einem Zustand entwicklungsgeschichtlicher Kindheit und verortete sie in einem degenerativen Geschichtskonzept. 67 Er und Rottler hatten ein Dekadenzmodell entwickelt, nach dem in der alten Sangam-Zeit die Grundlage für ein moralisch fundiertes, sozial gerechtes und wirtschaftlich abgesichertes Zusammenleben gelegt worden war, welche sich aber „durch Unvernunft und Uneinsichtigkeit in die Vergebung der Sünden […] in Zeremonien, Ritualen und Wallfahrten, mit denen die Tamilen ihre Zeit verbringen“, aufgelöst habe. 68 Die Missionare waren keine Verächter der indischen Kultur, so übersetzte John Schriften aus der späten Sangam-Zeit wie die Moralmaximen der Fürstin Auvaiyar und andere ethische Werke der Tamil-Tradition ins Englische und veröffentlichte sie in den von Sir William                                                              66 67

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Neue Hallesche Berichte 38 (1791), S. 183, zit. nach Jürgens 2008 (wie Anm. 15), S. 53-55; vgl. auch Nehring 2004 (wie Anm. 32), S. 235. Zur Bedeutung des Degenerationsdiskurses für die Indiendeutung in den Jahrzehnten um 1800 vgl. Osterhammel, Jürgen: Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert. München 1998, S. 387-393. Zit. nach Nehring 2004 (wie Anm. 32), S. 234. Dem entspricht die Vorstellung der Missionare, die Inder hätten ein ursprüngliches und natürliches Wissen vom wahren Gott besessen, seien dann aber durch den Einfluss des Bösen und den Zorn Gottes vom monotheistischen Glauben abgekommen. Vgl. dazu Halbfass, Wilhelm: Indien und Europa. Perspektiven ihrer geistigen Begegnung. Basel/Stuttgart 1981, S. 64f.; noch deutlicher wird die Nähe von Johns Feststellung zu dem in aufgeklärten Kreisen viel diskutierten Thema der Verfinsterung und Unterdrückung des „natürlichen Lichts“ durch Aberglauben und Ritualismus; vgl. ebd. S. 76.

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Jones herausgegebenen Asiatic Researches, 69 nur galt ihr Interesse nicht den kulturellen Äußerungen der Gegenwart, sondern denen der indischen Vergangenheit. 70 Nicht auf eine verstehende Annäherung, sondern eher auf ein eurozentrisches Überlegenheitsgefühl lassen auch Äußerungen wie die Johns schließen, „die Inder sollten ihren lächerlichen Ekel vor Rindfleisch überwinden“. 71 Schließlich überließ John die Missionierung der Inder auf der Straße nicht nur deshalb lieber den indischen Christen, weil sie mit ihren Landsleuten vertrauter umgingen und diese auch einiges aus ihren poetischen Büchern vortragen konnten, sondern auch weil „unser Europäisch Gehör und Zunge sich nicht wohl an dieses Geklapper gewöhnen kann.“ 72 Ähnlich sah auch Rottler einen großen Abstand zwischen der indischen und der „gesitteten europäischen Nation“. 73 Die indischen Menschen und ihre Kultur wurden von John und Rottler nicht als potentiell gleichwertig wahrgenommen und aus sich selbst heraus zu verstehen versucht wie von den frühen Missionaren Ziegenbalg und Gründler, sondern gemäß dem spätaufklärerischen Zivilisations- und Fortschrittsmodell am europäischen Stand gemessen und entwicklungsgeschichtlich herabgestuft. 74 Die pietistischen Missionare der ersten Generation waren bemüht, sich den der fremden tamilischen Kultur zugrunde liegenden Denkkategorien, Verhaltens- und Handlungsnormen relativ urteilsoffen zu nähern, um ein möglichst differenziertes Wissen über die indische Kultur zu gewinnen.                                                              69 70

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Vgl. Nehring 2004 (wie Anm. 32), S. 235; Jürgens 2006 (wie Anm. 17), S. 132. Im Unterschied zu den „Indologen“ sahen die Missionare aber in den Brahmanen die Hauptverantwortlichen für den schlechten Zustand der gegenwärtigen indischen Gesellschaft. Vgl. Nehring 2004 (wie Anm. 32), S. 235. Brief von Ch.S. John an G.A. Freylinghausen am 18.10.1784, AFSt M 1 B 75: 18. Andererseits versucht sich John der indischen Esskultur durchaus anzupassen: „Die Malabaren essen das Fleisch vom Drachenkopf sehr gern. Halten es für gesund und delikat. Ich habe selbst mit meiner Familie ein Gericht davon gegessen und es so befunden, außer dass die Einbildung, dass es eine große Eydere sei, den Appetit etwas störet.“ (Neue Hallesche Berichte 34 [1789], S. 1306f.). Neue Hallesche Berichte 30 (1784), S. 702. Neue Hallesche Berichte 34 (1788), S. 1150. Auch eine Analyse der Reiseberichte aus Ostindien ergibt, dass in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein eurozentrisches Entwicklungsmodell entworfen wurde, in dem Indien im Kontrast zum fortgeschrittenen Europa dargestellt wird; vgl. Blanke, Horst W.: Politische Herrschaft und soziale Ungleichheit im Spiegel des Anderen. Bd. 1. Waltrop 1997, S. 296-300. Vgl. Osterhammel 1998 (wie Anm. 67), S. 387-393 sowie zur ebenfalls von den Missionaren befürworteten Zivilisationsmission ebd., S. 394-403; Halbfass 1981 (wie Anm. 68), S. 86-90, 104-121 auch zu den zentralen Postionen Herders und Hegels; vgl. dazu das Indienbild von Warren Hastings und bes. von Sir William Jones, dem Gründer der Asiatic Society of Bengal 1784, bei Teltscher, Kate: India Inscribed. European and British writing on India, 1600-1800. Dehli 1995, Kap. 5 und 6.

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Demgegenüber zielten die Missionare am Ende des 18. Jahrhunderts zum einen auf die Vermittlung europäischer Kultur und Bildung, zum anderen auf eine möglichst umfassende Kenntnis und Systematisierung der indischen Kultur, besonders aber der indigenen Natur. Während die Missionare mit ihren Naturstudien zu einem intensivierten Kultur- und Wissenstransfer zwischen Indien und Europa beitrugen, blieb das Verhältnis zwischen den Missionaren und den Indigenen vor Ort von den Diffusionsprozessen auf der Ebene der Wissenstransfers kaum berührt. Obgleich sich der Kulturtransfer zwischen Indien und Europa auf der Makroebene der Natur- und Wissensvermittlung durch die Missionare deutlich intensivierte, wurde die Kluft zwischen Indern und Europäern auf der Mikroebene der interkulturellen und zwischenmenschlichen Begegnung nicht zuletzt durch die spezifischen zivilisationstheoretischen, von den Halleschen Missionaren adaptierten Muster der Aufklärung tendenziell weiter vertieft. Insofern zeitigte der Kultur- und Wissenstransfer im Kontext der Halleschen Mission, wenn es um die Frage von interkulturellen Grenzen und Grenzüberschreitungen geht, in seiner Dynamik höchst ambivalente Seiten.

ANTJE FLÜCHTER

Mission als Grenzüberschreitung? Die Wahrnehmung französischer Jesuiten in Südindien am Vorabend des Kolonialismus

Im Jahre 1708 bereiste der französische Jesuit Pierre Martin die indische Westküste und besuchte dort seinen Ordensbruder Emmanuel Lopez. Dieser war einer der letzten Jesuiten, die noch den schwarzen Habit trugen, also einer der letzten, „so sich in Malabarien in einem solchen Kleid, als wir in Europa tragen, hat sehen lassen“. Mittlerweile sahen die meisten Jesuiten in Indien anders aus: „Sie haben öfters keine andere Kleidung/ als ein Stuck Leinwand/ in welches sie ihren Leib einwickelen“.1 Damit hatten sie sich dem Aussehen der einheimischen Asketen, der Sannyasin, angepasst und vermieden vor allem, sofort als Europäer erkannt zu werden. Als Emmanuel Lopez nach Indien gekommen war, hatte er sich dieser Anpassung verweigert, was ihn nun reute, „sintemal er um dieser Ursach willen sich in Malabarien, allwo er als Europäer bekannt ist, nicht darff blicken lassen, auf dass er nemlich unsere Missionarios allda nicht um all ihre Ehre und Ansehen bringe, welches zweiffels ohne erfolgen würde, wann die Indianer vermercken sollten, daß sie mit einem Europäer Gemeinschaft pflegten“.

So führte Emmanuel Lopez, der als Europäer und Jesuit erkennbare Missionar, ein ziemlich einsames Leben, denn er war aus der Gemeinschaft der Jesuiten mehr oder weniger ausgeschlossen, während seine späteren „angepassten“, als „Sanias aus dem Norden“2 verkleideten Ordensbrüder im Landesinneren missionieren und in ihrer Gemeinschaft leben konnten. Folgt man dem Narrativ dieser Anekdote, trafen hier zwei Jesuiten aufeinander, von de-

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Martin, Pierre. In: Stöcklein, Josef: Der Neue Welt-Bott oder Allerhand so lehr als geistreiche Brief, Schrifften und Reis-Beschreibungen, welche von denen Missionariis der Gesellschafft Jesu aus beyden Indien, und andern über Meer gelegenen Ländern, seit Ann. 1642 [...] in Europa angellangt seynd. Jetzt zum erstenmal theils aus handschrifftlichen Urkunden, theils aus den französischen Lettres édifiantes verteutscht und zusammen getragen [...]. Bd. 1, Augsburg/Graz 1726, Nr. 58, S. 99. Mein Dank gilt Christoph Dartmann für die kritische Lektüre und Diskussion. Mauduit, Pierre. In: Stöcklein 1726 (wie Anm. 1), Nr. 76, S. 66.

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nen einer die Grenze zwischen der europäischen und der indischen Kultur überschritten hatte und der andere nicht. Die Definitionsmöglichkeiten des Grenzbegriffs sind vielfältig, und dies gilt auch für die Grenzen, die die Jesuiten während ihrer Missionstätigkeit in Südindien überschritten. In der Eingangsanekdote benannte Pierre Martin die Grenze zwischen den Europäern und den Indern. Dabei handelte es sich nicht um eine räumlich unmittelbar erfahrbare Grenze, wie die zwischen Territorialstaaten, von denen Reiseberichte aus dem frühneuzeitlichen Indien auch berichten. 3 Vielmehr ist es eine, die den Jesuitenberichten zufolge von der Bevölkerung Südindiens als solche wahrgenommen wurde. Sie kann als kulturelle Grenze im Sinne Jürgen Osterhammels verstanden werden, d.h. als die Grenze einer Kultur, jenseits derer „die ihr eigentümlichen Regeln und Symbole die Lebensführung und die Weltbilder der Menschen nicht länger bestimmten“, sondern die einer anderen Kultur. 4 Solche kulturellen Grenzen sind wie die Regeln und Symbole, die die umgrenzten Kulturen bestimmen, nicht statisch zu verstehen. Vielmehr sind sie in einem beständigen Transformationsprozess begriffen und dadurch kontingent, dass sie ständig diskursiv wie durch individuelle und gesellschaftliche Praktiken performativ hergestellt werden. Sie sind also nicht stabil, sondern werden durch die Beteiligten immer wieder neu konstruiert, situativ hergestellt und damit auch ständig verändert. Daher steht im Folgenden der Konstruktionsprozess kultureller Grenzen und ihrer Bewertungen im Zentrum. In einem ersten Schritt wird untersucht, welche kulturellen Grenzen von den Missionaren wie beschrieben wurden. Was unterscheidet in diesem Kontext die Pranky, wie alle Europäer von den Indern oft zusammenfassend bezeichnet worden sein sollen, von den Indianern? In einem zweiten Schritt wird nach den Möglichkeiten gefragt, religiös verstandene Grenzen zu überschreiten. Entstanden im Kontakt zwischen europäischen Missionaren und „Indianern“ auch transkulturelle Formationen und Praktiken und konnte über diese berichtet werden? Oder lag hier die letzte Grenze des Sagbaren? 5 3

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Vgl. Deß Hn. Thevenot Reysen in Ost-Indien/ Dritter Teil/ in sich haltend Eine genaue Beschreibung des Königreichs Indostan, der neuen Mogols und anderer Völcker und Länder in Ost-Indien. […]. Frankfurt am Main 1693, S. 152; Wurffbain, Johann Sigmund: Reisen nach den Molukken und Vorder-Indien (1632-1646), hrsg. von Meyjes, R. Posthumus. Bd. 2. Den Haag 1931 (= Reisebeschreibungen von Deutschen Beamten und Kriegsleuten im Dienste der Niederländischen West- und Ost-indischen Kompagnien 1602-1797 9), S. 177; zum modernen Grenzbegriff: Eigmüller, Monika: Subversionen an Staatsgrenzen – eine Einleitung. In: Comparativ 18 (2008), S. 13-22. Vgl. Osterhammel, Jürgen: Kulturelle Grenzen in der Expansion Europas. In: Saeculum 46 (1995), S. 101-138, hier: S. 118. Vgl. Landwehr, Achim: Geschichte des Sagbaren. Einführung in die Historische Diskursanalyse. Tübingen 2004; Epple, Angelika: Historiographiegeschichte als Diskursanalyse und

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Das Medium dieser Konstruktion der kulturellen Grenzen in Indien durch die Jesuiten im europäischen, vor allem deutschsprachigen Diskurs war der Neue Welt-Bott, ein Projekt des Paters Joseph Stöcklein. Diese Sammlung von Jesuitenbriefen aus aller Welt erschien von 1726 bis 1761. Stöcklein übersetzte sowohl Teile der französischen Lettres édifiantes et curieuses, ergänzte diese Sammlung aber auch durch weitere Briefe, die er zusammenfasste, kürzte und übersetzte. Sein Projekt war ein erfolgreiches Unternehmen, denn der Neue Welt-Bott hielt sich ohne fremde Finanzierungshilfe 35 Jahre lang und fand über das katholische Europa hinaus Leser. 6 Hier soll diese Quelle genutzt werden, um die deutsche Geschichte als Beziehungsgeschichte zu schreiben, d.h. für ein Verständnis der deutschen und europäischen Geschichte muss ihre Einbettung in globale Prozesse, Wissens- und Wahrnehmungsströme berücksichtigt werden. 7 Das Wissen um verschiedenste Kulturkontakte, ihre Darstellungen und Bewertungen waren Teil des deutschsprachigen Diskurses, veränderten ihn und eröffneten auch transkulturelle Perspektiven. Denn im Diskurs werden nicht nur Grenzen behandelt und errichtet, die die zu Grunde gelegten Identitäten stabilisieren mögen, es werden auch Grenzen überschritten und daher Identitäten zugleich in Frage gestellt. 8 Die französischen Jesuiten, deren Briefe die Quellen der folgenden Untersuchung sind, waren an der Wende zum 18. Jahrhundert nach Südindien, genauer nach Pondicherry, gekommen und hatten die Karnatische Mission ge-

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Analytik der Macht. Eine Neubestimmung der Geschichtsschreibung unter den Bedingungen der Geschlechtergeschichte. In: L’Homme 15 (2004), S. 77-97. Vgl. dazu Dürr, Renate: Der „Neue Welt-Bott“ als Markt der Informationen? Wissenstransfer als Moment jesuitischer Identitätsbildung. In: Zeitschrift für Historische Forschung 34 (2007), S. 441-466. Vgl. Conrad, Sebastian/Randeria, Shalini (Hrsg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in der Geschichts- und Kulturwissenschaft. Frankfurt/New York 2002; Juneja-Huneke, Monica: Verwobene Geschichte oder: Was hat das Fremde mit der eigenen Geschichte zu tun? In: Alavi, Bettina (Hrsg.): Migration und Fremdverstehen. Geschichtsunterricht und Geschichtskultur in der multiethnischen Gesellschaft. Idstein 2004 (= Schriften zur Geschichtsdidaktik 16), S. 193-206; Juneja, Monica: Debatte zum „Postkolonialismus“ aus Anlass des Sammelbandes Jenseits des Eurozentrismus von Sebastian Conrad und Shalini Randeria. In: WerkstattGeschichte 34 (2003), S. 88-96. Kollektive Identität wird zum einen im Sinne Jan Assmanns verstanden, zum anderen aber auch als situative Konstruktionsleistung begriffen, vgl. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1997; Rahden, Till van: Weder Milieu noch Konfession. Die situative Ethnizität der deutschen Juden im Kaiserreich in vergleichender Perspektive. In: Blaschke, Olaf/Kuhlemann, Frank-Michael (Hrsg.): Religion im Kaiserreich. Milieus – Mentalitäten – Krisen. Gütersloh 1996 (= Religiöse Kulturen der Moderne 2), S. 409-434; Dartmann, Christoph/Meyer, Carla: Einleitung. In: dies. (Hrsg.): Identität und Krise? Zur Deutung vormoderner Selbst-, Welt- und Fremderfahrung. Münster 2007 (= Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 17), S. 9-22.

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Frontispiz zu: Der Neue Welt-Bott, Bd. 1 (Augsburg/Graz 1726)

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gründet. 9 Vergegenwärtigt man sich die Machtverhältnisse im frühneuzeitlichen Indien, darf man sich nicht vom übermächtigen kolonialen Indienbild eines vor allem von den Engländern beherrschten Subkontinents täuschen lassen. Bis zum Tode Aurangzebs im Jahre 1707 war die Vorherrschaft des islamischen Mogulreichs auf dem Subkontinent fast unumstritten. Im Süden, dem Bereich der hier untersuchten Karnatischen Mission, hatte Aurangzeb im Laufe des 17. Jahrhunderts die Dekkan-Sultanate erobert. Da das Mogulreich zu diesem Zeitpunkt schon fast zu sehr expandiert war, gelang die Integration der neu eroberten Gebiete nur bedingt. Dennoch sind Beschreibungen dieser Region als sehr chaotisch nur im Vergleich mit dem gut organisierten Mogulreich haltbar. 10 Die französischen Jesuiten, die im Mittelpunkt dieser Untersuchung stehen, waren im Auftrag des französischen Königs Ludwig XIV. an den siamesischen Hof gesandt worden. Diese diplomatische Mission mussten sie wegen politischer Veränderungen in Siam abbrechen. Auf dem Rückweg über Pondicherry beschlossen die Patres in Südindien zu bleiben, um dort zu missionieren. Die französische Monarchie hatte sich erst relativ spät zu einer Beteiligung am Welthandel entschieden, vor allem Colbert sah seine große Bedeutung als Quelle für die Staatsfinanzierung. 1664 wurde eine Aktiengesellschaft mit Monopolprivileg gegründet; 1668 erreichte François Martin mit einer französischen Flotte Surat, die bedeutendste westindische Hafenstadt, und errichtete dort eine Faktorei. 11 Diese Faktorei diente als Eingang in das mächtige Mogulreich; doch abgesehen davon, dass Surat gegen Ende des 17. Jahrhunderts immer wieder von den Marathen bedroht und also ein unsicherer Standort war, strebten die Franzosen wie ihre europäischen Vorläufer einen Stützpunkt an, über den sie die territoriale Oberherrschaft hatten. 1672 kauften sie dafür das Dorf Pondicherry vom Sultanat Bijapur. 12 Der Ausbau des Dorfes zum Zentrum französischer Präsenz in Indien wurde gestoppt, als es 9

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1696 erhielten sie ein königliches Patent mit dem eine französische Jesuitenmission etabliert wurde, vgl. Ferroli, Domenico: The Jesuits in Malabar. Bd. 2. Bangalore 1951, S. 425429. Als Chaos schätzt Stephen Neill die Situation ein; vgl. ders.: A History of Christianity in India. 1707-1858. Cambridge 1985, S. 92. Zu den politischen Verhältnissen der Karnatik vgl. Richards, John F.: The Hyderabad Karnatik. 1687-1707. In: Modern Asian Studies 9 (1975), S. 241-260; Bayly, Susan: Saints, Goddesses, and Kings. Muslims and Christians in South Indian Society. 1700-1900. Cambridge 1992 (= Cambridge South Asian Studies 43), S. 141-215. Vgl. Nagel, Jürgen G.: Abenteuer Fernhandel. Die Ostindienkompanien. Darmstadt 2007, S. 127-129; Rothermund, Dietmar (Hrsg.): Indien. Kultur, Geschichte, Politik, Wirtschaft, Umwelt. Ein Handbuch. München 1995, S. 242-243; Ray, Aniruddha: The Merchant and the State. The French in India, 1666-1739. Neu Delhi 2004. Dieses Sultanat wurde nur wenige Jahre später, 1686, vom Mogul Aurangzeb erobert, der aber den französischen Erwerb Pondicherrys nicht antastete.

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1693 von den Niederländern erobert und erst mit dem Frieden von Rijswijk an Frankreich zurückgegeben wurde. Um die Jahrhundertwende war die Französische Handelskompagnie unter François Martin dabei, ihre Herrschaft in Pondicherry wieder zu stabilisieren, stellte aber noch keinen in das Hinterland wirkenden Machtfaktor dar. Daher ist fraglich, ob sie als Schutzherrin für die Karnatische Mission auftreten konnte. 13 Im ersten Band des Neuen Welt-Botts werden die Französische Handelskompanie und ihre Institutionen in Südindien bezeichnenderweise kaum genannt. 14 Die Jesuitengruppe um Guy Tachard (1651-1712) entschloss sich bei ihrer Missionstätigkeit der Akkommodationsstrategie zu folgen, wie sie der italienische Adlige Roberto de Nobili um 1600 entwickelt hatte, ähnlich wie dies für die Mission in Japan und China getan worden war. Danach sollten die Konvertiten nicht mehr aus ihrem sozialen Umfeld gelöst werden, sondern man beließ ihnen wichtige äußere Kennzeichen und Riten ihrer Religion, und teilweise wurden auch christliche Riten an die regionalen Normen angepasst. 15 Noch augenfälliger war, dass diese Missionare sich selbst dem Aussehen und dem Lebenswandel der einheimischen geistlichen Spezialisten anglichen. Auf diese Weise sollte das Christentum den einheimischen Eliten in einer kulturell akzeptierbaren Form präsentiert werden. 16 Der Begriff der Akkommodation bezeichnet in diesem Kontext also eine spezifisch jesuitische Missionierungsmethode und nicht einen Typ des Umgangs mit dem Fremden. Was damit gemeint ist, ist aber nicht eindeutig definiert, wie Michael Müller herausstellte: Es gab nicht die eine, global gleiche jesuitische Akkommodation an und für sich, „sondern eine situationsgemäße, den geographischen, ethnographischen, kulturellen und politischen Bedingungen vor Ort Rechnung tragen-

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Vgl. Kalapura, Jose: India and East-West Interaction. The Jesuit Contribution, 16-18th centuries. (URL: ceaa.colmex.mx/aladaa/imagesmemoria/josekalapura.pdf [letzter Zugriff: 12.04. 2010]), S. 4. Pierre Martin schrieb 1699, Pondicherry sei fünf Jahre lang niederländisch beherrscht gewesen, jetzt solle die französische Ostindienkompanie aber zurückgekehrt sein; Martin. In: Stöcklein 1726 (wie Anm.1), Nr. 58, S. 98. Vgl. zu Roberto de Nobili: Cunha, João Telles e: Socio-Cultural Aspects of the Catholic Missionary Works in India (16th and Early 17th Century). In: Mathew, Skaria Kuzhippallil (Hrsg.): The Portuguese and the socio-cultural Changes in India. 1500-1800. Pondicherry 2001, S. 237-268, hier S. 248-265; Gründer, Horst: Welteroberung und Christentum. Ein Handbuch zur Geschichte der Neuzeit. Gütersloh 1992, S. 285-290; Županov, Ines/Hsia, Ronni Po-chia: Reception of Hinduism and Buddhism. In: Hsia, Ronni Po-chia (Hrsg.): The Cambridge History of Christianity. Bd. 6: Reform and Expansion 1500-1660. Cambridge 2007, S. 577-597, hier: S. 582. Vgl. Lederle, Julia: Transfer zwischen Asien und Europa? Die Rolle von Indienmissionaren in der Frühen Neuzeit. In: Bauerkämper, Arnd (Hrsg.): Die Welt erfahren. Reisen als kulturelle Begegnung von 1780 bis heute. Frankfurt am Main 2004, S. 171-190, hier S. 175.

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de Flexibilität“. 17 Daher muss jede akkommodierende Mission in ihrer regionalen Spezifizität untersucht werden, statt von einem festen vorgegebenen Muster auszugehen. Darüber hinaus muss das Konzept der Akkommodation als jesuitische Missionsstrategie ausgeweitet werden. Es kann eine Akkommodation im engeren und im weiteren Sinne unterschieden werden. Im weiteren Sinne gehörte die Anpassung an die kulturellen Hintergründe der Zielgruppe von Anfang an zum Programm des Jesuitenordens. Der Ordensgründer Ignatius hatte solches hinsichtlich der Eliten gefordert. 18 Franz Xaver hatte in Indien bereits vor de Nobili einen Katholizismus gepredigt, der auf die kulturellen und sozialen Bedürfnisse der Paraver, der Bewohner der Fischerküste, zugeschnitten war. 19 Und auch für den europäischen Kontext, vor allem das jesuitische Wirken im Rahmen der katholischen Konfessionalisierung, wird der Begriff der Akkommodation angewandt. 20 Mit der Akkommodation im engeren Sinne sind die Missionsstrategien in Asien gemeint, die im Ritenstreit zu Beginn und dann erneut Mitte des 18. Jahrhunderts verboten wurden. 21 Bekannt sind in diesem Kontext vor allem die Jesuiten am chinesischen Kaiserhof. Roberto de Nobili und die Madura-Mission in Südindien erfreuen sich hingegen einer geringeren Prominenz; noch weniger beachtet wird aber, dass die Akkommodationsstrategie in Indien bis ins 18. Jahrhundert hinein Bestand hatte und durch die französische Karnatische Mission sogar weitere Mitstreiter erhielt. 22 17

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Vgl. Müller, Michael: Eine „deutsche Elite“ im Zeichen des Kreuzes. Zentraleuropäische Jesuitenmissionare in Ibero-Amerika im 17./18. Jahrhundert. In: Denzel, Markus (Hrsg.): Deutsche Eliten in Übersee (16. bis frühes 20. Jahrhundert). Büdinger Forschungen zur Sozialgeschichte 2004 und 2005. St. Katharinen 2006 (= Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit 27), S. 139-172, hier S. 170. Vgl. Lederle 2004 (wie Anm. 16), S. 174. Vgl. Županov, Ines: Missionary Tropics. The Catholic Frontier in India (16th-17th century). Michigan 2005, S. 15; Zu Franz Xaver bei den Paravern vgl. immer noch Schurhammer, Georg: Die Bekehrung der Paraver (1535-1537). In: Archivum Historicum Societatis Jesu 4 (1935), S. 201-233. Es gab bereits unter Franz Xaver so genannte Kastenkirchen, die die soziale Distinktion der indischen Gesellschaft widerspiegelten, vgl. Borges, Charles J.: Dealing with the Socio-Cultural Environment in Goa. The Jesuits of the 16th and 18th century. In: Mathew 2001 (wie Anm. 15), S. 373-400, hier S. 381. Alexander Jendorf spricht von einem „Akkommodationszwang“, wenn Jesuiten enger mit der ländlichen Bevölkerung im Alten Reich zusammenarbeiteten; vgl. Jendorf, Alexander: Römischer Katholizismus als Kulturtransfersystem. Die Gesellschaft Jesu und die Implementierung tridentinischer Religionskultur. In: Trakulhun, Sven/Fuchs, Thomas (Hrsg.): Das eine Europa und die Vielfalt der Kulturen. Beiträge zur Kulturtransferforschung in Europa 1500-1850. Berlin 2003 (= Aufklärung und Europa 12), S. 109-135, hier S. 126f. Dies geschah durch das Breve Deus optimus maximus (1704) sowie durch die päpstlichen Bullen Ex quo singulari (1742) und Omnium solicitudinum (1744). So schreibt Horst Gründer, die Akkommodation sei in Indien schon 1623 verboten worden; vgl. Gründer 1992 (wie Anm. 15), S. 290.

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Die Darstellung der akkommodierenden Mission im Neuen Welt-Bott Im Neuen Welt-Bott wird die Akkommodation nicht als solche bezeichnet oder in eine Typologie von Missionsmethoden eingeordnet. Eher indirekt erfährt man, dass es um 1700 in Südindien verschiedene Formen der Anpassung an den Wirkungskontext gab, so beispielsweise durch das eingangs geschilderte Aufeinandertreffen der beiden Jesuiten oder in einem späteren Brief Guy Tachards aus dem Jahre 1703, worin er zwischen den Patres, die in den europäischen Stützpunkten wirkten, und denen, die im engeren Sinne im von regionalen Herrschern regierten Binnenland missionierten, unterschied. 23 In zwei Briefen wird eher beiläufig erwähnt, wie und weshalb die französischen Jesuiten die Methode de Nobilis für die Karnatische Mission übernahmen: Um 1700 berichtete P. Mauduit darüber, dass die französischen Jesuiten im Reich Madura eine neue Missionsstation gründen wollten; 1708 reflektierte Pierre Martin rückblickend über die Anfangszeit der portugiesischen Mission in diesem Teil Indiens, 24 er erläuterte, wie die Missionserfolge im Laufe des 16. Jahrhunderts nachließen oder sich doch auf diejenigen beschränkten, die sich Schutz vor lokalen Herrschern erhofften, mit Waffengewalt gezwungen worden seien, oder auf Menschen, die außerhalb der einheimischen Gesellschaft standen. Diese Konversionen hätten das Ansehen der Portugiesen und des christlichen Glaubens beschädigt. 25 Der wichtigste Hinderungsgrund läge nicht in der christlichen Lehre, sondern in dem allgemeinen Abscheu, den die meisten Inder vor den Europäern hätten, und in dem Glauben, wenn man sich taufen ließe, würde man auch zum Europäer. 26 Die Missionare versuch-

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Tachard, Guy. In: Stöcklein 1726 (wie Anm. 1), Nr. 95, S. 106. Im Königreich Madura oder Madurai lag auch die berühmte Madura-Station, die de Nobili gegründet hatte, Mauduit. In: Stöcklein 1726 (wie Anm. 1), Nr. 59, S. 101-103; sowie Martin. Ebd., Nr. 73, S. 40-53. Martin. In: Stöcklein 1726 (wie Anm. 1), Nr. 73, S. 43. François Martin, der erste französische Gouverneur in Pondicherry, schrieb, dass nur wenige das harte Leben in der Mission länger ertragen könnten; vgl. Martin, François: India in the 17th century (social, economic and political). Memoirs of François Martin (1670-1694). Bd. 2/2, Neu Delhi 1985, S. 1495. Der Begriff der „Heyden“ wird von Pierre Martin genutzt, um die nicht-islamische Bevölkerung zu beschreiben. Begriffe der heute in Indien verbreiteten Religion sind nur schwierig auf die frühneuzeitliche Verhältnisse anzuwenden. Zum einen, weil die Europäer die religiösen Gruppen Indiens sehr verschieden differenzierten und typologisierten, zum anderen weil die heute gebräuchlichen Begriffe (Hinduismus, Jainismus etc.) nach Ergebnissen der postkolonialen Forschung erst im Rahmen des europäischen Orientalismus geschaffen wurden. Vgl. dazu auch die zeitnahe Beschreibung bei Guerreiro, Fernão: Indianische Relation was sich in den Königreichen Pegu/ Bengala/ Bißnaga/ vnd etlich andern Ländern […]/ von

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ten gegen das schlechte Europäerbild anzupredigen, aber bald wurde ihnen klar, dass sie „denen Europäischen Sitten absagen“ müssten, damit niemand sie verdächtige Europäer zu sein. 27 Roberto de Nobili habe daraufhin eingeführt, „daß die Unserigen, weil die Europäer allhier verhasst und verachtet sind, sich in

der Kleidung, Nahrung, Sitten und in allen übrigen Sachen/ so viel es der christliche Glaub zulässt, fürhin sollten aufführen, wie die Indianische Brachmänner und Sanias oder Heydnische Ordens-Geistliche, folgends sich nicht mehr für Europäer ausgeben dörfften“. 28

Die Erfahrung habe bald gezeigt, dass das Konzept für die Mission der „Heyden“ und vor allem ihrer Eliten sehr wichtig war. 29 In seinem Brief zeichnete Martin auch erstaunlich ausführlich nach, wer sich in Rom für diese neue Strategie einsetzte und wie sie durch ihre Erfolge gerechtfertigt wurde. Damit stellten sich die französischen Jesuiten um 1700 in diese etwa 100 Jahre alte portugiesische Tradition. P. Mauduit schrieb ausdrücklich, mit ihrer neuen Mission folgten sie „auf den Fuß derjenigen […] auß Portugal“. 30 Zum anderen sind sie früh auf Kritik gestoßen und wollten diese wohl prophylaktisch abwehren. Immer wieder erklärten und begründeten sie, weshalb sie sich für die Akkommodation entschieden hatten. Die angehenden französischen Missionare der Karnatischen Mission lernten nach der Methode de Nobilis, teils gingen sie sogar nach Madura in die von diesem errichtete Missionsstation und lernten an Ort und Stelle selbst zunächst die jeweiligen Sprachen, damit sich niemand als Europäer verraten könne und „hiedurch aber alles verderben würde“. 31 Pierre Martin lernte beispielsweise das „Tamulische“ und das „Malabarische“, und erst nachdem er sich diese Sprachkompetenz angeeignet hatte, „war ich im Stand mich zu verkleyden“ und wurde zu einer „berühmten hohen Schul unter die Brachmänner“ geschickt. Denn da die Jesuiten erst „eine gar unvollkommene Kundschaft [von deren Glauben und Lehre] besassen“, sollte er diese zwei bis drei Jahre dort gründlich studieren. 32 Mit dieser sprachlichen und theologischen Kompetenz ausgerüstet, folgten die Jesuitenmissionare fortan der brahmanischen Lebensart: Sie kleideten sich wie diese, sie enthielten sich nicht nur des Weins und des Fleisches, sondern

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1604 vnd etlich volgenden Jahren/ wo wol in Geist: als Weltlichen Sachen zugetragen. Augsburg 1611, S. 68-70. Martin. In: Stöcklein 1726 (wie Anm. 1), Nr. 73, S. 44. Ebd., S. 42. Ebd. Mauduit. Ebd., Nr. 59, S. 101, ähnlich auch Tachard selbst im Jahre 1703, Tachard. Ebd., Nr. 94, S. 102. Martin. Ebd., Nr. 73, S. 45. Ebd., Nr. 58, S. 97.

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verzichteten auch auf Fisch, Eier und Brot, aßen nur Reis und Gemüse. 33 Diese Lebensweise und die Probleme und Entbehrungen, die damit verbunden waren, sind nahezu allgegenwärtig in den Briefen des Neuen Welt-Bott, und auch schon in seiner Vorrede hebt Stöcklein die strenge Lebensweise der Jesuiten in Indien hervor. 34 Kleidung, Sprache und Essen sind nicht zu unterschätzende soziale Praktiken der Identitätsversicherung. Mit der Veränderung dieser Lebensweisen überschritten die Jesuiten eine kulturelle Grenze und lösten sich von ihrem „Europäer-Sein“. Im Unterschied zur jesuitischen Akkommodation in anderen Weltregionen bedeutete dies im südindischen Kontext aber nicht nur eine Anpassung an die lokalen Bräuche und Normen, sondern eine Leugnung der eigenen europäischen Herkunft. Und die Bedeutung dieses Unterschieds darf nicht unterschätzt werden. Zudem war es auch nicht ihr eigenes Europäerbild, keine innereuropäische Selbstkritik alleine. Vielmehr mussten sich die Missionare auf die Deutungsmuster der sozial höher stehenden Inder einlassen, mussten sich deren Definitionsmacht und deren Grenzziehung unterwerfen. Ein nicht zu unterschätzender Nebeneffekt dieser Leugnung der europäischen Herkunft der Jesuiten war die Trennung ihrer Missionsbemühungen von einem damit verbundenen Zivilisationsauftrag im Sinne der europäischen Kultur. Die häufig unterstellte Trias Christianisierung – Europäisierung – Zivilisierung 35 war damit in der südindischen Akkommodation aufgespalten. Während in der Frühzeit der Portugiesen die Missionierung an der Malabarküste durchaus mit einer Latinisierung verbunden erfolgte und so das Patronage-System der portugiesischen Krone stützte, war die akkommodierende Missionsstrategie de Nobilis weniger direkt instrumentalisierbar. 36 Dies traf in ähnlicher Weise für die im südindischen Binnnenland tätigen Missionare der Karnatischen Mission zu.

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Ebd., S. 99. Ebd., Vorrede. Auch noch in der Allgemeinen Historien der Reisen, wo ein Teil der Briefe erneut abgedruckt wurde, wird die asketische Lebensweise betont und auch vom Herausgeber als notwendig oder doch sinnvoll für die Mission erachtet, und das zu einer Zeit, als die Jesuiten schon mit großen Problemen in Europa zu kämpfen hatten; vgl. Allgemeine Historien der Reisen zu Wasser und zu Lande […]. Bd. 11. Leipzig 1753, S. 321 und 328. Besonders explizit Kalapura 2009 (wie Anm. 13), S. 3: „In the contemporary understanding, evangelization meant transplantation of the European brand of Christianity along with its culture and value system“. Zu Nordamerika vgl. Post, Franz-Joseph: Schamanen und Missionare. Katholische Mission und indigene Spiritualität in Nouvelle-France. Münster 1997 (= Europa-Übersee 7), S. 81-90, der die Verweigerung einer Verbindung von Missionierung und Französisierung durch die Jesuiten nachweist. Richard van Dülmen räumt die Differenzen zwischen Missionaren und Eroberern ein, urteilt aber schließlich doch: „so war doch die Mission wesentlicher Bestandteil der Kolonisierung bzw. Europäisierung der Überseeländer“, Dülmen, Richard van: Entdeckung neuer Erdteile. Die europäische Expansion in der frühen Neuzeit. In: Francia 9 (1981), S. 215-235, hier S. 227. Entsprechend urteilen Županov/Hsia 2007 (wie Anm. 15), S. 583f.

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Die Bedeutung dieser Grenzüberschreitung für den Missionserfolg wurde im Neuen Welt-Bott immer wieder herausgestrichen. Zahlreiche Anekdoten illustrieren, wie einem Missionar vorgeworfen wurde, ein Pranky oder Europäer zu sein. Im besten Fall konnten sie diesen Vorwurf entkräften oder mussten lange daran arbeiten, ihr Ansehen und ihre Ehre wiederherzustellen, manchmal mussten sie den Ort auch ganz verlassen und den Missionsversuch abbrechen. 37 Gleichzeitig wurde mit den großen Missionserfolgen und in die tausende gehenden Taufzahlen der Erfolg dieser Strategie immer wieder betont, sie dadurch geradezu als unabdingbar postuliert. 38 Die Grenzziehungen zwischen Europäern und Indern und vor allem die ihr zugrunde liegende Verachtung und das Überlegenheitsgefühl der Inder musste einem europäischen Publikum vermittelt werden. Bereits Roberto de Nobili rechtfertigte die Anpassung der jesuitischen Missionare an die eher brahmanische als indische Kultur in einem theologischen Traktat mit der Trennung von religiösen Inhalten und sozialen Bräuchen. Diese Unterscheidung wurde in der Folgezeit auch von evangelischen Missionaren wie Philipp Baldaeus und Abraham Rogerius übernommen. 39 Der Neue Welt-Bott ging darauf nicht explizit ein, sondern reduzierte die Perspektive auf den europäisch-indischen Gegensatz. 40 Die in der jesuitischen Selbstdarstellung konstruierte Grenze zwischen den Indianern und Pranky lässt sich heuristisch in drei Aspekte unterteilen, die sich als moralisch, sozial und religiös-kultisch bezeichnen lassen. 1. Die am häufigsten beschriebene Grenze war die „moralische“. Bereits Mitte des 17. Jahrhunderts hatte der Jesuitenpater Johannes Grueber beklagt, 37

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Mauduit. In: Stöcklein 1726 (wie Anm. 1), Nr. 76, S. 68; Tachard. Ebd., Nr. 94, S. 105; Diaz. Ebd., Nr. 96, S. 108 u.ö. Trotz dieser Anekdote stellt sich die Frage, ob die Missionare nicht alleine durch die Hautfarbe auffielen. Deshalb gaben sich die Jesuiten wohl als Brahmanen aus dem Norden aus. Allerdings muss die multiethnische Zusammensetzung vieler indischer Städte, u.a. durch die Soldaten aus den Heeren des Mogulreichs, berücksichtigt werden. An wenigen Stellen wurde das Problem der Hautfarbe in den Briefen angesprochen, vgl. Martin. Ebd., Nr. 63, S. 113; Tachard. Ebd., Nr. 94, S. 105. Pater Laynez taufte beispielsweise 8000 Menschen und einen Fürsten; vgl. Stöcklein 1726 (wie Anm. 1), Nr. 57, S. 90; ähnlich Diaz. Ebd., Nr. 96, S.111: „daß kein Tag vorbey gegangen, da er nicht ihrer etliche, zuweilen auch vier bis fünff hundert getaufft“; ähnlich ebd., S. 110 u.ö. Vgl. Županov/Hsia 2007 (wie Anm. 15), S. 584. Auch Bartholomäus Ziegenbalg, der pietistische Missionar im dänischen Tranquebar, verstand beispielsweise die Kastentrennung ausdrücklich als ein soziales und nicht als ein religiöses Phänomen, vgl. Juneja-Huneke, Monica: Mission, Encounters and Transnational History. Reflections on the use of Concepts across Cultures. In: Gross, Andreas/Kumaradoss, Y. Vincent/Liebau, Heike (Hrsg.): Halle and the Beginning of Protestant Christianity in India. Bd. 3: Communication between India and Europe. Halle 2006, S. 1025-1045, hier S. 1037. Sie klingt etwas in einem von Franz Xaver überlieferten Gleichnis an; vgl. Martin. In: Stöcklein 1726 (wie Anm. 1), Nr. 73, S. 43.

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dass die schlechte Lebensweise der europäischen Christen in Asien den „christlichen Namen“ zugrunde richteten; 41 drastischer formulierte Pierre Martin: Die Inder hielten die Europäer für „ein liederliches/ schlechtes/ schandhafftes/ mit tausenderlei närrischen/ ungereimten/ und abscheulichen Gebräuchen beschmutztes Reißler-Gesind“. 42 Die Inder warfen den Europäern ihre „Raub- und Mordthaten“ vor, wichtiger waren aber ihre Wollüste, ihre „mancherley fleischliche Laster“ und ihr ganzes „ärgerliches Leben“, am schlimmsten sei aber der Alkoholkonsum und Fleischgenuss. Wer das tue, werde in Indien für „unehrlich“ gehalten! 43 Demgegenüber zeichnete Pierre Martin ein positives Gegenbild der Inder: Sie lebten maßvoll, trieben keinen Handel, sondern begnügten sich mit dem, was der Boden ihnen bot, also die Landwirtschaft produzierte. 44 Gerade in der Formulierung der „Unehrlichkeit“ findet eine interessante umdeutende Übersetzung statt: Im brahmanisch-indischen Kontext ging es weniger um Unehrlichkeit im europäischen Verständnis einer sozialen Distinktion, 45 sondern eher um Reinheit. 46 Reinheit war auch im europäischen und erst recht im katholischen Kontext von großer Bedeutung, bezog sich allerdings auf die kultische Reinheit des Priesters. 47 Die Trennung zwischen religiös-kultischen und sozialen Elementen wurde zwar nicht explizit im Neuen Welt-Bott erklärt, lag aber dem Denken der Briefschreiber zugrunde. Es liegt nahe, dass der Begriff der Reinheit hier absichtlich nicht übernommen wurde, um diese Trennung nicht zu konterkarieren. 2. Von großer Bedeutung war die Anerkennung der strikten sozialen Segregation der zu missionierenden Kultur: Die ersten Portugiesen oder auch die protestantischen Missionare in Tranquebar hatten Umgang mit „armen und schlechten“ Leuten, hatten sie sogar angestellt, mit ihnen gegessen, sie 41 42 43 44 45

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Grueber, Joseph. Ebd., Nr. 34, S. 113. Martin. Ebd., Nr. 73, S. 44. Ebd., Nr. 58, S. 99. Vgl. ebd. Vgl. Nowosadtko, Jutta: Die Ehre, die Unehre und das Staatsinteresse. Konzepte und Funktionen von ‚Unehrlichkeit‘ im historischen Wandel am Beispiel des Kurfürstentums Bayern. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 44 (1993), S. 362-381. Vgl. zur Bedeutung der Reinheit gerade auch im Kontext von Speisen: Michaels, Axel: Der Hinduismus. Geschichte und Gegenwart. München 1998, S. 199-207. Vgl. Angenendt, Arnold: „Mit reinen Händen“. Das Motiv der kultischen Reinheit in der abendländischen Askese In: Jenal, Georg (Hrsg.): Herrschaft, Kirche, Kultur. Beiträge des Mittelalters. Festschrift für Friedrich Prinz zu seinem 65. Geburtstag. Stuttgart 1993, S. 297-316; Ricoeur, Paul: Der Makel. In: ders.: Symbolik des Bösen. Phänomenologie der Schuld II. München 1988, S. 33-56; Susanna Burghartz versteht die Reformation als eine Auseinandersetzung um den wahren gesellschaftlichen Ort der Reinheit, vgl. dies.: Zeiten der Reinheit – Orte der Unzucht. Ehe und Sexualität in Basel während der frühen Neuzeit. Paderborn 1999.

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beherbergt „oder sie in unsere Häuser und Kirchen lassen eingehen“. 48 Dies hatte den Ruf der Europäer verdorben. Im brahmanischen Kontext ging es auch hier um die Verunreinigung durch sozial übergreifenden Kontakt, 49 und wieder wird dieser kultische Aspekt sozial umgedeutet. Ein heidnischer Adliger war von der Idee des Christentums überzeugt worden, hätte sich eigentlich bekehrt, konnte jedoch seinen Abscheu vor den Europäern und den Niedriger-Kastigen nicht verhehlen. Da schickte ihn Pater Martin nach Madura, wo „er adeliche Sanias oder Christliche Ordens-Leute antreffen würde, welche gleich ihm von höheren Zünften oder Casten ersprossen wären, von denen er auch ohne Nachtheil seiner Ehre könnte getaufft werden“. 50 Die Notwendigkeit, diese strikte soziale Distinktion oder sogar Segregation in der täglichen Arbeit der Missionare zu beachten, wurde in vielen weiteren Anekdoten illustriert. Da die Missionare nicht nur aus der ständisch geordneten europäischen Gesellschaft kamen, sondern oft auch selber dem Adel oder doch höheren sozialen Schichten angehörten, war soziale Distinktion ihnen vertraut, wenn auch vielleicht nicht in der Drastik, wie sie in Südindien praktiziert wurde. 51 Entsprechend wurden Katecheten für jede Kaste ausgebildet. Denn, wie Mauduit betonte: „Wer diese Ordnung wolte umstoßen, würde hier zu Lande alles über den Hauffen werfen“. 52 Das Hauptziel der Mission waren die Eliten, auf sie wurde das vorrangige Augenmerk gerichtet. Mit deren Auffassung von der richtigen Gesellschaftsordnung übernahmen die Jesuiten die Weltdeutungsmuster der einheimischen Eliten und vernachlässigten bewusst – wenn auch bedauernd – die Interessen und das Seelenheil der niedrigeren sozialen Gruppen. Als Pierre Martin bei seiner Reise durch ein Paria-Dorf kam, bemerkte er, wie traurig es sei, dass es nicht genügend Katecheten gebe, auch hier zu missionieren. Die Problematik zeigt sich an seiner anschließenden Bemerkung: „allein ihre Seelen sind eben so kostbar vor GOTT, als andere von höhern Casten“. 53 Die Akkommodation in Indien bedeutete also auch eine Orientierung an den Vorstellungen der dortigen Eliten von drastischen sozialen Ungleichheiten. 54 Damit erhält auch die Konstruktion der hier untersuchten Grenzen eine weitere Dimension. Die Briefe 48 49 50 51

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Czech, Friedrich. In: Stöcklein 1726 (wie Anm. 1), Nr. 62, S. 102. Vgl. Michaels 1998 (wie Anm. 46), S. 195-197. Martin. In: Stöcklein 1726 (wie Anm. 1), Nr. 73, S. 48. Pierre Martin betonte die adligen Herkunft de Nobilis, „dann er war ein Enckel Pabsts Marcelli des andern/ und des Cardinals Roberti Bellarmini“; ebd., Nr. 73, S. 44. Von de Nobili selbst ist überliefert, dass er mit Bezug auf seine adlige italienische Herkunft darauf bestand, selber ein born Raja zu sein; vgl. dazu auch Borges 2001 (wie Anm. 20), S. 381. Mauduit. In: Stöcklein 1726 (wie Anm. 1), Nr. 76, S. 64. Martin. In: Stöcklein 1726 (wie Anm. 1), Nr. 78, S 75. Diese Konsequenz scheint bei dem Lob für diese frühe Bemühung to provincialise European Christianity manchmal übersehen zu werden; vgl. beispielsweise Županov/Hsia 2007 (wie Anm. 15), S. 583.

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im Neuen Welt-Bott vermittelten eine Grenze zwischen Europäern und Indern. In Anbetracht der Einhaltung der sozialen Grenze verschob sich aber deren Bedeutung. Die indischen Eliten grenzten sich auf dieser Ebene nicht von den Europäern als Europäer ab, sondern weil sie die Europäer den unteren Gruppen der eigenen Gesellschaftsordnung gleichsetzten. Diese kulturellen Grenzen wurden also sowohl zwischen den Kulturen wie in ihnen gezogen. 3. Der allgemeine Vorwurf der europäischen Unmoral findet sich häufig, auch die Problematik, die Regeln der sozialen Segregation einzuhalten, wird öfter im Neuen Welt-Bott erwähnt. 55 Die Möglichkeit, diese Probleme bzw. die dahinter liegenden Deutungsmuster religiös-kultisch zu verstehen, wird vermieden. Entsprechend sind ausführliche Darstellungen von eindeutig kultischen Praktiken, die das europäische vom indischen Leben abgrenzten, deutlich seltener. Eine der wenigen Ausnahmen stellt ein Brief von Pater Friedrich Czech dar. Er besuchte um 1700 die Fischerküste und zählte in seinem Bericht viele der Kritikpunkte und damit der kulturellen Grenzen auf, die die akkommodierend missionierenden Jesuiten seiner Meinung nach in Zukunft nicht mehr überschreiten durften: Das Essen mit der linken Hand, das Gebot, sich die Füße nach dem Essen zu waschen, die Abscheu vor toten Körpern. Die Problembeschreibungen zeigen auch, wie in diesem Kulturkontakt verschiedene Formen der soziale Respektbezeugung aufeinander trafen und für Konflikte sorgten: So wurde den Europäern vorgeworfen, sie zögen ihre Schuhe nicht aus, bevor sie ein Haus oder eine Kirche beträten, entblößten aber unhöflicherweise ihren Kopf in der Gegenwart vornehmer Personen. 56 Pater Fischer ging aber auch ausführlich auf Aspekte ein, die ins Kultische oder Spirituelle hinüberreichen: Die Notwendigkeit, die Fußböden mit Kuhmist zu überstreichen und Stirn, Brust und Arme mit Asche „zierlich“ zu bemalen. 57 Je klarer Grenzen als religiös oder kultisch verstanden werden mussten, desto schwerer war es, sie zu überschreiten. Noch schwieriger wurde es aber, wenn die Übernahme kultureller Grenzen zu Problemen im christlichkatholischen Kult führte. Auch dies wurde in den veröffentlichten Briefen meist ausgeklammert. Pierre Martin beschrieb einmal die Mühen und Probleme, unter den Bedingungen der „indianischen Diät“ Wein für die Eucha-

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In anderen Texten zu den Religionen in Indien stellte sich das etwas anders dar, beispielsweise in den entsprechenden Passagen der China Illustrata von Athanasius Kircher (Amsterdam 1667), oder bei protestantischen Kompilationen wie Baldaeus, Philippus: Wahrhaftige Ausführliche Beschreibung Der Berühmten Ost-Indischen Küsten Malabar und Coromandel, Als auch der Insel Zeylon […]. Amsterdam 1672; Ross, Alexander: Unterschiedliche Gottesdienste in der ganzen Welt […]. Beschreibung aller bewusten Religion, Secten und Ketzereyen, so in Asia, Africa, America und Europa von […] Welt. Heidelberg 1674. Vgl. Czech. In: Stöcklein 1726 (wie Anm. 1), Nr. 62, S. 106. Ebd.

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ristie und Mehl für die Hostien zu bekommen und zu verwenden. 58 Und in einem eher zusammenfassenden Bericht der Ereignisse erwähnte Guy Tachard, dass ein Mitbruder von einem Brahmanen verleumdet worden sei, „daß er bey dem Heil. Meß-Opffer sich des Weins bediene“. 59 Bezeichnenderweise berichtete Tachard nichts darüber, wie sich Pater Fontaine aus dieser Situation herausgeredet hatte. Doch diese Problematik wurde in den im Welt-Bott veröffentlichten Texten kaum angesprochen, hier wurde vielmehr immer wieder das schlechte Europäerbild herangezogen, das die Jesuiten geradezu gezwungen habe, diese Grenzen zu überschreiten. An dieser Stelle sei auch betont, dass die Jesuiten hinsichtlich der hier beschriebenen Grenzen alles andere als ständige Grenzgänger sein konnten. Im Gegenteil übernahmen sie die Grenzkonstruktionen ihrer Umgebung und akzeptierten sie danach, um ihre Mission nicht zu gefährden. Außerdem zeigte die Untersuchung der Grenze, dass diese mehrdeutig war. Sie bezeichnete einerseits durchaus den Unterschied zwischen der europäischen und der indischen Lebensweise, wurde aber auch zu einer innerindischen Grenze, die noch weniger überschritten werden durfte, wollten die Missionare von der brahmanischen Elite anerkannt werden. Welche Relevanz wurde nun diesen drei Arten von Grenzen in der Darstellung der von Stöcklein veröffentlichten Texte zugeschrieben? Theologische Probleme, die sich aus der Grenzüberschreitung ergeben konnten, sind nur in wenigen Andeutungen zu finden. Ob hier Grenzüberschreitungen stattfanden, wurde eher verschleiert. Das Einhalten der sozialen Segregation der Gastkultur mag ein gewisses Unbehagen ausgelöst haben, doch innerhalb der ständischen Gesellschaft und mit Blick darauf, wie viele dieser Missionare ja dem europäischen Adel angehörten, wird diese heute mit dem Christentum schwer zu vereinbarende strikte soziale Segregation selten kritisiert worden sein. Diese Grenze wurde von den Jesuiten akzeptiert, Grenzüberschreitungen hätten das Missionsvorhaben maßgeblich eingeschränkt. Hinsichtlich der als moralisch bezeichneten Grenze waren die akkommodierenden Missionare Grenzgänger, da sie sich von der europäischen Lebensweise distanzierten. Sie überschritten diese (angeblich) von den Südindern konstruierte Grenze einmal und hielten sich dann strikt an sie. Dies stellte kaum ein Problem dar, denn diese Grenze definierte ein asketisches Ideal, das dem christlichen glich. Das heißt, für die Jesuiten stellte es kein Problem dar sich darauf einzulassen, eher erscheint es als Möglichkeit eines lebenslangen Büßens und damit als eine Akkumulation jenseitigen Heils, die nur noch wenig unter dem erstrebenswerten Märtyrertod angesiedelt war. Dazu kommt, dass diese allgemeine Form des Vorwurfs moralischen Verfalls – der gute Heide gegenüber dem 58 59

Vgl. Martin. Ebd., Nr. 58, S. 99. Tachard. Ebd., Nr. 95, S. 106.

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verdorbenen Christen – an Narrative der didaktischen Predigt anknüpft, die allgemein bekannt waren. Und darüber hinaus passt sich dieser Vorwurf gut in die Geschichtsdeutung ein, die Portugiesen würden wegen ihres moralischen Verfalls immer weiter von den Falschgläubigen, also vor allem den Niederländern, zurückgedrängt.

Sagbare und unsagbare Grenzüberschreitungen Die in den Jesuitenbriefen postulierte sozio-kulturelle Grenze zwischen Indianern und Pranky konnte, wie im ersten Teil dieses Aufsatzes gezeigt wurde, überschritten werden. Keine Probleme gab es bei der als moralisch bezeichneten Ebene. Die Missionare tauchten in einer vielleicht extremen Art und Weise in die asketischen Normen der zu missionierenden Kultur ein. Diese Grenzüberschreitungen waren sagbar, und man ging davon aus, dass sowohl die Ordensoberen als auch ein weiterer Leserkreis in Europa sie akzeptieren könnten. Auch die Regeln der sozialen Segregation konnten die Europäer akzeptieren. Im zweiten Teil des Beitrags wird jetzt genauer nach den Grenzen gefragt, die eindeutiger als religiös-kultische markiert wurden. Konnten diese auch überschritten werden? Konnten aus solchen Grenzüberschreitungen transkulturelle Formationen oder Praktiken entstehen? Um diese Fragen zu beantworten, soll zunächst nach Spuren transkultureller oder transkultischer christlich-katholischer Praktiken gefragt werden, diese sollen dann mit Beschreibungen der Stabilisierung religiöser Grenzen und der interreligiösen Konflikte kontrastiert werden.

Grenzüberschreitung oder Schaffung eines transkulturellen Christentums? Schon von ihren zeitgenössischen Gegnern wurden den Jesuiten immer wieder heterodoxe Grenzüberschreitungen vorgeworfen. Roberto de Nobili war bereits vorgeworfen worden, ein Heide und Brahmane geworden zu sein. 60 Die Akkommodationsstrategie der Jesuiten in Indien und China polarisierte die katholische Öffentlichkeit im ganzen 17. Jahrhundert, im 18. Jahrhundert kulminierten die Spannungen zwischen Hochpreisung und Verteufelung dieser Praxis im Ritenstreit. 61 In dieser Missionsform gab es Aspekte, die aus Sicht der christlichen wie der katholischen Theologie problematisch sein 60

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Zur frühen Kritik an de Nobili vgl. z.B. Županov, Ines: Aristocratic analogies and demotic descriptions in the seventeenth century Madurai Mission. In: Representations 41 (1993), S. 123-148. Vgl. Županov/Hsia 2007 (wie Anm. 15), S. 583.

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mussten und die langfristig zu ihrem Verbot führten, wie es 1744 mit der Bulle Omnium solicitudinum geschah. 62 Viele Kritikpunkte gegenüber der französischen Jesuitenmission in Südindien wurden vom italienischen Reisenden Nicolo Manucci verbreitet: Neben allgemeinen Vorwürfen, die Jesuiten beherrschten durch ihre Intrigen die Welt und die Höfe, 63 wirft ihnen Manucci ihre Akkommodationsstrategie vor, die er als dogmatisch deviante Transgression darstellt. Besonders eindrucksvoll ist eine Anekdote, in der sich drei Soldaten in eine Messe einschlichen, die die Jesuiten in Pondicherry speziell für die neu bekehrten Christen abhielten. Dort beobachteten sie seltsame Rituale, wie sie sie in einer katholischen Kirche noch nie gesehen hätten. 64 Der gerade als Visitator in Pondicherry anwesende Abbé François de Saint-George ermahnte die Jesuiten entsprechend auch bei seiner Abreise sich an die Zeremonien der römischen Kirche zu halten. Doch Manucci beklagte, dass sich der Abbate generell zu wenig dafür interessierte, wie die Jesuiten sich an indische Zeremonien („ceremonials“) anpassten. 65 Hinweise darauf, was unter dieser Anpassung zu verstehen ist, kann der Leser von Manuccis Bericht im Weiteren lesen: Die Kapuziner warfen den Jesuiten die Integration heidnischer Praktiken in die katholische Religionsausübung vor. Sie würden den malabarischen Christen beispielsweise erlauben, sich mit heidnischen Zeichen zu bemalen und heidnische Idole an Ketten und Ohrringen zu tragen. Bei Hochzeiten würden die Jesuiten diese talis der Frauen mit den heidnischen Idolen sogar weihen. 66 Damit wurde ausgedrückt, dass sie diesen Synkretismus wissentlich unterstützten. Diese Quelle muss in ihrer polemischen Absicht verstanden werden. Ihre Aussagen können als Überspitzung begriffen werden, doch sie werden gestützt durch ein geistliches Edikt, das 1704 von dem Kardinal und Apostolischen Visitator im Fernen Osten, Charles-Thomas Maillard de Tournon in Pondicherry erlassen wurde. Dieses Edikt macht das Bewusstsein der römischen Visitatoren für die Problematik mancher jesuitischer Grenzüberschreitungen im kultischen Bereich sehr deutlich: Es verbot, bei der Taufe Sakramentalien wie Spucke und Atem wegzulassen, verbot den Gebrauch von Namen aus dem einheimischen Pantheon statt der römischen Martyrologien; es betonte, dass das Crucifix gezeigt werden musste und nicht in einer verfäl62

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Es gibt allerdings Forschungsmeinungen, die in diesem Verbot noch nicht das endgültige Ende der Praxis sehen; vgl. Raj, Selva J./Dempsey, Corinne G. (Hrsg.): Popular Christianity in India. Albany 2002, S. 17. Vgl. Manucci, Niccolò: Storia do Mogor or Mogul India. 1653-1708. Bd. 4. London 1908, S. 227. Ebd., S. 75f. Im Folgenden bezieht sich Manucci auf ähnliche Phänomene der Jesuitenmission in China; vgl. ebd., S. 78. Ebd. S. 79f. Ebd., S. 381f.

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schenden Art erklärt werden durfte; das Verbot für menstruierende Frauen zu beichten und die Kirche zu besuchen, wurde aufgehoben. 67 Der Schluss von normativen Texten auf soziale Wirklichkeit ist immer problematisch. Doch wäre solch ein Edikt kaum erlassen worden, wenn es nicht in der Tat die darin angesprochene Veränderung katholischer Riten und die angepasste Vermittlung von Lehrsätzen gegeben hätte. Diese angepassten Zeremonien, die die Soldaten in einer katholischen Kirche gesehen hatten oder gesehen haben wollten, und die Verfügungen des Ediktes von 1704 sprechen für die Entwicklung von transkultischen Elementen im Kontext der Akkommodationsstrategie. Diese Phänomene lagen in einer Grauzone, ihre Einordnung als Adiaphora oder Essentialia des katholischen Glaubens scheint diskutierbar gewesen zu sein. Sie stellten, wo sie zu Essentialia erklärt wurden, hohe Hürden für die Verbreitung des katholischen Christentums in einer brahmanischen Gesellschaft dar, erklärte man sie hingegen zu Adiaphora, förderte das die Entstehung transkultisch neuer Praktiken. Auf eine andere Art sieht die historisch arbeitende Ethnologin Susan Bayly die Mission der Jesuiten in die südindische Gesellschaft integriert. Sie legt dar, wie die Herrscher in Südindien die Jesuiten als „Christian guru“ in ihre Patronagesysteme eingliederten. Damit und mit der Unterstützung christlicher Kultzentren hätten sie ihren Anspruch auf Herrschaft in diesem Territorium visualisiert. Dadurch wurden die christlichen Zentren in ein Netzwerk religiöser und kultischer Orte eingereiht und verwandelten sich in etwas „that was no longer alien and unassimilable – no longer just the faith of the ‚parangi kulam‘“. Mit dieser Integration in die regionalen Herrschaftsgebilde erklärt Bayly auch die hohen Taufzahlen der Jesuiten, wie die 2000-3000 Kriegeradligen, die Johannes de Britto getauft haben soll. Diese seien aber nicht als passive Rezipienten eines christlichen Glaubens zu verstehen, vielmehr seien die Missionare selbst in die indische Kultur konvertiert worden. 68

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Das Edikt ist abgedruckt bei Ferroli, Domenico: The Jesuits in Mysore. Kozhikode 1955, S. 430f; zum Kontext auch Venard, Marc (Hrsg.): Das Zeitalter der Vernunft (1620/301750). Freiburg i.Br. 1998 (= Die Geschichte des Christentums. Religion – Politik – Kultur 9), S. 416f. Bei der Abreise Tournons aus Europa war das zugrunde liegende Dekret Cum Deus optimus (20.11.1704) zwar noch nicht veröffentlicht worden, doch Tournon kannte seinen Inhalt; vgl. Collani, Claudia von: Art. „Tournon, Charles-Thomas Maillard de“. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Bd. 12. Herzberg 1997, S. 374-377. Damit kann Bayly obendrein erklären, weshalb trotz der mehreren tausend getauften Christen schon eine Generation später kaum mehr jemand sich selbst als Christ verstand. Die Schreine seien zwar noch besucht worden, aber ebenso wie andere hinduistische Schreine und nicht mehr als christliche wahrgenommen; vgl. Bayly 1992 (wie Anm. 10), S. 396-398, Zitat S. 397.

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Grenzstabilisierung und Bekämpfung anderer Religionen Gibt es in der Selbstdarstellung der Jesuiten auch Hinweise darauf, dass sie sich an ihre indische Umgebung noch umfassender assimilierten? Wurden sie zu Brahmanen, wie man de Nobili vorgeworfen hatte? Oder entwickelten sich aus ihrer Missionstätigkeit gar transkultische Elemente? In den Briefen der Jesuiten selbst waren transkultische Elemente, die „Tropicalisation“ des südindischen Katholizismus, wie Ines Županov dieses Phänomen nennt, 69 nicht sagbar, erst recht nicht, als der römische Katholizismus aus Angst vor der Aufklärung wie dem Jansenismus immer konservativer wurde und in diesem Kontext die Diskussion um die Akkommodationsstrategie erneut aufwallte. 70 Die Jesuiten vermieden nahezu jeden Hinweis auf Rückwirkungen der Übernahme fremder Normen auf ihre katholische Kultpraxis. Pierre Martin zitierte in einem seiner Briefe den Missionsheiligen Franz Xaver, schon dieser habe sich beklagt, wie schwer es sei, die Inder zu missionieren: „dann die Indianer/ gleichwie alle andere Völcker betrachten nicht allein das Evangelium, sondern auch die Rinnen durch welches es zu ihnen fließt“. 71 Stöckleins Auswahl der Briefe und Berichte, die er im Neuen Welt-Bott veröffentlichte, wollte genau dieses Bild vermitteln: Die „Rinne“ habe sich angepasst, aber nicht der Inhalt, den die Missionare vermittelten. Das Europäisch-Sein wird demnach als Rinne verstanden, die europäische Kultur und europäische Lebensweisen sind die Adiaphora, die christliche Lehre dagegen erscheint eher als die Essenz. Denn die selbsternannten Brahmanen aus dem Norden verkündeten keine falschen Lehren, sondern „das Gesatz deß eintzigen wahren Gottes“. 72 Problembereiche wurden ausgeblendet und die religiöse Grenze in ihrer Selbstbeschreibung und vielleicht auch ihrem Selbstverständnis nicht überschritten. Doch auch in ihren Selbstbeschreibungen erzählten die Jesuiten nicht nur von Grenzüberschreitungen, die als verständnisvolles provincialising der christlich-katholischen Kultur verstanden werden können. So sehr sich die Missionare bemühten, den moralisch-sozialen Normen ihrer südindischen Umwelt zu genügen, so radikal und wenig umgänglich konnten sie werden, wenn es um andere, eindeutig heidnisch verstandene Glaubenspraxis ging. Und diese Schilderungen können nicht nur als Abwehr von Anklagen wegen unkonventionellen Verhaltens verstanden werden. Verschiedene Anekdoten in den veröffentlichten Briefen berichten von expliziten Angriffen auf Tempelstatuen während der Missionsreisen mancher Patres, dem Abhalten christlicher Riten in Tempeln, dem Aufhängen eines Kruzifixes vor dem verhängten Götzen69 70 71 72

Vgl. Županov 2005 (wie Anm. 19), hier S. 1-28 und S. 269-270. Diesen Zusammenhang stellt vor allem Lederle 2004 (wie Anm. 16), S. 176 her. Martin. In: Stöcklein 1726 (wie Anm. 1), Nr. 73, S. 43. Ebd., Nr. 58, S. 99.

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bild. Solch demonstratives Ausüben christlicher Praktiken und die Nichtbeachtung des gastgebenden Gottes und seines Ritus wurden nicht als Problem verstanden. Die Grenze zwischen transkulturellem Verständnis und interkultureller Grenzziehung entspricht also nicht immer der zwischen den Geistlichen, die im europäisch beherrschten Gebiet, und denen, die jenseits davon wirkten. 73 Nichtsdestotrotz war die strenge Abgrenzung gegenüber den indischen Riten und religiösen Praktiken in Pondicherry, also unter der französischen Herrschaft, noch viel stärker ausgeprägt. François Martin, der französische Generalgouverneur, machte sich 1699 große Sorgen, dass der Erfolg Pondicherrys als Handelsplatz durch den religiösen Eifer der Missionare, Kapuziner wie Jesuiten, erschwert oder verhindert werden könnte. Diese wollten beispielsweise Tempel zerstören, religiöse Prozessionen und anderer Praktiken verbieten. Der Handelserfolg der Niederländer und Engländer liege gerade in ihrer Toleranz gegenüber Hindus und Moslems begründet. 1701 klagte er erneut, die einheimischen Kaufleute und Weber würden durch solch eine Religionspolitik vertrieben. 74 Auch Manucci berichtete ausführlich über dieses Verhalten der Jesuiten, das gleiche Vorgehen der Kapuziner ignorierte er bezeichnenderweise: Am 5. September 1705 hätten einige Jesuiten einen Tempel in Pondicherry betreten, wo gerade eine Festlichkeit stattfand. Die Jesuiten wüteten in der Darstellung Manuccis: Brahmanen wurden geschlagen und an den Haaren gezogen, was eine des schlimmsten Ehrverletzungen für sie sei. Die Götterstatue wurde zerbrochen. Die nicht-christliche Bevölkerung revoltierte daraufhin, drohte sogar abzuziehen, worauf Gouverneur Martin sich gezwungen sah, die Tore der Stadt zu schließen und die Wachen zu verdoppeln. 75 Das Hauptinteresse der meisten europäischen Nationen, wie hier bei den Franzosen deutlich, bestand im indischen Handel; vor dem Hintergrund der indischen Machtverhältnisse, aber auch der lokalen Abhängigkeit von kooperationsbereiten Handwerkern und Zwischenhändlern wäre Mission oder gar aggressive Mission bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhundert kommerziell kontraproduktiv für sie gewesen. 76 73

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Solch eine Grenze zeigt Hausberger, Bernd: „Spirituelle Eroberung“ und Gewalt. Die Mission der Jesuiten in Mexiko (1650-1767). In: Beiträge zur historischen Sozialkunde 23 (1993), H. 2, S. 43-47. Vgl. Ray 2004 (wie Anm. 11), S. 375, 379, 382. Vgl. Manucci 1908 (wie Anm. 63), S. 214f. In der englischen Ausgabe wird der Begriff Hindu benutzt und deshalb hier auch übernommen. In gewissem Maße kann aber auch die südindische Mission als Teil oder Instrument des europäischen Kolonialismus verstanden werden, vgl. v.a. Kalapura. Julia Lederle, die die Rolle der Jesuiten für den Transfer von Indien nach Europa untersucht, zeigt, wie die ausführlichen Schilderungen von Jesuiten, wie die Niederländer mit Perlen und anderen Dingen an der indischen Küste handelten, später für koloniale Ambitionen instrumentalisiert

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Schluss Die jesuitische Mission in Südindien war ein spannender Sonderfall des Kulturkontaktes, ihre Methode der Akkommodation bedeutete eine Grenzüberschreitung und vor allem eine Verleugnung der europäischen Herkunft in einem Ausmaß, das über ihre Strategien in anderen Weltregionen hinausging. Die Missionare der Karnatischen Mission beschrieben in ihren Briefen, wie sehr sie sich auf die Normen und die kulturellen Grenzen derjenigen einließen, die sie missionieren wollten. Aber weder Vorwürfe in der modernen Forschung, die in diesen Missionen Vorläufer der späteren KanonenbootDiplomatie sehen, 77 noch das Lob, hier zeigten sich erste Ansätze to provincialise das europäische Christentum, 78 werden diesem Phänomen gerecht; beide Urteile sind letztlich anachronistisch. In ihrer Selbstdarstellung beschrieben die Jesuiten immer wieder eine Grenze, die ihrer Ansicht nach zwischen den Pranky und Indianern gezogen wurde. Diese kulturelle Grenze wurde auf drei Ebenen wirksam und verschieden bewertet: Durch die Übernahme der moralischen Grenznormen eigneten sie sich das negative Europäerbild der Inder im Sinne des christlichen Askeseideals an. Mit der Akzeptanz der sozialen Grenze wurde aus der interkulturellen Grenze eine innerindische der sozialen Abgrenzung. Die theologische Problematik, die sich aus kulturellen Normen und Praktiken ergab, die ins Kultische herüberreichten und die zu Problemen führen mussten, wurde im Neuen Welt-Bott allenfalls am Rande ausgeführt. Die Jesuiten nutzten so den Unterschied zwischen der unter den Brahmanen binären Wahrnehmung Europäer-Inder und ihrer eigenen Wahrnehmung Christen-Nichtchristen, um im so entstehenden Zwischenraum missionieren zu können. Diese nicht deckungsgleichen Konstruktionen von Grenzen und Identitäten erweiterten also die Handlungsspielräume der Akteure. Die ausgeprägte Europäerkritik wurde für ein deutschsprachiges Publikum im Neuen Welt-Bott veröffentlicht. Das hatte sicherlich auch eine didaktische Zielsetzung, passt in die kritischen Moralnarrative der religiösen Erbauung; dennoch bleibt festzuhalten, in welchem Ausmaß die Verachtung der europäischen Lebensart hier erzählt werden konnte, ohne dass im Text selber Gegenargumente oder Abschwächungen geliefert wurden. Dass dies im frühen 18. Jahrhundert im europäischen Diskurs sagbar war, erstaunt! Und diese Verleugnung der europäischen Kultur setzte zudem die Gleichung zwischen Christianisierung, Europäisierung und Zivilisierung außer Kraft. Ein entspre-

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wurden. Sie bezieht sich dabei auf Martin. In: Stöcklein 1726 (wie Anm. 1), Nr. 73; vgl. Lederle 2004 (wie Anm. 16), S. 51. Vgl. Ray 2004 (wie Anm. 11), S. 339. Vgl. Županov/Hsia 2007 (wie Anm. 15), S. 583; Lederle 2004 (wie Anm. 16), S. 175.

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chender Zusammenhang mag die Auffassung der Europa verlassenden Jesuiten gewesen sein. Ähnliches scheint auch in dem Vorwort des Neuen WeltBotts durch; in den Briefen spielen Europäisierung und Zivilisierung keine Rolle, sondern werden durch ständige Europakritik verdrängt. Anders sah es mit der religiös-kultischen Grenze aus. Doch durch die Kombination der Jesuitenberichte mit anderen Quellen kann eine Perspektive für die Geschichte der religiösen Landschaft Südindiens entwickelt werden, die über das alte Diffusionsmodell der Missionsgeschichte hinausgeht und auch nicht in eine für die Frühe Neuzeit anachronistische nationale Zentrierung des indischen Christentums verfällt. 79 Die Quellen zu den Jesuiten aus südindischer Sicht sind mehr als begrenzt. Die Studie Baylys zeigt, wie man mit einem tieferen Verständnis für die politischen und religiösen Strukturen Südindiens auch die Jesuitenberichte gleichsam gegen den Strich lesen kann. Nicolas Standaert wie Monica Juneja fordern schon länger eine solche Verschiebung der Missionsgeschichte hin zu mehr Berücksichtigung der receiving culture, der agency der Konvertierenden und der cross-cultural communication. 80 Eine einfache Übertragung religiöser Denkgebäude ist wenig wahrscheinlich, im missionsgeschichtlichen Kontext muss wie im rechtsgeschichtlichen von einer Aneignung durch die empfangende Seite ausgegangen werden. 81 Das Christentum konnte in Indien danach kaum seinen europäischen Charakter behalten, es entstanden vielmehr transkulturelle oder transkultische Praktiken. Deren Anerkennung fiel aber den zeitgenössischen Europäern erkennbar schwer. Nicolo Manucci und andere Kritiker der Jesuiten konnten ihnen vorwerfen, mit der Akkommodation den orthodox-katholischen Weg zu verlassen. Die Jesuiten selbst konnten dies aber nicht positiv wenden, sondern mussten immer wieder betonen, hinsichtlich der religiösen Inhalte keine Kompromisse einzugehen. Die Quellen jesuitischer Provenienz erlauben kaum Aussagen darüber, ob sie Elemente der vorgefunden Spiritualität integrierten, denn entsprechende Ausführungen wären in dieser Form von Kommunikation auch nicht möglich gewesen. Die religiös-kultische Grenze zu 79

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Vgl. zu letzterem Noormann, Rolf: Von der Missionsgeschichte Indiens zur Geschichte des indischen Christentums. Ein grundlegender Paradigmenwechsel in der neueren indischen Kirchengeschichtsschreibung. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 120 (2009), S. 326. Vgl. Juneja-Huneke 2006 (wie Anm. 39), S. 1025-1045; Standaert, Nicolas: Christianity as a Religion in China. Insights from the Handbook of Christianity in China. Volume one (6351800). In: Cahiers d’Extrème-Asie 12 (2001), S. 1-21 sowie Gröschl, Jürgen: Missionsgeschichte als Wissenschaftsgeschichte. Die Dänisch-Hallesche Mission und die Forschung im Kontext interdisziplinärer Zusammenarbeit. (URL: http://hsozkult.geschichte.huberlin.de/termine/id= 5862 [letzter Zugriff: 06.06.2010]). Es ist bezeichnend, wie sehr die neueren kulturgeschichtlichen Ansätze zu Aneignung, State building from below etc. im innereuropäischen Kontext auf deutlich mehr Zustimmung treffen als in der interkulturellen Begegnung.

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überschreiten, gar eine transkultische Religion zu praktizieren, war im frühen 18. Jahrhundert nicht als etwas Positives sagbar. Wo und nach welchen Kriterien wurden hier die Grenzen des Sagbaren konstruiert? Die Jesuitenbriefe stellen ihre Sicht auf die indianische Grenzziehung explizit dar; schwieriger ist zu sagen, wo sie diejenige Grenze zogen, die sie nicht mehr überschreiten wollten oder konnten. Dies mag schwierig gewesen sein, weil sie in mancher Hinsicht über das hinausgingen, was man in Europa innerhalb des katholischen Rahmens akzeptiert hätte. Ein wichtiger Unterschied zwischen den transkulturellen Praktiken und den abgrenzenden Praktiken war aber sicherlich, dass erstere von den Jesuiten als katholisch betrachtet werden konnten, während die Praktiken in einem heidnischen Tempel, ausgeführt von heidnischen Brahmanen, eindeutig heidnisch zu bewerten waren. Diese Mission fand nicht im machtleeren Raum statt: Aus der Perspektive der französischen Missionare hatte die französische Handelskompanie um 1700 nicht die Macht, sie im indischen Hinterland zu unterstützen, und die beschriebene Abneigung der Inder gegenüber den Europäern ließ eine säkulare koloniale Unterstützung zudem als kontraproduktiv erscheinen. Vielmehr hing der Missionserfolg von der Unterstützung oder doch Duldung durch die indischen Herrschaftsträger ab. Teils kam es sogar zur Eingliederung der Missionen in die regionale, nicht-christliche Herrschaftsinszenierung. In den europäisch beherrschten Städten wie in Pondicherry drängten die Missionare dagegen sehr wohl auf eine herrschaftliche Religionspolitik im christlichmissionarischen Sinne. Die französischen Jesuiten der Karnatischen Mission begrenzten den europäischen Kolonialismus nicht, dafür war es um 1700 zu früh; eher begrenzten der Handelskolonialismus, die Handelsinteressen der Kompanien den missionarischen Religionseifer in den Handelsstädten. Die Machtasymmetrien, die das Feld der Mission bestimmten, veränderten sich jedoch. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts wurden die Europäer, vor allem die Engländer, ein nicht mehr zu ignorierender Machtfaktor auf dem indischen Subkontinent. Hier liegt vielleicht ein Grund, weshalb diese Jesuitenberichte aus dem deutschsprachigen Indiendiskurs verschwanden, denn mit den Machtasymmetrien hatten sich auch die Grenzen des Sagbaren verschoben: Die religiöse Grenze nahm an Bedeutung ab, während die Grenze zwischen Indern und Europäern nun von Seiten der Europäer definiert wurde und immer weniger zu überschreiten war. Die Darstellungen der Jesuiten passten damit weder in das aufgeklärte noch in das koloniale Indienbild: Für die Aufklärung gab es zu viele Wunder, für den Kolonialismus zu viel europäische Unmoral und zu wenig europäische Macht.

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Geschlechtergrenzen und ihre Infragestellung in der Frühen Neuzeit Einige einführende Überlegungen

In der Frauen- und Geschlechterforschung wurde schon von Beginn an der Blick auf die Begrenzungen gerichtet, denen Frauen in der frühneuzeitlichen Gesellschaft unterworfen waren. Ihr Ausschluss aus den Universitäten oder den Akademien als Agenturen der frühneuzeitlichen Wissenschaft, aus der kirchlichen Hierarchie und den politischen Institutionen war Thema diverser Forschungen und hat mittlerweile auch Eingang in entsprechende Handbücher und Überblickswerke gefunden. 1 Doch hatte schon Anfang der 1980er Jahre die italienische FrühneuzeitHistorikerin Gianna Pomata darauf hingewiesen, dass es in erster Linie der Blickwinkel der Historiker war, der zur „Unsichtbarkeit“ von Frauen in der Geschichte führte und sie gleichsam von der historischen Bühne verdrängte. 2 Diese Beobachtung haben in jüngerer Zeit etliche Forscherinnen bestätigt, die zeigen konnten, wie Frauen und Themenfelder, die mit weiblichem Alltag und Geschlechterbeziehungen in engem Zusammenhang stehen, im Zuge der Verwissenschaftlichung der Geschichtsbetrachtung aus dem Feld der Geschichte ausgegrenzt wurden, diese dadurch also zu einem männlichen Aktions- und Forschungsfeld wurde. 3 Im Gegenzug radikalisierte die historische Geschlechterforschung in den letzten zwei Jahrzehnten die kritische Sicht auf Geschichte und Geschlechterordnung, indem sie nicht nur eine angemessene Re-Integration der Frauen in die „allgemeine Geschichte“ forderte, sondern darüber hinaus die Katego1

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Den Ausschluss von Frauen aus den frühmodernen Staaten bis hin zu den modernen Demokratien thematisieren z.B. Fauré, Christine: Encyclopédie politique et historique des femmes. Paris 1997; Scott, Joan: Only Paradoxes to Offer. French Feminists and the Rights of Man. Ithaca/London 1994; Reinhard, Wolfgang: Geschichte der Staatsgewalt. München 1999, S. 40f.; Ausschluss und Integration von Frauen in Bildungsinstitutionen seit dem Mittelalter thematisieren die Beiträge in: Kleinau, Elke/Opitz, Claudia (Hrsg.): Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung. 2 Bde. Frankfurt a.M. 1996. Vgl. Pomata, Gianna: Eine Frage der Grenzziehung. Die Geschichte der Frauen zwischen Anthropologie und Biologie. In: Feministische Studien 2 (1983), S. 113-127. Vgl. dazu meine Ausführungen in Opitz-Belakhal, Claudia: Um-Ordnungen der Geschlechter. Tübingen 2005, bes. Kap. 6.

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rie Geschlecht zu einer grundlegenden historischen und gesellschaftstheoretischen Kategorie erklärte, deren inhaltliche Füllung und damit auch die Frage der Geschlechtergrenzen und -differenzen je nach Kontext und Epoche neu zu definieren, grundsätzlich aber offen ist. 4 Dementsprechend lassen sich auch in der Frühen Neuzeit selbst Definitions-, Grenzziehungs- und Ausgrenzungsversuche finden, die zu einer Hervorhebung von Geschlechterdifferenzen führten und dazu beitrugen, Geschlechtergrenzen zu institutionalisieren. Ein weithin sichtbares und von der Forschung in den letzten Jahren deshalb auch stärker beachtetes Feld hierfür war die sogenannte „querelle des femmes“ – der Streit um die Frauen, der sich in praktisch allen europäischen Sprachregionen finden lässt. Vor allem seit dem Ende des Mittelalters wurde von gelehrten oder galanten Autoren und (weniger) Autorinnen über die Frage diskutiert, welchem Geschlecht letztlich die höheren Verdienste vor Gott und den Menschen zukämen. Und wenn hier auch schon früh die Gleichheit der Geschlechter postuliert wurde (zuerst von Marie de Gournay zu Beginn des 17. Jahrhunderts 5 ), so dominierten die Debatte doch eindeutig jene Autoren, die erhebliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern für unleugbar und deren Aufrechterhaltung durch Sitte, Gesetz und Gewohnheit für dringend geboten hielten. 6 Im Extremfall konnte daraus die Frage erwachsen, „ob die Weiber Menschen seien“, eine Frage, die ja eine extreme symbolische Grenzziehung zwischen den Geschlechtern darstellt. 7 Auch wenn gerade diese Diskussion, wie wir heute wissen, weit mehr eine Frage nach den richtigen religiösen Erkenntnis- und Argumentationsweisen war als eine ernst gemeinte Infragestellung der menschlichen Natur der Frau, 8 so entfaltete sich in diesem Diskussionszusammenhang das ganze Arsenal der 4 5 6

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Vgl. Scott, Joan W.: Gender. Eine nützliche Kategorie der historischen Analyse. In: Kaiser, Nancy (Hrsg.): Selbst Bewusst. Frauen in den USA. Leipzig 1994, S. 27-75. Vgl. dazu etwa Rauschenbach, Brigitte: Der Traum und sein Schatten. Marie de Gournay und ihre Zeit. Frühfeministin und geistige Verbündete Montaignes. Königstein/Ts. 2000. Vgl. Opitz, Claudia: Streit um die Frauen. Die frühneuzeitliche „querelle des femmes“ aus frauen- und sozialgeschichtlicher Sicht. In: Historische Mitteilungen 8 (1995), S. 15-27; Bock, Gisela/Zimmermann, Margarethe (Hrsg.): Die europäische Querelle des Femmes. Geschlechterdebatten seit dem 15. Jahrhundert. Stuttgart 1997; Bock, Gisela: Frauen in der europäischen Geschichte. München 2000; Wunder, Heide/Engel, Gisela (Hrsg.): Geschlechterperspektiven. Forschungen zur Frühen Neuzeit. Königstein/Ts. 1998; Engel, Gisela u.a. (Hrsg.): Geschlechterstreit am Beginn der europäischen Moderne – Die Querelle des Femmes. Königstein/Ts. 2004. Vgl. dazu Gössmann, Elisabeth (Hrsg.): Ob die Weiber Menschen seyn oder nicht? München 1988 (= Archiv für philosophie- und theologiegeschichtliche Frauenforschung 4). Vgl. zum religionsgeschichtlichen Hintergrund dieser Debatte Drexel, Magdalena: Weiberfeinde – Weiberfreunde? Die Querelle des femmes im Kontext konfessioneller Konflikte um 1600. Frankfurt a.M. 2006.

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Argumente und Vorurteile über weibliche Vorzüge und Laster, über göttliche Bevorzugung des männlichen und Hintanstellung des weiblichen Geschlechts, das die Geschlechterdiskurse der Frühen Neuzeit insgesamt befeuerte und in Bewegung hielt. Mit dem Wechsel von der Frauen- zur Geschlechtergeschichte in den 1990er Jahren erhielten Forschungen über Geschlechtergrenzen und -differenzen indes einen veränderten Rahmen: Den Vorschlägen Joan Scotts folgend, die Geschlecht als grundlegende Kategorie der historischen Forschung sieht und insbesondere auch Machtverhältnisse und -kämpfe in Geschlechterbeziehungen enthalten sieht, die nicht allein das direkte Miteinander von Männern und Frauen betreffen, sondern ganz allgemein gesellschaftliche Hierarchien und deren Infragestellung, wird nun nicht mehr in erster Linie die Diskriminierung von Frauen qua Geschlecht zum zentralen Gegenstand der Forschung erhoben. Vielmehr geht es nun darum, solche allgemeineren Machtmechanismen hinter geschlechtlich markierten Ein- und Ausschlussprozessen zu erkennen. Nun sind die Grenzziehungen zwischen männlichem und weiblichem Geschlecht in einem gegebenen Feld als Momente allgemeiner kultureller Bedeutungszuschreibung zu erhellen bzw. als Aspekte eines grundlegenderen gesellschaftlichen Machtprozesses, eines (oder mehrerer) Diskurse. Dementsprechend hatte Karin Hausen schon 1992 darauf hingewiesen, dass sich in der historischen Entwicklung der (mittel-)europäischen Gesellschaften Geschlechtergrenzen und Geschlechterordnungen zum Teil massiv veränderten und insbesondere im Übergang von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft einem eminenten (Be-)Deutungswandel unterworfen waren. 9 Im 19. Jahrhundert wurde, so schreibt sie, „viel Energie darauf gewandt, die Frauen- und Männerbereiche deutlich gegeneinander abzugrenzen. Frauen- und Männerräume sollten verschieden ausgestaltet und die Kontakte und Überlappungen von einem Raum zum anderen gesellschaftlich kontrolliert werden.“ 10 Diese Versuche waren aber langfristig nicht erfolgreich, so Karin Hausen weiter, weil deren Voraussetzung, die Kontrollierbarkeit kleiner Raumeinheiten, im Zuge von Verstädterung, Industrialisierung und wachsender Mobilität verschwanden. Immerhin blieben sie aber noch lange Zeit in den Konzepten von „Öffentlichkeit“ und „Privatheit“ wirksam und strukturierten dauerhaft die Vorstellungen von der Positionierung der Geschlechter in Gesellschaft und Geschichte. Dies diente einerseits dazu, Frauen langfristig von bestimmten „Orten“ bzw. gesellschaftlichen Positionen, vor allem von Führungsposi9 10

Vgl. Hausen, Karin: Frauenräume. In: dies./Wunder, Heide (Hrsg.): Frauengeschichte – Geschlechtergeschichte. Frankfurt/New York 1992, S. 21-24, hier S. 21. Ebd. S. 22.

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tionen, fernzuhalten, zum anderen aber folgt daraus, dass anders geartete Geschlechterbeziehungen und -orte – etwa in außereuropäischen Gesellschaften oder aber in fernerer historischer Vergangenheit – kaum wahrgenommen oder aber in unangemessener Weise gedeutet werden. 11 Diese Beobachtung führt mitten hinein in die Debatte um längerfristige Wandlungsprozesse in den Grenzziehungen zwischen den Geschlechtern und ihrer unterschiedlichen gesellschaftlichen Räume und Positionierungen. Ist aber die dem oben zitierten Aufsatz von Karin Hausen zugrunde liegende Annahme richtig, dass die „vormoderne“ bzw. frühneuzeitliche Gesellschaft den Geschlechtern klar getrennte Räume zuwies und diese Zuweisung auch erfolgreich kontrollieren bzw. aufrecht erhalten konnte? Sicherlich lassen sich deutlich geschlechtsspezifisch geprägte Räume in der frühneuzeitlichen Gesellschaft beobachten – allein schon der Terminus des „Frauenzimmers“, der im Laufe des 19. Jahrhunderts ausstarb, während er zuvor insbesondere von Frauen genutzte höfische Räume (wie übrigens auch deren Benutzerinnen) bezeichnete, gibt dafür ein prägnantes Beispiel ab. 12 Auch andere Räume und Institutionen lassen eine geschlechtliche „Einfärbung“, eine Markierung erkennen, die von der Ab- und Ausgrenzung des einen oder anderen Geschlechts zeugt. So lassen sich etwa die Kirchen als Hort „männlicher“ religiöser Professionalität gegenüber dem eher „weiblichen“ Laientum charakterisieren; Wissenschaft und Akademien galten schon länger als Orte „männlicher“ Imagination und Innovation, ja, sogar als exklusive „Männerwelt“, gegenüber einem eher passiv gedachten „weiblichen“ Publikum usw. 13 Allerdings sind solche geschlechtsspezifischen Zuordnungen und Grenzziehungen bei genauerem Hinsehen allzu holzschnitthaft und undifferenziert. Neben der Tatsache, dass es innerhalb dieses geschlechtlich orientierten Systems von Werten, Räumen und Institutionen immer auch „GrenzgängerInnen“ gab (etwa die souveränen Herrscherinnen, Mystikerinnen und Visionä11

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Ein sehr anschauliches Beispiel liefert die Althistorikerin Beate Wagner bezüglich der Beschreibung und Deutung der Geschlechterbeziehungen im antiken Griechenland, vgl. Wagner-Hasel, Beate: „Das Private wird politisch“. Die Perspektive „Geschlecht“ in der Altertumswissenschaft. In: Becher, Ursula J./Rüsen, Jörn (Hrsg.): Weiblichkeit in geschichtlicher Perspektive. Frankfurt a.M. 1988, S. 11-50. Ähnliches ließe sich für die Geschlechterbeziehungen und -orte in orientalischen Ländern zeigen, vgl. dazu Opitz, Claudia: Kulturvergleich und Geschlechterbeziehungen in der Aufklärung. Lady Wortley Montagus Briefe aus dem Orient. In: Eifert, Christiane u.a. (Hrsg.): Was sind Frauen, was sind Männer? Geschlechterkonstruktionen im historischen Wandel. Frankfurt a.M. 1996, S. 156-175. Vgl. Opitz, Claudia: Das Frauenzimmer – (k)ein Ort für Frauen? In: Duden, Barbara u.a. (Hrsg.): Geschichte in Geschichten. Ein historisches Lesebuch. Frankfurt a.M./New York 2003, S. 62-69. Vgl. dazu den Beitrag von Monika Mommertz in diesem Band.

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rinnen, die – wenigen – weiblichen Akademiemitglieder usw.), deren Existenz zu erklären bleibt, gab es durchaus auch vielfältige Infragestellungen einer nach (zwei) Geschlechtern geordneten Welt in Wort und Tat – etwa die Forderung nach Frauenbildung und Geschlechtergleichheit innerhalb der „querelle des femmes“; die Existenz von „geschlechtergemischten“ Räumen wie sie etwa Höfe und vor allem die Salons der „gebildeten Stände“ darstellten; bis hin zu Frauen in Männerkleidern – und Männern in Frauenkleidern –, die nachweislich nicht nur zur Karnevalszeit auftraten und dadurch die „richtige“ bzw. gottgewollte Ordnung in Frage stellten. 14 Dies umso mehr, als sich die Geschlechterdifferenz weniger durch die Gesetze und Zwänge der Natur, sondern durch göttlichen Willen begründete – weshalb es eine genuine soziale und politische Aufgabe darstellte, die Ordnung der Geschlechter herzustellen und zu überwachen gegenüber einer im wesentlichen chaotischen oder anarchischen Natur, die Frauen und Männer so ähnlich geschaffen hatte, dass es nur eines kleinen „Unfalls“ bedurfte, um aus einer Frau einen Mann zu machen, wie medizinische Diskurse der Frühen Neuzeit immer wieder unterstrichen. 15 Daraus hat die jüngere Geschlechterforschung denn auch die Überlegung abgeleitet, eine klar heterosexuelle und homosoziale Ordnung der Geschlechter sei keinesfalls typisch gewesen für die „Vormoderne“, sondern allenfalls Ergebnis eines vielschichtigen Modernisierungsprozesses, durch den mit vielfältigen institutionellen und diskursiven Mitteln eine dichotomische Zweigeschlechtlichkeit erst mühsam hätte hergestellt werden müssen. 16 Tatsächlich gibt es viele gute Gründe dafür anzunehmen, die Einteilung der Welt bzw. der Gesellschaft in (nur) zwei Geschlechter entspringe eher einer modernen nach-aufklärerischen Logik, und die vormoderne Kultur funktionierte gerade nicht nach dem „Zwei-Geschlechter-Modell“. Geschlechtszugehörigkeit war lediglich ein Faktor unter einer Vielzahl von anderen zur Strukturierung von Alltagskultur und Weltvorstellungen gewesen, der sich mit etlichen anderen (wie Alter, Anciennität, Stand, sozialer Position, Konfession etc.) zwingend verband – und sie konnte, wenn nötig und nützlich, sogar irrelevant gemacht werden, wie etwa bei der weiblichen Thronfol-

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15 16

Vgl. dazu Davis, Natalie Zemon: Die aufsässige Frau. In: dies.: Humanismus, Narrenherrschaft und die Riten der Gewalt. Frankfurt a.M. 1987, S. 136-170; Dekker, Rudolf/van de Pol, Lotte: Frauen in Männerkleidern. Weibliche Transvestiten und ihre Geschichte. Berlin 1989. Zentral hierzu immer noch Laqueur, Thomas: Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud. Frankfurt a.M./New York 1992. Vgl. dazu etwa Connell, Robert W.: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten. Opladen 1999.

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Claudia Opitz-Belakhal

ge und Herrschaftsausübung, wo es dann gegebenenfalls hieß: „Staatsräson hat kein Geschlecht“. 17 In diesem Themenblock sollte es deshalb darum gehen, die Bedeutung von Geschlechtergrenzen innerhalb der frühneuzeitlichen Kultur und Gesellschaft an konkreten Beispielen wie aber auch methodisch-theoretisch zu erproben und letztlich danach zu fragen, welche Rolle Geschlecht als „LeitKategorie“ in der künftigen Frühneuzeitforschung spielen sollte. Dazu haben sich hier drei Kolleginnen und ein Kollege zusammengefunden, die sehr unterschiedliche Handlungsbereiche und Themenfelder zum Gegenstand ihrer Nachforschungen gewählt haben. Es geht ihnen dabei einerseits um das Infragestellen älterer und das Erproben neuer methodologischer Grundüberzeugungen bezüglich Geschlechterdifferenzen und Geschlechtergrenzen. Andererseits suchen sie diverse Räume und Orte frühneuzeitlichen Handelns auf, um über diverse Prozesse der Grenzziehung wie aber auch der Auflösung von Geschlechtergrenzen in der Frühen Neuzeit Auskunft zu erhalten. Nicht zuletzt steht hier auch die Frage im Raum, ob oder inwiefern von einem Wandel der Geschlechtergrenzen im Zuge der Frühen Neuzeit gesprochen werden kann. Eva Labouvie hat sich für ihren Beitrag über „Geschlechtergrenzen, Status und die Vergeschlechtlichung der Wahrnehmung. Kulturen der Geschlechter in der ländlichen Gesellschaft der Frühen Neuzeit“ die ländliche Kultur der Frühen Neuzeit – und hier besonders die westlichen Grenzregionen des Alten Reiches – genauer angesehen. Sie findet hier höchst komplexe Grenzziehungen zwischen den Geschlechtern, aber auch zwischen verschiedenen Altersgruppen und schließlich zwischen Obrigkeit und dörflicher Alltagskultur, aber auch der politischen Öffentlichkeit im Dorf, an der die verheirateten Frauen sehr selbstverständlich partizipierten. Diese komplizierte Gemengelage, die vor allem auch das Funktionieren weiblicher Kompetenzbereiche sichern sollte, etwa bezüglich Schwangerschaft und der Betreuung von Kindbetterinnen, wurde lange Zeit von allen Beteiligten im Dorf, also Männern wie Frauen, als sinnvoll erkannt und auch gegen äußere Einwirkungen verteidigt. Erst am Ende der Frühen Neuzeit, unter dem Einfluss diverser Eingriffe von außen bzw. „oben“ wurde dieses stabile Gleichgewicht in Frage gestellt und sukzessive eine neue, männerzentrierte und Frauen ausschließende dörfliche Öffentlichkeit hergestellt, analog zu den Verhältnissen, wie sie etwa im städtischen Kontext schon länger bestanden. Eher im adlig-gelehrten Milieu sind die Akteurinnen und Akteure angesiedelt, die Dorothea Nolde in ihrem Beitrag „Aufbruch und Festschreibung. 17

Vgl. dazu Opitz-Belakhal, Claudia: Staatsräson kennt kein Geschlecht. Zur Debatte um die weibliche Regierungsgewalt im 16. Jahrhundert und ihrer Bedeutung für die Konzipierung frühneuzeitlicher Staatlichkeit. In: Feministische Studien 23 (2005), H. 2, S. 228-241.

Geschlechtergrenzen

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Zum Verhältnis von Geschlechtergrenzen und kulturellen Grenzen auf europäischen Auslandsreisen der Frühen Neuzeit“ präsentiert – und sie zeichnen sich durch erhebliche Mobilität aus. Sie überwinden sprach- und kulturräumliche Grenzen und reflektieren dabei auch kulturspezifische Geschlechtergrenzen. Hierbei lässt sich feststellen, dass Geschlechtergrenzen zwar im Laufe der Frühen Neuzeit generell zu einem wichtigen Erkennungszeichen national-kultureller Stereotype werden; sie bleiben indes vergleichsweise unverändert über Raum und Zeit hinweg und wandeln sich, im Unterschied etwa zur Beurteilung von religiöser Differenz oder anderen „Fremdheitsaspekten“ in den Reiseberichten der Zeitgenossen kaum, tragen insofern also offensichtlich zur Enthistorisierung und damit Naturalisierung solcher Stereotypen bei. Joachim Eibach wendet sich seinerseits dem städtischen Raum und hier vor allem den städtischen Gerichte zu und studiert hier vor allem die methodische Bedeutung von Geschlechtergrenzen und -differenzen. Sehr deutlich wird an seinem Beitrag über „Männer vor Gericht – Frauen vor Gericht“, zu welch (teilweise irreführenden) Ergebnissen zu eng gezogene bzw. zu eindeutige Geschlechtergrenzen bei der Beurteilung von Akteurinnen und Akteure vor Gericht führten. Sein Spiel mit der Kategorie Geschlecht zeigt auch, welche höchst unterschiedlichen Forschungs- und Deutungsmöglichkeiten in dieser grundsätzlich offenen, mehrfach relationalen Grundkategorie historischer Forschung stecken und welche Perspektiven insofern darin nicht nur im Bereich der historischen Kriminalitätsforschung stecken. Vollends grenzensprengend ist der Untersuchungsgegenstand von Monika Mommertz in ihrem Beitrag „Geschlecht als Markierung, Ressource und Tracer. Neue Nützlichkeiten einer Kategorie“. Sie führt uns in die vermeintlich frauenfreie Welt der frühneuzeitlichen Wissenschaft und zeigt, dass hier insbesondere auch tief sitzende Vorurteile und mangelnde Aufmerksamkeit der Wissenschaftshistoriker zu einem stark einseitigen Bild beigetragen haben, das nicht nur offen lässt, unter welchen Bedingungen hier Frauen „eindringen“, also Geschlechtergrenzen übertreten konnten, sondern das auch die Produktionsweisen vormodernen Wissens und frühneuzeitlicher Wissenschaft grundsätzlich verkennt. Gerade an diesen Beispielen zeigt sich die grundlegende Bedeutung der Kategorie Geschlecht nochmals in voller Breite: Es geht ja, wie erwähnt, nicht nur darum, Frauen ins Feld der Geschichte zurückzuholen, sondern auch mit Hilfe der Geschlechterperspektive wissenschaftliche Felder neu zu vermessen. Dadurch werden letztlich auch die zeitgenössischen Verhältnisse angemessener beschrieben, als dies die traditionell geschlechtsneutrale und damit geschlechtsblinde Forschung mit ihren undurchdringlichen und vereinseitigenden Geschlechtergrenzen tat und tun konnte.

EVA LABOUVIE

Geschlechtergrenzen, Status und die Vergeschlechtlichung der Wahrnehmung Kulturen der Geschlechter in der ländlichen Gesellschaft der Frühen Neuzeit

Geschlechtlich dominierte Bereiche und Geschlechtergrenzen in der ländlichen Gesellschaft der Frühen Neuzeit können nicht beurteilt werden ohne die Beachtung von Status und Gruppenzugehörigkeiten. Sie können ebenso wenig an „männlichen“ Vorgaben oder an Maßstäben gemessen werden, die aus der Beschäftigung mit Verhaltensweisen oder Rechtsbereichen von Männern als vermeintlich „männlich“ klassifiziert werden. Gezeigt werden soll, dass in der ländlichen Kultur weniger fest gefügte Rollenbilder oder rechtliche Bestimmungen denn Gewohnheitsrechte, im Dorf erprobte Geschlechtergrenzen und anerkannte geschlechtsspezifische Domänen den Handlungsspielraum gerade von Frauen bestimmten, dass diese Übereinkünfte aber ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, indem sie erstmals explizit als Überschreitungen von Geschlechtergrenzen wahrgenommen und thematisiert wurden, einen von oben und unten getragenen Wandel bewirkten. Der Frage nach gewünschten, verhängten bzw. praktizierten, nach stabilen und sich wandelnden Geschlechtergrenzen möchte der Beitrag insbesondere am Beispiel der Ehefrauen und Witwen nachgehen, die im und als Kollektiv innerhalb einer eigenständigen weiblichen Geselligkeit agierten. Diese Fokussierung ermöglicht es, sowohl von Männern als auch von Frauen gesetzte Geschlechtergrenzen aufzuzeigen, aber auch über eine Vergeschlechtlichung kollektiver Rituale die Verschiebung von Geschlechtergrenzen und ihre neuartige Wahrnehmung als Überschreitung zu thematisieren.1 Dass die dörfliche Gruppenkultur bis ins 18. Jahrhundert eine alters- wie geschlechtsspezifische Trennung sowie eine Unterscheidung zwischen unver1

Ich beziehe mich im Folgenden auf meine empirischen Arbeiten zum Saar-Lor-Lux-Raum (heutiges Saarland, Lothringen, Luxemburg) und zur Pfalz; vgl. Labouvie, Eva: Weibliche Festkultur um die Geburt. Bräuche, Feiern und Rituale aus dem Saarraum, der Pfalz und Lothringen vom 16. bis 19. Jahrhundert. In: Journal für Geschichte 2 (1998), S. 4-16; dies.: Andere Umstände. Eine Kulturgeschichte der Geburt. 2. durchges. Aufl., Köln/Weimar/Wien 2000; dies.: Beistand in Kindsnöten. Hebammen und weibliche Kultur auf dem Land (1550-1910). Frankfurt a.M./New York 1999 (= Geschichte und Geschlechter 29).

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Eva Labouvie

heirateten und verheirateten Personen kannte, bedarf keiner näheren Erläuterung. Während aber die verheirateten und verwitweten Frauen mit einer eigenen Festkultur den ledigen Frauen und Mädchen gegenüberstanden, 2 erstaunt es, dass die verheirateten Männer kein eigenständiges Brauchtum kultivierten, sondern sich meist den Junggesellen anschlossen. Die Forschung bewertet ihr Handeln als konstitutiv für die öffentliche Kultur des Dorfes, weil das Auftreten der sogenannten „Burschenschaften“ oftmals der Demonstration männlicher Vorherrschaft, der Markierung von Geschlechtergrenzen oder der symbolischen Besetzung von öffentlichen Räumen und Zeiten diente, und dies nicht zuletzt auch deshalb, weil die Halbwüchsigen vorgaben, als Instanz der Kontrolle die Interessen der Gemeinschaft zu vertreten. 3 Mit der Einschätzung der weiblichen Gruppenkultur tut sich die Forschung dagegen schwerer: 4 Pauschalisierungen wie „Privatheit“, „informelle Weibermacht“ oder „Einsatz der Frauen bei kollektiven Aktionen“ 5 übersehen freilich, indem sie von „den Frauen“ als von einer geschlossenen Sozietät ausgehen, das Kollektiv der verheirateten und verwitweten Frauen. Der Forschung entging dabei die Bedeutung, die sich einer mit besonderen Rechts- und Handlungsmög2

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Vgl. Bell, Catherine: Ritual. Perspectives and Dimensions. New York 1997; Worschech, Reinhard: Frauenfeste und Frauenbräuche in vergleichender Betrachtung. Mit besonderer Berücksichtigung Frankens. Diss. Würzburg 1971; Labouvie 1998 (wie Anm. 1), S. 4-9; Rauchenecker, Herbert: Frauenbräuche. Eine zeitgeschichtliche Momentaufnahme. München 1993. Vgl. Schindler, Norbert: Die Hüter der Unordnung. Rituale der Jugendkultur in der frühen Neuzeit. In: Levi, Giovanni/Schmitt, Jean-Claude (Hrsg.): Geschichte der Jugend. Bd. 1: Von der Antike bis zum Absolutismus. Frankfurt a.M. 1996, S. 319-382; Gestrich, Andreas: Traditionelle Jugendkultur und Industrialisierung. Sozialgeschichte der Jugend in einer ländlichen Arbeitergemeinde Württembergs, 1800-1920. Göttingen 1986, S. 92-116, 145-153; Kramer, Siegfried: Ältere Spuren burschenschaftlichen Brauchtums in Mittelfranken. In: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 20 (1960), S. 381-383. Dazu bemerken Heide Wunder und Christina Vanja im Vorwort ihres gemeinsam herausgegebenen Buches: Weiber, Menscher, Frauenzimmer. Frauen in der ländlichen Gesellschaft 15001800. Göttingen 1996, S. 10: „Das öffentliche Handeln von Frauen ist erst ansatzweise thematisiert worden [...]. Noch kaum untersucht ist das Interagieren der Frauen als Haushaltsvorstände (insbesondere Witwen) mit der Obrigkeit, das deren spezifische Bedürftigkeit (Armut und Krankheit), aber auch deren selbständiges Argumentieren erkennen läßt [...]. Die Gruppenkultur der Frauen ist noch kaum erforscht. Es ist davon auszugehen, daß magische Praktiken und Frömmigkeit, aber auch Arbeiten und Nachbarschaftlichkeit wichtige Hinweise geben werden“. Vgl. u.a. Suter, Andreas: „Troublen“ im Fürstbistum Basel (1726-1740). Eine Fallstudie zum bäuerlichen Widerstand im 18. Jahrhundert. Göttingen 1985, S. 351, 353; Troßbach, Werner: „Rebellische Weiber“? Frauen in bäuerlichen Protesten des 18. Jahrhunderts. In: Wunder/Vanja 1996 (wie Anm. 4), S. 154-174, bes. S. 164-168; Ulbrich, Claudia: Unartige Weiber. Präsenz und Renitenz von Frauen im frühneuzeitlichen Deutschland. In: Dülmen, Richard van (Hrsg.): Arbeit, Frömmigkeit und Eigensinn. Studien zur historischen Kulturforschung II. Frankfurt a.M. 1990, S. 39f.

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lichkeiten ausgestatteten Gruppe im gemeinsamen, eigenmächtigen Handeln – auch hier im Interesse und auf Veranlassung der Gemeinschaft – eröffneten. Augenfällig wird dabei das Insistieren dieser Repräsentantinnen von Familie und Haus auf Partizipation an Rechtsbereichen und an der kommunalen sozialen wie politischen Öffentlichkeit und ihr Selbstverständnis als einer „Binnengruppe“, die im Namen „aller Gemeindsweiber“ für das Dorf handelte. 6 Diese Gruppe der Haushaltsvorsteherinnen war zugleich Trägerin einer besonderen weiblichen Festkultur. 7 Sie umfasste bis weit ins 18. Jahrhundert einerseits Sequenzen innerhalb der Festbräuche beider Geschlechter und aller Altersgruppen, andererseits nur unter Frauen vollzogene Geselligkeitsformen. Diese dienten, wie der „Weiberkietz“, Feste anlässlich einer Hebammenwahl oder der Beendigung der Flachsverarbeitung, dazu, kollektiv anerkannte Frauenräume und weiblich markierte Geschlechtergrenzen zu betonen, oder sie unterstrichen die Zuständigkeit und damit das „Weiberrecht“ der Frauen bei der rituellen Festlegung der Gruppenzugehörigkeit einzelner Personen, die für die ganze Gemeinschaft verbindlich war. Auf Letzteres, auf vom dörflichen Kollektiv gewünschte und durch Gewohnheitsrechte verbürgte Geschlechtergrenzen im Sinne der ausschließlich weiblichen Zuständigkeit, soll hier zunächst näher eingegangen werden. Beim Hochzeitsbrauchtum vollzogen die verheirateten und verwitweten Frauen die rituelle Ausgliederung aus der Gruppe der Ledigen und die Aufnahme in den Kreis der verheirateten Frauen durch die Abnahme der Brautkrone und die „Haubung“ der Jungvermählten, die anschließend ihren Einstand in die „Gesellschaft“ der Ehefrauen gaben. Anlässlich der Kindbettzechen nach einer Geburt erfolgte die rituelle Einführung der jüngst verheirateten, noch kinderlosen Frauen in die Gruppe der bereits initiierten Frauen und Witwen, die bei Geburten Hilfe leisten und bei Kindbettzechen, Taufgesellschaften und weiteren Frauenriten anwesend sein durften. Bei den 6 7

Vgl. Labouvie 2000 (wie Anm. 1), S. 263; Labouvie 1999 (wie Anm. 1), S. 149-174. Bemerkenswert ist, dass die in den letzten Jahren vermehrt erschienene Fachliteratur zu Festen den Gender-Aspekt kaum oder gar nicht berücksichtigt. Vgl. u.a. Maurer, Michael: Feste und Feiern als historischer Forschungsgegenstand. In: Historische Zeitschrift 253 (1991), S. 104; ders. (Hrsg.): Das Fest. Beiträge zu seiner Theorie und Systematik. Köln/Weimar/Wien 2004; Marquard, Odo: Kleine Philosophie des Festes. In: Schulz, Uwe (Hrsg.): Das Fest. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart. München 1988, S. 417; Assmann, Jan: Der zweidimensionale Mensch. Das Fest als Medium des kollektiven Gedächtnisses. In: ders. (Hrsg.): Das Fest und das Heilige. Religiöse Kontrapunkte zur Alltagswelt. Gütersloh 1991, S. 13-30; Gebhardt, Winfried: Fest, Feier und Alltag. Über die gesellschaftliche Wirklichkeit des Menschen und ihre Deutung. Frankfurt a.M./Bern/New York 1987; Füssel, Marian/Weller, Thomas/Lüttenberg, Thomas (Hrsg.): Ordnung und Distinktion. Praktiken sozialer Repräsentation in der ständischen Gesellschaft. Münster 2005.

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Eva Labouvie

Kindtaufen, die in weiten Teilen des deutschsprachigen Raumes bis ins 19. Jahrhundert reine Frauenfeste bildeten, oblag derselben Gruppe vor der Taufe die rituelle „Einweihung“ junger Frauen und Männer, die zum ersten Mal eine Patenschaft und damit eine symbolische Elternschaft übernahmen, in die Gruppe der Gevattersleute. Die Geselligkeiten der Frauen anlässlich des ersten Kirchgangs der Wöchnerin und der Beendigung des Wochenbettes dienten der Aufnahme einer Frau in den Kreis der Mütter; Zusammenkünfte desselben Frauenkreises zur Bestattung von Wöchnerinnen und „Kindbetterkindern“ beiderlei Geschlechts galten der symbolischen Verabschiedung dieser Mitglieder aus der Gemeinde. 8 Gesonderte Frauenfeste oder von Frauen praktizierte Rituale lassen sich auch im Karneval, bei und nach der Ernte und im kirchlichen wie im herrschaftlichen Kontext nachweisen. 9 Die rituellen Zusammenkünfte der Frauen bewegten sich zwischen öffentlicher Inszenierung und „geschlossener Gesellschaft“, zwischen dörflichen Umzügen mit Musik und Geselligkeiten im Haus, das Teil dieser Öffentlichkeit war. Hier von Privatsphäre, dort von Öffentlichkeit zu sprechen, würde sowohl den mit der weiblichen Festkultur verbundenen Anliegen als auch dem Selbstverständnis des Frauenkollektivs widersprechen. 10 Denn ihr Feiern 8

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Vgl. Labouvie 2000 (wie Anm. 1), S. 260-266; Labouvie 1999 (wie Anm. 1), S. 86-98; Labouvie, Eva: Geburt und Tod in der Frühen Neuzeit. Letzter Dienst und der Umgang mit besonderen Verstorbenen. In: Duden, Barbara/Gélis, Jacques/Schlumbohm, Jürgen/ Veit, Patrice (Hrsg.): Rituale der Geburt. Eine Kulturgeschichte. München 1998, S. 289307. Vgl. Worschech 1971 (wie Anm. 2), S. 101-103, 114; Becker, Albert: Frauenrechtliches in Brauch und Sitte. Ein Beitrag zur vergleichenden Volkskunde. Kaiserslautern 1913; Heeger, Fritz: Frauenrechtliches im fränkischen Brauchtum. In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 20 (1963), S. 133-143; Eich, Joseph: Der „Weiber-Donnerstag“ in der Hocheifel. In: Eifelvereinsblatt 14 (1913), S. 35f.; Wunder, Heide: „Er ist die Sonn’, sie ist der Mond“. Frauen in der Frühen Neuzeit. München 1992, S. 218-220, 225-229; Wandel, Uwe Jens (Hrsg.): Frauenprotest 1688. Die Schorndorfer und Göppinger Weiber. Schorndorf 1988; Vanja, Christina: „Verkehrte Welt“. Das Weibergericht zu Breitenbach, einem hessischen Dorf des 17. Jahrhunderts. In: Journal für Geschichte 5 (1986), S. 22-29. Vgl. zu dieser Diskussion u.a. Hausen, Karin: Öffentlichkeit und Privatheit. Gesellschaftliche Konstruktionen und die Geschichte der Geschlechterbeziehungen. In: dies./Wunder, Heide (Hrsg.): Frauengeschichte – Geschlechtergeschichte. Frankfurt a.M./New York 1992, S. 87f.; dies.: Überlegungen zum geschlechtsspezifischen Strukturwandel der Öffentlichkeit. In: Gerhard, Ute (Hrsg.): Differenz und Gleichheit. Menschenrechte haben (k)ein Geschlecht. Frankfurt a.M. 1997, S. 268-282; Othenin-Girard, Mireille/Gossenreiter, Anne/Trautweiler, Sabine (Hrsg.): Frauen und Öffentlichkeit. Beiträge der 6. Schweizerischen Historikerinnentagung. Zürich 1991; Davidoff, Leonore: „Alte Hüte“. Öffentlichkeit und Privatheit in der feministischen Geschichtsschreibung. In: L’Homme. Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft 4 (1993), H. 2, S. 7-36; Mazohl-Wallnig, Barbara: Männliche Öffentlichkeit und weibliche Privatsphäre? Zur fragwürdigen Polarisierung bürgerlicher Lebenswelten. In: Friedrich, Margret/Urbanitsch, Peter (Hrsg.): Von Bürgern und ihren Frauen. Wien 1996, S. 125-140; Landes, Joan B.: Women and the Public Sphere in the Age of the French Revolution.

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galt nicht nur den Frauen und der Dorfgemeinschaft, sondern ebenso der Obrigkeit als eine öffentliche Angelegenheit, als „öffentliches Zechen und Gelachen“, wie es in den Verordnungen des 16. bis 18. Jahrhunderts heißt. 11 Dabei handelte es sich weder um „private“ häusliche Feste, weder um das Begehen „privater“ Anlässe, noch waren mit den Riten „private“ Ziele und Anliegen verbunden, ganz im Gegenteil: Nach ihrem Selbstverständnis versammelten sich die Frauen, ebenso wie dies die Männer taten, zur Regelung jener Aufgaben, die sie im Einvernehmen mit und in Vertretung der Gemeinschaft übernommen hatten. Sie beachteten dabei die allgemeinen Spielregeln des öffentlichen Auftretens nach innen und außen, wozu organisierte Geselligkeit und Einladungen, Wahlen, gemeinsames Essen und Trinken und die Kultivierung von Symbolen und Ritualen gehörten. Vorderstes Anliegen der Frauenfeste war die soziale Ordnungsstiftung für die Gemeinschaft durch die Neubestimmung jener ihrer Mitglieder, die zwischen zwei Gruppen, zwei Möglichkeiten des sozialen Status, möglicherweise zwei Identitäten balancierten. Ihre zentrale Aufgabe war es, den rituellen Übergang von der einen in die andere Welt, von einer in eine andere Lebensphase oder in eine andere soziale Gruppe verbindlich für alle zu initiieren und zu gewährleisten. Dabei zeigten die Frauen deutlich, dass es ihnen ebenso wie den Männern zustand, nach vollbrachter Arbeit auch öffentlich zu feiern. Symbolik und Ritual verzichteten jedoch, anders als etwa bei den Festen der Junggesellen, weitgehend auf Formen der Rüge oder Domestizierung, und keineswegs ging es um die karnevaleske Umkehrung der Geschlechterverhältnisse. Denn selbst das dazugehörige „Tractiren“, das Necken und Foppen der Männer, galt nicht der symbolischen Unterwerfung als vielmehr dem energischen Ausschluss des anderen Geschlechts. Diese demonstrative Ausgrenzung der Männer war zugleich dazu geeignet, Geschlechtergrenzen im kollektiven Aus- und Zusammenschluss ohne Ehrverlust für die Ausgeschlossenen öffentlich zu markieren. Dass in diesem Dominanzbereich der verheirateten und verwitweten Frauen rituelle Übergänge und soziale Festschreibungen von Personen beiderlei Geschlechts gültig für die ganze Gemeinschaft vollzogen wurden, macht nicht nur ihre Funktion als „soziokultureller Wegweiser“ sichtbar, durch die das gesellschaftliche Koordinatensystem ein gutes Stück weit mit gestaltet wurde, sondern weist

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Ithaca/London 1988; dies. (Hrsg.): Feminism, the Public and the Private. Oxford 1998; Roper, Lyndal: The „Common Man“, the „Common Good“, „Common Women“. Gender and Language in the German Reformation Commune. In: Social History 12 (1987), S. 1-22; Myrrhe, Ramona: Patriotische Jungfrauen, treue Preußinnen, keifende Weiber. Frauen und Öffentlichkeit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Sachsen-Anhalt. Freiburg i.Br. 2006, S. 1-13; Faulstich, Werner/Hickethier, Knut (Hrsg.): Öffentlichkeit im Wandel. Neue Beiträge zur Begriffsklärung. Bardowick 2002. Landesarchiv (LA) Speyer, Best. B2, Nr. 2682, fol. 12.

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auch die Gruppe der Frauen als eine besondere Sozietät innerhalb der ländlichen Gesellschaft aus. Gewissermaßen bündelte diese Gemeinschaft all jene sozialen, rechtlichen, ökonomischen und kulturellen Möglichkeiten zu Machtbefugnis, Anerkennung, Ehre und Durchsetzungsvermögen des weiblichen Geschlechts in einer Allianz der Ehefrauen, Witwen und Mütter, die es zu verteidigen galt.

Wandel der Geschlechtergrenzen durch Bedeutungsdifferenzierung Kollektive und rituelle Handlungen werden häufig im situativen Kontext ihres Auftretens untersucht, wobei das momentan aufscheinende Regelsystem eine Statik erhält, die als traditionelles Ordnungssystem in einer unwandelbaren Kontinuität erscheint. Erst ein Blick über einen größeren Zeitraum ermöglicht es, sich nur langsam vollziehende strukturelle Veränderungen in der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zu entdecken. Als Alternative zur häufig romantisierenden Pseudokontinuität stellt sich freilich nicht nur die Frage nach zu- oder abnehmender Freizügigkeit bzw. Grenzziehung, sondern vielmehr die hintergründigere Frage nach Wandel durch die Ausdifferenzierung von Bedeutungen soziokultureller Konzepte und Rollenbilder innerhalb bzw. hinter gesellschaftlichen, sozioökonomischen und kulturellen Verhältnissen. Bezogen auf die Aktivitäten der Frauen lässt sich trotz gegenläufiger obrigkeitlicher und kirchlicher Bestimmungen bis ins ausgehende 18. Jahrhunderts zwar eine formale Kontinuität der Geselligkeiten und Rituale feststellen.12 Doch bedurfte diese Statik des „Systems“ einer steten Dynamik des Handelns – notwendiger Verweigerungen und Übertretungen, der Nutzbarmachung von Lücken und der Rückeroberung des Verlorenen –, deren Eigenart in der Aneignung und Erprobung neuartiger Maßnahmen und Argumente, ja der Transformation und Erweiterung von Konzepten der Erfahrung zu sehen ist.13 12 13

Vgl. Labouvie 2000 (wie Anm. 1), S. 205-210, 249f., 258f. Dies haben v.a. Arbeiten zur Reformation, zu Revolutionen und zur Situation in und nach Kriegen gezeigt; vgl. u.a. Jung, Martin H.: Nonnen, Prophetinnen, Kirchenmütter. Kirchen- und frömmigkeitsgeschichtliche Studien zu Frauen der Reformationszeit. Leipzig 2002; Conrad, Anne (Hrsg.): „In Christo ist weder man noch weyb“. Frauen in der Zeit der Reformation und der katholischen Reform. Münster 1999; Marshall, Sherrin (Hrsg.): Women in Reformation and Counter-Reformation Europe. Public and Private Worlds. Bloomington/Indianapolis 1989; Nowicki-Pastuschka, Angelika: Frauen in der Reformation. Untersuchungen zum Verhalten von Frauen in den Reichsstädten Augsburg und Nürnberg zur reformatorischen Bewegung zwischen 1517 und 1537. Pfaffenweiler 1990; Roper, Lyndal: Das fromme Haus. Frauen und Moral in der Reformation. Frankfurt

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Zur formalen Weiterführung der weiblichen Festkultur verlief daher parallel eine kreative Entwicklung des Denk- und Handlungsspektrums ihrer Trägerinnen, das sich in den Umgangsformen der Frauengruppe etwa mit Obrigkeit, Behörden und Kirche manifestierte. 14 Durch diese besondere Synthese aus Stabilisierung und Überschreitung veränderten sich aber zunächst weniger die geschlechtsspezifischen Rollenbilder als das eigene Rollenverständnis, die Selbstwahrnehmung der Frauen als Gruppe. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts sprechen Frauen nicht mehr wie zuvor vom „Weiberrecht“, sondern vom „Stolz“ auf ihre Festbräuche, die „durch das Alter die Stärke eines […] Gesetzes bereits erlangt“ hätten, nicht mehr von „Weiberversammlung“, sondern vom „Bund“ oder der „Genossenschaft“ der Frauen, von einer situativen „Gemeinschaft“, in deren Mitte sie „Mut in sich“ 15 fühlten. Das reglementierende Interesse von Landesherrschaft und Kirchen am Kollektiv der Frauen konzentrierte sich bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts zuvorderst auf die Zahl der Teilnehmerinnen, die Einschränkung von Mahlzeiten, Zeitspannen und Terminen. Zu einer grundlegenden Neuerung in der Bewertung kam es, als landesherrliche Verordnungen ab den 1770er Jahren erstmals alte Vorwürfe wie Üppigkeit, Verschwendung, Aufwand oder Übermaß durch ein neuartiges Vokabular ersetzten: Die Frauenfeste seien allesamt „unnütze“ Albernheiten und „Unfug“, 16 die erwachsenen Frauen nicht ge-

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a.M./New York 1995; Wiesner, Merry E.: Women’s Response to the Reformation. In: Hsia, Ronnie Po-chia (Hrsg.): The German People and the Reformation. Ithaca/London 1988, S. 148-171; Stephan, Inge/Weigel, Sigrid (Hrsg.): Die Marseillaise der Weiber. Frauen, die Französische Revolution und ihre Rezeption. Hamburg 1989 (= Das Argument, Sonderband 185); Opitz, Claudia: Von der „querelle des femmes“ in den Salons zur Frauen-Volksbewegung. Überlegungen zur Politisierung von Frauen während der französischen Revolution. In: Riepl-Schmidt, Mascha (Red.): Frauen und Revolution. Strategien weiblicher Emanzipation 1789 bis 1848. Tübingen 1998, S. 14-32; Proctor, Candice E.: Women, Equality, and the French Revolution. New York 1990; Roessler, Shirley Elson: Out of the Shadows. Women and French Revolution, 1789-95. New York 1998; Frevert, Ute: Nation, Krieg und Geschlecht im 19. Jahrhundert. In: Hettling, Manfred (Hrsg.): Nation und Gesellschaft in Deutschland. Historische Essays. München 1996, S. 151-170; Schulte, Regina: Die verkehrte Welt des Krieges. Studien zu Geschlecht, Religion und Tod. Frankfurt a.M./New York 1998; Hagemann, Karen: „Mannlicher Muth und Teutsche Ehre“. Nation, Militär und Geschlecht zur Zeit der antinapoleonischen Kriege Preußens. Paderborn 2002. Vgl. Labouvie, Eva: „Weiber Recht“ in „Weiber Not“. Zum kollektiven Widerstand von Frauen gegen obrigkeitliche Anordnungen. In: Frindte, Julia/Westphal, Siegrid (Hrsg.): Handlungsspielräume von Frauen um 1800. Heidelberg 2005, S. 211-222; Labouvie, Eva: Macht der Begrenzung. Von der Nutzbarmachung gesellschaftlicher Vorstellungen von Weiblichkeit durch Frauen in Strafjustiz und Rechtsprechung (16.-19. Jahrhundert). In: Löschper, Gabi/Smaus, Gerlinda (Hrsg.): Das Patriarchat und die Kriminologie. Weinheim 1999 (= Kriminologisches Journal, Beiheft 7), S. 67-82. Heeger 1963 (wie Anm. 9), S. 136, zit. nach: Labouvie 2000 (wie Anm. 1), S. 212f., 269. Hauptstaatsarchiv (HSTA) Wiesbaden, Abt. 131, Nr. XIVa, 16, o. fol., 1762; ebd., Abt. 150,

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bührten. Sie arteten zu Besäufnissen, lautstarken Ruhestörungen in der Nacht und zu anstößigen Exzessen bei Tag aus, verleiteten zur Vernachlässigung ihrer Pflichten als Mütter und Ehefrauen und verstießen nicht nur „wider alle guten Sitten“, sondern gegen den guten Geschmack „aller christlich gesinte[n] gerechte[n] Unterthanen“. 17 Derartige Diffamierungen fanden ihre Begründung in einem Kanon eingeforderter weiblicher Verhaltensweisen und Aufgaben, der zuvor nie zur Legitimierung obrigkeitlicher Verbote in diesem Kontext gedient hatte und der sich in entsprechender Weise auch nicht in den gleichzeitigen Verordnungen zur männlichen Geselligkeit finden lässt. Die kollektive Geselligkeit der Frauen erscheint aus dieser Perspektive nicht mehr als die ebenso wie bei anderen Festen gerügte mutwillige Überschreitung eines allgemeingültigen obrigkeitlichen Ordnungssystems für angemessenes Feiern, sondern als eine Entgrenzung weiblicher Rollenzuschreibungen, eine „dem weiblichen Geschlechte unanständige Art“ des Feierns, ein dem „fraulichen Geschlechte […] unziemlich[es]“ Verhalten, begleitet von „einem insgesamt höchst unanständigen Wesen“. 18 Derartige Grenzüberschreitungen ins „Unweibliche“, jetzt explizit gerügt als Übertretungen von Geschlechtergrenzen, wurden zugleich als Gefährdung der gesellschaftlichen Ordnung, als Ursache von Unordnung und Unruhe, beund angegriffen. Landesherrliche Verordnungen riefen denn auch unverzüglich männliche Kontrolle und Verantwortung auf den Plan: Amtleute, Bürgermeister, Ratsmitglieder, Seelsorger, Gerichtsleute und vor allem Ehemänner sollten endlich einschreiten. Eine entscheidende Rolle bei der Meinungsbildung in der männlichen Bevölkerung scheinen die Geistlichen gespielt zu haben, die mit der eigenen Meinung nicht hinterm Berg hielten. Die Rede war von „böse[n] gewohnheit[en] der weiber“, davon, dass sie „ire Vernunft verlieren, […] unzüchtige wordt und werckh vollbringen, und also die weibliche schamb, Zucht und Ehr hindan“ setzten. 19 Der Männerwelt waren derartige Beanstandungen, die nun nicht mehr den allgemeinen Festtagsübermut, sondern das Gebaren der Ehefrauen und Wit-

17

18 19

Nr. XIVa, 4424, o. fol., 1741, 1769 und 1772; Stadtarchiv (STA) Trier, Best. Ta 50/12, o. fol., 1784: Der Trierer Erzbischof spricht hier von „ungebührlich“. STA Trier, Best. Ta 50/12, o. fol., 1784; LA Speyer, Best. B2, Nr. 2682, fol. 13; ähnlich: HSTA Wiesbaden, Abt. 131, Nr. XIVa,16, fol. 5, 1762; ebd., o. fol., 1762; Landesarchiv Saarbrücken (LASB), Best. 38, Nr. 621, fol. 251, 1752; Archiv der Herzog-WolfgangStiftung (AHWS), Rep. VII, Nr. 139a, o. fol., 1741; ebd., Rep. VI, Nr. 486, o. fol., § 4, 1757; ebd., Rep. II, Nr. 321, fol. 480. LA Speyer, Best. B2, Nr. 2682, o. fol., 1752/53; ebd., Best. B2, Nr. 2682, fol. 12r. Predigt, zit. nach Labouvie 2000 (wie Anm. 1), S. 271; ähnlich ein Auszug aus einer Pfarrchronik des Kirchspiels Erfde, vgl. Moritz, Wilhelm: Chronik des Kirchspiels Erfde. Rendsburg 1924, S. 46f.; ebenso das Verfahren des Amtmanns von Schenefeld gegen eine Kindbettergesellschaft bei Meyer, Friedrich: Geburt und Taufe im Volksglauben Schleswig-Holsteins. In: Nordelbingen 10 (1940), S. 31-73, hier S. 47f.

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wen als Vertreterinnen des weiblichen Geschlechts angriffen und statt an formalen jetzt an moralischen wie geschlechtsspezifischen Kriterien maßen, als lange gebräuchliche Elemente der dörflichen und weiblichen Festkultur wohlbekannt. Sie wussten vom Lärmen, von der nächtlichen Musik und vom Singen der Frauen. Und auch um die Unannehmlichkeiten kreiste manches Gespräch in der Männerrunde: „Bei ihrem Eintritt in ein Haus müssen alle Mannspersonen weichen“, so wusste man zu berichten; den anderen Gesprächsstoff lieferten jene Geschichten, die um das übliche Necken der Männer kreisten, wie sehr etwa einer „unter der Last eines Haufens solcher Weiber, die sich auf ihn geworfen, hat ächzen müssen“, und dass es besser sei, „durch die Hintertür zu entfliehen und lieber draußen, in sicherem Versteck, den weiteren Verlauf zu beobachten“. 20 Dass sich ein äußerst ungebührliches Treiben in ihren eigenen Häusern abspielen sollte, dass sich die eigenen Frauen wie die „wilde Jagd“ gebärdeten, wie die Geistlichen zu wissen glaubten, war ihnen freilich über mehrere Jahrhunderte nicht in den Sinn gekommen. Sie „verargen ihren Weibern diese Ausschweifungen nicht“, gaben mehrere Ehemänner noch 1766 in Würzburg zu Protokoll, „denn es ist Gebrauch“. 21 Die jetzt in den Verordnungen und geistlichen Schreiben aufscheinende neue Geschlechteranthropologie mit ihren veränderten Rollen für Mann und Frau, welche die öffentliche Sphäre allein dem männlichen Geschlecht zuwies und das „Weiberregiment“ zum Merkmal einer nunmehr überholten Ordnung stilisierte, schien in der ländlichen Gesellschaft zunächst einmal die Vertreter von Obrigkeit und Kirche überzeugt zu haben. Doch ausgerechnet – oder vielleicht gerade – in jener Phase der Veränderung, in der die von „(Weiber-)Recht“ zu „Stolz“ und „Mut“, von „Versammlung“ zu „Bund“ gewandelte Selbstwahrnehmung strukturelle Veränderungen in der kollektiven weiblichen Selbstdeutung erkennen lässt, zog neben der schon zuvor kritischen Obrigkeit jetzt auch die männliche Dorfbevölkerung ihre bisherige Solidarität mit der Frauengemeinschaft in Zweifel. 22 Dennoch legten die verheirateten und verwitweten Frauen weiterhin großen Wert auf ihre Rechte, Vertreter- und Genossenschaften. Erstaunlicherweise wurden ihre Ansprüche auf Selbstständigkeit und Mitbestimmung ausgerechnet auf der politischrechtlichen Ebene von der männlichen Bevölkerung bis ins 19. Jahrhundert mitgetragen, indem Ehemänner beispielsweise anstandslos Strafgelder für ihre 20 21 22

Zitate aus Meyer 1940 (wie Anm. 19), S. 127f., 148. Zit. nach Labouvie 2000 (wie Anm. 1), S. 272. Männliche Kontrolle erfolgte nicht nur über Geistliche und Amtleute (vgl. Anm. 19), sondern auch durch Schultheißen und Gerichtspersonen, Kirchenälteste und die Männer der Gemeinden; vgl. u.a. LASB, Best. 38, Nr. 621, fol. 251, 1752; STA Trier, Best. Ta 50/12, o. fol., 1784; AHWS, Rep. II, Nr. 321, o. fol.: Schultheißen und Gerichte; LA Speyer, Best. B2, Nr. 2682, o. fol., 1743: Schultheißen, Gerichte und Männer; ebd., o. fol., 1743: Schultes, Pfarrer und Manspersonen.

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protestierenden Frauen zahlten oder sich zur Unterstützung von weiblichen Gewohnheitsrechten mit eigenen Schriften gegen obrigkeitliche Verbote wandten. 23 Anders als in den Städten war man auf dem Land auf die politische Agitation der Gemeinschaft aller Dorfbewohner und auf eine Solidarität mit dem Frauenkollektiv insbesondere in rechtlichen, politischen und genossenschaftlichen Angelegenheiten angewiesen. Dorffrauen waren nicht nur Töchter, Mütter, Ehefrauen und Witwen, sondern Erbinnen, Land-, Gruben- und Hausbesitzerinnen, Händlerinnen und Ernährerinnen sowie politisch-rechtliche Repräsentantinnen ihres Hauses und ihrer Familie. 24 Sie unterhielten informelle Fürsorge- und Pflegesysteme, Netzwerke und Kollektive, ja bildeten nach Christopher H. Johnson den „Mörtel des Verwandtschaftssystems“. 25 Dennoch lässt sich seit den 1770er Jahren aber eine deutliche Sensibilisierung der Männer für das von Obrigkeit und Kirche als „unweiblich“ angeprangerte Verhalten der Hausvorsteherinnen in den Bereichen von Haushalt, Kindererziehung und häuslicher Geselligkeit zu erkennen. Die Hintergründe dieser Entwicklung können hier beispielhaft mit dem Blick auf die Festkultur der Frauen beleuchtet werden: Im 18. Jahrhundert war die Gaststube zwar allgemein zu einer Domäne der Männer geworden, aber selbst die männliche gesellige Trinkkultur hatte sich vielerlei Einschränkungen beugen müssen: Ausschankbeschränkungen, dem Verbot des „Nachtschwärmens“, der Ein23 24

25

Vgl. Labouvie 1999 (wie Anm. 1), S. 127f., 135-139, 144, 146-148, 159-161, 169f. Vgl. Trévisi, Marion: Les relations tantes, nièces dans les familles du Nord de la France au XVIII-siècle. In: Annales de démographie historique 2 (2006), S. 9-31; Mathieu, Jon: Verwandtschaft als historischer Faktor. Schweizer Fallstudien und Trends, 1500-1900. In: Historische Anthropologie 10 (2002), H. 2, S. 225-244; Labouvie, Eva: In weiblicher Hand. Frauen als Firmengründerinnen und Unternehmerinnen (1600-1870). In: dies. (Hrsg.): Frauenleben – Frauen leben. Zur Geschichte und Gegenwart weiblicher Lebenswelten im Saarraum (17.-20. Jahrhundert). St. Ingbert 1993, S. 88-131; dies.: Frauen im Monopolund Großhandel. Eine Regionalstudie im deutsch-französischen Grenzraum. In: L’Homme. Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft 6 (1995), H. 1, S. 45-60; dies.: Frühneuzeitliche Unternehmerinnen. Frauen im Bergbau und in der Eisenhüttenindustrie. In: dies. (Hrsg.): Ökonomien des Lebens. Zum Wirtschaften der Geschlechter in Geschichte und Gegenwart. Münster 2004, S. 135-162; Vanja, Christina: Bergarbeiterinnen. Zur Geschichte der Frauenarbeit im Bergbau, Hütten- und Salinenwesen seit dem späten Mittelalter. Teil 1: Spätes Mittelalter und Frühe Neuzeit. In: Der Anschnitt 39 (1987), S. 215. Johnson, Christopher H.: Das „Geschwister Archipel“. Bruder-Schwester-Liebe und Klassenformation im Frankreich des 19. Jahrhunderts. In: L’Homme. Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft 13 (2002), H. 1, S. 50-67; vgl. auch Lanzinger, Margaret: Schwestern-Beziehungen und Schwager-Ehen. Formen familialer Krisenbewältigung im 19. Jahrhundert. In: Labouvie, Eva (Hrsg.): Schwestern und Freundinnen. Zur Kulturgeschichte weiblicher Kommunikation. Köln/Weimar/Wien 2009, S. 263-266.

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führung der Sperrstunde. 26 Vor diesem Hintergrund boten die Frauenfeste womöglich die einzige, jetzt im Haus einer der Frauen stattfindende Möglichkeit des rituellen Zusammenseins und Trinkens in der Frauenrunde. Auch die weiblichen Konsumgewohnheiten hatten sich insgesamt vom Genuss von gezuckertem und gewürztem Wein im 16. und 17. Jahrhundert zum billigeren Branntwein gewandelt. 27 Und schließlich hatten sich im Zuge eines heftigen Bevölkerungswachstums die Zahl der Festanlässe und ihrer Teilnehmerinnen vervielfacht. Betrachtet man diesen Wandel vor dem Hintergrund einer insgesamt stärker reglementierten öffentlichen Geselligkeit beider Geschlechter, so musste ein von einer größeren Zahl von Frauen zu vermehrten Terminen verursachter Anstieg des nächtlichen Lärmpegels, den man zudem mit der zeitlichen Ausdehnung der Initiationsrituale in Verbindung bringen kann, gerade in einer Zeit, in der die männliche Wahrnehmung für „Nachtschwärmerei“ und feuchtfröhliche Geselligkeit durch Kontrolle, eigene Bestrafung und Reglementierung sensibilisiert war, nunmehr als eine Art weiblicher Aufsässigkeit erscheinen. Wenn demnach ehrbare Frauen sich bei Ausübung ihrer Festkultur wie „nachtschwärmende Jünglinge“ verhielten, sich andauernd erlaubten, was man ihren Söhnen und Ehemännern verbot, waren aus der männlichen Perspektive möglicherweise die Grenzen des „Weiberrechts“, das aber auf der rechtlich-politischen Ebene als gemeinsames Anliegen beider Geschlechter weiterhin die Anerkennung der Ehemänner fand, überschritten. Nicht zuletzt die neuen Akzente in den obrigkeitlichen Verordnungen und den Worten der Dorfgeistlichen, Schultheißen oder Amtmänner, Schilderungen vom erzwungenen häuslichen Trinken der Frauen und von Übergriffen auf Männer in deren eigenen vier Wänden, verschärften im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts auf Seiten der Männer den Eindruck einer gegen die männliche Ordnungsgewalt gerichteten, sich im eigenen Haus und innerhalb der jetzt mehr und mehr ins Haus verlagerten Festkultur der Frauen vollziehenden Grenzüberschreitung. 28 Selbstverständlich gehörte das Haus weiterhin zum Zuständigkeitsbereich der Frauen, erkennbar wird jedoch ein allmählicher Verlust an weiblicher häuslicher Autorität und an vormaligen, auf das 26

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Vgl. Schindler, Norbert: Nächtliche Ruhestörung. Zur Sozialgeschichte der Nacht in der frühen Neuzeit. In: ders.: Widerspenstige Leute. Studien zur Volkskultur in der frühen Neuzeit. Frankfurt a.M. 1992, S. 215-257, bes. S. 223f.: Die Gruppe der ledigen Burschen habe „die Kontrolle über den lokalen Heiratsmarkt“ ausgeübt, ja „die rauhe Stimme des kommunalen Gewissens“ gebildet; vgl. auch Blessing, Werner K.: Fest und Vergnügen der „kleinen Leute“. Wandlungen vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. In: Dülmen, Richard van/Schindler, Norbert (Hrsg.): Volkskultur. Zur Wiederentdeckung des vergessenen Alltags (16.-20. Jahrhundert). 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1987, S. 352-379. Vgl. Schaller, Sabine: Kampf dem Alkohol. Weibliches Selbstverständnis und Engagement in der deutschen alkoholgegnerischen Bewegung (1883-1933). Freiburg i.Br. 2009, S. 3363. Vgl. oben, Anm. 22.

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Haus bezogenen weiblichen Herrschaftsrechten. Kirche wie Obrigkeit erwarteten vom Gatten als dem nach der (neuen) Geschlechterordnung jetzt allein verantwortlichen Hausherrn, dass er seine renitente Ehefrau durch die Einschränkung ihrer besonders im weiblichen kollektiven Brauchtum erkennbaren häuslich-sozialen Überschreitungen zur Räson bringe. Ein Blick auf die in weiten Teilen des deutschsprachigen Raumes nur von Frauen begangenen Tauffeste 29 lässt stellvertretend die weiteren Entwicklungslinien sichtbar werden: den Wandel nämlich von reinen Frauenfesten oder anderen Zuständigkeiten der Frauen zu Familienfesten bzw. Familienangelegenheiten, bei denen jetzt der Hausherr die alleinige legitime Kompetenz beanspruchte, Einladender und Gastgeber zu sein. Nicht mehr das ritualisierte Vermögen des Kindergebärens und der weibliche Statuswechsel standen nun im Mittelpunkt der Tauffeste, sondern ihre Funktion als Plattform der häuslichen Repräsentation und der Inszenierung hausväterlicher Ehre. 30 Diese Veränderungen nahmen eine Entwicklung vorweg, die sich ab der Mitte des 19. Jahrhunderts in einem Wandel der übrigen Frauenfeste fortsetzte. Ritualsequenzen der Status initiierenden „Weiberhochzeiten“ etwa wurden in die allen zugänglichen Hochzeitsfeste integriert, das rituelle Überleiten in die Patenschaft als symbolischer Elternschaft formierte sich wie viele andere Elemente aus dem weiblichen Kompetenz- und Zuständigkeitsbereich zum Bestandteil der ländlichen Jugendkultur. Von Frauen gesetzte, über Jahrhunderte durch die Praxis gefestigte und im Ritual verteidigte Geschlechtergrenzen zur Absicherung kollektiver, öffentlicher weiblicher Aktivitäten im Namen und für die Gemeinschaft wurden damit im 19. Jahrhundert entweder zugunsten des männlichen Familienoberhauptes oder der nachgeborenen Generationen verschoben oder als Angelegenheiten der gesamten Familie (des „Privaten“) aufgehoben.

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Vgl. Reichart, Andrea: Wochenbett und Kindertaufe. Die Privatisierung des Alltags in den Satzungen der spätmittelalterlichen Stadt Essen. In: Lundt, Bea (Hrsg.): Vergessene Frauen an der Ruhr. Von Herrscherinnen und Hörigen, Hausfrauen und Hexen 800-1800. Köln/Weimar/Wien 1992, S. 143-173; Kerner, Wolfram: Gläubigentaufe und Säuglingstaufe. Norderstedt 2004; Lange, Christian/Leonhard, Clemens/Olbrich, Ralph (Hrsg.): Die Taufe. Einführung in Geschichte und Praxis. Darmstadt 2008; Labouvie 2000 (wie Anm. 1), S. 217235; dies.: Nachkommenschaft und Dynastie. Geburten und Tauffeste im anhaltinischen Adel zwischen Repräsentation, Präsentation und Präsenz. In: dies. (Hrsg.): Adel in Sachsen-Anhalt. Höfische Kultur zwischen Repräsentation, Unternehmertum und Familie. Köln/Weimar/Wien 2007, S. 207-243. Vgl. Labouvie 2000 (wie Anm. 1), S. 275-278.

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Aufbruch und Festschreibung Zum Verhältnis von Geschlechtergrenzen und kulturellen Grenzen auf europäischen Auslandsreisen der Frühen Neuzeit

Die Ordnung der Geschlechter stellte in zahlreichen Reiseberichten der Frühen Neuzeit ein wesentliches Kriterium für die Beschreibung und Bewertung der gesellschaftlichen Ordnung insgesamt dar. Diese Entwicklung setzte im 16. Jahrhundert ein und fand ihren Höhepunkt mit der Enzyklopädisierung des Reisens im Zuge der Aufklärung. Geschlechterverhältnisse wurden freilich in den meisten Reisezeugnissen einseitig über die Beschreibung der Frauen und ihres Platzes in der Gesellschaft abgebildet. Die Rolle der Männer war dabei zwar gewissermaßen als gesellschaftliche Matrix stets mitgedacht, lässt sich in ihrem Verhältnis zum anderen Geschlecht jedoch nur implizit, als eine Art Negativabdruck, erschließen. Reiseberichte handelten zwar meist in erster Linie von Männern – Reisenden wie Einheimischen – deren Geschlechterrollen werden jedoch kaum explizit reflektiert. 1 Die Bedeutung der Beschreibung fremder Frauen bzw. ungewohnter Geschlechterverhältnisse für die Darstellung fremder Gesellschaften wuchs im Laufe der Frühen Neuzeit stetig an und wurde im 18. Jahrhundert zu einem der dominierenden Aspekte vieler Reisebeschreibungen. Wie Folker E. Reichert aufgezeigt hat, stellte in der Allgemeinen Historie der Reisen zu Wasser und zu Lande, einer der großen Reisesammlungen des 18. Jahrhunderts, der Begriff „Weiber“ das Stichwort mit den meisten Einträgen im Generalindex der 21 Bände umfassenden Sammlung dar, flankiert von weiteren Begriffen wie „Frauen“, „Frauenzimmer“ und „Frauenspersonen“. 2 Für die Untersuchung von Geschlechterrollen und Geschlechtergrenzen in frühneuzeitlichen Reisezeugnissen gilt es daher erstens die diachrone Entwicklung im Auge zu behalten, denn mit dem quantitativen Anwachsen des Themas veränderte sich auch dessen inhaltliche Bedeutung. Zweitens ist der 1

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Vgl. dazu auch Reichert, Folker E.: Fremde Frauen. Die Wahrnehmung von Geschlechterrollen in den spätmittelalterlichen Orientreiseberichten. In: Engels, Odilo/Schreiner, Peter (Hrsg.): Die Begegnung des Westens mit dem Osten. Sigmaringen 1993, S. 167-184, hier S. 168. Vgl. ebd., S. 167.

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Vielfalt der Fremdheiten Rechnung zu tragen, die in frühneuzeitlichen Reiseberichten zutage treten. Fremde Frauen stehen nicht etwa für ein undifferenziertes Fremdes schlechthin, sondern die Grade und die Art der zum Ausdruck gebrachten Fremdheitserfahrungen variieren je nach Ausgangsposition des Betrachters oder der Betrachterin und den bereisten Ländern. Ein differenziertes Bild dieser Fremdheitsbezüge zu zeichnen ist der Forschung, die in den meisten Fällen lediglich ein Ausgangs- oder Zielland (oder beides) in den Blick nimmt und diese Befunde dann nicht selten auf Fremdheit allgemein extrapoliert, noch längst nicht gelungen und kann auch hier nur in Ansätzen geleistet werden. Drittens schließlich ist zu berücksichtigen, dass frühneuzeitliche Reiseberichte von einem hohen Maß an Intertextualität geprägt sind und auch die Wahrnehmung von Geschlechterverhältnissen durch das Vorwissen der Reisenden, zu dem nicht zuletzt schriftlich und mündlich überlieferte Stereotypen gehörten, beeinflusst wurde. So warnen Anne Laurence und D. Christopher Gabbard nachdrücklich davor, die Schilderung von Geschlechterverhältnissen in frühneuzeitlichen Reiseberichten als authentischen Ausdruck eigener Beobachtungen zu werten. 3 In der Tat gehörten zum frühneuzeitlichen Kanon an Völker- und später Nationalstereotypen auch zahlreiche Geschlechtsstereotypen. Sie finden sich sowohl in den einschlägigen Völkerkunden und Kosmographien als auch umgekehrt in Traktaten, die sich mit Geschlechterfragen beschäftigen, wie etwa dem 1529 erschienenen und in zahlreiche Sprachen übersetzten Werk des aus Spanien stammenden Humanisten Juan Luis Vives De officio mariti. 4 Die Grundlage meiner Überlegungen bilden Reisezeugnisse von rund 100 Reisenden aus dem Zeitraum von 1525 bis ca. 1730 (in Einzelfällen auch darüber hinaus), wobei der Schwerpunkt auf der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts und dem 17. Jahrhundert liegt. Jeweils etwa die Hälfte der Reisezeugnisse stammt von deutschen und von französischen Reisenden. Sie entstammen alle dem Kontext adligen Reisens, mit so unterschiedlichen Reiseanlässen wie Fürstenreisen, militärischen Erkundungen oder Feldzügen, Diplomatenreisen und Gelehrtenreisen, um nur einige zu nennen. Bei den untersuchten Quellen handelt es sich vorwiegend um handschriftliche oder publizierte Reiseberichte 3

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Vgl. Laurence, Anne: How Free Were English Women in the Seventeenth Century? In: Kloek, Els/Teeuwen, Nicole/Huisman, Marijke (Hrsg.): Women of the Golden Age. An International Debate on Women in Seventeenth Century Holland, England and Italy. Hilversum 1994, S. 127-135; Gabbard, D. Christopher: Gender Stereotyping in Early Modern Travel Writing on Holland. In: Studies in English literature 1500-1900 43 (2003), H. 1, S. 83-100. Zu Geschlechterstereotypen in Völkerkunden siehe beispielsweise Stanzel, Frank K. (Hrsg.): Europäischer Völkerspiegel. Imagologisch-ethnographische Studien zu den Völkertafeln des frühen 18. Jahrhunderts. Heidelberg 1999; Vives, Juan Luis: De officio mariti. Brügge 1529.

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und -journale und um Memoiren sowie in geringerem Umfang auch um Briefe. Etwas mehr als 60% dieser Reisezeugnisse enthalten Aussagen über die Geschlechterordnung der bereisten Länder. Während des gesamten 16. Jahrhunderts und noch darüber hinaus findet man Beschreibungen der Geschlechterordnung in Form von Aussagen über „das Frauenzimmer“ oder „das Weibsvolk“ zunächst einmal als Bestandteil von Städte- und Regionenbeschreibungen. In Jakob Beyrlins 1606 erschienenem „Reyß Buch“, das sich für die europäischen Reisen auf eigene Reiseerlebnisse stützte und für andere Kontinente fremde Reiseberichte kompilierte, hieß es beispielsweise über Siena: „Da hat es ein berhümbte Hoheschulen/ Einen guten Weinwachß/ Einen reichen Spittal/ Ein schön Weibsvolck.“ 5 Ähnliche Aussagen finden sich dort auch über Halberstadt und Maastricht. Beschrieben wurden, wenn überhaupt, die Kleidung und die Haartracht der Frauen, oft ergingen jedoch lediglich pauschale Urteile über ihre vermeintliche Schönheit oder Hässlichkeit. Auch wenn diese Äußerungen im Kontext von Städte- und Landschaftsbeschreibungen stehen, handelt es sich dabei nicht um rein ästhetische Urteile, denn im zeitgenössischen Kontext transportierten die Adjektive schön und hässlich in der Regel zugleich eine moralische Wertung und spiegelten damit nicht selten den Tenor der gesamten Beschreibung wider. Gegen Ende des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts wurden die Schilderungen ausführlicher und tauchten häufig im Rahmen von Beschreibungen der Sitten und Gebräuche eines Landes auf, denen bisweilen eigene Kapitel mit Titeln wie Des Maximes, Moeurs & Coutumes des Espagnols gewidmet waren. 6 Dies war nicht zuletzt dem Einfluss von Reise- und Länderberichten über die sogenannte „Neue Welt“ Amerikas geschuldet, die regelmäßig Ausführungen zu den „Sitten und Gebräuchen der Wilden“ enthielten. 7 AmerikaBerichte erlebten Ende des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts einen regelrechten Boom und wurden entsprechend intensiv rezipiert. 8 Noch deutlicher

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Beyrlin, Jakob: Reyß Buch. Das ist Ein gantz Schöne Beschreibung und Wegweyser/ etlicher Reysen/ durch gantz Teutschland/ Polen/ Siebenbürgen/ Dennemarck/ Engeland/ Hispanien/ Franckreich/ Italien/ Sicilien/ Egypten/ Indien/ Ethiopien/ und Türckey etc. [...]. Straßburg 1606, S. 36. Vgl. [anonym]: Voyages faits en divers temps en Espagne, en Portugal, en Allemagne, en France et ailleurs. Par Monsieur M. ****. Amsterdam 1699, S. 71-80. Exemplarisch für die umfangreiche Forschungsliteratur zu diesem Thema seien genannt Harbsmeier, Michael: Wilde Völkerkunde. Andere Welten in deutschen Reiseberichten der Frühen Neuzeit. München 1994; Pagden, Anthony: The fall of natural man. The American Indian and the origins of comparative ethnology. Cambridge 1982. Bezeichnend für den Erfolg der Amerika-Berichte sind die drei großen Reisesammlungen, die Ende des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts von Richard Hakluyt, Levinus Hulsius sowie von Theodor De Bry und seinen Nachfahren herausgegeben wurden. Als Über-

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zeigt sich der Einfluss der Amerika-Berichterstattung auf europäische Reiseberichte an der Art, wie das Äußere und das Verhalten von Frauen als Metaphern für die Fremdheit und bisweilen sogar Wildheit von Völkern oder Bevölkerungsgruppen verwendet wurden, 9 und zwar vorzugsweise in Regionen, die als geographisch oder kulturell randständig wahrgenommen wurden, wie Gebirgsregionen, Inseln, oder auch osteuropäische Länder wie Polen und Russland. Exemplarisch für diese Sicht ist die Darstellung der Frauen in Polen und Reußen im Reisejournal des ostfriesischen Landadeligen Ulrich von Werdum aus den 1670er Jahren. 10 Dieser Aspekt kann hier allerdings aus Raumgründen nicht näher ausgeführt werden; ich werde mich daher auf Aussagen konzentrieren, die sich auf Geschlechtergrenzen im engeren Sinne beziehen. Mit der Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts einsetzenden Enzyklopädisierung des Reisens erhielten die Schilderungen der Geschlechterordnung dann noch einmal eine neue Qualität. Durch den Anspruch auf eine umfassende und vor allem systematische Erfassung der Gesellschaft der bereisten Länder wurde die Ordnung der Geschlechter nicht nur zu einem regelmäßigen Bestandteil von Reiseberichten, sondern erfuhr vor allem eine Verschiebung weg von den „Sitten und Gebräuchen“ hin zu einer deutlicheren Verortung in der politischen Ordnung eines Landes einerseits sowie der Etablierung sogenannter Nationalcharaktere andererseits. 11

Geschlechtergrenzen als Chiffre für die Gesellschaftsordnung Die Ordnung der Geschlechter fungierte in frühneuzeitlichen Reiseberichten als zentrale Kategorie für die Wahrnehmung und Beschreibung von Fremdheit, das heißt eine als fremd beschriebene Geschlechterordnung stand als Chiffre für die Fremdheit der Gesellschaftsordnung eines Landes insgesamt.

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blick nach wie vor einschlägig ist Böhme, Max: Die grossen Reisesammlungen des 16. Jahrhunderts und ihre Bedeutung. Straßburg 1904 (ND Amsterdam 1962). Vgl. Schülting, Sabine: Wilde Frauen, fremde Welten. Kolonisierungsgeschichten aus Amerika. Reinbek 1997; Weigel, Sigrid: Nahe und ferne Fremde – das Territorium des ‚Weiblichen‘. Zum Verhältnis von ‚Wilden‘ und ‚Frauen‘ im Diskurs der Aufklärung. In: Koebner, Thomas/Pickerodt, Gerhart (Hrsg.): Die andere Welt. Studien zum Exotismus. Frankfurt a.M. 1987, S. 171-199. Vgl. [Werdum, Ulrich von]: Das Reisejournal des Ulrich von Werdum (1670-1677), hrsg. von Cramer, Silke. Frankfurt a.M. 1990, S. 71-270. Vgl. Nenon, Monika: Nationalcharakter und Kultur. Die Reiseberichte von Sophie von La Roche. In: Carleton Germanic Papers 24 (1996), S. 57-72; Pelz, Annegret: „Ob und wie Frauenzimmer reisen sollen?“ Das „reisende Frauenzimmer“ als eine Entdeckung des 18. Jahrhunderts. In: Griep, Wolfgang (Hrsg.): Sehen und Beschreiben. Heide 1991, S. 125135.

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Dabei stechen zwei Aspekte besonders hervor. Erstens die Frage der Promiskuität respektive Trennung der Geschlechter, d.h. die Frage nach Geschlechterräumen und deren Grenzen. Zweitens die Frage der Freiheit bzw. Unfreiheit der Frauen, d.h. die Frage nach ihren Handlungsspielräumen und deren Grenzen. Auffällig ist zunächst einmal, dass sich deutsche Reisende kaum einmal über die Geschlechtergrenzen in Frankreich äußerten. Das gleiche gilt umgekehrt auch für die Äußerungen französischer Reisender über Deutschland. Wenn dies ausnahmsweise doch einmal geschah, bezog es sich lediglich auf einzelne Aspekte des sozialen Lebens, nicht aber auf die Gesellschaft insgesamt. Im Gegensatz dazu äußern sich sowohl deutsche als auch französische Reisende vielfach sehr dezidiert zu den Geschlechtergrenzen in England, Italien und Spanien. Das deutet darauf hin, dass die Geschlechterordnung in Frankreich und in Deutschland als nicht signifikant unterschiedlich wahrgenommen wurde, die anderer Länder dagegen sehr wohl. Mit Befremden nahmen französische und deutsche Reisende vor allem eine strikte räumliche Trennung der Geschlechter im öffentlichen Raum in Italien und noch mehr in Spanien zur Kenntnis. So schrieb etwa Michel de Montaigne im Februar 1581 über den Karneval in Rom: „Partout où elles se laissent voir en public, soit en coche, en fête ou en théâtre, elles sont à part des hommes“, fügte jedoch hinzu, dass sich beim Tanz durchaus Kontaktmöglichkeiten inklusive körperlicher Berührung ergäben. 12 Und Friedrich Lambert Corfey konstatierte im Jahr 1700 hinsichtlich der Spazierfahrten auf dem Corso in Rom: „Die Weiber und Menner fahren nimmer in einer Carosse zusamen, sondern allezeit ein jedes Geschlegt aparte.“ 13 Verwundert äußerte sich Corfey auch darüber, dass in Rom in verschiedenen Kirchen und Kapellen Frauen der Zutritt verboten war, oder darüber, dass in Messina Männer und Frauen nicht nur getrennte Beichtstühle benutzten, sondern auch separate Beichtväter hatten. 14 Auch in Spanien beobachteten Reisende eine räumliche Trennung der Geschlechter, mit dem Unterschied, dass hier die Trennung darin bestand, dass die Frauen das Haus wenig verließen und der öffentliche Raum daher weitgehend eine Sphäre der Männer war. So schilderte der anonyme Autor der Voyages faits en divers temps anlässlich seines Madridaufenthaltes im Juni 1670 die Plaza Mayor wie folgt: „Le dedans de la place est où se fait le marché comme aux Halles à Paris. Les hommes vont y acheter les provisions du mé12

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„Überall, wo sie [die Frauen] sich öffentlich sehen lassen, in der Kutsche, auf Festen, im Theater, sind sie von den Männern getrennt.“ (Montaigne, Michel de: Journal de voyage, hrsg. von Garavini, Fausta. Paris 1983, S. 206f.; Übers. d. Verf.). Corfey, Lambert Friedrich: Reisetagebuch 1698-1700, hrsg. von Lahrkamp, Helmut. Münster 1977, S. 259. Vgl. ebd., S. 172f., 229.

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nage; car les femmes ne s’en mêlent point, comme elles font en France.“ 15 Dass die räumliche Trennung der Geschlechter tatsächlich als ein hervorstechendes Merkmal der Fremdheit wahrgenommen wurde, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass dieses Element ebenfalls häufig in den Beschreibungen jüdischer Stadtviertel bzw. Synagogen begegnet, die innerhalb zahlreicher Reiseberichte als Fluchtpunkt der Alteritätswahrnehmung fungieren. 16 Das zweite Thema, anhand dessen Geschlechtergrenzen thematisiert wurden, war die Freiheit bzw. Unfreiheit der Frauen – und auch hier standen Italien und Spanien im Vordergrund. Die Schilderungen der italienischen Verhältnisse fielen dabei jedoch erheblich ambivalenter aus als die der spanischen, die in dieser Hinsicht einhellig auf Kritik oder Unverständnis bei deutschen und französischen Reisenden stießen. Nicolas Payen bezeichnete Mitte des 17. Jahrhunderts die venezianischen Edelfrauen als „unglückliche, gefangene Sklavinnen“ (esclaves, prisonniers, & malheureuses). 17 Der Autor der 1670 anonym erschienenen Lettres curieuses et relations de voyage, der eigene Reiseerlebnisse literarisch in Form galanter Briefe verarbeitete, widmete gar einen ganzen Brief von sechs Seiten Länge den venezianischen Frauen, in dem er wiederholt betonte, dass sie eingesperrt seien und über sehr wenig Freiheit verfügten. Er führte darin unter anderem aus, dass sie am Sonntag während der Messe – bzw. während fünf oder sechs aufeinanderfolgender Messen – die dort gegebene Freiheit des Blickkontaktes nutzten, da ihre Augen sonst die ganze Woche über Gefangene seien. 18 Ähnlich wie dieser Autor schrieb Sophie von Hannover in einem Brief vom Januar 1665, die italienischen Frauen – in diesem Fall die römischen – seien „immer eingesperrt“ (toujours renfermées), 19 und selbst der Autor eines militärischen Spionageberichtes,

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„Inmitten des Platzes ist ein Markt, so wie in den Hallen von Paris. Die Männer kaufen dort die Vorräte für den Haushalt ein, denn die Frauen kümmern sich nicht darum, wie sie es in Frankreich tun.“ (Voyages faits 1699 [wie Anm. 6], S. 96; Übers. d. Verf.). Vgl. Calabi, Donatella/Nolde, Dorothea/Weinstein, Roni: The ‘city of Jews’ in Europe. The conservation and transmission of Jewish culture. In: Calabi, Donatella/Christensen, Stephen Turk (Hrsg.): Cities and Cultural Exchange in Europe, 1400-1700. Cambridge 2007 (= Cultural Exchange in Early Modern Europe 2), S. 87-113, hier S. 102-113. Payen, Nicolas: Les Voyages de Monsieur Payen où sont contenues les descriptions d’Angleterre, de Flandre, de Brabant, d’Holande, de Dennemarc, de Suède, de Pologne, d’Allemagne et d’Italie [...]. Paris 1663, S. 151. Vgl. [anonym]: Lettres curieuses, ou Relations de Voyages, qui contiennent ce qu’il y a de plus rare & de plus remarquable dans l’Italie, la Hollande, la Flandre, l’Espagne & l’Angleterre [...]. Paris 1670, S. 100-105. Sophie de Hanovre [Sophie von Hannover]: Mémoires et lettres de voyage, hrsg. von Van der Cruysse, Dirk. Paris 1990, S. 238. Ähnlich auch eine Eintragung des Hofmeisters im Reisejournal Friedrich Augusts von Sachsen am 31.12.1688 in Mailand, vgl. Keller, Katrin (Hrsg.): „Mein Herr befindet sich gottlob gesund und wohl“. Sächsische Prinzen auf Reisen. Leipzig 1994, S. 360.

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dessen Aufgabe eigentlich darin bestand, Festungen europäischer Städte auszukundschaften, befand über die Frauen in Florenz: „les femmes y sont bien faites, & auroient assez de penchant à la galanterie; car elles ont de l’esprit infiniment, mais elles sont comme le reste des Italiennes, un peu captives.“ 20 Besonders drastisch fiel das Urteil Friedrich Lambert Corfeys aus, der sich bei seinem Besuch in der Bibliotheca Vaticana Anfang des Jahres 1700 angesichts der Tatsache, dass die meisten Bücher in Schränken verschlossen und nicht zugänglich waren, zu folgendem Vergleich mit den seiner Meinung nach ebenso weggesperrten Frauen angeregt sah: „Es ist sonsten schade, daß dieser Schatz immer versperrt und geheimb gehalten werde, also daß er mehr einem Schauessen als einer profitablen Bibliothec zu vergleichen sey, und scheinet es, daß die Italiener die Bücher wie das Fraunzimmer und diese wie die Bücher tractiren.“ 21 Diese Urteile über die Stellung der Frauen in der italienischen Gesellschaft wurden freilich dadurch relativiert, dass die Autoren zugleich immer wieder darauf hinwiesen, dass es bei Festen und in der Kirche zahlreiche Umgehungsstrategien gegenüber der Abschottung von Frauen gab, die Kontakte zwischen den Geschlechtern ermöglichten, welche das aus den Heimatländern der Reisenden gewohnte Maß weit überstiegen. So schrieb Sophie von Hannover im August 1664 in einem Brief aus Venedig: „De cette semaine tous les jours ont été des fêtes, c’est-à-dire que toutes les femmes vont à l’église pour parler ou pour faire l’amour.“ 22 Sophie von Hannover sowie weitere Reisende betonten zudem, dass es in Italien üblich sei, dass Frauen einen offiziellen Galan, einen „Cicisbeo“, hätten. 23 Alles andere als ambivalent fiel dagegen das Urteil über Spanien aus, wo nach einhelliger Meinung deutscher und französischer Reisender die Frauen im Haus eingesperrt seien und in Unfreiheit lebten. So beklagte MarieCatherine d’Aulnoy Ende des 17. Jahrhunderts in ihren Reiseberichten über Spanien den eingeschränkten Zugang der Frauen zum öffentlichen Raum. 24 20

21 22

23 24

„Sie sind wohlgestalt und hätten gewiss eine Neigung zur Galanterie, denn sie sind sehr geistreich, aber sie sind wie die übrigen Italienerinnen ein wenig gefangen.“ ([Anonym:] Memoires et plans geographiques de principales places de France, Italie, Allemagne, Hollande, et Flandre Espagnole; [...] par un ancien Officier Gentilhomme Breton. Paris 1698, S. 183; Übers. d. Verf.). Corfey 1977 (wie Anm. 13), S. 189. „In dieser Woche waren alle Tage Feiertage, was bedeutete, dass alle Frauen zur Kirche gehen um sich zu unterhalten oder Liebeleien zu pflegen.“ (Sophie de Hanovre 1990 [wie Anm. 19], S. 201; Übers. d. Verf.). Vgl. ebd., S. 90, 93. Vgl. Böhm, Roswitha: „Entrer dans la différence de deux nations“. Reise, Kulturtransfer und Gender in Marie-Catherine d’Aulnoys Reiseberichten aus Spanien (1690/91). In: Stedman, Gesa/Zimmermann, Margarete (Hrsg.): Höfe – Salons – Akademien. Hildesheim 2007, S. 187-211, hier S. 205.

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Dorothea Nolde

Der anonyme Autor der Voyages faits en divers temps widmete den Sitten und Gebräuchen der Spanier gar ein eigenes Kapitel, in dem der Umgang der Männer mit ihren Ehefrauen ein zentrales Thema darstellt. Die Ehefrauen werden als Sklavinnen der Männer bezeichnet, die kaum einmal ihr Haus verließen. Lediglich die portugiesischen Frauen, so heißt es, hätten noch weniger Freiheit. 25 Weitere Schilderungen dieser Art finden sich in deutschen und französischen Reiseberichten gleichermaßen. Die unverhohlene Schärfe der Verurteilung spiegelt nicht zuletzt einen gemeinsamen Kanon von antispanischen Vorurteilen wider, der deutsche wie französische Reiseberichte auch bei anderen Themen durchzieht. 26 Diametral entgegengesetzt zur Darstellung spanischer Unfreiheit stand das Bild der Freiheit, das Frauen nach Ansicht der Reisenden in England genossen. Auch diese Wahrnehmung war indes keineswegs frei von Kritik, wie folgende Passage aus dem Reisebericht Ulrich von Werdums zeigt, der 1673 England besuchte: „Die Engelländer, wiewohl sie alle andern nationen gegen sich gering achten, undt sehr viel auf sich selbst halten, so sindt sie doch von gar lasterhaffter Inclination, sehr wollüstig mit dem frauenVolk, undt fast mehr im fressen alß im sauffen; von natur hochmütig, unbeständig, undt ungetreu. die weiber haben hier grosse freyheit, reiten viel zu pferde, darmit sie sehr wohl wissen umbzugehen, undt tragen fast alle hohe spitze hüte.“ 27

Der Autor der Lettres curieuses stieß in das gleiche Horn und bescheinigte den Engländerinnen, sie lebten in ausgesprochen großer Freiheit, seien klug genug, ihre Liebhaber vor ihren Ehemännern zu verheimlichen, gingen gerne ins Wirtshaus und einige rauchten sogar. 28 Freiheit wird hier mit Zügellosigkeit und mit gesellschaftlicher Unordnung gleichgesetzt. Sowohl deutsche als auch französische Reisende grenzen hinsichtlich der Geschlechterverhältnisse das eigene Land gegen die zwei Extreme weiblicher „Sklaverei“ und „Zügellosigkeit“ ab. In diesen negativen Heterostereotypen schwingt implizit das positive Autostereotyp einer ausgewogenen Geschlechterordnung mit, das auffällige Parallelen zum Ideal der gemäßigten Zone der

25 26

27 28

Vgl. Voyages faits 1699 (wie Anm. 6), S. 80, 188. Für das 18. Jahrhundert vgl. dazu Bodenmüller, Thomas: Der Blick von außen. Spanien in europäischen Reiseberichten des 18. Jahrhunderts. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 51 (2001), S. 397-418. Zum Spanienbild in französischen Reiseberichten der Frühen Neuzeit vgl. Jiménez, Dolores: Viajes a España a la francesa. In: Boixatreu, Mercè/Lefere, Robin (Hrsg.): La Historia de España en la literatura francesa. Madrid 2002, S. 203-213. Werdum 1990 (wie Anm. 10), S. 344. Vgl. Lettres curieuses 1670 (wie Anm. 18), S. 287f.

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zeitgenössischen Klimatheorie und der damit verbundenen Charaktereigenschaften aufweist. 29

Geschlechterstereotypen und Nationalcharakter Nicht eine fremde Geschlechterordnung per se, sondern eine Vielfalt an Fremdheiten konstatierten deutsche und französische Adlige beiderlei Geschlechts auf ihren Reisen durch Europa: strikte Geschlechtertrennung in Spanien, in Italien dagegen eine Trennung im öffentlichen Raum, aber Kontaktmöglichkeiten bei Festen, die das von zu Hause gewohnte Maß weit überstiegen; in England eine als Inbegriff weiblicher Freiheit und als Verwischung der Geschlechtergrenzen wahrgenommene Geschlechterordnung. Auch wenn die Sichtweise frühneuzeitlicher Reisender von gängigen Stereotypen beeinflusst war, so sahen sie sich doch angesichts dieser Variationsbreite mit der Erfahrung konfrontiert, dass Geschlechtergrenzen in anderen Ländern anders verliefen und anders ausgestaltet wurden, als sie dies aus dem eigenen Lande gewohnt waren. Es stellt sich daher die Frage, ob die Konfrontation mit einer solchen Pluralität von Grenzen sich auf die Wahrnehmungsraster der Reisenden im Hinblick auf die Ordnung der Geschlechter auswirkte. Betrachtet man die Entwicklung über den hier untersuchten Zeitraum von gut zweihundert Jahren, so lautet die Antwort ganz klar: nein. Das ist bemerkenswert im Vergleich zu anderen Themenfeldern, wie etwa der Religion, wo Reisende sich in vielfacher Weise zu Elementen fremder Religiosität ins Verhältnis setzten und wo sich durchaus erhebliche Veränderungen der Wahrnehmung und der Selbstverortung feststellen lassen. 30 Ging es dagegen um Geschlechtergrenzen, blieben eigene Position und Fremdwahrnehmung weitgehend unverbunden nebeneinander stehen. An Stelle von Bezugnahmen, wie im Falle der Religion, sind im Hinblick auf Geschlechterverhältnisse ganz überwiegend deutliche Abgrenzungen zu verzeichnen. Es kam im Verlaufe des Untersuchungszeitraums dabei zu einer verstärkten Festschreibung von Stereotypen, die jedoch gerade nicht in universale Geschlechterstereotypen im Sinne von „den Frauen“ und „den Männern“ mündeten, sondern ihrerseits

29

30

Zur Klimatheorie siehe Kiesel, Helmuth: Das nationale Klima. Zur Entwicklung und Bedeutung eines ethnographischen Topos von der Renaissance bis zur Aufklärung. In: Wiedemann, Conrad (Hrsg.): Rom – Paris – London. Stuttgart 1988, S. 123-134; Zacharasiewicz, Waldemar: Klimatheorie und Nationalcharakter auf der „Völkertafel“. In: Stanzel 1999 (wie Anm. 4), S. 119-138. Vgl. Nolde, Dorothea: Religion und narrative Identität in Reiseberichten der Frühen Neuzeit. In: Eder, Franz X. (Hrsg.): Historische Diskursanalysen. Genealogie, Theorie, Anwendungen. Wiesbaden 2006, S. 271-289.

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Dorothea Nolde

in Länder- oder Völkerstereotype umgewandelt wurden. Dass dabei ganz allgemein Weiblichkeitsstereotypen zur Charakterisierung nationaler Fremdheit verwendet würden, wie Birgit Neumann auf der Grundlage englischer Reiseberichte des 18. Jahrhunderts behauptet, lässt sich hingegen nicht bestätigen. 31 Dies mag für englische Reiseberichte über Frankreich und Italien, auf die sich ihre Aussage stützt, zutreffen, auf die Gesamtheit frühneuzeitlicher Reiseberichte lässt es sich jedoch nicht hochrechnen. Statt einer klaren Abgrenzung des Eigenen und des Fremden lässt sich ein facettenreiches und zugleich von Stereotypen geprägtes Mosaik von Grenzziehungen beobachten. Auch wenn sich die Darstellungen meist einseitig auf Frauen bezogen, standen die beschriebenen Geschlechtergrenzen jeweils für die Sitten und Bräuche und seit Ende des 17. Jahrhunderts verstärkt auch für den Nationalcharakter „der Spanier“, „der Italiener“ und „der Engländer“ – und nicht der Spanierinnen, der Italienerinnen und der Engländerinnen. Geschlechtergrenzen wurden in kulturelle und nationale Grenzen überführt. Damit war die Grundlage dafür geschaffen, dass Geschlechterstereotypen eine Rolle bei der Definition von Nationalcharakteren und Nationalismusvorstellungen des 18. Jahrhunderts spielen konnten. Entgegen verbreiteter Vorstellungen war diese Etablierung von Nationalcharakteren keineswegs ein rein bürgerliches Projekt, sondern, wie die Untersuchungsbeispiele belegen, adlige Reisende wirkten daran maßgeblich mit. Dies ist nicht zuletzt vor dem Hintergrund zu sehen, dass bei der Vorbereitung junger Adliger auf Herrschaftsund Militäraufgaben der Kenntnis „fremder Länder“ ein wichtiger Stellenwert zukam, sei es im Rahmen des häuslichen Unterrichts, sei es bei der Vorbereitung und Durchführung einer Kavalierstour. Trotz der hohen Mobilität des Adels und der oft europaweiten familiären Verbindungen, vor allem im Hochadel, waren überdies selbst im innerfamiliären Briefverkehr Abgrenzungen wie „ceux de vostre nation“ oder „nostre Allemagne“ keine Seltenheit. 32 Ins Ausland verheiratete Prinzessinnen hielten, trotz des meist beträchtlichen Anpassungsdrucks, in ihrem Selbstverständnis und ihrer Selbstdarstellung bisweilen geradezu ostentativ an der Zugehörigkeit zu ihrer Heimatkultur fest, so etwa die mit Philippe d’Orléans verheiratete Liselotte von der Pfalz am Hof von Versailles oder Eléonore d’Olbreuse, die Ehefrau des Celler Herzogs Georg Wilhelm von Braunschweig-Lüneburg. 33 31 32

33

Vgl. Neumann, Birgit: Gender und Nation im britischen Reisebericht des 18. Jahrhunderts. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 58 (2008), H. 4, S. 401-418. So z.B. in einem Brief des Herzogs von Zweibrücken an den Herzog La Trémoille vom 31. Mai 1601 und in einem Brief Anna von Bentheim-Tecklenburgs an ihre „Schwester“, die Herzogin La Trémoille, vom 26. Mai 1607, Archives Nationales Paris, 1 AP 28. Vgl. Fürstenwald, Maria: Liselotte von der Pfalz und der französische Hof. In: Buck, August u.a. (Hrsg.): Europäische Hofkultur im 16. und 17. Jahrhundert. Hamburg 1981, Bd. 3, S. 467-474; Voss, Jürgen: Liselotte von der Pfalz als Zeugin ihrer Zeit. In: ders.:

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Wenn es um die Beobachtung und Bewertung fremder Geschlechterverhältnisse geht, unterscheiden sich überdies bis zum Ende des 17. Jahrhunderts die Ausführungen von Autorinnen wie Sophie von Hannover oder Marie Catherine d’Aulnoy nicht fundamental von denen ihrer männlichen Zeitund Standesgenossen. Weibliche Reisende berichteten zwar tendenziell etwas häufiger über Frauen in fremden Ländern, ihre Wahrnehmung deckt sich jedoch in vielerlei Hinsicht mit derjenigen männlicher Reisender. Erst seit dem 18. Jahrhundert beanspruchten Autorinnen, etwa Sophie von La Roche oder Mary Wortley Montagu, allmählich für sich eine dezidiert weibliche Binnenperspektive, aus der sie die Lebenszusammenhänge von Frauen anderer Kulturen erschlossen.34 Dies deutet darauf hin, dass sich zu diesem Zeitpunkt die Vorstellung grundsätzlich geschlechtergetrennter sozialer Räume weitgehend durchgesetzt hatte. Erst auf dieser Grundlage war es reisenden Frauen möglich, in Abgrenzung gegenüber männlichen Reisenden eine größere eigene Nähe zu den Frauen der bereisten Länder zu postulieren, die sich keineswegs auf die auch faktisch vorhandenen größeren Zugangsmöglichkeiten reduzieren lässt.

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Deutsch-französische Beziehungen im Spannungsfeld von Absolutismus, Aufklärung und Revolution. Ausgewählte Beiträge. Bonn 1992, S. 52-70; Flick, Andreas: „Der Hof von Celle ist ganz verfranzt!“. Hugenotten und französische Katholiken am Hof Herzog Georg Wilhelms von Braunschweig-Lüneburg. In: Laß, Heiko (Hrsg.): Hof und Medien im Spannungsfeld von dynastischer Tradition und politischer Innovation zwischen 1648 und 1714. Celle und die Residenzen im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation. München/Berlin 2008, S. 73-95; Nolde, Dorothea: Eléonore Desmier d’Olbreuse (1639-1722) am Celler Hof als diplomatische, religiöse und kulturelle Mittlerin. In: dies./Opitz, Claudia (Hrsg.): Grenzüberschreitende Familienbeziehungen in der Frühen Neuzeit. Akteure und Medien des Kulturtransfers. Köln 2008, S. 107-118. Vgl. Maurer, Michael: Der Anspruch auf Bildung und Weltkenntnis. Reisende Frauen (17.19. Jahrhundert). In: Lichtenberg-Jahrbuch 1990, S. 122-158; Pelz, Annegret: Reisen Frauen anders? Von Entdeckerinnen und Reisenden Frauenzimmern. In: Bausinger, Hermann u.a. (Hrsg.): Reisekultur. München 1991, S. 174-178; Kuzcynski, Ingrid: „The Ladies Travel to Much Better Purpose than their Lords“. Reisebeschreibungen englischer Frauen des 18. Jahrhunderts. In: Hirsch, Hartmut (Hrsg.): Gesellschaft – Literatur – Sprache in Großbritannien und Irland. Halle (Saale) 1987, S. 33-63; Schutte-Watt, Helga: Woman’s progress. Sophie La Roche’s travelogues 1787-1788. In: The Germanic Review 69 (1994), H. 2, S. 50-60.

JOACHIM EIBACH

Männer vor Gericht – Frauen vor Gericht In der Rechtsprechung geht es – immer schon – um die Herstellung von „Gerechtigkeit“. Durch Urteilssprüche werden Grenzen gezogen, die sich dadurch auszeichnen, dass sie auf Rechtsnormen gründen und mittels rechtsbezogener Verfahren ausgehandelt werden. Auf diese Weise wird Legitimität beansprucht. 1 Bereits um 1500 trat die Justiz mit der öffentlich dargelegten Zusage an, ihre Urteile sorgfältig abzuwägen und „ohne Ansehen der Person“ zu fällen. Dies versprachen biblische Gebote und obrigkeitliche Eide für Richter. Inszenierungen der Justitia visualisierten das Versprechen auf Bildern und Statuen an Orten der Herrschaft. 2 Bedenkt man den Kontext der auf Rang und Privileg basierenden Ständegesellschaft, so stellt das Strafrecht in der Frühen Neuzeit tatsächlich einen Bereich dar, in dem bemerkenswert viel Gleichheit statuiert wurde. Indes lassen sich in der Hochauflösung des Strafrechts wie in der Praxis der Strafjustiz markante Grenzen der Ungleichheit erkennen. 3 Die auffälligste Grenzziehung in punkto Geschlecht ist folgende: Während die Kardinaltugend der Justitia seit dem Mittelalter von einer Frau verkörpert wurde, war das Richteramt faktisch in der Regel Männern vorbehalten. Dieser Aspekt zeigt sich auch noch in der karnevalesken Umkehrung, so in dem bekannten „Weibergericht“ der Frauen im hessischen Breitenbach, wo im Jahr 1653 die Frauen des Dorfs die Urteilskompetenz über einen Ehekonflikt beanspruchten und diese mittels Rügebrauch auch sogleich außergerichtlich in Szene setzten. 4 Bei näherem Hinsehen erweist sich das Justizhandeln als vielgestaltig. In der Ziviljustiz hatte bis in die Sattelzeit die Geschlechtsvormundschaft über die Ehefrau Bestand, meistens ausgeübt durch männliche Verwandte aus ih-

1 2 3

4

Vgl. allgemein Luhmann, Niklas: Legitimation durch Verfahren. Frankfurt a.M. 1983. Vgl. Behrisch, Sven: Die Justitia. Eine Annäherung an die Allegorie der Gerechtigkeit. Weimar 2006; Schild, Wolfgang: Bilder von Recht und Gerechtigkeit. Köln 1995. Vgl. ausführlicher Eibach, Joachim: Versprochene Gleichheit – Verhandelte Ungleichheit. Zum sozialen Aspekt in der Strafjustiz der Frühen Neuzeit. In: Geschichte und Gesellschaft 35 (2009), S. 488-533. Vgl. Vanja, Christina: Das „Weibergericht“ zu Breitenbach. Verkehrte Welt in einem hessischen Dorf des 17. Jahrhunderts. In: Wunder, Heide/Vanja, Christina (Hrsg.): Weiber, Menschen, Frauenzimmer. Frauen in der ländlichen Gesellschaft 1500-1800. Göttingen 1996, S. 214-222.

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Joachim Eibach

rer Herkunftsfamilie, 5 während die Strafjustiz formal von der gleichen Rechtsfähigkeit von Mann und Frau ausging. Dies gilt in der Justizpraxis der Frühen Neuzeit für die Möglichkeit, Anzeige oder Klage zu erheben, Zeugnis abzulegen, Suppliken einzureichen, Strafen zu erhalten. Zudem lassen sich verschiedene Funktionen der Justiz in Abhängigkeit von Rechtsbereich und Rechtsmaterie feststellen. Dadurch wird die Sache komplex. Denn die trennenden Markierungen zwischen Mann und Frau vor der Strafjustiz oszillierten, je nachdem, was verhandelt wurde: ein Ehekonflikt, ein Diebstahl, „Unzucht“ oder eine Wirtshausschlägerei. Darauf wird näher einzugehen sein. Unser Bild von der vormodernen Justiz ist in den letzten Jahren durch die Studien der Historischen Kriminalitätsforschung erheblich verändert worden. Mittels des mikrohistorisch akteursbezogenen Ansatzes ist – ohne die Metapher hier überstrapazieren zu wollen – eine alte Grenze abgetragen worden: diejenige zwischen Justizverfahren und sozialer Umwelt. Ging die ältere Rechtsgeschichte – in Fortschreibung der Aufklärung, vermittelt durch den Liberalismus des 19. Jahrhunderts – davon aus, dass der Inquisitionsprozess abgeschottet hinter verschlossenen Türen als reiner Willkürakt der Obrigkeit stattfand, so ist mittlerweile klar geworden, wie stark die Austauschprozesse zwischen Justiz und sozialer Umwelt waren. 6 Am Verfahren beteiligt waren nicht nur der obrigkeitliche „Inquirent“ und sein schutzloser „Inquisit“. Vielmehr basierte ein Großteil der untersuchten Fälle auf Anzeigen aus der Bevölkerung, häufig von direkt Betroffenen. Das abschließende Urteil war Resultat auch von Zeugenaussagen, Gutachten und Bittgesuchen (sogenannten Suppliken). Einhellig betonen Forschungen mit ganz unterschiedlichem Ansatz die Wichtigkeit des Leumunds des oder der Angeklagten. 7 Und dieser Leumund – also die „Glaubwürdigkeit“ – wurde vor Gericht ausgehandelt, d.h. sozial konstruiert. Denn die Richter ermittelten ihn im Wesentlichen aufgrund der Aussagen aus dem Umfeld des bzw. der Betroffenen. 5

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Vgl. Sabean, David Warren: Allianzen und Listen. Die Geschlechtsvormundschaft im 18. und 19. Jahrhundert. In: Gerhard, Ute (Hrsg.): Frauen in der Geschichte des Rechts. München 1997, S. 460-479. Vgl. Dinges, Martin: Justiznutzungen als soziale Kontrolle in der Frühen Neuzeit. In: Blauert, Andreas/Schwerhoff, Gerd (Hrsg.): Kriminalitätsgeschichte. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte der Vormoderne. Konstanz 2000 (= Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven), S. 503-544; Härter, Karl: Strafverfahren im frühneuzeitlichen Territorialstaat. Inquisition, Entscheidungsfindung, Supplikation. Ebd., S. 459-480; Eibach, Joachim: Städtische Strafjustiz als konsensuale Praxis. Frankfurt a.M. im 17. und 18. Jahrhundert. In: Schlögl, Rudolf (Hrsg.): Interaktion und Herrschaft. Die Politik der frühneuzeitlichen Stadt. Konstanz 2004 (= Historische Kulturwissenschaft 5), S. 181-214. Vgl. Griesebner, Andrea: Konkurrierende Wahrheiten. Malefizprozesse vor dem Landgericht Perchtoldsdorf im 18. Jahrhundert. Wien u.a. 2000, S. 164-167; Härter, Karl: Policey und Strafjustiz in Kurmainz. Gesetzgebung, Normdurchsetzung und Sozialkontrolle im frühneuzeitlichen Territorialstaat. Frankfurt a.M. 2005, S. 492.

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Bereits die Anzeige und damit das Absehen von außergerichtlicher Regelung machte eine gewisse Aussage über die soziale Situierung des Falls. Für Frauen wie für Männer, die als Angeklagte vor die Justiz treten mussten, gab es durchaus Handlungsmöglichkeiten – sofern man a priori der rechtlichen community zugehörte und in dieses ernste Spiel mit ungleicher Machtverteilung soziales Kapital einbringen konnte. Charakteristisch für die Justizpraxis seit dem Spätmittelalter ist, dass sie Trennlinien zwischen Innen und Außen, Einheimischen und Fremden stark reflektierte bzw. mitkonstruierte. 8 Mobile Fremde erhielten wesentlich häufiger punitiv ausgrenzende Sanktionen als sesshafte Einheimische. Indes konnten bei schweren Vergehen auch Einheimische ausgeschlossen, d.h. zu Fremden gemacht werden. Zentrale Beiträge zur Debatte um Justiz und Kriminalität kamen frühzeitig von Seiten der Geschlechtergeschichte. Der Hinweis auf die Orientierung des Strafrechts an den Konfliktformen der Männer, insbesondere beim Austausch körperlicher Gewalt, erklärt zumindest teilweise die auseinanderklaffenden Zahlen registrierter Männerdelinquenz und Frauendelinquenz. 9 Der Fokus auf die diskursiven Techniken vor Gericht beleuchtet, wie Verhörer und Richter die Dichotomie Frau – Mann in Vernehmungen vor Gericht konstruierten. Die Warnung vor einer verabsolutierenden „simple[n] Kontrastierung von Frauen und Männern“ 10 – nämlich als solchen, essentialistisch 8

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Näher dazu Eibach 2009 (wie Anm. 3), v.a. S. 526f.; eingehend zur binären Logik der Justiz demnächst Arlinghaus, Franz-Joseph: Inklusion/Exklusion. Funktionen und Formen des Rechts in der spätmittelalterlichen Stadt. Das Beispiel Köln. Konstanz 2010 (im Druck). Vgl. zuerst Burghartz, Susanna: Kein Ort für Frauen? Städtische Gerichte im Spätmittelalter. In: Lundt, Bea (Hrsg.): Auf der Suche nach der Frau im Mittelalter. Fragen, Quellen, Antworten. München 1991, S. 49-64; als reflektierter quantitativer Überblick Jütte, Robert: Geschlechtsspezifische Kriminalität im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte GA 108 (1991), S. 86-116; wichtig die Beiträge in Ulbricht, Otto (Hrsg.): Von Huren und Rabenmüttern. Weibliche Kriminalität in der Frühen Neuzeit. Köln 1995. Griesebner 2000 (wie Anm. 7), S. 299; vgl. Griesebner, Andrea/Mommertz, Monika: Fragile Liebschaften? Methodologische Anmerkungen zum Verhältnis zwischen historischer Kriminalitätsforschung und Geschlechtergeschichte. In: Blauert/Schwerhoff 2000 (wie Anm. 6), S. 205-232, v.a. S. 224; Burghartz, Susanna: „Geschlecht“ und „Kriminalität“ – ein fruchtbares Verhältnis? In: Jaun, Rudolf/Studer, Brigitte (Hrsg.): Weiblich – männlich. Geschlechterverhältnisse in der Schweiz. Rechtsprechung, Diskurs, Praktiken. Zürich 1995, S. 23-31; Ulbrich, Claudia: „Kriminalität“ und „Weiblichkeit“ in der Frühen Neuzeit. Kritische Bemerkungen zum Forschungsstand. In: Althoff, Martina/Kappel, Sibylle (Hrsg.): Geschlechterverhältnisse und Kriminologie. Weinheim 1996, S. 208-220; zur diskursiven Konstruktion der Geschlechter vor Gericht insbesondere Gleixner, Ulrike: „Das Mensch“ und „der Kerl“. Die Konstruktion von Geschlecht in Unzuchtsverfahren der Frühen Neuzeit (1700-1760). Frankfurt a.M. 1994; Burghartz, Susanna: Zeiten der Reinheit – Orte der Unzucht. Ehe und Sexualität in Basel während der Frühen Neuzeit. Paderborn 1999; Nolde, Dorothea: Gattenmord. Macht und Gewalt in der frühneuzeitlichen Ehe. Köln 2003.

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Joachim Eibach

– verweist auf weitere Grenzen, wie sie etwa durch Stand, Religion, Leumund oder Familienstatus gezogen wurden. An diese Überlegungen gilt es anzuknüpfen. Im Folgenden sollen drei konkurrierende Thesen, primär mit Blick auf die Strafjustiz, durchgespielt werden. Diese drei Thesen finden aktuell in der Forschung unterschiedlich starken Widerhall. Die Überzeugungskraft der zunächst kursorisch kurz genannten Thesen korrespondiert nicht zuletzt mit der Präferenz für einen bestimmten methodischen Ansatz. 1. These: Männer und Frauen wurden von der Justiz weitgehend gleich behandelt. Die Gerichte boten den Akteuren und Akteurinnen in vorgegebenen Verfahrensrollen gleiche Möglichkeiten zu agieren und entsprechende Erfolgsaussichten. Auswirkungen geschlechtlicher Markierung sind zwar gegeben, aber reduziert auf wenige spezifische Delikte. Insgesamt fungierte die Justiz als eine Institution, die Gendergrenzen durchaus in Frage stellte und überschritt. 2. These: Das Handeln der Justiz und vor der Justiz basierte – im Gegenteil – in hohem Maße auf Grenzziehungen, vor allem stereotypen Wahrnehmungen der beiden Geschlechter. Denn um am Aushandeln von „Gerechtigkeit“ vor Gericht erfolgreich teilnehmen zu können, mussten Frau und Mann die eigenen Aussagen in bestimmte Sprachmuster einpassen. Durch ihre soziokulturellen Verhaltenserwartungen konstruierten oder aber befestigten die Gerichte Grenzen zwischen den Geschlechtern. 3. These: Es gab nicht nur eine dichotomische Grenze und zwei fixe Stereotypen, die Frau und Mann in der Praxis vor Gericht voneinander unterschieden. Vielmehr gab es Optionen; für die Justiz wie auch für Akteurinnen und Akteure vor der Justiz. Geschlecht ist im Prozess des Aushandelns mal stark präsent, mal weniger relevant. In manchen Fällen ist Geschlecht das entscheidende Kriterium, das, worum es geht; in anderen wird es überlagert von soziokulturellen Grenzen vielerlei Art. Dies ist abhängig von folgenden Faktoren: Gerichtstyp und verhandeltes Rechtsgut, rechtliche Integration der Akteure, genutztes Kommunikationsmedium im Verfahren und gewählte Strategie vor Gericht.

These 1: Gleichheit der Geschlechter vor Gericht Es wurde bereits erwähnt, dass das Strafrecht während der Frühen Neuzeit im Vergleich zu anderen Rechtsbereichen von Grundsätzen der Gleichheit ausgeht. 11 Dies gilt für das materielle Strafrecht wie für das Verfahrensrecht. 11

Aus systemtheoretischer Perspektive ist dies generell im Hinblick auf die seit dem Spätmittelalter zu beobachtende Ausdifferenzierung des Rechts als funktionales Teilsystem mit

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So sah die Carolina von 1532 für die Stellung von Mann und Frau im Strafverfahren keine Unterschiede vor. Beide Geschlechter galten als prinzipiell zeugnis- und schuldfähig. 12 Lediglich zwei Delikte sind laut Carolina spezifisch: männliche Vergewaltigung („nottzucht“, Art. 119) und weibliche Kindstötung oder Kindsaussetzung (Art. 131f.). Die Formulierung anderer Artikel lässt den Richtern einigen Spielraum. So heißt es in punkto großer Diebstahl: Es „soll ermessen werden der standt und das wesen der person, so gestolen hat“ (Art. 160). 13 Die Praxis der Justiz zeigt, dass die meisten Gerichte – formal gesehen – für Frauen wie Männer in gleicher Weise zugänglich waren. Dieser Aspekt hängt nicht zuletzt an der Instanz und ihrer Zuständigkeit. So stellten Frauen vor den Ehegerichten häufig die Mehrheit der Klagenden wegen strittiger Eheversprechen oder Gewaltzufügung in der Ehe. 14 Von den saisonal tagenden Frevelgerichten der Amtleute in der dörflichen Niedergerichtsbarkeit – nicht jedoch von der Niedergerichtsbarkeit generell – waren sie dagegen vielerorts ausgeschlossen. 15 Eine prinzipielle Grenze der Zugänglichkeit zwischen den beiden Geschlechtern lässt sich aber nicht ziehen. Das Beispiel der Reichsstadt Frankfurt im 18. Jahrhundert zeigt, dass bei den Massendelikten Gewalt- und Eigentumsvergehen rund 20% der direkten Anzeigen vor Gericht von Frauen kamen. Frauen wie Männer konnten das Haus nach außen vertreten. Wenn der Hausvater verhindert war, erschien selbstverständlich die Hausmutter im Rathaus auf dem Römerberg, um strafrechtliche Anliegen, die das Haus und seine Angehörigen betrafen, vorzubringen. 16

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zunehmender Verfahrensautonomie aus der stratifizierten Gesellschaft zu erwarten; vgl. Luhmann 1983 (wie Anm. 1), S. 61-68, v.a. S. 67; vgl. auch Luhmann, Niklas: Ausdifferenzierung des Rechts. Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie. Frankfurt a.M. 1981, v.a. S. 42. Vgl. Schnabel-Schüle, Helga: Frauen im Strafrecht vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. In: Gerhard, Ute (Hrsg.): Frauen in der Geschichte des Rechts. München 1997, S. 185-198, hier S. 198. Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532. 6. Aufl., Stuttgart 1991, S. 82, 87f. und 105. Vgl. Schmidt, Heinrich Richard: Hausväter vor Gericht. Der Patriarchalismus als zweischneidiges Schwert. In: Dinges, Martin (Hrsg.): Hausväter, Priester, Kastraten. Zur Konstruktion von Männlichkeit in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Göttingen 1998, S. 213236; Burghartz 1999 (wie Anm. 10), S. 128f.; Eibach, Joachim: Der Kampf um die Hosen und die Justiz – Ehekonflikte in Frankfurt im 18. Jahrhundert. In: Kesper-Biermann, Sylvia/Klippel, Diethelm (Hrsg.): Kriminalität in Mittelalter und Früher Neuzeit. Soziale, rechtliche, philosophische und literarische Aspekte. Wiesbaden 2007, S. 167-188. Vgl. Ulbrich, Claudia: Weibliche Delinquenz im 18. Jahrhundert. Eine dörfliche Fallstudie. In: Ulbricht 1995 (wie Anm. 9), S. 281-311, hier S. 292f. Vgl. mit näheren Angaben Eibach, Joachim: Frankfurter Verhöre. Städtische Lebenswelten und Kriminalität im 18. Jahrhundert. Paderborn 2003, S. 76.

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Formal gleiche Chancen der Zugänglichkeit: Dies gilt auch für Zeugenschaft und Bittgesuche (Suppliken). Das französische Strafrecht zeigt zum Vergleich, dass die Beschränkung der Aussagefähigkeit von Frauen dort während des 16. Jahrhunderts aufgegeben wurde. Im Reich machte bereits die Carolina hier keinen Unterschied. 17 Die im Inquisitionsprozess festgelegten Verfahrensrollen transzendierten geschlechtliche und auch soziale Grenzen. Über informelle Grenzziehungen in punkto Glaubwürdigkeit von Aussagen in der Gerichtspraxis ist damit allerdings noch längst nicht alles gesagt. Der Aspekt der Zeugenschaft wurde bislang wenig erforscht. Einzelfälle könnten signifikant sein. In der Verhandlung eines Markttumults in Frankfurt am Main im Jahr 1742, bei dem es zwischen Marktfrauen und Bürgersöhnen zu einer Schlägerei um das Vorkaufsrecht gekommen war, erklärte der Bürgersohn vor Gericht, er erkenne jene Frauen, die überdies mehrheitlich Beisassinnen waren (also nicht im Bürgerrecht standen), „nicht vor tüchtige Zeugen“ an. Indes mochte der Rat als oberstes Gericht der Stadt seinem geschlechtlich-ständischen Argument nicht folgen. 18 Die Aussagen von rechtlich oder sozial benachteiligten Frauen wurden durchaus ernst genommen, sofern die Akteurinnen – wie in diesem Fall – vom Rechtsstatus her mindestens teilintegriert waren und keinen schlechten Leumund litten. Der Anteil von Frauen unter den Absendern von Suppliken gilt allgemein in der Forschung als relativ hoch. Die Schätzungen schwanken zwischen etwa 25 und 40%. 19 Wenig spricht bisher dafür, dass eines der beiden Geschlechter bessere Chancen hatte, wenn es darum ging, mit einer Supplik z.B. einen Strafnachlass zu erwirken. Gleichwohl ist die Argumentation in diesem Medium geschlechtlich stark eingefärbt. Im Hinblick auf die Strafpraxis ist oft als Tendenz Gleichbehandlung der Geschlechter festgestellt worden. Dies gilt schon für Zürich im 14. Jahrhundert wie dann für Köln am Ende des 16. Jahrhunderts oder Kurmainz und Frankfurt im 18. Jahrhundert. 20 Möglicherweise betrafen Grenzziehungen 17 18

19

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Zum französischen Recht vgl. Nolde 2003 (wie Anm. 10), S. 367-372; zur Carolina vgl. Schnabel-Schüle 1997 (wie Anm. 12), S. 191. Institut für Stadtgeschichte Frankfurt a.M. (ISG), Criminalia (Crim.) 5445 (1742); näher zum Ablauf des Falls: Eibach, Joachim: Böse Weiber und grobe Kerle. Delinquenz, Geschlecht und soziokulturelle Räume in der frühneuzeitlichen Stadt. In: Blauert/Schwerhoff 2000 (wie Anm. 6), S. 669-688, hier S. 669-675. Vgl. Härter 2005 (wie Anm. 7), S. 509; Schwerhoff, Gerd: Das Kölner Supplikenwesen in der Frühen Neuzeit. Annäherungen an ein Kommunikationsmedium zwischen Untertanen und Obrigkeit. In: Mölich, Georg/Schwerhoff, Gerd (Hrsg.): Köln als Kommunikationszentrum. Studien zur frühneuzeitlichen Stadtgeschichte. Köln 1999, S. 473-496, hier S. 482f.; zu Frankfurt meine Auswertung von Samples zur Gewalt- und Eigentumsdelinquenz aus den Criminalia des ISG. Vgl. Burghartz 1991 (wie Anm. 9), S. 54; Schwerhoff, Gerd: Geschlechtsspezifische Kriminalität im frühneuzeitlichen Köln. In: Ulbricht 1995 (wie Anm. 9), S. 103; Härter 2005 (wie Anm. 7), S. 1140; Eibach 2003 (wie Anm. 16), S. 416f.

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eher die Strafart als das Strafmaß. So wurden zwar gegen Männer und Frauen de jure wie de facto Todesstrafen verhängt, allerdings Todesstrafen verschiedener Art. Das Hängen und das Rädern waren im 16. Jahrhundert Männerstrafen, das Ertränken eine Frauenstrafe. Im 18. Jahrhundert traten solche Unterschiede in der Strafpraxis zurück. Ähnlich bei den Schand- und Ehrenstrafen: Prinzipiell trafen sie Männer wie Frauen, aber die quantitative Verteilung der Strafen und die Strafarten konnten erheblich differieren. Beim Vergehen der „Unzucht“ zeigt sich z.B. in der Altmark oder in Kursachsen, dass Frauen häufiger an den Pranger gestellt oder öffentlich ausgestäupt wurden. 21 Das Steintragen und das Strohkranztragen waren spezifische Frauenstrafen. 22 Spätestens hier wird deutlich: Um Grenzziehungen in der Justiz festzustellen, reicht der Bezug auf Rechtsnormen nicht aus. Es gilt, den Untersuchungsfokus möglichst nahe an die Praxis der Justiz heranzurücken und zwischen einzelnen Delikten zu unterscheiden.

These 2: Grenzziehungen strukturieren die Justizpraxis Man kann nun die Gegenrechnung aufmachen und stärker quantitativ argumentieren. Trotz formal rechtlicher Gleichheit lassen sich in fast jedem denkbaren Aspekt unterschiedliche Zahlenmengen für Frauen und Männer vor Gericht aggregieren. Dies gilt für die Nutzung von Gerichten durch Anzeigen, für die Zuerkennung von Strafen in Urteilssprüchen und auch – wie oft festgestellt – für die registrierten Delikte. 23 Das methodologische Problem dabei wird mit folgender Feststellung deutlich: Der Anteil von Frauen unter den Absendern von Suppliken gilt allgemein in der Forschung als relativ hoch. Die Schätzungen schwanken zwischen etwa 25 und 40%. Diese Aussage wurde von mir bereits unter These 1 gemacht. Lassen die festgestellten 21

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23

Vgl. Gleixner 1994 (wie Anm. 10), S. 217; Gleixner, Ulrike: Geschlechterdifferenzen und die Faktizität des Fiktionalen. Zur Dekonstruktion frühneuzeitlicher Verhörprotokolle. In: WerkstattGeschichte 11 (1995), S. 65-70, hier S. 69; Ludwig, Ulrike: Das Herz der Justitia. Gestaltungspotentiale territorialer Herrschaft in der Strafrechts- und Gnadenpraxis am Beispiel Kursachsens 1548-1648. Konstanz 2008 (= Konflikte und Kultur 16), S. 91-94; vgl. allgemein Hull, Isabel: Sexualstrafrecht und geschlechtsspezifische Normen in den deutschen Staaten des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Gerhard 1997 (wie Anm. 12), S. 221234. Vgl. Künßberg, Eberhard von: Über die Strafe des Steintragens. Breslau 1907, S. 15-18 (für den Hinweis danke ich Jörg Wettlaufer, Kiel); vgl. zuletzt mit umfassenden Literaturangaben Wettlaufer, Jörg: Schand- und Ehrenstrafen des Spätmittelalters und der Frühneuzeit. Erforschung der Strafformen und Strafzwecke anhand von DRW-Belegen. In: Deutsch, Andreas (Hrsg.): Das Deutsche Rechtswörterbuch als interdisziplinäres Medium. Heidelberg 2010, S. 265-280 (im Druck). Vgl. Jütte 1991 (wie Anm. 9) sowie die Beiträge in Ulbricht 1995 (wie Anm. 9).

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Zahlenanteile beim Supplizieren nun eine Grenze zwischen Mann und Frau erkennen oder ist dies gerade nicht der Fall? Anders gesagt: Ist das Glas halb voll oder halb leer? Hier muss auch der gesellschaftliche Kontext in Betracht gezogen werden. Kann man in einer stratifizierten Gesellschaft, die auf den Prinzipien von Rang und Privileg, also auf rechtlicher Ungleichheit, basiert, überhaupt 1:1-Relationen erwarten, so wie wir dies heute unter dem in rechtlichen Materien allgemein akzeptierten Gleichheitspostulat selbstverständlich tun? Das quantitative Argument hat durchaus einen Erkenntniswert, stößt aber eben auch auf Grenzen heuristischer Belastbarkeit. Es muss kontextualisiert werden. In eine andere Richtung – methodisch wie inhaltlich – führt die Frage, ob unterschiedliche Wahrnehmungen von Frauen und Männern, zu stereotypen Mustern geformt, vor Gericht Resonanz gefunden haben, und wenn ja, welche. Mit dieser Leitfrage konstatiert man in den Vernehmungsprotokollen der Justiz relativ schnell Grenzziehungen. Interessant ist dabei der Aspekt der Erhöhung der eigenen Chancen im Prozess des Aushandelns, d.h. die Aussicht auf eine „poena extraordinaria“, Strafmilderung, Freilassung. Im Hinblick auf Ehekonflikte und Unzuchtsvergehen sind die spezifischen Sprachmuster vor Gericht eingehend untersucht worden. Für Mann und Frau galten dabei unterschiedliche sexuelle Normen. So wurden nur Frauen gefragt, warum sie sich denn zum vorehelichen Beischlaf bereit gefunden hätten. Frauen wurden in dieser Hinsicht stärker über ihre Körperlichkeit und damit körperliche Ehre definiert als Männer, die man zwar ebenfalls zur Rechenschaft zog, aber primär mit finanziellen Forderungen konfrontierte. 24 Ähnliche Unterschiede zeigt – eher unvermutet – der Diskurs im Beispiel von Schlägerei und Körperverletzung: Ein typisches Männerargument vor Gericht war, man habe lediglich in alkoholisiertem Zustand oder aber, um sich zu wehren, also aus Notwehr, zugeschlagen. Ausgedehnte Trinkgelage in Wirtshäusern wurden von Männern ungeniert zu Protokoll gegeben. So erklärte ein am Kopf verletzter Tapezierer aus Mainz den Beginn einer Schlägerei während einer Sauftour in Frankfurt 1804 zur Messezeit folgendermaßen: „weil aber Sein guter Freund, wie gesagt, sehr betrunken gewesen, so hätte er mit diesen Leuten angebunden und sie noch obendrein geschimpft, wodurch den[n] natürlicherweise gleich Streithändel entstanden.“ 25 Nicht nur Männer, sondern auch Frauen übernahmen quasi-männliche Argumentationsmuster, wenn es um die Erklärung männlichen Verhaltens ging. Eine Frankfurter 24

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Vgl. Gleixner 1994 (wie Anm. 10), S. 212f., 217f.; Burghartz, Susanna: Jungfräulichkeit oder Reinheit? Zur Änderung von Argumentationsmustern vor dem Basler Ehegericht im 16. und 17. Jahrhundert. In: Dülmen, Richard van (Hrsg.): Dynamik der Tradition. Frankfurt a.M. 1992 (= Studien zur historischen Kulturforschung 4), S. 13-40, hier S. 17, 40. ISG, Crim. 10983 (1804).

Männer vor Gericht – Frauen vor Gericht

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Bürgerin, verheiratet mit einem Maler, führte 1772 in einer Supplik für ihren wegen einer Wirtshausschlägerei inhaftierten Mann an: „Er war der angegriffene Theil, und erst da er untergelegen und sich nicht retten konte, versuchte er es sich zu verteidigen.“ Im Übrigen habe ihr Mann einen sehr guten Leumund: „In der ganzen Stadt hat mein Mann das Zeugniß eines friedfertigen mehr furchtsamen, Manns“. 26 Nebeneinander gestellt, zeigen diese Rechtfertigungsmuster, wie schwierig, ja paradox es war, zugleich die sozialgeschlechtliche Norm der Verteidigung männlicher Ehre und das bürgerlichobrigkeitliche Gebot der Wahrung des Stadtfriedens zu leben. 27 Weder das Alkohol- noch das Notwehrargument findet man dagegen in Aussagen über Frauen. Erfolg versprechender war für Frauen – analog zu Unzuchtsvergehen – die Darstellung als Opfer bzw. Verführte, die vor Gericht Schutz suchten. 28 Holzschnittartig wirken die protokollierten Aussagen von Mann und Frau auch im Fall ehelicher Auseinandersetzungen. Dabei suchten beide Seiten einander vor Gericht durch Appelle an normative Bilder zu desavouieren: auf der einen Seite der Hausvater, der weder für „Nahrung“ sorgt noch maßvoll regiert, also analog zum Stadtfrieden nicht für den Hausfrieden einsteht, vielmehr säuft und die Seine(n) über Gebühr prügelt; auf der anderen Seite die Hausmutter, die widerspenstig und treulos ist, ihn zurücklässt und nicht die Hauswirtschaft versieht. 29 Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wird im Strafrecht weibliches Geschlecht an sich als Grund für Strafmilderung diskursfähig. So konstatiert der Gießener Rechtsprofessor Karl Grolman in seinen Grundsätzen der Criminalrechtswissenschaft mit aufklärerischem Duktus: „Da die Einsichten des andern Geschlechts meistens beschränkter sind – eine Folge ihrer Erziehung – so wird häufig bey ihnen ein geringerer Grad der Culpa angenommen werden müssen, als bey Mannspersonen.“ 30 Vorher schon finden sich in den Schrif26 27

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ISG, Crim. 8639 (1772). Vgl. Roper, Lyndal: Männlichkeit und männliche Ehre. In: Hausen, Karin/Wunder, Heide (Hrsg.): Frauengeschichte – Geschlechtergeschichte. Frankfurt a.M. 1992 (= Geschichte und Geschlechter 1), S. 154-172, v.a. S. 160f. Vgl. Habermas, Rebekka: Frauen und Männer im Kampf um Leib, Ökonomie und Recht. Zur Beziehung der Geschlechter im Frankfurt der Frühen Neuzeit. In: van Dülmen 1992 (wie Anm. 24), S. 109-136. Vgl. neben der bereits genannten Literatur Möhle, Sylvia: Ehekonflikte und sozialer Wandel. Göttingen 1740-1840. Frankfurt a.M. 1997 (= Geschichte und Geschlechter 18); Lutz, Alexandra: Ehepaare vor Gericht. Konflikte und Lebenswelten in der Frühen Neuzeit. Frankfurt a.M. 2006 (= Geschichte und Geschlechter 51). Grolman, Karl: Grundsätze der Criminalrechtswissenschaft nebst einer systematischen Darstellung des Geistes der deutschen Criminalgesetze. Gießen 1798 (ND 1970), S. 72f.; weniger klar und explizit: Klein, Ernst Ferdinand: Grundsätze des gemeinen deutschen und preußischen Peinlichen Rechts. Halle 1796 (ND 1996), § 177; vgl. zur bipolaren Geschlechterkonstruktion während der Sattelzeit, mittlerweile klassisch: Hausen, Karin: Die

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ten von Advokaten bei Täterinnen entschuldigende Hinweise auf weibliche Schwäche. 31 Die Vorstellung von „dem so schwachen Geschlecht“ – jedoch im Verbund mit wesenhafter „Bosheit der Frau“ – lässt sich bis in den Hexenhammer aus dem Jahr 1486 als Erklärung der Affinität der Frauen zur Hexerei zurückverfolgen. 32 Stereotype Grenzziehungen zeigt in Osnabrück und Kursachsen auch die Rechtfertigungslogik, von der Frauen und Männer, meistens nach einer rechtlichen Beratung, als Absender von Suppliken bei Bitten um Gnade ausgingen. Frauen verwiesen in ihren schriftlichen Bitten um Milde auf Schwäche und Schutzbedürftigkeit und versahen ihre Texte öfter mit Bibelzitaten. Männer führten gern ihre Verantwortung als „Ernährer“ für das Hauswesen und Verdienste für das Gemeinwohl ins Feld. 33 Die Liste solcher Argumentationsmuster, die klar durch rechtliche Erfordernisse geprägt sind, ließe sich leicht fortsetzen. Auch dieser auf die dichotomische Konstruktion von Geschlecht hinauslaufende Befund liegt klar zutage, wäre allein und ausschließlich jedoch zu einsinnig gedacht. Die Praxis der Justiz ist komplexer.

These 3: Mehrere Grenzen und diverse Geschlechterstereotype Männer wie Frauen hatten noch ganz andere Grenzziehungen zu gewärtigen, und das Bild der „schwachen Frau“ ist während der Frühen Neuzeit vor Gericht nicht konkurrenzlos, nicht die einzige Option. Auf Ebene der Rechtsnormen ist in dieser Hinsicht bereits Art. 144 der Carolina zum Thema Notwehr bemerkenswert, wo festgehalten wird: Dass es „doch möglich, dass eyn grawsam Weib eynen weychen mann, zu eyner notweer tringen mocht, vnd sonderlich so sie sörgliche vnd er schlechtere weer hett.“ 34 In den Protokollen von Gassentumulten und Ehekonflikten finden wir das Stereotyp der auf-

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Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben. In: Conze, Werner (Hrsg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Stuttgart 1976, S. 363-393. Vgl. Rublack, Ulinka: Magd, Metz’ oder Mörderin. Frauen vor frühneuzeitlichen Gerichten. Frankfurt a.M. 1998, S. 78-82; zum Topos der weiblichen Schwäche vgl. Wunder, Heide: „Weibliche Kriminalität“ in der frühen Neuzeit. Überlegungen aus der Sicht der Geschlechtergeschichte. In: Ulbricht 1995 (wie Anm. 9), S. 39-61. Auszüge bei Behringer, Wolfgang (Hrsg.): Hexen und Hexenprozesse in Deutschland. 6. Aufl., München 2006, S. 96f.; selbstverständlich meinte „Schwäche“ im Kontext des Hexereivorwurfs etwas anderes als im Zeitalter der Aufklärung. Vgl. Rudolph, Harriet: „Eine gelinde Regierungsart“. Peinliche Strafjustiz im geistlichen Territorium. Das Hochstift Osnabrück (1716-1803). Konstanz 2000 (= Konflikte und Kultur 5), S. 286-293; Ludwig 2008 (wie Anm. 21), S. 233f. Peinliche Gerichtsordnung (wie Anm. 13), S. 95; vgl. dazu Schnabel-Schüle 1997 (wie Anm. 12), S. 192; Nolde 2003 (wie Anm. 10), S. 414f. zur Beweislogik bei Gattenmord.

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sässigen und zänkischen oder auch der „bösen“ Frau, allerdings als Fremd-, nicht als Selbstzuschreibung. In dem erwähnten Frankfurter Markttumult von 1742 unter Beteiligung von Marktfrauen standen in den abschließenden Gutachten der Juristen zwei Frauenbilder zur Disposition: dasjenige der schwachen, geschlagenen Frauen und dasjenige der „bösen Weiber“. 35 Letztlich setzte sich in diesem Fall aber keines der beiden Bilder durch. Nachdem sich die rechtsgelehrten Syndici nicht auf ein Urteil verständigen konnten, ließ das Ratsgericht die Sache unentschieden auf sich beruhen. Die Frauen blieben damit straffrei. 36 Nicht so explizit und offensichtlich sind die konkurrierenden Bilder auf Seiten männlicher Delinquenten. Zwischen dem auf sein genuines Notwehrrecht zur legitimen Verteidigung der Ehre rekurrierenden Mann und dem friedlich-verdienstvollen, sozial verträglichen Mann klaffte aber, wie gesehen, ebenfalls ein Widerspruch. Das zweite Bild findet sich insbesondere in Suppliken; ein Umstand, der darauf hinweist, dass die Wahl des erfolgsträchtigen Stereotyps auch mit der von außen zugewiesenen Rolle im Verfahren und dem verfügbaren Medium der Kommunikation zwischen Justiz und Umwelt zusammenhängt. These 3 vermag relevante Aspekte der beiden ersten Thesen zu integrieren. Grenzen zwischen Mann und Frau vor Gericht erweisen sich als differenziert und darüber hinaus im Sinne eines „Doing Gender“ als eine Sache performativer Akte. 37 Geschlechteridentitäten sind nicht einfach da, immer dichotomisch und womöglich unveränderbar, sondern Geschlecht konstituiert sich in der alltäglichen Praxis und dabei auch vor obrigkeitlichen Institutionen in einem spezifischen performativen Handeln der Akteure. Die Art und Weise, wie auf Geschlechterstereotypen rekurriert wird oder auch nicht, ist situativ und veränderlich, gleichwohl natürlich nicht „frei“ oder ganz individueller Entscheidung obliegend. Da zwischen der Tat und der Vernehmung einige Zeit verstrich, hatten die Delinquenten Gelegenheit, sich Skript und Habitus für ihren Auftritt zurechtzulegen. Auf Überlegung und Wissen kommt

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Vgl. Ulbrich, Claudia: Unartige Weiber. Präsenz und Renitenz von Frauen im frühneuzeitlichen Deutschland. In: Dülmen, Richard van (Hrsg.): Arbeit, Frömmigkeit und Eigensinn. Frankfurt a.M. 1990 (= Studien zur historischen Kulturforschung 2), S. 13-42. Vgl. ausführlicher Eibach 2000 (wie Anm. 18), S. 674f. Vgl. den phänomenologischen Ansatz von Butler, Judith: Performative Akte und Geschlechterkonstitution. Phänomenologie und feministische Theorie. In: Wirth, Uwe (Hrsg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a.M. 2002, S. 301-320; vgl. allgemein Opitz, Claudia: Um-Ordnungen der Geschlechter. Einführung in die Geschlechtergeschichte. Tübingen 2005, S. 73-78; bezogen auf das Aushandeln von Recht durch die Akteure im Kontext der Justiz Habermas, Rebekka: Diebe vor Gericht. Die Entstehung der modernen Rechtsordnung im 19. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 2008, S. 19-22.

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es dabei freilich nicht unbedingt an. „Gender ist eine Praxis der Improvisation im Rahmen des Zwangs.“ 38 In den frühneuzeitlichen Gerichtsakten sind unterschiedliche Verhaltensstile erkennbar. Die Selbstinszenierung als Verführte oder Opfer ist dabei für Frauen nur ein möglicher Stil. Ein anderer performativer Stil ist der offensive Auftritt, wie ihn die hemdsärmeligen Marktfrauen auf dem Frankfurter Verhöramt praktizierten. 39 „Freche“ Aussagen „mit Ungestüm“ – eigentlich ein Abweichen von der vorgeschriebenen Rolle im Verfahren – wurden am ehesten rechtlich integrierten Frauen aus den einheimischen Unterschichten nachgesehen. Ein dritter Stil ist die Absenz vor Gericht, indem man, so wie Männer und Frauen der Eliten, sein Anliegen über einen Notar vorbringen ließ und die sozial bedenkliche Anwesenheit in der Verhörstube vermied. Ein vierter Stil ist die ausdauernde, geradezu professionelle Verweigerung des Geständnisses ohne Anzeichen von Reue. Diesen vierten Stil findet man ebenfalls bei Frauen wie bei Männern, vor allem wenn sie aus dem Vagantenmilieu stammten und sich wegen kleiner oder großer Diebstähle oft vor Vertretern der Obrigkeit behaupten mussten. 40 Möglich waren aber auch inszenierte gemeinsame Auftritte vor Gericht, z.B. im Falle von vorehelicher Schwangerschaft, um als Paar „beid muthig“ sich selbst anzuzeigen und damit um milde Buße und Heiratserlaubnis zu bitten. 41 Die Intensität geschlechtlicher Markierung hängt nicht zuletzt vom Vergehen und Rechtsgut ab. Bei „Unzucht“ und Ehekonflikten spielten Geschlechtergrenzen mit dem Schutz der „heiligen“ Institution Ehe eine zentrale Rolle. Entsprechend genderbezogen agierten in der Regel die betroffenen Akteure und Akteurinnen. Bei Eigentumsdelikten erweist sich die Grenze zwischen rechtlicher Integration und Fremdheit als wichtiger. Die Behandlung von nicht-einheimischen Dieben und fahrenden Leuten durch Sicherheitskräfte und Richter war weitgehend geschlechtsneutral. Denn vagierende Frauen und Männer wurden gleichermaßen geprügelt, außer Landes verwiesen oder an den Pranger gestellt. Allein bei Hinrichtungen scheint man einen Unterschied gemacht zu haben. Auch die Verhörstile und die Verteidigungs38 39

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So zuletzt Butler, Judith: Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen. Frankfurt a.M. 2009, S. 9. Vgl. das selbstbewusste Auftreten von Frauen vor einem märkischen Patrimonialgericht laut Peters, Jan: Frauen vor Gericht in einer märkischen Gutsherrschaft (2. Hälfte des 17. Jahrhunderts). In: Ulbricht 1995 (wie Anm. 9), S. 231-258, v.a. S. 236, 250. Zum Fall der mehrjährigen Vernehmung von Männern und Frauen einer mutmaßlichen Räuberbande in Frankfurt vgl. ISG, Crim. 8795-8796 (1774); vgl. auch Blauert, Andreas: „Sackgreifer und Beutelschneider“. Die Diebesbande der Alten Lisel, ihre Streifzüge um den Bodensee und ihr Prozeß 1732. Konstanz 1993. ISG, Konsistorialprotokoll von 1746 (Vernehmung am 13.1.), fol. 7; vgl. zahlreiche weitere Fälle erfolgreicher Selbstanzeigen von Paaren in diesem Protokollband.

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strategien lassen in solchen Fällen wenig geschlechtliche Markierung erkennen. Eine Ausnahme bildete der Hausdiebstahl durch weibliches Gesinde, der zugleich ein Treuebruch war und einen reuigen Stil mit Bitte um Vergebung nahe legte. Auch hier findet man aber Mitte des 18. Jahrhunderts ähnlich konstruierte Geständnisse von Dienstmagd und Knecht, die beide zu Protokoll geben, vom „Satan“ bzw. „Teufel“ verblendet worden zu sein. 42 Eine entscheidende Grenze für Delinquenten beiderlei Geschlechts bildete die Zugehörigkeit zur rechtlichen community. Ein Handwerksgeselle und eine Dienstmagd, die Anstellung und Hauszugehörigkeit bei Einheimischen vorweisen konnten, hatten erheblich bessere Chancen vor Gericht als mobiles, Arbeit suchendes Gesindel von der Landstraße. Dies gilt ähnlich für Bürger und Bürgerinnen, Beisassen und Beisassinnen, auch einheimische Juden, selbst wenn sie aus der Unterschicht stammten. Einheimische, ortsansässige Delinquenten galten als glaubwürdiger. Sie hatten bessere Möglichkeiten, einen guten Leumund und damit Integrierbarkeit nachzuweisen; Frauen vor allem dann, wenn sie dazu noch verheiratet waren. Vorab Integrierte waren dadurch gegenüber mobilen Fremden im Vorteil. Diese Geschlecht überlagernde Grenzziehung zwischen einheimisch und fremd, Innen und Außen, lässt sich in der Praxis der Justiz vom Spätmittelalter bis ins 18. Jahrhundert beobachten. 43 Der Fokus auf die Justizpraxis zeigt, dass die Gerichte mit einer Umwelt interagierten, die ihrerseits von Grenzen durchzogen war: sozial-ständischen Grenzen und Grenzen im Hinblick auf Geschlecht. Rechtliche und institutionelle Rahmenbedingungen wurden zwar von Herrschaftsträgern gesetzt. Auf Dauer gestellt, funktionierten das Recht und seine Institutionen aber nur durch die Teilnahme sehr verschiedener – auch verschieden mächtiger – Akteure mit eigenen Rechtserfahrungen. 44 Erst die Möglichkeit der Teilnahme der Untertanen garantierte der Justiz Legitimität. Die Interaktion zwischen Gericht und Umwelt wurde in typischen Rollen und Kommunikationsformen praktiziert. Rechtliche Normen von oben und Rechtserfahrungen von unten trafen sich insbesondere im Leumund, der ein zentraler Faktor für das auszuhandelnde Urteil darstellte. Die durch die intensive Forschung während der letzten Jahre gewonnenen Erkenntnisse über das Funktionieren der Justiz in praxi belegen für Untertanen weiblichen wie männlichen Geschlechts: Es gab Optionen, vor allem für rechtlich integrierte Akteure. 42

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ISG, Crim. 5610 (1743) und Crim. 8713 (1773); vgl. zum weiblichen Gesinde Dürr, Renate: Mägde in der Stadt. Das Beispiel Schwäbisch Hall in der frühen Neuzeit. Frankfurt a.M. 1995 (= Geschichte und Geschlechter 13). Vgl. ausführlicher Eibach 2009 (wie Anm. 3). Vgl. Habermas 2008 (wie Anm. 37), S. 19-22.

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Insgesamt bleibt der Befund, dass Justitia Grenzen sowohl markierte als auch überschritt. Sie agierte bemerkenswert vielfältig; vielfältiger vielleicht als es unserem Bedürfnis nach einer Fixierung der Frühen Neuzeit als Folie der Moderne entspricht.

MONIKA MOMMERTZ

Geschlecht als Markierung, Ressource und Tracer Neue Nützlichkeiten einer Kategorie am Beispiel der Wissenschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit

I. An „Gender“ orientierte Problemstellungen haben unter jüngeren Forschenden und Studierenden in den letzten Jahrzehnten stetig an Selbstverständlichkeit gewonnen. Dieses sich ausweitende Interesse vorausgesetzt, scheint es an der Zeit, die Denk- und Arbeitsfelder der Geschlechtergeschichte zu erweitern. Methodisch-theoretisch durchdacht, kann diese die mittlerweile stark pluralisierte Geschichtslandschaft besonders dann weiter bereichern, wenn es ihr gelingt, vermeintlich gefestigte Thesen und Theorien von „Allgemeingeschichte“ zu modifizieren oder gar zu revidieren.1 Das Phänomen der durchgängigen (oder nahezu durchgängigen) männlichen sozialen bzw. kulturellen Besetzung bestimmter gesellschaftlicher Räume – ich spreche für diese Kombination im Folgenden von „Monogeschlechtlichkeit“ – scheint ein viel versprechendes, dabei sämtliche Großepochen betreffendes sowie weitgehend unbearbeitetes Problemfeld. Natürlich ist davon auszugehen, dass Frauen in der historischen Realität in wechselndem Maße begrenzten bzw. indirekten Einfluss auf als monogeschlechtlich-männlich charakterisierbare Räume haben konnten – weswegen man sinnvoller Weise von quasi-monogeschlechtlichen Verhältnissen sprechen sollte. Jedenfalls ist kaum zu bestreiten, was das wesentliche Charakteristikum solcher Räume mit Bezug auf Geschlecht war: Mehr oder weniger effiziente formale und informelle Ausschlussregeln und -praktiken grenzten diese faktisch auf männliche Besetzung und damit letztlich auf Deutungsinteressen und -kompetenzen ein, die nicht geschlechterübergreifend verfügbar waren. Dabei betrifft das Problem nicht etwa die gesellschaftlichen Nebenschauplätze, sondern Themen bzw. Institutionen von hoher zeitspezifischer 1

Zur Diskussion um das Verhältnis der Geschlechter- zur sogenannten „Allgemeingeschichte“ vgl. die Beiträge von Karin Hausen, Lynn Hunt, Hans Medick, Gianna Pomata und Ann-Charlott Trepp in: Medick, Hans/Ann-Charlott Trepp (Hrsg.): Geschlechtergeschichte und allgemeine Geschichte. Herausforderungen und Perspektiven. Göttingen 1998 (= Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft 5).

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Monika Mommertz

und sogar epochenübergreifender Bedeutung. Man denke (um hier nur einige typisch frühneuzeitliche Beispiele zu erinnern) an ländliche oder städtische Justizorgane, an herausragende wie untergeordnete kirchliche oder politische Ämter und Funktionen, an geistliche und weltliche Korporationen und Verwaltungen, aber auch an bestimmte koloniale Einrichtungen, die meisten höheren Bildungsanstalten, nicht zuletzt auch an die Universitäten und die großen wissenschaftlichen Akademien. Natürlich sind diese und andere Einrichtungen alles andere als „geschlechtslos“. In der Tat scheint die Situation paradox: Gerade dort, wo „Geschlecht“ ausgesprochen signifikant hervortritt, sozusagen den „Unterschied ums Ganze“ macht, tut sich die Geschichtsschreibung besonders schwer, dies für die Analyse solcher Institutionen und Kulturen, aber auch deren Bedeutung für und in den Gesellschaften, die diese hervorbrachte, fruchtbar zu machen. Warum und auf welche Weise kann Geschlecht als analytische Kategorie so eingesetzt werden, dass damit neben gemischtgeschlechtlichen gesellschaftlichen Bereichen auch quasi-monogeschlechtliche Bereiche erforschbar und zugleich in ihrer historischen Relationalität systematisch erkennbar und diskutierbar werden? Um dieses Problem anzugehen, schlage ich drei aufeinander aufbauende Konzepte vor: Wenn im Folgenden die Rede sein wird von Geschlecht als Markierung, als Ressource und als Tracer, so auch um zu verdeutlichen, welche Möglichkeiten die Arbeit mit Modellen der Geschlechtergeschichte bietet – und wie sich daraus neue Impulse für die geschichtswissenschaftliche Diskussion gewinnen lassen. Als exemplarisches Thema bietet sich die frühneuzeitliche europäische Wissenschafts- und Universitätsgeschichte an. 2 Von der traditionellen, teilweise auch der jüngeren, kulturgeschichtlich inspirierten deutschsprachigen Geschichtsschreibung wird diese typischerweise als ausschließlich männlich geprägt beschrieben. 3 Gerade in der Wissenschaftsgeschichte scheinen sich für viele geschlechtergeschichtliche Perspektiven entweder ganz zu erübrigen, oder – so man die Beteiligung von Frauen 2

3

Ähnlichen zeitgenössischen Begriffen, etwa dem der „neuen Wissenschaften von der Natur“, entspricht zu keinem Zeitpunkt ein kohärent-verbindliches Programm. Wegen der Offenheit der behandelten Prozesse ziehe ich ein Nebeneinander von Quellen- und abstrakteren Forschungsbegriffen dem modernen der „wissenschaftlichen Revolution“ vor, auch um dessen problematische chronologische und inhaltliche Implikationen zu umgehen. Zur Kritik vgl. exemplarisch Biagioli, Mario: The Scientific Revolution Is Undead. In: Configurations 6 (1998), S. 141-148. Schwerpunktmäßig befasst sich dieser Beitrag mit den damals noch recht offenen und oft von anderen Wissensgebieten noch kaum getrennten Kulturen des „Wissens von der Natur“ vorwiegend im westlichen Europa. Zunehmend durchbrechen neuere Studien, insbesondere der internationalen Wissenschaftsgeschichte der Naturwissenschaften dieses Bild. Eine guten Eindruck über den relativ hohen Stand der Integration von Gender vermittelt das Standardwerk von Daston, Lorraine/Park, Katharine (Hrsg.): Early Modern Science. Cambridge 2006 (= Cambridge History of Science 3).

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an den frühen „Naturwissenschaften“ überhaupt zur Kenntnis nimmt – die Kernbereiche bzw. die entscheidenden Entwicklungsprozesse nicht zu berühren. Um dieser Einschätzung eine andere Sicht entgegenzusetzen, ist im Folgenden allerdings nicht zuerst die Institution Universität zu betrachten – obwohl diese für die Entwicklungsgeschichte moderner Wissenschaften sozusagen den Paradefall monogeschlechtlicher Begrenzung darstellt. Für eine Annäherung an die alma mater ist indessen von „schräg außen“ vorzugehen, indem zunächst der für die Kategorie Geschlecht deutlich offenere außeruniversitäre Bereich in Betracht gezogen wird. Zur Wissenschaft jenseits ihrer formalen Institutionalisierung wurde bis heute eine Reihe von Studien aus unterschiedlichen europäischen und zum Teil auch außereuropäischen Ländern vorgelegt, deren Ergebnisse sich unter bestimmten methodischen Voraussetzungen im Hinblick auf die Frage nach Monogeschlechtlichkeit neu auswerten lassen: Zusammengenommen zeigen sie, dass für die Frühe Neuzeit außerinstitutionelle bzw. außeruniversitäre Wissensproduktion und Wissensformen einen hohen Stellenwert hatten.4 Diese Wissenschaften „ohne Gehäuse“ unter geschlechtergeschichtlichen Aspekten zu analysieren, so meine These, muss notwendig auch den Blick auf die Geschichte der monogeschlechtlichen Einrichtung Universität verändern. Damit wird die Geschlechterdifferenz in ihren historischen Besetzungen nicht nur zum Untersuchungsgegenstand genommen, sondern zugleich zum Instrument der Untersuchung und damit zur historiographischen Ressource.

II. Was die deutschsprachige Wissenschaftsgeschichte zu den frühen Wissenschaften von der Natur betrifft, so lässt sich der beherrschende Eindruck praktischer „Geschlechtslosigkeit“ dieses Themas als Produkt einer Fachtradition erklären, die aus Gründen, denen hier nicht im Einzelnen nachgegangen werden kann, weiblich konnotierte Aspekte von Wissen und Wissenschaft und die Teilhabe von Frauen in diesen Bereichen lange ausblendete. Auf solche Auslassungen hat sich denn auch die einschlägige Geschlechtergeschichte konzentriert. Drei Hauptlinien der Forschung lassen sich unterscheiden, die in unserem Kontext auch deshalb interessieren, weil sie über den Themenkreis Wissens- und Wissenschaftsgeschichte hinaus verbreitete Ge4

Als Überblick vgl. Mommertz, Monika: Das Wissen „auslocken“. Eine Skizze zur Geschichte der epistemologischen Produktivität von Grenzüberschreitung, Transfer und Grenzziehung zwischen Universität und Gesellschaft. In: Nakamura, Yuka/Böckelmann, Christine/Tröhler, Daniel (Hrsg.): Theorie versus Praxis? Perspektiven auf ein Missverständnis. Zürich 2006, S. 19-51 sowie Daston/Park 2006 (wie Anm. 3).

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brauchsweisen von „Gender“ in den Geschichtswissenschaften kennzeichnen – wenn diese auch zweifelsohne nicht darauf zu reduzieren sind: Ein erster Ansatz untersucht die Rolle der Kategorie „Geschlecht“ in Bildern und Symboliken, Diskurse bzw. Repräsentationen von Wissen und Wissensproduktion, vorwiegend durch weibliche Figuren bzw. Attributierungen und Metaphern (männliche Figuren etc. werden sehr viel seltener in ihrer Geschlechtsspezifik untersucht). 5 Ein zweiter, ebenfalls stark vertretener Ansatz befasst sich speziell mit dem tief greifenden Einfluss von Geschlechterkonstrukten im Umfeld dessen, was man heute als Menschen- oder Lebenswissenschaften zusammenfassen würde, also etwa der Naturgeschichte, der Zoologie, Botanik und Pflanzenphysiologie, der Medizin einschließlich der Geschichte des „biologischen“ Geschlechterunterschiedes etc. 6 Der dritte Ansatz folgt einem frauengeschichtlichen Interesse, häufig umgesetzt in biographischen Studien. Quantitativ gehört dieser letztere zu den in der Wissenschaftsgeschichte wichtigsten Zugängen, plausibel insofern, als hier oft kleine Gruppen besser dokumentierter männlicher Angehöriger der Bildungseliten im Mittelpunkt stehen, während man deren weiblichen Teil lange nahezu vollständig vernachlässigte. Ob man hier einzelne Frauen, deren Familienangehörige oder weitere Netzwerke wieder zu Tage förderte – die Forschungsfragen galten und gelten in der Regel den Bedingungen der Teilhabe bzw. der Ausgrenzung von Frauen, den „Verhältnissen und Verhinderungen“, mit denen sie konfrontiert waren, den frauenspezifischen „Barrieren und Karrieren“ in den oder am Rande der Institutionen Akademie und Universität. Eine beachtliche Zahl von Studien aus ganz Europa und darüber hinaus liegt inzwischen dazu vor; dennoch formulierten bisher wenige Autor/inn/en dieser Forschungsrichtung verallgemeinernde Thesen zum Verhältnis von „Geschlecht und Wissenschaft“ in der Frühen Neuzeit und auch diese oft basierend auf Arbeiten zu einzelnen Frauenfiguren. Einige knappe Hinweise auf Gegenbeispiele müssen hier genügen: Früh rezipierte man in Deutschland z.B. die damals äußerst anregende, inzwischen in ihrer Ausschließlichkeit überholte These von Londa Schiebinger, die Frauen hätten vor allem in Handwerkerkreisen und adeligen Netzwerken eine besondere Affinität zur Wissenschaft entwickeln und realisieren können. 7 Einige Jahre später entwickelte Beate Ceranski ein noch zu 5 6

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Vgl. neuerdings Outram, Dorinda: Gender. In: Daston/Park 2006 (wie Anm. 3), S. 797817. Einen Überblick aus Sicht des 19. und 20. Jahrhunderts geben die Beiträge in Höhler, Sabine/Wahrig, Bettina (Hrsg.): Geschlechterforschung ist Wissenschaftsforschung – Wissenschaftsforschung ist Geschlechterforschung. Einführung in den Themenschwerpunkt Wissenschaftsgeschichte als Geschlechtergeschichte. In: NTM 14 (2006), S. 201-211. Vgl. Schiebinger, Londa: Am Busen der Natur. Erkenntnis und Geschlecht in den Anfängen der Wissenschaft. Stuttgart 1993. Für zahlreiche andere „places of knowledge“ wurde seither die Anwesenheit von Frauen festgestellt. Schiebingers Pionierstudie befasst sich

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wenig beachtetes „Sphärenmodell“ weiblicher Beteiligung an der frühneuzeitlichen Wissenschaft. 8 Indem der Arbeitskreis „Frauen in Akademie und Wissenschaft“ 9 die Frage nach der Rolle von Frauen in der „informellen“ und der „formellen“ Arbeitsorganisation der Wissenschaften aufwarf bzw. diese als Problem der „Funktionenteilung“ zwischen außerinstitutionellem und institutionellem Bereich formulierte, ließen sich Aussagen über eine „longue durée“ der weiblichen wissenschaftlichen Arbeit und ihrer Institutionalisierung bzw. zur „Schattenökonomie“ und „einbeziehenden Ausgrenzung“ von Frauen als conditio sine qua non wissenschaftlicher Institutionalisierung im Übergang zur Moderne treffen. 10 Deutlich wurde unter anderem, dass die Grenzen weiblicher Beteiligung an Wissenschaft in der Frühen Neuzeit keineswegs so scharf gezogen wurden, wie man lange annahm. Wie ich an anderer Stelle ausgeführt habe, legt eine wachsende Zahl von Untersuchungen aus ganz Europa nahe, von Frauen als einer signifikanten, einer sozusagen „starken“ Minderheit in der frühen Naturforschung auszugehen. 11 Dennoch werden Wissenschaftlerinnen bzw. weibliche Gelehrte der

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zugleich mit der Verschränkung von anthropologischen, rassischen bzw. rassistischen Deutungen in Zoologie, Botanik und Anthropologie bzw. Forschungsreise und Medizin und deren Geschlechterimplikationen, geht aber z.B. auf die Universitätsgeschichte nicht weiter ein. Vgl. Ceranski, Beate: Wissenschaftlerinnen in der Aufklärung. Überlegungen zu einem vergleichenden Ansatz. In: Meinel, Christoph/Renneberg, Monika (Hrsg.): Geschlechterverhältnisse in Medizin, Naturwissenschaft und Technik. Stuttgart 1996, S. 55-61; Renneberg, Monika: Wunderkinder, Vermittlerinnen und ein einsamer Marsch durch die akademischen Institutionen. Zur wissenschaftlichen Aktivität von Frauen in der Aufklärung. In: Opitz, Claudia/Weckel, Ulrike/Kleinau, Elke (Hrsg.): Tugend, Vernunft und Gefühl. Geschlechterdiskurse der Aufklärung und weibliche Lebenswelten. Münster u.a. 2000, S. 287308; vgl. außerdem Zinsser, Judith: Women, Men, and the Birthing of Modern Science. Illinois 2005. Das befristete, an der Berliner Akademie der Wissenschaften angesiedelte Projekt wurde geleitet von Lorraine Daston, Karin Hausen, Bettina Heintz und Theresa Wobbe. Vgl. Wobbe, Theresa: Die longue durée von Frauen in der Wissenschaft. Orte, Organisationen, Anerkennung. In: dies. (Hrsg.): Frauen in Akademie und Wissenschaft. Arbeitsorte und Forschungspraktiken 1700-2000. Berlin 2002 (= Interdisziplinäre Forschungsberichte 10), S.1-28; Mommertz, Monika: Geschlecht als „tracer“. Das Konzept der Funktionenteilung als Perspektive für die Arbeit mit Geschlecht als analytischer Kategorie in der frühneuzeitlichen Wissenschaftsgeschichte. In: Hohkamp, Michaela/Jancke, Gabriele (Hrsg.): Nonne, Königin und Kurtisane. Wissen, Bildung und Gelehrsamkeit von Frauen in der Frühen Neuzeit. Königstein i.Ts. 2004, S. 17-38, dort weitere Literaturhinweise zur Geschlechtergeschichte der (Natur-)Wissenschaften der Frühen Neuzeit. Vgl. Mommertz, Monika: Die „Leistungen“ der Differenz. Für eine andere Wissenschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit und des beginnenden 19. Jahrhunderts. In: Küllchen, Hildegard/Koch, Sonja/Schober, Brigitte u.a. (Hrsg.): Frauen in der Wissenschaft – Frauen an der TU Dresden. Tagung aus Anlass der Zulassung von Frauen zum Studium in Dresden vor 100 Jahren. Leipzig 2010 (= Dresdner Beiträge zur Geschlechterforschung in Geschichte, Kultur und Literatur 1), S. 35-78.

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Frühen Neuzeit nach wie vor gerne als „Ausnahmewesen“ portraitiert. Nolens volens spielt man mit der aufgenommenen Erzählung von der „Ausnahmefrau“ einer sich universal gebenden Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte die Bälle zu. 12 Der Bedarf an entsprechenden Einzelstudien ist wegen der hoch problematischen Überlieferungsgeschichte allerdings immer noch hoch – und dennoch lassen sich methodische Einwände erheben. Die oben erwähnten drei wesentlichen Ansätze der Geschlechterforschung in der Wissenschaftsgeschichte bleiben zunächst weitgehend gegeneinander abgeschottet. 13 Der gängige biographische Zugang begrenzt die Thesenbildung fast automatisch fallspezifisch; auf die allgemeine Wissenschaftsentwicklung oder die Entstehungsgeschichte der Naturwissenschaften im Übergang zur Moderne kann so kaum Bezug genommen werden. Allein oder doch ganz überwiegend auf die Benachteiligung von Frauen gegenüber sozial gleichrangigen Männern zu fokussieren, verführt nicht selten dazu, den Vergleich mit epochenspezifisch eben auch für viele Männer prekären Lern- und Forschungsbedingungen außer Acht zu lassen. Manche zeittypische Eigenart des frühneuzeitlichen Bildungs- und Publikationswesens wird fälschlich als frauenspezifische Einschränkung gedeutet. 14 Wo ein Interpretationshorizont über den Einzelfall hinaus überhaupt angestrebt wird, geschieht dies vorwiegend im Rahmen dessen, was man als das „Emanzipationsparadigma“ bezeichnen kann – theoretische Brücken zur Allgemeingeschichte lassen sich unter dieser Vorgabe nur bedingt schlagen. Wissenschaftliche Inhalte oder deren langfristige Entwicklungsprozesse gehören nur soweit zum Interpretandum, als Frauen (bzw. weibliche Geschlechts- bzw. Körperkonstrukte) davon betroffen waren. Männliche (Quasi-)Monogeschlechtlichkeit wird als Spezifikum 12

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Dass dies nicht zwingend war, belegen frühe Arbeiten wie die verschiedener Autor(inn)en in: Neumeister, Sebastian/Wiedemann, Conrad (Hrsg.): Res Publica Litteraria. Die Institutionen der Gelehrsamkeit in der frühen Neuzeit. Vorträge und Referate gehalten anläßlich des 5. Jahrestreffens des Internationalen Arbeitskreises für Barockliteratur in der HerzogAugust-Bibliothek in Wolfenbüttel vom 25.-28. März 1985. Wiesbaden 1987 (= Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 14), Teil II. Die im Folgenden geschilderte Ausprägung der wissenschaftsgeschichtlichen Geschlechtergeschichte in Deutschland lässt sich zu erheblichen Teilen auf die schwierige Lage der Wissenschaftsgeschichte selbst zurückführen: Im Vergleich zur internationalen Forschung auf diesem Feld wirken sich hierzulande gravierende strukturelle bzw. institutionelle Einschränkungen bis in die jüngste Zeit hinein behindernd aus; viele Forscher/innen mit Interessenschwerpunkt Geschlecht arbeiten vergleichsweise isoliert oder diskontinuierlich, weil breite Diskussionszusammenhänge oft fehlen. Mit gewissen Abstrichen sind die hier skizzierten Probleme jedoch auch in der internationalen Forschung zu beobachten. So war beispielsweise die Häuslichkeit der niederen und höheren Bildung durchaus ein Standesprivileg adeliger bzw. wohlhabender Schichten und nicht an sich Zeichen der Ausgrenzung von Frauen. Der von wenigen Ausnahmen abgesehen nur Männern erlaubte Universitätsbesuch war keine notwendige Voraussetzung der Teilhabe an den „neuen Wissenschaften“ etc.

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formal organisierter Institutionen oder auch bestimmter informeller (Teil-) kulturen neuzeitlicher Wissenschaft vorausgesetzt, nicht aber weiter befragt.

III. Wie ist von dieser auch für andere Themenbereiche frühneuzeitlicher Geschichtsschreibung nicht ganz untypischen Situation ausgehend, eine neue methodische Perspektive auf das Verhältnis von Wissenschaftsentwicklung, Institutionenbildung und Geschlecht zu gewinnen? Bezug nehmend auf die in der geschlechtergeschichtlichen Diskussion der letzten Jahrzehnte vielfach belegten Annahme, dass Zuschreibungen von Geschlecht historisch in höchstem Maße wandelbar sind, kann man Geschlechtszugehörigkeit und überhaupt jede historische Bezugnahme auf die damit verknüpften Differenzen in einem ersten Schritt als eine Markierung fassen, deren historische Bedeutungen es jeweils zu eruieren gilt. 15 Selbstredend bewegt man sich mit diesem Begriff auf der Ebene einer Abstraktion – für manchen Frauenforscher, für manche Kulturhistorikerin ein wenn nicht anstößiges, so doch begründungsbedürftiges Abweichen von einer bestimmten Form postulierter „Akteurszentrierung“. Analytische Modelle erfassen in der Tat die von ihnen beschriebenen vergangenen Phänomene nie vollständig (doch welche Annäherungsform an Geschichte, wie immer „dicht“ sie ihrem Gegenstand rückte, wäre einem solchen Anspruch tatsächlich gewachsen?). Im günstigen Fall scheinen Modelle geeignet, bisherige und neue Forschungsergebnisse zusammenzuführen, diese unter Relektüre geeigneter Quellen in neuem Blickwinkel zu verknüpfen und so Thesen von einer Reichweite zu 15

Der Begriff der Markierung wird in der Geschlechtergeschichte unter ähnlichen Grundannahmen, aber mit unterschiedlichen Zielsetzungen verwendet; m.W. überschneiden sich diese mit den hier vorgeschlagenen nur teilweise. Vereinzelt wird der Begriff „geschlechtlich markiert“ in der historischen Diskursanalyse als Synonym für den aus dem Englischen entliehenen Ausdruck „gegendert“ bzw. das englische Grundwort „gendering“ gebraucht. Im deutschsprachigen Raum konzeptionalisiert vor allem Andrea Griesebner den Begriff der Geschlechtsmarkierungen; ihr Forschungsinteresse gilt in diesem Zusammenhang u.a. dem mehrfach relationalen „Interagieren“ der Konstrukte von Identitäten und Zugehörigkeiten von Personen. International gehört Joan Scott zur ersten Generation jener, die den Begriff „gender meaning“ für die Geschichtswissenschaften gezielt einsetzte und von Personen auf gesellschaftliche Verhältnisse übertrug: „Gender“ wird von ihr u.a. als ein „primary way of signifying relationships of power“ definiert. Das Konzept der „Bedeutungen“ als Sinnzuschreibungen von Markierungen geht jedoch über die von Scott formulierte Machtfrage weit hinaus. Vgl. zum aktuellen Stand der Geschlechterforschung in der Geschichtswissenschaft allgemein Griesebner, Andrea: Feministische Geschichtswissenschaft. Eine Einführung. Wien 2005; Opitz, Claudia: Um-Ordnungen der Geschlechter. Einführung in die Geschlechtergeschichte. Tübingen 2005.

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formulieren, die im Rahmen einer Einzelstudie kaum zu entwickeln bzw. zu plausibilisieren wären. Nicht zuletzt die Geschichte der Geschlechtergeschichte selbst belegt im Übrigen indes, dass Modellen – also Arbeitskonzepten und den zwischen diesen hergestellten gedanklichen Beziehungen – die Qualität von unersetzlichen Werkzeugen zukommen kann: Schlussendlich stellt auch „Geschlecht“ nicht etwa eine „Sache“, sondern eine analytische Kategorie dar, die als theoretisches Konstrukt und Ergebnis wissenschaftlicher Auseinandersetzungen vielschichtige, oft hoch theoretische Definitionsund Verwendungsweisen erfährt. So hat auch die Rede von der Markierung Geschlecht gerade aufgrund ihrer Ungegenständlichkeit „aufschließende“ Kraft: Sie kann z.B. die Distanz verdeutlichen, die wir als Untersuchende zu geschlechtlichen Zuschreibungen der Vergangenheit und nicht nur zu denen der fernen Vergangenheit einnehmen. Geschlecht als eine Markierung zu denken, erfordert zudem keine absolute Verankerung von Geschlechtszugehörigkeit in einem überzeitlich gültigen Bezugrahmen wie einer fixen „Biologie“. Der Begriff trägt Diskussionen der Geschlechtergeschichte Rechnung, die eine doppelten Historizität beider Kategorien „sex“ und „gender“ zu Grunde legen. 16 Bewusst und anders als in der aktuellen Frauen-, Geschlechter- bzw. Männerforschung vielfach üblich richtet sich mein Forschungsinteresse nicht in erster Linie auf „Frauen“ und „Männer“ oder auf die zwischen diesen bestehenden „Geschlechterverhältnisse“ oder „Geschlechterordnungen“. Ebenso wenig stehen im Folgenden Konstrukte der Zugehörigkeit oder Identität bzw. diskursiven Hervorbringungen geschlechtlich markierter Personen im Mittelpunkt. Die Debatte um Geschlecht als kulturelles Produkt historischer Kulturen deute ich vielmehr so, dass diese Kategorie auch losgelöst von den damit „markierten“ Personen (oder Körpern) oder den durch die Auseinandersetzung mit und über Geschlecht konstituierten Diskursen zu verwenden ist – um sie damit einem etwas anderen Gebrauch auf abstrakterer Ebene zuzuführen. 17 Für meine weiteren Vorschläge liegt in diesem letzten Aspekt der Markierung der entscheidende Punkt: Eine von Zugehörigkeiten abstrahierende Konzeptionalisierung von Geschlecht lässt nämlich eine Verkehrung der üblichen Fragerichtung zu: Nicht nur ist damit nach der Bedeutung historisch-kultureller Geschlechterdifferenzen für (wie immer sonst differenziell verortete) „Männer“ und „Frauen“ zu fragen, sondern ebenso umgekehrt 16 17

Vgl. zum Hintergrund Griesebner 2005 (wie Anm. 15) und Opitz 2005 (wie Anm. 15). Damit sollte ebenfalls deutlich geworden sein, dass die hier skizzierte Fragestellung bzw. Methodik in eine andere Richtung zielt als beispielweise die von Butler in ihrem Standardwerk formulierte: „Bodies cannot be said to have a signifiable existence prior to the mark of their gender; the question then emerges: To what extent does the body come into being in and trough the mark(s) of gender?“ (Butler, Judith: Gender Trouble. Feminism and the subversion of identity. New York/London 1990, S. 13).

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nach den Wirkungen je beobachtbarer Geschlechterdifferenzen für ein zu untersuchendes historisches „setting“ (eine Kultur oder Teilkultur, eine Institution etc.) und insbesondere auch den Leistungen dieser Differenz für bestimmte historische Gesellschaften und Kulturen. 18 Da Geschlechterdifferenzen Gesellschaften auf den unterschiedlichsten Ebenen durchdringen und deren Beziehungs- und Bedeutungsverhältnisse strukturieren, sind sie als eine der zentralen Ressourcen gesellschaftlicher bzw. kultureller Organisierung und Bedeutungsproduktion zu verstehen. Was dies forschungsstrategisch und gerade auch bezogen auf (quasi-)monogeschlechtliche Kulturen bedeuten kann, lässt sich für das Thema Wissenschaftsgeschichte folgendermaßen formulieren: Statt der „Beiträge und Leistungen“ von gelehrten Frauen und Männern ist die Leistung der Kategorie Geschlecht zu erfragen, die Qualität von Geschlecht als einer vielschichtigen Ressource in der Produktion von Wissen – und zwar auch der Produktion von Wissen an der monogeschlechtlichen Institution Universität – zu ermitteln. Ein in der Forschung bisher weitgehend ohne die Kategorie Geschlecht beschriebener fundamentaler und übergreifender Entwicklungsprozess – in diesem Fall die Herausbildung moderner Wissenschaften bzw. der Naturwissenschaften – lässt sich mit dieser Wendung in geschlechtergeschichtlicher Perspektive befragen: Wie und auf welchen Ebenen bzw. in welchen Erscheinungsformen trug die Geschlechterdifferenz zur spezifischen Ausprägung dieser Entwicklung bei? Um diese Frage anzugehen, lässt sich als weitere Metapher die der „Spurensuche“ ins Spiel bringen. Unter den genannten Voraussetzungen ist Geschlecht nämlich wie ein Tracer, ein Spurensucher, einzusetzen. Man mag hier zunächst an eine Person denken, die Ortsunkundige durch unbekanntes, nur über das Lesen von „Zeichen“ zu interpretierendes Terrain führen kann. In den modernen Naturwissenschaften bezeichnet man in Anlehnung an diese Figur eine Substanz oder Markierung als Tracer, die zur Erforschung unterschiedlicher Untersuchungsumgebungen dient. Während eines Experiments durchläuft dieser „Spurensucher“ verschiedene Untersuchungsumgebungen, und aus seinen unterschiedlichen Reaktionen werden Erkenntnisse über diese abgeleitet. Nicht der Tracer selbst ist damit Gegenstand einer Untersuchung, sondern ein Drittes, von diesem Unterschiedenes. Es ist dieser Grundgedanke, der für die Geschlechtergeschichte anregend scheint. Auf ähnliche Weise lässt sich die Kategorie Geschlecht als ein „Spurensucher“ nutzen: als ein Erkenntnis18

Der hier zugrundegelegte Kulturbegriff ist nicht der von vielen Kulturhistoriker(inne)n bevorzugte, der – sich an Geertz’ „webs of meaning“ anlehnend – auf die symbolische Ebene abhebt. Vielmehr geht es mir, wenn ich von „Kultur“ spreche, um die Relationalität unterschiedlicher Ebenen von Vergesellschaftung, also die Verhältnisse etwa zwischen Wirtschaften und Interpretieren, Denken und Handeln, Symbolik und Wahrnehmung durch Akteur(inn)e(n) etc.

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mittel zur Erforschung unterschiedlicher historischer „Untersuchungsumgebungen“ und deren Wandel. Entsprechende Fragen an die Geschichtswissenschaft sind analog zu formulieren: Wie „(re)agierte“ man in bestimmten Kontexten, wie „reagierten“ bestimmte historische Kulturen oder Teilkulturen auf die bzw. „mit der“ Geschlechterdifferenz – und welche Folgen hatte dies für die untersuchten Kulturen? Bisher oft getrennt voneinander diskutierte Ebenen – etwa die der Geschlechterdiskurse und die der Handlungsweisen; die „Bilder“ und Metaphern von Weiblichkeit und Männlichkeit ebenso wie die der Praktiken, Rituale und Formen der Arbeitsteilung, die der Diskurse ebenso wie die der Institutionen – sind auf diese Weise in einen gemeinsamen Analysehorizont einzubinden. In einem weiteren Schritt wären dann zudem verschiedene über Geschlecht zu charakterisierende Untersuchungsumgebungen über das Bild des Tracers miteinander zu relationieren. Für unser Beispiel „Wissenschaftsgeschichte“ muss es zuerst darum gehen, das außeruniversitäre Umfeld der „frühen Wissenschaften von der Natur“ auf dessen „gegenderte“ Charakteristika hin zu erschließen; sodann ist dessen Verbindung mit der Universität als einer formal institutionalisierten Institution zu ermitteln. Allerdings: Nur weil die Markierung Geschlecht während unserer Periode in beiden Untersuchungsumgebungen tatsächlich äußerst „wirksam“ wurde (anders gesagt: weil diese hier in jeweils besonderer Weise Ressourcencharakter hatte), ist Geschlecht derart in zweifacher Weise als Tracer zu gebrauchen. Ziel dieser Herangehensweise aber wäre ein Modus der Thesenbildung, der den (quasi-)monogeschlechtlich geprägten Bereich systematisch in den Kontext anderer, nicht monogeschlechtlich organisierter Lebensbereiche stellt.

IV. Was unser Beispielfeld betrifft, so ist zu berücksichtigen, dass „Wissen“ und „Wissenschaft“ in der Frühen Neuzeit – zumal in den uneinheitlichen Bewegungen zur Erforschung der Natur – keine klar umrissenen Konzepte oder Tätigkeiten darstellten. Die für den langfristigen Prozess der Wissenschaftsentwicklung wegweisenden Wissensmodelle und Handlungszusammenhänge bildeten sich zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert gerade erst heraus. Seit der Renaissance artikulierten Gelehrte und Laien immer deutlicher ein Bedürfnis nach „neuem“ Wissen, das – inhaltlich hoch umstritten – nun allmählich zum positiven Wert an sich mutierte. Entsprechende Methoden, Praktiken und Institutionen, Ideale und Kommunikationsweisen lagen aber nicht von Beginn an bereit, sondern bildeten sich über Jahrzehnte und Jahrhunderte erst heraus. Das „Neue“ – was immer man jeweils darunter

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verstand – ließ sich nach Meinung vieler und gerade der wissenschaftlich „innovativsten“ Gelehrten an einer lange noch autoritäten- und textorientierten sowie im Status der bloßen Lehranstalt verharrenden Universität nicht mehr realisieren. Immer häufiger überschritten daher Gebildete und Gelehrte soziale und kulturelle Grenzen in Richtung auf die außeruniversitäre Wissensproduktion. 19 Bereits seit dem 16. Jahrhundert diskutierte man vermehrt Wissensmodelle, die sich implizit oder explizit dem Problem des außeruniversitären Wissens nicht mehr nur auf Basis der antiken Autoren widmeten. Aktive Wissens- und Forschungsarbeit verlangte immer öfter die praktische Integration von Spezialist/inn/en und Wissensträger/inn/en, die an den herkömmlichen Lehranstalten keinen Platz gefunden hatten. In jener letztlich für die Herausbildung moderner Rationalitäten und das heutige Wissenschaftssystem so entscheidenden Umbruchsperiode, die über die heute oft als „wissenschaftliche Revolution“ bezeichnete Periode noch hinausreicht, kamen auch den Geschlechterdifferenzen etliche Leistungen zu. Einige wichtige Aspekte dieser Entwicklung seien knapp resümiert: 1. Die frühen „Wissenschaften von der Natur“ entfalteten sich im Wandel traditioneller Naturvorstellungen, die deutlich „gegenderte“ Seiten hatten. Vermeintlich weibliche Geschlechtseigenschaften steckten vielfach den epistemologischen Rahmen ab, in dem Natur überhaupt gedacht werden konnte. Bereits in Antike und Mittelalter übliche Formen der Personifizierungen bzw. Allegorisierungen von Natur – „Natura“ oder auch „Fauna“ wurden bekanntlich weiblich imaginiert – gaben hierfür den Hintergrund ab. Die Renaissance deutete ältere Naturkonzepte neu, indem sie in bekannte Konstrukte der Geschlechterdifferenzen weitere Bedeutungselemente einbrachte. Beobachten lässt sich dies auf der Ebene der bildlichen Repräsentationen wie auf diskursiver Ebene. Modelle des Wissenserwerbs oder der Wissensproduktion unterschieden sich, je nachdem ob „Natura“ etwa als aktiv eingreifend, „den Menschen schmiedend“, oder aber als vielbrüstige geistige Nährerin vorgestellt wurde. 20 2. Facettenreiche zeitgenössische Genderkonstrukte wurden von Künstlern wie Gelehrten genutzt, um heterodoxe Konzepte des Wissens zu entwickeln und zu plausibilisieren. Die Werke von Naturphilosophen, die sich wie Marsilio Ficino oder später Robert Fludd von 19

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Dieser Trend ist in der internationalen Wissenschaftsgeschichte vielfach dokumentiert, ohne dass er jedoch m.W. bisher fall- und diziplinenübergreifend im Hinblick auf die langfristige Wissenschaftsentwicklung formuliert wurde. Vgl. dazu Mommertz 2006 (wie Anm. 4) mit weiterer Literatur auch zu den nachfolgend stichpunktartig zusammengefassten Aspekten. So Park, Katharine: Nature in Person. Medieval and Renaissance Allegories and Emblems. In: Daston, Lorraine (Hrsg.): The moral authority of nature. Chicago 2004, S. 50-73.

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scholastischen Denkweisen abgrenzten, sind durchzogen von geschlechtsbezogenen Metaphoriken, die wiederum innovative Naturkonzepte versinnbildlichen. 21 Bis in verbreitete Visualisierungen der „neuen Wissenschaften“ lässt sich verfolgen, wie das Verhältnis zwischen Naturforschern und den ihnen zugeschriebenen „neuen“ Untersuchungsgegenständen in unterschiedlichen Bezugssystemen zwischen „Weiblichem“ und „Männlichem“ thematisiert und alternative Verfahren und Methoden des Forschens in den damit verbundenen Symbolbeziehungen angeregt bzw. legitimiert wurden. 3. Geschlecht blieb auch im 17. und 18. Jahrhundert ein Denkraum eigener Qualität, weibliche Konstrukte von Natur, Philosophie oder Wissenschaft lieferten z.B. Muster der Selbstdefinition des Mannes als gelehrter Wissenschaftler. Ein wiederholt aufgegriffenes darstellerisches Motiv zeigte den Naturforscher, der aufmerksam die Fußspuren einer ihm vorausschreitenden Frau Natur ausspäht. So lässt sich in der Atalanta fugiens Michael Meiers eine Art erkenntnistheoretisches Programm in „gegenderten“ Konstellationen ausmachen: In direkter Absetzung vom Buchgelehrten habe der Naturphilosoph bzw. Alchimist der Natur sehend und beobachtend zu folgen. 22 Weitere Beispiele finden sich in den Werken Francis Bacons, der das von ihm geforderte Auftreten des empirischen Naturgelehrten ebenfalls in Anknüpfung an verschiedene, von ihm der natura zugeschriebenen Eigenschaften ausformulierte. 23 4. Solche eher abstrakt-programmatischen Formen der Bezugnahme auf männlich und weiblich konnotierte Figuren, Werte und Verhaltensweisen wurden unter Umständen in konkrete Vorschläge zur Überprüfung und Validierung von Wissen übersetzt. So gewann die von Leibniz in die res publica litteraria eingebrachte Forderung, Frauen als Schiedspersonen in grundlegenden naturphilosophisch-theologischen Streitfragen zu gewinnen, für den Universalgelehrten aus den ihm und anderen Zeitgenossen geläufigen Differenzkonstrukten des Weiblichen bzw. Männlichen Überzeugungskraft: Die weiblich konnotierte „Liebe des Weisen“ erschien dem Philosophen erstrebenswertes Erkenntnisinstrument in einer durch private Animositäten 21

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Zur Veränderung der Naturvorstellungen in und seit der Renaissance vgl. ebd., S. 60-64 und Fludd, Robert: Utriusque Cosmi Maioris scilicet et Minoris Metaphysica, Physica Atqve Technica Historia. 2 Bde. Oppenheim 1617. Vgl. Maier, Michael: Atalanta Fvgiens, hoc est, Emblemata Nova De Secretis Naturæ Chymica. Oppenheim 1618. Vgl. Hutton, Sarah: The Riddle of the Sphinx. Francis Bacon and the Emblems of Science. In: Hunter, Lynette/Hutton, Sarah (Hrsg.): Women, Science and Medicine 1500-1700. Mothers and Sisters of the Royal Society. Stroud 1997, S. 7-28.

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und mehr noch durch politische wie konfessionelle Gegensätze gefährdeten Gelehrtenwelt. Persönlich gewann Leibniz insbesondere gebildete hochadelige Frauen für den wissenschaftlichen Dialog – und wurde von diesen beraten und unterstützt. 24 5. Nicht immer verblieben in geschlechtlichen Zuschreibungen ausformulierte Vorschläge zu neuer Wissenschaftspraxis folglich in der Sphäre der Theorie. Dies lässt sich auch daran festmachen, dass eine ganze Reihe von Frauen während des 17. und 18. Jahrhunderts als Vermittlerinnen, Verteidigerinnen und Übersetzerinnen des „neuen Wissens“ z.B. in der Naturphilosophie fungierten. 25 Solche Praktiken des wissenschaftlichen Austauschs vollzogen sich für viele selbstverständlich in gemischtgeschlechtlich strukturierten Milieus oder setzten den aktiven Einsatz von Mäzeninnen und Patroninnen voraus. Leibniz’ Vorschlag verweist im Übrigen darauf, dass man in dieser Aufbruchsperiode den männlichen Wissenschaftler gerne im Hinblick auf ein weibliches Gegenüber imaginierte. 6. Angenommene Geschlechterdifferenzen informierten konkrete Inhalte wissenschaftlichen Wissens, z.B. zeittypische kosmologische oder naturphilosophische bzw. naturgeschichtliche Erklärungsmodelle. Für die Lebenswissenschaften ist das offensichtlich, etwa in der sexualisierten Pflanzenphysiologie Carl von Linnés oder der romantischen Naturphilosophie Goethes. 26 Weniger bekannt ist, dass auch die physikalische Naturlehre unter Umständen in „gegenderten“ Kategorien konzipierte: Ein faszinierendes Beispiel stellt das Teilchenkonzept Maupertuis’ dar, der Anziehung und Abstoßung von Materie nach dem Muster unterstellter männlicher bzw. weiblicher Formen des „desire“ oder der „repulsion“ entwarf. 27

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Vgl. Utermöhlen, Gerda: Die gelehrte Frau im Spiegel der Leibniz-Korrespondenz. In: Neumeister/Wiedemann 1987 (wie Anm. 12), S. 603-618, hier S. 609f. Vgl. Stedman, Gesa/Zimmermann, Margarete (Hrsg.): Höfe – Salons – Akademien. Kulturtransfer und Gender im Europa der frühen Neuzeit. Hildesheim u.a. 2007; Tebeaux, Elisabeth: Women and Technical Writing, 1475-1700. Technology, Literacy and Development of a Genre. In: Hunter/Hutton 1997 (wie Anm. 23), S. 29-62 sowie Wehinger, Brunhilde: Auf dem „Marktplatz der Ideen“. Übersetzerinnen im 18. Jahrhundert. In: dies./Brown, Hilary (Hrsg.): Übersetzungskultur im 18. Jahrhundert. Übersetzerinnen in Deutschland, Frankreich und der Schweiz. Laatzen 2008, S. 7-18. Vgl. Schiebinger, Londa: Why Mammals Are Called Mammals. Gender Politics in Eighteenth-Century Natural History. In: Keller, Evelyn Fox/Longino, Helen E. (Hrsg.): Feminism and Science. Oxford/New York 1996, S. 137-153; Koerner, Lisbeth: Lessons of a Feminin Science. In: Isis 84 (1993), S. 470-495. Vgl. Terrall, Mary: Salon, Academy, and Boudoir. Generation and Desire in Maupertuis’s Science of Life. In: Isis 87 (1996), S. 217-229.

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7. Im Medium der Kritik an traditionellen Interpretationen der Geschlechterdifferenz ließen sich unter Umständen Denk- und Wissensmodelle der traditionellen Wissenschaften kritisieren und zurückweisen. Dies gilt für einzelne Wissenschaftszweige, aber auch für die in der Frühen Neuzeit allgegenwärtige Gelehrtenkritik – und weithin akzeptierte Misogynie empfanden nicht wenige Gelehrte als überholtes „Vorurteil“: Christian Thomasius traute „Wahrheit und Weißheit“ dem Handwerker, Bauern oder einer „Weibes-Persohn“ eher zu als den universitär gebildeten Gelehrten seiner Zeit. Mit klarem „Gender“-Bezug setzte er einer von ihm als „plump“ und pedantisch bekämpften Universitätswissenschaft eine „galante“, d.h. in der Sprache der Zeit durch die Anwesenheit von gebildeten Damen aufgewertete Konversations-Wissenschaft entgegen. 28 Bei Agrippa von Nettesheim und seinen Anhänger/inne/n in ganz Europa (die bekanntlich die damalige „Schulmedizin“ scharf angriffen) führte Kritik an etablierten Wissensformen zu ausdrücklichem Frauenlob, weil er spezifisch weibliche Zugänge zum „wahren“ Wissen etwa in der Heilkunde annahm. 29 8. Naturphilosophisch und experimentell orientierte Reformer unterbreiteten in ausdrücklicher Bezugnahme auf Geschlechterdebatten der Zeit Vorschläge und Utopien zur Erneuerung der als veraltet und überholt geltenden Bildungs- und Wissenschaftsinstitutionen. Wie John Dury, Samuel Hartlib oder Amos Comenius befürworteten auch weniger bekannte Schriftsteller die Einbeziehung von Frauen in die zu entwickelnde Wissenschaft. 30 Auf die Ausweitung der Mädchen- und Frauenbildung gerichtete Schriften wurden breit rezipiert, 28

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Thomasius, Christian: Ausübung der Vernunftlehre (Ausgewählte Werke, hrsg. von Schneiders, Werner. Bd. 9). Hildesheim/Zürich/New York 1998, Zitat Widmung an Eberhard von Danckelmann, S. [11], und Schneiders, Werner: Nicht plump, nicht säuisch, nicht sauertöpfisch. Zu Thomasius’ Idee einer Philosophie für alle. In: Fontius, Martin/Schneiders, Werner (Hrsg.): Die Philosophie und die Belles-Lettres. Berlin 1997, S. 1121. Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim: De nobilitate et praecellentia foeminei sexus. Antwerpen 1529. Wiederauflagen und Übersetzungen bis ins 18. Jahrhundert lieferten für zahlreiche Nachahmer Argumente. John Dury und Samuel Hartlib forderten Unterricht in Fremdsprachen und Naturphilosophie auch für Frauen. Wie bei Comenius setzte das „neue“ universelle Wissen, das sie anstrebten, universelle Partizipation voraus. Vgl. Schabert, Ina: Der gesellschaftliche Ort weiblicher Gelehrsamkeit. Akademieprojekte, utopische Visionen und praktizierte Formen gelehrter Frauengemeinschaft in England 1660-1800. In: Garber Klaus/Wismann, Heinz (Hrsg.): Europäische Sozietätsbewegung und demokratische Tradition. Die europäischen Akademien der Frühen Neuzeit zwischen Frührenaissance und Spätaufklärung. Tübingen 1996, Bd. 1, S. 755-789.

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und auch die von gelehrten und hochgestellten Frauen verfassten Schul- und Bildungsutopien des 17. und 18. Jahrhunderts sind als Teil dieser Reformbemühungen zu verstehen. 31 Bildungs- und Wissenschaftstheoretiker/innen, aber auch andere an diesen Themen interessierte Autoren des 17. und 18. Jahrhunderts – John Evelyn, George Wheler oder Robert Nelson – bezogen sich auf die Schriften einer Mary Astell. 32 9. In einer Phase des stetigen „Auszugs“ forschungsorientierter Gelehrter aus der Universität mussten diese sich nach alternativen „Gehäusen“ wissenschaftlicher Bildung, Arbeit und Kommunikation umtun. Der Salon oder das Boudoir sowie das Kaffeehaus waren in der Frühen Neuzeit bedeutende außeruniversitäre „Orte“ wissenschaftlicher Auseinandersetzung; ähnlich die Künstler- und Handwerkerwerkstatt oder sogar das Handelskontor oder die Botschaft eines Landes. 33 Solche Schnittfelder der res publica litteraria mit der nicht gelehrten bzw. außeruniversitären Welt garantierten den nötigen Wissenstransfer und waren häufig gemischtgeschlechtlich organisiert. Ihre soziale Struktur bot Gegenmodelle wissenschaftlicher Kooperation jenseits der Zensur und jenseits zünftischer Regeln und Rituale der „alma mater“. In ihrer Informalität boten sie Gelehrten männlichen und weiblichen Geschlechts willkommene Freiräume und alternative Foren wissenschaftlicher Diskussion auf der Höhe der Zeit. Die für die Wissenschaftsentwicklung des 17. und 18. Jahrhunderts so wesentliche, oft überhaupt nur außeruniversitär und (halb-)privat zu verwirklichende Kommunikation über Wissen bedingte spezifische Chancen für Frauen – ebenso aber auch neuartige Bildungs- und Forschungschancen für Männer. 10. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang der von der Wissenschaftsgeschichte lange unterschätzte und nicht bloß für Frauen, sondern auch für Männer als Raum wissenschaftlicher Bildung und Arbeit unverzichtbare Haushalt. Gelehrten- und Praktikerhaushalte bildeten nicht selten den Nukleus der Kooperation und Tradierung von Wissen. Die von vielen propagierten praktisch-empirischen Me31

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Dies gilt übrigens auch für das in der Forschung lange vernachlässigte südliche Europa. Vgl. z.B. die Schriften des spanischen Aufklärers Benito Jerónimo Feijóo, z.B.: Teatro crítico universal. Colección de los discursos mas notables […]. 2 Bde. Madrid 1774. Vgl. Schabert 1996 (wie Anm. 30) und dies.: Bürgerinnen in der Republik des Geistes? Gelehrte Frauen im England der Aufklärung. In: Ebrecht, Angelika/Lühe, Irmela von der/Pott, Ute u.a. (Hrsg.): Querelles. Jahrbuch für Frauenforschung. Stuttgart/Weimar 1996, S. 77-104, bes. S. 83f. Vgl. programmatisch Jardine, Nicolas/Secord, James A./Spary, Emma C. (Hrsg.): Cultures of Natural History. Cambridge 1996 sowie resümierend Daston/Park 2006 (wie Anm. 3).

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thoden im Umfeld der sogenannten „Wissenschaftlichen Revolution“ ließen sich vorzugsweise arbeitsteilig realisieren, eine Kooperationsform, die im häuslichen Bereich zwischen Männern, oft auch zwischen Frauen und Männern bzw. zwischen engeren und weiteren Familienangehörigen und anderen „Hausgenossen“ einfach umgesetzt werden konnte. Haushaltsbasierte gemischtgeschlechtliche „Arbeitspaare“ und „family firms“ finden sich in so gut wie allen praktischen Wissenszweigen der Zeit. Unter Zeitgenossen teilweise hoch renommiert – wie z.B. die Astronomen Elisabeth Koopmann und Johannes Hevelius – waren Wissenschaftlerhaushalte jedoch im Umfeld der Akademien in Formen einer „Schattenökonomie“ wissenschaftlichen Arbeitens eingebunden, die den weiblichen Teil nahezu unsichtbar werden ließ. 34 11. Vor diesem Hintergrund verlief auch die schriftliche Kommunikation über Inhalte und Methoden der „neuen Wissenschaften“ in erstaunlichem Maße geschlechterübergreifend. Die res publica litteraria kannte und schätzte unzählige männlich-weibliche Brief- und Gesprächspaare. Gemischtgeschlechtliche schreibende Netzwerke, die erst die heroisierende Wissenschaftsgeschichte späterer Jahrhunderte aus dem allgemeinen Bewusstsein verdrängte, waren vielen Beteiligten dieser Bewegung seinerzeit völlig vertraut: Margaret Roper, Tochter des Humanisten Thomas Moore, korrespondierte mit Erasmus; Descartes pflegte seine philosophischen Gedankenaustausch mit mehreren hochadeligen Frauen, darunter Christina von Schweden und Elisabeth von Böhmen; „philosophische“ oder „mathematische“ Paare bildeten Voltaire und Emilie de Chatelet, Leibniz und die Philosophin Anne Conway, Lady Damaris Masham, „hochgelehrte“ Tochter des englischen Philosophen Ralph Cudworth, und Locke, Marie de Guernay und Lipsius, Mary Astell und John Norris, Sophie de Germain und Gauss – solche Reihen ließen sich fortsetzten. 35

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Zu Elisabeth Kopmann vgl. z.B. Cook, Sir Alan: Johann and Elizabeth Hevelius, Astronomers of Danzig. In: Endeavour 24 (2000), S. 8-12. Zur Praxis der Akademien vgl. Mommertz, Monika: Schattenökonomie der Wissenschaft. Geschlechterordnung und Arbeitssysteme in der Astronomie der Berliner Akademie der Wissenschaften im 18. Jahrhundert. In: Wobbe 2002 (wie Anm. 10), S. 31-63 und neuerdings ausführlich Cooper, Alix: Homes and Household. In: Daston/Park 2006 (wie Anm. 3), S. 224-237. Für weitere Literatur zu diesen und weiteren vgl. Mommertz 2004 (wie Anm. 10).

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V. Ohne mit dieser kleinen Aufzählung unterschiedlicher Ebenen der Leistung der Geschlechterdifferenz Vollständigkeit suggerieren zu wollen, ergibt sich fast über die gesamte Frühe Neuzeit hinweg das differenzierte Bild einer durchaus gemischtgeschlechtlichen und von reger Produktion geschlechtsbezogener Diskurse gekennzeichneten Kultur der „neuen Wissenschaften“. Dies ist jedoch nicht mit egalitären Verhältnissen zu verwechseln. Wie andere soziale Differenzen auch nahm man die Geschlechterdifferenz im gelehrten Umfeld in der Frühen Neuzeit in aller Regel als Ungleichheit wahr. Dennoch wurde sie nicht mit fixen und für alle gleichermaßen unwandelbaren Bedeutungen belegt: Ihr Geltungsbereich, ihre Reichweite im Hinblick auf Möglichkeiten der Wissensproduktion und der symbolischen Konstruktion von Wissen und Wissenschaft wurde vielmehr in den erneuerungswilligen Kreisen der res publica litteraria und darüber hinaus ausführlich und strittig diskutiert. Anschlüsse an ältere Traditionen der sogenannten „querelles des femmes“ waren allen Teilnehmenden dieser die Frühe Neuzeit prägenden Debatten präsent. Die an wahrgenommene Differenzen zwischen den Geschlechtern jeweils geknüpften Zuschreibungen waren für Personen beiderlei Geschlechts in unterschiedlicher Weise und in unterschiedlichem Maße, jedoch mit Gewinn für die jeweils angestrebte „Wissenschaft“ zu nutzen bzw. zu reinterpretieren. Gemischtgeschlechtliche soziale und symbolische Arrangements konzipierte man im Allgemeinen keineswegs „emanzipatorisch“ bzw. mit dem Ziel der „Gleichberechtigung“, vielmehr hierarchisch-komplementär. Eben deshalb konnte die Bezugnahme auf „Weiblichkeit“ und „Männlichkeit“ Impulse geben und die Denk- und die Handlungsspielräume einer Wissenschaft erweitern, die im Entstehen begriffen war, ohne noch ihren Anhänger/inne/n institutionelle Kohärenz zu bieten.

VI. Was bedeuten nun die skizzierten Verhältnisse im Hinblick auf die scheinbar „geschlechtslose“, tatsächlich aber weitestgehend monogeschlechtlich geprägte Einrichtung Universität? Mit Hilfe der Kategorie Geschlecht, verstanden als ein „Spurensucher“, ein Erkenntnismittel zur Erforschung unterschiedlicher historischer „Untersuchungsumgebungen“ und deren Wandel, ist eine erste Annäherung an diese Frage möglich. Da beide Untersuchungsumgebungen, die hier als Beispiel dienen, über ihr jeweiliges Verhältnis zu Geschlecht zu charakterisieren sind, sind sie über den Tracer schließlich miteinander in Beziehung zu setzen: Auf der einen Seite stellt sich das außeruniver-

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sitäre Umfeld der „frühen Wissenschaften von der Natur“ als eine in entscheidenden Aspekten gemischtgeschlechtlich, wenn auch keineswegs paritätisch organisierte „Umgebung“ dar, die ihre Entwicklungsfähigkeit unter anderem (und in nicht unwesentlichen Aspekten) aus eben diesem Merkmal bezog; auf der anderen Seite steht die Universität als formal institutionalisierte, über Anerkennungsmechanismen, Zugangsbeschränkungen, Rituale etc. nach außen bzw. in sich abgeschlossene, weitestgehend männlich besetzte Institution. Zwar ist im Auge zu behalten, dass die Grenzen beider Kulturen keineswegs gänzlich undurchlässig gegeneinander blieben: Universitätsangehörige waren häufig in der einen oder anderen Weise in die Projekte der entstehenden (natur-)forschenden Wissenschaft involviert, und mehrheitlich hatten auch die entschiedensten Feinde der Universität dort immerhin studiert. Der Alltag des Professorenlebens, der Unterricht oder die Selbstbildung fanden noch in erheblichem Umfang im privaten Haushalt statt und der gelehrte Ehemann wurde von weiblichen Haushaltsmitgliedern darin manchmal unterstützt. Und sogar einige echte „Ausnahmefrauen“ – die Zahl der bis heute bekannten Fälle ist an zwei Händen abzuzählen – hatte die alma mater im Laufe der Jahrhunderte aufgenommen. Dennoch bleibt der Kontrast im Hinblick auf gender scharf: Im Feld der außeruniversitären Wissensproduktion gehörten zeitspezifische Konstrukte der Geschlechterdifferenz zu deren unverzichtbaren Möglichkeitsbedingungen. Sie wurden auf verschiedensten Ebenen der Produktion und Repräsentation von Wissen, der Selbstdefinition und Arbeitsteilung, Tradierung und gesellschaftlichen Verankerung des lange nicht formal organisierten „neuen Wissens“ vielfach produktiv (genutzt). Die Kategorie Geschlecht spielte mithin eine nicht unwesentliche Rolle für die Kohärenz und die Entwicklung von (Natur-)Forschung – und damit letztlich für eine der wichtigsten Phasen der Herausbildung moderner (Natur-)Wissenschaften. Die Universitäten gerieten demgegenüber in eine bis ins 18. Jahrhundert andauernde Krise, auf die sie lange unbeweglich bzw. mit wenigen, partiellen bzw. zurückhaltenden Reformen reagierten. Im Kontrast beider Felder wird die „Monogeschlechtlichkeit“ der alten Lehranstalt als ein Faktor ihrer lang anhaltenden Unfähigkeit zu grundlegender Erneuerung erkennbar. Ein unmittelbarer Zugriff auf die außeruniversitär unter anderem über Geschlechterdifferenzen zugänglichen Innovationspotentiale war dieser Anstalt offenbar auch deshalb lange versagt, weil sie sich gerade in dieser Hinsicht bewusst abgrenzte. 36 Erst nachdem sich ein breiter Pool an neuen Praktiken, Werten und Idealen, Organisations- und Kommunikationsformen der Naturforschung außer36

Ein Hinweis auf ähnlich innovationshemmende Wirkungen anderer Grenzziehungen etwa ständischer und religiöser oder ethnischer Art scheint hier angebracht, kann aber nicht weiter ausgeführt werden; vgl. aber Mommertz 2006 (wie Anm. 4).

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halb der Universitäten bereits akkumuliert hatte, konnten die europäischen Universitäten die für die Zeitgenoss/inn/en mehr als greifbaren Nachteile ihrer institutionellen Abschließung als reine Lehranstalt durch radikales Umlenken ausgleichen. Die Geschlechterdifferenz ist in diesen Prozess in vielerlei Weise eingewoben – die komplexen Reformanstrengungen der Jahrzehnte um 1800, obwohl hier nicht im Einzelnen zu diskutieren, erscheinen in einem neuen Licht. Ein markantes Kennzeichen der sich schließlich durchsetzenden reformierten Universitätswissenschaften sind offenbar Schließungen zuvor teilweise geöffneter Grenzen, die ihrerseits über Geschlecht – wie über andere Differenzen – vermittelt waren. 37 Vorgezeichnet finden sich diese Schließungen bereits in der geschlechterbasierten „Schattenökonomie“ der großen wissenschaftlichen Akademien des 17. und 18. Jahrhunderts, die als Transferund Schaltstellen der Institutionalisierung von Wissenschaft Frauen (und bestimmte Männergruppen!) sozusagen „unter der Hand“ einbezogen, diese aber in ihren Kommunikations- und Anerkennungssystemen marginalisierten oder ganz ausschlossen. 38 Spätestens mit den Humboldtschen Reformen, also seit Anfang des 19. Jahrhunderts, begannen die Universitäten von einer teilweise weit vorgelagerten, wesentlich außeruniversitär organisierten und dabei vielfach auch durch Geschlecht regulierten „Ausdifferenzierung“ der Wissenschaften zu profitieren. In der nunmehr institutionell bzw. formal verankerten Koppelung von „Forschung und Lehre“ (deren „Einheit“ bekanntlich als ein wesentliches Kennzeichen der reformierten Universität des 19. Jahrhunderts gilt) setzte sich eine offiziell homosoziale bzw. zunehmend monogeschlechtliche Struktur jedenfalls bis zum Beginn des Frauenstudiums durch. Geschlecht ist nicht nur Konstrukt – es ist Teil der Konstruktion vergangener Gesellschaften und Kulturen. Im vorgeschlagenen Zuschnitt des Begriffs der „Geschlechtsmarkierung“, über dessen Wendung in ein Tracer/Ressourcen-Modell lässt sich die Relationalität der Kategorie Geschlecht daher in erweitertem Sinn für die historiographische Arbeit fruchtbar machen. Nicht nur sind „Mann“ und „Frau“ als relationale, in historisch wandelbaren „Geschlechterbeziehungen“ aufeinander bezogene Identitätskonstrukte von Subjekten oder Gruppen zu erkennen. Vielmehr sind ganze Kulturen (Lebensbereiche, organisatorische Gebilde, Praktikenzusammenhänge bzw. Verfahren oder Institutionen) unter Berücksichtigung ihrer diskursiven 37

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Mommertz 2006 (wie Anm. 4) geht auf ähnlich gerichtete Wirkungen bzw. „Leistungen“ anderer sozialer und kultureller Differenzen ein, die hier nicht berücksichtigt werden konnten. „Schattenökonomien“ der Wissenschaft, die oft durch Geschlecht reguliert wurden, kennzeichnen Teile des wissenschaftlichen Wissens des 19.-21. Jahrhunderts und verdienen die intensive Aufmerksamkeit der Forschung. Vgl. z.B. Lelke, Ina: Die Brüder Grimm in Berlin. Zum Verhältnis von Geselligkeit, Arbeitsweise und Disziplingenese im 19. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 2005 (= Berliner Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte 9).

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und Deutungsdimensionen mit Hilfe der Kategorie Geschlecht zu (re-)interpretieren. Diese als Tracer zu verstehen erlaubt, historisch variierende Verbindungen zwischen nahezu ausschließlich männlich konnotierten Kontexten auf der einen Seite und in je spezifischer Weise geschlechtergemischt konnotierten Kontexten auf der anderen Seite aus ihren wechselseitigen Abhängigkeiten und Bedingtheiten zu konzipieren. Beispielhaft belegt daher die frühneuzeitliche Wissenschaftsgeschichte, dass die Kategorie Geschlecht auch der Historiographie so eigenartig „geschlechtslos/geschlechtlich überdeterminierter“ Institutionen wie der Universität entsprechend ihrer Wirklichkeitsmächtigkeit in der Vergangenheit wieder eingeschrieben werden kann.

KONFESSIONELLE GRENZGÄNGER AN EUROPÄISCHEN HÖFEN

MATTHIAS SCHNETTGER/JAN KUSBER

Sichtbare Grenzen? Konfessionelle „Außenseiter“ und Grenzgänger an europäischen Höfen im 17. und 18. Jahrhundert

Zu den verbreiteten und lange kaum hinterfragten Grundsätzen frühneuzeitlicher Staatskunst zählte das Ziel einer religiös bzw. konfessionell homogenen Untertanenschaft. Der Wunsch des Fürsten, dem persönlich als richtig erkannten Glauben zur Alleinherrschaft zu verhelfen, traf sich hier mit dem Streben nach dem, was die Konfessionalisierungsforschung ausführlich als Sozialdisziplinierung beschrieben hat. Was für Land und Untertanenschaft als Ganze galt, galt für den fürstlichen Hof in seiner doppelten Funktion als Umgebung des Fürsten und Regierungszentrum in besonderer Weise: Nur die konfessionelle Homogenität des Hofs schien verbürgen zu können, dass die hier versammelten Eliten dem Herrscher unbedingte Loyalität entgegenbrachten. Zudem besaß der Hof eine wichtige Vorbildfunktion: Ein konfessionell nicht dem Herrscherwillen folgender Hof konnte den Untertanen ein Negativbeispiel geben und zudem die Möglichkeiten des Fürsten zur Repräsentation in Gottesdienst und religiösem Zeremoniell beschneiden, wenn nämlich ein Teil des Hofes diese für alle Welt – oder zumindest die höfische Öffentlichkeit – sichtbar boykottierte. Wie gravierend es für den frühneuzeitlichen Reichstag und das Reich insgesamt war, dass infolge der Reformation ein Teil der Reichsstände, ja der Kurfürsten als den, um mit Axel Gotthard zu sprechen, „Säulen des Reiches“, 1 sich von den katholischen Zeremonien distanzierte, hat jüngst Barbara StollbergRilinger gezeigt. 2 Ideal und Wirklichkeit unterschieden sich indessen nicht nur am Reichstag, sondern auch in zahlreichen fürstlichen Residenzen erheblich – und das nicht nur im 16. Jahrhundert, als in konfessioneller Hinsicht die Dinge vielfach noch in Bewegung waren, zahlreiche Fürsten ihren Glauben wechselten, die Grenzen zwischen den Konfessionen sich erst allmählich verfestigten, die Konfession des Einzelnen von daher gar nicht immer klar zu fassen war und 1 2

Vgl. Gotthard, Axel: Säulen des Reiches. Die Kurfürsten im frühneuzeitlichen Reichsverband. 2 Bde. Husum 1999 (= Historische Studien 457). Vgl. Stollberg-Rilinger, Barbara: Des Kaisers alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches. München 2008, S. 93-136, 165-172.

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Matthias Schnettger/Jan Kusber

infolgedessen die oben beschriebenen konfessionellen Homogenisierungstendenzen erst ganz allmählich umgesetzt werden konnten. Denn auch im 17. und 18. Jahrhundert, als die konfessionellen Lager trotz immer wieder vorkommender Fürstenkonversionen im Wesentlichen feststanden, wurde immer wieder vom Ideal des konfessionell homogenen Hofes abgewichen, weniger in der Weise, dass die Konfession von Fürst und Hof keine Rolle mehr gespielt hätte, als dass aus verschiedenen Gründen Andersgläubige zum Hof zugelassen wurden und sich für kürzere oder längere Zeit oder auch auf Dauer dort aufhielten. Dies konnten Diplomaten einer andersgläubigen Macht sein, Künstler, Fachleute der unterschiedlichsten Bereiche, auf deren Dienste man nicht verzichten konnte oder wollte. Dabei konnte es sich aber auch um Eliten eines dem betreffenden Reich neu einverleibten Gebietes oder auch nur in Personalunion mit ihm verbundenen Landes handeln oder gar um die aus einer andersgläubigen Dynastie stammende Gattin des Fürsten. Im Extremfall konnte der Herrscher selbst konfessioneller Außenseiter an seinem eigenen Hof sein. Die folgenden Beiträge beschäftigen sich mit dem Problem solcher Außenseiter an frühneuzeitlichen Höfen anhand ausgewählter Beispiele. Um das Thema nicht zu überdehnen, sind diese alle zeitlich der späteren Frühen Neuzeit und geographisch dem mittel- bis ost- bzw. südosteuropäischen Raum zuzuordnen. Gefragt wird nach den Gründen, aus denen diese Grenzgänger zugelassen wurden bzw. aus denen sie den Hof aufsuchten, nach ihrer Stellung dort und nach den Folgen, die ihre Anwesenheit für sie selbst und für den aufnehmenden Hof hatte. Gegenstand sind im Beitrag von Matthias Schnettger die protestantischen Funktionseliten am Wiener Hof, bei Andreas Frings die Frage der Besetzung von Hofämtern mit Protestanten durch den König der polnisch-litauischen Adelsrepublik zur Zeit der sächsisch-polnischen Union, bei Hans-Christan Maner Handlungsspielräume und Karrieremuster der sogenannten Phanarioten an der Hohen Pforte und in der Skizze von Jan Kusber die Aufstiegsmöglichkeiten „Fremder“, dies nicht nur religiös-konfessionell verstanden, am Hofe Katharinas II. In den Beiträgen geht es um Grenzen und möglicherweise Grenzüberschreitungen in einem doppelten Sinne. Eine erste Grenzüberschreitung liegt bei den konfessionellen „Außenseitern“ schon deswegen vor, weil es sich dabei vielfach um Auswärtige handelt. Die zweite Grenze, die es zu berücksichtigen gilt, ist die konfessionelle Grenze, die Etienne François für die Reichsstadt Augsburg seinerzeit als „unsichtbar“ beschrieben hat, 3 die jedoch, so die den Beiträgen zugrunde liegende These, gerade an einem in hohem Maße 3

Vgl. François, Etienne: Die unsichtbare Grenze. Protestanten und Katholiken in Augsburg 1648-1806. Sigmaringen 1991 (= Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 33).

Sichtbare Grenzen?

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vom Zeremoniell geprägten Hof durchaus sichtbar war. Die Nichtbeteiligung an oder der förmliche Ausschluss von religiösen öffentlichen Handlungen ist im Lichte kulturgeschichtlicher Forschungsansätze nicht zu unterschätzen: Wer an diesem wichtigen Teil des Hoflebens nicht partizipierte, war für die höfische Öffentlichkeit und häufig über diese hinaus eo ipso als „Außenseiter“ erkennbar oder erschien im Extremfall gar nicht als ein vollwertiges Mitglied des betreffenden Hofes – womit die konfessionell-religiöse Grenze mittelbar weitere Grenzen begründete. Sie konnte den Ausschluss von Netzwerken und Heiratskreisen implizieren und sich als gravierendes Karrierehindernis erweisen. Der hohe Stellenwert der konfessionellen Grenze für den frühneuzeitlichen Hof erhellt nicht zuletzt daraus, dass sich einige der beschriebenen „Außenseiter“ genötigt sahen, durch eine Konversion förmlich auf die andere Seite zu wechseln. Die Beiträge führen somit in ein Themenfeld, das eine Kombination politik-, sozial- und kulturgeschichtlicher Ansätze geradezu erfordert. Die exemplarische Erschließung dieses Themenfeldes stellt mithin auch einen Beitrag dazu dar, die fruchtbare Diskussion zwischen unterschiedlichen historiographischen Feldern zusammenzuführen.

MATTHIAS SCHNETTGER

Ist Wien eine Messe wert? Protestantische Funktionseliten am Kaiserhof im 17. und 18. Jahrhundert

Neben den bayrischen Wittelsbachern waren die Habsburger die katholische deutsche Dynastie der Frühen Neuzeit. Anders als ihre spanischen Verwandten waren Ferdinand I. und seine Nachfolger zwar genötigt und bereit, konfessionelle Kompromisse einzugehen, und zwar sowohl im Reich, beginnend mit dem Passauer Vertrag (1552) und dem Augsburger Religionsfrieden (1555), wie in den verschiedenen Erblanden, wo sie, veranlasst durch außenpolitischen Druck, innerdynastische Konflikte und die starke Stellung der Stände, den Protestanten beachtliche Zugeständnisse einräumen mussten. Persönlich allerdings hielten die Habsburger Herrscher, vielleicht mit der Ausnahme Maximilians II., am alten Glauben fest. Dies hatte zur Folge, dass auch die habsburgischen Höfe stets katholisch geprägt blieben, obwohl bis ins frühe 17. Jahrhundert Protestanten dort in namhafter Anzahl vertreten waren. Einen Quantensprung in der Rekatholisierung der Habsburger Höfe markierte, zunächst in Graz, dann in Wien, die Regierungszeit Ferdinands II., den man auch im höfischen Kontext als den Kaiser der Gegenreformation bezeichnen kann. Auch unter seinen Nachfolgern blieb der Wiener Hof prononciert katholisch, nicht nur in der Weise, dass Pietas Austriaca und katholische Barockfrömmigkeit das Hofleben wesentlich prägten, sondern auch in seiner konfessionellen Zusammensetzung. Das bedeutet freilich nicht, dass es in Wien keine Protestanten gab. Wenn man ihrer bedurfte, war man durchaus bereit, über den konfessionellen Makel hinwegzusehen, der zudem durch eine Konversion gegebenenfalls zu beseitigen war. Und so waren in der Kaiserstadt nicht nur protestantische Gesandtschaften präsent; geduldet wurden außerdem anderskonfessionelle militärische, künstlerische und wirtschaftliche Funktionseliten.1 Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts war sogar eine kleine Zahl von Posten an der neben der Reichskanzlei wichtigsten Reichsinstitution 1

Vgl. Scheutz, Martin: Legalität und unterdrückte Religionsausübung. Niederleger, Reichshofräte, Gesandte und Legationsprediger. Protestantisches Leben in der Haupt- und Residenzstadt Wien im 17. und 18. Jahrhundert. In: Leeb, Rudolf/Scheutz, Martin/Weikl, Dietmar (Hrsg.): Geheimprotestantismus und evangelische Kirchen in der Habsburgermonarchie und im Erzstift Salzburg (17./18. Jahrhundert). Wien/München 2009 (= Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 51), S. 209-236.

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am Wiener Hof ausdrücklich Protestanten vorbehalten: dem Reichshofrat. Der Reichshofrat war nicht nur das zweite höchste Reichsgericht neben dem in Speyer bzw. ab 1689 in Wetzlar ansässigen Reichskammergericht, sondern – und das exklusiv – das oberste Reichslehnsgericht. Er war zuständig für Privilegien und Gnadensachen und beriet den Kaiser in allen Reichsangelegenheiten. Dementsprechend eng war der Reichshofrat mit der Person des Reichsoberhauptes verbunden: Er hatte nicht nur seinen Amtssitz am Hof des Kaisers, sondern seine Mitglieder wurden ausschließlich von diesem – und nicht etwa den Reichsständen – berufen. 2 Mit den evangelischen Reichshofräten, einer überschaubaren Zahl von Funktionsträgern, beschäftigt sich der vorliegende Beitrag. Ihre Namen und Karrieren sind zumindest grob durch das Standardwerk von Oswald Gschließer erschlossen, doch hat sich die Forschung ihnen als Gruppe noch nicht intensiv gewidmet. Dies kann in diesem Beitrag nicht nachgeholt werden; das bescheidenere Ziel ist vielmehr, einige Beobachtungen zu formulieren, die als Ausgangspunkt für eine vertiefte Bearbeitung des Themas dienen könnten. 3

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Die Literaturlage zum Reichshofrat ist mittlerweile gut. Das Standardwerk ist freilich immer noch Gschließer, Oswald von: Der Reichshofrat. Bedeutung und Verfassung, Schicksal und Reichshofratsordnungen. Besetzung einer obersten Reichsbehörde von 1559-1806. Wien 1942 (= Veröffentlichungen des Kommission für neuere Geschichte des ehemaligen Österreich 13) (ND Nendeln 1970). An neueren Publikationen allgemeineren Charakters seien lediglich genannt Sellert, Wolfgang: Prozeßgrundsätze und Stilus Curiae am Reichshofrat im Vergleich mit den gesetzlichen Grundlagen des reichskammergerichtlichen Verfahrens. Aalen 1973 (= Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte NF 18); ders. (Hrsg.): Reichshofrat und Reichskammergericht. Ein Konkurrenzverhältnis. Köln/Weimar/Wien 1999 (= Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 34); Ehrenpreis, Stefan: Kaiserliche Gerichtsbarkeit und Konfessionspolitik. Der Reichshofrat unter Rudolf II. 1576-1612. Göttingen 2006 (= Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 72); Amend, Anja u.a. (Hrsg.): Gerichtslandschaft Altes Reich. Höchste Gerichtsbarkeit und territoriale Rechtsprechung. Köln/Weimar/Wien 2007 (= Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 52); Auer, Leopold/Ogris, Werner/Ortlieb, Eva (Hrsg.): Höchstgerichte in Europa. Bausteine frühneuzeitlicher Rechtsordnungen. Köln/Weimar/ Wien 2007 (= Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 53). Gute Überblicke liefern Eisenhardt, Ulrich: Der Reichshofrat als kombiniertes Rechtsprechungs- und Regierungsorgan. In: Hausmann, Jost u.a. (Hrsg.): Zur Erhaltung guter Ordnung. Beiträge zur Geschichte von Recht und Justiz. Festschrift für Wolfgang Sellert zum 65. Geburtstag. Köln/Weimar/Wien 2000, S. 245-267 sowie zu Forschungslage und perspektiven Ortlieb, Eva/Westphal, Siegrid: Die Höchstgerichtsbarkeit im Alten Reich. Bedeutung, Forschungsentwicklung und neue Perspektiven. In: Zeitschrift der SavignyStiftung für Rechtsgeschichte GA 123 (2006), S. 291-304. Erschlossen werden nun auch die Akten des Reichshofrats: Sellert, Wolfgang (Hrsg.)/Ortlieb, Eva (Bearb.): Die Akten des Kaiserlichen Reichshofrats. Ser. 1: Alte Prager Akten. Bd. 1: A-D. Berlin 2009. Für eine erschöpfende Aufarbeitung des Themas wäre insbesondere die systematische Auswertung der Verfassungsakten des Reichshofrats im Wiener Haus-, Hof- und Staatsar-

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Dies soll in drei Schritten geschehen: Zunächst soll mit einem kurzen Überblick über die rechtlichen Grundlagen und die Bedeutung der protestantischen Reichshofräte für den Kaiserhof begonnen werden. In einem ausführlicheren zweiten Teil wird die Situation der protestantischen Reichshofräte als konfessionelle Minderheit am Wiener Hof skizziert. Schließlich wird versucht, Karrieremuster protestantischer Reichshofräte herauszuarbeiten – Karrieremuster, die nicht zuletzt durch die konfessionelle Differenz geprägt waren. Auf diese Weise wird das Thema Grenzen und Grenzüberschreitungen in mehrfacher Hinsicht in den Blick genommen: Neben dem Problem der Rekrutierung von Funktionseliten, die von jenseits der (territorialstaatlichen) Grenze kamen, soll vor allem die Frage erörtert werden, welchen Stellenwert die konfessionelle Grenze für die evangelischen Reichshofräte hatte. Wie deutlich war sie ausgeprägt, und wie wurde sie wahrgenommen? Bewirkte die konfessionelle Grenze auch eine gesellschaftliche Ausgrenzung, und inwiefern stellte sie ein Karrierehindernis für die evangelischen Reichshofräte dar? Und schließlich: Welche Konsequenzen zogen die protestantischen Reichshofräte aus dieser Grenzsituation? Kehrten sie in namhafter Zahl zurück in Territorien, in denen ihr eigener Glaube dominierte? Und welche Rolle spielte die Option, durch eine Konversion die konfessionelle Grenze zu überschreiten und so die Situation des Ausgegrenztseins aufzuheben?

Die protestantischen Reichshofräte im 17. und 18. Jahrhundert – ein Überblick Die rechtliche Grundlage für die Berufung protestantischer Reichshofräte war zunächst der Westfälische Friedensvertrag, konkret Art. V, §§ 54 und 55 IPO, welche im Kontext der Bestrebungen zur Herstellung der konfessionellen Parität im Reich auch die paritätische Besetzung des Reichshofrats verfügten und die Anwendbarkeit der Reichskammergerichtsordnung für diesen allgemein festhielten. 4 Präzisiert wurden diese Bestimmungen in der Reichshofratsordnung von 1654, die Kaiser Ferdinand III. aus eigener Machtvollkommenheit erließ. In Tit. I, § 3 heißt es: „Wir wollen auch under diesen achtzehen personen sechs von herrn-, ritter und gelehrten standt der augspurgischen confessionsver-

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chiv unabdingbar, die für diesen Beitrag lediglich zu einem geringen Teil herangezogen werden konnten. Im Vorfeld des Friedens und auf dem Westfälischen Friedenskongress stellten die Protestantischen Stände noch sehr viel weitergehende Forderungen. Vgl. Sellert, Wolfgang (Hrsg.): Die Ordnungen des Reichshofrates 1550-1766. Halbbd. 2. Köln/Wien 1990 (= Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 8,2), S. 24-35.

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wanthe und der reichssachen erfahrne männer […] annehmen, damit auf begebenden fall die gleichheit der richter von beeden religion assessorn observirt werden möge.“ 5 Zugleich wurde in Tit. VII, § 10 festgehalten, dass „der stende advocaten, procuratores und agenten, sie sein catholisch oder der augspurgischen confession zugethan, wegen der religion nicht angefochten werden“ sollten. 6 Wenn Ferdinand die Aufnahme von Protestanten in den Reichshofrat und die Zulassung evangelischer Parteienvertreter festschrieb, ist dies als eine Maßnahme zu interpretieren, um Schlimmeres zu verhüten: eine Einmischung der Reichsstände in die Angelegenheiten des Reichshofrats; sie hätte dessen Charakter als exklusiv dem Kaiser unterstelltes Gericht verändert. Indem Ferdinand die paritätische Verhandlung von Religionsprozessen zusicherte, brach er zugleich den Vorstößen einiger Evangelischer, die Jurisdiktion des Reichshofrates in Religionssachen grundsätzlich zu bestreiten, die Spitze ab. 7 Zugleich stellte er, wenn man so will, nach den Verirrungen des Dreißigjährigen Krieges die Normalität wieder her, denn bis in die Zeit Ferdinands II. hatte es evangelische Reichshofräte gegeben. 8 Damit dokumentierte Ferdinand III. nicht zuletzt auch seinen Anspruch, als Reichsoberhaupt über den Konfessionsparteien zu stehen. Andererseits war Ferdinand III. eben doch entschiedener Katholik, und er schickte sich just in den Jahren nach dem Westfälischen Frieden an, seine Erblande so weit wie möglich von Protestanten zu „säubern“. Auch auf Reichsebene war der konfessionelle Gegensatz keineswegs aus der Welt geschafft, und insofern war Ferdinand III. und seinen Nachfolgern daran gelegen, sich mit den evangelischen Reichshofräten keine „trojanischen Pferde“ ins Haus zu holen. Dementsprechend wurden die zur Auswahl stehenden Kandidaten geradezu handverlesen. Freilich wurden die Bewerber zunehmend weniger wegen ihres Glaubens beargwöhnt als wegen der Gefahr, dass ihnen an den protes5

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Ebd., S. 56-58. Spätere Bestrebungen, den Kaiser im Rahmen der Wahlkapitulation zu einem weitergehenden Entgegenkommen hinsichtlich der konfessionellen Parität zu nötigen, blieben ohne Erfolg. Vgl. auch Tit. IV, § 2, ebd., S. 158. Ebd., S. 242. Vgl. Gschließer 1970 (wie Anm. 2), S. 57f. Zwar kam es auch später immer wieder (und verstärkt seit dem zweiten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts) zu Vorstößen der Evangelischen gegen den Reichshofrat und Vorwürfen wegen angeblicher Parteilichkeit zugunsten der Katholiken. In Anspruch genommen wurde seine Jurisdiktion aber dennoch auch von protestantischer Seite. Vgl. ebd., S. 59-64; Aretin, Karl Otmar Freiherr von: Das Alte Reich 1648-1806. 4 Bde. Stuttgart 1993-2000, hier Bd. 1, S. 89f., Bd. 3, S. 74-78, 123 u.ö.; Sellert, Wolfgang: Zur Parteilichkeit und religionsparitätischen Besetzung des Reichshofrats. In: Kroppenberg, Inge/Löhnig, Martin/Schwab, Dieter (Hrsg.): Recht – Religion – Verfassung. Festschrift für Hans-Jürgen Becker zum 70. Geburtstag. Bielefeld 2009, S. 225-238. Vgl. Gschließer 1970 (wie Anm. 2), S. 74f.; für die Zeit Rudolphs II. Ehrenpreis 2006 (wie Anm. 2), bes. S. 105-124.

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tantischen Universitäten und Höfen „schädliche Lehren“ eingetrichtert worden seien. 9 Es wurden nur diesbezüglich unverdächtige Männer berufen, in den Jahren nach 1648 z.B. auffällig viele hessen-darmstädtische Räte. 10 Bei der Ernennung wurde jeder Anschein vermieden, als besäßen die evangelischen Stände ein Präsentationsrecht für den Reichshofrat. 11 So wurde 1667 das Ernennungsdekret für Christian August von Friesen, für den sich Johann Georg II. von Sachsen stark gemacht hatte, auf einige Tage vor dem kurfürstlichen Empfehlungsschreiben zurückdatiert, um den Eindruck zu vermeiden, als besitze Kursachsen ein Präsentationsrecht für den Reichshofrat. 12 Gerade ihre so verdächtige Ausbildung an den im Reichsrecht führenden protestantischen Universitäten machte insbesondere die gelehrten evangelischen Reichshofräte zugleich zu einem besonders wertvollen Element im Reichshofrat, und sie erlangten teilweise trotz ihres konfessionellen „Makels“ beachtlichen Einfluss, wie z.B. Heinrich Christian von Senckenberg, der unter Franz I. und in den ersten Jahren Josephs II. vielfach mit besonders heiklen Fällen betraut wurde. 13 Es gab keinen festen Schlüssel für die Verteilung der protestantischen Reichshofräte auf die Herren- und die Gelehrtenbank. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts war die Verteilung in der Regel zwei zu vier. 14 Auch bezüglich der Berücksichtigung von Lutheranern und der 1648 ja in den Religionsfrieden aufgenommenen Reformierten gab es keine festen Regeln, doch stellten erstere die ganz überwiegende Mehrheit der evangelischen Reichshofräte: Der erste Calvinist, Friedrich Karl von Danckelmann, der Sohn des bekannten kurbrandenburgischen Ministers, wurde erst 1695 in den Reichshofrat berufen und 1704 introduziert. Trotz der Beteuerungen Leopolds I. an Kurfürst Friedrich III., er halte die Reformierten nicht für unfähig, eine Reichshofratsstelle zu besetzen, weisen die langen Verhandlungen zwischen Wien und Berlin darauf hin, dass es eben doch Bedenken gegen einen Calvinisten im 9

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Vgl. Gschließer 1970 (wie Anm. 2), S. 482-484 zu den Beratungen über die Besetzung zweier protestantischer Reichshofratsstellen 1769; ähnlich ebd., S. 487, 492f. zu entsprechenden Überlegungen des Reichsvizekanzlers Colloredo 1772 bzw. 1778 sowie S. 503f. zu einem Vortrag des Reichshofratspräsidenten Hagen 1791. Johann Helwig Sinold gen. Schütz, Georg Theodor Dietrich, Eberhard Wolf von Todtenwarth. Vgl. Gschließer 1970 (wie Anm. 2), S. 272f., 280f., 282f. Vgl. ebd., S. 293. Vgl. ebd. Zu Senckenberg vgl. Dölemeyer, Barbara: Heinrich Christian von Senckenberg – Frankfurter Jurist und Reichshofrat (1704-1768). In: Heidenreich, Bernd (Hrsg.): Fürstenhof und Gelehrtenrepublik. Hessische Lebensläufe des 18. Jahrhunderts. Wiesbaden 1997 (= Kleine Schriftenreihe zur hessischen Landeskunde 5), S. 103-111; dies.: Frankfurter Juristen im 17. und 18. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 1993 (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 60), S. 188f. Vgl. Gschließer 1970 (wie Anm. 2), S. 75f.

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Reichshofrat gab. 15 Nach dem Tod Danckelmanns wurde seine Stelle 1739 erneut mit einem Reformierten, Graf Ludwig Ferdinand von Sayn-Wittgenstein, besetzt, dessen Tätigkeit im Reichshofrat allerdings schon ein Jahr später mit dem Tod Karls VI. endete. 16 Die Reichshofräte waren ranghohe kaiserliche Minister, und das wurde auch im Zeremoniell sichtbar. Sie waren nur den Geheimen Räten nachgeordnet, und die adligen Reichshofräte hatten wie alle anderen kaiserlichen Räte „von Cavalieren“ den Rang eines Kammerherren; nichtadlige gelehrte Reichshofräte hatten zwar keinen Rang, gingen aber allen anderen Räten vor. Die Reichshofräte von der Herrenbank besaßen den Vorrang vor den Gelehrten und Rittern; 17 innerhalb der Bänke galt das Anciennitätsprinzip. Die Konfession eines Reichshofrates hatte dagegen keine Auswirkung auf seinen aktuellen Rang, stellte allerdings, wie zu zeigen sein wird, ein gravierendes Hindernis für seine weitere Karriere dar. In einer Hinsicht freilich waren die evangelischen Reichshofräte ihren katholischen Kollegen gegenüber sogar im Vorteil: Im Gegensatz zu diesen erhielten sie stets von Anfang an eine ordentliche Reichshofratsbesoldung, 18 was ihre funktionale Bedeutung für den Kaiser unterstreicht.

Die protestantischen Reichshofräte als konfessionelle Minderheit am Wiener Hof Von 1627 bis 1781 war das protestantische Religionsexercitium in Niederösterreich verboten. Just in jenen Jahren, als die ersten protestantischen Reichs15

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Dass man Danckelmann schließlich akzeptierte, hatte auch mit „großer Politik“ zu tun: Die Geheime Konferenz empfahl dem Kaiser die Annahme des brandenburgischen Kandidaten, um nicht die Rückgabe des Schwiebuser Kreises zu gefährden. Vgl. Gschließer 1970 (wie Anm. 2), S. 350-353. Die Aufnahme Danckelmanns wurde durch ein gedrucktes Lobgedicht gefeiert: Als Der Wohlgebohrne Herr/ H. Friedrich Carl von Danckelman/ Sr. Churfl. Durchl. Zu Brandenb. Hochbestallter Hoff- und Cammer-Gerichts-Raht/ Requetten-Meister/ Ams-Hauptmann zu Rupin/ Erster Kammer-Juncker bey Seiner Chur-Printz. Durchlauchtigkeit/ wie auch Thum-Herr zu Havelberg/ etc. Von Der Römischen Käyserl. Majestät zu Dero Reichs-Hoff-Raht allergnädigst declariret wurde/ […]. Berlin/Frankfurt a.d.O. 1695. Unter Rudolph II. war allerdings schon einmal ein Calvinist, Graf Simon von der Lippe, Reichshofrat auf der Herrenbank gewesen. Vgl. Gschließer 1970 (wie Anm. 2), S. 165; ebenso ab 1651 Enno Ludwig von Ostfriesland, der sein Amt jedoch niemals ausgeübt hat. Vgl. unten, Anm. 103. 1741 übernahm Ludwig Ferdinand die Regierung der väterlichen Grafschaft. Vgl. Gschließer 1970 (wie Anm. 2), S. 415f. Vgl. Lünig, Johann Christian: Theatrum ceremoniale historico-politicum, oder historischpolitischer Schau-Platz aller Ceremonien […]. Bd. 2. Leipzig 1720, S. 1497. Vgl. Gschließer 1970 (wie Anm. 2), S. 85.

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hofräte Ferdinands III. ihre Arbeit aufnahmen, gingen, ab 1652, die sogenannten Reformationskommissionen daran, das gegenreformatorische Werk in den österreichischen Erblanden zum Abschluss zu bringen. 19 Das Ziel einer konfessionell homogenen Untertanenschaft wurde nun nach den innerösterreichischen Ländern, Böhmen und Mähren auch für Österreich ob und unter der Enns weitgehend erreicht. 20 Anders als in Schlesien und Ungarn, wo große Teile der Bevölkerung evangelisch blieben, behauptete sich der neue Glaube hier nur noch in Form des Geheimprotestantismus im Untergrund bzw. in einigen landständischen Adelsfamilien, die freilich nur das Privatexercitium besaßen. Zudem unterlagen diese Familien einem erheblichen Emigrations- bzw. Konversionsdruck, so dass es bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts in Niederösterreich keinen einheimischen evangelischen Adel mehr gab. 21 Mal mehr, mal weniger und mit unterschiedlichen regionalen 19

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Zur Entwicklung und zur Situation des Wiener Protestantismus bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts vgl. Mayr, Josef Karl: Wiener Protestantengeschichte im 16. und 17. Jahrhundert. In: Jahrbuch der Gesellschaft für die Geschichte des Protestantismus in Österreich 70 (1954), S. 41-133; Reingrabner, Gustav: Zur Entwicklung des niederösterreichischen Luthertums im 17. Jahrhundert. In: Jahrbuch für die Geschichte des Protestantismus in Österreich 119 (2003), S. 9-92; zur Lage im späten 17. und im 18. Jahrhundert knapp zusammenfassend ders.: Um Glaube und Freiheit. Eine kleine Rechtsgeschichte der Evangelischen in Österreich und ihrer Kirche. Frankfurt a.M. u.a. 2007 (= Schriften zum Staatskirchenrecht 35), S. 76-78. Zu den Reformationskommissionen, deren Tätigkeit bis weit in die Zeit Leopolds I. andauerte, vgl. Scheutz, Martin: Eine fast vollständige Tilgung des Protestantismus und ein handfester Neubeginn. (Geheim-)Protestantismus in Niederösterreich im 17. und 18. Jahrhundert. In: Leeb/Scheutz/Weikl 2009 (wie Anm. 1), S. 185-207, hier S. 189-195 (mit Literaturhinweisen); Scheutz 2009 (wie Anm. 1), S. 210-213; Reingrabner 2003 (wie Anm. 19), S. 60-65. Bereits 1624 in Ober- und 1627 in Niederösterreich wurden die protestantischen Prädikanten und Schulmeister vertrieben (vgl. ebd., S. 210). Vgl. im Besonderen zu Wien Stögmann, Arthur: Staat, Kirche und Bürgerschaft. Die katholische Konfessionalisierung und die Wiener Protestanten zwischen Widerstand und Anpassung (1580-1660). In: Leeb, Rudolf/Pils, Susanne Claudine/Winkelbauer, Thomas (Hrsg.): Staatsmacht und Seelenheil. Gegenreformation und Geheimprotestantismus in der Habsburgermonarchie. Wien/München 2007 (= Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 47), S. 273-288; Reingrabner, Gustav: Besonderheiten von Reformation und katholischer Konfessionalisierung im Land unter der Enns. Ebd., S. 386-395; Reingrabner 2003 (wie Anm. 19), S. 51-54. Das Privatexercitium war das Äußerste, was der evangelische niederösterreichische Adel auf Vermittlung Schwedens und der protestantischen Reichsstände im Westfälischen Frieden zu erlangen vermochte. Den landständischen Adeligen wurde ferner gestattet, im Fall der Auswanderung ihre Güter zu veräußern. Wollten sie dies nicht, war ihnen freier Zugang zu den Gütern zu gewähren, um die erforderliche Kontrolle wahrzunehmen. (IPO, Art. V, § 39). Einer Ausdehnung der Normaljahrsregelung auf seine Erblande hatte Ferdinand III. bekanntlich energischen Widerstand entgegengesetzt. Zwar sollte dieser Gegenstand gemäß IPO, Art. V, § 41 auf dem nächsten Reichstag verhandelt werden; dies unterblieb jedoch, wie bei zahlreichen anderen negotia remissa. Vgl. Scheutz 2009 (wie Anm.

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Schwerpunkten dauerten die antiprotestantischen Maßnahmen bis in die Zeit der josephinischen Toleranzgesetzgebung an. 22 Nicht zuletzt der kaiserlichen Haupt- und Residenzstadt galten die Bemühungen, die „Häresien“ mit Stumpf und Stiel auszurotten. Außer den Funktionseliten am Hof – neben den Reichshofräten insbesondere Militärs, Wirtschaftsfachleute, aber auch Künstler, wie der Kammermaler Martin van Meytens 23 – und den auswärtigen Gesandtschaften waren Großhändler, die sogenannten Niederleger, die einzigen Protestanten, die noch in Wien geduldet wurden. Eine merkantilistische Wirtschaftpolitik führte erst im 18. Jahrhundert zu einer großzügigeren Privilegierungspraxis. Um die Ansiedlung neuer Manufakturen zu befördern, war man nun teilweise sogar bereit, evangelische Facharbeiter zu dulden. Eine bedeutende Rolle spielten die Protestanten auch im Buchhandel. 24 Selbst den geduldeten Protestanten aber war der Gottesdienst in Wien grundsätzlich untersagt, und das galt auch für evangelische Reichshofräte, für die Ferdinand III. in dieser Hinsicht keine Ausnahme zu machen bereit war. 25 Ihnen blieb zum Gottesdienstbesuch zunächst nur der Weg über die ungarische Grenze, nach Pressburg oder Ödenburg, 26 was ih-

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20), S. 198-202. Selbst in Ungarn gab es in den 1650er Jahren nur noch vier evangelische Magnatenfamilien. Vgl. Deventer, Jörg: „Zu Rom übergehen“. Konversion als Entscheidungshandlung und Handlungsstrategie. In: Leeb/Pils/Winkelbauer 2007 (wie Anm. 20), S. 168-180, hier S. 173. Insofern konnte der evangelische Adel auf die Dauer kaum noch, wie noch um die Mitte des 17. Jahrhunderts, der übrigen protestantischen Bevölkerung als Rückhalt dienen. Vgl. Reingrabner 2007 (wie Anm. 20), S. 392f.; Reingrabner 2003 (wie Anm. 19), S. 34-39. Vgl. allgemein zur Situation des Protestantismus in den habsburgischen Territorien Leeb/Pils/Winkelbauer (wie Anm. 20) und Leeb/Scheutz/Weikl (wie Anm. 1). Vgl. Scheutz 2009 (wie Anm. 1), S. 214-216. Meytens wurde sogar Direktor der Akademie der Maler-, Bildhauer- und Baukunst. Vgl. ebd., S. 216-220. Vgl. Gschließer 1970 (wie Anm. 2), S. 58. Dem Verlangen des hessen-darmstädtischen Kanzlers Justus Sinold gen. Schütz, seinem für den Reichshofrat vorgesehenen Sohn Johann Helwig zuzusichern, dass er und die Seinen keine Bedrückungen wegen der Religion erdulden müssten, entsprach Ferdinand III. nur insoweit, als er zusicherte, Schütz-Sinold dürfe so oft, wie er wolle, zum evangelischen Gottesdienst nach Pressburg reisen. Vgl. ebd., S. 272. Zu den protestantischen Gemeinden in Pressburg und Ödenburg zusammenfassend Csepregi, Zoltán: Das königliche Ungarn im Jahrhundert vor der Toleranz (1681-1781). In: Leeb/Scheutz/Weikl 2009 (wie Anm. 1), S. 299-330, hier S. 318f. In Ödenburg, wo 1667 ein evangelisches Konsistorium (wieder-)gegründet wurde, blieb dank eines Vertrags mit dem königlichen Fiskus (1674) anders als im übrigen Ungarn trotz etlicher Einschränkungen auch in den 1670er Jahren die protestantische Religionsausübung gestattet. Heimler, Heinrich: Ödenburg. In: ders./Spiegel-Schmidt, Friedrich: Deutsches Luthertum in Ungarn. Düsseldorf 1955, S. 5-50, hier S. 29f. führt dies neben der Fürsprache der Gesandtschaften Kurbrandenburgs, Kursachsens, Dänemarks und der Niederlande vor allem auf den Einfluss der Fürstinwitwe Anna Maria von Eggenberg, einer geborenen Prinzessin von Brandenburg-Kulmbach, zurück, die in Ödenburg wohnte.

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nen ausdrücklich vom Kaiser zugestanden wurde. 27 Zugleich waren sie für die evangelischen Gemeinden in den westungarischen Städten ein wichtiger Rückhalt und wurden, so noch Zedlers Universal-Lexicon, „auf gewisse Art Kirchen-Patrone“ der Ödenburger Gemeinde. 28 Deren Verbundenheit mit den protestantischen Reichshofräten fand beispielsweise ihren Ausdruck, als der ehemalige Reichshofrat Graf Friedrich Ernst von Solms-Laubach um 1703 die Gemeinde der westungarischen Stadt um eine Spende für den Bau des Laubacher Kirchenschiffs bat und immerhin 50 Gulden erhielt. 29 Auch die Verbindungen der Reichshofräte nach Pressburg sind gut nachvollziehbar, wie etwa wenn der dortige lutherische Pfarrer David Titius die Leichenrede für den Sohn des Reichshofrats Gottlieb Amadeus von Windischgrätz hielt. 30 Gerade in den ersten Jahrzehnten nach 1648 waren die Freiräume für die evangelische Religionsausübung gering, und auch protestantische Reichshofräte konnten leicht wegen konfessioneller Fragen mit ihrem kaiserlichen Dienstherrn in Konflikte geraten. So rügte Leopold I. im Dezember 1660 den Aufenthalt von Protestanten in der Herrschaft Trauttmansdorff, die dem von ihm persönlich durchaus geschätzten Gottlieb Amadeus von Windischgrätz gehörte. 31 27

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Vgl. Gschließer 1970 (wie Anm. 2), S. 272 (bezogen auf Johann Helwig Sinold-Schütz). Damit wurde den Reichshofräten genau das zugestanden, was den nicht privilegierten protestantischen Untertanen unter der Bezeichnung „Auslaufen“ verweigert wurde, um ihnen auf diese Weise das Praktizieren ihres Glaubens vollends unmöglich zu machen. Vgl. Stögmann 2007 (wie Anm. 20), S. 277; Reingrabner 2007 (wie Anm. 20), S. 393; Stubbe, Christian: Die Dänische Gesandtschaftsgemeinde in Wien und ihre letzten Prediger. Ein Stück Diaspora. In: Beiträge und Mitteilungen des Vereins für Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte 9 (1932), S. 257-312, hier S. 273; Scheutz 2009 (wie Anm. 1), S. 231. Zedler, Johann Heinrich: Großes vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste. Bd. 25. Leipzig 1732, Sp. 536f. (Zitat Sp. 537). Ebenso gibt es Anzeichen der Verbundenheit zwischen den Protestanten im Reich und Friedrich Ernst von Solms-Laubach, wie etwa eine Kollekte der Hamburger Gemeinden zugunsten der Errichtung des Laubacher Kirchenschiffs. Solms-Laubach war während seiner Zeit als Reichshofrat (1693-1697) von keinem geringeren als Philipp Jakob Spener als Fürsprecher für die Hamburger Pietisten gewonnen worden. Vgl. Mack, Rüdiger: Christlich-toleranter Absolutismus. Veit Ludwig von Seckendorff und sein Schüler Graf Friedrich Ernst zu Solms-Laubach. In: Mitteilungen des Oberhessischen Geschichtsvereins Giessen NF 82 (1997), S. 3-135, hier S. 54-58. Vgl. Titius, David: Unterthäniges Trostschreiben an den Grafen Gottlieb v. Windischgrätz und dessen Gemahlin Maria Eleonora geb. Gräfin von Öttingen. Pressburg 1670; Schmidt, Carl Eugen: Beiträge zur Geschichte der evangelischen Kirchengemeinde A.B. zu Preßburg. O.O. 1900, S. 80. Diese wurden vor die niederösterreichische Regierung nach Wien zitiert. 1661/62 führte der (katholische) Pfarrer von Trauttmansdorff, Johann Lang, mehrfach Klage über die Protestanten. Am 10. August resümierte er, dass ihnen mit freundlichen Worten und Drohungen nicht beizukommen sei; man müsse daher zu Inhaftierungen schreiten. Vgl. Wiedemann, Theodor: Geschichte der Reformation und Gegenreformation im Lande unter

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Die Möglichkeiten für die protestantischen Reichshofräte, ihren Glauben zu praktizieren, wurden in dieser Zeit nicht nur von diesen selbst als defizitär empfunden. Auch ein Konzept der evangelischen Reichsstände für eine Überarbeitung der Reichshofratsordnung aus den 1660er Jahren sah vor, dass die Reichshofräte „das exercitium der religion an unserem kayserl. Hof […] haben“ sollten. 32 Die Lage besserte sich mit der Einrichtung ständiger protestantischer Gesandtschaften in der Kaiserstadt, allerdings nicht ohne Reibereien und Rückschläge. 1665 veranlassten der päpstliche Nuntius und der kaiserliche Beichtvater Miller ein Vorgehen Leopolds I. gegen die Gottesdienste in der damals am Krautmarkt befindlichen dänischen Gesandtschaftskapelle. Bei dieser Gelegenheit bekundete der Kaiser seine Entschlossenheit, kein Fortschreiten des Protestantismus in seinen Erblanden zu dulden. 1675 wurde den protestantischen Reichshofräten und Reichshofratsagenten erneut Ödenburg zur Religionsausübung zugewiesen. Später duldete Leopold die Gottesdienste in den Gesandtschaftskapellen zwar, verbot aber noch 1683 „Unbefugten“ und sogar den Mitgliedern der niederösterreichischen Stände den Gottesdienstbesuch. 33 Noch 1736 beschwerte sich der Wiener Erzbischof Sigmund Graf Kollonitsch bei Karl VI. über das Anwachsen des Protestantismus in Wien und in diesem Zusammenhang auch über den „unbefugten“ Besuch der Gesandtschaftsgottesdienste. Die Geheime Konferenz hielt die Gravamina Kollonitschs zwar grundsätzlich für begründet, sah sich aber zum Verzicht auf Zwangsmaßnahmen, wie Zugangsbeschränkungen zu den Kapellen, genötigt, um keine Gegenrepressalien gegen Katholiken in protestantischen Ländern zu provozieren. 34

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der Enns. Bd. 5: Die Gegenreformation von dem Westphälischen Friedensschlusse bis zum Josephinischen Toleranzedict. Prag/Leipzig 1886, S. 126-130; Scheutz 2009 (wie Anm. 20), S. 196. Sellert 1990 (wie Anm. 4), S. 60, Anm. w. Vgl. Scheutz 2009 (wie Anm. 1), S. 227f.; Stubbe 1932 (wie Anm. 27), S. 273. Quelle: Levinson, Artur: Nuntiaturberichte vom Kaiserhof Leopolds I. (1657 Februar bis 1669 Dezember). In: Archiv für Österreichische Geschichte 103 (1913), S. 547-841, hier S. 587589, 792f., 800f., 807f. Vgl. Scheutz 2009 (wie Anm. 1), S. 228f.; Otto, Karl Ritter von: Evangelischer Gottesdienst in Wien vor der Toleranzzeit. In: Jahrbuch der Gesellschaft für die Geschichte des Protestantismus in Österreich 7 (1886), S. 120-131, hier S. 123. Der dänische Gesandte Bachoff räumte jedoch in seiner Antwort an Moser (vgl. unten, Anm. 58) ein, es sei zwar in Residenzstädten üblich, die bestehenden Gesetze nicht allzu streng in Anwendung zu bringen, „doch komt es auf dem Gutbefinden der Regierung und der Policey an, solche, wann sie wollen, gelten zu machen. Dahero dann öffters Leute, die ganze Jahre ungehindert die Gesandtschaffts Capelle besucht haben, unvermuthet beym Ein oder Ausgehen angehalten und zur gefänglichen Hafft gezogen werden“ (zit. nach Stubbe 1932 [wie Anm. 27], S. 262).

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In den Jahren vor dem Toleranzedikt Josephs II. von 1781 unterhielten die schwedische und die dänische Gesandtschaft in ihren Quartieren lutherische Kapellen, während in der niederländischen Vertretung reformierter Gottesdienst gefeiert wurde. 35 1761 gab es nach zeitgenössischen Schätzungen etwa 2.000 Protestanten in Wien, von denen allerdings nicht alle die Gesandtschaftskapellen besuchten. 36 Am bedeutendsten war um diese Zeit die dänische Gesandtschaftsgemeinde, der etwa 800 Personen zuzurechnen sind. Die dänische Gesandtschaft residierte 1761 im „Gräflich Gundolaischen“ Haus in der Nähe der Schottenkirche. Dort war ein großer, mit Orgel ausgestatteter Saal für den Gottesdienst reserviert, der sonn- und feiertags sowie mittwochs gehalten wurde. 37 Allerdings verschlechterten sich die räumlichen Gegebenheiten durch den Umzug des Gesandten in ein Haus des Grafen Kinsky, wo die für die Kapelle vorgesehenen Zimmer deutlich kleiner waren. 38 Noch schlechter ausgestattet war die wohl in der Wohnung des Gesandten am Petersplatz befindliche schwedische Gesandtschaftskapelle, die beispielsweise über keine Orgel verfügte und auch weniger Gläubige anzog. 39 Da die meisten protestantischen Reichshofräte Lutheraner waren, war die auf der Wieden

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Für 1683 ist auch protestantischer Gottesdienst in der kurbrandenburgischen Gesandtschaft bezeugt. Vgl. Scheutz 2009 (wie Anm. 1), S. 228. Der dänische Gesandtschaftsprediger Chemnitz erwähnt um 1760 die Aufhebung der preußischen, britischen, hannoverschen und hessen-kasselschen Gesandtschaft infolge des Siebenjährigen Krieges. Ob diese über öffentlich zugängliche Kapellen verfügten, wird aber nicht mitgeteilt. Vgl. Stubbe 1932 (wie Anm. 27), S. 270. Vgl. Reingrabner, Gustav: Gemeindeordnungen der Evangelischen Pfarrgemeinde A.B. Wien seit dem Toleranzpatent. In: Barton, Peter F. (Hrsg.): Im Zeichen der Toleranz. Aufsätze zur Toleranzgesetzgebung des 18. Jahrhunderts in den Reichen Joseph II., ihren Voraussetzungen und ihren Folgen. Wien 1981 (= Studien und Texte zur Kirchengeschichte und Geschichte, Reihe 2, 8), S. 367-404, hier S. 369; Otto 1886 (wie Anm. 34), S. 120; Stubbe 1932 (wie Anm. 27), S. 269 geht unter Berufung auf die Angaben des Gesandtschaftspredigers Chemnitz (wie Anm. 37) von einem Rückgang der Protestanten im 18. Jahrhundert aus. So habe es zur Zeit Karls VI. noch 8000 Protestanten in Wien gegeben. Vgl. auch Scheutz 2009 (wie Anm. 1), S. 220. Vgl. ebd., S. 220-222. Über die dänische Gesandtschaftskapelle sind wir auch dank der Publikationen des Predigers Johann Hieronymus Chemnitz am besten unterrichtet, vor allem aus Chemnitz, Johann Hieronymus: Vollständige Nachrichten von dem Zustande der Evangelischen und insonderheit von ihrem Gottesdienste bey der Königlich Dänischen Gesandtschafts Capelle in der Kayserlichen Haupt und Residenzstadt Wien. O.O. 1761, hier S. 9, 14. Zu dieser vgl. auch Otto 1886 (wie Anm. 34). Der Gesandte Bachoff entschied sich aufgrund privater finanzieller Verluste im Tabakund Holzhandel für den Umzug. Vgl. Stubbe 1932 (wie Anm. 27), S. 278f., 294. Vgl. Scheutz 2009 (wie Anm. 1), S. 224f. sowie Blume, Heinrich: Die schwedische Gesandtschaftskapelle in Wien im Jahre 1782. In: Jahrbuch der Gesellschaft für die Geschichte des Protestantismus in Österreich 51 (1930), S. 142f., der die schwedische Gesandtschaftskapelle aufgrund von Indizien im Haus Petersplatz 7 (= Tuchlauben 4) lokalisiert.

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gelegene niederländische Gesandtschaftskapelle, deren Anfänge bis in die 1760er Jahre zurückgehen, für sie von eher geringer Bedeutung. 40 Um 1761 gehörten alle evangelischen gelehrten Reichshofräte sowie ein Teil der Reichshofratsagenten der dänischen Gesandtschaftsgemeinde an. 41 Die dänischen, schwedischen und niederländischen Prediger spendeten die Sakramente, schlossen Ehen und nahmen Beisetzungen vor. 42 Außer den Gesandtschaftsangehörigen waren die Reichshofräte und die ihrem Schutz unterstellten Personen die einzigen, die ihre Kinder in den Gesandtschaftskapellen taufen lassen durften. Analoge Bestimmungen galten für Trauungen. 43 Reichshofräte und Reichshofratsagenten sind auch als Taufpaten in der schwedischen Gemeinde nachweisbar. 44 Für ausgesprochene protestantische Eiferer war am Wiener Hof kein Platz. 45 Offenbar war die protestantische Minderheit bestrebt, im katholischen Milieu nicht unangenehm aufzufallen. So wurden wichtige katholische Feste wie Fronleichnam und die Marienfeste zwar nicht als solche gefeiert, aber als Bußtage begangen und waren damit auch für die Evangelischen kein Arbeits- und Alltag. 46 Aus dem durch den dänischen Legationsrat Franckenau 40

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Der erste nachweisbare Prediger ist Philipp Otto Vietor (1671-1673). Genutzt wurde die niederländische Gesandtschaftskapelle unter anderem von aus der Schweiz eingewanderten Manufakturbesitzern, aber auch von Briten. Vgl. Scheutz 2009 (wie Anm. 1), S. 225f. Anfang der 1780er Jahre bildeten etwa 100 Personen den Kern der Kapellengemeinde. Vgl. Chemnitz 1761 (wie Anm. 37), S. 10; Stubbe 1932 (wie Anm. 27), S. 270; Otto 1886 (wie Anm. 34), S. 121. Vgl. Scheutz 2009 (wie Anm. 1), S. 220-222. Vgl. Chemnitz 1761 (wie Anm. 37), S. 27f. Vgl. Otto 1886 (wie Anm. 34), S. 127. In der dänischen Gesandtschaftskapelle wurde etwa der einzige Sohn des Reichshofrats Johann Sigmund Karl von Thüngen getauft. Vgl. Thüngen, Rudolf von: Von Thüngen, Freiherr, Johann Sigmund Karl, Reichskammergerichtspräsident in Wetzlar 1730-1800. In: Veröffentlichungen der Gesellschaft für Fränkische Geschichte 3 (1927), S. 475-489, hier S. 481. Vgl. Lebeau, Christine: La conversion de Karl von Zinzendorf. Affaire d’état ou affaire de famille? In: Revue de synthèse 114 (1993), S. 473-495, hier S. 481; Stubbe 1932 (wie Anm. 27), S. 270. Noch 1760 wurde die Bewerbung des isenburgischen Rates Burry um eine evangelische Reichshofratsstelle unter anderem deswegen abgelehnt, weil er als „besonderer Religionseiferer“ galt. Vgl. Gschließer 1970 (wie Anm. 2), S. 462. So konnte es vorkommen, dass in der schwedischen Gesandtschaftskapelle am Fest Mariä Verkündigung nebst den entsprechenden Gesängen („Herzliebster Jesu, was hast Du verbrochen?“) auch eine Predigt gehalten wurde, die der Fastenzeit, nicht aber dem Festtag entsprach. Vgl. Zinzendorf, Karl Graf von: Aus den Jugendtagebüchern 1747, 1752 bis 1763. Nach Vorarbeiten von Wagner, Hans hrsg. von Breunlich, Maria und Mader, Marieluise. Wien/Köln/Weimar 1997 (= Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs 84), S. 272 (25. März 1762). Chemnitz 1761 (wie Anm. 37), S. 19f. berichtet, dass von der dänischen Gesandtschaftsgemeinde die Heiligenfeste (wodurch der „Müßiggang vieler Leute treflich befördert“ werde) „fast alle bey der Dänischen Capelle, zwar nicht den Heiligen doch dem allerheiligsten Gott zu Ehren und Erbauung vieler Seelen mitgefeyert“ würden. Auch der Gemeindeordnungsentwurf von Grävenitz’ aus dem

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und den Gesandtschaftsprediger Möllenhof erarbeiteten Gesangbuch für die dänische Gesandtschaftsgemeinde wurden für katholische Ohren allzu anstößige Passagen getilgt. So wurde bei dem Luther-Lied „Erhalt uns Herr bei Deinem Wort“ die zweite Zeile „Und steur des Papsts und Türken Mord“ abgeändert. 47 Insgesamt besaßen in den Jahrzehnten vor den Toleranzedikten die Wiener Protestanten durchaus die Möglichkeit ihre Religion auszuüben, sahen sich jedoch nach wie vor erheblichen Restriktionen ausgesetzt, 48 was einerseits dem Übertritt zum herrschenden Katholizismus Vorschub leistete, aber auch Solidarisierungseffekte zeitigen konnte. Die Reichshofräte nahmen nicht nur aufgrund ihres gesellschaftlichen Rangs und ihrer Stellung am Hof eine Führungsposition unter den Wiener Protestanten ein. Für die isolierte Gemeinde waren sie aufgrund ihrer Verbindungen eine wichtige Brücke ins Reich. Denn sie unterhielten nicht nur Beziehungen in ihre Herkunftsländer, sondern waren qua Amt sozusagen natürliche Ansprechpartner für Protestanten aus dem Reich. So fällt auf, dass unter den Kontaktpersonen, die der sachsen-weimarische Kanzlist Johann Sebastian Müller in seinem Wienbericht aus dem Jahr 1660 erwähnt, alle damaligen evangelischen Reichshofräte erscheinen. 49 Ebenso dienten die evangelischen Reichshofräte verfolgten Protestanten aus den Habsburger Ländern als Ansprechpartner und Fürsprecher. 50 Vor allem aber setzten sich die Reichshofräte immer wieder für Belange der Wiener Protestanten ein, so 1769 Friedrich Karl von Moser, als er, wenn-

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Jahr 1783 sieht Fronleichnam, Mariä Himmelfahrt (15. August), Mariä Geburt (8. September) und Mariä Empfängnis (8. Dezember) als Bußtage vor, ferner den Leopoldstag (15. November) als Reformationsfest und Allerheiligen (1. November) als Toleranzfest. Vgl. Reingrabner 1981 (wie Anm. 36), S. 381. Vgl. Chemnitz 1761 (wie Anm. 37), S. 21. Der dänische Gesandtschaftsprediger Chemnitz lobt einerseits die Freiheiten, welche die Evangelischen in Wien besäßen, weist aber zugleich auf die Einschränkungen hin und darauf, dass sich die Katholiken in Kopenhagen einer „noch weit grösseren Freyheit und Sicherheit“ erfreuten (Chemnitz 1761 [wie Anm. 37], S. 21). Rudolf von Sinzendorf, Georg Theodor Dietrich, Eberhard Wolf von Todtenwarth, Gottlieb Amadeus von Windischgrätz, Helwig Sinold gen. Schütz und Johann Christoph von Schmidtburg. Vgl. Keller, Katrin/Scheutz, Martin/Tersch, Harald (Hrsg.): Einmal Weimar – Wien und retour. Johann Sebastian Müller und sein Wienbericht aus dem Jahr 1660. Wien/München 2005 (= Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 42), S. 40, 87 (Sinzendorf), 62, 77 (Dietrich), 79, 91 (Todtenwarth), 83 (Windischgrätz), 89 (Sinold-Schütz, Schmidtburg; Gastmahl bei Windischgrätz u.a. mit evangelischen Reichshofräten), 93 (Schmidtburg), 127 (Abschied von Todtenwarth, SinoldSchütz, Dietrich, Windischgrätz). So reichte 1773 der Reichshofrat Friedrich Christian von Gärtner zusammen mit dem dänischen Gesandtschaftsprediger Burchardi eine Bittschrift zugunsten zweier aus dem Judenburger Konversionshaus entflohener Männer ein – allerdings vergeblich: Die Flüchtlinge wurden nach ihrer Verhaftung nach Ungarn bzw. Siebenbürgen zwangsumgesiedelt.

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gleich vergeblich, in Kopenhagen gegen die erwähnte Verkleinerung der dänischen Gesandtschaftskapelle protestierte. 51 Auch in der Armensorge engagierten sich Reichshofräte. Als 1741 der dänische Gesandtschaftsprediger Korthold abberufen wurde, nannte er in den Aufzeichnungen für seinen Nachfolger unter den Adressaten, an die dieser seine Fürsprache für bedürftige und kranke Protestanten richten könne, an erster Stelle den Reichshofrat Johann Ludwig von Werner. 52 Der Reichshofrat Berger hinterließ der dänischen und schwedischen Gemeinde ein Stiftungskapital von 1.000 fl. für die Armensorge. 53 Johann Paul von Vockel vermachte der Schule bei der dänischen Gesandtschaftsgemeinde 700 fl. 54 Als die Wiener Protestanten daran gingen, sich nach dem Toleranzpatent Josephs II. von 1781 eine Gemeindestruktur zu geben, war der Reichshofrat Friedrich von Grävenitz der erste „Dirigent“ des Vorsteherkollegiums der Wiener Gemeinde A.C. (1783). 55 Manche Zeitgenossen beurteilten die Rolle der Reichshofräte bei den Bemühungen um eine Gemeindegründung gleichwohl kritisch und sahen in ihnen Bedenkenträger. 56 Schon 1768 würdigte der scheidende dänische Gesandt-

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Vgl. Stubbe 1932 (wie Anm. 27), S. 278f. Vgl. ebd., S. 290. Vgl. Chemnitz 1761 (wie Anm. 37), S. 30f.; Otto 1886 (wie Anm. 34), S. 129. Vgl. Stubbe 1932 (wie Anm. 27), S. 306. Zunächst wurden die evangelischen Kaufleute aktiv, forderten aber dann die Reichshofräte und Reichshofratsagenten auf, aus ihrem Kreis Männer zu benennen, die mit ihren eigenen Vertretern beraten sollten. Unter Leitung des Reichshofrats Friedrich von Grävenitz traten dann auch Delegierte dieser beiden Gruppen zusammen, und dem am 3. März 1783 gewählten ersten Vorsteherkollegium der Wiener Gemeinde A.C. gehörte neben einem „ex gremio honoratiorum“, zwei Niederlegern, zwei Großhändlern und einem Buchhändler auch ein Reichshofrat – Grävenitz – an. Grävenitz war auch der erste „Dirigent“ des Vorsteherkollegiums, lieferte einen Entwurf für eine Wiener Gemeindeordnung und unterzeichnete als erster eine Bitte des engeren Ausschusses der Wiener Augsburger Konfessionsverwandten an den König von Dänemark um finanzielle Unterstützung bei der Errichtung einer evangelischen Kirchengemeinde. Auch an die Reichsstände wurde diese Bitte gerichtet, und man geht wohl nicht fehl in der Annahme, dass die guten Verbindungen der evangelischen Reichshofräte das Spendenaufkommen aus dem Reich, und zwar sogar seitens katholischer Reichsstände, positiv beeinflussten: Wieder war es Graf Grävenitz, der dieses Anliegen als Gemeindevorsteher den reichsständischen Vertretern in Wien unterbreitete. Allerdings stellte Grävenitz im selben Jahr sein Amt zur Verfügung. Dies kann auch damit zusammenhängen, dass Grävenitz’ Position im Reichshofrat zu diesem Zeitpunkt schon schwer erschüttert war. Vgl. Reingrabner 1981 (wie Anm. 36), S. 369-384; Scheutz 2009 (wie Anm. 1), S. 223; Stubbe 1932 (wie Anm. 27), S. 303f.; Völker, Karl: Die Anfänge des evangelischen Schulwesens in Wien vor und nach dem Toleranzpatent. In: Jahrbuch der Gesellschaft für die Geschichte des Protestantismus im ehemaligen und im neuen Österreich 55 (1934), S. 113-132, hier S. 116. „Die 6 protestantischen Reichshofräthe und andre Vornehme helfen gar nicht dazu und sind die ersten, welche die Zweifel rege machen: Wer weis, wie lange der Kaiser lebt? Wie der Nachfolger denkt? Ob man uns läßt, was man uns jetzt gibt?“ (Sander, Heinrich: Be-

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schaftsprediger Chemnitz die evangelischen Reichshofräte zwar als „Stütze des Evangelischen Wesens“, mahnte sie aber zugleich, „durch öftere und fleißigere Besuchung des Gottesdienstes künftighin eine größere Achtung, wie bisher, gegen die Evangelische Religion, zu der Sie sich doch bekennen, und deren Gerechtsame Sie zu vertheidigen übernommen und eydlich beschworen haben, an den Tag zu legen.“ 57 Es entbehrt nicht der Pikanterie, dass die evangelischen Reichshofräte als kaiserliche Minister ausländische Gottesdienste im exterritorialen Raum von Gesandtschaften besuchten, deren Dienstherren nicht notwendigerweise immer in einem guten Verhältnis zum Wiener Hof standen. 58 Zwar wurde in der dänischen Gesandtschaftskapelle an hohen Feiertagen und bei besonderen Gelegenheiten für den Kaiser, seine Familie und das ganze Erzhaus gebetet; des Königs von Dänemark wurde aber in jedem Gottesdienst gedacht. 59 Auch wenn die Prädikanten sich im Allgemeinen vor scharfer antikatholischer

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schreibung seiner Reisen durch Frankreich, die Niederlande, Holland, Deutschland und Italien. Teil 2. Leipzig 1784, S. 523). Chemnitz, Johann Hieronymus: Abschiedsrede welche in der Königlich Dänischen Gesandtschafts Capelle zu Wien am dritten Pfingstfeiertage den 24sten May 1768. gehalten worden. Regensburg [1768], Vorrede S. 27. Es liegt nahe, die Kritik, die Chemnitz schon vorher an den vornehmen Gemeindemitgliedern geübt hatte, nicht zuletzt auch auf die Reichshofräte zu beziehen, wie „die grosse Verachtung GOTTES, seines Wortes, seiner Sabbathe und Gnadenmittel“, „Leichtsinnigkeit, Freygeisterey und Ruchlosigkeit“, „Eitelkeit und Ueppigkeit“ und namentlich die Teilnahme an den „jenen Bacchanalien und Saturnalien der Heiden so völlig gleichen Faschingsgreuel[n]“ (ebd., S. 10-12). Die exterritoriale Stellung der Gesandtschaftskapelle und die Unterstellung des Gesandtschaftspredigers unter den Gesandten bzw. den entsendenden Monarchen betonte auch der dänische Gesandte Graf Bachoff in seiner Antwort auf eine Anfrage Friedrich Karl von Mosers vom 30. Juni 1764 bezüglich der Stellung der Gesandtschaftsgemeinden, wiedergegeben in Stubbe 1932 (wie Anm. 27), S. 259-267, z.B. Punkte 12, 16 und 24 (S. 260262). Vgl. Chemnitz 1761 (wie Anm. 37), S. 20f. Otto 1886 (wie Anm. 34), S. 125. So betete der dänische Gesandtschaftsprediger Johann Hieronymus Chemnitz anlässlich der Einweihung eines neuen Altars in der Gesandtschaftskapelle: „Thue überschwänglich wohl beyderseits Kayserlichen Majestäten für allen Schutz, welchen sie denen evangelischen Unterthanen an diesem Orte wiederfahren lassen. Laß alle Segenswünsche, die bey diesem Altare werden ausgesprochen werden, auf Dero geheiligte Personen, auf Dero ganzes Kayserliche, Königliche und Erzherzögliche Hauß, auf alle Dero Königreiche und Länder, und auf alle Dero Unterthanen kommen“ (Chemnitz, Johann Hieronymus: Einweihungsreden, Welche bey der feyerlichen Einweihung eines Altars, bey der Confirmation einiger Kinder und bey ihren ersten Abendmahlgehen in der Königl. Dänischen Gesandtschaftskapelle zu Wien bey sehr zahlreicher Versammlung der Evangelischen am VIten, Xden und XIIten Sonntage nach dem Feste der Heiligen Dreyeinigkeit 1758. Gehalten worden. Leipzig [1758], S. 8). Deutlicher als bei anderen Gelegenheiten wird hier der Schutz für die evangelische Gemeinde als Argument oder gar „Bedingung“ für das Fürbittgebet genannt.

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Polemik hüteten, 60 äußerten sie immer wieder Kritik am Katholizismus und an der Bedrückung der Protestanten in den habsburgischen Territorien. 61 Noch 1778 wurde der dänische Gesandtschaftsprediger Burchardi auf Betreiben des Staatskanzlers Kaunitz abberufen, weil man ihm Hass gegen die katholische Religion zur Last legte. 62 Es waren unter anderem die Reichshofräte Graf Grävenitz, Karl Adolf von Braun und Karl Friedrich von Gärtner, die sich für Burchardi einsetzten und ihm ein positives Leumundszeugnis ausstellten, freilich vergeblich. 63 Begräbnisort für Protestanten war der Friedhof der in der Alservorstadt gelegenen Schwarzspanierkirche, einer Neugründung Ferdinands II. (1633) im Gedenken an die Schlacht von Lützen (1632), die er mit Benediktinern Unser Lieben Frau von Montserrat besetzte, nachdem der Friedhof zuvor dem evangelischen Gottesdienst vorbehalten gewesen war. Für jedes Leichenbegängnis war dem Kloster eine Gebühr zu entrichten. 64 Zwar kam es noch im 18. Jahrhundert zu Störungen von Beisetzungen einfacher Protestanten durch den katholischen Pöbel. 65 Vornehme Evangelische, wie eben Reichshofräte, wurden aber mit allen Ehren zu Grabe getragen: Wenn die 60

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So berichtete 1772 der dänische Gesandte Graf Bachoff nach Kopenhagen, der Gesandtschaftsprediger Johann Hieronymus Chemnitz sei selbst von Kardinalerzbischof Migazzi geschätzt worden. Vgl. Völker 1934 (wie Anm. 55), S. 114. So etwa in einer gedruckten Predigt des dänischen Gesandtschaftspredigers Chemnitz am außerordentlichen Buß- und Bettag anlässlich des Erdbebens in Komorn (1763). Vgl. Reingrabner, Gustav: Eine evangelische Predigt aus der Zeit vor dem Toleranzpatent, gehalten in der dänischen Gesandtschaftskapelle in Wien. In: Jahrbuch der Gesellschaft für die Geschichte des Protestantismus in Österreich 95 (1979), S. 49-52. Vgl. Stubbe 1932 (wie Anm. 27), S. 276, 296-298. Vgl. ebd., S. 299f. (mit ausführlichem Teilzitat des Zeugnisses von Grävenitz). Vgl. Scheutz 2009 (wie Anm. 1), S. 222f.; Otto 1886 (wie Anm. 34), S. 129f. Die Kirche wurde nach der Zerstörung während der Türkenbelagerung von 1683 ab 1688 wiederaufgebaut. Vgl. Vocelka, Karl: Kirchengeschichte. In: ders./Traninger, Anita (Hrsg.): Wien. Geschichte einer Stadt. Bd. 2: Die frühneuzeitliche Residenz (16. bis 18. Jahrhundert). Wien/Köln/Weimar 2003, S. 311-363, hier S. 334, 337; Polleroß, Friedrich: Kunst und Kultur. Renaissance und Barock. Ebd., S. 453-500, hier S. 468f. Noch Johann Sebastian Müller erwähnt in seinem Wienbericht von 1660: „In diesem Kloster hat Kayser Maximilianus II. denen Evangelischen ihr Religions-Exercitium zu halten vergünstiget/ welches ihnen hernach unter Kayser Rudolphen dem II. wieder entzogen“ (Keller/Scheutz/Tersch 2005 [wie Anm. 49], S. 76). Im 17. Jahrhundert wurden Wiener Protestanten auch in Ödenburg bestattet, so die zweite Gemahlin des Reichshofrats Gottlieb Amadeus von Windischgrätz. Vgl. Windischgrätz, Gottlieb Graf von: Die Gedichte. „Wie gerne wolt’ auch ich die Höh’ des Bergs ersteigen“, hrsg. von Laufhütte, Almut und Hartmut. Tübingen 1994 (= Frühe Neuzeit 3), S. 72, Anm. 258. Protestantische Geistliche taten auch gut daran, bei Krankenbesuchen nicht aufzufallen – in den Hospitälern waren ihnen diese ohnehin untersagt. Andernfalls drohte ihnen im Extremfall sogar die Festnahme durch die Stadtwache. Vgl. Chemnitz 1761 (wie Anm. 37), S. 33f., 24f.; Stubbe 1932 (wie Anm. 27), S. 272, 275; Scheutz 2009 (wie Anm. 1), S. 229-231; Otto 1886 (wie Anm. 34), S. 126.

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stattlichen, aus zwei-, vier- oder sechsspännigen Kutschen gebildeten Leichenkondukte das Schottentor passierten, präsentierten die dortigen Wachen das Gewehr, und die Glocken auf dem Turm des Stadttors wurden geläutet. Ein solches solennes Begräbnis ist beispielsweise für den 1760 verstorbenen Reichshofrat Karl Wilhelm von Gärtner bezeugt. Scheutz hebt die Bedeutung der Beisetzungen für die „Repräsentation der kleinen protestantischen Konfessionskultur in Wien“ hervor. 66 Dazu leisteten auch die teilweise äußerst prachtvollen Gräber einen bleibenden Beitrag, wie etwa diejenigen Friedrich von Binders, 67 Johann Heinrich von Obernitz’ 68 und Heinrich Christian von Senckenbergs. 69 Starb ein evangelischer Reichshofrat, sahen sich seine Hinterbliebenen nicht selten genötigt, Wien zu verlassen und ihr Auskommen andernorts zu suchen. Bereits die Reichshofratsordnung von 1654 sicherte den Witwen und Kindern von Reichshofräten „ohne unterschidt der religion“ freien Abzug ohne Nachsteuer zu. 70 Auch protestantische Reichshofratswitwen und -waisen konnten grundsätzlich auf kaiserliche Unterstützung hoffen, sofern dies die kaiserlichen Finanzen zuließen. 71 Ob sie freilich dauerhaft in Wien Fuß fassen konnten, war fraglich: Die Witwe Heinrich Christian von Sen66

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Scheutz 2009 (wie Anm. 1), S. 223. Vgl. Chemnitz 1761 (wie Anm. 37), S. 33f. Ein feierliches Begräbnis seines Vaters schildert auch Renatus Karl von Senckenberg: „Elatus est frequenti amicorum populique comitatu, humatusque in Coenobii Hispanorum nigrorum Vindobonae sepulcreto, gentis vero Palmianae ab ipso olim emto conditorio, addito marmore, effigiem defuncti, insuperque elogium, praeferente, quod uti a clarissimo amicissimoque viro J.G. Schwandtnero, nunc Bibliothecae Caesareae Custode meritissmo, nimis magnifice compositum erat, ita me studiorum causa absente ignaroque, incisum est.“ (Senckenberg, Heinrich Christian von/Senckenberg, Renatus Karl von: Vita Henrici Christiani Libri Baronis de Senkenberg […]. Frankfurt a.M. 1782, S. 7f.). Vgl. Strimizer, Birgit: Die Freiherrn Binder von Krieglstein. Studien zur Genealogie und Besitzgeschichte einer elsässisch-österreichischen Adelsfamilie unter besonderer Berücksichtigung der Bedeutung einzelner Familienmitglieder in der Zeit Maria Theresias und der Ära Metternich. Graz 1998 (= Dissertationen der Karl-Franzens-Universität Graz 110), S. 18f. Anders als sein Neffe Johann konvertierte er nicht. „[…] exanimae corporis exuviae Vindobonae in locum Evangelicorum sepulturae destinatum, haud procul a Binderiano monimento, illatae fuerunt“ (Sonntag, Ludwig Sebastian: Memoriam perillustris, generosissimi atque excellentissimi Domini Johannis Heinrici ab Obernuz […] concelebrare conatur. Altdorf 1710, S. [24]). Hellbach, Johann Christian: Niklas Christoph Reichsfreyherr von Lynker, ein biographischer Versuch. Eisenach 1795, S. 33f. berichtet, dass noch „vor kurzem“ auf dem evangelischen Friedhof bei den Schwarzspaniern das Grab Lynckers zu sehen gewesen sei. Reichshofratsordnung von 1654, Tit. I, § 9, Sellert 1990 (wie Anm. 4), S. 76. So etwa im Fall der mit sieben Kindern hinterlassenen Witwe des 1706 verstorbenen Reichshofrats Rudolf Kaspar Söhlen, der auf ein Hilfsgesuch an Kaiser Joseph I. (unter ausdrücklicher Berufung auf die Unterstützung anderer Reichshofratswitwen) zwar grundsätzlich 9000 fl. bewilligt wurden, sie aber bezüglich der Auszahlung der Summe auf bessere Zeiten vertröstet wurde. Vgl. Gschließer 1970 (wie Anm. 2), S. 322.

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ckenbergs († 1768), die der Niederlegerfamilie Palm entstammte, blieb mit ihren Söhnen am Ort wohnen. Der ältere Renatus Karl ließ sich nach dem Ableben des Vaters an den Universitäten Göttingen und Straßburg sowie am Reichskammergericht zum Juristen ausbilden und wurde Assessor bei der hessen-darmstädtischen Regierung in Gießen – offenbar mit dem Plan, später in die väterlichen Fußstapfen treten zu können. Die Option auf eine Karriere in kaiserlichen Diensten zerschlug sich jedoch endgültig aufgrund seiner Verwicklung in die Affäre um die Publikation von geheimen Akten aus dem Nachlass seines Vaters. 1778 wurde ihm in Wien der Prozess gemacht; im Folgejahr wurde er aus den österreichischen Erblanden verbannt. Sein jüngerer Bruder trat in sardinische Militärdienste. 72 Die Nachkommen Friedrich von Binders konnten sich dank der Konversion Johann von Binders zum Katholizismus dauerhaft in Wien etablieren. 73 Von einer gesellschaftlichen Isolierung der protestantischen Reichshofräte in Wien jedoch kann keine Rede sein. 74 So lassen sich für Gottlieb Amadeus von Windischgrätz in den 1650er Jahren gute Beziehungen u.a. zum Reichshofratspräsidenten Ernst von Oettingen und seinem Sohn Wolfgang, weiteren Reichshofräten, Ottavio Piccolomini, Reichsvizekanzler Kurz von Senfftenau, dem niederösterreichischen Landmarschall Ernst von Traun und dem Oberststallmeister Albrecht von Harrach rekonstruieren. 75 Gleichwohl wurden die evangelischen Reichshofräte ihres Glaubens wegen von außen viel72 73

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Vgl. Haupt, Herman: Renatus Karl Frhr. von Senckenberg (1751-1800). Festschrift der Grossherzoglichen Ludwigsuniversität zu Giessen. Gießen 1900, S. 9-26. Johann Binder von Krieglstein wurde Gewinnsucht als Motiv für seine Konversion nachgesagt. Zunächst war sie ihm allerdings insofern von Nachteil, als er 1717 die Expektanz auf eine protestantische Reichshofratsstelle erhalten hatte, aufgrund seines Übertritts 1726 aber nur als unbesoldeter katholischer Supernumerarius in den Reichshofrat eintreten konnte. Erst langfristig zahlte sich für ihn bzw. seine Nachkommen die Konversion aus, auch wenn er wegen seiner Gewinnsucht 1736 von Karl VI. aus dem kaiserlichen Dienst entlassen wurde: Sein Sohn Friedrich wurde der einflussreiche Sekretär des Staatskanzlers Kaunitz, Staatsreferendar und Hofrat. Vgl. Strimitzer 1998 (wie Anm. 67), S. 23-64, bes. S. 23; Strimitzer, Birgit: Der k.k. Staatsrat Friedrich Freiherr Binder von Krieglstein, Freund und Sekretarius des Staatskanzlers Kaunitz. Ein Beitrag zur Klientelpolitik der mariatheresianischen Epoche. In: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 44 (1996), S. 235-250, hier S. 235f.; Gschließer 1970 (wie Anm. 2), S. 359f.; Peper, Ines: Konversionen im Umkreis des Wiener Hofes um 1700. Wien/München 2010 (= Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 55), S. 98. In Friedrich von Binders Leichenrede wurde noch als ein besonderes Verdienst des Verstorbenen betont: „Zuförderst hielt er Glauben dem HErrn seinem GOtt/ welchem er in der Evangelischen Religion und dero heiliger Bekänntnüß biß an sein Ende standhafft getreu verblieben“. Langjahr, Johann Jacob: Das Bildnüß der Gerechten im Leben und Sterben/ An dem Exempel Weyland Des Wohlgebornen Herrn/ Herrn Friedrichs von Binder […]. Regensburg [1709], S. 23. Thüngen 1927 (wie Anm. 43), S. 480f. spricht allerdings von einer „schwierige[n] gesellschaftliche[n] Stellung“, und zwar bezogen noch auf die Jahre um 1770. Vgl. Windischgrätz 1994 (wie Anm. 64), S. 64f.

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fach als eine Ausnahmeerscheinung am Kaiserhof wahrgenommen, wie sich anhand etlicher Gesandtenberichte nachweisen lässt. Es waren nicht nur die päpstlichen Nuntien, welche die Präsenz der „accattolici“ oder „eretici“ kritisch vermerken, 76 sondern beispielsweise auch die Vertreter der Republik Genua wiesen regelmäßig darauf hin, wenn sie es bei ihren Reichshofratsgeschäften mit einem Protestanten zu tun hatten. 77 Es spricht einiges dafür, dass ein recht starker Zusammenhalt der kleinen Schar evangelischer Eliten in Wien bestand. Man traf sich nicht nur im Gottesdienst, 78 sondern stand auch sonst vielfach in einem oftmals engen Kontakt. So referiert Christoph Ludwig von Seckendorff in seinem Journal secret einen vertrauten Meinungsaustausch mit dem ebenfalls protestantischen Reichshofrat Seydewitz. 79 Ein Indiz für den Austausch zwischen Niederlegerfamilien und Reichshofräten sind Patenschaften und Ehen. So heiratete Heinrich Christian von Senckenberg in zweiter Ehe eine Palm. Ein besonderer Korpsgeist bestand unter den protestantischen Reichshofräten. So sah wiederum Senckenberg in seinem Testament den ältesten evangelischen Reichshofrat auf der Gelehrtenbank als Beistand für seine Witwe vor. 80 Wie die evangelischen Reichshofräte ihre Situation als konfessionelle Minderheit wahrnahmen, ist quellenmäßig schwierig zu fassen – zumal direkte antikatholische Äußerungen für einen kaiserlichen Minister untunlich gewesen wären. Am ehesten kann man hoffen, in Ego-Dokumenten, in vertrauter Privatkorrespondenz oder in Quellen fündig zu werden, die nach einem Ausscheiden aus dem kaiserlichen Dienst entstanden sind, als der Zwang zur Rücksichtnahme auf die konfessionellen Empfindlichkeiten des Wiener Hofs eine geringere Rolle gespielt haben dürfte. Für einen der beiden ersten evan76 77

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Vgl. z.B. die Nuntiaturberichte vom Hofe Leopolds I. vom 29. Mai, 5., 12. und 19. Juni 1666 sowie vom 9. April 1667 in: Levinson 1913 (wie Anm. 33), S. 800f., 807. Z.B. hielt die Schlussrelation Gerolamo Rodinos (Archivio di Stato di Genova, Archivio segreto 2718) 1654 ausdrücklich fest, dass „Giovanni Schitz“ (Johann Helwig Sinold Schütz) „lutherano di religione“ sei. Noch Giuseppe Doria war es in seiner Schlussrelation (ebd.) vom 7. April 1775 der Erwähnung wert, dass „sei consiglieri luterani a norma del convenuto nel trattato di Vestfalia“ seien. Beispielsweise berichtet Karl von Zinzendorf, dass er bei seinem ersten Gottesdienstbesuch in der dänischen Gesandtschaftskapelle verschiedene Reichshofräte bzw. deren Angehörige getroffen habe: die Gemahlin Heinrich Christian von Senckenbergs, die Töchter Johann Paul Vockels sowie Thomas von Fritsch. Vgl. Zinzendorf 1997 (wie Anm. 46), S. 197 (zum 1. März 1761). Vgl. Seckendorff, Christoph Ludwig von: Journal secret. In: Preußen, Friederike Sophie Wilhelmine von: Denkwürdigkeiten aus dem Leben der Königl. Preußischen Prinzessin Friederike Sophie Wilhelmine (Schwester Friedrichs des Grossen) Markgräfin von Bayreuth vom Jahr 1709 bis 1733. Von ihr selbst in französischer Sprache geschrieben. Bd. 2. Tübingen 1811, hier S. 194f. Vgl. Testament Heinrich Christian von Senckenbergs, Wien, 6. Juni 1752, Präs. 31. Mai 1768 (Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, Reichshofrat, Verfassungsakten 164-165).

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gelischen Reichshofräte Ferdinands III., Wilhelm Bidenbach von Treuenfels, sind immerhin Äußerungen bezeugt, die nahe legen, dass er sich als Protestant in dem Gremium nicht besonders wohl gefühlt hat. 81 Und in seinem Journal secret deutet Christoph Ludwig von Seckendorff an, dass bei der Inhaftierung seines Onkels, des Feldmarschalls Friedrich Heinrich von Seckendorff, nach dessen desaströsem Türkenfeldzug von 1737 auch konfessionelle Gründe eine Rolle spielten. 82 Der Ausschluss von Gottesdiensten und Prozessionen, die eben nicht nur Ausdruck persönlicher Frömmigkeit, sondern gerade bei den Habsburgern ein wesentlicher Bestandteil der herrscherlichen Repräsentation waren, machte nicht nur den Betroffenen, sondern auch der höfischen und gegebenenfalls auch einer größeren Öffentlichkeit immer wieder sichtbar, dass die evangelischen Reichshofräte eine Sonderstellung einnahmen. Die Bedeutung dieses Aspekts sollte nicht unterschätzt werden. So wird in einer zeitgenössischen Biographie des Reichshofrats Friedrich von Grävenitz als Grund für die Konversion seiner Gemahlin, einer geborenen Gräfin Rantzau, der Wunsch genannt: „die Ehre, mit der Kaiserin in einer Capelle zu beten, die Hoffnung, Stern-Kreuz-Ordens-Dame […] zu werden, und als solche mit der Kaiserin am heiligen Grabe zu wachen und zu knien“. 83 Wenn die Leichenpredigten protestantischer Reichshofräte immer wieder deren Verwurzelung in ihrem Glauben betonten, 84 gehörte das natürlich zum Standardrepertoire solcher Gelegenheitsschriften und mag dementsprechend in vielen Fällen nicht mehr als eine Pflichtübung gewesen sein. Zugleich gibt es allerdings Belege in zeitgenössischen Biographien, die für ein prononciert protestantisches Bekenntnis mancher Reichshofräte sprechen: Beispielsweise versäumt es Johann Christian von Hellbach in seiner Biographie Niklas Christoph von Lynckers nicht, auf die Einrichtung einer Stiftung zur Katechisation der Kinder auf seinen thüringischen Gütern (1723) sowie auf eine Sti81 82

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Vgl. Gschließer 1970 (wie Anm. 2), S. 259f. So referiert er den niederländischen Gesandten Hamel Bruininx, der den Sturz des Generals Seckendorff den Jesuiten zur Last legte, die Prinzessin von Bentheim, welche den ehemaligen Jesuiten Gundaker Starhemberg als Hauptverantwortlichen bezeichnete, sowie den Freiherrn von Erffa, der argwöhnte, dass „absonderlich die Religion in die Sach tieff mit einschlägt“. Diese Äußerungen fallen in das Jahr, als Seckendorff bereits im Begriff stand, in ansbachsche Dienste zu wechseln. Vgl. Seckendorff 1811 (wie Anm. 79), S. 193, 250 (Zitat). Wahrhafte Erzählung der Schicksale des gewesenen Kaiserlichen Reichs-Hofraths Grafen von Grävenitz, zur Rechtfertigung gegen die Beschuldigungen des Freyherrn von der Trenck in einem Schreiben aus dem Mecklenburgischen. Frankfurt a.M./Leipzig 1788, S. 32. Ein typisches Beispiel ist etwa Ludwig Sebastian Sonntags Leichenrede für den verstorbenen Reichshofrat Johann Heinrich von Obernitz (1709); vgl. Sonntag 1710 (wie Anm. 68), S. [23]f.

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pendienstiftung zugunsten der lutherisch-orthodoxen Jenaer Theologischen Fakultät hinzuweisen, wobei der Stipendiat verpflichtet werden sollte, alljährlich eine Rede zum Gedenken an die Übergabe des Augsburger Bekenntnisses zu halten. 85 Auch Renatus Karl von Senckenberg betont den festen lutherischen Glauben seines Vaters Heinrich Christian, selbst wenn es ihm seine Dienstaufgaben nicht immer gestattet hätten, am Gottesdienst teilzunehmen. 86

Karrieremuster Bei den ca. 65 evangelischen Reichshofräten nach 1648 lassen sich grob gesehen drei Karrieremuster feststellen. Gut die Hälfte von ihnen verließ den kaiserlichen Dienst wieder, um andernorts reizvollere Stellen anzutreten, oder wurde gegen eigenen Willen entlassen. Etwas weniger schlossen ihre berufliche Laufbahn als Reichshofräte ab. Immerhin fünf evangelische Reichshofräte konvertierten zum Katholizismus, nicht mitgerechnet diejenigen, die vor dem Eintritt in den Reichshofrat ihren Glauben gewechselt hatten. Wie schon Gschließer festgestellt hat, unterscheiden sich die Karrieremuster der Reichshofräte von der Herren- und der Gelehrtenbank grundsätzlich. 87 Während der Reichshofrat für Erstere in der Regel eher eine Einstiegsoder Durchgangsstation war, konnte er für einen bürgerlichen Juristen den ersehnten Gipfel der Karriere darstellen. Diese Beobachtungen lassen sich auch auf die protestantischen Reichshofräte übertragen, freilich mit einigen besonderen Akzentuierungen. Rüdiger Mack formulierte treffend: „Das kaiserliche Gericht war nicht sonderlich attraktiv für evangelische Juristen, am wenigsten für Angehörige der reichsständischen Familien. Auf eine Karriere in kaiserlichen Diensten konnten sie nicht hoffen“. 88 Gerade in der Phase unmittelbar nach dem Dreißigjährigen Krieg musste der Kaiserhof um protestantische Juristen geradezu werben, und das keinesfalls immer mit Erfolg. So versagte sich der kursächsische Rat Augustin Strauch, 89 und der hessen-darmstädtische Kanzler Dr. Justus Sinold gen. 85 86

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Vgl. Windischgrätz 1994 (wie Anm. 64), S. 26, Anm. 62; Hellbach 1795 (wie Anm. 69), S. 35f. Vgl. Senckenberg 1782 (wie Anm. 66), S. 8f. Durch die Aussage des dänischen Gesandtschaftspredigers Johann Hieronymus Chemnitz ist auch bezeugt, dass Senckenberg auf dem Totenbett das Abendmahl empfing. Vgl. Chemnitz 1768 (wie Anm. 57) (unpag.). Vgl. Gschließer 1970 (wie Anm. 2), S. 70. Mack 1997 (wie Anm. 29), S. 54. Immerhin wurde die Berufung in den Reichshofrat als so ehrenvoll eingeschätzt, dass sie noch in der Leichenpredigt Strauchs Erwähnung fand: „Placuit Eidem [Caesareae Majestati] clementissimè, ut missa propria manu scripta vocatione in celeberrimi Imperialis Judicii

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Schütz stellte für seinen Sohn Johann Helwig eine Reihe von Bedingungen, auf die der Geheime Rat nur teilweise einging. Sinold-Schütz diente dem Kaiser dennoch von 1655 bis 1673, als er Kanzler des Herzogs von Braunschweig-Lüneburg-Celle wurde. 90 Wenn sie denn überhaupt nach Wien kamen, quittierten auch viele gelehrte evangelische Reichshofräte ihren Dienst nach wenigen Jahren. Bereits 1663 ist der erst 1659 introduzierte Georg Theodor Dietrich im Reichshofrat nicht mehr nachweisbar. 91 Ebenso wechselte der 1665 introduzierte Nikolaus Christoph von Hünefeldt bereits 1670 in kursächsische Dienste, 92 und der 1668 introduzierte Freiherr Christian August von Friesen kehrte schon nach zwei Jahren in seine sächsische Heimat zurück. 93 Das vielleicht kürzeste Gastspiel gab 1679 der vom Kaiser aus württembergischen Diensten abgeworbene Dr. Philipp Schulz von Ehrenfels, der ohne kaiserliche Erlaubnis nach wenigen Monaten in seine Heimat zurückkehrte. 94 Dass gleichwohl ein Posten im Reichshofrat auch für Protestanten attraktiv sein konnte, belegt die Karriere des vormaligen Reichskammergerichtsassessors Christian Ernst von Reichenbach, der 1687 die Berufung in den Reichshofrat annahm – er schätzte also den Posten in Wien höher ein als den in Speyer. Allerdings wurde er schon bald als kaiserlicher Gesandter nach Holstein abgeordnet und trat schließlich in die Dienste des Herzogs von Holstein-Gottorf. 95 Andererseits gab es eine ganze Reihe von evangelischen Reichshofräten, die in dieser Funktion ihr Leben oder doch ihre Karriere beschlossen. Zu den ausgedienten Reichshofräten gehörte gleich der erste Protestant, der nach dem Westfälischen Frieden, noch Ende 1648, berufen worden war, der Würt-

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Assessorem & Consilarium aulicum promoveretur: Verum ille non sibi sed patriae natum sciebat, qvod honoris culmen aliis, hoc illi amor fuit in Rempublicam Saxoniae.“ (Weck, Johann Conrad: Fatis desideratissimi Dn. Augustini Strauchii ultimis felicissimis sed lugendis. O.O. 1674, S. [8]). Vgl. Gschließer 1970 (wie Anm. 2), S. 272f. Sinold-Schütz hatte Zusicherungen wegen der Religionsausübung, der Höhe des Salärs und der Freiheit, seinen Dienst in kaiserlichen Gnaden zu beenden, sowie ein Aufzugsgeld gefordert, wovon der Geheime Rat nur Letzteres bewilligte. Vgl. ebd., S. 276, 280f. Vgl. ebd., S. 290. Vgl. ebd., S. 293f. Vgl. ebd., S. 306. Vgl. ebd., S. 316; Jahns, Sigrid: Das Reichskammergericht und seine Richter. Verfassung und Sozialstruktur eines höchsten Gerichts im Alten Reich. Teil II: Biographien. 2 Bde. Köln/Weimar/Wien 2003 (= Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 26), hier Bd. 1, S. 73 und S. 383, Anm. 8. Es gab auch in dieser Zeit Bewerber, die nicht zum Zug kamen. Vgl. z.B. Jörn, Nils: Dietrich von Brömbsen. Die gescheiterte Karriere eines Lübeckers am Reichshofrat. In: ders. (Hrsg.): Die Integration des südlichen Ostseeraumes in das Alte Reich. Köln/Weimar/Wien 2000 (= Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 35), S. 185-233.

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temberger Wilhelm Bidembach von Treuenfels.96 Johann Philipp Bohn, der ebenfalls als einer der ersten gelehrten evangelischen Reichshofräte nach dem Westfälischen Frieden 1651/52 ernannt und introduziert wurde, amtierte bis zum Tod Ferdinands III. 1657. Für ihn lohnte sich der Eintritt in den kaiserlichen Dienst in verschiedener Weise: Er wurde vom Kaiser in den rittermäßigen Adelsstand erhoben, erhielt eine Wappenverbesserung und die Würde eines kaiserlichen Hofpfalzgrafen, wurde mit diversen Gütern belehnt und in die Fränkische Reichsritterschaft aufgenommen.97 Ein Zuschussgeschäft war das Reichshofratsamt dagegen für den durch den Mainzer Kurfürsten Johann Philipp von Schönborn noch für Ferdinand III. angeworbenen Freiherrn Johann Christoph von Schmidtburg, der erst 1659 unter Leopold I. introduziert wurde und 1667 aus Gesundheitsgründen um Entbindung von seinen Pflichten bat, wobei er auf einen Besoldungsrückstand von 4.095 fl. sowie darauf hinwies, dass er im Rahmen seiner Reichshofratstätigkeit 14.000 fl. aus eigenen Mitteln habe zuschießen müssen.98 Schon 1663 verstarb der ebenfalls erst 1659 introduzierte und aus hessen-darmstädtischen Diensten kommende Eberhard Wolf von Todtenwarth.99 Auf stolze 23 Amtsjahre brachte es dagegen der 1665 introduzierte und 1688 im Dienst verstorbene, aus mecklenburgischen Diensten kommende Dr. Justus Brüning,100 und auch der 1671 installierte Regensburger Ratsherr Johann Albrecht Portner von Theuren diente dem Kaiser bis kurz vor seinem Tod im Jahr 1687.101 Der erste ausgediente evangelische Reichshofrat von der Herrenbank war Rudolf von Sinzendorff, der anders als sein älterer Bruder Johann Joachim nicht konvertierte und 1677 starb, ohne über den Posten eines Reichshofrats 96

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Bidembach von Treuenfels war am Wiener Hof und im Reichshofrat als langjähriger diplomatischer Vertreter Dänemarks und Kontrahent der Universität Tübingen in einem hier anhängigen Prozess kein Unbekannter, und es war wohl nicht zuletzt dieser Rechtsstreit, der Bidembach für den württembergischen Dienst hatte untragbar werden lassen und der ihn nach Wien streben ließ, wo er 1655 verstarb. Seine Familie blieb jedoch in Württemberg verwurzelt, und sein Sohn Georg Wilhelm trat in Fortführung der Familientradition in herzogliche Dienste. Vgl. Kümmerle, Julian: Luthertum, humanistische Bildung und württembergischer Territorialstaat. Die Gelehrtenfamilie Bidembach vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Stuttgart 2008 (= Veröffentlichungen der Kommission für Geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B: Forschungen 170), S. 305; Gschließer 1970 (wie Anm. 2), S. 259f. Vgl. Eckhardt, Albrecht: Kanzler und Reichshofrat Johann Philipp (von) Bohn (15971658), Herr zu Birkenau, und die älteste Karte des Gerichts Staden in der Wetterau (1657). In: Archiv für hessische Geschichte und Altertumskunde NF 48 (1990), S. 33-88, hier S. 59-69; Gschließer 1970 (wie Anm. 2), S. 262f. Bohn starb während des Interregnums am 18. Februar 1658, also bevor Leopold I. ihn in seinem Amt hätte bestätigen können. Vgl. Gschließer 1970 (wie Anm. 2), S. 279f. Vgl. ebd., S. 282f. Vgl. ebd., S. 291. Vgl. ebd., S. 295-297.

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hinausgelangt zu sein. 102 Andere, wie der im April 1649 auf der Herrenbank introduzierte Joachim Friedrich Freiherr von Blumenthal, der 1652 auf den Posten eines kurbrandenburgischen Statthalters in Halberstadt wechselte, Graf Waldemar Christian von Holstein, ein natürlicher Sohn des Erzbischofs von Bremen, Johann Friedrich von Holstein, und Graf Enno Ludwig von Ostfriesland 103 gaben nur kurze Gastspiele in Wien. 104 Ein Beispiel für eine kurze Verweildauer (1693-1697) eines Reichshofrats aus reichsständischem Hause ist auch Graf Friedrich Ernst von SolmsLaubach, für den Wien von vornherein als Ausbildungsstätte vorgesehen war und der nach dem Tod seines Vaters 1696 die Regierung der heimischen Grafschaft übernahm. 1699 wurde er Reichskammergerichtspräsident – in Wetzlar konnte er auch als Protestant eine führende Position erreichen. 105 Noch drei weitere evangelische Reichshofräte, Burggraf Christian Albrecht Kasimir von Kirchberg (Reichshofrat 1745-1764), 106 Freiherr Johann Sigmund Karl von Thüngen (Reichshofrat 1767-1772) 107 und der der fränki-

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An seiner Person kann man zugleich einige Vorteile festmachen, die die Berufung evangelischer Adliger für den Kaiserhof bedeutete, denn Sinzendorff wurde mehrfach als kaiserlicher Gesandter u.a. nach Dänemark, Schweden und zu den Generalstaaten geschickt. Ein Teil dieser Gesandtschaften hatte die Aufgabe, Türkenhilfen einzuwerben, und gerade hier mochte es sich als Vorteil erweisen, wenn ein Glaubensgenosse als Werbender auftrat. Vgl. ebd., S. 271f. Vgl. ebd., S. 260-262. Enno Ludwig Graf, seit 1654 Fürst von Ostfriesland wird von Gschließer irrtümlich „Emo“ genannt. Er wurde 1651 introduziert, scheint aber niemals sein reichshofrätliches Amt wahrgenommen zu haben. Auf einen Rechtsstreit mit dem Fürsten Gundaker von Liechtenstein wirkte sich seine Ernennung gleichwohl scheinbar günstig aus. Vgl. Winkelbauer, Thomas: Fürst und Fürstendiener. Gundaker von Liechtenstein, ein österreichischer Adliger des konfessionellen Zeitalters. Wien/München 1999 (= Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Ergänzungsband 34), S. 535. Der von Gschließer 1970 (wie Anm. 2), S. 264f. noch als mutmaßlicher Protestant genannte Graf Christian von Rantzau war schon vor seiner Ernennung zum Reichshofrat (1650) konvertiert; vgl. Peper 2010 (wie Anm. 73), S. 90f. Vgl. Mack 1997 (wie Anm. 29), S. 58f.; Gschließer 1970 (wie Anm. 2), S. 324. Vergleichbar ist auch die kurze Karriere von Ludwig Ferdinand von Sayn-Wittgenstein. Vgl. Gschließer 1970 (wie Anm. 2), S. 438f. Thüngen ist insofern eine interessante Persönlichkeit, als seine erste Ehefrau Anna Charlotte von Thüngen Katholikin gewesen war und er nach der Hochzeit für einige Jahre in Diensten des Fürstbischofs von Würzburg gestanden hatte. Nach ihrem Tod (1760) war er allerdings als Hofmarschall an den sachsen-gothaischen Hof gewechselt. Die erste, katholische Heirat Thüngens war gegen die Intention seines Vaters erfolgt, der noch kurz zuvor das lutherische Bekenntnis hausgesetzlich geschützt und festgelegt hatte, dass Familienmitgliedern die Praktizierung anderer Bekenntnisse nur „privative“ gestattet sei. Louise von Schwarzenfels, die zweite Frau Thüngens, die er 1767 oder 1769 heiratete, war Protestantin, die Tochter des Gothaer Konsistorialpräsidenten. Vgl. Thüngen 1927 (wie Anm. 43), S. 479f.; Gschließer 1970 (wie Anm. 2), S. 475.

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schen Reichsritterschaft entstammende Franz Paul Christoph von Seckendorff (Reichshofrat 1785-1800)108 stiegen zu Kammergerichtspräsidenten auf. Auffälligerweise finden sich in den Jahrzehnten um 1700, also zur Zeit der Renaissance des habsburgischen Kaisertums, vermehrt ausgediente evangelische Reichshofräte mit stattlichen Amtszeiten, wie der aus dem Braunschweigischen stammende Rudolf Kaspar Söhlen (Reichshofrat 1692-1706),109 der aus Thüringen gebürtige Freiherr Christoph Heinrich von Stein (Reichshofrat 1700-1731),110 Friedrich Karl von Danckelmann (Reichshofrat 17041734/38),111 der aus weimarischen Diensten abgeworbene Freiherr Nikolaus Christoph von Lyncker (Reichshofrat 1707-1726),112 der angesehene Professor an der Universität Wittenberg Johann Heinrich Berger (Reichshofrat 1711/12-1728), der zugunsten seines Verbleibs in Wien andere glänzende Angebote ausschlug,113 der in Lippstadt geborene Justus Vollrath von Bode (Reichshofrat 1714-1727),114 der Schlesier Johann Friedrich Freiherr von Roth (Reichshofrat 1724-1740),115 der Wittenberger Professor Johann Balthasar Werner (Reichshofrat 1729-1740/43)116 und der aus dem Fränkischen stammende Wolf Sigmund Freiherr von Jaxtheim (Reichshofrat 1727-1740, 1745/46).117 Die gewachsene Attraktivität der evangelischen Reichshofrats108

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Vgl. Gschließer 1970 (wie Anm. 2), S. 498; Mader, Eric-Oliver: Die letzten „Priester der Gerechtigkeit“. Die Auseinandersetzung der letzten Generation von Richtern des Reichskammergerichts mit der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Berlin 2005 (= Colloquia Augustana 20), passim; Jahns 2003 (wie Anm. 95), Bd. 1, S. 410, 478. Vgl. Gschließer 1970 (wie Anm. 2), S. 321f. Vgl. ebd., S. 342f. Vgl. ebd., S. 353. Wenn, wie hier, Amtszeiten mit Schrägstrich angegeben sind, deutet das darauf hin, dass ein Reichshofrat schon vor dem förmlichen Ausscheiden de facto nicht mehr amtiert hat. Vgl. ebd., S. 366-368. Nach Peper 2010 (wie Anm. 73), S. 110 wurde Lyncker sogar eine Geheime Ratsstelle angeboten, doch die damit verbundene Konversion wollte Lyncker nicht vollziehen. Vgl. Gschließer 1970 (wie Anm. 2), S. 379-381. 1717 wurde Berger von Karl VI. in den Reichsritterstand erhoben. Vgl. ebd., S. 384. Vgl. ebd., S. 396f. Vgl. ebd., S. 404f. Er erhielt 1724 die Anwartschaft auf eine protestantische Reichshofratsstelle und wurde am 26. Juli 1727 introduziert. Kontakte zum Kaiserhof hatte er durch seine Heirat mit Friederica Dorothea von Neipperg, eine Tochter des kaiserlichen Generals Eberhard Friedrich von Neippberg (1715) geknüpft. In den Reichshofrat Karls VII. trat er nicht ein, wurde aber 1745 von Franz I. erneut berufen. Seit 1746 nahm er allerdings nicht mehr an den Sitzungen teil. Bis 1760 erhielt er dennoch ein reichshofrätliches Jahresgehalt von 2600 fl. und von da an eine Pension von 2000 fl. für besondere Verdienste. Vgl. Buchner, Sieglinde/Prommersberger, Irmgard: Ein markgräflicher Beamtenclan im 17. und 18. Jahrhundert. In: Alt-Gunzenhausen 55 (2000), S. 17-36, hier S. 28f.; Gschließer 1970 (wie Anm. 2), S. 403.

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stellen fand ihren Ausdruck nicht nur in den langen Amtszeiten vieler Reichshofräte, sondern auch darin, dass die Zahl der Bewerber auf diesen Posten spürbar anwuchs. Im Fall der beiden Bergers deutet sich sogar eine Art „Dynastiebildung“ an. Vereinzelt musste ein Reichshofrat gegen seinen Willen den Platz räumen, so Johann Heinrich von Obernitz, der 1694 von Leopold I. aus wettinischen Diensten berufen worden war und mehrere Jahre als kaiserlicher Münzkommissar gewirkt hatte, aber von Joseph I. nicht in dessen Reichshofrat übernommen wurde.118 Wie attraktiv selbst für einen Protestanten in jenen Jahren die Tätigkeit als Reichshofrat sein konnte, zeigen die – letztlich gescheiterten – Bemühungen von Gottfried Wilhelm Leibniz um die Introduktion in den Reichshofrat Karls VI. 1713/14, die die Karriere des 1716 verstorbenen Universalgelehrten hatte krönen sollen.119 Die langjährigen Amtszeiten einer ganzen Reihe evangelischer Reichshofräte und die hohen Bewerberzahlen auf frei werdende Stellen sind ein Zeichen für das gestiegene Ansehen des habsburgischen Kaiserhofs im Allgemeinen und des Reichshofrats im Besonderen, aber auch dafür dass sich die Lebensbedingungen für Protestanten in Wien insgesamt verbessert hatten. In der Mitte des 18. Jahrhunderts stand die Tatsache, dass sie vom „falschen“, wittelsbachischen Kaiser Karl VII. berufen worden waren, der Langzeitkarriere einer Reihe von Reichshofräten entgegen. Einer von ihnen, der sächsische Freiherr August Friedrich von Seydewitz, wurde – ob nach einer Konversion ist der Literatur nicht zu entnehmen – von Karl VII. gar zum Vizepräsidenten ernannt. Damit hatte er sich nun freilich so kompromittiert, dass ihn Franz I. nicht in seinen Reichshofrat übernahm.120 Noch deutlicher war der Bruch im Fall des märkischen Freiherrn Ernst Wilhelm von Bredow 118 119

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Vgl. Gschließer 1970 (wie Anm. 2), S. 329f.; Sonntag 1710 (wie Anm. 68), passim. Für das Scheitern der Bemühungen waren nicht zuletzt Intrigen des hannoverschen Hofes verantwortlich. Vgl. Gschließer 1970 (wie Anm. 2), S. 378f.; Prantl, Carl von: Art. „Leibniz, Gottfried Wilhelm“. In: ADB. Bd. 18. Leipzig 1883, S. 172-209, hier S. 202f. Auch den jungen Johann Jakob Moser versuchte Reichsvizekanzler Schönborn für den Reichshofrat zu gewinnen, allerdings um den Preis der Konversion, der sich Moser jedoch widersetzte. Vgl. Peper 2010 (wie Anm. 73), S. 110. Vgl. Gschließer 1970 (wie Anm. 2), S. 410f. 1755 wurde Seydewitz dann allerdings Konkommissar am Reichstag. In dieser Funktion verstarb er 1775. Vgl. Fürnrohr, Walter: Die Vertreter des habsburgischen Kaisertums auf dem immerwährenden Reichstag. Teil I. In: Verhandlungen des Historischen Vereins für Oberpfalz und Regensburg 123 (1983), S. 71139, hier S. 129f. Zum Zeitpunkt seines Todes war Seydewitz sicher katholisch, denn seine Leichenpredigt wurde nicht nur von dem katholischen Hofprediger des Fürsten von Thurn und Taxis gehalten, sondern dieser lobte ausdrücklich die katholische Frömmigkeitspraxis des Verstorbenen, wie etwa das tägliche Hören der Messe. Vgl. Passy, Bernhard: Trauerrede auf den Hochgebohrnen Herrn, Herrn August Friderich des heiligen Römischen Reichs Grafen von Seydewiz, Herrn zu Pulswerda, Ihrer Römisch-Kaiserlichen Majestät […] Concommissarius bey der allgemeinen Reichsversammlung. [Regensburg] 1775, S. 16. Eine Konversion erwähnt Passy freilich nicht.

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(Introduktion 1738), der nicht nur von Karl VII. in dessen Reichshofrat aufgenommen, sondern anschließend Minister Friedrichs II. von Preußen wurde.121 Nicht von Franz I. übernommen wurden auch die evangelischen Reichshofräte Karls VII. Heinrich von Bünau,122 Johann Kaspar von Pogarell,123 Thomas von Fritsch124 und Johann Ulrich von Cramer.125 Trotz der wiederhergestellten dynastischen Kontinuität im Kaiseramt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts lassen sich auch in diesem Zeitraum zahlreiche kurze, weniger als 10 Jahre umfassende Amtszeiten evangelischer Reichshofräte beobachten, wie bei den aus dem Kurfürstentum Hannover stammenden Freiherren Konrad Heinrich von Hugo (Reichshofrat 17451752), der sich in seinem Entlassungsgesuch auf private Gründe und die „Blödigkeit seiner Augen“ berief,126 und Burkhard Christian von Beer (Reichshofrat 1746-1749),127 dem aus sächsischen Diensten kommenden Heinrich Christian Graf von Keyserlingk (Reichshofrat 1753-1762), der seinem Vater in russische Dienste folgte,128 dem schlesischen Grafen Johann Karl Gottlieb von Lichnowsky (Reichshofrat 1754-1757)129 und dem einem reichsritterlichen Geschlecht entstammenden Freiherrn Ludwig Karl Eckbrecht von Dürckheim (Reichshofrat 1763-1768), der in württembergische Dienste wechselte.130 Auch Friedrich Karl von Moser, der wohl bekannteste evangelische Reichshofrat, amtierte nur von 1767 bis 1770, um dann die Verwaltung der Grafschaft Falkenstein zu übernehmen und 1772 Erster Minister in Hessen-Darmstadt zu werden.131 Andere nahmen die angebotene Stelle erst gar nicht an, wie 1766 der angesehene Wittenberger Professor 121 122 123 124

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Vgl. Gschließer 1970 (wie Anm. 2), S. 413f. Vgl. ebd., S. 420f. Vgl. ebd., S. 421f. Der bereits 1742 wieder aus dem Reichshofrat ausgeschiedene Fritsch wurde allerdings 1745 von Franz I. zum Reichspfennigmeister in den beiden Sächsischen Kreisen berufen. Vgl. ebd., S. 422f.; Dölemeyer, Barbara: Zwei Staatsreformprogramme des 18. Jahrhunderts: Thomas von Fritsch für Kursachsen – Friedrich Carl von Moser für HessenDarmstadt. In: Lück, Heiner/Schildt, Bernd (Hrsg.): Recht – Idee – Geschichte. Beiträge zur Rechts- und Ideengeschichte für Rolf Lieberwirth anläßlich seines 80. Geburtstages. Köln/Weimar/Wien 2000, S. 469-492, hier S. 472 (mit Verweisen auf die ältere Literatur). Cramer bewarb sich vergeblich um eine Stelle im Reichshofrat Franz’ I. Ab 1752 war er dann Reichskammergerichtsassessor. Vgl. Gschließer 1970 (wie Anm. 2), S. 424; Jahns 2003 (wie Anm. 95), Bd. 1, S. 655-673. Vgl. Gschließer 1970 (wie Anm. 2), S. 434. Vgl. ebd., S. 440. Vgl. ebd., S. 453. Lichnowsky blieb allerdings in habsburgischen Diensten und wurde Präsident der HauptCommercial-Intendanz im gesamten Litorale. Vgl. ebd., S. 453f. Vgl. ebd., S. 466f. Vgl. Dölemeyer 2000 (wie Anm. 124), S. 480f., 485; Gschließer 1970 (wie Anm. 2), S. 475478.

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Chladenius.132 Wegen ihrer Verschuldung und „Projektemacherei“ von Joseph II. aus dem Reichshofrat entlassen wurden Gottfried Rudolf von Dittmar (Reichshofrat 1770-1784/87)133 und Reichsgraf Friedrich von Grävenitz (Reichshofrat 1772-1785).134 Andererseits gab es auch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine beachtliche Anzahl von evangelischen Reichshofräten, die dieses Amt bis an ihr Lebensende ausübten, wie der Frankfurter Heinrich Christian von Senckenberg (Reichshofrat 1745-1768), um den sich schon Karl VII. vergeblich bemüht hatte,135 die sämtlich aus kursächsischen Diensten übernommenen Reichshofräte Dr. Johann Paul von Vockel (Reichshofrat 1746-1766),136 Karl Wilhelm von Gärtner (Reichshofrat 1749-1760)137 und Karl Friedrich von Gärtner (Reichshofrat 1760-1776),138 der Erlanger Professor Karl Adolf von Braun (Reichshofrat 1760-1792),139 der dem Nürnberger Patriziat entstammende Lazarus Carl von Woelckern (Reichshofrat 1779-1805)140 und der bis dahin als Reichskammergerichtsassessor tätige Georg Ludwig von Vulpius (1788-1790).141 Auch Reichsgraf Karl Christian von Lippe-BiesterfeldWeißenfels brachte es auf 20 Dienstjahre (1771-1791).142 Bis zum Ende des Alten Reichs dienten im Reichshofrat der Enkel Samuel von Pufendorfs, Konrad Friedrich von Pufendorf (Reichshofrat 1770-1806),143 Johann Balthasar Ockel (Reichshofrat 1792-1806),144 der vormalige hessen-darmstädtische Regierungsrat Friedrich Christian von Gärtner (Reichshofrat 1796-1806)145 und Reichsgraf Maximilian Christoph von Degenfeld-Schomburg (Reichshof-

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Vgl. Gschließer 1970 (wie Anm. 2), S. 474. Vgl. ebd., S. 484f. Vgl. ebd., S. 487-489. Ausführlich hierzu Wahrhafte Erzählung 1788 (wie Anm. 83), passim. Vgl. Gschließer 1970 (wie Anm. 2), S. 432-434; zu Senckenberg auch Dölemeyer 1997 (wie Anm. 13), S. 103-111. Vgl. Gschließer 1970 (wie Anm. 2), S. 440f. Vgl. ebd., S. 446. Vgl. ebd., S. 463f. Vgl. ebd., S. 462f. Zu Lazarus Carl von Woelckern dem Älteren (mit Hinweisen auf die Biographie seines Sohnes) vgl. Leiser, Wolfgang: Lazarus Carl von Woelckern (1695-1761). In: Fränkische Lebensbilder. Bd. 11. Neustadt a.d. Aisch 1984, S. 163-178; Gschließer 1970 (wie Anm. 2), S. 493f. Vgl. Gschließer 1970 (wie Anm. 2), S. 498f.; Jahns 2003 (wie Anm. 95), Bd. 1, S. 406-413. Vgl. Gschließer 1970 (wie Anm. 2), S. 486. Sein 1781 berufener Nachfolger Reichsgraf Friedrich Ludwig Christian von Solms-Laubach schied dagegen bereits 1797/98 wieder aus. Vgl. ebd., S. 502. Vgl. ebd., S. 485. Vgl. ebd., S. 504f. Vgl. ebd., S. 508f.

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rat 1799-1806).146 Bei der Familie Gärtner mit ihren drei Reichshofräten könnte man geradezu von einer „Dynastiebildung“ sprechen. Martin Scheutz hat kürzlich den Wiener Hof als „Konversionsmaschine“ bezeichnet,147 und er weist, um die Funktionsweise dieser Maschine zu demonstrieren, neben den Militärs vor allem auf die Konvertiten unter den Reichshofräten hin. Namentlich führt er an: Johann Joachim von Sinzendorf (Reichshofrat 1648-1656), Gundaker Graf von Dietrichstein (Reichshofrat 1656-1657), Johann Adolf von Metsch (Reichshofrat 1699-1734), Gottlieb Amadeus Graf von Windischgrätz (Reichshofrat 1656-1657), Johann Wilhelm Graf von Wurmbrand (Reichshofrat 1697-1740, 1745-1750) sowie die schon vor der Berufung in den Reichshofrat übergetretenen Johann Friedrich von Seilern (Reichshofrat 1682-1684),148 Johann Binder von Krieglstein (Reichshofrat 1722-1731) und Anton Corfiz Graf Ulfeld (Reichshofrat 1724-1733).149 Es waren natürlich nicht nur Reichshofräte, die unter dem Einfluss und im Umkreis des Kaiserhofes ihren Glauben wechselten.150 Weitere bekannte 146 147

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Vgl. ebd., S. 509. Scheutz 2009 (wie Anm. 1), S. 213. Zu den Konvertiten im Umkreis des Kaiserhofs vgl. ebd., S. 213-216; ders.: Glaubenswechsel als Massenphänomen in der Habsburgermonarchie im 17. und 18. Jahrhundert. Konversionen bei Hof sowie die „Bekehrung“ der Namenlosen. In: Leeb/Scheutz/Weikl 2009 (wie Anm. 1), S. 431-466, insbes. S. 437-442, zu den Konvertiten unter den Reichshofräten S. 439f. Außer den im Text Genannten führt Scheutz hier noch an (den vor dem Eintritt in den Reichshofrat konvertierten) Franz Friedrich von Andlern (Reichshofrat 1661-1703), Christian von Eck und Hungersbach (Reichshofrat 1681-1693) und Heinrich Julius von Blum (bei Gschließer 1970 [wie Anm. 2] nicht als Reichshofrat genannt). Vgl. zu diesen auch Peper 2010 (wie Anm. 73), S. 93-95. Zu den Konvertiten aus dem böhmischen und österreichischen Adel vom späten 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts vgl. auch Winkelbauer 1999 (wie Anm. 103), S. 66-158. Zu Andlern vgl. auch Gschließer 1970 (wie Anm. 2), S. 284f. Der aus Ladenburg am Neckar stammende, 1682 zum Reichshofrat ernannte Johann Friedrich Adam Seilern konvertierte bereits beim Eintritt in den kaiserlichen Dienst 1676 und brachte es später zum kaiserlichen Geheimen Rat, Österreichischen Hofkanzler und zum Reichsgrafen. Vgl. Turba, Gustav: Reichsgraf Seilern aus Ladenburg am Neckar 16461715 als kurpfälzischer und österreichischer Staatsmann. Ein Lebens- und Zeitbild. Heidelberg 1923 (= Veröffentlichungen der Stadt Ladenburg), bes. S. 82f., 167; Peper 2010 (wie Anm. 73), S. 96. Vgl. Scheutz 2009 (wie Anm. 1), S. 214f.; Peper 2010 (wie Anm. 73), S. 98f. Hier könnten noch ergänzt werden Christian von Rantzau (vgl. oben, Anm. 104) sowie ein Sohn Gottlieb Amadeus von Windischgrätz’ aus zweiter Ehe, Ernst Friedrich Wilhelm, der 1694 in den Reichshofrat introduziert und 1714 zu dessen Präsident ernannt wurde. Vgl. Gschließer 1970 (wie Anm. 2), S. 326; Peper 2010 (wie Anm. 73), S. 92. Zu den Konversionen am Wiener Hof vgl. allgemein Peper 2010 (wie Anm. 73). Reingrabner, Gustav: Adel und Reformation. Beiträge zur Geschichte des protestantischen Adels im Lande unter der Enns während des 16. und 17. Jahrhunderts. Wien 1976 (= Forschungen zur Landeskunde von Niederösterreich 21), S. 75 zeichnet für den protestantischen Adel Niederösterreichs trotz der Zugeständnisse des Westfälischen Friedens geradezu die Alternative Konversion oder Emigration. Für die Zeit um 1600 vgl. ferner Winkelbauer,

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Beispiele sind der führende Minister in den letzten Jahren Karls VI., Johann Christoph von Bartenstein (1690-1767),151 der Staatsreformer Friedrich Wilhelm Graf Haugwitz (1700-1765) sowie die Kameralisten Johann Joachim Becher (1635-1682), Johann Wilhelm von Schröder (1640-1688) und Philipp Wilhelm von Hörnigk (1638-1712).152 Der Übertritt wurde von katholischer Seite mit Vorliebe auf herausgehobene Zeiten im Kirchenjahr verlegt, wie den Gründonnerstag, und öffentlichkeitswirksam inszeniert.153 Im 18. Jahrhundert war der Konversionsdruck fraglos eines der größten Probleme für das „evangelische Zion“ in Wien.154 Die Zeitgenossen kommentierten die Konversionen je nach ihrem eigenen konfessionellen Standpunkt freudig oder bedauernd, wie um 1760 etwa der dänische Gesandtschaftsprediger Chemnitz, der die zahlreichen „Religionsverleugnungen“ im Zusammenhang damit sah, dass den Protestanten „aller Weg zur Beförderung am Kaiserlichen Hofe versperrt“ sei.155 Denjenigen Protestanten, die sich zum Übertritt zum Katholizismus entschlossen, standen hingegen alle Türen am Kaiserhof offen, wie die äußerst erfolgreichen Karrieren gerade der aus den Erblanden stammenden konvertierten protestantischen Reichshofräte zeigen. Gleich einer der ersten evangelischen Reichshofräte, die noch 1648 introduziert wurden, Johann Joachim von Sinzendorf, konvertierte bereits unter Ferdinand III. Dies war die Voraussetzung dafür, dass er 1656 oder 1664 das Amt des Österreichischen Hof-

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Thomas: Karrieristen oder fromme Männer? Adelige Konvertiten in den böhmischen und österreichischen Ländern um 1600. In: Nový Mars Moravicus aneb Sborník příspěvků, jež vénovali Prof. Dr. Josefu Valkovi jeho žáci a přátelé k sedmdesátinám. Brünn 1999, S. 432451. Bei Bartenstein vermutete die ältere Literatur, dass die Konversion karrierebedingt war. Sogar Räss, Andreas: Die Convertiten seit der Reformation nach ihrem Leben und aus ihren Schriften dargestellt. Bd. 12. Nachträge 2. Freiburg i.Br. 1875, S. 508f. zitiert einige diesbezügliche Schreiben Bartensteins. Peper 2010 (wie Anm. 73), S. 101-103 gelangt jedoch zu einer anderen Einschätzung. Vgl. Peper 2010 (wie Anm. 73), S. 103-105. Aber auch einfache Menschen konvertierten in großer Zahl. Vgl. Scheutz 2009 (wie Anm. 1), S. 215f. So sind beispielsweise für den Gründonnerstag (2. April) des Jahres 1676 in der Ignatiuskirche des jesuitischen Professhauses „am Hof“ 69 Konversionen bezeugt, darunter der spätere österreichische Hofkanzler Seilern und ein ehemaliger lutherischer Prädikant. Vgl. Turba 1923 (wie Anm. 148), S. 82f. Dementsprechend leidenschaftlich pflegten die Prediger an die Treue ihrer Gemeinden zu appellieren, z.B. Chemnitz 1768 (wie Anm. 57), S. 21: „Bleibet ja eurem GOTT, eurer Religion und der Evangelischen Kirche getreu. Lasset euch durch die betrübten Exempel mancher Meineidigen, Ungetreuen und Abfälligen nicht irre machen“. Chemnitz 1761 (wie Anm. 37), S. 13, zit. nach Stubbe 1932 (wie Anm. 27), S. 269. Als weiteren Grund führt Chemnitz den Verlust Schlesiens als desjenigen Erblandes mit dem höchsten Anteil an protestantischer Bevölkerung sowie die Aufhebung einiger protestantischer Gesandtschaften, nämlich der preußischen, britischen, hannoverschen und hessenkasselschen, während des Siebenjährigen Krieges an.

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kanzlers übernehmen konnte.156 Gundaker von Dietrichstein (1623-1690) entstammte einer gemischtkonfessionellen Familie. In seiner Jugend entschiedener Protestant und in Nürnberg lebender Exulant, reiste er um 1650 nach Wien und Graz, um Vermögensangelegenheiten zu regeln, kam dort mit Jesuiten in Kontakt und trat schließlich zum Katholizismus über. Für ihn war die Berufung zum Reichshofrat (1656) nur der Beginn einer beachtlichen Karriere, die ihn über das Amt des Oberststallmeisters (1658) schließlich in die wichtige Funktion des Oberstkämmerers (1675) führte. Dafür war die Konversion fraglos ebenso eine Voraussetzung wie für die Erhebung in den Fürstenstand (1684) und die Verleihung des Ordens vom Goldenen Vlies.157 Eine der Aufsehen erregendsten Konversionen eines Reichshofrats war die des Gottlieb Amadeus von Windischgrätz. Schon Jahre vor seiner Berufung in den Reichshofrat wurde Windischgrätz die Konversion nahe gelegt, um seine Karriere zu befördern.158 Als er im Sommer 1656 die angebotene Reichshofratsstelle annahm, begründete er dies hingegen nicht nur mit dem „in mich Allergnädigst kayßerlich geßetzten vertrauen“ und „meiner eignen ehr“, sondern auch „wegen viell hundert Evangelischer Christen heyl“, sah sich also dezidiert als Sachwalter protestantischer Interessen.159 Im Lauf der 156 157

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Vgl. Gschließer 1970 (wie Anm. 2), S. 258f.; Peper 2010 (wie Anm. 73), S. 90. Dietrichsteins entschiedener Katholizismus lässt sich beispielsweise an der Gründung des Kapuzinerklosters Hollabrunn nachvollziehen, wo er auch begraben ist. Desungeachtet pflegte er den Kontakt zu seinem in Nürnberg lebenden, protestantisch gebliebenen Bruder Christian. Noch 1640 hatte er sich in das Stammbuch des Nürnberger Predigers Johann Saubert mit dem Motto eingetragen: „Malo regionem quam religionem mutare“. Vgl. Winkelbauer 1999 (wie Anm. 103), S. 144. Der Zeitpunkt der Konversion ist ungewiss, aber, wie Peper 2010 (wie Anm. 73), S. 93, Anm. 43 mit guten Gründen vermutet, wohl deutlich vor dem in der älteren Literatur genannten Jahr 1683 anzusetzen. Gottlieb von Windischgrätz an Sigmund von Birken, Trauttmansdorff, 16. November 1655. In: Birken, Sigmund von: Werke und Korrespondenz. Bd. 9: Der Briefwechsel zwischen Sigmund von Birken und Georg Philipp Harsdörffer, Johann Rist, Justus Georg Schottelius, Johann Wilhelm von Stubenberg und Gottlieb von Windischgrätz, hrsg. von Laufhütte, Hartmut. Teile 1-2. Tübingen 2007 (= Neudrucke deutscher Literaturwerke NF 53), hier Teil 1: Texte, Nr. 56, S. 357f., Zitat S. 357. Um dieselbe Zeit äußerte er sich in einer Zensurangelegenheit ausgesprochen kritisch über die „päpstischen reichshoffräthe“ (ders. an dens., Trauttmansdorff, 30. November 1655. Ebd., S. 359f., Zitat S. 360). Birken schloss aber offensichtlich schon damals eine Konversion nicht aus. Vgl. Windischgrätz 1994 (wie Anm. 64), S. 69. Dass Windischgrätz trotz seines evangelischen Bekenntnisses am Hof Fuß fassen konnte, verdankte er nicht zuletzt seinem Ruf als hervorragender Lautenist, der ihm den Weg zum Thronfolger Leopold (Ignatius) öffnete. Vgl. ebd., S. 25, 64. Vgl. auch Peper 2010 (wie Anm. 73), S. 109f. Gottlieb von Windischgrätz an Sigmund von Birken, Wien, 28. Juni 1656. In: Birken 2007 (wie Anm. 158), Bd. 9.1, S. 371. Die dezidiert protestantische Position Windischgrätz’ wurde 1663 durch seine erste Ehe mit der in Böhmen reich begüterten Calvinistin Emilia Margaretha geborener Gräfin von Holland-Brederode und verwitweter Gräfin Slawata unterstrichen, die freilich noch im selben Jahr verstarb. Seine zweite Gemahlin Maria Eleono-

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Jahre wurde es für ihn jedoch immer deutlicher, dass die Konversion zum Katholizismus die unabdingbare Voraussetzung für eine weitere Karriere in Wien war; er vollzog sie schließlich 1682.160 Das verhalf ihm zwar nicht, wie erhofft, zum Amt des Reichshofratspräsidenten, doch einige Jahre später wurde er Prinzipalkommissar am Reichstag (1684) und Reichsvizekanzler (1694).161 Äußerst erfolgreich war auch die Karriere des dem niederösterreichischen Herrenstand entstammenden, aber in Altenburg aufgewachsenen und an den Universitäten Leipzig und Utrecht ausgebildeten Grafen Johann Wilhelm von Wurmbrand-Stuppach, der 1697 auf kurbrandenburgischen Vorschlag von Leopold I. in den Reichshofrat berufen wurde. Dessen Söhne und Nachfolger Joseph I. und Karl VI. übernahmen Wurmbrand in ihre Reichshofräte, doch die Ernennung zum Reichshofratsvizepräsidenten 1722 wurde erst möglich, nachdem er mit seiner gesamten Familie konvertiert war. 1728 und erneut 1745 wurde Wurmbrand zum Reichshofratspräsidenten ernannt, nachdem er schon 1726 Sitz und Stimme im Fränkischen Reichsgrafenkollegium erhalten hatte.162 Ähnlich glänzend verlief die Karriere des aus dem Anhaltischen stammenden Freiherrn Johann Adolf von Metsch, der sich aus ansbachischen Diensten um eine Reichshofratsstelle beworben hatte. Er wurde bei seiner Aufnahme in den Reichshofrat in den Reichsfreiherrnstand (1699/1700) und weniger Jahre darauf in den Reichsgrafenstand erhoben (1703). Nach seiner 1706 erfolgten Konversion musste er allerdings noch bis 1729 warten, bis er mit der Würde des Reichshofratsvizepräsidenten die nächste Stufe in der Karriereleiter erklimmen konnte. 1734 wurde er dann zum Reichsvizekanzler ernannt und bekleidete dieses Amt bis zu seinem Tod im November 1740.163 Mehr durch informellen Einfluss profitierte von seiner 1738 erfolgten Konversion der aus einem schlesischen Geschlecht stammende, in Oettingen geborene und aus braunschweig-wolfenbüttelschen Diensten 1731 in den Reichshofrat gelangte Freiherr Georg Christian Knorr von Rosenroth, der bis 1761 in den Reichshofräten Karls VI. und Franz’ I. wirkte. Er heiratete eine

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re, Tochter des Grafen Joachim Ernst von Oettingen-Oettingen (1649-1681), die er 1665 in Nürnberg heiratete, war Lutheranerin. Windischgrätz wurde anlässlich seiner Konversion sogar mit einem Breve Papst Innozenz’ XI., Rom, 8. August 1682, abgedruckt in Räss 1875 (wie Anm. 151), Bd. 8, S. 340f. geehrt. Im folgenden Jahr ging er auch die Ehe mit einer Katholikin, Gräfin Maria Theresia von Saurau (1657-1713), ein; vgl. Peper 2010 (wie Anm. 73), S. 91f. Sie gibt den 6. Januar 1683 als Konversionsdatum an. Vgl. Gschließer 1970 (wie Anm. 2), S. 275f. Vgl. ebd., S. 335-337; Zwiedineck-Südenhorst, Hans von: Art. „Wurmbrand, Johan Wilhelm“. In: ADB. Bd. 44. Leipzig 1898, S. 335-338; Peper 2010 (wie Anm. 73), S. 96f. Vgl. Gschließer 1970 (wie Anm. 2), S. 339f.; Peper 2010 (wie Anm. 73), S. 97f.

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Stieftochter Johann Christoph von Bartensteins und galt später als die rechte Hand des Reichsvizekanzlers Colloredo.164 Ein schillernder Fall ist Michael Achatius von Kirchner, den Gschließer als „etwas dunkle Existenz“ charakterisiert: Dieser, bis dahin Konsistoriumspräsident in Sachsen-Weimar, habe bei einer Mission in Wien sein Interesse an einer Reichshofratsstelle geäußert und auf die Antwort, es sei keine evangelische Stelle frei, umgehend seine Konversion vollzogen.165 Ganz anders liest sich der Sachverhalt in der Leichenpredigt des Jesuiten Simon Wagner (1734). Wagner, der die Tugenden des Verstorbenen trotz seiner „unkatholischen“ Erziehung nicht genug loben kann, gibt an, dass die Konversion bereits Jahre zuvor in Köln erfolgt und Achatius auch als Katholik zunächst in weimarischen Diensten geblieben sei. Offensichtlich ist es Wagner wichtig, den Ruf eines Karrierekonvertiten von Kirchner abzuwenden.166 Andere, die mit der Aussicht auf eine glänzende Karriere am Kaiserhof gelockt wurden, vollzogen den Schritt über die konfessionelle Grenze nicht: Hans Wilhelm von Stubenberg (1619-1663), der hoffte zum evangelischen Reichshofrat berufen zu werden, sah seine Hoffnung getäuscht. Sollte er sich 164 165

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Vgl. Gschließer 1970 (wie Anm. 2), S. 405f.; Peper 2010 (wie Anm. 73), S. 99. Vgl. Gschließer 1970 (wie Anm. 2), S. 332f., Zitat S. 332. Gschließer weist auf Kirchners zwar gute Fähigkeiten hin, die jedoch mit mangelnden Latein- und juristischen Fachkenntnissen sowie mit einer extremen Bestechlichkeit einhergingen. Zur Bestechlichkeit Kirchners vgl. auch Sellert, Wolfgang: Richterbestechung am Reichskammergericht und am Reichshofrat. In: Battenberg, Friedrich/Ranieri, Filippo (Hrsg.): Geschichte der Zentraljustiz in Mitteleuropa. Festschrift für Bernhard Diestelkamp zum 65. Geburtstag. Köln/Weimar/Wien 1994, S. 329-348, hier S. 339f. Vgl. auch Peper 2010 (wie Anm. 73), S. 96. Vgl. Wagner, Simon: Auserlesenes Vorbild Eines in Gott vollkommenen Welt-Ministers in Ihro Excellenz Dem Hoch- und Wohl-Gebornen Herrn Herrn Michaele Achatio Des Heil. Röm. Reichs Freyherrn von Kürchnern/ Der Röm. Kays. und Cathol. Königl. Majest. Würckl. Geheimen Rath/ und bey für-währender allgemeiner Reichs-Versammlung zu Regenspurg bevollmächtigt gewesenen Hochansehenlichen Concommissario entworffen, und bey Dero Hochseeligen Leich-Begängnus in Hoher Anwesenheit Des Durchläuchtigsten Fürsten und Herrn Ferdinandi Frobenii von Fürstenberg etc. etc. Ihro Röm. Kayserl. und Cathol. Königl. Majestät bey fortwürigem Reichs-Tag Hochansehnlichisten Principalis Commissarij &c. &c. Wie auch vieler Hohen Gesandschafften In der Kirchen des Löbl. Eremiten-Ordens S. Augustini. Den 20. Julij An. 1734. Vorgestellt […]. Stadt am Hof 1735 (unpag.), zur Konversion S. [12]: „von seinem Herzog nach Cölln der ChurFürstlichen Haubt- und Residenz-Stadt in hohen Verrichtungen abgeschickt, handlet Er zuforderist das Geschäfft seiner Seelen ab, und zwar einerseits unwissend, wo Ihme die Welt fürdershin sein Unterkommen beschaffen werde, anderseits wohl sehend, daß alles bißher so häuffig angewachsene Glück in eusseriste Gefahr hinaus hange, also beyde das Glück und das Unglück, samt allem, was die Welt erbieten, oder antrohen kann, unter die Füss trettend, schwöret er in Geheim der Augspurgischen Convession und allen Irrlehren ab, und unter Anweisung des damahligen Beicht-Vatters von Ihro Durchlaucht weyland ChurFürsten von Cölln, wirfft Er sich in die Schoos der heiligen Catholischen Kirch, in welcher allein Er Tag-hell erkennet, daß Er seinem Gott gefällig leben könne“.

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hingegen der katholischen Konfession zuwenden, so wurde ihm bedeutet, würde Kaiser Leopold „seiner Accomodation eingedenk sein“. Stubenberg aber war nicht bereit, diesen Schritt zu gehen, und musste dauerhaft auf die von ihm angestrebte „Goldene Hoffessel“ verzichten.167 Etwa 100 Jahre später hielt auch Karl von Zinzendorf dem erheblichen Konversionsdruck im Hinblick auf die von ihm angestrebte Reichshofratsstelle zunächst stand. Er erlag diesem Druck nach etwa dreijährigem Widerstand am 14. März 1764 dann aber doch, als er bereits zwei Jahre in habsburgischen Diensten stand, allerdings nicht als Reichshofrat, sondern als niederösterreichischer Kommerzienrat und später Kanzleidirektor.168

Schluss Ziel dieses Beitrags war es zu zeigen, dass die protestantischen Reichshofräte ein spannender und äußerst lohnenswerter Forschungsgegenstand sind, der intensivere Studien rechtfertigen würde. Ein besonderer Reiz ergibt sich aus der nahe liegenden Verknüpfung verfassungsgeschichtlicher mit sozial- und kulturgeschichtlichen Ansätzen. Zum einen könnte so ein wichtiger Beitrag zur Behördengeschichte des Reichshofrats geleistet werden. Aufschlussreiche Erkenntnisse wären auch von der Erforschung der reichshofrätlichen Netzwerke am Hof, unter den Wiener Protestanten, unter den Evangelischen im Reich und in den Habsburger Ländern zu erwarten. Nicht zuletzt aber erscheinen kulturgeschichtliche Fragestellungen, wie die nach Fremdheits- und Grenzerfahrungen dieser konfessionellen Minderheit am Kaiserhof, weiterführend. Denn die Lage der protestantischen Reichshofräte war in mehrfacher Hinsicht eine Grenzsituation: Die weitaus meisten stammten nicht aus den habsburgischen Erblanden. Bis 1781 mussten sie, um ihren Glauben ausüben zu können, die Grenze zum Königreich Ungarn überschreiten oder eine exterritoriale Gesandtschaftskapelle aufsuchen. Obwohl für den Kaiser als Funktionsträger unentbehrlich, wegen ihrer Sachkompetenz geschätzt und ihren katholischen Kollegen formal gleichberechtigt, blieben sie aus dem engsten Zirkel der Macht und von wichtigen Teilen des Hoflebens ausgegrenzt. Die damit keineswegs ganz unsichtbare Grenze dürfte 167

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Vgl. ausführlich Bircher, Martin: Johann Wilhelm von Stubenberg (1619-1663) und sein Freundeskreis. Studien zur österreichischen Barockliteratur protestantischer Edelleute. Berlin 1968 (= Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker NF 25), S. 188-197, bes. S. 192f., Zitate S. 192f.; zusammenfassend: Scheutz 2009 (wie Anm. 20), S. 199-201; ferner Gschließer 1970 (wie Anm. 2), S. 278. 1765 erfolgte dann sein Eintritt in den Deutschen Orden. Vgl. Zinzendorf 1997 (wie Anm. 46), Einleitung S. 31-33, 37f., 41f.; Lebeau 1993 (wie Anm. 44) sowie Scheutz 2009 (wie Anm. 1), S. 215.

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den evangelischen Reichshofräten mehr oder weniger ständig präsent gewesen sein. Wem diese Situation auf die Dauer unerträglich war, blieben letztlich nur zwei Wege: dem Kaiserhof den Rücken zu kehren oder die konfessionelle Grenze zu überschreiten. Denn wer am Habsburgerhof die höchsten Ehren erreichen wollte, dem musste Wien eben doch eine Messe wert sein.

ANDREAS FRINGS

Nichtkatholiken am polnischen Hof der Wettiner Das Königreich Polen-Litauen muss in einem Abschnitt über konfessionelle „Außenseiter“ und Grenzgänger an europäischen Höfen in der Frühen Neuzeit zunächst verwundern, und das aus mehreren Gründen: Zum einen ist es fraglich, ob dem Hof des polnisch-litauischen Königs in der „Adelsrepublik“ überhaupt so viel Bedeutung zugeschrieben werden kann, dass er eine solche Betrachtung verdient, und zum anderen steht einer solchen Betrachtung sicher auch das Bild des katholischen Polen entgegen, in dem Anderskonfessionelle kaum repräsentiert sind. Gab es also überhaupt einen Hof, der in irgendeiner Hinsicht die Aufmerksamkeit nicht der Forscher, sondern auch der Zeitgenossen auf sich zog, gab es dort Grenzgänger (sei es konfessioneller Art oder im Sinne einer echten Herrschaftsgrenze), und welchen Beschränkungen unterlagen sie? Um diesen Fragen nachzugehen, wird man zunächst den schon benannten vorsichtigen Anfragen nachgehen und erklären müssen, welche Relevanz der polnisch-litauische Hof hatte und wie nichtkatholisch das Königreich Polen-Litauen in dieser Zeit überhaupt sein konnte. Die konfessionelle Situation im Königreich Polen-Litauen in der Frühen Neuzeit war einer starken Dynamik unterworfen. Das Bild des „Polak-katolik“ (ein Pole sei auch immer Katholik) hatte sich bereits seit dem 17. Jahrhundert entwickelt und avancierte im 18. Jahrhundert zu einem Teil des polnischlitauischen Autostereotyps. Tatsächlich war das Königreich Polen-Litauen im 18. Jahrhundert, also im hier betrachteten Zeitraum, ein stark katholisch geprägtes Königreich, in dem der eigentliche Regent, der polnisch-litauische Adel (vertreten durch den Reichstag, den Sejm), durchaus das Ziel einer konfessionell homogenen „Bürgerschaft“ (die auf den Adel beschränkt blieb) anstrebte. Gleichzeitig darf damit jedoch nicht die Vorstellung verbunden werden, dass Katholiken alleine das politische Feld dominierten; dass es durchaus (wenn auch wenige) Nichtkatholiken gab, die einen gewissen politischen Einfluss hatten, wird man nicht abstreiten können. Dieser Einfluss wurde ihnen jedoch gerade während der Herrschaft der beiden sächsischen Kurfürsten auf dem polnisch-litauischen Königsthron zunehmend entzogen. Eine ähnliche Antwort wird man auch zur Bedeutung des Hofes geben müssen, die eng mit der Bedeutung des Königs verbunden ist; auch König und Hof wurden in der Forschung lange unterschätzt:

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„Er [August ‚der Starke‘] umgab sich mit deutschen Beratern, verstand nichts von dem komplizierten Geflecht der polnischen Innenpolitik und verließ sich in Konfliktsituationen auf seine sächsischen Truppen und auf ausländische Hilfe. […] Unter seinem Regiment degenerierte die Adelsrepublik zu einer Karikatur, in der die Magnaten und Adelsgruppen das Chaos und die Anarchie zur Durchsetzung privater Interessen nutzten. Nun fand der Satz, dass Polen durch ‚Unordnung‘ regiert werde, seine Berechtigung (Polonia confusione regitur, Polska nierządem stoi), und die Nachbarn taten alles, dass sich daran nichts ändere, um ihre eigenen Interessen zu verfolgen“,1

so urteilte der deutsche Osteuropahistoriker Manfred Alexander 2003 und gab damit sicherlich den historiographischen common sense zur Herrschaftspraxis Augusts II. in Polen-Litauen wieder.2 „Polonia confusione regitur, Polska nierządem stoi“ – mit diesen Worten charakterisierten polnisch-litauische Adlige im 18. Jahrhundert bekanntermaßen auch selbst die Herrschaftsstrukturen ihres Königreiches. Wenn es ein politisches Zentrum gab, so dachten polnische und auch westliche Historiker lange, in dem Entscheidungen verbindlich getroffen und ihre Exekutierung später auch eingefordert werden konnte, dann war dies der Sejm, der Reichstag, der sich alle zwei Jahre spätestens traf und auf dem neben den hohen weltlichen und geistlichen Würdenträgern im Senat auch die Vertreter der Landschaften in der Landbotenkammer zusammenkamen. Dem Sejm oblag der Empfang ausländischer Gesandter und Botschafter; er war das höchste gesetzgebende und Recht schaffende Organ, und er repräsentierte die Nation, den Adel des Königreiches Polen-Litauen.3

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Alexander, Manfred: Kleine Geschichte Polens. Stuttgart 2003, S. 142. Vgl. zur Rezeptionsgeschichte der sächsischen Herrschaft auf dem polnisch-litauischen Thron kurz Staszewski, Jacek: Sachsen. In: Lawaty, Andreas/Orłowski, Hubert (Hrsg.): Deutsche und Polen. Geschichte, Kultur, Politik. München 2003, S. 166-172 und ders.: Sachsen. In: Kobylińska, Ewa u.a. (Hrsg.): Deutsche und Polen. 100 Schlüsselbegriffe. München 1992, S. 60-65. Eine ausführlichere Darstellung dieses Themas ist im Rahmen des Forschungsprojektes „Polsko-niemieckie miejsca pamięci/Deutsch-polnische Erinnerungsorte“ am Zentrum für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften zu erwarten. Dementsprechend konzentrieren sich einschlägige politikhistorische Darstellungen der polnisch-litauischen Frühen Neuzeit auch auf den Sejm; vgl. Olszewski, Henryk: Sejm rzeczypospolitej epoki oligarchii. 1652-1763. Prawo, praktyka, teoria, programy. Posen 1966; Kriegseisen, Wojciech: Sejm Rzeczypospolitej szlacheckiej (do 1763 roku). Geneza i kryzys władzy ustawodawczej. Warschau 1995; Ochmann-Staniszewska, Stefania/Staniszewski, Zdzisław: Sejm Rzeczypospolitej za panowania Jana Kazimierza Wazy. Prawo – doktryna – praktyka. Breslau 2000; Opaliński, Edward: Sejm srebrnego wieku. 1587-1652. Między głosowaniem większościowym a liberum veto. Warschau 2001. Hinzu tritt eine reichhaltige Literatur über die lokalen Landtage; vgl. zur hier behandelten Zeit etwa Przyboś, Kazimierz: Sejmik województwa krakowskiego w czasach saskich (1697-1763). Krakau 1981; Zakrzewski, Andrzej B.: Sejmiki Wielkiego Księstwa Litewskiego XVI-XVIII

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Der König war in dieser Perspektive nicht mehr als der erste Stand auf dem Sejm; er konnte zwar die Inhaber hoher Ämter ernennen, war aber ansonsten durch die Obstruktionsmöglichkeiten des hohen Adels derart in seiner Handlungsfähigkeit eingeschränkt, dass er als politisch Handelnder lange Zeit kaum ernst genommen und allenfalls als Initiator von Bemühungen wahrgenommen wurde, die Freiheiten des polnisch-litauischen Adels einzuschränken.4 Diese klassische Perspektive auf das vermeintlich parlamentarische Repräsentativorgan Sejm als eigentliches politisches Zentrum ist in den letzten Jahren zugunsten der Senatoren und des Königs aufgebrochen worden. Zum einen haben sowohl polnische als auch deutsche Historiker seit längerem die Senatoren und insbesondere den Senatorenrat genauer in den Blick genommen und dabei einen politischen Körper entdeckt, der maßgeblich Politik gestalten konnte,5 und zum anderen wurden – unter anderem im Umfeld des 300-jährigen Jubiläums des Thronantritts Augusts II. – der König und seine Bemühungen um Regieren in Polen-Litauen ernster genommen.6

                                                                                                                               

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w. Ustrój i funkcjonowanie sejmik trocki. Warschau 2000; Dybaś, Bogusław: Na obrzeçzach Rzeczypospolitej. Sejmik piltyński w latach 1617-1717. Z dziejów instytucji stanowej. Thorn 2004; Kozyrski, Robert: Sejmik szlachecki ziemi chełmskiej. 1648-1717. Lublin 2006; Naworski, Zbigniew: Sejmik generalny Prus Królewskich. 1569-1772. Organizacja i funkcjonowanie na tle systemu zgromadzen stanowych prowincji. Thorn 1992. Einen Forschungsüberblick gibt Bömelburg, Hans-Jürgen: Forschungen zur Ständegeschichte des östlichen Europa. In: Zeitenblicke 6 (2007), Nr. 2 (24.12.2007) (URL: http://www.zeitenblicke.de/2007/2/boemelburg/index_html [letzter Zugriff: 08.03.2010]). Für andere Epochen stellt sich das inzwischen etwas anders dar; vgl. z.B. Augustyniak, Urszula: Wazowie i „królowie rodacy“. Studium władzy królewskiej w Rzeczypospolitej XVII wieku. Warschau 1999 oder der Überblick bei Frost, Robert: Obsequious Disrespect. The Problem of Royal Power in the Polish-Lithuanian Commonwealth under the Vasas, 1587-1668. In: Butterwick, Richard (Hrsg.): The Polish-Lithuanian Monarchy in European Context, c. 1500-1795. Basingstoke 2001, S. 150-171. Vgl. vor allem Markiewicz, Mariusz: Rady senatu za Augusta III. In: Prace historyczne. Zeszyte naukowe Uniwersytetu Jagiellonskiego 77 (1985), S. 69-89; ders.: Rady senatorskie Augusta II (1697-1733). Breslau 1988 (= Prace Komisji Historycznej. Polska Akademia Nauk, Oddzial Kraków, Komisja Historyczna 50) und ders.: Ceremonia rad senatorskich w czasach saskich. In: ders. (Hrsg.): Theatrum ceremoniale na dworze ksiąçząt i królów Polskich. Materiały konferencji naukowej zorganizowanej przez Zamek Królewski na Wawelu i Instytut Historii Uniwersytetu Jagiellońskiego w dniach 23-25 marca 1998. Krakau 1999, S. 291-296. Eine erste Würdigung dieser Neuausrichtungen vor 1995 bei Müller, Michael G.: Polen als Adelsrepublik. Probleme der neueren verfassungsgeschichtlichen Diskussion. In: Weczerka, Hugo (Hrsg.): Stände und Landesherrschaft in Ostmitteleuropa in der frühen Neuzeit. Marburg 1995, S. 95-110. Zur Vorgeschichte des Senats vor den Wettinern Dąbrowski, Janusz S.: Senat Koronny. Stan sejmujący w czasach Jana Kazimierza. Krakau 2000 und ders.: Der Senat auf den Reichstagen (Sejms) während der Regierungszeit Johann Kasimir Wasas. In: Parliaments, Estates and Representation 26 (2006), S. 67-89. Hierzu gehören etwa die Forschungen von Jacek Staszewski (die des Jubiläums nicht bedurften): Staszewski, Jacek: August III., Kurfürst von Sachsen und König von Polen. Eine

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In diese Bemühungen reiht sich auch die folgende Skizze ein, in der es im Wesentlichen um die Bedeutung des Katholizismus bzw. des Indigenats für den polnisch-litauischen Hof und die Umgebung des Königs gehen wird. Die Ausgangslage für die folgenden Überlegungen ist jedoch auf Grund des oben Geschriebenen eher schlecht: Da der König bislang allenfalls als Störfaktor wahrgenommen wurde, wurde entsprechend auch sein Hof lange nicht in den Blick genommen. Länger als in der westeuropäischen Frühneuzeitforschung, die den Hof schon vor langem als relevanten politischen Raum, als einschlägige Bühne der politischen Inszenierung und Repräsentation erkannt hatte, war der königliche Hof in Polen-Litauen der Aufmerksamkeit der Historiker entgangen. 7 Dass der königliche Hof in Polen-Litauen, der angesichts der Doppelstruktur des Reiches im Grunde doppelt, nämlich einmal in Warschau und einmal in Grodno, existierte, und das königliche Handeln ganz allgemein bisher nicht eingehender untersucht wurde, und zwar weder für die piastischen Herrscher des 17. noch für die sächsischen des 18. Jahrhunderts, ist umso mehr zu bedauern, als die heute sogenannte Adels-Republik Polen-Litauen im Verständnis der Zeitgenossen ganz selbstverständlich als Monarchie aufgefasst wurde, als Inbegriff einer monarchia mixta mit Anteilen von Demokratie

                                                                                                                               

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Biographie. Berlin 1996 und ders.: August II Mocny. Breslau 1998. Vgl. ferner Klecker, Christine/Gumnior, Klaus (Hrsg.): Sachsen und Polen zwischen 1697 und 1765. Beiträge der wissenschaftlichen Konferenz vom 26. bis 28. Juni 1997 in Dresden. Dresden 1998; Rexheuser, Rex (Hrsg.): Die Personalunionen von Sachsen-Polen 1697-1763 und Hannover-England 1714-1837. Ein Vergleich. Wiesbaden 2005; daneben die großen Ausstellungsbände Schmidt, Werner: Unter einer Krone. Kunst und Kultur der sächsischpolnischen Union. Ausstellung im Dresdner Schloß vom 24. November 1997 bis 8. März 1998. Leipzig 1997; nicht identisch hiermit die polnische Ausgabe: Pod jedną koroną. 300lecie unii polsko-saskiej. Kultura i sztuka w czasach unii polsko-saskiej. Warschau 1997. Zur verflochtenen Ämtergeschichte zwischen Sachsen und Polen-Litauen Markiewicz, Mariusz: Politische Institutionen und Prozeduren der sächsisch-polnischen Personalunion. Das Geheime Kabinett in Sachsen und die zentralen Ämter der Rzeczpospolita in den Jahren 1717 bis 1733. In: Rexheuser 2005 (wie oben), S. 51-65. Inzwischen liegen erste Überlegungen zum Hofe und zur Inszenierung am Hofe vor. Vgl. etwa den Sammelband von Markiewicz 1999 (wie Anm. 5); zu sozialen Netzwerken um den König Markiewicz, Mariusz (Hrsg.): Faworyci i opozycjoniści. Król a elity polityczne w Rzeczypospolitej XV-XVIII wieku. Krakau 2006; zum Hof und seiner Rolle im Land vgl. Skowron, Ryszard (Hrsg.): Dwór a kraj między centrum a peryferiami władzy. Materiały konferencji naukowej, w dniach 2-5 kwietnia 2001. Krakau 2003. Auch die königliche Verwaltung erfährt inzwischen mehr Aufmerksamkeit; vgl. Chorążyczewski, Waldemar/Krawczuk, Wojciech (Hrsg.): Polska kancelaria królewska czasów nowożytnych miedzy władzą a społeczeństwem. Materiały konferencji naukowej, Toruń 18 kwietnia 2002 roku. Thorn 2003. Die erste Gesamtdarstellung, die die Könige (darunter vor allem auch die sächsischen Kurfürsten) ernster nimmt, ist der Beitrag von Michael G. Müller zu dem Gemeinschaftswerk von Jaworski, Rudolf u.a.: Eine kleine Geschichte Polens. Frankfurt a.M. 2000, S. 151-245.

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(Landbotenkammer), Aristokratie (Senat) und Monarchie (König). 8 Der König spielte hier eine weit größere Rolle als lange angenommen, und die Dominanz der oppositionellen Strömungen gegen den König, für die die polnisch-litauische Geschichte notorisch bekannt ist, dürfte eher einem Vorurteil der Forschung entsprungen sein, als dass dies die tatsächlichen Verhältnisse wiedergibt. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich nämlich, dass August II. durchaus Anhänger im polnisch-litauischen Adel hatte und sich Maßnahmen erlauben durfte, die früheren Königen nicht zugestanden worden waren. 1634 etwa hatte Władysław IV. Wasa vergeblich versucht, einen Orden zu stiften, den Orden „Zur unbefleckten Empfängnis der Heiligen Jungfrau Maria“. Der Adel hatte sich damals mit Verweis auf die Gleichheit des polnischlitauischen Adels gegen eine solche Heraushebung einzelner Adliger gewehrt und die Ordensstiftung abwehren können. Als August II. 1705 im Krieg gegen Schweden seine polnischen Anhänger belohnen wollte, stiftete er den Orden vom Weißen Adler, den er im gleichen Jahr an vier polnische Magnaten, drei russische Feldmarschälle und einen Kosakenataman (Ivan Mazepa) vergab. Bis 1733 wurde der Orden vierzig Mal vergeben, darunter an so berühmte polnische und litauische Adlige wie Jan Klemens Branicki, Karol Stanisław Radziwiłł, Hieronim Lubomirski, Michał Kazimierz Ogiński, Ignacy Krasicki, Stanisław Kostka Potocki und Stanisław Małachowski, mithin an Mitglieder der reichsten und ältesten Adelsfamilien. Ernsthafter Widerstand gegen diesen Orden, der an polnische wie auch an ausländische, an katholische wie auch an orthodoxe oder protestantische Adlige vergeben werden konnte, regte sich nicht. 9 Vor allem in formaler Hinsicht war die Position des Königs in PolenLitauen jedoch schwächer als in anderen europäischen Herrschaften. Der König berief zwar den Sejm ein, legte die Tagesordnung fest, war dessen zeremonieller Mittelpunkt und verkündete dessen Beschlüsse. 10 Er vergab die

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Einen ersten Überblick über Polen-Litauen als Monarchie gibt der Sammelband von Butterwick 2001 (wie Anm. 4). Unter August III. wurde dieses Instrument dann inflationär, um nicht zu sagen: kommerziell eingesetzt; in den 30 Jahren seiner Herrschaft wurde der Orden über 300 Mal vergeben. Zur Geschichte des Ordens vom Weißen Adler vgl. Za ojczyznę i naród. 300 lat Orderu Orła Białego. Wystawa w Zamku Królewskim w Warszawie 9 listopada 2005-31 stycznia 2006. Warschau 2005. Dafür, dass die Rolle und der Einfluss des Königs im Sejm nicht unterschätzt werden sollten, argumentierte zuletzt mit neueren kulturhistorischen Überlegungen Bömelburg, HansJürgen: Symbolische Kommunikation auf dem Sejm in der Krise (1649-1668). Zeremonielle und instrumentelle Akte in Krieg und Bürgerkrieg. In: Neu, Tim u.a. (Hrsg.): Zelebrieren und Verhandeln. Zur Praxis ständischer Institutionen im frühneuzeitlichen Europa. Münster 2009 (= Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 27), S. 2135.

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doppelt zu besetzenden hohen Staatsämter, d.h. die Ämter des Großkanzlers, des Unterkanzlers, des Großmarschalls, des Hofmarschalls, des Großschatzmeisters, des Hofschatzmeisters, des Großhetmans und des Feldhetmans, sowie der Wojewoden, der Kastellane und der Kämmerer usw. Im Gegensatz zu vielen anderen europäischen Ländern wurden all diese Ämter auf Lebenszeit vergeben und konnten durch den König auch nicht mehr entzogen werden; die Amtsinhaber waren nur noch gegenüber dem Sejm rechenschaftspflichtig und nur noch durch den Sejm vorzeitig aus ihrem Amt zu entfernen. Das heißt, es handelte sich bei den meisten klassischen Hofämtern in PolenLitauen um Staatsämter, um Ämter, die nicht am königlichen Hof, sondern im Staatsapparat verankert waren, deren Finanzierung staatlich geregelt wurde und deren Zahl rechtlich definiert und unveränderbar war. 11 Mehr noch: Bei der Besetzung der Ämter war der König keineswegs völlig frei. Im Warschauer Traktat von November 1716, der auf dem „Stummen Sejm“ 1717 verabschiedet worden war, verpflichtete sich der König, keine Ausländer und keine „Dissidenten“ 12 in königliche Ämter zu befördern. Andererseits wurde ihm die freie Verfügung über seine Krongüter zugestanden. Wichtiger noch als die Frage der Beförderung von Ausländern oder Dissidenten in königliche Ämter war jedoch die Frage der sächsischen Truppen. Artikel 2, § 1 regelte klar: „Als grundlegendes Fundament dieses beständigen und unverletzlichen Friedens hat Ihre Heilige Königliche Majestät aus Liebe und Verpflichtung gegenüber dem

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Eine Übersicht über die Ämter und ihre Inhaber in Polen-Litauen geben die 11 Bände der Reihe: Urzędnicy dawnej rzeczypospolitej XII-XVIII wieku. Spisy, hrsg. von Gąsiorowski, Antoni (Breslau o. Kórnik 1983-1998). Der Begriff „Dissidenten“, der im Kontext der Warschauer Konföderation von 1573 noch alle Adligen umfasst hatte, die in Glaubensfragen miteinander uneins waren (hierzu gehörten also Katholiken, Lutheraner, Calvinisten, Böhmische Brüder oder auch Orthodoxe), hatte seine Bedeutung bis zum 18. Jahrhundert deutlich gewandelt. Im 17. Jahrhundert fielen bereits alle „radikalen“ Gruppierungen (z.B. Antitrinitarier, Sozinianer u.a.) aus dem durch die Warschauer Konföderation garantierten Schutz der Glaubensfreiheit heraus (1658 verabschiedete der Sejm einen Erlass, demzufolge alle Antitrinitarier aus dem Königreich Polen-Litauen verbannt wurden); und im 18. Jahrhundert wurde der Terminus „Dissidenten“ nur noch für all jene gemäßigten Christen verwendet, die mit den römischen Katholiken uneins waren (d.h. Lutheraner, Calvinisten), das römisch-katholische Bekenntnis somit zum Normalfall erklärt. Bereits 1668 war die Apostasie aus dem römischkatholischen Bekenntnis vom Sejm verboten worden; mit dieser Bestimmung wurden dem Praktizieren der lutheranischen und calvinistischen Bekennntnisse, wenn auch regional unterschiedlich stark, zunehmend mehr Hindernisse in den Weg gelegt. Vgl. Kriegseisen, Wojciech: Between intolerance and persecution. Polish and Lithuanian protestants in the 18th century. In: Acta Poloniae Historica 73 (1996), S. 13-27. Zur rechtlichen Lage der Protestanten in Polen-Litauen auch Salmonowicz, Stanisław: O sytuacji prawnej protestantów w Polsce, XVI-XVIII w. In: Czasopismo Prawno-Historyczne 26 (1974), H. 1, S. 159173.

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Gesetz beschlossen, dass Sie gewiss um eines wechselseitigen Wohlwollens und bedachter Treue mit allen Ständen der Republik willen alle seine Sächsischen Truppen und Regimenter aus den Ländern der Krone, des Großfürstentums Litauen und aller Provinzen der Krone und des Großfürstentums Litauen […] über die Grenzen der Republik hinausführen wird, dass Sie dies mit der vorliegenden Entscheidung öffentlich versichert und verspricht, und Sie verpflichtet sich hiermit auch, dass Sie niemals wieder von jetzt an Truppen, weder Sächsische, noch die anderer Bündnispartner, auch nicht unter dem Titel einer unvermeidlichen Notwendigkeit, und auch nicht auf Erlaubnis durch den Senatorenrat, und nicht durch welchen anderen Vorwand auch immer, den man sich ausdenken könnte, zurück in die Länder der Krone und des Großfürstentums Litauen und in die Provinzen, die zu ihnen gehören, führen wird.“ 13

In Artikel 1, § 5 erklärte der König: „[…] um jeden falschen Verdacht zu vermeiden, wird Sie [Ihre Heilige Königliche Majestät] auch gleichzeitig mit den Truppen Ihrer Heiligen Königlichen Majestät alle Personen aus dem Land führen und entfernen, mit Ausnahme jedoch der zweifellos notwendigen Sächsischen Kanzlei, darunter vor allem von sechs Personen aus dem Sächsischen Volk, die Ihre Heilige Königliche Majestät frei wird mit sich führen dürfen, und auch mit Ausnahme von Personen niederen Standes für kleinere gehörige Dienste. Diese […] Personen sollen sich unter keinen Umständen in die Räte und Leitungen der Heere der Republik, der Ökonomien, der Salzbergwerke oder des Zolls […] gemäß der Beschreibungen der Pacta Conventa einmischen.“ 14

Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durfte der polnisch-litauische König somit keine Personen von unsicherer Adligkeit, Ausländer oder „Dissidenten“ in Staatsämter befördern. Das galt auch für alle höheren und die meisten mittleren Ämter am königlichen Hof im engeren Sinne. Der Senatorenrat und alle Ämter, die die Mitgliedschaft im Senat mit sich brachten, entwickelten sich so zu einem Monopol der katholischen, polnisch-litauischen Adligen. Selbst königliche Landgüter konnte der König nur noch an katholische, polnisch-litauische Adlige vergeben. 15 1733 bzw. 1736 verloren die nichtkatholischen Adligen auch das Stimmrecht in der Landbotenkammer

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Volumina Legum. Przedruk zbioru praw staraniem XX. pijarow w Warszawie od roku 1732 do roku 1782 wydanego. Band 6: Ab anno 1697 ad annum 1736. St. Petersburg 1860, S. 115f. Ebd., S. 116f. Das betrifft jedoch nicht die bereits angesprochene freie Verfügung des Königs über seine eigenen königlichen Landgüter, für deren Bewirtschaftung er auch Ausländer oder Dissidenten einsetzen durfte; lediglich die Vergabe an Adlige war in diesem Sinne auf polnischlitauische, katholische Adlige eingeschränkt.

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sowie in gewählten Tribunalen und Kommissionen. 16 1740 wurden die letzten protestantischen Adligen formal aus dem Sejm und dem Krontribunal ausgeschlossen. Da sich das katholische Bekenntnis somit faktisch zum Schlüssel für alle relevanten Karrierewege und Einkommensoptionen in Polen-Litauen entwickelte, wuchs auch die Sensibilität für möglicherweise oberflächliche oder strategische Konversionen zum Katholizismus. Als Jan Jerzy Przebendowski, 17 Ehemann der Schwester des Feldmarschalls Jacob Heinrich von Flemming, polnischer Kronschatzmeister und enger Vertrauter König Augusts II., 1726 in einer Senatssitzung antiprotestantische Stimmungen zu besänftigen suchte und um mehr Verständnis für die Thorner Lutheraner warb (der Thorner Tumult war erst zwei Jahre her), wurde er sogleich beschuldigt, ein falscher Katholik oder gar von Protestanten bestochen zu sein. Tatsächlich war Przebendowski als junger Mann Protestant gewesen; das war allerdings schon Jahrzehnte her. Vermutlich kam hier jedoch zudem das Misstrauen gegen einen der engsten Vertrauten des sächsischen Kurfürsten und polnisch-litauischen Königs zum Ausdruck, das in die Sprache des konfessionellen Misstrauens gekleidet wurde. Neben den Staatsämtern gab es jedoch auch Hofämter im engeren Sinne, Ämter also, die nicht nur vom König besetzt wurden, sondern auch dem königlichen Hof (und nicht dem Staat) zugerechnet wurden und deren Inhaber auch vom König ihren Lohn empfingen. Zu ihnen gehörten der Küchenmeister, die Kellner, der Tranchiermeister, der Königliche Mundschenk, Hofämter also, die vor allem dem Zeremoniell dienten, daneben ursprünglich militärische Ämter, wie der Standartenträger und der Hofstandartenträger, der Schwertträger, der Stallmeister, der Jagdmeister und der Jagdhofmeister, sowie Ämter zur Verwaltung des königlichen Hofes, wie der Großsekretär, der Hofschatzmeister und der litauische Schatzmeister, der Königliche Kammerherr, die Regenten der Königlichen Kanzlei, die Archivare und die Gerichtsschreiber des Königlichen Gerichtes.

                                                         16 17

Der letzte calvinistische Landbote, Andrzej Piotrowski, war 1718 vom Sejm ausgeschlossen worden. Vgl. Müller, Michael G.: Toleration in Eastern Europe. The Dissident question in eighteenth-century Poland-Lithuania. In: Grell, Ole Peter/Porter, Roy (Hrsg.): Toleration in enlightenment Europe. Cambridge u.a. 2000, S. 212-229, hier S. 223. Allgemein zu Przebendowski vgl. Perłakowski, Adam: Jan Jerzy Przebendowski jako podskarbi wielki koronny (1703-1729). Studium funkcjonowania ministerium. Krakau 2004; ders.: Jan Jerzy Przebendowski jako „człowiek interesu“ w Rzeczypospolitej w początkach XVIII wieku. In: Achremczyk, Stanisław (Hrsg.): Między barokiem a oświeceniem. Bd. 5: Sarmacki konterfekt. Olsztyn 2002, S. 186-198; Markiewicz, Mariusz/Sowa, Andrzej: Przebendowski, Jan Jerzy (1639-1729). In. Polski Słownik Biograficzny. Bd. 28. Breslau u.a. 1985, S. 649658.

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Während der König mit der Vergabe eines Staatsamtes also unter Umständen eine nur temporäre Loyalität erkaufen konnte und hier an Auflagen gebunden war, konnte er zumindest niedere und teilweise auch mittlere Hofämter auch an Nicht-Polen oder Nichtkatholiken vergeben oder junge polnische Adlige aus weniger begüterten Familien protegieren und befördern, um so mit der Zeit eine alternative politische Elite herauszubilden. 18 Die Abhängigkeit vom König blieb in Hofämtern bestehen, was den König im Hinblick auf die Magnaten zu einem ebenbürtigen Konkurrenten im Wettbewerb um die Klientel machte. Auch konnte der König die rechtlich nicht definierte Zahl der Hofämter jederzeit verändern, solange er finanziell in der Lage war, diese Ämter auch zu entlohnen. Der polnisch-litauische Königshof war jedoch nicht, wie Heinz Schilling dies für andere europäische Höfe herausarbeitete, eine „administrative Schaltstelle, in der ein Heer von Bürokraten tätig war“, 19 oder eine „erbarmungslos realistische Arena, in der sich politische Programme durchzusetzen und zu behaupten hatten und wo um Einfluss und Ansehen gerungen wurde zwischen den inländischen Großen und ihren Hofparteien sowie zwischen den Gesandten und Diplomaten auswärtiger Mächte, die den König und seine Entourage zu einer für ihre jeweiligen Staaten vorteilhaften Außenpolitik bewegen wollten“. 20 Dies dürfte eher für den Sejm sowie für den Senatorenrat gegolten haben, teilweise auch für die magnatischen Höfe im Lande. Im Hinblick auf die hier grundlegende Frage nach Ausländern und Anderskonfessionellen am königlichen Hofe oder in der Umgebung des Königs müsste man also die Fragen etwas anders stellen. Unterstellt man, dass die Wettiner offensichtlich nach der Umwandlung der Personal- in eine Realunion strebten oder zumindest eine Verstetigung der Beziehungen, mithin eine „kalte“ oder faktische Realunion, anstrebten, müsste vielmehr danach geschaut werden, inwiefern der König Beziehungen zwischen den adligen Un-

                                                         18

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Gleichzeitig galt für die Hofämter nicht das sonst für Staatsämter geltende Prinzip der incompatibilitas, also der Unvereinbarkeit zweier Ämter zur gleichen Zeit. Insofern konnte der König Adlige, die ihre Loyalität im Staatsamt erwiesen hatten, mit einem Ehrentitel in den Hofämtern belohnen. Schilling, Heinz: Höfe und Allianzen. Deutschland 1648-1763. Berlin 1989, S. 22. Ebd. Die Vermutung, dass der polnisch-litauische Hof nicht die Funktion anderer Höfe hatte, ließe sich auch auf andere Konzeptualisierungen des Hofes übertragen; vgl. etwa die aus meiner Sicht durchaus fruchtbaren und bisher auch für andere Höfe noch kaum diskutierten Überlegungen Ulf Christian Ewerts, die jedoch für den polnisch-litauischen Hof wegen der fehlenden Zentralität dieses Hofes in der Sozialordnung des Reiches modifiziert werden müssten: Ewert, Ulf Christian: Sozialer Tausch bei Hofe. Eine Skizze des Erklärungspotentials der Neuen Institutionenökonomik. In: Butz, Reinhard u.a. (Hrsg.): Hof und Theorie. Annäherungen an ein historisches Phänomen. Köln u.a. 2004, S. 55-75.

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tertanen beider Herrschaftsgebiete förderte oder initiierte.21 Tatsächlich lassen sich verschiedene Formen der grenzüberschreitenden Verflechtung beobachten, die zumindest ein Indiz für eine entsprechende königliche Agenda bilden. Dazu gehört zum Beispiel der Erwerb des polnischen Indigenats22 durch den evangelischen Grafen Jacob Heinrich von Flemming, der 1697 von Friedrich August I. zum sächsischen Gesandten in Polen-Litauen ernannt wurde und dort die Wahl Augusts zum König vorantrieb. Er sprach fließend Polnisch und war auch familiär in Polen verwurzelt. Auch Graf Heinrich von Brühl und Graf Ernst Christoph Manteuffel, der eine zum Katholizismus konvertiert, der andere evangelisch, erwarben das Indigenat. Umgekehrt förderten die Wettiner die Ausbildung junger polnischlitauischer Adliger am sächsischen Hof, z.B. im Kadettenkorps und im Pagendienst, aber auch durch längere Aufenthalte in Dresden. Zu den Adligen, die hiervon Gebrauch machten, gehörte zum Beispiel Aleksander Józef Sułkowski. Er hatte schon als Page am Dresdner Hof Freundschaft mit dem Kurprinzen Friedrich August geschlossen. Auch Jan Jerzy Przebendowski, zwischen 1703 und 1729 Großkronschatzmeister, und Jan Kanty Moszyński, sein Nachfolger zwischen 1735 und 1737 und zuvor schon Ehemann von Friederike Alexandra von Cosel (1709-1784), hatten jeweils längere Zeit am Dresdner Hof verbracht. Am kleinen Hof gab es unter beiden Wettinern zahlreiche polnische Hofdamen und Erzieher. Auch die Tatsache, dass unter den Mätressen Augusts II. mit Urszula Katarzyna Bokum (Ursula Katharina von Altenbockum, Tochter des litauischen Truchsessen Johann Heinrich von

                                                         21

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Vor allem polnische Historiker haben lange nach Hinweisen gesucht, dass schon August II. eine formelle Realunion der beiden Herrschaftsgebiete anstrebte. Es ist jedoch denkbar, dass August II. und sein Sohn in anderen, salopp gesprochen: dynastischen Zeiträumen dachten. Auch der polnisch-litauischen Realunion von 1569 (Union von Lublin) war eine fast zwei Jahrhunderte währende Personalunion vorausgegangen, die sich auf verschiedene Rechtsakte stützte und immer wieder der Erneuerung bedurfte. Mit diesem Erfahrungshintergrund war auch eine Verstetigung der sächsisch-polnisch-litauischen Personalunion denkbar, die dann zu einem besser geeigneten Zeitpunkt in eine Realunion hätte münden können. Daran, dass zumindest diese Verstetigung angestrebt wurde, dürfte kein Zweifel bestehen, und die gezielte, grenzübergreifende Vernetzung sozialer Gruppen in Sachsen und in Polen-Litauen war sicher ein wichtiger Baustein dieses Programms, der bisher nur unzureichend beleuchtet wurde. Mir scheint, dass die Biographien von Jacek Staszewski bereits in diese Richtung deuten; vgl. Staszewski 1996 (wie Anm. 6); Staszewski 1998 (wie Anm. 6). Neben der Vernetzung der sozialen Gruppen wäre etwa auch der Aufbau Grodnos zu einem zweiten Zentrum neben Warschau zu nennen, das möglicherweise der Akzeptanz des Königs im litauischen Adel dienen sollte, ein Phänomen, das bisher kaum Beachtung gefunden hat; zur Entwicklung Grodnos zu einem echten politischen Zentrum vgl. zuletzt Gordziejew, Jerzy: Urzędnicy nadworni i dworscy litewscy w Grodnie w XVIII wieku. In: Skowron 2003 (wie Anm. 7), S. 571-583. Seit 1641 wurde das Indigenat vom polnisch-litauischen Sejm erteilt; der König hatte sein Mitspracherecht verloren.

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Altenbockum) und Marianna Bielińska Lubomirska Denhoff (Tochter des Großkronmarschalls Kazimierz Ludwik Bieliński) zwei polnisch-litauische Adlige waren, dürfte nicht nur deren äußerem Erscheinungsbild geschuldet sein. Selbst seine eigenen illegitimen Töchter verheiratete August mit polnischen Adligen; Katharina von Rutowski z.B. heiratete Graf Michał Bieliński, Friederike Alexandra den polnischen Kronschatzmeister Jan Kanty Moszyński. Machten die Könige aber auch von der Möglichkeit Gebrauch, Nichtkatholiken gezielt an ihrem eigenen polnischen Hof einzusetzen, um so die Beschränkungen der Ämterbesetzung bei den hohen Staatsämtern zu umgehen? Konnten sie dies überhaupt, ohne damit gleichzeitig ihre eigene Glaubwürdigkeit aufs Spiel zu setzen, da sie doch beide erst in der Vorbereitung auf den polnisch-litauischen Thron vom lutheranischen Bekenntnis zum Katholizismus übergetreten waren? Beispiele hierfür gibt es jedenfalls; so war etwa der enge Vertraute Augusts II., der Protestant Jacob Heinrich von Flemming, Großstallmeister des Großherzogtums Litauen und Generalfeldzeugmeister der Krone Polen. Er hatte jedoch vorher auf Grund seiner pommerschen Herkunft und weit verzweigten Verwandtschaften in Polen-Litauen das polnische Indigenat erlangt und zuerst die Gräfin Franziska Sapieha, später die Tochter des litauischen Großkanzlers Thekla Radziwiłł geheiratet, war also in Litauen bestens vernetzt. Heinrich von Brühl, der in Polen zum Katholizismus konvertierte, erlangte selbst kein polnisches Hof- oder Staatsamt, wohl aber das Indigenat, so dass sein Sohn Aloysius Friedrich von Brühl 1750 Starost von Warschau, 1758 Krongeneralfeldzeugmeister und 1761 Hofmundschenk werden konnte. Seine Tochter Maria Amalia von Brühl heirate 1750 den polnischen Adligen Jerzy August Mniszech, der zum Aufbau einer Hofkamarilla auserkoren worden war. Auch der evangelische Graf Ernst Christoph Manteuffel, ebenfalls mit dem polnischen Indigenat ausgestattet, hatte zumindest ein Amt, das des königlichen Starosten von Nowodwór, inne. Es gelang jedoch weder August II. noch August III., enge Vertraute in bedeutendere Ämter zu hieven, und möglicherweise strebten sie dies auch gar nicht an; offenbar konnten sich diese nur in der lokalen Öffentlichkeit einer kleineren Landschaft und mit Hilfe verwandtschaftlicher Beziehungen etablieren oder in das Indigenat einkaufen. Dass die polnisch-litauischen Adligen darauf achteten, dass kein protestantischer oder nichtpolnischer Adliger in hohe Staats- und Hofämter aufsteigen konnte, hatte sicher auch konfessionelle Gründe. 23 Prägend hierfür waren

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Man wird nicht in das alte Klischee zurückfallen dürfen, das Polen-Litauen, der älteren preußischen Historiographie folgend, als fundamentalistisch katholisches Land mit radikalen und repressiven anti-protestantischen Maßnahmenpaketen charakterisiert. Gegen ein solches Bild zuletzt Müller, Michael G.: Anmerkungen zur Diskussion über religiöse Tole-

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sicher die Erfahrungen aus den Kriegen des 17. Jahrhunderts gegen die nichtkatholischen Mächte Schweden, Russland, das Osmanische Reich oder auch die Kosaken sowie der Große Nordische Krieg, aber auch die Sorge vor einer Realunion mit dem bekanntermaßen protestantischen Kurfürstentum Sachsen. Dieser Erfahrungshintergrund musste den polnisch-litauischen Adel gegen einen König aus dem Kurfürstentum Sachsen, das immerhin seit 1653 das Direktorium des Corpus Evangelicorum innehatte, misstrauisch stimmen. Andererseits galt gerade die Bekehrung des Kurfürsten August II. zum Katholizismus im Vorfeld der Königswahl als Sieg des polnisch-litauischen Königreiches, mit dem auch erstmals eine Art päpstlicher Vertretung in einer protestantischen Herrschaft möglich wurde (der Nuntius in Polen-Litauen begleitete den König und Kurfürsten regelmäßig auch nach Sachsen), und die Bekehrung seines Sohnes gegen massive Widerstände aus ganz Europa sowie seine Verheiratung mit einer katholischen Habsburgerin 24 weckten erst recht den Stolz des polnisch-litauischen Adels. Hinzu kommt, dass sich der wichtigste Widersacher Augusts II., der Gegenkönig Stanislaus I. Leszczyński (1704-1709; 1733-1736), im Nordischen Krieg gerade auf die Seite des protestantischen Schweden geschlagen hatte und somit nicht als katholische Alternative zu August II. oder August III. inszeniert werden konnte. Vielmehr lässt sich zeigen, dass die beiden sächsischen Herrscher auf dem polnisch-litauischen Thron umgekehrt recht erfolgreich darin waren, sich als katholische Herrscher ins Bild zu setzen. Besonders auffällig ist dies an der damals wohl am weitesten verbreiteten Darstellung Augusts III. zu sehen, die ursprünglich von Louis de Silvestre (1675-1760) stammte und viele Nachahmungen, auch in anderen Kunstformen (etwa als Porzellanfigur), fand. August III. wurde hier als Sarmate dargestellt, mit polnischer Frisur und gekleidet in einen roten Kontusz, die etablierte männliche Bekleidung des polnischlitauischen Adels, wenn er sich sarmatisch inszenieren wollte. Auch wenn die sarmatische Kleidung in dieser Zeit bereits im Rückgang begriffen war und ein westeuropäisches Erscheinungsbild an Boden gewann, wurde August III. in diesem Aufzug klar als Pole mit allen Assoziationen des Sarmatismus

                                                                                                                               

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ranz und Dissidentenfrage in Polen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Kwartalnik Neofilologiczny 45 (1998), H. 4, S. 417-426, hier S. 426, sowie Müller 2000 (wie Anm. 17). Allgemein zu den Protestanten in Polen-Litauen in dieser Zeit vgl. Kriegseisen, Wojciech: Ewangelicy polscy i litewscy w epoce saskiej (1696-1763). Sytuacja prawna, organizacja i stosunki międzywyznaniowe. Warschau 1996 sowie der klassische Aufsatz von Feldman, Józef: Sprawa dysydencka za Augusta II. In: Reformacja w Polsce 3 (1924), S. 89116. Vgl. zuletzt Chomicki, Grzegorz: Dyplomatyczne reperkusje konwersji Królewicza Fryderyka Augusta w świetle raportów posłów brytyjskich. In: Kazmierczyk, Adam u.a. (Hrsg.): Rzeczpospolita wielu wyznań. Materiały z międzynarodowej konferencji, Kraków, 18-20 listopada 2002. Krakau 2004, S. 525-540.

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wahrgenommen und erkannt, und dies gerade deshalb, weil diese Kleidung zunehmend auf festliche Gelegenheiten beschränkt war. August III. knüpfte hier zudem direkt an eine Bildsprache an, in der sich der polnisch-litauische Adel vor allem in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts eben im roten Kontusz hatte malen lassen. 25 Vom „normalen“ polnisch-litauischen Sarmaten unterschied er sich in dieser Darstellung vor allem durch den Orden vom Goldenen Vlies, den Orden vom Weißen Adler und die königlich polnischlitauischen Insignien. Es waren deshalb wohl eher schlichtweg ökonomische Schwierigkeiten, die den polnisch-litauischen Adel gegen eine inflationäre Vergabe des Heimatrechtes und gegen eine königliche Ämtervergabe an Ausländer und Anderskonfessionelle in Stellung brachte. Für den ohnehin sehr zahlreichen polnisch-litauischen Adel (man geht inzwischen von 6-8% der Bevölkerung aus, regional waren es aber deutlich mehr) war der Familienbesitz in aller Regel nicht ausreichend, um innerhalb der eigenen Familie ein einmal erreichtes Wohlstandsniveau zu halten. Der Kampf um einträgliche Ämter und Ländereien, der mit dem Ringen um die Gunst des Königs einherging, war dementsprechend hart. 26 Auch Ämter am königlichen Hofe zählten zu den begehrten Quellen zusätzlichen Einkommens. Der polnisch-litauische Adel hatte daher ein großes Interesse daran, den Zugang zu diesen Ressourcen einzuschränken und gerade nicht ausländischen Interessenten zu ermöglichen. Zudem hatte er auch die rechtlichen Mittel, dem König diese Einschränkungen in Form der Reichstagskonstitutionen aufzuerlegen, zumindest im Hinblick auf die hohen Staats- und Hofämter. Dass sowohl August II. als auch August III. bestrebt waren, dennoch sächsische Berater mit sich zu führen, führte wiederholt zu Protesten bis hin zu bewaffneten Konföderationen, denen beide wiederholt nachgeben mussten. 27

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Ähnliche Bilder gibt es von Aleksander Benedykt Sobieski (1677-1714, Sohn von Jan III. Sobieski, gemalt in den 1690er Jahren von Jan Kupecký), von Jan II. Kazimierz Wasa (1609-1672, König von Polen-Litauen, gemalt ca. 1649 von Daniel Schultz), von Mikołaj Hieronim Sieniawski (1645-1683, Feldhetman der polnischen Krone und Wojewode) oder von Stanislaw Antoni Szczuka (1652/1654-1710, seit 1699 Unterkanzler und zweifacher Sejmmarschall). Zu dieser ökonomischen Perspektive auf den polnisch-litauischen Adel vgl. Frost, Robert: The Nobility of Poland-Lithuania, 1569-1795. In: Scott, Hamish M. (Hrsg.): The European nobilities in the seventeenth and eighteenth centuries. London 1995, S. 183-222. Zu den Konföderationen im 18. Jahrhundert allgemein, die bis dato vor allem als Organisationsform des Widerstands gegen den König betrachtet wurden, hat vor allem Wojciech Stanek eine neue Perspektive vorgelegt, die sie vor allem als in der Verfassung etabliertes Instrument der politischen Organisation des Adels in Krisenzeiten ansieht, an dem auch der König teilhaben konnte (und nicht selten auch tatsächlich teilnahm). Vgl. Stanek, Wojciech: Konfederacje generalne koronne w XVIII wieku. Thorn 1991. Hier sind jedoch tatsächlich die gegen August II. und August III. gerichteten Konföderationen angesprochen,

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Louis de Silvestre: König August III. von Polen (ca. 1737), gemalt für den Festsaal im Brühlschen Palais. (Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister, Gal.-Nr. 3951, aus: Schmidt 1997 [wie Anm. 6], S. 294).

                                                                                                                                etwa die Konföderation von Warschau von 1704 (gegen die dann die für König August II. organisierte Konföderation von Sandomierz gebildet wurde), die Konföderation von Tarnogród (1715-1716) oder die Konföderation von Dzików (1734). Bei August II. führte dies zu den weitreichenden Zugeständnissen im Stummen Sejm. Vgl. aber gerade den in dieser Hinsicht interessanten Aufsatz über die Konföderation von Warschau zur Unterstützung Augusts III. von Szklarska, Ewa: Od centrum ku peryferiom. Konfederacja warszawska jako narzędzie legitymacji władzy Augusta III. In: Skowron 2003 (wie Anm. 7), S. 509-519.

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Möglicherweise schränkten die genannten konfessionellen Rahmenbedingungen der polnisch-litauischen Königsherrschaft der beiden sächsischen Kurfürsten ihre Möglichkeiten zum eigenständigen Aufbau einer königlichen Klientel stark ein. Während der König andernorts das Zentrum klientelärer Netzwerke war und seine Macht auch daraus bezog, dass er Gunst erweisen oder auch versagen und damit klienteläre Netzwerke auch in größerer Entfernung zum König ins Wanken bringen konnte, war der König in PolenLitauen mit Sicherheit nicht der oberste und zentrale Patron, das Zentrum aller anderen, im Idealfall konzentrisch um den König gewachsenen Netzwerke. Er war vielmehr nur ein Patron unter vielen, ein Anbieter auf dem Gunstmarkt, der mit reichen Magnaten um Klienten wetteifern musste. Im Gegensatz zu den Magnaten war er jedoch nicht regional verwurzelt; die Möglichkeit, den lokalen Adel durch Karrierechancen, insbesondere durch Tätigkeiten auf Landtagen und auf den magnatischen Gütern an sich zu binden, fehlte ihm. 28 Insofern war er gezwungen, Rücksichten zu nehmen, auch konfessioneller Art. 29 Die Gruppe anderskonfessioneller oder ausländischer

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Zur adligen Klientelbildung im regionalen Maßstab in Polen-Litauen gibt es reichlich Literatur. Vgl. etwa Kuras, Katarzyna: Świat współpracowników Augusta Czartoryskiego. Problemy badawcze. In: Łopatecki, Karoł/Walczak, Wojciech (Hrsg.): Nad społeczeństwem staropolskim. Tom. 1: Kultura – Institucje – Godpodarka w XVI-XVIII stuleciu. Białystok 2007, S. 157-168; Zielińska, Zofia: Magnaten und Adel im politischen Landleben Polen-Litauens des 18. Jahrhunderts. In: Mączak, Antoni (Hrsg.): Klientelsysteme im Europa der Frühen Neuzeit. München 1988 (= Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 9), S. 203-210. Einen in diesem Zusammenhang interessanten Versuch, die Entstehung neuer Landämter mit den individuellen Karrierechancen junger Adliger zu verbinden, stellt dar: Czeppe, Maria: „Tytularne“ urzędy ziemskie w czasach Augusta III. In: Kwartalnik Historyczny 106 (1999), H. 3, S. 77-88. Vorreiter der Klientelforschung zu Polen-Litauen und immer noch wegweisend waren die Arbeiten von Antoni Mączak; vgl. ders.: Die höfische Gesellschaft im Polen-Litauen des 18. Jahrhunderts. In: Peters, Jan/Lubinski, Axel (Hrsg.): Gutsherrschaftsgesellschaften im europäischen Vergleich. Berlin 1997, S. 275-281; ders.: Klientela. Nieformalne systemy władzy w Polsce i Europie XVI-XVIII w. 2. Aufl., Warschau 2000; ders.: Ungleiche Freundschaft. Klientelbeziehungen von der Antike bis zur Gegenwart. Osnabrück 2005 (= Klio in Polen 7). Vgl. etwa Palkij, Henryk: Polityka rozdawnicza Augusta II z perspektywy kancelarii Jana Szembeka. Zarys problematyki. In: Skowron 2003 (wie Anm. 7), S. 531-545. Man darf andererseits aber auch nicht vergessen, dass umgekehrt die Magnaten ihrer Klientel ebenfalls niemals sicher waren. Wandte sich die Gunst des Königs von einer reichen Familie ab, konnte das bedeuten, dass diese gleichzeitig einen gewissen Teil ihrer Gefolgschaft verlor, die sich dann neu orientierte. Der fast marktförmige Wettbewerb um Klientel hatte für den König also nicht nur Nachteile. Die Bedeutung des Werbens um die richtige Klientel (hier im Umfeld der Königswahl 1733) thematisiert etwa Dygdała, Jerzy: Saskie próby infiltracji środowisk szlacheckich podczas bezkrólewia 1733 roku. In: Kwartalnik Historyczny 110 (2003), H. 4, S. 47-70; zur Komplexität der Suche nach regionalen Gefolgschaften für den König auch Czeppe, Maria: Budowanie wpływów dworu na prowincji w ostatnich latach panowania Augusta III. In: Skowron 2003 (wie Anm. 7), S. 547-558.

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Höflinge am königlichen Hof blieb deshalb überschaubar, und der Kreis ausländischer Berater, der in der Historiographie (zeitgenössischen Verdikten und Verboten folgend) für die Anarchie sowohl unter August II. als auch unter August III. verantwortlich gemacht wurde, war so groß nicht. Die hier präsentierten Überlegungen bedürften jedoch dringend der empirischen Überprüfung; entsprechende Arbeiten fehlen bisher. Erkennbar ist jedoch schon jetzt, dass sich die eingangs behauptete Handlungsfähigkeit des Königs, die doch größer sein sollte als in der Historiographie bisher vermutet, zumindest an der Besetzung der Hofämter so nicht ablesen lässt. Der königliche Hof in Polen-Litauen wie auch die Staatsämter in beiden Landesteilen waren und blieben auch unter den Wettinern weitgehend polnisch und katholisch.  Dennoch sind einige Punkte zur Frage konfessioneller „Außenseiter“ und Grenzgänger an europäischen Höfen in der Frühen Neuzeit schon jetzt deutlich geworden: Zum einen war der polnisch-litauische Hof nicht das einzige politische Zentrum des Reiches; der König musste also weniger auf die konfessionelle Homogenität seines Hofes (etwa aus zeremoniellen Gründen) als vielmehr darauf achten, dass es ihm mittelfristig gelang, Adlige aus unterschiedlichen Landesteilen über seinen Hof an seine Person zu binden, und das in Konkurrenz zu den Höfen der Magnaten – und erst daraus resultierte ein gewisser Druck, Nichtkatholiken nachrangig zu behandeln. Damit war aber weniger die Vorstellung konfessioneller Homogenität als vielmehr der hohe Erwartungsdruck der polnisch-litauischen Adligen hinsichtlich der königlichen Ämtervergabe verbunden, eine Erwartung, die vor allem aus der großen Zahl Adliger und der ungleich niedrigeren Zahl einträglicher Ämter und Güter verbunden war – nichtpolnische und nichtkatholische Konkurrenz war nicht erwünscht, und das musste der König politisch berücksichtigen. Faktisch war es vor allem der Erwerb des Indigenats durch Nichtpolen, also die rechtliche Variante der „Grenzüberschreitung“, die der polnisch-litauische Adel als Problem empfand, und ähnlich kritisch sah er die Möglichkeiten des Königs, sich mit sächsischen (und damit meist auch protestantischen) Beratern zu umgeben (die der Adel dementsprechend einschränkte). Konfessionelle und staatliche Grenzen, die bei der Besetzung der polnisch-litauischen Hofämter eigentlich keine rechtliche Rolle spielen sollten, waren deshalb faktisch doch sehr wirksame Begrenzungen der königlichen Personalpolitik am Hofe.

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Grenzgänger, „Fremde“, Abenteurer Nichtorthodoxe am Zarenhof in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts

I. Im Jahre 1873 wurde auf dem sogenannten Theaterplatz St. Petersburgs ein Denkmal Katharinas II. enthüllt, das alle sozialistischen Bilderstürme überstanden hat.1 Entworfen von Michail Mikešin und umrahmt vom einem klassizistischen Architekturensemble bestehend aus dem Alexandrinka-Theater, dem Aničkov-Palast und der Nationalbibliothek, steht die Herrscherin,2 den Staatsportraits von Dmitrij Levickij oder Fedor Rokotov nachempfunden, auf einem Sockel, um den sich acht ihrer Mitstreiter versammeln, die in ihrer Zeit alle einflussreiche Mitglieder der Petersburger Hofgesellschaft waren. Sie repräsentieren die unterschiedlichen Dimensionen, mit denen Katharinas 34jährige Herrschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbunden werden sollte, benennen aber zugleich die unterschiedlichen Dimensionen der imperialen Hofgesellschaft ihrer Zeit. Da finden sich ihr Großkanzler Aleksandr Bezborodko, die Feldmarschälle Petr Rumjancev und Aleksandr Suvorov, Admiral Vasilij Čicagov; der Dichter und Staatsmann Gavriil Deržavin, der Philanthrop und Aufklärer Ivan Beckoj, die Präsidentin der Akademie der Wissenschaften Fürstin Ekaterina Daškova3 sowie der Fürst von Taurien, Grigorij Potemkin. Die Zeitgenossen mochten in diesem Denkmal eine adäquate Verkörperung der katharinäischen Herrschaftszeit als eine der militärischen Erfolge und eine der von der Aufklärung regierten Reformgesetzgebung gesehen haben. Sie galt, kurzum, als ein goldenes Zeitalter in der Geschichte des Zarenreiches. Dieser Bewertung der Herrschaft Katharinas im Kontext der Geschichte des Zarenreiches haben sich Historikerinnen und Historiker in der sowjetischen Zeit nicht 1 2 3

Zur Geschichte des Denkmals vgl. knapp Alexander, John T.: Catherine the Great. Life and Legend. New York 1989, S. 341. Vgl. Kusber, Jan: Kleine Geschichte St. Petersburgs. Regenburg 2009, S. 71. Zu ihrer Tätigkeit vgl. jetzt ausführlich: Smagina, Galina Ivanovna: Spodvižnica Velikoj Ekateriny. Očerki o žizni i dejatel’nosti direktora Peterburgskoj Akademii nauk knjagini Ekatriny Romanovy Daškovoj. St. Petersburg 2006.

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umstandslos angeschlossen;4 bis heute dauert die Kontroverse um Bedeutung und Wesen der katharinäischen Epoche an.5 Interessant ist nun das durch das Denkmal transportierte Geschichtsbild im Kontext dieses Beitrages wegen der Personen, die um die Kaiserin versammelt sind und die jeweils für verschiedene Gruppen stehen, die bei Hofe versammelt waren: Die Träger militärischer und ziviler Ränge, so wie sie sich seit der Einführung der Rangtabelle in den Tagen Peters des Großen herausgebildet hatten, die Inhaber von Hofrängen, Aufklärer und Dichter, schließlich in der Person Potemkins auch die Gruppe der Favoriten.6 Denkmal Katharinas II. in St. Petersburg Sie alle konstituierten die aus dem Jahre 1873 Spitzen der Hofgesellschaft, (Foto: Julia Röttjer) und sie alle waren ostslawischer Herkunft: nicht alle russischer, Deržavin und Bezborodko waren „Kleinrussen“, also Ukrainer, aber doch alle ostslawischer Herkunft. Die einzige Ausnahme bildete die Kaiserin selbst. Sie war bekanntermaßen deutscher Herkunft, wechselte jedoch mit ihrer Hochzeit mit dem Thronfolger vom Protestantismus zur Orthodoxie. Im Gegensatz zu ihrem Gatten, dem späteren Pe4

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So wurde in der Zeit nach 1917 bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein keine größere Biographie der Kaiserin in der Sowjetunion vorgelegt – ganz im Gegensatz zu Ivan IV. oder Peter I. Zur Einordnung der sowjetischen Forschung und ihrer Neubewertung: Kamenskij, Aleksandr B.: Ekaterina II. In: Voprosy Istorii 3/1989, S. 62-88; ders.: Ot Petra I do Pavla I. Reformy v Rossii XVIII veka. Opyt’ celostnogo analiza. Moskau 1999. Vgl. die internationalen Bestandsaufnahmen: Hübner, Eckhard/Kusber, Jan/Nitsche, Peter (Hrsg.): Rußland zur Zeit Katharinas II. Aufklärung, Absolutismus, Pragmatismus. Köln/Wien 1998 (= Beiträge zur Geschichte Osteuropas 26); Scharf, Claus (Hrsg.): Katharina II., Russland und Europa. Beiträge zur internationalen Forschung. Mainz 2001 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz Beiheft 45). Mit reicher Literatur jetzt ders.: Aufklärung „von oben“. Das Russische Reich. In: Geschichte und Gesellschaft 36 (2010), S. 169-202. Zugleich steht Potemkin natürlich für Feldherrentum und die erfolgreiche Südexpansion des Zarenreiches in der Zeit Katharinas.

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ter III., hat man ihre Konversion nie angezweifelt. Es handelt sich also um eine „erfolgreiche“ Grenzüberschreitung. War der Hof für derartige Wege generell offen? Das Denkmal ist nicht nur als ein Symbol einer homogenen orthodoxen Staatsspitze gedacht gewesen, es zeigt zugleich eine einheitliche Hofelite. Nun mag sowohl die Zusammenstellung als auch die Visualisierung dem erstarkenden, sich womöglich erst formierenden russischen Nationalismus der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts geschuldet sein, 7 der mit seinen panslawistischen Zügen vielleicht keine andere Gruppierung der Akteure zuließ. Jedenfalls widerspricht sie den Befunden der jüngeren Historiographie zur Geschichte des Russländischen Imperiums. Diese betont, dass die Identitäten der Machteliten, gerade auch im 18. Jahrhundert, weniger national und schon gar nicht konfessionell orientiert waren, sondern vielmehr imperial, und dass die Loyalität zum Herrscher – in diesem Fall der Kaiserin – für Aufstieg und erfolgreiche Behauptung einer gewonnenen Position, ob in der Verwaltung, bei Hofe oder im Militär, leitend war. 8 Dafür spricht, gerade was die Gewinnung von Personal für die wissenschaftliche und administrative Territorialisierung des Landes angeht, vieles. 9 In der Akademie der Wissenschaften, im Militär traditionell bereits seit dem 16., vor allem seit dem 17. Jahrhundert, seit Peter I. aber auch in der Zivilverwaltung fanden sich zahlreiche Nichtslaven in führenden Positionen. Aber gilt die Behauptung auch für den Hof, nicht nur in seiner gesamten Zusammensetzung und seinen kommunikativen Zusammenhängen, sondern vor allem seinen Spitzen? Welche kulturellen Grenzen existierten am Zarenhof in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts? Eine Antwort auf diese Fragen soll in zwei Schritten versucht werden. Zunächst seien einige allgemeine Bemerkungen zum Hof des Zarenreiches im 18. Jahrhundert vorangestellt; sie scheinen zum besseren Verständnis ebenso nötig wie zum Aufzeigen von Forschungsfeldern. Man hätte annehmen kön7

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Vgl. Zorin, Andrej: Kormja dvuglavogo orla… Literatura i gosudarstvennaja ideologija v Rosii v poslednej treti XVIII – pervoj treti XIX veka. Moskau 2001; Renner, Andreas: Nationalismus und Diskurs. Zur Konstruktion nationaler Identität im Russischen Zarenreich nach 1855. In: Hirschhausen, Ulrike von/Leonhard, Jörn (Hrsg.): Nationalismen in Europa. West- und Osteuropa im Vergleich. Göttingen 2001, S. 433-449 im Gegensatz zu Utz, Raphael: Russlands unbrauchbare Vergangenheit. Nationalismus und Außenpolitik im Zarenreich. Wiesbaden 2008. Vgl. Kusber, Jan: Zur Frage von Schande und Ehre im russischen Hochadel des 18. Jahrhunderts. Das Beispiel der Familie Razumovskij. In: Wrede, Martin/Carl, Horst (Hrsg.): Zwischen Schande und Ehre. Erinnerungsbrüche und die Kontinuität des Hauses. Legitimationsmuster und Traditionsverständnis des frühneuzeitlichen Adels in Umbruch und Krise. Mainz 2007, S. 125-140. Vgl. Sunderland, Willard: Imperial Space, Territorial Thought and Practice in the Eighteenth Century. In: Burbank, Jane/Hagen, Mark von/Remnev, Anatolyi (Hrsg.): Russian Empire. Space, People, Power, 1700-1930. Bloomington 2007, S. 33-66.

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nen, dass bei den vielen Erzählungen, die über Katharina II. und auch ihre Favoriten entstanden sind, 10 eine systematische Beschäftigung mit dem Hof in der Hauptstadt und dem „mobilen“ Hof Katharinas auf Reisen stattgefunden hätte. 11 Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Es verwundert nicht, dass in der sowjetischen Zeit der Hof allenfalls eine Negativetikettierung erfuhr und keiner umfassenderen wissenschaftlichen Beschäftigung für würdig befunden wurde. Dies hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten geändert. Mit Leonid Šepelevs Činovnyj mir („Welt der Ränge“) besitzen wir eine grundlegende Studie zu Hierarchien, Aufstiegsmöglichkeiten und Karriereverläufen auch bei Hofe; 12 Olga Ageeva und Konstantin Pisarenko beschreiben das Alltagsleben der Hofgesellschaft in den Zeiten der Kaiserinnen Elisabeth und Katharina II., wenn auch teils populärwissenschaftlich, und in seiner 2005 vorgelegten Dissertation versucht Alexander Otto auf der Basis der reichen frühneuzeitlichen Forschungen zu europäischen Höfen insgesamt ein Bild der Systems „Hof“ für das Zarenreich zu entwerfen, in dessen Zuge zahlreiche sozialgeschichtliche Erkenntnisse zu Tage getreten sind. 13 Den Hof als kulturellen Raum, als Raum der Kommunikation und der Politik, in dem über Hierarchien Grenzen und Gemeinschaft strukturiert wurden, nehmen die erwähnten Arbeiten freilich kaum in den Blick. Eine kulturgeschichtliche Erweiterung hat die Geschichtsschreibung zum Zarenhof der Frühen Neuzeit erst in Ansätzen erfahren.

II. Ein Blick zurück ins 17. Jahrhundert hilft die Entwicklung des Zarenhofes zu kontextualisieren: Der Moskauer Hof im Kreml und in der Sommerresidenz in Kolomenskoe war ein Personengeflecht, das administrative und repräsentative Funktionen miteinander kombinierte. Das komplexe Gefüge des Aus10

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Im Mittelpunkt steht hierbei Katharinas herausragender Favorit Grigorij Potemkin. Zu seiner Person bunt, aber nicht immer zuverlässig: Montefiore, Simon Sebag: Katharina die Große und Fürst Potemkin. Eine kaiserliche Affäre. 2. Aufl., Frankfurt a.M. 2009 sowie Eliseeva, Ol’ga I.: Grigorij Potemkin. Moskau 2005 (= Žizn’ zamečatel’nych ljudej 1116). Zu den Reisen, allerdings nicht zur Organisation und Zusammenstellung der Entourage, vgl. Ibneeva, Guzel’ V.: Imperskaja politika Ekateriny II v zerkale vencenosnych putešestvij. Moskau 2009. Vgl. Šepelev, Leonid E.: Činovnyj mir Rossii XVIII-na alo XX v. St. Petersburg 1999. Vgl. Ageeva, Olga G.: Imperatorskij dvor’ Rossii. 1700-1796. Moskau 2008; Pisarenko, Konstantin: Povsvednevnjaja žizn’russkogo dvora v carstvovanie Elizavety Petrovny. Moskau 2003; vor allem aber die leider ungedruckt gebliebene Dissertation von Otto, Alexander: Die russische Hofgesellschaft in der Zeit Katharinas II. Diss. phil. Tübingen 2005. Keine Kultur- oder Sozialgeschichte des Hofes, aber zahlreiche Details bietet Anisimov, Evgenii V.: Five Empresses. Court Life in Eigtheenth Century Russia. London 2004.

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handelns von Einfluss und Macht in den Eliten des Moskauer Reiches und ihre Stellung bei Hofe und zum Zaren wurden in der sogenannten Rangplatzordnung austariert. Sie hatte dafür sorgen sollen, dass Ämter und Kommandoposten nach einer Mischung aus Verdienst der Familie und tatsächlicher Fähigkeit des Einzelnen vergeben wurden. Freilich erwies sich die Rangplatzordnung alsbald als unpraktisch, und die Selbstherrscher versuchten dieses Geflecht aus Verdienst und Ehrvorstellungen zu durchbrechen. 14 Dies gelang unter anderem deshalb, weil die Moskauer Hofgesellschaft in sich stark aufgefächert war. Selbst im Hochadel, den Bojaren und Fürstenfamilien, die sich auf die litauischen bzw. ostslawischen Herrscherhäuser der Gedeminiden oder Rjurikiden zurückverfolgen konnten, ist eine übergreifende Identitätsbildung nicht erkennbar. Für diese Beobachtung spricht auch die Tatsache, dass auch in dieser Zeit der russische Adel von extremer Aufnahmefähigkeit für eigentlich nicht Dazugehörige war, die aus der Perspektive des Autokraten dem Staat nutzten, aus der Perspektive der etablierten Adelsfamilien aber die jeweils eigenen Positionen bedrohen konnten. Mongolische Dschingisiden, tscherkessische Fürsten, ukrainische Kosakeneliten, mittelund westeuropäische Familien wurden – Konversion zur Orthodoxie vorausgesetzt – in dieses Hof- und Adelssystem integriert. 15 Der Hof der Moskauer Zaren war, wie im übrigen auch die Verwaltung des Reiches im 17. Jahrhundert, verglichen mit mittel- und westeuropäischen Beispielen nicht sehr personenintensiv organisiert. Verkürzt könnte man sagen, dass die RomanovZaren durch Zurückgezogenheit repräsentierten und über diese Strategie der Distanz Grenzen aufbauten, die zur Überhöhung des Zaren führten. 16 Auf der anderen Seite bedeute gerade die Herrschaft Aleksej Michajlovičs (16451676) eine Öffnung des Hofes mit Blick auf Formen der Unterhaltung und der Bildung zum westlichen Europa, 17 auch wenn die Formen politischer Repräsentation davon vorerst wenig berührt waren. 14 15

16 17

Vgl. Kollmann, Nancy Shields: By Honor Bound. State and Society in Early Modern Russia. Ithaca 1999, S. 226-231. Vgl. Kusber, Jan: „Entdecker“ und „Entdeckte“. Zum Selbstverständnis von Zar und Elite im frühneuzeitlichen Moskauer Reich zwischen Europa und Asien. In: Dürr, Renate u.a. (Hrsg.): Expansionen in der Frühen Neuzeit. Berlin 2005 (= Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 34), S. 97-115, hier S. 109. Vgl. Wortman, Richard S.: Scenarios of Power, Myth and Ceremony in Russian Monarchy. Vol. 1. Princeton 1995, S. 30-41. Dies gilt zum Beispiel für die Rezeption und Aufführungspraxis von Theater und Musik. Vgl. Sazonova, Lidija I.: Russkaja kul’tura XVII veka pered vyborom puti. In: Kiseleva, Marina S. (Hrsg.): Čelovek meždu Carstvom i imperiej. Sbornik materialov meždunarodnoj konferencii. Moskau 2003, S. 184-200 sowie: Brohm, Silke: Ein Herrscher und sein Hofdichter. Simeon Polockijs Beitrag zum russischen Hoftheater unter Aleksej Michajlovič. In: Lehmann-Carli, Gabriela u.a. (Hrsg.): Russische Aufklärungsrezeption im Kontext offizieller Bildungskonzepte (1700-1825). Berlin 2001, S. 427-439.

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Die Epoche Peters I. (1689-1725) mit ihrer Überhitzung des Reformprozesses, mit ihren Brüchen in der Tradition der Herrschaftslegitimation und -repräsentation, der forcierten, gezielten Veränderung der Lebensweise und – damit verbunden – dem Dienstethos für den Staat stellte für den Adel zweifellos eine Herausforderung dar. Lebenslange Dienstpflicht (1714), die allerdings schon bald durchbrochen und 1762 durch Peter III. (1761/62) aufgehoben wurde, und eine Rangtabelle aus dem Jahre 1722, die die adlige Gesellschaft über den Dienst in den Säulen Hof, Verwaltung und Militärdienst neu hierarchisierte, waren der Sache nach nicht neu, in ihrer Radikalität aber schon. 18 Ziel der Einführung der lebenslangen Dienstpflicht des Adels, vor allem aber der Rangtabelle war es unter anderem, nicht länger die Verdienste des adligen Geschlechts zu würdigen, sondern den Adel als Dienststand zu stärken und dem Tüchtigen den Aufstieg zu ermöglichen. 19 Schon unter den Nachfolgerinnen wurde freilich dieses Prinzip des Verdienstes durch den Dienst über die Rangtabelle hintangestellt. Indem man seine Nachkommen bereits bei der Geburt zum Dienst anmeldete, konnte man zum tatsächlichen Dienstantritt bei Volljährigkeit bereits mit einem hohen Rang beginnen. Ab Rang acht der vierzehn eingeführten Ränge wurde man adlig. 20 Im 18. und erst recht im 19. Jahrhundert begann, wie Juri Lotman eindrucksvoll gezeigt hat, in der Elite des Zarenreiches ein Denken in der Welt der Ränge, das die Herrscher nutzten und das die Eliten des Zarenreiches bis zu seinem Untergang prägten. 21 Neben den Rängen gewannen neue Titel, die das Moskauer Reich nicht kannte, ebenso eine neue Bedeutung wie Orden, die je nach Herrscher in ihrem Prestige und ihrer Wichtigkeit regelrechte Konjunkturen erlebten. Aufstieg bedeutete dauerhafte Hofnähe und unmittelbaren Zugang zum Herrscher bzw. zur Herrscherin. Insbesondere Formen der Kommunikation bei Hofe erlebten im Vergleich zum 17. Jahrhundert eine rasante Transformation. 22 Die berühmten Assembleen Peters I., in denen der Zar neue Formen des gesellschaftlichen Umgangs trainieren ließ, waren der Ausgangspunkt für eine Geselligkeit, die im Verlauf des 18. Jahrhunderts eine spezifische Varian18 19

20 21 22

Vgl. Hughes, Lindsey: Russia in the Age of Peter the Great. New Haven/London 2000, S. 180-185. Zur Diskussion der Zielsetzungen dieser Gesetze noch immer anregend: Wittram, Reinhard: Peter I. Czar und Kaiser. Zur Geschichte Peters des Großen in seiner Zeit. Bd. 2. Göttingen 1964, S. 138-150. Vgl. Hartley, Janet: A Social History of the Russian Empire, 1650-1825. London 1999, S. 28-30. Vgl. Lotman, Juri: Russlands Adel. Eine Kulturgeschichte von Peter I. bis Nikolaus I. Köln 1997 (= Bausteine zur slavischen Philologie und Kulturgeschichte A 21). Vgl. Hughes 2000 (wie Anm. 18), S. 267-269; Pogosjan, Elena A.: Petr I. Architektor russkoj istorii. St. Petersburg 2001, S. 77-95.

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te der französischen Hofkultur wurde. 23 Hofämter waren in der Regel Ehrenämter; zwar öffneten insbesondere die Kaiserinnen Anna (1730-1740), Elisabeth (1741-1761) und Katharina (1762-1796) immer wieder ihre Schatulle, die von der Staatskasse natürlich kaum zu trennen war, um Höflinge auszuzeichnen. Diese Geschenke erfolgten jedoch unregelmäßig und nach Gusto. Verwaltungs- und Militärämter hingegen wurden immerhin, wenn auch schlecht, bezahlt. Dennoch lässt sich gerade in den letzten Dekaden des 18. Jahrhunderts feststellen, dass die Hofämter auf der Rangtabelle höher eingestuft wurden, 24 der Hof als Konstrukt also an Prestige gewann. Der Hof war nicht auf eine Residenz beschränkt, sondern ein soziokulturelles Konstrukt, welches zumindest die Adelspalais und die Funktionsgebiete um den Winterpalast in St. Petersburg sowie die zahlreichen Sommerresidenzen umfasste. Er begab sich aber auch auf Reisen. Die Wallfahrten Elisabeths bis nach Kiew, die Reisen Katharinas an die mittlere Wolga, ins Baltikum und 1787 auf die Krim etwa setzten alle Funktionselemente des Hofes in Bewegung.

III. Beschreibungen des Hoflebens der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch europäische Zeitgenossen und vor allem aber auch von Nachlebenden sind nicht frei von Projektionen, in jedem Fall aber sind sie glanzvoll und bunt. Anders als in der Zeit der Kaiserin Anna gab es keine deutschstämmige Spitze von Spitzendiplomaten oder Favoriten (Heinrich [Andrej] Ostermann, Burkhard Christoph Münnich, und vor allem Ernst Johann von Biron), 25 die Zeit der Regentschaft der „Braunschweiger“ für Ivan VI. lag zurück; 26 dennoch war der Hof Katharinas mehr noch als der Elisabeths ein Hof ausländischer Gäste: Europäische Fürsten und Diplomaten fanden sich dort ein. Gottorfer und Oldenburger Herzöge und andere, die in den Dienst ihrer entfernten Verwandten strebten, waren bereits seit der Zeit Peters I. am russischen Hof. Einen Höhepunkt erlangte ihr Einfluss während der kurzen Herrschaft 23

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So mit kritischem Tenor schon Bain, Robert Nisbet: The Daughter of Peter the Great. A History of Russian Diplomacy and the Russian Court under the Empress Elizabeth Petrovna, 1741-1761. Westminster 1899. Vgl. Otto 2005 (wie Anm. 13), S. 84-93. Vgl. Lipski, Alexander: Re-Examination of the „Dark Era“ of Anna Ivanovna. In: Slavonic and East European Review 15 (1956), S. 477-488; Berg, Brigitta: Burchard Christoph Münnich. Die Beurteilung, Darstellung und Wirkung seines Wirkens in Rußland in der deutschen und russischen Historiographie. Der Versuch einer Perspektivenuntersuchung. Oldenburg 2001 (= Oldenburger Studien 45). Vgl. Fenster, Aristide: Ivan VI. In: Torke, Hans-Joachim (Hrsg.): Die russischen Zaren, 1547-1917. München 1995, S. 203-205.

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Peters III. 27 So schillernde Figuren wie der Krimkhan Šahin-Girej schienen sich schon vor der Annexion der Krimhalbinsel 1783 und ihres Vorfeldes lieber am Petersburger Hof aufzuhalten als in ihrer eigenen Residenz in Bachči Saraj. 28 Bedeutende Persönlichkeiten der Aufklärung stellten sich ein – zumindest zeitweise, wie Denis Diderot 1773/74. 29 Wie sah es jedoch mit der strukturellen Verankerung von solchen Grenzgängern aus? Bei der Beantwortung dieser Frage stehen wir zweifelsohne vor Quellenproblemen. Wir besitzen für die katharinäische Epoche, anders als für die vorangehenden Herrschaften, zwar eine Quellensorte, die bislang für kulturgeschichtliche Zwecke noch nicht genutzt worden ist: Die alljährlichen Hofund Staatskalender führten peinlich genau auf, wer sich bei Hofe befand, in welcher Säule der Rangtabelle er sich bewegte, welchen Rang er besaß und ob er seinen Dienst versah bzw. gerade beurlaubt oder in anderen Aufgaben unterwegs war. 30 Dies erlaubt näherungsweise zu analysieren, welchen Umfang die kaiserliche Hofhaltung in St. Petersburg mit ihren mehreren tausend Personen hatte. Sie nahm sich im Vergleich zum Kaiserhof in Wien und auch zum französischen Königshof in Versailles noch immer bescheiden aus. Doch ist bei den Eintragungen in diesen Staats- und Hofkalendern erwartungsgemäß nichts über die Konfession oder die Religion der aufgeführten Personen vermerkt; Personen, die sich außerhalb der Rangtabelle bewegten, sind unvollständig aufgeführt. Aber schon eine erste Durchsicht fördert einen erstaunlichen Befund zu Tage: Unter den Kammerherren und Staatsdamen, den Kammerjunkern und Kammerfräulein, also jenen Ämtern, die unmittelbar die Kaiserin zu umgeben hatten, finden sich nur russische und ukrainische Namen. Deutschbaltische Adlige fanden den Dienst nicht attraktiv oder wurden nicht herangezogen. Dies könnte man auf Katharinas durchaus konfliktreiche Beziehung zum baltischen Adel seit 1764 zurückführen, dessen Autonomie sie durch eine Statthalterschaftsverfassung aufheben wollte. Diesem Argument widerspricht jedoch, dass sie das Baltikum als „Reservoir tüchtiger Menschen“ durchaus zu schätzen wusste und zahlreiche deutschbaltische Adlige für den Militär- und den Verwaltungsdienst heranzog. Aber auch beim Verwaltungsdienst zeigt

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Vgl. Raeff, Marc: The Domestic Policies of Peter III and his Overthrow. In: American Historical Review 75 (1970), S. 1289-1309 sowie Leonard, Carol S.: Reform and Regicide. The Reign of Peter III of Russia. Bloomington 1993. Vgl. Conermann, Stephan: Expansionspolitik im Zeichen des Aufgeklärten Absolutismus? Katharina II. und die Krimtataren. In: Hübner/Kusber/Nitsche 1998 (wie Anm. 5), S. 337-359, hier S. 346-348. Vgl. Wilson, Arthur: Diderot in Russia, 1773-1774. In: Garrard, John Gordon (Hrsg.): The Eighteenth Century in Russia. Oxford 1973, S. 166-197. Vgl. Kamer-Fur’erskij ceremonial’nyj žurnal, 1772-1796. St. Petersburg 1864-1896.

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sich: Die Deutschbalten wurden vor allem in den Provinzen und als Diplomaten, weniger in der Hauptstadt eingesetzt. 31 Als ein Beispiel sei hier der im estnischen Wesenberg geborene Jacob Sievers (1731-1808) genannt. Er diente während des Siebenjährigen Kriegs im russischen Heer als Generalquartiermeister, wurde 1764 von Katharina II. zum Generalgouverneur von Novgorod, Tver’ und Pskov ernannt und erwarb sich durch seine Landwirtschaftsreformen und Infrastrukturmaßnahmen eine hohe Reputation. Auf seinen Vorschlag wurde die erwähnte Statthalterschaftsverfassung eingeführt. Nach einem kurzen Zwischenspiel bei Hofe bat er selbst um einen anderen Posten und wurde Gesandter in Polen, wo er eine wesentliche Rollte bei der zweiten und dritten Teilung der Adelsrepublik spielte. Zar Paul ernannte ihn 1796 zum Senator und 1797 zum Chef des neuen Departements für Wasserwege und erhob ihn 1798 in den erblichen Grafenstand. 1800 schied er aus dem Staatsdienst aus und zog sich auf seine Güter zurück. 32 Sicher waren keine religiösen Gründe für eine solche Distanz zum Hof ausschlaggebend. Schon in der Topographie des St. Petersburger Stadtkerns finden sich Kirchen mehrerer christlicher Konfessionen, darunter auch lutherische Kirchen, die für Deutschbalten und Deutsche aus dem Reich zu wichtigen Anlaufpunkten wurden und Zentren des gesellschaftlichen Lebens neben Hof und Dienst konstituierten. Katharina hatte im Übrigen bei ihrem eigenen Glaubensübertritt gegenüber ihrem skeptischen Vater argumentiert, die grundsätzlichen Positionen zwischen Protestantismus und Orthodoxie lägen weit weniger auseinander als diejenigen zwischen Katholizismus und Orthodoxie. 33 Davon versuchte sie auch Dynastien in Deutschland zu überzeugen, als sie zweimal eine Braut für den Thronfolger Paul suchte und in Hessen-Darmstadt bzw. Württemberg fand. 34 Für die Herrscherin war Konfession und Religion keine wirkliche Grenze. Ein Grund jedoch, gerade in den ersten Herrschaftsjahren kaum auf die in der Regel gute Bildung deutschbaltischer Adliger zurückzugreifen, mochte darin liegen, dass sie sich nach 1762 deutlich von ihrem gestürzten Gatten Peter III. abheben wollte, der seine deutschstämmigen Vertrauten in Schlüsselämter bei Hofe holte, etwa Carl von Sievers als Oberhofmarschall, den Onkel des erwähnten Jacob. 31 32

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Vgl. Scharf, Claus: Katharina, Deutschland und die Deutschen. Mainz 1995 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte 153), S. 167-180. Sein Leben ist ausgezeichnet dokumentiert; vgl. Blum, Karl Ludwig: Ein russischer Staatsmann. Denkwürdigkeiten des Grafen von Sievers. 4 Bde. Leipzig 1857/58; ders.: Graf Jacob Johann von Sievers und Russland zu dessen Zeit. Leipzig/Heidelberg 1864; Jones, Robert E.: Provincial Development in Russia. Catherine II and Jacob Sievers. New Brunswick 1984. Vgl. Katharina II.: Memoiren. Bd. 2. München 1987, S. 44f. Vgl. Scharf 1995 (wie Anm. 31), S. 277-306.

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Diese Personen wurden sukzessive abgelöst und mussten ihren Abschied nehmen; Weggefährten des Umsturzes oder Personen, die die noch immer wichtigen Netzwerke der Kaiserin Elisabeth einbezogen, wurden bedeutender. So bliebe nach Ausländern zu fragen, die die Grenze des Zarenreiches überschreiten mussten, um in den Dienst bei Hofe zu gelangen. Auch hier bieten die Kalender ein aufschlussreiches Ergebnis: Nicht dass es nicht Ambitionen gegeben hätte, den Hof in St. Petersburg auch über die Anwerbung von „Philosophen“ und Staatsmännern zum Zentrum europäischer Aufklärung zu machen: Katharina lud über ihren Sekretär Grigorij Teplov Rousseau nach Russland ein; er sagte ebenso ab wie Voltaire. 35 Katharina verlor das Interesse, Denis Diderot in Russland zu halten, als sie merkte, dass seine utopischen Reformvorhaben mit den ihren, die stark an den regionalen Spezifika des Zarenreiches und realen Reformhindernissen orientiert waren, nicht ansatzweise in Übereinstimmung gebracht werden konnten. Der Physiokrat Paul Pierre le Mercier de la Rivière, der auf ihre Einladung nach Petersburg kam, hatte erwartet, erster Staatsminister zu werden, während die Kaiserin doch nur bereit war, ihm einen Hofrang ohne feste Aufgaben und Kompetenzen zuzusagen. 36 Enttäuscht reiste er ab. Die Liste ließe sich verlängern. Leider besitzen wir für die Zeit Peters I., jene Umbruchsphase, wenige Quellen, die eine systematische Erfassung und damit einen systematisch angelegten Vergleich zulassen. 37 Aber schon ein Blick auf den inneren Zirkel, mit dem sich Peter I. umgab, deutet auf einen Umschwung hin: Figuren wie François Lefort, die auch Einfluss auf die Leitlinien der Politik gewannen, oder ausländische Generäle und Admiräle, die, vorwiegend aus Schottland kommend, auch bei der Ausgestaltung des Hoflebens eine große Rolle spielten, fehlten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Personen wie der Ire George Browne, jahrzehntelang Statthalter in den baltischen Provinzen des Zarenreiches, spielte ähnlich wie die Deutschbalten in der Administration, aber nicht bei Hofe eine bedeutende Rolle. Adlige Abenteurer und Abenteurerinnen, wie die berühmte Herzogin von Kingston, deren Reise nach St. Petersburg eine Zeitlang für Amüsement des Hofes sorgte, konnten nicht dauerhaft reüssieren und sich keine Macht- und Lebensbasis verschaffen. 38 Gri35 36 37 38

Vgl. Barran, Thomas: Russia reads Rousseau, 1762-1825. Evanston 2002, S. 3-51. Vgl. Madariaga, Isabel de: Russia in the Age of Catherine the Great. London 1981, S. 337339. Vgl. Podchodnyj žurnal 1695 und 1696. Vgl. Cross, Anthony: By the Banks of the Neva. Chapters from the Lives and Careers of the British in Eighteenth-Century Russia. Cambridge 1997, S. 363-367. Ein weiteres Beispiel wäre Lady Elizabeth Craven, die spätere Markgräfin von Ansbach, die für ihren Krimreisebericht berühmt werden sollte. Vgl. Tiggesbäumker, Günther: Elizabeth Craven (1750-1828). In: Corvey-Journal 8 (1997), S. 21-38.

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gorij Potemkin umgab sich und die Kaiserin mit Scharlatanen wie dem Grafen Alessandro Cagliostro oder dem späteren südamerikanischen Revolutionär und Diktator von Venezuela Francisco de Miranda. 39 Diese Kategorie von mobilen Grenzgängern im Zeitalter der Aufklärung wollte das Forum des Hofes nutzen, um persönliches Glück und Reichtum zu suchen oder aber politische Anliegen voranzutreiben. Katharina ließ sich und den Hof nicht dauerhaft instrumentalisieren, wenn diese Pläne nicht mit ihren eigenen zusammengingen. Dies musste de Miranda ebenso erfahren wie beispielsweise der Held des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges John Paul Jones. Vielmehr wurde die Kaiserin angesichts der ausbrechenden Französischen Revolution und der beginnenden Freimaurerei zunehmend skeptisch gegenüber der Vertrauenswürdigkeit dieser Personen. 40 Es bleibt ein Bereich, der an der Schnittstelle von Hofdienst, Reformpolitik und Modernisierungsbemühungen in der katharinäischen Epoche liegt. Es ist das explodierende Feld von Bildung, Wissenschaft und Kunst: Katharinas aus England stammende Leibärzte Dimsdale und Rogerson 41 waren bei Hofe und als politische Berater allgegenwärtig. Sie waren mit dem 4. bzw. 5. Rang der Rangtabelle als erbadelig eingeordert und fanden sich damit ebenso eingeordnet wie manche Mitglieder der sogenannten „Ruling families“, der Panins, Naryškins, Orlovs oder Voroncovs. 42 Dies galt auch für diejenigen zumeist in Deutschland oder der Schweiz geborenen Mitglieder der Akademie der Wissenschaften, von denen sich Katharina II. am Rande von Bällen und Maskeraden, aber auch in eigens gewährten Audienzen über den Fortgang der Vermessung und Beschreibung ihres Reiches berichten ließ. Auch sie bekleideten erbadlige Ränge und nahmen nach Auskunft der Kalender gelegentlich am Hofleben teil. Im inneren Kern der Hofgesellschaft, wenn auch nicht in den höchsten Rängen, bewegten sich die aus Frankreich, der Schweiz und Deutschland angeworbenen Erzieher der kaiserlichen Familie, die dem Hof Katharinas oder dem „malyj dvor“ 43 des Thronfolgers Paul bzw. dann denen seiner Enkel 39

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Zu seiner Person vgl. Zeuske, Michael: Francisco de Miranda (1750-1816). América, Europa und die Globalisierung der ersten Entkolonialisierung. In: Hausberger, Bernd (Hrsg.): Globale Lebensläufe. Menschen als Akteure im weltgeschichtlichen Geschehen. Wien 2006, S. 117-142. Vgl. hierzu das ausgezeichnete Buch von Smith, Douglas: Working the Rough Stone. Freemasonry in Eighteenth-Century Russia. DeKalb 1999 sowie Sokolovskaja, Tira O.: Kapitul feniksa. Vysšee tajnoe masonskoe pravlenie v Rossii (1778-1822 gg.). St. Petersburg 1916 (ND 2000). Vgl. de Madariaga 1981 (wie Anm. 36), S. 358. Der Terminus wurde geprägt von LeDonne, John: Ruling Families in the Russian Political Order. In: Cahiers du monde russe et soviétique 28 (1987), S. 233-322. Zu dieser Institution vgl. ausführlich Otto 2005 (wie Anm 13), S. 225-284.

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Alexander und Konstantin zugeordnet waren. Männer wie der Staatsrat Jacob von Stählin, Universalgelehrter und bereits Erzieher Peters III., überstanden in dieser Funktion alle politischen Konjunkturen 44 und standen an der Spitze jener Frauen und Männer, die als Erzieher und Gesellschafter gerade auch nach Ausbruch der Französischen Revolution nach Petersburg reisten, um in adligen Haushalten oder bei Hofe ihr Glück zu machen. 45 Das Personal, das in solchen Funktionen im Winterpalast oder den Palais der Großfürsten und Favoriten dienen durfte, blieb handverlesen und wurde auf Empfehlung des jeweiligen Oberhofmeisters von Katharina II. und dann Paul I. ausgewählt. Der Petersburger Hof war zudem über das ganze 18. Jahrhundert hinweg ein Eldorado für Künstler, Musiker und Architekten; sie lehrten an der 1757 eingerichteten Akademie der Künste, bauten für die Kaiserinnen und ihre Favoriten Paläste und Gartenanlagen. Nicht nur Katharina und Potemkin, auch ihre Vorgänger warben sie überall dort an, wo die Avantgarde von Kunst und Architektur lag. So fanden die Rastrellis als eine Dynastie von Bildhauern und Architekten eine Heimat in Russland; 46 William Gould und andere wirkten als hochberühmte Landschaftsarchitekten jahrelang in Russland, während manche französische oder italienische Operntruppe nur für eine Saison am Hofe weilte. 47 Politischen Einfluss erlangten sie nicht.

IV. Wenden wir den Blick zurück zu dem Denkmal und der Ausgangsfrage, welche Möglichkeiten die vielfältige Gruppe der Grenzgänger am Zarenhofe in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hatte. Konfession und Religion fungierten durchaus als kulturelle Markierung, die nicht ohne weiteres zu überspringen war, wollte man in die Hofelite vorstoßen und in dem Raum „Hof“ politisch agieren. Was in den Zeiten Peters I. ohne weiteres möglich war – 44

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Zu seiner Person vgl. Stählin, Karl (Hrsg.): Aus den Papieren Jacob von Stählins – ein biographischer Beitrag zur deutsch-russischen Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts. Königsberg 1926. Vgl. Robel, Gert: Kärner der Aufklärung. Hauslehrer im Russland des 18. Jahrhunderts. In: Lehmann-Carli u.a. 2001 (wie Anm. 17), S. 325-343; Raeff, Marc: Home, school and service in the life of an 18th century nobleman. In: Slavonic and East European Review 40 (1960), S. 295-307. Vgl. hierzu wie zu weiteren Architekten Skodock, Cornelia: Barock in Russland. Zum Œuvre des Hofarchitekten Francesco Bartolomeo Rastrelli. Wiesbaden 2006 sowie Kusber 2009 (wie Anm. 2), S. 46-55. Vgl. zusammenfassend im Kontext der Entstehung kultureller Eliten Hughes, Lindsey: Russian culture in the Eighteenth Century. In: Lieven, Dominic (Hrsg.): The Cambridge History of Russia. Vol. II: Imperial Russia, 1689-1917. Cambridge 2006, S. 67-91. Zu Gould als Beispiel siehe Montefiore 2009 (wie Anm. 10), S. 424f., 441-444, 503f.

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und nota bene auch einigen Juden gelang, 48 die für die Katharinazeit nicht benennbar wären –, war in der Zeit des Höhepunktes einer auf das französische Modell orientierten Hofkultur schwieriger. Die Gründe sind vielfältig und bedürfen weiterer empirischer Unterfütterung. Offensichtlich scheint aber diese Entwicklung auch das Ergebnis einer erfolgreichen Modernisierung des russischen Hofes in Richtung mittel- und westeuropäischer Vorbilder und damit zugleich eine Verfestigung von Hierarchien und Wegen der politischen Kommunikationsprozesse bei Hofe zu sein. Die Funktionen, die in der petrinischen Umbruchszeit von Grenzgängern besetzt waren – der Wechsel des Hofes von Moskau nach St. Petersburg mag als Symbol des Umbruchs stehen –, wurden nun wieder fast ausschließlich von russischen und ukrainischen Elitenvertretern eingenommen. Loyalität und Identitätsbildung auf das Imperium hin reichten, dies entgegen mancher Thesen der jüngeren Forschung, nicht aus für den Aufstieg in die Spitzen des Hofes. 49 Insofern ist die Auswahl derjenigen, die Katharina auf dem Denkmal aus dem Jahre 1873 umgeben, durchaus treffend – nicht im Sinne einer nationalrussischen Sicht, sondern als Ergebnis einer erfolgreichen partiellen Modernisierung der „Ruling families“ des Zarenreiches und ihrer nahezu vollkommenen Dominanz bei Hofe im ausgehenden 18. Jahrhundert.

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Das prominenteste Beispiel ist sicher Petr Šafirov, Vizekanzler Peters I.; vgl. Hughes 2000 (wie Anm. 18), S. 428f. Mit Blick auf protonationale Entwicklungen der Elite so auch aus unterschiedlichen Perspektiven bei Utz 2008 (wie Anm. 7), S. 33-87.

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Dragoman – Großdragoman – Geheimer Rat – Fürst Zur Karriereleiter von Christen an der Hohen Pforte (17.-19. Jahrhundert)

Die Geschichte von Christen an der Hohen Pforte beinhaltet wichtige Aspekte nicht nur der Geschichte des Osmanischen Reiches vom 17. bis zum 19. Jahrhundert, sondern auch Südosteuropas. Der folgende Beitrag wird in mehrfacher Hinsicht den bisher gesteckten Horizont der konfessionellen „Außenseiter“ und Grenzgänger an europäischen Höfen im 17. und 18. Jahrhundert überschreiten. Zum einen wird er sich mit der Hohen Pforte, dem politischen Machtzentrum des Osmanischen Reiches, befassen, das zwar weit über Europa hinausging, aber dennoch als europäische Großmacht galt, die stark in europäische Angelegenheiten involviert war. Zum anderen werden als religiöse Außenseiter die Phanarioten, orthodoxe Christen, und ihre Stellung im Machtgefüge des muslimischen Reiches im Mittelpunkt stehen.1 Die Fokussierung dieser griechisch-orthodoxen Oberschicht und ihre Bedeutung im Gefüge des Osmanischen Reiches zeigt in der Betrachtung über mehrere Jahrhunderte, dass das muslimische Gemeinwesen in durchaus wichtigen Ämtern nicht als religiöser Monolith zu sehen ist und durchaus nicht-muslimischen Eliten Aufstiegschancen bot. Zugleich jedoch waren Nichtmuslime von wichtigen Teilen des Hoflebens ausgeschlossen. „Die Phanarioten verbringen ihr Leben mit fortlaufenden Intrigen, falschen Schmeicheleien und Korruption. Die Donaufürstentümer beuten sie mit Zy1

Der Forschungsstand zu den Phanarioten ist zumindest in deutscher Sprache sehr unbefriedigend. Größere Abhandlungen, die sich ausschließlich mit dieser Thematik befassen, sind bereits älteren Datums; vgl. Held, Hans Walther: Die Phanarioten, ihre allmähliche Entwicklung zur fürstlichen Aristokratie bis zu deren Untergang 1821. Elberfeld 1920; Gottwald, Joseph: Phanariotische Studien. In: Leipziger Vierteljahresschrift für Südosteuropa 5 (1941), S. 1-58. Im englischen Sprachraum ist ein größeres Interesse an der Thematik festzustellen; vgl. Philliou, Christine: Communities on the Verge. Unravelling the Phanariot Ascendancy in Ottoman Governance. In: Comparative Studies in Society and History 51 (2009), S. 151-181; Papachristou, Panayiotis: Three faces of the Phanariots. An inquiry into the role and motivations of the Greek nobility under Ottoman rule, 1683-1821. Simon Fraser University, Master of Arts 1992 (URL: http://ir.lib.sfu.ca/dspace/bitstream/1892/5303/1/b14223417.pdf [letzter Zugriff: 01.03.2010]). Ein wichtiges Quellencorpus stellen, bedingt durch die Herrschaft der Phanarioten in den Donaufürstentümern, die Sammlungen rumänischer Historiker dar; vgl. Hurmuzaki, Eudoxiu de: Documente privitoare la istoria românilor. Suplement I, vol. I, 1518-1780. Bukarest 1886; Iorga, Nicolae: Documente privitoare la familia Cantacuzino. Bukarest 1902.

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nismus und Schlauheit aus. Als frevelhafte, finstere Clique üben sie einen weitreichenden Einfluss auf die politischen Angelegenheiten des Osmanischen Reiches aus und kontrollieren die griechisch-orthodoxe Kirche vollständig.“ Diese Charakterisierung geht auf die erste Darstellung über die Phanarioten zurück, den Essai sur les Fanariotes von 1824 des römisch-katholischen Griechen MarcPhilippe Zallony. 2 Aus der Feder von Phanarioten selbst oder auch von griechischen Historikern stammt eine gänzlich andere Einschätzung, nämlich dass die Phanarioten eine Gesellschaftsschicht mit einer langen und ruhmreichen Vergangenheit und Tradition sei, unter anderem geleitet von dem reinsten Patriotismus. 3 Mit dem Begriff „Phanarioten“, der erst seit Beginn des 19. Jahrhunderts nachgewiesen ist, sind nach Andrei Pippidi mehrere Bedeutungen verbunden: 4 1. Unter „Phanarioten“ sind die Angehörigen einer griechischen oder gräzisierten Oberschicht im Osmanischen Reich zu verstehen, die aus Phanar, einem Stadtteil Konstantinopels, hervorgingen. 2. Als „Phanarioten“ werden die Fürsten der Moldau und der Walachei zwischen 1709 bzw. 1711 und 1821 bezeichnet. 3. Im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert wird die Bezeichnung auf alle Mitglieder der Oberschichten in Südosteuropa ausgedehnt, deren Herkunft oder Erziehung griechisch war. Im Folgenden werden Phanarioten, wie zu zeigen sein wird, als eine griechischsprachige Führungsschicht bezeichnet, die aus dem Umfeld des ökumenischen Patriarchats im Stadtteil Phanar hervorgeht und die auf der Grundlage von Legitimation, Besitz und Bildung hohe politische Ämter im Osmanischen Reich mit weit verzweigten Verbindungen innehatte. Als Rekrutierungsgrundlage galten eine überschaubare Anzahl einflussreicher Familien sowie Verwandtschaftsbande. Als reichsabhängige ökonomische und politische Machtelite im Sinne einer Oligarchie sind die Anfänge der Phanarioten zwar in der Phase des Aufstiegs des osmanischen Reiches zur Großmacht zu lokalisieren, ihr Höhepunkt sowie ihr Machtverlust fallen jedoch mit der Phase der Stagnation bzw. des Verfalls des osmanischen Vielvölkerreiches zusammen.

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Zallony, Marc-Philippe: Essai sur les Fanariotes, où l’on voit les causes primitives de leur élévation aux Hospodariats de la Valachie et de la Moldavie, leur mode d’administration, et les causes principales de leur chute, suivi de quelques réflexions sur l’état actuel de la Grèce. Marseille 1824, S. 128f.; vgl. dazu Cantemir, Dimitrie: Istoria ieroglifică. Bukarest 1965, S. 42. Vgl. Rizo-Rangabé, Eugène: Livre d’Or de la Noblesse Phanariote en Grèce, en Roumanie, en Russie et en Turquie, par un Phanariote. Athen 1892. Das Thema inspirierte auch Schriftsteller zu historischen Romanen; vgl. Stancu, Horia: Fanar. Bukarest 1978. Vgl. Pippidi, Andrei: Phanar, Phanariotes, Phanariotisme. In: Revue des Etudes Sud-Est Européenes 13 (1975), H. 2, S. 231-239, hier S. 231.

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Während der Zeit des Aufstiegs gilt es die Bedingungen und Ursachen zu skizzieren, die zur Herausbildung dieser Elite sowie des Einstiegs in die osmanische hohe Diplomatie führten. Auf dem Höhepunkt kamen die politischen Ämter des Pfortendolmetschers und des Herrschers in den Donaufürstentümern hinzu. In den verschiedenen Phasen gilt es nicht nur der Funktion der Phanarioten nachzugehen, sondern auch nach deren Legitimationsgrundlage, deren Selbstverständnis zu fragen, d.h. es geht auch darum den Gründen nachzuspüren, aus denen diese Personen am Hof des Sultans zugelassen wurden, sowie nach deren Stellung und den Folgen zu fragen. Das Beispiel der Phanarioten zeigt, dass religiöse Andersartigkeit im Osmanischen Reich bis zu einer bestimmten Karrierestufe kein Hindernis darstellte, ja für bestimmte Ämter sogar förderlich war. Zugleich werden aber auch die Grenzen für religiöse Außenseiter im Dienst des Sultans deutlich. Nichtmuslimen blieb der Zugang zum Haushalt des Sultans (unterteilt in „Innerer Dienst“, „Äußerer Dienst“ und Dienst im Großherrlichen Harem) verwehrt.5 Diese tauchen ausschließlich in der zentralen Staatsverwaltung auf, wo sie mit bestimmten Aufgaben betreut wurden. Der räumliche Fokus der Untersuchung liegt ausschließlich auf jenem Teil des Osmanischen Reiches, der bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts als „Europäische Türkei“ bezeichnet wurde.

Der Aufstieg der Phanarioten Der Aufstieg und die Entfaltung der Phanarioten war mit der Position des Patriarchats als Institution in Südosteuropa unter den Osmanen verknüpft. Das Patriarchat im Stadtteil Phanar war nicht nur Ausgangspunkt zur Erlangung der neuen ökonomischen und politischen Machtpositionen, sondern es wurde von der neuen Aristokratie zum Machterhalt und Machtausbau durchaus instrumentalisiert. Diesem diente zusätzlich die Legitimation ihrer Herkunft aus der vorosmanischen imperialen Vergangenheit. Der Fall Konstantinopels im Mai 1453 bedeutete keineswegs den Untergang der griechisch-orthodoxen Kirche, der geistigen und kulturellen Säule des byzantinischen Reiches. Mehmed II. der Eroberer, der seine Macht als Sultan auf der „heiligen“ Überlieferung des Islam, dem Umma-System und dem islamischen Recht gründete, beeilte sich, bereits 1454 einen neuen ökumenischen Patriarchen einzusetzen, wobei er, wie Theodore Papadopullos betonte, auf die Einhaltung des byzantinischen Zeremoniells großen Wert legte. Hier wird deutlich, dass sich der Übergang vom byzantinischen Jahrtausend zur Turkokratia, so 5

Vgl. Matuz, Josef: Das Osmanische Reich. Grundlinien seiner Geschichte. Darmstadt 1985, S. 84-94.

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Klaus-Peter Matschke, nicht als fundamentaler Bruch, sondern als Fluidum zu neuen Macht- und Gesellschaftsstrukturen erwies. 6 Zudem kann durchaus mit Fikret Adanır formuliert werden, dass das osmanische Übersetzen auf das europäische Ufer im 14. Jahrhundert keineswegs ein Abschneiden der Balkanhalbinsel vom übrigen Kontinent bedeutet hat. Byzanz und der Balkan waren zu jenem Zeitpunkt bereits durch einen tiefen kirchlichen, kulturellen und politischen Graben vom katholischen Westen getrennt. Damit ist eine weitere für unser Thema wichtige Komponente genannt. Entgegen bis heute vorzufindenden Vorstellungen ist der Machtwechsel am Bosporus nicht aus einem Gegenüber von Islam und Christentum heraus zu verstehen. Die ideologische Trennlinie in Südosteuropa verlief viel eher zwischen einem östlichen Lager, in dem neben den Osmanen die griechische Orthodoxie in herausragender Position vertreten war, sowie einem westlich-katholischen Lager. 7 Dieser Gegensatz liefert eine Erklärung für die Rolle des neuen Eroberers als Beschützer der orthodoxen Christen. Doch muss betont werden, dass die Obhut des Sultans, die „dhimma“, zwar die Abwesenheit physischer Verfolgung meinte, nicht jedoch auch Diskriminierung und Schikanen gegen Nichtmuslime unterband. Trotz des gewährten Schutzes blieben Christen Untertanen zweiter Klasse, die nach islamischem Recht eine Kopfsteuer, cizye oder haraç, sowie eine Reihe von Sondersteuern zu zahlen hatten. 8 Das Verhältnis der Christen, die in Südosteuropa unter osmanischer Herrschaft die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung stellten, sowie der Armenier und der Juden zur Hohen Pforte gründete sich über einen langen Zeitraum zunächst nur auf einen Gnadenakt des Sultans. Das in diesem Zusammenhang immer wieder zitierte Millet-System ist nach Erkenntnissen von Benjamin Braude und Michael Ursinus als rechtliche fixierte Körperschaft erst seit dem 19. Jahrhundert in den Quellen belegt. 9 Doch auch ohne diese Selbstverwaltungsinstitution stieg der ökumenische Patriarch durch die abgeschlossenen Schutzab6

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Vgl. Matschke, Klaus-Peter: Der Übergang vom byzantinischen Jahrtausend zur Turkokratie und die Entwicklung der südosteuropäischen Region. In: Jahrbücher für Geschichte und Kultur Südosteuropas 1 (1999), S. 11-38. Vgl. Adanır, Fikret: Der Zerfall des Osmanischen Reiches. In: Demandt, Alexander (Hrsg.): Das Ende der Weltreiche. München 1997, S. 108-128, hier S. 111f. Vgl. Sundhaussen, Holm: Südosteuropa/Balkan unter osmanischer Herrschaft. In: Hinrichs, Uwe (Hrsg.): Handbuch der Südosteuropa-Linguistik. Wiesbaden 1999 (= Slavistische Studienbücher NF 10), S. 829-878. Die Bezeichnung „Millet“ meint „Religion“, „Konfession“ und in einer weiteren Bedeutung „Religionsgemeinschaft“, „Glaubensnation“. Das „Millet-System“ umfasst die Protektion der Untertanen, hier insbesondere auf die orthodoxen Christen bezogen, durch den osmanischen Zentralstaat. Vgl. dazu Ursinus, Michael: Zur Diskussion um „millet“ im Osmanischen Reich. In: Südost-Forschungen 48 (1989), S. 195-207; Braude, Benjamin: Foundation Myths of the Millet System. In: ders./Lewis, Bernard (Hrsg.): Christians and Jews in the Ottoman Empire. The Functioning of a Plural Society. Bd. 1. New York/London 1982, S. 69-88.

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kommen zum geistlichen und weltlichen Oberhaupt sämtlicher unter osmanischer Herrschaft stehenden orthodoxen Christen auf, wie dies auch Steven Runciman verdeutlicht. 10 Die orthodoxe Kirche schuf beinahe einen Staat im Staate, in dessen Umfeld eine Gesellschaftsschicht entstand, deren Vertreter die noch aus byzantinischer Zeit stammenden weltlichen Hof- und Ehrenämter des Patriarchats bekleideten. Eine besondere Rolle spielte dabei der Großlogothet, der alle Beziehungen und Geschäfte zwischen dem Patriarchen und der Pforte vermittelte. Dieses Amt bildete zugleich eine günstige Aufstiegsposition für die neue osmanische weltliche Beamtenschicht der Phanarioten bildete. 11 Auf der Karriereleiter wurde nichts dem Zufall überlassen. Die Frage nach der Herkunft der Phanarioten wird zugleich zur Frage nach der Legitimation umfunktioniert. So wie sich die neuen osmanischen Herrscher in der Nachfolge der byzantinischen Kaiser sahen, konstruierten auch die Phanarioten ihre imperiale byzantinische Vergangenheit. Bereits Mehmed II. hatte Griechen, Armenier und Juden aus dem gesamten Herrschaftsgebiet nach Konstantinopel transferiert, um, so Halil İnalcık, die alte neue Hauptstadt wieder zu einer universalen Metropole zu machen.12 Aus diesen großen Umwälzungen kristallisierten sich die Phanarioten heraus. Die Berufung auf kaiserliche Wurzeln spielte eine ganz zentrale Rolle. Die von De la Croix, dem Sekretär des französischen Botschafters im Osmanischen Reich, in einer Schrift von 1670 gelieferten Informationen über eingewanderte hochrangige Familien, von denen vier Personen auf kaiserlich-byzantinische Familien zurückgeführt wurden, unter anderem die Kantakouzenos und Palaiologos, erhalten den Stellenwert einer allgemeingültigen und unhinterfragten Tatsache. Die Grundlage schließlich für den Mythos altehrwürdiger imperialer Herkunft wird von einem phanariotischen Nachkommen selbst geliefert, von Eugène RizoRangabé in seinem 1892 verfassten Buch Le livre d’or de la noblesse phanariote. 13 Dass es dem Autor bei den aufgeführten Namen ausschließlich um den Nachweis einer besonderen Legitimation sowie Machtposition ging, zeigen neben den Familien vermeintlich kaiserlicher Herkunft – Kantakouzenos, Palaiologos, Rangabé und Argyrópoulos – auch die weiteren Personen, die alle ausnahmslos ein hohes Amt im osmanischen Reich innehatten. Nach den Angaben Rizo-Rangabés stammten die einzelnen Familien aus dem gesamten kleinasiatischen, ägäischen und balkanischen Raum. Diese Diversität hat Cyril Mango zum Anlass genommen, die Phanarioten als „a hodge10 11 12 13

Vgl. Runciman, Steven: The Great Church in Captivity. Cambridge 1968, S. 360-384. Vgl. Zakythinos, Dionysios A.: The Making of Modern Greece. From Byzantium to Independence. Oxford 1976, S. 92f. Vgl. İnalcık, Halil: The Ottoman Empire. The classical age 1300-1600. London 1973, S. 23f. Vgl. Rizo-Rangabé 1892 (wie Anm. 3) und dazu Filitti, Ioan C.: Rolul diplomatic al fanarioţilor (1700-1821). Jassy 2002, S. 23-25.

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podge“ abzutun. 14 Die ebenfalls kritische Haltung von Peter Sugar kann auf Grund der missverständlichen Feststellung von Apostolos Vakalopulos nachvollzogen werden, der nämlich Konstantinopel auch nach 1453 als das nach außen wirkende Zentrum des Griechentums bezeichnet hat.15 Ergänzt werden muss nämlich, dass das ausschlaggebende Kriterium der griechischen Zusammengehörigkeit bis ins 18. Jahrhundert neben der Graecophonie ausschließlich das religiös-konfessionelle Identitätsmerkmal war. Die Phanarioten waren somit in der Mehrheit keine Nachfahren der mittelalterlichen byzantinischen Aristokratie. Die neue Hierarchie von Laien, deren erstes Zentrum die griechischorthodoxe Religion und das ökumenische Patriarchat waren, entstand in einem längeren Prozess im Verlauf des 17. Jahrhunderts. Ein weiterer Charakterzug, der sie kennzeichnete, war ihr großer wirtschaftlicher Wohlstand und Geldreichtum, was wiederum Einfluss ausübte auf das Verhältnis zum Patriarchat, aber auch zur Hohen Pforte. Die Voraussetzungen für den steilen wirtschaftlichen Aufstieg der Phanarioten wurden ebenfalls durch die Osmanen gelegt. Während sich in spätbyzantinischer Zeit das Wirtschaftsleben vorrangig in venezianischer und genuesischer Hand befand, ermöglichte das Osmanische Reich Griechen, Türken, Armeniern und Juden den Handel zu übernehmen. Sie bildeten in kürzester Zeit die neue Schicht der Steuerpächter, Bankiers und Geschäftsleute des neuen Reiches, aus deren Mitte sich nichtmuslimische Eliten rekrutierten, die nicht nur wie die Phanarioten in der Zentrale des Reiches ihren Sitz hatten, sondern auch in den balkanischen Provinzen saßen. Die Griechen erwiesen sich dabei als Händler und Geschäftsleute als so raffiniert, dass sie andere nach Leften S. Stavrianos oder Daniel Goffman bei weitem überflügelten.16 Ein markantes Beispiel dieser neuen Oberschicht, deren Vertreter sich selbst als ευγενέστατατοι άρχοντες („Hochedle Herren“) bezeichneten, war ein Vorfahr namhafter Phanarioten, Michail Kantakouzenos aus dem 16. Jahrhundert. Als enger Vertrauter des Großwesirs Sököllü Paşa sowie des Sultans erlangte er eine ungeheure wirtschaftliche, aber auch politische Macht. Während ihm seine Habsucht den Namen Schaitanoglu, „Sohn des Satan“, einbrachte, geriet er aufgrund seines Reichtums in ein Spinnennetz von Intrigen, die zu seinem Tod durch Erhängen vor dem Tor seines Palastes 1578 führten. Seine Güter wurden zugunsten des Sultans verkauft. Die Zahl der besonderen Objekte war so groß, dass der 14

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Mango, Cyril: The Phanariots and the Byzantine Tradition. In: Clogg, Richard (Hrsg.): The Struggle for Greek Independence. Essays to mark the 150th anniversary of the Greek War of Independence. London 1973, S. 41-66, hier S. 45. Vgl. Vakalopulos, Apostolos: Griechische Geschichte von 1204 bis heute. Köln 1985, S. 72-75; dazu auch Tzermias, Pavlos: Neugriechische Geschichte. Eine Einführung. 2. Aufl., Tübingen 1993. Vgl. Stavrianos, Leften S.: The Balkans since 1453. London 2000, S. 270; Goffman, Daniel: The Ottoman Empire and Early Modern Europe. Cambridge 2002, S. 17.

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Ausspruch „ich habe es bei der Kantakouzenos-Auktion erworben“ sprichwörtlich wurde, um den außergewöhnlichen Wert eines Stückes hervorzuheben. Der große Reichtum hob die Phanarioten bereits auf die nächste Stufe; sie standen nicht mehr im Dienst des Patriarchats, sondern galten, wie bereits Kantakouzenos, als „Patrone der Patriarchalkirche“, was mit politischem wie vor allem finanziellen Einfluss auf die Kirche einherging. Aufgrund ihrer chronischen Verschuldung griff die Kirche nämlich zu einem zweifelhaften Mittel: Sie führte nach 1763 die Käuflichkeit aller kirchlichen Ämter einschließlich des Patriarchenamtes ein. Die Phanarioten erfüllten dabei die Funktion der Geldleiher, die ihnen natürlich eine Monopolstellung zusicherte. Ein Zeugnis des großen Reichtums waren die Wohnhäuser im Stadtteil Phanar. Es waren massive Steinbauten in ziemlich einheitlicher Bauart, in gewisser Weise an italienische Palazzi erinnernd. Während das Äußere fast keine Ornamentik aufwies – man wollte ja nicht die Begierden der Machthaber reizen – zeugte das Innere von einer gediegenen Ausstattung: In den unteren Räumen hielt sich die zahlreiche Dienerschaft auf; in einem Zwischenstock wohnte die Familie und den ganzen Oberstock nahm ein prachtvoller hochgewölbter Saal ein, eine Art Empfangsraum von Säulen getragen.17 Für den beruflichen Aufstieg zählte neben dem finanziellen insbesondere der geistige Reichtum, der Phanarioten. Diese kamen über die Kaufmannskolonien in allen wichtigen Handelsplätzen in Europa in den Genuss einer ausländischen Ausbildung. Ideengeschichtliche Einflüsse von außerhalb führten auch zu einem kulturellen Aufschwung dank zahlreicher Gründungen von Gymnasien und Akademien insbesondere in den griechisch-orthodoxen Gemeinden, an denen Phanarioten als Lehrer tätig waren. Eine herausragende Position nahmen im 17. und 18. Jahrhundert Alexander und Nikolaos Mavrokordatos ein. Eine Anzahl von Werken und Abhandlungen des ersteren, der in Padua und Rom den Doktor der Philosophie und Medizin erworben hatte, zeugen von seinem ausgedehnten Wissen und verraten aristotelische Tradition wie aufklärerische erzieherische Motivation. Ebenso verfasste auch der Sohn Nikolaos mehrere Werke. 18 Außerdem setzten die Bibliotheken einzelner Phanarioten Maßstäbe, so wie jene von Michail Kantakouzenos, um dessen Manuskripte sich westliche Universitäten gestritten haben sollen. Mehrere Artikel befassen sich zudem mit der

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Vgl. hierzu die Bilder in Gottwald 1941 (wie Anm. 1). Vgl. z.B. Mavrocordatos, Nicolas: Les loisirs de Philothée. Athen 1989; Bouchard, Jacques: Nicolae Mavrocordat. Domn şi cărturar al Iluminismului timpuriu (1680-1730). Bukarest 2006, S. 55-81; Xenopol, Alexandru D.: Istoria românilor din Dacia Traiană. Bd. 4: Istoria modernă. Bukarest 1993, S. 7-22. Zur besonderen Bedeutung der von Vater und Sohn Mavrokordat angelegten Bibliothek vgl. Bădără, Doru: O carte din biblioteca Mavrocordaţilor in colecţiile Bibliotecii Centrale Universitare din Bucureşti. In: Studies and Materials of Medium History 19 (2001), S. 251-253.

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aufgelösten großen wertvollen Bibliothek von Alexandros Mavrokordatos. 19 Erste Nutzer und Interessenten des angesammelten Bildungs- und Kulturgutes waren neben den Besitzern zunächst die eigene Familie, insbesondere die Frauen, die, so Suraiya Faroqhi, Bildung und Kultur erhielten, um diese in Form von Schriften, die in Westeuropa erschienen, dann selber weiterzugeben.20 Dieses waren die maßgebenden Grundlagen für den Einstieg der Phanarioten in die Sphären der Hohen Pforte, in das Amt des Pfortendolmetschers.

Die Pfortendolmetscher Das Amt des Pfortendolmetschers (Dragoman), des offiziellen Interpreten, das bereits seit der Frühzeit im Osmanischen Reich überliefert ist und zunächst eher im Hintergrund stand, erhielt in der Neuzeit eine gesteigerte Bedeutung; ebenso auch das Amt des Flottendolmetschers, auf das hier nicht näher eingegangen wird. Bereits in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts war es für die Pforte nämlich immer deutlicher geworden, dass es nicht mehr ausreichte, allein auf die Waffengewalt, die Disziplin der Spahis und Janitscharen, die militärischen Talente der Großwesire und die eine oder andere außerordentliche Persönlichkeit auf dem Sultansthron zu setzen. Geschickte Diplomaten waren für das Überleben des Staates mindestens so wichtig geworden wie siegreiche Generäle. 21 Der Tätigkeit eines Dragomans waren die Phanarioten dank der bereits erreichten Machtfülle sowie der breiten Sprachkenntnisse gewachsen. Der Pfortendolmetscher wurde nämlich zunehmend nicht nur für Übersetzungsarbeiten herangezogen, sondern regelrecht zum Verhandlungspartner mit fremden Mächten, „spécialisé dans les échanges culturels entre Orient et Occident“. 22

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20 21

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Zu Alexandros Mavrokordatos vgl. auch Cernovodeanu, Paul/Carataşu, Mihail: Correspondance diplomatique d’Alexandre Mavrocordato l’Exasporite, 1676-1703. In: Revue des Etudes Sud-Est Européenes 20 (1982), S. 93-128. Vgl. Faroqhi, Suraiya: Kultur und Alltag im Osmanischen Reich. München 1995, S. 95-140. Die osmanische Geschichtsschreibung hingegen sieht in der zunehmenden Bedeutung des Amtes des Dragoman stärker den für die neuzeitliche Herrschaftsausübung typischen Vorgang der Bürokratisierung und Routinisierung. Vgl. Adanır, Fikret: Nicht-muslimische Eliten im Osmanischen Reich. In: Höpken, Wolfgang/Sundhaussen, Holm (Hrsg.): Eliten in Südosteuropa. Rolle, Kontinuitäten, Brüche in Geschichte und Gegenwart. München 1998 (= Südosteuropa-Jahrbuch 29), S. 49-68; Höpken, Wolfgang: Zwischen Bürokratie und Bürgertum. „Bürgerliche Berufe“ in Südosteuropa. Ebd., S. 69-104. Pippidi, Andrei: Quelques drogmans de Constantinople au XVIIe siècle. In: Revue des Études Sud-Est Européenes 10 (1972), H. 2, S. 227-255, hier S. 228.

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In der Zeitspanne zwischen 1661 und 1821 bekleideten 38 Phanarioten dieses Amt, die aus nicht mehr als 12 Familien stammten: z.B. neben den Mavrokordatos noch die Ghikas, Kallimachis, Karadzás, Soutzos, Mourousis oder Ipsilantis. 23 Davon starben mehrere während ihrer Amtszeit eines gewaltsamen Todes, weil ihnen entweder misstraut wurde oder sie die Erwartungen der Pforte nicht erfüllten. Zum einen trat der Dolmetscher bei den Empfängen der fremden Botschafter und Gesandten durch den Großwesir, besonders aber anlässlich der nach einem festen Zeremoniell ablaufenden Audienzen beim Sultan im Topkapi-Palast in Erscheinung. Von viel größerer Bedeutung jedoch waren die Verhandlungen des Großwesirs, dem Vorsteher des Diwans und zweiten Mann im Reich, mit fremden Diplomaten. 24 Zahlreiche Staatsverträge zwischen der Pforte und den europäischen Mächten sind durch die Hände der Dolmetscher gegangen. Bei Friedensverhandlungen spielten sie stets eine bedeutende Rolle. Auf jeden Fall nahmen die Pfortendolmetscher eine wichtige Vertrauensposition ein, die nicht einfach war: Einerseits mussten sie dem stets wachen Argwohn der muslimischen Oberschicht begegnen, andererseits konnte ihr christliches Bekenntnis in den Verhandlungen mit den Vertretern fremder europäischer Mächte durchaus von Vorteil sein. 25 Der erste Dragoman aus dem Phanar, Panayiotis Nikousios (1661-1673), war medizinisch und naturwissenschaftlich gebildet und multilingual; er beherrschte neben griechisch, türkisch und arabisch auch persisch und lernte zudem Latein und mehrere europäische Sprachen in Padua. Neben der Erneuerung abgelaufener Friedensverträge war er maßgeblich im Krieg um Kreta gegen die Republik Venedig bei der Übergabe der Festung Kandia 1669 beteiligt. 26 Seine erfolgreichen Aktivitäten brachten ihm und seinen Nachfolgern im Amt durch den Großwesir Köprülü Ahmet die Erhöhung zum Großdragoman an der Pforte ein. Nikousios folgte der bedeutendste Pfortendolmetscher, der bereits erwähnte Alexander Mavrokordatos (1673-1709). Seine Biographen, wie Nestor Camariano, sehen als seine große Leistung die Vermittlung des Friedens von

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Vgl. Gottwald 1941 (wie Anm. 1), S. 23. Vgl. hierzu auch Osterhammel, Jürgen: Die Entzauberung Asiens. Europa und die orientalischen Reiche im 18. Jahrhundert. München 1998, S. 128. Vgl. Groot, Alexander H. de: Dragomans’ careers. The Change of the Status in some Families connected with the British and Dutch Embassies at Istanbul, 1785-1829. In: Hamilton, Alastair (Hrsg.): Friends and Rivals in the East. Studies in Anglo-Dutch Relations in the Levant from the Seventeenth to the Early Nineteenth Century. Leiden u.a. 2000, S. 223-246, hier S. 225. Vgl. Dimaras, Constantinos Th.: A History of Modern Greek Literature. New York 1972, S. 69f.; Hering, Gunnar: Panagiotis Nikousios als Dragoman der kaiserlichen Gesandtschaft in Konstantinopel. In: Jahrbuch der Österreichischen Byzantinistik 44 (1994), S. 143-178.

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Karlowitz von 1699 an. 27 Das Vertragswerk, das einen 16-jährigen Krieg der Heiligen Liga gegen die Osmanen beendete, markierte eine wichtige Etappe der Zurückdrängung des osmanischen Reiches als Großmacht. Es wird als das Verdienst Mavrokordatos’ angesehen, dass das Osmanische Reich beim Friedensschluss noch relativ glimpflich abgeschnitten hatte. Die Liste der Vergünstigungen und Belohnungen, die die Großdragomane erhalten hatten, ist lang, markiert zugleich aber auch die besondere politische Machtposition, die diese Nichtmuslime innehatten: Nach Panayiotis Nikousios sollte das Amt fortan zum Bereich der Auswärtigen Angelegenheiten gehören. Als herausgehobene Diplomaten saßen sie im Diwan und nahmen an allen diplomatischen Konferenzen teil, sie unterstanden ausschließlich der Gerichtsbarkeit des Großwesirs; außerdem bezahlten sie, ihre Söhne sowie 20 Personen aus ihrer Umgebung weder haraç noch Zoll; sie durften wie ein Wesir von Gefolge umgeben reiten, hatten Janitscharenwachen, durften sich den Bart wachsen lassen sowie einen kostbaren Pelz und einen biberbesetzten Kalpak tragen; sie durften eine Wohnung im Palast des Sultans beziehen sowie allein und frei vor den Sultan treten (wie die anderen Wesire). Schließlich war es ihnen gestattet, tscherkessische Sklavinnen zu kaufen, was Christen sonst verboten war. Alexandros Mavrokordatos, derjenige Pfortendolmetscher, der dieses Amt mit 36 Jahren am längsten inne hatte, verlängerte diese Liste der Privilegien noch. Als Anerkennung für das Zustandekommen des Friedens von Karlowitz verlieh ihm Sultan Mustafa II. eine ganz besondere Auszeichnung, die nie vorher und nie nach ihm verliehen worden ist: die Würde eines „Bewahrers der Geheimnisse“, eines geheimen Rates des Sultans („εξ απορρήτων“). Ein weiteres Zeichen höchster Würde war der Rang eines Paschas und der Anspruch auf zwei Rossschweife. (zum Vergleich: die Wesire hatten Anspruch auf drei Rossschweife; der Großwesir später auf vier oder fünf). Schließlich kristallisierte sich mit Mavrokordatos ein weiterer und letzter Schritt auf der Karriereleiter im Osmanischen Reich heraus.

Die Fürsten der Moldau und der Walachei Der Höhepunkt des politischen Einflusses der Phanarioten war die Position eines Hegemon in der Vlakhobogdania, den Donaufürstentümern Moldau und Walachei, im 18. und 19. Jahrhundert. Das auf innerer Autonomie beruhende Suzeränitätsverhältnis gegenüber der Pforte seit dem 15. Jahrhundert, 27

Vgl. Camariano, Nestor: Alexandre Mavrocordato, le grand drogman. Son activité diplomatique, 1673-1709. Thessaloniki 1970.

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das den Fürstentümern eine Regierung durch autochthone Herrscher ermöglicht hatte, erfuhr zu Beginn des 18. Jahrhunderts durch die Installierung von Herrschern aus den konstantinopolitanischen Familien der Phanarioten zeitweise eine Einschränkung. Mit der Einführung des phanariotischen Regimes, d.h. der Entsendung von Vertrauten des Sultans an die Grenze des Reiches, reagierte die Pforte auf die sich zuspitzende internationale Lage in der Region. 28 Der PruthFeldzug Peters des Großen sowie die Allianz des moldauischen Fürsten Dimitrie Cantemir mit Russland von 1711 führten trotz des Scheiterns des Unternehmens dem Sultan die Gefahren an der nördlichen Flanke seines Reiches deutlich vor Augen. Zugleich erwies sich auch die Walachei durch den 1716 einsetzenden erfolgreichen Vorstoß Wiens nach Südosten als Unsicherheitsfaktor. Konstantinopel verfolgte mit den neuen Herrschern die Festigung ihrer Kontrolle über die beiden Fürstentümer. Das neue System, keineswegs der Einrichtung eines Paschlîks gleich, entwickelte sich zu einem Kompromiss zwischen Autonomie und direkter zentraler Verwaltung. Das Fürstenamt, das die Phanarioten von 1709 bzw. 1711 und 1716 bis zum Ausbruch des griechischen Unabhängigkeitskampfes 1821 fast ausschließlich inne hatten, wurde von ganz wenigen dominiert, darunter von den Familien Mavrokordatos, Ghikas, Kallimachis, Soutzos, Ipsilantis, Mourousis oder Nikolaos Mavrogenis. Nicht unüblich war außerdem, dass ein Herrscher, wie z.B. Konstantinos Mavrokordatos zwischen 1731 und 1769, abwechselnd in der Moldau und in der Walachei residierte. 29 Markantes Merkmal der Phanariotenherrschaft in den Donaufürstentümern blieb aber der rasche Wechsel im Amt. Die für eine Durchschnittszeit von zweieinhalb Jahren eingesetzten Herrscher brachten zugleich einen großen Anhang nach Bukarest und Jassy, der abgesichert und versorgt werden wollte. 30 Gleichzeitig wurde der Besitz in Istanbul beibehalten. Sowohl die Erhebung eines potenziellen Kandidaten auf einen Fürstenthron als auch die Aufrechterhaltung der Herrscherwürde musste mit hohen Geldsummen erkauft werden. Das Schlagwort von der „Diplomatie des bakşiş“ machte die Runde.

28 29

30

Zur Herrschaft der Phanarioten in den Donaufürstentümern vgl. Djuvara, Neagu: Între Orient şi Occident. Ţările române la începutul epocii moderne. Bukarest 1995. Vgl. Constantiniu, Florin: Constantin Mavrocordat. Bukarest 1985; Soutzo, Démètre Skarl.: Les familles princières de Valachie et de Moldavie. In: Symposium L’epoque phanariote, 21-25 Oct. 1970. A la mémoire de Cléobule Tsorukas. Thessaloniki 1974, S. 229-253; Sainéan, Lazare: Le régime et société en Roumanie pendant la règne des Phanariotes (1711-1821). In: Revue internationale de Sociologie 10 (1902), S. 717-748; Berindei, Dan: Fanariotische Herrscher und rumänische Bojaren in den rumänischen Fürstentümern (1711-1821). In: Revue Roumains d’Histoire 23 (1984), H. 4, S. 324f. Vgl. dazu auch Ionescu, Ştefan: Bucureştii în vremea fanarioţilor. Cluj 1974.

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Die heftigsten Kritiker kamen zunächst aus den Reihen der Phanarioten selbst. Robert Seton-Watson schloss sich in seiner 1934 erschienenen Geschichte der Rumänen der negativen Bewertung an, die schließlich in der rumänischen nationalen Geschichtsschreibung zu einem Gemeinplatz werden sollte. 31 Florin Constantiniu und Şerban Papacostea ist es zu verdanken, dass das Bild der fremden Unterdrücker und Ausbeuter in der rumänischen Geschichtswissenschaft mittlerweile facettenreicher präsentiert wird. Neben dem nach wie vor gültigen Anstrich einer dunklen Periode erhält die Zeit der Phanarioten mit dem Charakterzug eines „Jahrhunderts der Reformen und der Öffnung“ eine neue Gewichtung. 32 Alle sozialen Bereiche, das Steuerwesen, die Agrarbeziehungen, die Verwaltung, die Justiz, Kirche und Kultur unterlagen umfassenden Restrukturierungsmaßnahmen, wobei in letzter Instanz eine Modernisierung und die Aufrechterhaltung der Ordnung und Stabilität angestrebt wurden. Auch wenn den Maßnahmen wegen der häufig wechselnden Herrscher keine Dauerhaftigkeit beschieden war, können einzelne Personen wie Nikolaos und Konstantinos Mavrokordatos oder Alexandros und Konstantinos Ipsilantis durchaus im Zusammenhang mit den großen Reformströmungen des aufgeklärten Absolutismus gesehen werden. Am weitesten ging Konstantinos Mavrokordatos, der 1746 bzw. 1749 die Leibeigenschaft in der Walachei und der Moldau abschaffte, wobei die Fronarbeit jedoch erhalten blieb. Ähnlich wie Maria Theresia und Joseph II. ging es auch den Phanarioten darum, den Wohlstand der Untertanen aus politisch-fiskalischen Gründen zu heben. Doch anders als den Habsburgern, denen ein möglichst effizienter Staat vorschwebte, zielten die Vorhaben der osmanischen Elite in den Fürstentümern zwar auch auf die Interessen des Gesamtreiches, doch standen jene der Fürstentümer und insbesondere ihre eigenen dabei im Vordergrund. Die Politik der Phanarioten gegen die Privilegien der Bojaren rief deren sozialen und in der Folge auch nationalen Protest hervor. Der Widerstand wandte sich zunächst gegen die alle Bereiche der Politik, der Kirche und des Bildungswesens in den beiden Fürstentümern erfassende Gräzisierungswelle, die Teil eines weiten ideologischen Programms war, das mit den Schlagworten des Nestors der rumänischen Geschichtswissenschaft Nicolae Iorga „Byzance après Byzance“ umschrieben werden kann. 33 Doch das Bild von der 31 32 33

Vgl. Seton-Watson, Robert: A History of the Roumanians. From Roman Times to the Completion of Unity. 2. Aufl., Cambridge 1963 (zuerst 1934). Vgl. Constantiniu, Florin/Papacostea, Şerban: Les réformes des premiers Phanariotes en Moldavie et en Valachie. Essai d’interpretation. In: Balkan Studies 13 (1972), H. 1, S. 89-118. Vgl. Iorga, Nicolae: Byzance après Byzance, continuation de l’Histoire de la vie byzantine. Bukarest 1935; Runciman, Steven: Byzantine civilization. London 1961, S. 299; hierzu auch Völkl, Ekkehard: Die griechische Kultur in der Moldau während der Phanariotenzeit (17111821). In: Südost-Forschungen 26 (1967), S. 102-139, hier S. 110.

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Fortführung byzantinischer Traditionen, worunter Dimitri Obolensky insbesondere den Kosmopolitismus und den Kult des Hellenismus subsumierte, 34 umschreibt nicht alle Seiten des Selbstverständnisses der Phanarioten. Den byzantinischen Herrschaftsmythos ergänzten sie durch das Merkmal der Orthodoxie sowie durch die von den Osmanenherrschern erhaltenen Machtattribute. Den Fürsten ging es darum, die erreichte Machtposition zur Schau zu stellen, die gegenüber den Pfortendolmetschern noch wesentlich höher war. So demonstrierte z.B. Michael Soutzos, der nicht nur Großdragoman, sondern 1792-1795 und 1812-1819 in der Moldau und 1791-1793 sowie 1802 in der Walachei herrschte, anhand bestimmter Attribute wie dem Turban, dem üppigen Bart, seinen Gewändern und Schuhen seine besondere Stellung. 35 Wie sehr nicht nur die Machtakkumulation, sondern auch die Machtkonservierung einen zentralen Stellenwert in den Überlegungen der Phanarioten einnahm, zeigt der Fall des walachischen Fürsten Nikolaos Mavrogenis, der 1786-1790 regierte. Ein allegorisches Bild, datiert auf das Jahr 1789, stellt eine Apotheose der Taten des Fürsten dar. Es zeigt eine Verherrlichung seiner Person: in der Mitte als leuchtende Gestalt erhöht auf einem vergoldeten Thron sitzend, von Gottes Gnaden. Der Text verrät zudem zwei zentrale Absichten: über ein großräumiges Reich zu herrschen sowie die Erblichkeit seiner Herrschaft zu erlangen. 36 Beides ist ihm verwehrt geblieben. Mavrogenis hatte zwar keinen Erben, doch wirkten seine Gedanken eines eigenständigen Reichsgebildes in seinem Sekretär Rigas Velestinlis, von dem noch zu sprechen sein wird, weiter. Wie wichtig den Phanarioten die Garantie der Erblichkeit und damit die Verstetigung der Machtposition war, zeigt auch ein Plan von Konstantinos Ipsilantis, der 1802-1806 auf dem Thron der Walachei saß. Er strebte nämlich neben dem Aufbau einer eigenen Armee auch die Errichtung einer ausgedehnten Erbmonarchie an. Doch dazu sollte es nicht kommen. So wie der Zeitpunkt des Einsetzens der Herrschaft der Phanarioten in den Fürstentümern war auch das Ende sehr stark von außenpolitischen Ereignissen geprägt, die verbunden waren mit dem Hegemoniestreben der Habsburgermonarchie sowie noch viel mehr Russlands. Die mit dem Frieden von Küçük Kaynarca 1774 aufkommende „orientalische Frage“, wie mit dem „kranken Mann am Bosporus“ umzugehen sei, führte zu einer Internationali34 35

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Vgl. Obolensky, Dimitri: The Byzantine Commonwealth. Eastern Europe, 500-1453. New York 2000. Vgl. das Bild des Phanarioten in: Cernovodeanu, Paul/Edroiu, Nicolae (Hrsg.): Istoria Românilor, vol. VI. Românii între Europa clasică şi Europa luminilor (1711-1821). Bukarest 2002, Nr. 36 a. Vgl. das Bild ebd., Nr. 34. Vgl. auch Blancard, Theodore: Les Mavroyeni. Histoire d’Orient (de 1700 à nos jours). 2 vol. Paris 1909.

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sierung der Krise in Südosteuropa und brachte damit natürlich auch neues Gedankengut in die Fürstentümer, das im 19. Jahrhundert schließlich das Ende der osmanischen Herrschaft nördlich der Donau herbeiführte. In der letzten Periode ihrer Herrschaft in den Donaufürstentümern waren die Phanarioten auch weiterhin durchdrungen von einem byzantinischorthodoxen Selbstverständnis; sie entwickelten zwar auch eigene Herrschaftsvorstellungen, doch verließen sie dabei nicht die Obhut ihres Oberherren, des Sultans, und traten als „professionelle Osmanen“ auf. 37

Der Niedergang: das Ende des „ersten Phanars“ Statt dem Traum von der Wiedererrichtung eines von neobyzantinischem Gedankengut durchdrungenen Reiches nachzuhängen, wurden die Phanarioten mit Beginn des Zeitalters der sezessionistischen Nationalbewegungen unsanft geweckt. Die osmanische Elite reagierte auf die Ideen der französischen Revolution in Verbindung mit dem Patriarchat sehr heftig. In seiner Väterlichen Ermahnung (didaskalia Patriki) stellte Patriarch Ánthimos die Idee der Freiheit als neue Versuchung des Teufels hin und bezeichnete die Herrschaft des Sultans dagegen als von Gott eingerichtet und gesegnet. Der Siegeszug der westlichen säkularen Strömungen, z.B. der Lehre von der Gleichheit aller, triumphierte letztendlich, doch noch tauchten Pläne auf, die von phanariotischem Gedankengut durchdrungen waren, auch wenn dieses von den neuen Ideen mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt wurde. Der bereits erwähnte Rigas Velestinlis entwickelte 1796 einen Plan für ein regeneriertes Griechenland, das die gesamte Balkanhalbinsel und Kleinasien umfasste. 38 Ebenso kursierte auch die Konzeption von einem neuen hellenischen „Commonwealth“, doch konzentrierte sich dies 1821, im Jahr des griechischen Aufstands, entsprechend der Megali Idea und den Vorstellungen der Philiki Eteiria mehr und mehr auf das Wohl eines griechischen Vaterlandes. Die Pforte war durch die Ereignisse des Jahres 1821 verständlicherweise alarmiert. Eine Folge für die Phanarioten war der Verlust der politischen Ämter, des Titels des Großdragomans und der Fürstenwürde, und dieser bedeutete zugleich ein Schwinden der seit dem 17. Jahrhundert in ihren Händen konzentrierten besonderen Macht. 37

38

Vgl. Sundhaussen, Holm: Eliten, Bürgertum, politische Klasse? Anmerkungen zu den Oberschichten in den Balkanländern des 19. und 20. Jahrhunderts. In: Höpken/Sundhaussen 1998 (wie Anm. 21), S. 5-30. Vgl. Zelepos, Ioannis: Die Ethnisierung griechischer Identität 1870-1912. Staat und private Akteure vor dem Hintergrund der ‚Megali Idea‘. München 2002 (= Südosteuropäische Arbeiten 113), S. 42-55.

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Die Geschichte der Elite der Phanarioten im Osmanischen Reich, des „ersten Phanars“ nach Maria Georgiadou, endete tragisch. 39 Die Pforte ließ unter den führenden Phanarioten in Konstantinopel 1821 ein Massaker anrichten; unter den Opfern befand sich auch Patriarch Grigorios V., ein fanatischer Gegner des Aufstandes. Von den Überlebenden ließen sich einige im künftigen Griechenland oder in Rumänien nieder, andere blieben im Osmanischen Reich und der späteren Türkei, wiederum andere emigrierten nach Westeuropa. So kann man beispielsweise Mavrogenis noch im Osmanischen Reich, in der Türkei, in Griechenland und in Rumänien in politischen Ämtern, oder Mavrokordatos in den letzten beiden Ländern und in Westeuropa wiederfinden. Doch ist dies bereits Teil einer neuen, nach Philip Mansel neophanariotischen Geschichte des „zweiten Phanars“. 40

Fazit Die Phanarioten nahmen in Südosteuropa während der Zeit der osmanischen Herrschaft als Osmanli vom 17. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts eine herausragende gesellschaftliche Position ein, die in der Kombination von religiöskonfessioneller Zugehörigkeit, kosmopolitisch-byzantinischer Tradition, wirtschaftlichem Wohlstand, aufklärerischem Bildungsniveau, politischer Macht, aber auch Intrigen, Korruption und Ämterkauf gründete. Der Osmanist Hammer-Purgstall charakterisierte das Amt des Großdolmetschers als „eines der angesehensten Hof- und Staatsämter“.41 Aufgrund ihres großen Einflusses und der Verfestigung zur Elite bezeichnen die griechische und osmanische Historiographie, unter anderem die 16-bändige Geschichte der griechischen Nation oder Christoph Neumann, das 18. Jahrhundert als „die Zeit der Phanarioten“. 42 Dem muss aber hinzugefügt werden, dass die Zugehörigkeit zu dieser Führungsschicht personen- und insbesondere familienbezogen blieb. Eine stabile Oberschicht konnte sich trotz alledem nicht herausbilden. Zwar ist der Versuch unternommen worden, um es mit Holm Sundhaussen zu formulieren, Verfügungsgewalten zu vererben, wie das im Amt des Pfortendolmetschers oder des Herrschers der Donaufürstentümer zum Teil erfolgt, aber auch genauso oft gescheitert ist, doch zeigt zugleich der schnelle Wechsel im Amt die damit einher39 40 41 42

Vgl. Georgiadou, Maria: Vom ersten zum zweiten Phanar und die Carathéodorys. In: SüdostForschungen 59/60 (2000/2001), S. 164-217. Vgl. Mansel, Philip: Constantinople. City of the World’s Desire, 1453-1924. London 1995, S. 252f. Hammer-Purgstall, Joseph von: Des osmanischen Reichs Staatsverfassung und Staatsverwaltung. Zweyter Teil: Die Staatsverwaltung. Wien 1815 (ND Hildesheim 1963), S. 117-119. Vgl. Kreiser, Klaus/Neumann, Christoph K.: Kleine Geschichte der Türkei. Stuttgart 2003, S. 244.

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Hans-Christian Maner

gehende Willkür und das nicht selten tragische Ende, dass es keine Garantie dieser Verfügungsrechte gab und somit eine Kontinuität und Stabilisierung von Macht illusorisch blieb. 43 Übertritte zum Islam, um noch höher auf der Karriereleiter zu kommen, fanden nicht statt. Vor dem Hintergrund der Entwicklung im Osmanischen Reich ab dem 17. Jahrhundert verkörperten die Phanarioten nicht mehr, aber auch nicht weniger als eine in sich abgeschlossene, klar von anderen, muslimischen Machteliten unterschiedene Funktionselite auf Abruf, die jenseits der Exotik von „Tulpenzeit“ und „Turquerie“ zu einer tiefgreifenderen kulturellen Durchdringung von Ost und West beitrug.

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Vgl. Sundhaussen 1999 (wie Anm. 8), S. 829-878.

Die Autorinnen und Autoren

PD Dr. phil. BETTINA BRAUN, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Europäische Geschichte Mainz. HENDRIKJE CARIUS, M.A., Wissenschaftliche Volontärin an der Universitätsund Forschungsbibliothek Erfurt/Gotha. Prof. Dr. phil. RENATE DÜRR, Professorin für Geschichte der Frühen Neuzeit in Kassel. Prof. Dr. phil. STEFAN EHRENPREIS, vertritt den Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Prof. Dr. phil. JOACHIM EIBACH, Professor für die Geschichte der „Sattelzeit“ an der Universität Bern. Dr. phil. ANTJE FLÜCHTER, Leiterin der Junior Research Group „Cultural Transfer as a Factor of Statebuilding“ am Exzellenzcluster „Asia and Europe in a Global Context“ der Universität Heidelberg. Dr. phil. ANDREAS FRINGS, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Abteilung für Osteuropäische Geschichte des Historischen Seminars der JohannesGutenberg-Universität Mainz. Prof. Dr. phil. GUDRUN GERSMANN, Professorin für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität zu Köln und Direktorin des Deutschen Historischen Instituts in Paris. MARIA GOLUBEVA, Ph.D., Politikberaterin am Centre for Public Policy PROVIDUS in Riga. Dr. phil. FELIX HINZ, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte (Geschichtsdidaktik und Frühe Neuzeit) der Stiftung Universität Hildesheim. Prof. Dr. phil. CHRISTOPH KAMPMANN, Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Philipps-Universität Marburg. Dr. phil. MARTIN KNOLL, Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Geschichte (Fachgebiet für Neuere Geschichte mit Schwerpunkt Stadt- und Umweltgeschichte) der Technischen Universität Darmstadt.

682 Prof. Dr. phil. STEFAN KROLL, Leiter des Arbeitsbereichs Multimedia und Datenverarbeitung in den Geisteswissenschaften und Außerplanmäßiger Professor für Neuere Geschichte an der Philosophischen Fakultät der Universität Rostock. ANDREAS KUNZ, Ph.D., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Europäische Geschichte Mainz und dort seit 2007 für den Forschungsbereich „Raumbezogene Forschungen zur Geschichte Europas seit 1500“ verantwortlich. Prof. Dr. phil. JAN KUSBER, Professor für Osteuropäische Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Prof. Dr. phil. EVA LABOUVIE, Professorin für Geschichte der Neuzeit (17.19. Jahrhundert) mit dem Schwerpunkt Geschlechterforschung am Institut für Geschichte der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Prof. Dr. phil. ACHIM LANDWEHR, Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. PD Dr. phil. STEPHAN LAUX, Historisches Seminar/Persönlicher Referent des Rektors der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. PD Dr. phil. HANS-CHRISTIAN MANER, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz und Leiter der Zweigstelle Mainz der Südosteuropa-Gesellschaft. Dr. phil. SILKE MARBURG, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte der Technischen Universität Dresden. Prof. Dr. phil. CHRISTOPH MARX, Professor für Außereuropäische Geschichte an der Universität Duisburg-Essen. Dr. phil. MONIKA MOMMERTZ, vertritt den Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Basel. Dr. phil. THOMAS MÜLLER, Koordinator des Projekts „Route Charlemagne“ bei der Stadt Aachen. MATTHIAS MYRCZEK studiert Geschichte und Anglistik an der RWTH Aachen. Dr. phil. ULRICH NIGGEMANN, Wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFGProjekt „Herrschermemoria und politische Norm in der Frühen Neuzeit“ an der Philipps-Universität Marburg. Prof. Dr. phil. DOROTHEA NOLDE, Juniorprofessorin für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Bremen.

683 Prof. Dr. phil. JUTTA NOWOSADTKO, Professorin für die Geschichte der Frühen Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Helmut-Schmidt-Universität, Universität der Bundeswehr, Hamburg. Prof. Dr. phil. CLAUDIA OPITZ-BELAKHAL, Professorin für Neuere Geschichte an der Universität Basel und Mitkoordinatorin des Arbeitskreises „Geschlechtergeschichte der Frühen Neuzeit“. ERIC PILTZ, M.A., Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt „Gottlosigkeit und Eigensinn – Religiöse Devianz in der Frühen Neuzeit“ des Sonderforschungsbereichs 804 „Transzendenz und Gemeinsinn“ der Technischen Universität Dresden. Dr. phil. FRANK POHLE, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehr- und Forschungsgebiet Geschichte der Frühen Neuzeit der RWTH Aachen. Prof. Dr. phil. RALF PRÖVE, Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Potsdam und Sprecher des Frühneuzeitzentrums Potsdam. Prof. Dr. phil. CHRISTINE ROLL, Professorin für Geschichte der Frühen Neuzeit und Leiterin des Hochschularchivs an der RWTH Aachen. Dr. phil. ANDREAS RUTZ, Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Geschichtswissenschaft (Abteilung für Rheinische Landesgeschichte) der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Dr. phil. INKEN SCHMIDT-VOGES, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit in Osnabrück. Prof. Dr. phil. MATTHIAS SCHNETTGER, Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. ANGELA STRAUSS, M.A., arbeitet im Rahmen ihres Promotionsprojektes über die Religionspraxis von Militärangehörigen im 18. Jahrhundert. Prof. Dr. ANNE-CHARLOTT TREPP, Professorin für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Ruhr-Universität Bochum. KERSTIN WEIAND, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt „Herrschermemoria und politische Norm in der Frühen Neuzeit“ an der PhilippsUniversität Marburg. Prof. Dr. phil. SIEGRID WESTPHAL, Professorin für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Osnabrück. PD Dr. phil. CHRISTIAN WIELAND, Akademischer Rat auf Zeit am Historischen Seminar der Universität Freiburg im Breisgau.

684 CARMEN WINKEL, M.A., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Militärgeschichte/Kulturgeschichte der Gewalt der Universität Potsdam. Dr. theol. JOHANNES WISCHMEYER, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Europäische Geschichte Mainz. Prof. Dr. phil. CORNEL ZWIERLEIN, Juniorprofessor für Umweltgeschichte an der Ruhr-Universität Bochum und Leiter eines DFG-Projekts zur Risikozähmung in der Vormoderne.