Träume und Tagträume: Eine individualpsychologische Analyse 9783666462214, 3525462212, 9783525462218

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Träume und Tagträume: Eine individualpsychologische Analyse
 9783666462214, 3525462212, 9783525462218

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Rainer Schmidt

Träume und Tagträume Eine individualpsychologische Analyse

3., überarbeitete Auflage

Vandenhoeck & Ruprecht 3

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. 1. Auflage 1980, Kohlhammer 2. Auflage 1991, Fischer Taschenbuch Verlag ISBN 3-525-46221-2 Umschlagabbildung: Franz Theobald Horny (1798–1824), Chrysantheme, um 1817, Graphische Sammlung im Städel, Frankfurt/M. © 2005, Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen. Internet: www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Satz: Text & Form, Garbsen. Druck und Bindung: Hubert & Co. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt

Vorwort zur Neuauflage ..........................................................

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I. Teil: Abgrenzung Einleitung und Einführung des Begriffs »Gemeinschaftsgefühl« ............................................................ 13 Exkurs: Heutiges Nachdenken über den Begriff »Gemeinschaftsgefühl« ............................................................ 22 Dramaturgie eines Traums und Einführung des Begriffs Finalität ................................................................ 29 Finalität und Gemeinschaftsgefühl – zwei aufeinander bezogene Begriffe im dialektischen Konzept Alfred Adlers ............................................................................. 39 Traumtheorien bei Freud und Adler ...................................... Unterschiede der Denkansätze und die Stellung des Traums in den theoretischen Systemen .................... Übereinstimmungen der Theorien .................................. Die Verschiedenheiten der Theorien ...............................

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Exkurs: Heutiges Traumverständnis und Neurobiologie .... 77 Zehn Thesen einer individualpsychologischen Traumtheorie ............................................................................ 86

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II. Teil: Traumbeispiele Drei zusammenfassende Thesen ........................................... 105 Zehn Beispiele von Träumen ................................................. Ein Patient erklärt dem Therapeuten die kausalen Bedingungen seines Lebensstils im Traum .................... Der Patient erklärt dem Therapeuten in einem Traum, dass er die Mutter nicht aus der Verantwortung entlassen will ...................................................................... Ein Traum vom Therapeuten – der Patient leistet Widerstand ......................................................................... Ein Traum, in welchem der Träumende versucht, seine persönlichen Ideale den realen Möglichkeiten anzugleichen ...................................................................... Ein anderer Traum, der »ja, aber« sagt – Bemerkungen über Organminderwertigkeit und das Aufwachen aus dem Traum ....................................... Ein Traum wird verständlich aus assoziierten Kindheitserinnerungen .................................................... Ein Traum erzählt von einer Kränkung durch den Vater und von einem ödipalen Konflikt ......................... Zwei Träume von der Auseinandersetzung mit dem Vater .................................................................................... Ein so genannter Übertragungstraum ............................ Ein Traum, in dem der Träumende sich Mut macht .....

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Vorläufiger Rückblick ............................................................. 145 »Lieber Freund, mir träumte ...« – Darstellung eines Teils des Prozessverlaufs einer individualpsychologischen Analyse am Beispiel von fünf Träumen ............ 147 Nachgedanken ......................................................................... 164

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III. Teil: Traum und Tagtraum Tagträume in tiefenpsychologischer Sicht ............................ 167 Der Tagtraum als konkrete Utopie – die Anregungen Ernst Blochs ............................................................................. 178 Tagtraumbeispiele ................................................................... Ein Junge enthüllt im Tagtraum sein aktuelles Problem .............................................................................. Im Weiterphantasieren einer Kindergeschichte trainiert ein Patient Mut ................................................... Eine Patientin löst sich vom Elternhaus im tagtraumartigen Weiterphantasieren eines Traums ......

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Exkurs über das Unbewusste am Beispiel eines gelenkten Tagtraums ............................................................... 202 Ein Ausblick ............................................................................. 209 Traumarbeit in der Gruppe – das Unbewusste als Inszenierung im Beziehungsgeflecht von Übertragung und Gegenübertragung .......................................................... Über die therapeutische Beziehung ................................ Der Traum einer Patientin und ein Traum des Therapeuten ....................................................................... Über Abstinenz und Agieren ...........................................

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Literatur .................................................................................... 227

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Vorwort zur Neuauflage

Seit der Erstauflage dieses Buches sind mehr als zwanzig Jahre vergangen. Mein Anliegen, den Beitrag Alfred Adlers, des Begründers der Individualpsychologie, im Kanon der vielen sich aus der Tradition der von Sigmund Freud und seinem Nachdenken über den Traum entwickelten Psychoanalyse hervorgegangenen Schulen zum Verständnis von Träumen darzustellen und für einen Diskurs verfügbar zu machen, ist – wie ich meine – aktuell geblieben. Ich sehe die Individualpsychologie eingebunden in diesen großen geistesgeschichtlichen Zusammenhang als eine psychoanalytische Schule. Als solche bilden die von ihr entwickelten Theorien über die Motivation menschlichen Fühlens, Denkens und Handelns – wie die seiner Träume – kein starres und unveränderbares System. Sie befinden sich ständig im Prozess und können nur lebendig bleiben, wenn sie einerseits unverwechselbar sind, also identisch in ihren Grundaussagen, andererseits offen im Dialog mit anderen Schulen, aber auch Strömungen geistes- und naturwissenschaftlicher Erkenntnisse. Das machte es notwendig, bei der Neuauflage dieses Buches neuere Forschungsergebnisse psychoanalytischer wie naturwissenschaftlicher Traumforschung einzubeziehen. Schon bei der Überarbeitung für die Taschenbuchauflage im Jahr 1991 brachte ich Korrekturen ein und fügte ein Kapitel über Traumarbeit in der Gruppe hinzu. Ich ging dabei einer Frage nach, die in den Reflexionen aller tiefenpsychologischen Schulen stark in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt war, nämlich der nach dem Beziehungsgeflecht zwischen Patient, Therapeut und Gruppe oder – anders gesagt – der Frage, wie sich im Feld von Übertragungen und Gegenübertragungen das Unbewusste darstellt. 9

Über die Annahme, dass die einfühlsam reflektierte und von beiden aus bewussten und unbewussten Anteilen gestaltete Beziehung zwischen dem Patienten und seinem Analytiker das eigentlich wirksame Agens jeder Therapie ist, besteht heute wohl weitgehende Übereinstimmung. Die größte Anregung für das Verständnis von Träumen kam während der letzten Jahrzehnte aus einem sich öffnenden Dialog zwischen der Psychoanalyse und der naturwissenschaftlichen Hirnforschung. Während beide Disziplinen über lange Zeit recht beziehungslos nebeneinander existierten oder gar gegeneinander polemisierten, ist es hier, dank neuer Erkenntnismöglichkeiten der Naturwissenschaften, zu einem noch vorsichtigen Sprechen miteinander gekommen. Daraus ergab sich für mich die Notwendigkeit, dem Buch einen Exkurs über diesen begonnenen Dialog hinzuzufügen. Das Nebeneinander verschiedener tiefenpsychologischer Schulen ist heute – aus meiner Sicht – in weiten Teilen zu einem gut nachbarschaftlichen geworden. Das bedeutet natürlich nicht, dass die Individualpsychologie nun etwa in anderen Schulen aufgehe. Die Vielfalt der unterschiedlichen Ansichten und Schwerpunktsetzungen psychoanalytischer Richtungen bedeutet auch Reichtum. Bei aller Übereinkunft mit anderen Schulen bleiben für mich einige Grundannahmen Alfred Adlers unverzichtbar, wie etwa die der Finalität, das heißt der Annahme einer Determiniertheit des Menschen durch ein aus der schöpferischen Kraft des Kindes entspringendes Bewegungsgesetz, welches der Kompensation einer empfundenen Minderwertigkeit folgend auf fiktive Größenziele hin ausgerichtet ist, Adlers Nachdenken über Macht und seine Aussagen über eine soziale und kosmische Gebundenheit des Menschen, wofür er später den Begriff »Gemeinschaftsgefühl« setzte. Dieser Begriff freilich blieb für viele jüngere Individualpsychologen sperrig und bleibt doch ein aus der späteren Theorie Adlers nicht herausnehmbares Kernstück. Die Diskussionen über dieses Problem waren kontrovers und lebhaft. Diese Tatsache machte es für mich notwendig, einen weiteren Exkurs über 10

die neueren Ergebnisse dieses Nachdenkens und meine Stellungnahme hinzuzufügen. Mein Buch will also Standorte deutlich machen, die sich in einem langen Leben der Auseinandersetzung mit der Individualpsychologie und der Psychoanalyse bildeten. Es will dem offenen Gespräch dienen, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Rainer Schmidt

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I. Teil: Abgrenzung

Einleitung und Einführung des Begriffs »Gemeinschaftsgefühl« »Was erstaunt ihr, was erschreckt euch, Wenn ein Traum mein Lehrer war Und ich voll Beklemmung fürchte, Dass ich noch einmal erwache Noch einmal im Turm mich finde? Mag es anders auch geschehen, Es genügt schon, es zu träumen; Denn ich habe eingesehen, Dass das ganze Glück der Menschen Schließlich wie ein Traum vorbeizieht; Diesmal will ich es benützen, Mag es kurze Frist auch dauern. Um Vergebung unserer Mängel Muss ich bitten.« Calderón de la Barca (1635), Das Leben ist ein Traum, 3. Akt, letzte Szene

Calderóns Held Sigismund wird fähig, ein König zu sein, als er erkennt, dass alles, was ihm an Macht und Ruhm zufällt, ihm gar nicht gehört, dass er ein Wanderer ist, ein Träumender, der, wenn er dieses geträumte Leben verantwortlich verwaltet, es sinnvoll macht als einen Zustand vor dem Erwachen zur Wahrheit. »Dass wir unser Sein nur träumen Bis man uns dem Schlaf entreißt.« 13

Dies wird Sigismund zur Gewissheit und ein Traum wird sein Lehrmeister. Ihn bedenkend begreift er, »dass die Macht nur Leihgut ist«. »Nichts verliert sich, was man Gutes tut in Träumen«, dieser Satz rechtfertigt den Aufstand des Volkes. Der ihn spricht ist – so sieht es Calderón – ein Begreifender geworden, ein Könnender, ein König. Seit ich dieses Drama zum ersten Mal las – vielleicht mit 16 Jahren, also beinahe solange ich denke – und lange bevor ich irgend ein Buch von Freud, Adler oder Jung las, hat es mich bewegt. Es erschien mir als eine sinnvolle Parabel, das Leben zu sehen als Insel des Traums in einem unbekannten Schlaf. Mehr noch, gerade die Erkenntnis, dass dieses gelebte Sein nur flüchtig, vielleicht nur Schein ist, begründet Sinn und Verantwortung für dieses Leben. Aber, wenn wir Träumende sind, was wären dann unsere Träume? Träume der Träumenden? Sie wären vielleicht der Schimmer einer Wahrheit, der in die von uns rational erfasste Welt dringt. Sie wären jedenfalls mehr als nur Schäume. Sicher ein unserem Tagleben sinnvoll zuzuordnender Bestandteil unseres Seins. Diese Grenzlinie zwischen einer Wirklichkeit, die vielleicht nur scheinbare Wirklichkeit ist, und Traum, der vielleicht mehr ist als die nur sinnlose Fata Morgana des Schläfers, ist immer wieder Thema dichterischer Meditationen gewesen. Eine der hübschesten Variationen dieses unerschöpflichen Themas stammt von Karl Valentin. Sie ist eigentlich nur ein kleiner, komischer Schlenker in seinen Szenen »Die Raubritter von München« (Valentin 1963): Michl weckt Bene. – Der: »Ja, ich hab jetzt grad einen Traum ghabt, einen ganz exotischen Traum. Mir hat nämlich träumt, i bin a Entn gwesn und bin in an Weiher umeinandgschwommen, und wie ich so umeinandaschwimm, seh ich am Rand draußen einen ganz langen, gelben Wurm, der war mindestens so gelb, i bin glei auf ihn hingeschwommen, und grad wie i an Schnabel aufreißen will und will den Wurm fressen, im selben Moment hast du mich aufgeweckt« (S. 11). 14

Der Sketch bezieht seine Komik aus der Konfrontation einer Traumlogik mit unserer Alltagslogik. Es erscheint absolut einfühlbar, dass dem Menschen, der träumt, er sei eine Ente, ein fetter, gelber Wurm als der größte Leckerbissen erscheint. Die komische Spannung wird noch überhöht dadurch, dass das träumende Selbst des Bene ein Stück der genüsslichen Verfressenheit des Münchener Volkskindes mit in sein Entendasein nimmt. Im kleinen Zögern von Michl: »Das is aber schad. Wenn ich da eine Ahnung ghabt hätt, dann hätt ich dir den Wurm zuerst fressen lassen«, drückt sich der Respekt vor der Wandlungsfähigkeit seines Menschenkameraden aus, vielleicht ein Wiedererkennen seiner eigenen Wandlungsfähigkeit. Der anschließende Dialog ist lustig. Er treibt einem Lachtränen in die Augen. Seine Skurrilität ist angesiedelt auf der Grenzlinie zwischen der Geworfenheit des Menschen in eine von ihm kaum verstandene Welt der Bilder und einer nur zu ahnenden Kontinuität alles Lebendigen jenseits unserer rationalen Welt. Karl Valentin war in seinem privaten Leben ein Melancholiker und Grübler. Mit seinem Ententraum stellt er sich durchaus in die Nähe jenes chinesischen Weisen, der träumte, er sei ein Schmetterling. Er erwacht und ist unsicher, ob er nun ein Mensch ist, der träumte, er sei ein Schmetterling, oder ein Schmetterling, der träumte, er sei ein Mensch. Sind also Träume nur Schäume? Ich gehe davon aus, dass sich in der Fülle der geträumten Bilder, in ihrer oft bizarren Andersartigkeit und in ihrer sinnlichen Präsenz ein Reichtum des Menschen ausdrückt, der Reichtum seiner Verwandlungsfähigkeit. Es ist die schöpferische Kraft seines Unbewussten, die er gegen sein Fremdsein in der Welt stellen kann. C. G. Jung überliefert einen Traum, der dies auf eindrucksvolle Weise ausdrückt: »Auf einer kleinen Straße ging ich durch die hügelige Landschaft, die Sonne schien, und ich hatte einen weiten Ausblick ringsum. Da kam ich an eine kleine Wegkapelle. Die Tür war angelehnt, und ich ging hinein. Zu meinem Erstaunen befand sich auf dem Altar kein Muttergottesbild und auch kein 15

Kruzifix, sondern nur ein Arrangement aus herrlichen Blumen. Dann aber sah ich, dass vor dem Altar, auf dem Boden, mir zugewandt, ein Yogin saß – im Lotus-Sitz und in tiefer Versenkung. Als ich ihn näher anschaute, erkannte ich, dass er mein Gesicht hatte. Ich erschrak zutiefst und erwachte an dem Gedanken: Ach so, das ist der, der mich meditiert. Er hat einen Traum, und das bin ich. Ich wusste, dass, wenn er erwacht, ich nicht mehr sein werde« (1971, S. 326). C. G. Jung deutet diesen Traum als ein Gleichnis: »Mein Selbst begibt sich in die Versenkung, sozusagen wie ein Yogin, und meditiert meine irdische Gestalt.« Dieser Satz erscheint mir einer Glaubensaussage ähnlicher als einer psychologischen Deutung. Tatsächlich führen Jungs Gedanken zur Psychologie des Menschen oft an die Grenze theologischer und philosophischer Thesen und manchmal über diese hinaus. Ich halte das für legitim. Eine Wissenschaft, die nicht grenzüberschreitend sein will, die sich etwa puristisch nur als Naturwissenschaft oder nur als Geisteswissenschaft definieren will, engt sich in ihren Aussagemöglichkeiten so weit ein, dass sie dem von ihr behandelten Gegenstand vielleicht gar nicht mehr gerecht werden kann. Mich fasziniert an diesem Traum seine sinnliche Schönheit, seine Transparenz und seine geistige Klarheit. Er erscheint mir so fassbar wie ein Stück wirkliches Leben, er ist unabtrennbar ein Teil vom Leben des ihn träumenden Menschen. Mich aber beschäftigt auch ein anderer Gedanke. Wenn wir der Spekulation folgen – als einem Gleichnis –, dass wir geträumt seien, wer träumt all das Elend der Kinder in dieser Welt, die auf ihr keine Nahrung finden? Wer träumt den Hunger, den Hass, die Unterdrückung, die Kriege, die Menschenverachtung? Was hätten unsere Träume für einen Sinn? Ich meine bei aller Spekulation über das Verwobensein von realem Leben und Traum dürfen wir nicht vergessen, dass wir Diesseitige sind, dass wir uns und die Welt – und auch unsere Träume – nur begreifen, wenn wir uns auf diese Welt beziehen. Sie stellt uns die Aufgaben und Fragen, die wir lösen müssen. In ihr handeln wir. Wir streben nach Geltung und Macht und wir versäumen dabei, den Hunger zu 16

stillen und den Krieg als den fadenscheinigen Beweger aller Dinge zu beseitigen. Wir tun dies als Entfremdete – das ist nachzulesen bei Dichtern und Philosophen, spätestens seit der Romantik bis in die Jetztzeit –, als Menschen also, die fremd werden in dieser Welt, indem sie das Bewusstsein des Seinszusammenhangs mit allen Schöpfungen dieser Welt verlieren. Bei Calderón lernte ich zum ersten Mal zu begreifen – ebenso wie bei dem erwähnten chinesischen Weisen oder bei Karl Valentin –, dass die Fähigkeit des Menschen zu Träumen Heilkraft bedeuten kann. Es ist sicher kein Zufall, dass gerade das Traumspiel von Calderón mich als jungen Menschen so fesselte. Der Zweite Weltkrieg war gerade vorbei und das Elend der ersten Nachkriegszeit noch nicht überwunden. Das alles war Anschauungsunterricht genug über das Gefährdetsein und die Flüchtigkeit menschlichen Lebens. Da erfuhr ich bei diesem spanischen Dichter der Renaissance, dass gerade diese Vergänglichkeit unsere Verantwortung für das Leben auf dieser Welt begründet. Dieser Gedanke blieb mir haften. Er prägte mein Denken bis heute, auch als ich bei den großen Psychologen des 20. Jahrhunderts Antworten suchte auf die Frage nach der Sinnhaftigkeit der Träume für unser Leben. Natürlich stieß ich zuerst auf die Theorien von Sigmund Freud, der den Traum als Erster einer wissenschaftlichen Erforschung zugänglich gemacht hat. Er deutet ihn als ein Ausdrucksphänomen des Menschen, das an der Reibungsfläche zwischen Triebwunsch und Kultur aufleuchtet und zwischen beiden zu vermitteln versucht. Dieser Gedanke faszinierte mich und tut es bis heute. Dennoch blieb auch hier ein unbefriedigtes Fragen in mir zurück. Manès Sperber hat mir dieses Unbehagen verständlich gemacht. In seinem Buch über Alfred Adlers Individualpsychologie schreibt er: »Obschon alles uns anzog, was an ihr wie eine Herausforderung an die bürgerliche Moral wirken konnte ..., hatte uns ihr Begründer kaum noch etwas zu sagen, was uns wirklich anging, spätestens seit dem Augenblick, wo er – es war nach dem namenlosen Grauen des ersten Weltkrieges – den Bestand eines Heeres 17

durch die libidinöse Bindung der Soldaten an die Heerführung erklären zu können, zu müssen glaubte« (1970, S. 154). Was ich als unbefriedigende Einengung empfunden hatte, war die Reduzierung des Blickwinkels bei der Betrachtung unbewusster Motivationen menschlichen Handelns auf einen triebdynamischen Ansatz, war, dass mir die Ganzheit des Menschen bei dieser Beschränkung der Ausgangshypothese verloren zu gehen drohte. In Alfred Adlers Individualpsychologie fand ich diese Ganzheit wieder. Dennoch begriff ich die Theorien von Freud und Adler nicht als ein sich ausschließendes Gegeneinander, sondern als Herausforderung zu einem Dialog. Alfred Adlers Lehre von der Menschenkenntnis erscheint auf den ersten Blick als eine eher pragmatische Psychologie des diesseitigen Menschen. Seine früheste Schrift erschien unter dem prosaischen Titel »Gesundheitsbuch für das Schneidergewerbe« (1898). Im Vorwort schreibt er: »Wir sehen die Ursachen der Krankheiten nicht mehr in einem zufälligen Zusammentreffen von Krankheitsstoff und Mensch, sondern suchen das Schlachtfeld der Arbeit nach Verwundeten und Leichen ab, deren Zahl sich nach großen ökonomischen Gesetzen durchsetzt.« Seine Sorge gilt also dem Menschen, der sich an den Widrigkeiten dieser Welt zerreibt. Er untersucht die »Gangart« des Menschen in einer diesseitigen Welt. Er sieht ihn in einer Bewegung aus einer hier erlebten Ohnmacht und Geworfenheit hin auf eine zunächst im Hier gesuchte Sicherheit und Macht. Der Gedanke, dass die innerpsychische Dynamik jeder menschlichen Entwicklung vor allem bestimmt wird von einer Bewegung, die herausführt aus einem existenziell als Bedrohung erlebten Gefühl von Minderwertigkeit und Ohnmacht zu einem als Fiktion gesetzten Ziel von Geltung, Sicherheit und Macht, steht ganz im Zentrum der tiefenpsychologischen Theorie Adlers und ist bis heute aktuell geblieben. Die Anregung zu dieser Anschauung fand Adler wohl in der Philosophie Friedrich Nietzsches. Manès Sperber präzisierte aber mit Recht: Während Nietzsche den Willen zur Macht »als einen Ausdruck höheren Menschentums, als Mittel und Ziel der Menschlichkeit zu Gunsten 18

des Übermenschen« auffasste, lag für Adler eher die »Tendenz zur Überkompensation eines durch quälende Minderwertigkeitsgefühle zutiefst gedemütigten Menschen« (1977, S. 107f.). Im späten Werk Adlers erscheint der Mensch einerseits geleitet von diesem unbewussten, ihm innewohnenden, finalen Bewegungsgesetz, das letztendlich aus der Ohnmacht zur Macht zielt, andererseits kann dieses Bewegungsgesetz aber korrigiert und gemildert werden durch ein in ihm ontogenetisch und philogenetisch – aber leicht irritierbares – Gefühl von Zugehörigkeit, das er Gemeinschaftsgefühl nannte. Adler berief sich dabei unter anderem auf den Dichter Fjédor Michailowitsch Dostojewski, durch den er sich bestätigt fühlte. Er schrieb: »Es ist die doppelte Bezogenheit jeder Figur auf zwei außerordentlich fixierte Punkte, die wir fühlen. Jeder Held Dostojewskis bewegt sich mit Sicherheit im Raum, der einerseits abgegrenzt wird durch das isolierte Heldentum, wo der Held sich in einen Wolf verwandelt, andererseits durch die Linie, die Dostojewski als Nächstenliebe so scharf gezogen hat« (1920/1973, S. 205). Das isolierte Heldentum kann verstanden werden als das ohnmächtige Geworfensein des Menschen, die Verwandlung in einen Wolf als die Kompensation dieser Minderwertigkeit in den Willen zur Macht, die Linie der Nächstenliebe entspricht einer korrigierenden Instanz, die er in seinem frühen Werk als »natürliches Zärtlichkeitsbedürfnis des Kindes«, in seinen späteren Schriften als »Gemeinschaftsgefühl« einführte. Als Korrektiv für diese finale Dynamik, die den Menschen auch ausrichtet auf Fiktionen wie Überbietung und Macht, führt Adler den Begriff des Gemeinschaftsgefühls ein. Wir denken an Calderóns Drama »Das Leben ist ein Traum«. Ehe Sigismund die Lektion seines Lehrmeisters, des Traums, begriff, war er nur ausgerichtet auf eine solche Fiktion. Königsein bedeutet ihm nur Macht haben über andere, Demütigung, Zerstörung, Rache. Der Traum lehrt ihn Bescheidenheit. Erst als er sein Königtum versteht als eine Verpflichtung der Gemeinschaft gegenüber, wird er ein wirklicher König. Was Gemeinschaftsgefühl bedeutet, können wir auch an Mär19

chen lernen, etwa an »Hans im Glück«, an »Rotkäppchen«, an »Hänsel und Gretel«, an »Aschenbrödel« und vielen anderen mehr. Gemeinschaftsgefühl ist in ihnen die Fähigkeit der positiven Märchenhelden, die Armut zu teilen. Dadurch gewinnen sie eine Verbundenheit mit allem Lebendigen, das sie die Sprache der Tiere und Pflanzen verstehen lehrt. Den Begriff »Gemeinschaftsgefühl« führt Adler erst nach der Rückkehr aus dem Ersten Weltkrieg in seine Theorie ein. Er erwähnt ihn zum ersten Mal im Vorwort zur zweiten Auflage seines Buches »Der nervöse Charakter« (Adler 1919). Später redigiert er ihn in frühere Arbeiten hinein. Das führt gelegentlich zu Akzentverschiebungen früherer tiefenpsychologischer Aussagen. Andererseits war die Grundannahme eines positiven sozialen Bezogenseins des Menschen seiner Theorie von Anfang an immanent. Die Postulierung eines natürlichen Zärtlichkeitsbedürfnisses des Kindes war eine frühe Vorwegnahme des Begriffs Gemeinschaftsgefühl. Manchmal gebrauchte er dafür umschreibende Wendungen wie »der Umweg über die Kultur«. Auch sein 1908 eingeführter Aggressionstrieb (Adler 1908/1914) – ein übergeordneter Trieb, der durch Triebverschränkung anderen Trieben die Kraft des Überkommens sichert – war von ihm gedacht als sozial zugewendeter Trieb. Zerstörerisch wird er erst in seiner Umkehrung, wenn er diesem Gefühl des natürlichen Dazugehörigseins zur Gemeinschaft der Mitmenschen entzogen ist. Als Adler den Begriff des Gemeinschaftsgefühls einführt, meint er damit einer Präzisierung. Er bezeichnet mit ihm eine vorgegebene innerpsychische Instanz, ein Angebot zur Synthese in der Dialektik von Ohnmacht und Macht. Der Begriff Gemeinschaftsgefühl wird erst gesetzt als Gefühl gemeinschaftlicher Verbundenheit mit der Umwelt, später als einzige angeborene seelische Funktion und schließlich als ideales Streben nach der vollkommenen Gemeinschaft. Hier wird der Begriff so stark mystisch überhöht, dass er in Gefahr gerät, verwechselt zu werden mit jener Auffassung von Gemeinschaft im Nationalsozialismus, der von Volksgemeinschaft redete, aber nicht Gemeinschaft meinte, sondern Masse, die blind auf einen 20

Führer ausgerichtet ist. Manès Sperber präzisiert den Begriff in seinem Buch »Individuum und Gemeinschaft« (1978), in dem er die dialektische Spannung von Individualität und Vergesellschaftung des Menschen untersucht: »Der Psychologe gelangt zu der Gewissheit, dass er nicht von der Gemeinschaft schlechthin sprechen kann, sondern von den realen Gemeinschaften, die unsere Gesellschaft realisieren« (Sperber, S. 116). Was Manès Sperber unter der Definition von Gemeinschaft als den realen Gemeinschaften, die unsere Gesellschaft realisieren, versteht, das ist viel mehr als die heute oft missbrauchte Abstraktion von Gesellschaft zum politischen Klischee. Wir erfahren es aus seinen biographischen Schriften »All das Vergangene« (1977). Strukturen der konkreten Gesellschaften, das waren im langen Leben Sperbers die Familie und die jüdische Gemeinde in Zablotow – dem kleinen galizischen Städtel –, die Gebetsschule, Wien, die politische Welt der zwanziger Jahre, der Kommunismus, der Stalinismus, der Verlust von Utopie, Emigration, Verfolgung, Faschismus und Antifaschismus, Paris, Baudelaire, die Rue de Notre Dame des Champs, Parks, Menschen und nicht zuletzt eine unendliche Fülle von Bildern. Gemeinschaft konkret, das sind die Menschen, denen wir täglich begegnen. Das sind die mit uns Lebenden und jeder von ihnen trägt eine Fülle von Geschichten und Bildern in sich. Das sind aber auch die Vergangenen, die Toten, auch sie können uns ganz gegenwärtig sein, etwa in Bildern und Büchern. Das sind nicht zuletzt die Zukünftigen, die uns in den Kindern begegnen. Tiefenpsychologie ist die Wissenschaft, die sich für die Motivationen menschlichen Handelns interessiert. Sie sucht diese Motivationen im Unbewussten, also außerhalb eines nur kognitiv erfassbaren Bereichs. Sie versucht das nicht Fassbare begreiflich zu machen. Sie kann daher nicht nur abstrakt beschreibend sein. ■ Ich gehe von der Überzeugung aus, dass nur eine den Menschen in der unteilbaren Ganzheit seiner sozialen und geschichtlichen Bezüge verstehende Psychologie die Träume und Tagträume des Menschen sinnvoll verständlich machen kann. 21

Exkurs: Heutiges Nachdenken über den Begriff »Gemeinschaftsgefühl« Die zurückliegenden Jahrzehnte haben gezeigt, dass sich jüngere Individualpsychologen bei der Diskussion über das ihnen von Adler hinterlassene Erbe seiner theoretischen Grundannahmen zu einer tiefenpsychologischen Verstehensweise menschlichen Fühlens, Denkens und Handelns – bei aller Bejahung seiner an Faihinger und Nietzsche orientierten Lehre von einem grundlegenden, auf finale Zielsetzungen (letztendlich auf die Fiktion von Macht) gerichteten Bewegungsgesetz der menschlichen Psyche und seiner Postulierung einer unteilbaren Ganzheit des Menschen – schwer taten mit dem Begriff »Gemeinschaftsgefühl«, der ja ganz im Mittelpunkt der späteren Ausformulierung seiner Individualpsychologie stand. In den zwanziger Jahren und auch nach der Wiederbelebung der Individualpsychologie in Deutschland in den sechziger und siebziger Jahren – nach dem Kulturbruch durch den Faschismus und den verheerenden Verwüstungen durch den Zweiten Weltkrieg – erlebte das Wort eine Art Inflationierung, wurde gelegentlich zu einer moralischen Forderung oder gar zu einem Dogma. Für andere bedeutete es dann später eher einen ärgerlichen Paradigmenwechsel, fort von einer tiefenpsychologisch analytischen Ausrichtung hin zu einem pädagogischen oder sogar missionarischen Ansatz. Adler selbst hat den Begriff schillernd gelassen, vielleicht bewusst, um ihn in einer Art schwebender Mehrdeutigkeit zu belassen, vielleicht aber auch, weil er das, was er eher erahnte und erfühlte, zu seiner Lebenszeit noch nicht sprachlich präziser erfassen konnte. In der Nachkriegszeit waren die Wörter »Gemeinschaft« und »Gemeinschaftsgefühl« darüber hinaus belastet, weil sie ideologisch geschändet und missbraucht worden waren. Wenig hilfreich war in diesem Zusammenhang auch der Tatbestand, dass eine Gruppe im nationalsozialistischen Deutschland überwinternder Individualpsychologen um Leopold Seif das Gedankengut der adlerschen Psychologie – den Namen des jüdischstämmigen Begründers der Individualpsychologie ver22

schweigend – unter der Bezeichnung »Arbeitsgemeinschaft für Gemeinschaftspsychologie« zu bewahren und gewissermaßen zu arisieren versuchte (Bruder-Bezzel 1991, S. 215). Auf diesem Hintergrund werden die Schwierigkeiten im Umgang mit dem Begriff »Gemeinschaftsgefühl« verständlich. Es war notwendig, ihn neu zu verstehen und zu präzisieren. Adler hatte den Begriff nach seiner Rückkehr aus dem Ersten Weltkrieg in seine individualpsychologische Theorie eingeführt. Im Vorwort zur zweiten Auflage seines Grundlagenwerks »Über den nervösen Charakter« schrieb er: »Zwischen den beiden Auflagen dieses Buches liegt der Weltkrieg mit seinen Fortsetzungen, liegt die furchtbarste Massenneurose, zu der sich unsere neurotisch kranke Kultur, zerfressen von ihrem Machtstreben und ihrer Prestigepolitik, entschlossen hat. Der entsetzliche Gang der Zeitgeschichte bestätigt schaurig die schlichten Gedankengänge dieses Buches. Und er entschleiert sich als das dämonische Werk der allgemein entfesselten Herrschsucht, die das unsterbliche Gemeinschaftsgefühl der Menschheit drosselt und listig missbraucht« (Adler 1912b/1997, S. 36). So verstanden war Gemeinschaftsgefühl ein Begriff, der seinen Ursprung hatte in einer tiefen Betroffenheit, einer Trauer und einer Verzweiflung über die im 20. Jahrhundert sichtbar gewordenen Menschheitskatastrophen, er bezeichnete und suchte eine im Menschen zu findende und zu ermutigende, sein Machtstreben korrigierende, Gegentriebkraft, die Adler schon früher als das »natürliche Zärtlichkeitsgefühl des Kindes« beschrieben hatte. Sie scheint, so gesehen, der christlichen Ansprache in der Bergpredigt an die Fähigkeit des Menschen zur Nächstenliebe nahe zu stehen. Wir erinnern uns, dass Adler in den Romanhelden Dostojewskis genau die beiden Bezugspunkte wiederfand, die er in seiner tiefenpsychologischen Theorie immer wieder beschreibt: die Ausrichtung des Menschen auf das Ziel der Macht, die ihn zum Wolf werden lässt, und auf das der Nächstenliebe. Allzu oft gerieten individualpsychologische Therapeuten spä23

ter in die Gefahr, dieses Gemeinschaftsgefühl nicht als schon vorgeburtlich angelegtes und von früher Kindheit an eingegebenes, aber manchmal tief verschüttetes, entmutigtes oder beschädigtes Wollen zum Angenommensein und der Dazugehörigkeit, also als verletzbare und unter den Bedingungen unserer Kultur oft verletzte innerpsychische Instanz, zu verstehen, die in einer langen und mühevollen Beziehungsarbeit im Feld von Übertragungen des Patienten und Gegenübertragungen des Therapeuten wiederzuentdecken und wiederzubeleben ist, sondern moralisch an das Gemeinschaftsgefühl zu appellieren und den Ausdruck der Verletzung desselben – nämlich die Neurose – als unmoralisch zu werten. Damit geriet die Individualpsychologie in die Gefahr, wertend zu werden und damit den nicht wertenden, sondern suchenden Standort einer verstehenden Tiefenpsychologie zu verlassen. Dabei hatte Adler in seinen frühen Arbeiten – und auch später – sehr scharf die kausalen Bedingungen beschrieben, unter denen das Gemeinschaftsgefühl nicht gedeihen kann, so zum Beispiel die der autoritären und lieblosen Erziehung, der Verwöhnung und Verzärtelung wie der Verwahrlosung, der Demütigung und Entwertung. Auch kulturelle Bedingungen hat er benannt, zum Beispiel die der Ungleichsetzung der Werte von Männlich und Weiblich (»Männlicher Protest«). Hierher gehören dann auch – und ich denke, hier spreche ich ganz im Sinne Adlers – die Ungleichsetzung der Werte von Rassen, Ständen, Kulturen oder Religionen. Es bedurfte also der ständigen Bemühung um ein tiefenpsychologisches Verständnis des Begriffs »Gemeinschaftsgefühl«, um Präzisierung. Auch um Neuformulierung, neue Begrifflichkeiten? Das stelle ich in Frage. Aber die kritische Infragestellung war unvermeidlich. In jüngster Zeit hat sich Robert Antoch erneut mit dem Begriff auseinander gesetzt und gewissermaßen versucht, eine Übersetzung zu finden, die seinen Stellenwert in einer tiefenpsychologisch gedachten Modellvorstellung der Psyche präziser beschreibt: »Der hohe Stellenwert von Beziehungen im Lauf der menschlichen Entwicklung wäre im Begriff des ›Sinns für Selbstsein im 24

Bezogensein‹ zu fassen. In ihm würde eine bestimmte Stellungnahme der Gemeinschaft gegenüber nicht mehr positiv oder negativ sanktioniert, sondern der Tatsache Rechnung getragen, dass jede Subjektivität der Individualität auf geeignete soziale Bedingungen angewiesen ist. Zu einer solchen Begleitung muss das Subjekt allerdings auch eigenwillig ›ja‹ oder ›nein‹ sagen dürfen« (Antoch 2000, S. 13). Obwohl mir die Begriffsbildung »Sinn für das Selbstsein im Bezogensein« zunächst recht sperrig erscheint, leuchten mir die Gedankengänge Antochs ein. Sie bringen das Bild von innerpsychischen – und durchaus wertfrei zu verstehenden – Kraftfeldern, wie das Machtstreben und das Gefühl des Eingebundenseins, im Sinne einer praxiologischen Handhabbarmachung durchaus in ein brauchbares Gleichgewicht. Schließlich legte Adler selbst in seinen frühen Schriften – ich denke wieder an seine Ausführungen »Über das natürliche Zärtlichkeitsbedürfnis des Kindes« (1908/1914) – solch ein Verständnis des Gemeinschaftsgefühls durchaus nahe. Andererseits glaube ich, dass Adler mit dem Wort »Gemeinschaftsgefühl« noch mehr meinte. Er verstand darunter das, was Antochs Definition nahe legt, und noch etwas anderes, nämlich ein tief im Menschen verwurzeltes Grundgefühl des Dazugehörigseins, des Eingebundenseins in einen größeren – sozial und durchaus auch kosmisch zu verstehenden – Seinszusammenhang. Ein solches Gefühl kann gar nicht moralisch missverstanden werden – auch wenn dies Adler in seinem Umgang mit der Sprache manchmal nahe legt. Es ist ein Gefühl, als solches kann es wirksam sein als treibende Kraft – zum Beispiel als Liebe oder tiefe Gläubigkeit – oder es kann verschüttet sein, enttäuscht, verwirrt; einer moralischen Bewertung ist sein Vorhandensein oder Nichtvorhandensein nicht zugänglich. Wir sollten uns auch nicht fürchten vor der Gefühlsbeladenheit solch eines Wortes wie »Gemeinschaftsgefühl«. Das muss seine wissenschaftliche Verwendbarkeit keineswegs schmälern. Es hat mich sehr ermutigt zu erfahren, wie etwa Neurobiologen und Hirnforscher im zurückliegenden Jahrzehnt solche gefühls25

beladenen Wörter ganz ohne Scheu aussprechen. So spricht zum Beispiel Gerald Hüther in seinem Buch »Biologie der Angst – Wie aus Streß Gefühle werden« von der Liebe, die aus der Angst über Anpassungsleistungen des Gehirns wachsen kann, und meint damit offenbar die Liebe zwischen Mann und Frau, Elternliebe, Nächstenliebe, Weltliebe. Am Endes seines Buches zitiert er eine Bemerkung von Julian Huxley: »Der Mensch (sei) nichts anderes, als die zum Bewußtsein ihrer Selbst gelangte Evolution« (Hüther 1997, S. 115). Ein solcher Gedanke an ein Eingebettetsein und Aufgehobensein in den großen Zusammenhang der Evolution gefällt mir. Wenn wir ihn bedenken und ohne Angst verinnerlichen, führt er uns vielleicht zu einem liebevolleren Umgang mit der Welt und der ganzen Natur. Luc Ciompi sagt in diesem Zusammenhang in seinem Werk »Die emotionalen Grundlagen des Denkens – Entwurf einer fraktalen Affektlogik«: »In neuer und zu noch mehr Bescheidenheit zwingender Weise erweist sich der Mensch als tief in der Evolution verwurzeltes Tier besonderer Art – als ein Fühl-DenkTier, wie man wohl sagen könnte« (Ciompi 1999, S. 334). Einen solchen Gedanken kann der Mensch natürlich in seinem Gottähnlichkeitsstreben und in dem wahrscheinlich falschen Bewusstsein, die Krone der Schöpfung zu sein, als eine narzisstische Kränkung missverstehen, er kann ihn aber auch als Herausforderung zu neuer kreativer Bescheidenheit aufnehmen, im tieferen bewussten und auch unbewussten Wissen um sein Aufgehobensein in der Ganzheit der Natur. Das wäre – durchaus in dem Sinn, wie ihn Adler wohl auch meinte – Gemeinschaftsgefühl. Hermann Hellgardt hat im Verlauf der Diskussion über das Gemeinschaftsgefühl immer wieder auf den metaphysischen oder spirituellen Aspekt dieses Begriffs hingewiesen. Unter Anspielung auf eine Äußerung Adlers in dessem Buch »Der Sinn des Lebens«, dass es sich hierbei niemals handele »um eine gegenwärtige Gemeinschaft oder Gesellschaft, auch nicht um politische oder religiöse Formen, sondern das Ziel, das zur Vollkommenheit am besten geeignet ist, müßte ein Ziel sein, das die 26

ideale Gemeinschaft der ganzen Menschheit bedeutet, die letzte Erfüllung der Evolution« (Adler 1933, S. 83), formuliert Hellgardt in einem Beitrag zu dem von mir herausgegebenen Buch »Die Individualpsychologie Alfred Adlers« (1982/1989). Es erscheint wesentlich, noch einmal darauf hinzuweisen, dass der Begriff der Vollkommenheit von Adler hier ausgesprochen utopisch verstanden wird. Eine vorläufige Lösung dieser utopischen, hier und jetzt also niemals zu findenden Vollkommenheit in unserer gegenwärtigen Unvollkommenheit könnte immerhin vielleicht im Humor gefunden werden, der nach Jean Paul »das umgekehrt Erhabene« im Menschen ist, das versöhnliche Transzendieren der Gegensätze beziehungsweise der unverhältnismäßigen und darum komischen menschlichen Fiktionen und Hypothesen (Hellgardt 1989, S. 65f.). In einem späteren Aufsatz »Über Humor und transpersonale Aspekte in der Individualpsychologie Adlers« (2000) drückt Hellgardt den gleichen Gedanken über das Gemeinschaftsgefühl so aus: »Durch die Aufhebung des Endlichen im Unendlichen, im Einigsein mit dem All (Adler) wird die Stimmung des endlichen Ichs harmonischer, gelassener, heiterer. Der Mut zur Umkehr des Erhabenen ist die Bedingung der Möglichkeit eines kosmischen Selbstgefühls, das Adler auch Gemeinschaftsgefühl sub specie aeternitatis nannte«. Diese Formulierung eines Gedankens wird Adler gerecht, und sie gefällt mir, weil sie mich auch erinnert an das Spielerische im hermeneutischen Denken, das der Philosoph Hans Georg Gadamer in seinem Buch »Wahrheit und Methode« einfordert, denn Humor ist ja auch eine Art erhellender und spielerischer Umgang mit der Dinglichkeit in dieser Welt. An die Stelle von »Spiel« können wir in dem folgenden Zitat also auch »Humor«, ganz in dem von Hellgardt verstandenen Sinn, setzen: »Was uns in der Erfahrung des Schönen und im Verstehen des Sinnes der Überlieferung begegnet, hat wirklich etwas von der Wahrheit des Spiels« (Gadamer 1990, S. 494). In dem von Reinhard Brunner herausgegebenen Buch »Die Suche nach dem Sinn des Lebens« spüren die Autoren Hermann Hellgardt, Reinhard Brunner und Karl-Heinz Witte den trans27

personalen Aspekten der Individualpsychologie nach. Der Herausgeber schreibt in seinem Vorwort: »Auf der transpersonalen Ebene erkennt Adler im Minderwertigkeitsgefühl, im Überwindungsstreben, in der schöpferischen Kraft und im Gemeinschaftsgefühl Bewegungen, die nicht nur herkömmliche therapeutische, sondern auch erlösende Kraft entfalten können und die uns zur Bejahung des Lebens führen. Der sich daraus ergebende Befreiungsweg stellt das zentrale Thema des ›späten‹ Adler dar« (Brunner 2002, S. 7). Ich mag dem wohl zustimmen, füge aber hinzu, dass die Wiederentdeckung des frühen Adler, der noch ganz im lebendigen und belebenden Dialog mit seinem Lehrer Freud stand, unverzichtbar war, um ihn in seiner Ganzheitlichkeit zu verstehen. Und ich gebe auch zu bedenken, dass eine allzu einseitige Betonung der spirituellen Aspekte des Begriffs »Gemeinschaftsgefühl«, die mir im Lauf meines Lebens persönlich immer wichtiger geworden sind, auch Flucht bedeuten kann aus der Betroffenheit über die Ungerechtigkeiten und Zerstörungen in der realen Welt, in welcher wir leben. Ich bleibe, solange ich lebe, ein Bewohner dieser irdischen Welt und folge immer noch dem Gedanken Manès Sperbers, dass wir zunächst von den realen Gemeinschaften, die unsere Gesellschaft realisieren, sprechen sollten. Sperber sagt auch, dass »die unvermeidliche Vergesellschaftung ebenso sehr des Menschen Schicksal ist wie der Tod« (1978, S. 3f.). Aber in dieser konkreten Gesellschaft spiegelt sich natürlich immer auch mehr wider als nur Alltäglichkeit, sondern alles Vergangene, das uns prägte, und alle Zukunft, auf die wir hoffen. In diesem Sinne meinte Adler wohl mit seinem vielleicht niemals ganz endgültig beschreibbaren Begriff »Gemeinschaftsgefühl« ebenso sehr das konkrete innerliche Bezogensein auf die Menschenwelt, in welcher wir leben, als auch unser Eingebundensein in den großen evolutionären Zusammenhang der ganzen Natur.

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Dramaturgie eines Traums und Einführung des Begriffs »Finalität« ■ Alfred Adler verstand das Wort »Individuum« in seiner ursprünglichen Bedeutung als »das unteilbare Ganze«. Er nannte seine Psychologie Individualpsychologie, um damit die unteilbare Ganzheit des Menschen zu verdeutlichen. Dieser Ansatz lässt es sinnvoll erscheinen, bei einer weiteren Untersuchung eines Traums ihn ganz unbefangen auf uns wirken zu lassen, etwa so wie einen literarischen Text. Wir fragen uns dabei, was wir in dieser mehr intuitiven Begegnung mit einem Traumtext über den in ihm niedergeschriebenen Traumsinn schon verstehen können. Wir folgen so der Arbeitsweise des forschenden Psychologen, der von den zu untersuchenden Gegenständen zur Theorie kommt, und wir vermeiden die Gefahr, dass wir den Traum zu früh an der Elle unserer Theorien messen und ihn auf diese Theorie hin zurechtstutzen. Diese Gefahr ist nicht gering zu achten. Adler hat sie beschrieben, indem er den Begriff der tendenziösen Apperzeption in die Psychologie einführte: »Es ist für mich außer Zweifel, dass jeder sich im Leben so verhält, als ob er über seine Kraft und über seine Fähigkeiten eine ganz bestimmte Meinung hätte; ebenso, als ob er über die Schwierigkeiten oder Leichtigkeit eines vorliegenden Falles schon bei Beginn seiner Handlung im klaren wäre; kurz, dass sein Verhalten seiner Meinung entspringt. Dies kann um so weniger Wunder nehmen, als wir nicht imstande sind, durch unsere Sinne Tatsachen, sondern nur ein subjektives Bild, einen Abglanz der Außenwelt zu empfangen« (Adler 1933, S. 12). Unter tendenziöser Apperzeption verstand Adler also eine Tendenz des Menschen zur Wahrnehmungsverzerrung aufgrund subjektiver Erfahrungsmuster. Auch eine zu rigide verstandene Theorie ist ein solches Erfahrungsmuster. Der Psychotherapeut kann ebenso Opfer seiner tendenziösen Wahrnehmungseinengung werden. Auch er ist ständig in Gefahr, 29

seinen Vorurteilen aufzusitzen. Die Annahme, dass unsere Theorien Wahrheiten sind, kann uns dazu verführen, den Traum den Theorien anzupassen und seinen Sinngehalt dabei zu erschlagen. Es geht gerade bei der Traumarbeit darum, die eigene Wahrnehmungsfähigkeit ständig zu schärfen. Alle Wahrheit über den Traum liegt im Traum selbst und nicht in unserem Vorwissen. Deswegen tun wir gut daran, ihm zu begegnen etwa wie ein Literaturwissenschaftler – den Aufbau zu betrachten, die genaue Wirkung der Bilder, die Wahl der Worte, die innere Dynamik zu begreifen. Wir brauchen dabei Verstand und Phantasie. Wir wollen exemplarisch einen Traum betrachten, so als hätten wir nie auch nur eine Zeile von Freud, Jung oder Adler gelesen. 1. Bild: Ein Mann reitet auf einem Pferd über einen Fluss. Er beugt sich weit vor über den Hals des Pferdes, so als wolle er sich verstecken. Man sieht nur den Rücken. Er will auf der anderen Seite des Flusses eine Insel erreichen. 2. Bild: Im Dorf ist eine alte Frau. Sie steht neben mir, redet auf mich ein. Sie erklärt mir etwas über den Reiter. 3.Bild: Ich befinde mich in einem Schlossgewölbe und gehe einher neben einem König. Ich erkläre ihm etwas über den Reiter. Dieser Traum ist Verdichtung eines offenbar sehr komplexen Geschehens auf wenige, eindrucksstarke Bilder. Er ist klar und kunstvoll gegliedert nach Art eines dramatischen Gedichts in drei Strophen oder Akten, für die ich spontan diese Überschriften wählen würde: dramatischer Aufbruch, Frage, Lösung. Im ersten Traumbild sehen wir den Träumenden nicht. Er scheint außerhalb des Geschehens zu stehen, selber ein Betrachter zu sein. Er ist aber vielleicht auch – oder gleichzeitig – identisch mit dem Reiter selbst. Der Reiter verbirgt sich hinter dem 30

Hals des Pferdes. Scheinbar will – soll – er in seiner Identität nicht erkennbar bleiben, nicht eindeutig zu benennen sein. Aber das Ziel, eine Insel, ist gekennzeichnet, ist klar benannt und doch vielfältig in seiner Bedeutung: Abgrenzung, Umgrenzung, Schutz, Verborgenheit, Geborgenheit. Obwohl wir nur den Traumtext kennen, keine Auskunft über das Traumgefühl haben, vermitteln die wenigen im ersten Bild benannten Details doch eine starke Stimmung. Worte wie Aufbruch, Sehnsucht, Unruhe fallen dazu ein. Eine erste Assoziation ist Schimmelreiter, vielleicht auch der Reiter über dem Bodensee. Erst im zweiten Traumbild tritt der Träumende als Ich-Person auf, aber immer noch passiv, es geschieht etwas mit ihm. Das Bild wird beherrscht von einer alten Frau. »Im Dorf ist eine alte Frau.« Die Formulierung schafft Distanz, Geheimnis, eine Stimmung von Sage und Märchen. »Sie redet auf mich ein«, sie erklärt; sie klärt nicht auf, sie redet ein. Darin steckt etwas von Abwehr. Der Traumbetrachter erhält den Eindruck, dass dieser Traumteil den Versuch zur Lösung einer Spannung enthält. Die Befreiung gelingt noch nicht, ein neuer Ansatz muss versucht werden. Den Stimmungsgehalt assoziiere ich mit dem Märchen der Brüder Grimm »Der Teufel mit den drei goldenen Haaren«. Wir erinnern uns: Die Ellermutter des Teufels schützt den Jungen mit der Glückshaut, indem sie ihn als Ameise in ihrem Rock verbirgt. Sie rupft dem Teufel die drei goldenen Haare aus und vermittelt drei Geheimnisse an den Jungen – das vom Brunnen, aus dem kein Wein mehr fließt, das vom Apfelbaum, an dem keine goldenen Äpfel mehr wachsen, und das vom Fährmann, der immer hin und her den Fluss überqueren muss. Als der Märchenheld die Ellermutter verlässt, ist er im Besitz der drei goldenen Haare und ein Wissender geworden. Im dritten Bild ist der Träumer nicht mehr passiv, sondern aktiv, er tritt selbst als ein Wissender auf. Er erklärt dem König etwas über den Reiter. In diesem Wissen und in der Mitteilung an den König scheint sich die Spannung des Traums aufzulösen. Dieses Traumbild vermittelt eher Abgeschlossenheit und Ruhe, 31

auch etwas Feierliches. Der Träumende schreitet unter einem Gewölbe neben einem König einher. Dieser Versuch des Verständnisses, indem wir den Traum in uns eindringen lassen, uns in ihn einfühlen, bleibt natürlich unvollständig. Wir können die Traumbilder so nicht entschlüsseln. Indem wir die aus uns aufsteigenden Bilder und Empfindungen zum Traum assoziieren, spekulieren wir. Alfred Adlers Methode des Ratens hat viel mit solcher Spekulation zu tun. »Bis in die neuere Zeit waren es hauptsächlich Dichter, denen es am besten gelang, dem Lebensstil eines Menschen auf die Spur zu kommen. Was unsere Bewunderung für ihr Wort aufs höchste steigert, ist ihre Fähigkeit, den Menschen als ein unteilbares Ganzes leben, sterben und handeln zu lassen im engsten Zusammenhang mit den Aufgaben eines Lebenskreises. Diese Fähigkeit war immer die Gabe des Erratens. Nur auf diese Weise konnten sie dazu kommen, zu sehen, was hinter und zwischen den Ausdrucksbewegungen steckt: Das Bewegungsgesetz des Einzelnen« (Adler 1933, S. 20f.). Wir folgen also dem Tun des Dichters, wir raten, sind aber nicht festgelegt. Wir wissen, dass alles auch anders sein kann. Wir versuchen nur, uns einfühlend in den Traumtext, in die innere Dynamik dieses Traums hineinzudenken. Besonders spekulativ mag uns die Assoziation des Märchens »Der Teufel mit den drei goldenen Haaren« erscheinen. Tatsächlich berührt sich der Traum hier mit meiner eigenen inneren Erinnerungswelt. Sie – diese innere Bilderwelt – ist der Reichtum, aus dem heraus wir Träume verstehen können. Aber natürlich müssen wir uns hüten, unsere Bilderwelt in den Traum hineinzuprojizieren. Auf den Zusammenhang von Traum und Märchen weist Hermann Hellgardt in seinem Aufsatz »Das Märchen in der Sicht der Individualpsychologie« (1978) hin. Unter Hinweis auf Alfred Adlers Bemerkung, dass das Märchen »Führer sein kann zu den Erkenntnissen der Individualpsychologie » (1930/1974, S. 197), führt er aus: »Hierin und in seiner Bildhaftigkeit ist das Märchen, wie schon oft bemerkt, dem Traum nicht unähnlich. Während aber 32

der Traum gewöhnlich, wenn auch nicht immer, mehr die unbewussten Fiktionen des einzelnen, seine persönlichen Gefühle und sein individuelles Streben zum Ausdruck bringt, also eher dem individuellen Lebensstil des Träumers als dem Common sense der Gesellschaft entspricht, ist das Volksmärchen mehr vom Gemeinschaftsgefühl eines ganzen Volkes getragen.« Der Traum ist das Ausdrucksphänomen des Menschen, in dem dieser dem Common sense, der Bilderwelt der Gemeinschaft, aus der er sich definiert, noch am nächsten ist. In dem Aufsatz »Nachdenken über eine neue Solidarität der Geschlechter« (1979a, S. 114f.) formulierte ich: »Märchen sind auch Träume der Völker.« Man könnte den Satz umdrehen: Die Träume des Individuums enthalten auch den Reichtum der Märchen der Völker. Die in mir bei der Betrachtung dieses Traums aufsteigenden Gedanken und Bilder ordneten diesen am ehesten der Ausdrucksform der Märchen zu. Das mag natürlich ein Stück tendenziöse Apperzeption sein. Unbestritten wird bleiben, dass diese – auf theoretische Vorannahmen verzichtende – Betrachtung den Traum ausweist als ein Gebilde mit einer strengen inneren Ordnung. Wir erkennen in ihm eine von unten nach oben führende Linie, die aus einer Minussituation in eine Plussituation führt, in diesem Traum erkennbar als eine Bewegung aus einer passiven in eine aktive Rolle des Träumers. Er selbst, der Träumer, versetzt sich in und durch diesen Traum in eine Situation aktiver Spannung. Die Bilder des Traums haben sich uns nicht entschlüsselt. Wir werden nun also, wenn wir den Traum besser verstehen wollen, den Träumer selbst befragen müssen. In diesem Fall handelt es sich um eine Frau. Sie ist 44 Jahre alt und als das dritte Kind von acht Geschwistern in einer kleinen Stadt in Norddeutschland geboren. Die beiden älteren Geschwisterkinder waren Brüder. Die erste Frage, die wir der Träumerin stellen, ist die nach ihrem Traumgefühl. Die Patientin erklärte es so: »Am Anfang des Traums stand ein sehr starkes Angstgefühl, im Verlauf des Traums nahm dieses ab, am Ende fühlte ich mich befreit.« Dieser 33

Ablauf der Gefühle bestätigt unsere Beobachtung, dass dieser Traum einer Linie folgt, die aus einer Minussituation zu einer Plussituation tendiert. Wir fragen nun die Träumerin nach ihren Einfällen zum Traum und folgen hierbei – wie später genauer ausführt wird – einer Anregung Sigmund Freuds. Das erste Traumbild führt sie zurück in ihre Kindheit in Norddeutschland, in die kleine Stadt, in die Landschaft, in der auch der Dichter Storm und sein Schimmelreiter zu Hause waren. Der Fluss lag gleich hinter dem Haus der Eltern. Er bedeutete immer auch Gefahr. Kinder sind darin ertrunken. Auch der eigene Bruder ist einmal hineingefallen und konnte nur mit knapper Not gerettet werden. Die Insel ist das rettende Ufer, Hoffnung, das ferne, vielleicht unerreichbare Land. Damals, als der Vater in den Krieg eingezogen wurde – zu einer Kavallerietruppe –, war die Patientin drei Jahre alt. Die Erinnerung an diesen Abschied und dieser Schmerz sind in ihr lebendig geblieben. Es ist ihr Vater, der dort über den Fluss reitet, der aufbricht in ein fernes Land. Er war der König ihrer Kindheit, der bewunderte Geliebte. Es ist also auch ein Stück von ihr, das er mitnimmt in das ferne Land. Als der Vater fort war, hatte die Mutter alle Hände voll zu tun, die Familie und ein Geschäft, das Existenzgrundlage für alle war, über Wasser zu halten. Dem zurückbleibenden Kind, das die Träumerin war, fielen bald viele Pflichten zu. Es kam sich oft einsam vor in seiner Rolle, und manchmal sehnte es sich vergeblich nach Zärtlichkeit und Verständnis. Wir verstehen also, wie groß der Verlust dieses Augenblicks war, den das Mädchen im Traum wiederherstellt. Die Frau im zweiten Traumbild erkennt die Träumerin als ihre Großmutter, die Mutter des Vaters. Sie erinnert sich: »Am Tag, als der Vater in den Krieg zog, stand sie neben mir und redete wirr und verwirrend auf mich ein.« Sie versuchte – in diesem Augenblick und auch später – das Mädchen zu trösten, ihm zu erklären. Aber Tröstungen und Erklärungen befriedigten das Kind nicht. Die Wunde, die dieser Verlust schlug, blieb offen. Sie beginnt einen neuen Versuch der Spannungslösung, und dieser ist 34

überraschend genug. »Der König, das ist natürlich Gott«, assoziierte sie. Sie schreitet neben Gott einher, sie ist gewissermaßen Teilhaber an seiner Macht. Und nicht er erklärt ihr etwas über den Vater. Sie erklärt es ihm. Was mag das wohl sein? Sicherlich die Klage über die ganze Bitternis der Kränkung, die ihr widerfahren ist. Vielleicht erklärt sie ihm auch, dass sie nun sehr stark sein, dass sie sich Stärke von ihm leihen muss, um nie wieder die Verletzliche zu sein, der im Verlassenwerden Schmerz angetan wird. Die Träumerin brachte diesen Traum als eine verschlüsselte Botschaft in die Therapie ein und er spielte während mancher folgender Gespräche eine wichtige Rolle. Im Verlauf dieser Gespräche bestätigte sie mein Verständnis ihres Traums als das auch von ihr Erkannte. Wir sahen in ihm nun den Versuch der Überwindung einer Kränkung, die für sie im Verlassenwerden durch den Vater lag. In diesem Traum kehrte sie zu einem Ereignis ihrer Kindheit zurück, das – wie wir später erarbeiten konnten – die unbewusste Zielsetzung ihres ganzen Lebens wesentlich bestimmte. Durch die Einfälle der Träumerin entschlüsseln sich die Bilder des Traums; die von uns früher schon erkannte Leitlinie ist auf das Ziel der Überwindung einer Kränkung ausgerichtet. Die Patientin litt, als sie in die Therapie kam, unter Ängsten und Depressionen und unter Somatisierungen, in denen wir nach und nach den Ausdruck vieler nicht ausgelebter Emotionen erkannten. Ihr aktueller Konflikt war ein beruflicher. Nach dem Abschluss ihres Studiums sah sie sich plötzlich hineingestellt in eine hierarchisch-klerikale Männerwelt, in der sie – trotz hoher fachlicher und wissenschaftlicher Kompetenz – große Schwierigkeiten hatte, sich zu behaupten. In diesem aktuellen Konflikt erkannte nun die Patientin einen Konflikt der frühen Kindheit wieder. Sie entsann sich, dass sie die Gefühle von Benachteiligung und Überforderung, in denen sie sich nach Aufbruch des Vaters in den Krieg oft gefangen sah, häufig auf eine angenommene Minderwertigkeit schob, die sie darin sah, nur ein Mädchen zu sein. Diese Stellungnahme zu sich selbst fand Material im Vergleich mit dem Vater: »Die Frauen«, sagte sie, »werden 35

verlassen, der Mann bricht auf ins Abenteuer.« Aber auch der Vergleich mit den beiden älteren Brüdern schien diese Vermutung zu bestätigen. Sie mussten, so sah das Mädchen es, weniger Pflichten übernehmen und genossen mehr Freiheiten. Ihre Wahrnehmungsfähigkeit für eine Minderprivilegierung als Frau in ihrer Berufswelt war überstark. Ihre Wahrnehmungen waren teils objektiver Art, teils aber auch subjektive Verzerrungen. Das Gefühl ohnmächtigen Ausgeliefertseins an diese Welt erkannte sie wieder als etwas schon früher Erlebtes. Als Gefühl konnte sie es zurückverfolgen bis in ihr drittes Lebensjahr. Dunkel erinnerte sie zwei Kindheitsszenen. Sie erzählte: »Ich stand an einer dunklen Treppe, die zu einer Dachkammer führte. Da war eine elektrische Schelle. Ich hatte den Wunsch hinaufzugehen und doch auch Angst.« Die zweite Erinnerung lautete so: »Es gab um diese Zeit ein Traum- oder Phantasiewesen in meinem Leben, das ich Fliegermann nannte. Es war immer hinter mir, etwas unheimlich intensiv Vertrautes. Jemand, der im Bett lag und zugedeckt war.« In diesem Gesprächsstadium träumte sie den Traum vom Aufbruch des Vaters in den Krieg. Sie erkannte nun die Dachkammer der ersten Kindheitserinnerung als die Wohnung der Großmutter. Auch der Fliegermann war der Wohnung der Großmutter zugeordnet. Er wurde dem Kind zur phantasierten Symbolfigur für alles Mächtige, Männliche – was dem Vater zugeordnet wurde – und zugleich für alles Bedrohliche und Vernichtende, was in der Realität dieser Kriegsjahre als feindliche Bombergeschwader am Himmel erschien. Der Fliegermann war Vertrauter, Verbündeter und Bedroher in einem. Vergleichen wir die Dynamik des Traums mit der jener zwei frühen Kindheitserinnerungen der Träumerin, so entdecken wir eine sehr starke Entsprechung, wir bemerken wieder die von unten nach oben führende Leitlinie, die aus einer Minussituation in eine Plussituation führt. In der ersten Erinnerung steht sie unten am Fuß einer Treppe, sie hat Angst. Oben, in der zweiten Erinnerung, ist der Fliegermann. Ihr Verhältnis zu ihm ähnelt stark dem zum König im Traum, den sie durch ihre Assoziatio36

nen als Gott erkennt. Sie fürchtet den Fliegermann und nimmt ihn gleichzeitig als Beschützer in ihre Dienste. Die im Traum aufgefundene Leitlinie korrespondiert mit der Leitlinie in frühesten Kindheitserinnerungen. Es ist die Ohnmacht des Verlassenwerdens, welche die Träumerin in ihrem Traum – wie in ihrem Lebensplan, der sich in den Kindheitserinnerungen spiegelt – zu überwinden versucht. Sie bezog diese Ohnmacht auch auf ihre Rolle als Frau. Die Furcht, als Frau nur ausgeliefertes Objekt zu sein, erkannte sie bald als grundsätzliche Antriebskraft in ihrem Leben. Je mehr wir diesen Traum aus dem Wissen um viele Details des ganzen Lebens der Träumerin verstehen, sehen wir in ihm den Versuch einer aktiven Problemlösung. Das zu lösende Problem wird gewissermaßen im Traum durchgespielt. Das macht ihn verwandt mit künstlerischen Schöpfungen des Menschen, dem Gedicht, der Tragödie, dem Märchen (vgl. S. 32f.). Alle diese Ausdrucksformen suchen nach einer Katharsis, nach einer Erlösung aus einer Spannung. Die Tragödie sucht sie in der Schilderung des Scheiterns des Helden im Konflikt der Ideen. Das Märchen findet sie im Common sense. Der Traum versucht im Gegensatz zur Tragödie das Scheitern, die Katharsis des Untergangs zu vermeiden, sucht mehr die Lösung des Märchens, verfehlt diese allerdings oft. Dann ist sein Lösungsversuch die eines Als-ob, eine scheinbare Lösung. Auch unserer Träumerin gelingt keine ins Leben wirklich übersetzbare Lösung. Das Problem im Traum ist auch zu beschreiben als der Wunsch, der von ihr empfundenen Ohnmacht als Frau zu entkommen. In diesem Traum ist Gott eigentlich die letzte Inkarnation des Mannes. Sie fürchtet seine Macht und will ihn gleichzeitig als Beschützer in ihre Dienste nehmen. Der Traum folgt hier einer Leitlinie unserer Kultur, die Adler mit dem Stichwort »männlicher Protest« umschrieb. Er sah darin eine wichtige Variante gesellschaftlicher Bedingungen für das Entstehen von Neurosen. Adler schreibt hierzu: »Die Dynamik der Neurose kann demnach so betrachtet werden, wird auch in ihren Ausstrahlungen auf die Psyche des Ner37

vösen von diesem oft so erfasst, als ob der Patient sich aus einer Frau in einen Mann verwandeln oder seine Unmännlichkeit verbergen wolle. Diese Bestrebungen geben in ihrer bunten Fülle das Bild dessen, was ich ›männlicher Protest‹ genannt habe« (Adler 1912a/1973, S. 93). Adler versteht unter »männlicher Protest« ein Ausgerichtetsein von Frau und Mann in unserer Kultur auf eine Fiktion von einer Überlegenheit des männlichen Prinzips. Dies führe dazu, dass Frauen in dieser Kultur ihre Weiblichkeit nicht bejahen können und dass Männer ihrer an dieser Fiktion gemessenen Unmännlichkeit als Weiblichkeit ausweichen. Wir erkennen diese Linie im Leben und im Traum der Träumerin deutlich wieder. Sie war die dritte von acht Geschwistern und die älteste von fünf Töchtern. Ihre Brüder erschienen ihr privilegiert. Sie durften Schulen besuchen, während sie auf Pflichten im Haushalt festgelegt wurde. Der Vater – im Krieg –, die Brüder und ein Onkel, der in ihrem Leben eine wichtige Funktion übernehmen sollte, waren die dominanten Figuren in der von ihr zu übersehenden Umwelt. Als der Vater später aus dem Krieg nach Hause kam, enttäuschte er sie. Er erlöste sie nicht aus ihrer Rolle. Sie fühlte sich von ihm unverstanden, gering geachtet, genau wie von ihrem männlichen Vorgesetzten in ihrer heutigen Situation. Jene Leitlinie in dem Traum aus einer Minussituation in eine Plussituation, die auch wiederzufinden ist als Ausrichtung auf ein Ziel der Überwindung von einer angenommenen Minderwertigkeit, finden wir wieder in den grundsätzlichen Konflikten von früher Kindheit an, in den Kindheitserinnerungen und in dem sozialen und kulturellen Umfeld, durch welches der Lebensplan der Träumerin geprägt wurde. So führt uns der Traum hin zu Adlers Begriff der Finalität. ■ Nach Adler ist das menschliche Seelenleben nicht statisch zu verstehen, sondern dynamisch. Er beschreibt den Menschen in einer Bewegung aus einer als Minderwertigkeit erlebten Unvollkommenheit hin auf eine als überideal gesetzte Vollkommenheit.

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Finalität und Gemeinschaftsgefühl – zwei aufeinander bezogene Begriffe im dialektischen Konzept Alfred Adlers ■ Finalität nannte Adler das von ihm erkannte Bewegungsgesetz menschlichen Seelenlebens, das stets auf die Überwindung einer Minderwertigkeit zielt. Finalität bedeutet also Zielgerichtetheit oder Sinngerichtetheit. In Bruggers »Philosophischem Wörterbuch« finden wir diese Definition: »Finalität besagt die Ausrichtung eines Seienden auf ein Ziel, in dem das Seiende seine wesensgemäße Erfüllung und Vollkommenheit erreicht« (1957, S. 89). Adler spricht von einem unbewussten Ausgerichtetsein der seelischen Dynamik des Menschen auf fiktive Ziele. Den Begriff »Fiktion« entnimmt er der neukantianischen Philosophie von Hans Faihinger. Er bezeichnet damit Scheinbilder oder erdichtete Leitbilder, die der Mensch sich bildet in der Auseinandersetzung mit dem sozialen Umfeld in der frühen Kindheit. Adler beschrieb so die Gangart des Menschen als Bewegung aus einer als Minderwertigkeit erlebten Unvollkommenheit zu einer als Fiktion gesetzten Vollkommenheit. Er beschrieb also schon früh eine – mit der Narzissmustheorie in der Psychoanalyse etwa bei Kohut und Argelander wieder ins Gespräch gekommene – Gerichtetheit mancher neurotischer Menschen auf das Ziel der Omnipotenz. Aber auch in der neueren Philosophie finden sich Entsprechungen. Ich schrieb über die Nähe dieses Denkansatzes zum Werk Ernst Blochs, der ebenfalls das Ich als das eines Suchenden beschreibt: »Dieses Ich findet keine Ruhe bei sich, drängt aus sich heraus« (Schmidt 1977, S. 624f.). Im engen Bezug zum Begriff der Finalität – nämlich diesen korrigierend – steht der des Gemeinschaftsgefühls. Wir müssen nun, um Adlers Sicht des Traums verstehen zu können, den Zusammenhang zwischen Finalität und Gemeinschaft, gleichzeitig als kausale Bedingung dieser Bewegung und als notwendige Zielorientierung allen menschlichen Handelns, herausarbeiten. 39

Grundsätzlich war Adler der Meinung, dass man Träume nur verstehen kann im Zusammenhang mit dem jeweils unverwechselbaren Bewegungsgesetz – der besonderen Gangart – des Träumenden. Einigen – häufig wiederkehrenden – Traummotiven hat er allerdings eine allgemeinere Bedeutung eingeräumt, wobei er vorsichtig einschränkend betont: »Die Deutungen der unten gegebenen Traumelemente haben nur Wahrscheinlichkeitscharakter« (1936/1972, S. 336). So bedeuten nach Adler Fallträume möglicherweise die Furcht vor Prestigeverlust; Lähmungsträume die Warnung vor der Unlösbarkeit der Probleme, Nacktträume die Furcht vor Bloßgestelltwerden und Flugträume den Wunsch sich zu erheben. Über Flugträume schreibt Adler: »Ein weiteres übliches und deutliches Traumsymbol ist das des Fliegens. Der Schlüssel zu solchen Träumen ist in den Gefühlen zu finden, die sie hervorrufen. Sie lassen eine Stimmung der Heiterkeit und des Mutes zurück; sie führen von unten nach oben; sie stellen die Überwindung von Schwierigkeiten und das Streben nach dem Ziel der Überlegenheit als leicht hin. Sie erlauben uns deshalb, auf ein aktives, nach vorwärts schauendes und ehrgeiziges Individuum zu schließen, das von seinem Ehrgeiz selbst im Schlaf nicht loskommt« (1936/1972, S. 337). Ich möchte betonen, dass Adler dem Flugträumer Mut zuschreibt, eine ermutigende Aktivität. Dennoch lese ich diese – als nur wahrscheinlich gekennzeichnete – Deutung nicht ohne inneres Widerstreben. Adler selbst hat verschiedentlich die Annahme von Traumsymbolen eindeutig abgelehnt (s. S. 76). Abgelöst vom Lebensstil des Träumers bekommen Wörter wie Ziel der Überlegenheit oder Ehrgeiz einen moralisierenden Beiklang, der einer verstehenden Psychologie schlecht zusteht. Manès Sperber hat eindrücklich darauf aufmerksam gemacht, dass die Finalität eines Lebensstils nur verständlich wird, wenn ihre kausale Bedingtheit richtig erkannt wurde. Finalität und Kausalität sind also miteinander verbunden: »Auch das Ziel selbst kann nicht anders als im Zusammenhang mit einer Ursache erkannt werden; diese Frage nach dem 40

Ziel ist sehr fruchtbar und eine bedeutende methodische Verbesserung der genetischen Betrachtungsweise in der Psychologie. Sie vernachlässigen bedeutet daher, sich einen besonders gut gangbaren Weg zu verschließen. Wenn man die finalistische Betrachtungsweise aber so anwendet, als ob es gelte, das Individuum als Produkt der irrationalen Willkür der Persönlichkeit zu entdecken, so bedeutet dies eine völlige Entwertung der finalistischen Methode« (Sperber 1978, S. 200). Ein mir sehr nahe stehender Mensch träumte in seiner Kindheit und Jugend oft, dass er fliegen könne. Er schwebte dann wie schwerelos über blühenden Wiesen, Bäumen und Gärten dahin, und dieses Schwebenkönnen vermittelte ihm ein Gefühl von Glück und heiterer Weltverbundenheit. Er hatte dabei auch Angst, sich in Telegraphendrähten zu verfangen, niedergezogen zu werden. Im Traumgefühl mischten sich also das Gefühl der Heiterkeit des Fliegens und das der Angst, herabgezogen zu werden. Der Träumer wuchs auf in einem stillen Landhaus, in das seine Eltern sich vor Ausbruch des letzten Krieges zurückgezogen hatten, hoffend, dort ihre Kinder vor den Schrecken einer aus den Fugen geratenen Zeit bewahren zu können. Alle Menschen, die in der nahen Welt des Träumers lebten, begegneten ihm freundlich. Kinder wurden in dieser Umgebung als ernsthafte Partner angesehen. Man sieht es schon daran, dass die Eltern der Kinder wegen der in dieser Krisenzeit drohenden Gefahr ihre Lebensgewohnheiten ganz auf diese abstellten. Es war eine Umgebung, die dazu angetan war, das Gemeinschaftsgefühl des Kindes zu stärken. Der Träumer hatte keinerlei Anlass, sich über die Personen seiner näheren Umwelt zu erheben. Tatsächlich entwickelte er freundliche Beziehungen zu allen ihm nahe stehenden Menschen. Das ist bis heute so geblieben. Sein Verhältnis zu Nachbarn ist vertrauensvoll, herzlich, im schönsten Sinne mitmenschlich. Individualpsychologisch würden wir sagen, er hat ein gutes Gemeinschaftsgefühl. Und doch gab es offenbar eine Angst in seinem Leben. Vielleicht war es so, dass die Erwachsenen die Betroffenheit über die 41

Grausamkeiten des Zeitgeschehens nicht aus ihren Gesichtern löschen konnten. Vielleicht waren die unausgelöschten Spuren des Erschreckens in den Gesichtern der Erwachsenen Botschaften an das Kind, die es ängstigten. Vielleicht hörte es nachts das gedämpfte Dröhnen der Pulks von Bombern, die den großen Städten entgegenflogen. Und vielleicht sah es den Schein der Brände der Städte, die sich als Angst und Trauer in den Augen der vertrauten Bezugspersonen spiegelten. Wir sehen im sozialen Umfeld der frühen Kindheit die kausale Herausforderung zur finalen Ausrichtung des individuellen Lebensgesetzes. Die subjektive Befindlichkeit des Kindes – die natürlich auf objektive Gegebenheiten zurückgeführt werden kann – bildet den dialektischen Gegenpol zum gesuchten – und im Lebensstil festgeschriebenen – Zielpunkt. So wird das sich ohnmächtig fühlende Kind ein Streben zur Macht entwickeln, das sich ungesichert fühlende ein Streben nach Sicherheit, das sich ungeliebt glaubende eine Sehnsacht nach bergender Liebe. Im neurotischen Bewegungsgesetz werden diese Zielpunkte Macht, Sicherheit, Liebe so absolut gesetzt, dass sie zu Täuschungen werden, wie die Fata Morgana, die den Verdurstenden in der Wüste täuscht. Wie die glühende Wüste den verirrten Wanderer, so lässt die reale Welt den neurotisierten Menschen verdursten, weil all ihre Wirklichkeiten gegenüber der Scheinwirklichkeit seiner Fata Morgana nur nackter Sand sind und kahles Gestein. Im Leben des mir so nahe verbundenen Flugträumers kann die Distanz von fiktiver Zielsetzung und realer Welt in einem lebbaren Kompromiss überbrückt werden. Es ist dasselbe dynamische Gesetz, die dialektische Spannung zwischen zwei sich in ihrer Gegensätzlichkeit zum Ganzen ergänzenden Polen, das Streben aus einer empfundenen Unzulänglichkeit zu einer gewünschten Zulänglichkeit, das seine Bewegungsgesetze bestimmt. Aber die Pole des dialektischen Bezugssystems stehen in einer überbrückbaren Entfernung zueinander. Hier kann die Kompensation der als Ausgangspunkt angenommenen Minderwertigkeit – die zugleich eine Minderwertigkeit, das heißt eine Grausamkeit, also ein Mangel an Mitmenschlichkeit in dieser 42

Welt ist – im unmittelbaren Lebensbereich gelingen. Die finale Überwindungsbewegung der prägenden Angst setzt sich nun um in ein soziales Engagement, das realisierbar, weil diesseitig bleibt. Die Synthese zwischen der These Minderwertigkeit und der Antithese Geltungsstreben gelingt im Sinne des adlerschen Gemeinschaftsgefühls. Die Finalität der von Alfred Adler begründeten Individualpsychologie entspringt also ursprünglich einer pragmatisch wahrgenommenen Diesseitigkeit. Sein Finalitätsbegriff ist unverkennbar geprägt von den sozialen Erfahrungen der Kindheit, die seinen Lebensstil prägten. So unterscheidet er sich ganz wesentlich von einer Finalitätsauffassung, wie wir sie bei C. G. Jung finden. Während bei Adler die finale Leitlinie der seelischen Dynamik gradlinig und ganz im Diesseits bleibend, dem Ziel der Überwindung eines Mangels folgend, zu suchen ist, verläuft sie bei Jung von einem Punkt außerhalb der reinen Diesseitigkeit zu einem anderen Punkt, der ebenfalls außerhalb dieser realen Welt gesucht werden muss, aus dem Archetypischen zurück zu einer Sinngebung des Menschen, die in den Archetypen schon vorgegeben war. Dabei zeigt sie eher eine spiralige Bewegung. Jung beschreibt sie am Beispiel der Arbeit mit Träumen: »Der Weg zum Ziel ist zunächst chaotisch und unabsehbar, und nur ganz allmählich mehren sich die Anzeichen einer Zielgerichtetheit. Der Weg ist nicht gradlinig, sondern anscheinend zyklisch. Genauere Kenntnis hat ihn als Spirale erwiesen. Die Traummotive kehren nach gewissen Intervallen immer wieder zu bestimmten Formen zurück, die ihrer Art nach ein Zentrum bezeichnen« (1957, S. 81). Ich räume ein, dass der einer sehr realen Welt verbundene Ansatz Adlers mir näher steht als der eher mystische Jungs. Dieser ist kritisiert worden, am härtesten von Ernst Bloch – ungerecht wie ich meine, wenn er allzu leichtfertig eine Linie zwischen Jungs »Urbilderei« und dem Faschismus zieht; Bloch schreibt: »Immer stärker hat Jung die Libido zu diesen archaischen Anschlüssen hingetrieben, zugleich eben hat er diese Anfänge so 43

neblig und allgemein gefasst, dass sämtliche Irratio von ehedem, ganz gleich, was sie sagt, vertauschbaren Platz findet« (1959/ 1977, S. 68). Für gefährlich würde ich es halten, wenn Bloch hier meint, den Reichtum leugnen zu können, der dem Unbewussten des Menschen aus seiner Geschichte zufließt. Jungs Einführung der Vorstellung eines kollektiven Unbewussten war sicher eine Bereicherung im Prozess der von Freud provozierten Nachdenklichkeit über die Psychologie des Menschen. Folgen kann ich ihm, wenn er meint, dass dieser dem Menschen aus seiner Geschichte zufließende Reichtum nur ausgeschöpft werden kann vom Standort einer ganz sinnenhaften und diesseitigen Anbindung an die Welt, dem Hier und Jetzt. Diese Welt und dieses Leben sind die dem Menschen gesetzte Aufgabe. Bei aller Verschiedenheit der Systeme von Jung und Adler – über die beide einen harten Meinungsstreit austrugen – gibt es doch wichtige Berührungspunkte. Wir können gewissermaßen die diesseitige Finalitätslinie Adlers in die spirale Finalitätsbewegung Jungs hineinprojizieren. Sie werden sich an verschiedenen Stellen kreuzen. Für diese Berührung des Individuellen mit dem über das Individuum Hinausreichende setzt Adler das Wort Gemeinschaftsgefühl. Wenn ich aber die Sinnhaftigkeit des Lebens aus der Zugehörigkeit des Menschen zu einer Gemeinschaft ableite, sage ich auch, dass der Mensch ein geschichtliches Wesen ist und dass diese Geschichte mehr ist als seine individuelle Geschichte und auch mehr als die der nur aus einem Hier und Heute verstandenen Gesellschaft; und ich sage übrigens auch, dass der Mensch Zukunft hat. An dieser Stelle will ich noch einmal zurückkommen auf Adlers frühe Schrift »Gesundheitsbuch für das Schneidergewerbe«. Sie ist – soweit heute bekannt – seine früheste wissenschaftliche Publikation. Auf den ersten Blick ist sie nicht mehr als eine ziemlich trockene Abhandlung über den Gesundheitszustand des Schneidergewerbes um das Jahr 1895 in Österreich und Deutschland. Aber bezogen auf das gesamte Werk Adlers sehe ich in dieser Schrift dennoch mehr. Sie ist die konkrete Beschreibung – und eine sehr betroffene dazu – eines 44

Istzustands in einer bestehenden Gesellschaft und von daher geeignet zu präzisieren, was unter dem von Adler eingeführten Begriff »Gemeinschaft« zu verstehen sein kann. Sie ist auch ein Ausdruck des Gemeinschaftsgefühls – nämlich des Betroffenseins von dem gesellschaftlichen Sein der mit ihm lebenden Menschen – bei dem jungen Arzt Alfred Adler. Adler beschreibt das Elend des Schneiders in der Hausindustrie unter dem Einfluss der von der kapitalistischen Entwicklung diktierten Ökonomie so: »Auf gute Zeit mit guter Bezahlung folgt schlechte Zeit mit Spottlöhnen und Arbeitslosigkeit, denn der überladene Markt gebietet der Produktion Einhalt; und wenn sich der Markt endlich erholt hat, beginnt im tiefverschuldeten Heim das wechselnde Spiel von neuem, ein System, bei welchem Meister, Geselle und Lehrjunge, ausgeschlossen und von den Vorteilen der Kultur, oft kaum berührt von hygienischen Gesetzesbestimmungen, ein kümmerliches Dasein fristen, mit einem Wort das Schwitzsystem« (1911/1973, S. 3). Das Wort »Kultur« setzt der frühe Adler dort ein, wo er später »Gemeinschaft« sagen wird. Adler meint, dass das soziale Elend, das er in dieser Schrift beschreibt, den Menschen in der Gemeinschaft, in der er lebt, isoliert, ihn auf sich selbst und seine einsamen Phantasien zurückwirft, ihn unfähig macht, fruchtbar verändernd am Leben der Gemeinschaft teilzuhaben. Adler beschreibt das Milieu präzise: »In Ermangelung der großen Betriebswerkstätten, zu deren Einrichtung dem Unternehmer jeder Ansporn fehlt, schafft der Arbeiter in seinem armseligen Heim oder im Wohnraum eines Kleinmeisters, lebt, isst, trinkt, schläft und stirbt bei seinem Arbeitstisch, unter seinen Arbeitsgeräten« (S. 5). Ich wage ein Gedankenexperiment. Ich projiziere die Fakten einer heutigen Falldarstellung in das von Adler in seiner sozialmedizinischen Studie beschriebene Milieu. Mich interessiert der Zusammenhang zwischen sozialem Milieu als Konkretisierung von Gemeinschaft und der Spiegelung der Finalität eines Patienten in seinem Traumbild. 45

Es handelt sich um einen 55-jährigen politisch und gesellschaftlich stark engagierten Mann, der, als er bei sich plötzlich ein Nachlassen seiner physischen Kraft bemerkte, darüber in eine seelische Krise geriet. Diese äußerte sich in tiefen Depressionen und konversionsneurotischen Symptomen. Aufgewachsen war er unter vielen Geschwistern in einem ärmlichen Arbeitermilieu. Die Belastungen von Inflation und Arbeitslosigkeit hatten seinen Vater so entmutigt, dass er zum Trinker geworden war. Die Mutter sei eine verhärmte überforderte Frau gewesen, die es gut gemeint habe, aber wenig Wärme habe geben können. In seiner frühen Kindheit habe ein Onkel eine stark ermutigende Wirkung auf ihn gehabt. Er sei ein Steinmetz gewesen und als solcher viel in der Welt herumgekommen. Er habe ihm von seiner Arbeit an Kirchen erzählt. Beeindruckt habe ihn auch, dass der Onkel in der sozialdemokratischen Partei politisch aktiv war. Etwa mit dem siebten Lebensjahr habe er ihn aus den Augen verloren. Aber er habe später noch oft an ihn gedacht und sich stark mit ihm identifiziert. Um das zwölfte Lebensjahr sei er kränklich gewesen. Seine Stimmung sei mutlos und verzweifelt gewesen. Er habe damals auch oft daran gedacht zu sterben. Damals habe ihn ein Lehrer durch freundlichen Zuspruch aus dieser Sackgasse herausgeführt. Er habe zu dieser Zeit wiederholt einen Flugtraum geträumt. Im Traum sind ihm Flügel gewachsen. Er fliegt fort aus der großen elenden Stadt, in der er lebt, hin zu einer anderen Stadt, die er als Nürnberg erkennt. Dort begegnet ihm ein Engel. Er fliegt neben ihm. Der Junge denkt im Fliegen: »Ich bin der Engel.« Er erschrickt, stürzt ab und erwacht. Im Erwachen sehnt er sich nach dem Traum zurück und fürchtet sich doch vor dem Ende desselben. Wir können diese Patientengeschichte unschwer in Adlers sozialpsychologische Studie hineinprojizieren. Das Milieu ist nahezu identisch. Nur die Bedingungen der Armut haben sich geändert. Damals stürzte die Industrialisierung die Schneider ins Elend, nach dem Ersten Weltkrieg waren die Auswirkungen einer ökonomischen Weltkrise die Bedingung der Armut. Was 46

bringt uns ein solches Experiment ein? Ich meine vor allem dies, dass die Fakten aus Adlers Studie lebendig werden und dass wir sinnlich begreifen, was Gemeinschaft und Gemeinschaftsgefühl im theoretischen System Adlers bedeuten. Wir sehen also einen zwölfjährigen Jungen, der unter vielen Kindern im ärmlichen Milieu seines Vaters, eines Kleinmeisters im Schneidergewerbe, aufwächst. Seit Jahren schon muss er täglich viele Stunden mithelfen beim Dämpfen und Bügeln, beim Flicken und Nähen. Seit einigen Wochen quälen ihn eine innere Unruhe, ein leichtes Fieber, ein Hüsteln. Oft kann er in der schmalen Kammer im Bett, das er mit seinem Bruder teilt, nicht einschlafen. Seine Phantasie beschäftigt sich dann mit dem Onkel, der früher immer einmal wieder im Elternhaus auftauchte. Er war ein mutiger Mensch, groß und kräftig und voller Geschichten. Der Junge hat ihn ganz aus den Augen verloren, aber abends, wenn er in der stickigen Enge seines Zimmers nicht einschläft, sehnt er sich nach ihm. Dieser Geselle ist früher noch auf Wanderschaft gewesen. Er erzählte von den Städten, in denen er war. Eine hieß Nürnberg. Dort habe in einer Kirche, in einem Seitengewölbe, ein Engel gestanden, strahlend und stark und mit einem Schwert in der Hand. In dieser Zeit träumt der Junge, den wir dem Bild des Jungen, der unser Patient einmal war, nachempfunden haben, wiederholt den geschilderten Flugtraum. Die Finalität dieses Traums ist leicht verständlich. Das Ziel heißt Überwindung der Armut, die als soziale Minderwertigkeit erlebt wird. Der Engel ist die Idealisierung jenes Mannes – des Onkels –, den er in der Kindheit bewunderte und mit dem er sich identifizierte. Es ging mir bei diesem Gedankenexperiment nicht darum, einfach eine schöne Geschichte zu erzählen. Tiefenpsychologie ist ein Wissenschaft, die auf Anwendung drängt. Es geht darum, neurotischen Menschen einen Weg sichtbar zu machen, der sie aus einem Geltungsstreben herausführt, das sie der Realität entfremdet. Deswegen ist es ein Irrtum anzunehmen, dass Phantasieren unwissenschaftlich sei. Die Biographie eines Menschen ist immer mehr als nur eine Anhäufung von Daten und Fakten, die 47

es kühl und technisch zu analysieren gilt. Der Psychologe, der es nicht auch lernt, das Leben mit den Augen seiner Patienten zu sehen und zu verstehen, wird als Psychotherapeut nur wenig bewirken. Natürlich müssen wir wieder auf den Boden konkreter und überprüfbarer Tatbestände zurückfinden. Es ging in unserem Beispiel unter anderem darum zu verstehen, wie der Engel in den Traum kommt – also eigentlich um eine Frage der Symbolbildung –, um daran etwas über das Wechselspiel von individueller Lebenszielbildung und Gemeinschaft zu erfassen. Träumer und Traum kamen mir in Erinnerung, als ich in der Lorenzkirche in Nürnberg den schönen, Veit Stoß zugeschriebenen, Heiligen Michael sah. Ich dachte, dies könne der Engel des Traums sein. Wäre der Junge, der ihn träumte, jemals hierher gekommen, hätte er in ihm den Engel seines Traums erkannt? Vielleicht hätte er es geglaubt. Bei näherem Hinsehen hätte er bemerkt, dass sein Engel Züge des bewunderten Onkels trug und dass er auch ihm selbst ähnlich war. Sein Engel glich ganz dem Bild dessen, der zu sein er sich wünschte. Das alles fiel unserem Patienten jedenfalls ein bei der Arbeit an diesem Traum. Der Onkel – oder Geselle – hatte ihm den Begriff eines Engels gegeben. Der Traumengel aber war sein Geschöpf. Er war die Bild gewordene Idee des Traums, die er seinem alltäglichen Elend entgegensetzte. Dennoch war dieser Engel ähnlich allen Engeln. Ziehen wir die Lehren aus unserem Gedankenexperiment. Wir können sie in drei Punkten zusammenfassen: 1. Die konkrete Gemeinschaft, in die der Mensch hineingeboren wird, prägt seine Empfindung über sich selbst. In unserem Fall war ein Grundgefühl das einer sozialen Minderwertigkeit. Dieses Gefühl war der Ausgangspunkt für grundsätzliche Zielbildungen seines Lebens. Diese Meinungsbildung über sich selbst, die anderen und das Ziel nannte Adler später den Lebensstil eines Menschen. 2. Diese konkrete Gemeinschaft vermittelt dem Menschen ein Mehr an Bildern, das nicht nur mit einer formalen Analyse 48

dieser Gemeinschaft – etwa der Familien- oder der Geschwisterkonstellation – erfassbar ist. So vermittelte der in der engeren Familienkonstellation eigentlich randständige Onkel das Bild des Engels, das der Träumer schließlich zum Symbol seines Strebens nach der Macht, das Elend zu besiegen, machte. Dieser Onkel aber brachte gleichzeitig einen Schimmer von Hoffnung in sein Leben. Hierauf gründete sich sein späteres politisches Engagement. 3. Jeder Mensch lebt immer in der Spannung zwischen seinen persönlichen Fiktionen und der Realität der Gemeinschaft, in der er lebt. Solange der Patient in der Erfahrung des täglichen Lebens in dieser Gemeinschaft die Chance sah, politisch tätig sein zu können – also nach seinem Verständnis konkret an der Beseitigung von Elend mitarbeiten zu können –, orientierte er sich stärker an dieser Realität. Als dies in Frage gestellt schien, orientierte er sich wieder an der Fiktion. Er träumte wieder den alten Wiederholungstraum. Er wurde mutlos und depressiv und selbst im Traum blieb das fiktive Ziel unerreichbar. Er stürzte ab. Dort, wo die Finalität den Menschen aus der Gemeinschaft heraustreibt, dort, wo nicht mehr aus der Spannung von Minderwertigkeitsgefühl und Geltungsstreben gemeinschaftsbezogene Ziele entstehen, dort entsteht – so lehrte es Adler – die Einsamkeit der Neurose. ■ Finalität, als die Spannung zwischen Minderwertigkeitsgefühl und Geltungsstreben ausgleichen wollende Bewegung, und Gemeinschaftsgefühl, als Angebot einer Synthese zwischen beiden, bilden das dialektische Bezugssystem, in dem nach Adler Träume und Tagträume zu verstehen sind.

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Traumtheorien bei Freud und Adler Unterschiede der Denkansätze und die Stellung des Traums in den theoretischen Systemen Alfred Adler war 33 Jahre alt, als er dem 14 Jahre älteren Sigmund Freud persönlich begegnete. Manès Sperber berichtet über diesen Beginn eines Dialogs in seinem Buch »Alfred Adler oder das Elend der Psychologie«. Er erzählt, wie Freud mit seinen neuen Ideen im Wiener Ärzteverein offener Feindschaft und verletzendem Hohn begegnete: »Adler, Zeuge dieser Vorgänge, war empört und brachte das auch öffentlich zum Ausdruck in einer medizinischen Zeitschrift, in der er ausführlich über den Vortag berichtete und verlangte, dass man sich endlich ernsthaft mit Freud und seiner Lehre auseinandersetze. Daraufhin ließ Freud Adler für seinen Artikel danken und ihm mitteilen, dass er ihn als den besten ansähe, der ihm bis dahin gewidmet wäre. Das war der Anstoß zur ersten Begegnung dieser beiden höchst ungleichen Männer« (Sperber 1970, S. 42). Freud war damals schon ein umstrittener und auch bewunderter Wissenschaftler, der wesentliche Grundlagen seiner Psychologie entwickelt hatte. Adler hatte noch kaum einen seiner Gedanken über Finalität und Gemeinschaftsgefühl formuliert. Dennoch war sein Verhältnis zu Freud von Anfang an nicht nur das eines Schülers zu einem Lehrer, sondern das eines Mitdenkers und auch Gegendenkers. Beide Männer waren – abgesehen von dem Altersunterschied – von ihrem Wesen und ihren Denkansätzen durchaus verschieden. Freuds wissenschaftlicher Ausgangspunkt waren frühe neurologische Forschungen. Seine 1891 erschienene Studie »Zur Auffassung der Aphasien« wird von heutigen führenden Neurobiologen als die Brücke zwischen Freuds neurologischen Untersuchungen und seiner späteren Hinwendung zur Tiefenpsychologie angesehen (s. a. »Exkurs: Heutiges Traumverständnis und Neurobiologie«, S. 77ff.). Freud 50

begründete seine spätere Metapsychologie durchaus auf dieser Basis und war sein Leben lang überzeugt, dass es eines Tages möglich sein würde, die Beziehungen zwischen psychischen Vorgängen und organischem Substrat zu klären. Er blieb also durchdrungen von dem Gedanken einer kausalen Determiniertheit und fasziniert von dem Konflikt zwischen Triebwunsch und Kultur. Adler war – neben der naturwissenschaftlichen Prägung durch das Studium der Medizin – früh beeinflusst durch die Begegnung mit sozialdemokratischen Ideen, denen er während seiner Studentenzeit begegnete. So ist in seinen Schriften von Anfang an eine Suchbewegung erkennbar, die auf Überwindung einer Mangellage hinzielt, ein gesellschaftskritischer und eher sozialpsychologischer Ansatz. Einen Wendepunkt zu einer eigenständigen Ausformulierung seiner tiefenpsychologischen Methatheorie bildet die 1907 – und von Freud seinerzeit wohlwollend begrüßte – »Studie über Minderwertigkeit von Organen«. Einerseits ist er in ihr naturwissenschaftlich orientiert und sucht nach einem organischen Substrat für die Entstehung von Neurosen, andererseits ist in ihr im Keim seine ganze spätere Anschauung über die Lebensbewegung als Versuch der Kompensation enthalten. Von nun an treten immer stärker die Gedanken an eine unteilbare Ganzheit des Menschen und eine finale Leitlinie, durch welche sein Leben bestimmt wird, in den Vordergrund. Gerade diese geistige Polarisierung beider Männer machte ihren Dialog fruchtbar. Freuds Werk »Zur Psychopathologie des Alltagslebens« (1904) ist hierfür ein schönes Zeugnis. Freud untersucht in ihm die Fehlleistungen wie Versprechen oder Vergessen. Er kommt zu dem Schluss, dass diese Fehlleistungen sinnvoll aus der psychischen Dynamik des Menschen zu erklären sind. Er führt aus, dass sie eine unbewusste oder doch ins Vorbewusste abgedrängte Absicht enthüllen. Die Deutung ist final. Die Spuren der Gespräche zwischen Freud und Adler sind in diesem Buch deutlich. Die »Protokolle der Wiener psychoanalytischen Vereinigung« 51

weisen aus, dass die Diskussionen beider Psychologen von Anfang an zwar getragen waren von gegenseitigem Respekt, aber in ihren Inhalten kontrovers waren. So entwickelte Adler seine Gedanken über den »männlichen Protest« als kulturelle Variante einer fehlgerichteten, weil gemeinschaftsfeindlichen, finalen Bewegung in kritischer Reibung zu Freuds Triebspsychologie. Der kritische Dialog riss auch nicht ab, als es 1911 äußerlich zum Bruch zwischen Freud und Adler kam, und obwohl Freud für seine Schüler ein Zitierverbot der Werke Adler aussprach. So stand Freud dem von Adler (1908/1914) eingeführten Aggressionstrieb ablehnend gegenüber. Adler meinte damit einen übergeordneten Trieb, der sich in einer Triebverschränkung anderen untergeordneten Trieben – also etwa dem Esstrieb, dem Schautrieb oder auch dem Sexualtrieb – zumischt und diese verstärkt. Wird der Aggressionstrieb dem Gemeinschaftsgefühl untergeordnet, wirkt er positiv aufbauend, wird er dem Gemeinschaftsgefühl entzogen, wirkt er destruktiv. Trotz der anfänglichen Ablehnung finden wir im späteren Werk Freuds im Todestrieb durchaus eine Entsprechung zum Aggressionstrieb. Freud verwahrte sich zwar in einer Fußnote gegen eine Verwechselung seines Todestriebes mit dem Aggressionstrieb Adlers, die Ähnlichkeit ist aber zu groß, als dass man hier nicht das Ergebnis einer gegenseitigen Anregung erblicken müsste. Es gibt mancherlei Beispiele für solche gegenseitigen Beeinflussungen. Eines im System Freuds möchte ich hervorheben. Das Realitätsprinzip als den Drang nach ungehemmter Wunscherfüllung korrigierende Instanz erscheint mir als eine Entsprechung zu Adlers Gemeinschaftsgefühl. Fragen wir nach Bausteinen Freuds im System Adlers, so sind vor allem zwei zu nennen. Erstens ist dies die grundsätzliche Annahme, dass die Motivationen menschlichen Handelns unbewusst sind, also die Übernahme des zentralen Begriffs des Unbewussten. Zweitens ist dies die Überzeugung, dass die Grundlagen für die seelische Entwicklung des Menschen in der Vorschulzeit gelegt werden. Wie Freud ist auch Adler der Meinung, dass die 52

eigentliche Charakterbildung mit dem Eintritt ins Schulalter abgeschlossen ist. Beide Schulen definieren sich also als tiefenpsychologische Schule. Was Adler an der freudschen Theorie kritisiert, ist vor allem die einseitige Betonung des Triebgeschehens. Er lehnt also keineswegs alle Gedanken Freuds zu einer Triebpsychologie in Bausch und Bogen ab, aber er postuliert, dass der Mensch zwar Triebe habe, dass diese aber untergeordnet sind einem höheren Gesetz, dem des Lebensstils und dem des Gemeinschaftsgefühls. So wird also Adler dort, wo Freud gelungene oder misslungene libidinöse Objektbeziehungen sieht, im Sinne des Gemeinschaftsgefühls günstige oder ungünstige Stellungnahmen in einem sozialen Umfeld erkennen. ■ Im Denken Freuds ist die seelische Entwicklung des Menschen von Anfang an vorwiegend kausal determiniert als der Konflikt von Triebwunsch und Kultur. Im Denken Adlers ist die seelische Entwicklung von Anfang an stärker auch final determiniert. Sie wird geprägt durch das Gefühl der Dazugehörigkeit zur Gemeinschaft. Sie wird gefährdet durch die Annahme der persönlichen Minderwertigkeit und den Versuch der Kompensation. Von diesen ganz unterschiedlichen Denkansätzen müssen Freud und Adler zu ebenso verschiedenen Modellvorstellungender Neurose kommen. Einig sind sie sich zunächst vor allem darin, dass es sich hierbei um eine seelische Fehlentwicklung handelt, die ihren Ursprung in Erlebnisverarbeitungen der frühen Kindheit hat und deren eigentliche Erlebnisinhalte unbewusst sind. Freud geht dabei von der kausalen Determiniertheit des Menschen aus. Aus seiner Sicht ist der Mensch auf Lustgewinn ausgerichtet. Das ist seine Anlage, die nur korrigiert wird durch das so genannte Realitätsprinzip. Der Konflikt zwischen Triebwunsch und Umwelt ist programmiert. Um überleben zu können, muss der Mensch Triebverzicht leisten. Dass hierbei dem Sexualtrieb 53

eine so besondere Bedeutung zukommt, hängt damit zusammen, dass er unter den Bedingungen unserer Kultur besonders stark unterdrückt wird. Die Neurose ist die Folge dieses Konflikts. Sie wird dort angelegt, wo die notwendige Triebverdrängung oder die ebenso notwendige libidinöse Objektbesetzung misslingen. Sie ist eigentlich eine Hemmung in einer Entwicklung, also eine Regression. Der unvollständig verdrängte Triebwunsch wird verstanden als seelische Energie, die zur Entladung drängt. Diese unterdrückten Triebkräfte irritieren fortan die Psyche. Die Symptomwahl der Neurose ist abhängig davon, in welcher Entwicklungsphase der Konflikt zwischen Trieb und Außenwelt ungelöst blieb. So ordnet Freud die Schizophrenie der oralen Phase, die Zwangsneurose der analen und die Hysterie der genitalen Phase zu. Die neurotische Erkrankung wird ausgelöst durch Traumatisierungen, die in ihrer Struktur an das damalige Konflikterlebnis erinnern. Adler definiert Neurose vom Ziel her. Aus seiner Sicht ist der Mensch grundsätzlich bereit, sich in die Gemeinschaft der anderen einzuordnen. Er ist aber in diesem Streben leicht zu entmutigen. Solche Entmutigungen können beispielsweise die Zurückweisung eines Zärtlichkeitsbedürfnisses ebenso wie eine Verzärtelung – Adler sprach von Verwöhnung – sein, aber auch eine Demütigung oder ein für ihn ungünstiger Vergleich in seinem sozialen Umfeld. Diese Entmutigung verstärkt in ihm das von Geburt an vorhandene Minderwertigkeitsgefühl bis zum Minderwertigkeitskomplex. Sein Ziel ist fortan nicht mehr die Mitwirkung, sondern die Kompensation dieses quälenden und ihn kränkenden Gefühls von Minderwertigkeit, indem er nach Überidealen – Adler nennt sie Fiktionen – von Größe und Bedeutung strebt. Der grundsätzliche Konflikt, durch welchen die neurotische Entwicklung angelegt wird, ist also ein sozialer. Der Triebkonflikt ist nur eine Möglichkeit unter vielen denkbaren. Da die reale Umwelt ihn immer wieder seine Minderwertigkeit spüren lässt und da sie ihn an der Verfolgung seiner fiktiven Ziele hindert, muss er ganze Teile der Wirklichkeit aus seiner Wahrnehmung ausblenden. Die Symptome sind nach Adler also vom 54

Ziel her zu verstehen, sie dienen der Realitätsausblendung. Adler hat nie geleugnet, dass es möglicherweise einen Zusammenhang gibt zwischen dem Zeitpunkt der Entwicklung, in welchem die entmutigende Kränkung erfolgte, und der Ausdrucksform der Neurose. Wie Freud nimmt auch Adler an, dass die neurotische Erkrankung ausgelöst wird durch aktuelle Traumatisierungen, die einer Wiederkehr der Traumatisierungen der Kindheit gleichen. Die neuere Entwicklung der Psychoanalyse etwa in der IchPsychologie hat die verschiedenen Neurosemodelle stärker aneinander angeglichen. Dabei gibt die neuere Entwicklung Adler Recht. Der Vorwurf, der von verschiedener Seite gegen Adler erhoben wurde und wird, seiner Theorie mangele es an einem klinisch differenzierten Grundmodell der Neurose, ist unberechtigt, weil das rigidere Modell nicht dadurch besser ist, dass es auf alle Fragen eine Antwort gibt. Adlers Modell erwies sich als flexibel. Es hat den Vorzug, dass es das Denken nicht festlegt auf anscheinend gesichertes Wissen, sondern dass es zum Weiterdenken anregt. ■ Freud sieht in der Neurose die ursächliche Folge einer Triebverdrängung im Konflikt zwischen Triebwunsch und Kultur. Adler sieht in der Neurose den Versuch der Kompensation einer irrtümlich festgeschriebenen sozialen Stellungnahme der persönlichen Minderwertigkeit. Folgerichtig müssen auch die therapeutischen Modelle voneinander unterschieden sein. Da Freud vom Gedanken einer kausalen Determiniertheit ausgeht, muss er mit dem Patienten an den Ursprungsort der neurotischen Fehlentwicklung zurückkehren, um in einer Wiederbelebung des alten Triebkonflikts eine bessere Lösung zu erreichen. Deswegen muss er die Regression nutzen und die Übertragungsneurose anbieten. Adler geht es bei der Heilung der Neurose um Zielaufdeckung. Sein Rückgriff auf die Vergangenheit erfolgt mit dem Zweck, die damalige Sinnhaftigkeit und das Irrtümliche der fiktiven Zielset55

zung bewusst zu machen. Auch dieser Rückgriff ist eine Regression. Er ist nicht nur ein Zurücksinken, sondern ein schöpferisches Sichzurückerinnern und Wiederbeleben von früher Erfahrenem. Der Erwachsene erinnert sich des Kindes, das er war, seiner früheren Stellungnahmen, seiner Verzweiflungen, seiner Entmutigungen. Er wiederbelebt seine Gefühle und Wahrnehmungen, auch jene, die er abspaltete, verleugnete oder verdrängte. Er ordnet gewissermaßen seine Wahrnehmungen neu, erweitert sie, lernt abgedrängte Gefühle von Wut, Trauer, Verzweiflung und Scham zu integrieren, macht einen neuen Frieden mit den verinnerlichten Bildern seiner Kindheit. Hier geht es – aus individualpsychologischer Sicht – um mehr als nur um Triebkonflikte. Es geht um die Wiederherstellung einer gestörten Ganzheit sozialer Beziehungen, in denen die Triebkonflikte nur ein Teil dieser Ganzheit sind. Dieses Geschehen reicht weit zurück in vorsprachliche Bereiche. Das alles geschieht in der therapeutischen Beziehung. Der Therapeut muss in dieser Situation eine für den Patienten erkennbare, abgrenzbare Person sein. Diese kurzen Überlegungen über die Abhängigkeit der therapeutischen Modelle von den grundsätzlich unterschiedlichen Denkansätzen bei Freud und Adler zeigen, dass auch der Stellenwert des Traums in den theoretischen Systemen beider Psychologen vorgegeben ist durch diese verschiedenen Ausgangspunkte. So muss der Traum in der freudschen Theorie einen zentralen Stellenwert erhalten. Der Traum wird in ihm zum Schauplatz der Regression, auf dem sich immer wieder der gesuchte und aufzuhellende Konflikt zwischen Triebwunsch und Kultur abspielt. Für Adler ist der Traum nur eine Ausdrucksform unter anderen, in denen sich die gesuchte finale Leitlinie zeigt. Aber sein Stellenwert ist immer noch hoch genug, denn auch für den Individualpsychologen liegen Ziel und Ursprung im Unbewussten verborgen. ■ Der Stellenwert des Traums in der psychologischen Theorie ist durch die Ausgangshypothesen des Denkens bei Freud und Adler vorherbestimmt. Bei Freud ist er der Zentrale Austragungsort des 56

ins Unbewusste abgedrängten Konflikts zwischen Triebwunsch und Außenwelt. Bei Adler ist er ein Ausdrucksphänomen unter anderem, in denen sich der Lebensstil eines Menschen abbildet. Dennoch ist in Freuds Traumtheorie eine der fruchtbarsten Anregungen für eine Tiefenpsychologie zu sehen. Ich bin der Meinung, dass die Geschichte der Tiefenpsychologie mit der Postulierung eines neuen Traumverständnisses beginnt. Freud geht dabei von zwei Voraussetzungen aus. Erstens, »dass es eine psychologische Technik gibt, welche gestattet, Träume zu deuten«, und zweitens, »dass bei Anwendung dieses Verfahrens jeder Traum sich als ein sinnvolles psychisches Gebilde herausstellt, welches an angebbarer Stelle in das seelische Treiben des Wachens einzureichen ist« (1900/1961, S. 13). Die Geschichte der Tiefenpsychologie beginnt mit dem Erscheinen von Sigmund Freuds Buch »Die Traumdeutung« (1900). Dieses Werk ist ein Symbol für ein neues psychologisches Verstehen des Menschen in einem neuen Jahrhundert. Über das Unbewusste schrieb Freud: »Die Rückkehr von der Überschätzung der Bewusstseinseigenschaft wird zur unerlässlichen Vorbedingung für jede richtige Einsicht in den Hergang des Psychischen. ... Das Unbewusste ist der größere Kreis, der den kleineren des Bewusstseins in sich einschließt; ... Das Unbewusste ist das eigentlich reale Psychische, uns nach seiner inneren Natur so unbekannt wie das Reale der Außenwelt und uns durch die Daten des Bewusstseins ebenso unvollständig gegeben, wie die Außenwelt durch die Angaben unserer Sinnesorgane« (S. 497). Dieser Satz, der zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts bisherige Ansichten über die Natur des Menschen und sein Bewusstsein in der Welt auf eine durchaus revolutionäre Weise in Frage stellte, ist über das Jahrhundert hinweg bis heute gültig geblieben und wird durch neuere hirnbiologische Forschungen eher verifiziert. Und auch Freuds Aussage, dass der Traum ein Königsweg zum Unbewussten sei, bleibt eine große Anregung. 57

So gesehen ist jeder Tiefenpsychologe, der in seine Arbeit Träume einbezieht – ob er es nun wahrhaben will oder nicht –, ein Schüler Freuds. In diesem Sinne war auch Adler bei Freud ein Lernender. Ich will hier die wichtigsten Gedanken der freudschen Traumtheorie kurz darstellen. Nach Freud ist in jedem Traum ein verborgener Gedanke enthalten. Er unterscheidet zwischen dem manifesten Traum, das ist der Traumtext, wie er uns vorliegt, und dem latenten Traumgedanken, das ist die eigentliche, verborgene Aussage des Traums. Um diesen Traumgedanken, der in den Bildern des Traums verborgen liegt, zu entschlüsseln, bedient Freud sich der Technik der frei aufsteigenden Assoziationen. Das heißt, er lässt den Träumer zu dem jeweiligen Traumbild frei aufsteigende Einfälle sammeln. Diese führen, nach seiner Erfahrung, zur wahren Bedeutung des Bildes hin. Allerdings erfolgt diese Traumarbeit gegen einen Widerstand des Träumenden, denn der wahre Sinn des Bildes wurde deswegen verschlüsselt, weil er als ein verbotener Triebwunsch der Traumzensur zum Opfer fiel. Dass ein Wunsch ein Erreger des Traums ist – und zwar ein verbotener –, ist nach Meinung Freuds ein Hauptcharakter des Traums und macht die Traumentstellung notwendig. In jedem Traum finde eine Regression statt. Freud stellt die These auf, dass das Zusammenwirken eines Tagesrests mit Material, das aus dem Unbewussten in den Traum einfließt, die Bedingung für diese Regression schafft. Freud hat also – wie diese geraffte Übersicht zeigt – eine systematische und in sich schlüssige Traumtheorie vorgelegt. Sie bildet den Kern seines Lebenswerks. Seine psychologische Theorie ist um diesen Kern herumgewachsen. Er hat seine Traumtheorie später präzisiert und ergänzt in »Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse« (1916–17) und in »Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse« (1933). Ich werde mich bei der Darstellung der Ähnlichkeiten und der Verschiedenheiten der Traumtheorien von Freud und Adler auf diese Vorlesungen beziehen. Es ist zu bedenken, dass es sich bei den hier vorgestellten psychologischen Theorien und daraus abgeleiteten Traumverständ58

nissen bei Freud und Adler natürlich keineswegs um starre und nicht veränderbare Systeme handelte, sondern dass diese Theorienbildungen sich entwickelten in einem lebendigen Prozess ständigen Weiterdenkens. In einem ausführlichen Essay »Metamorphosen der Traumdeutung«, das in einem Begleitbuch zum Reprint der Jubiläumsausgabe von Freuds Traumdeutung im Fischer-Verlag erschien, hat Ilse Grubrich-Simitis die zahlreichen Revisionen, welche die Traumdeutung schon zu Lebzeiten Freuds und bis in die heutige Zeit erfuhr, detailliert beschrieben. Bezugnehmend auf den heutigen Stellenwert des Traums in der analytischen Therapie schreibt sie: »Unstreitig ist, dass Träume heute aufmerksam im Hinblick auf möglicherweise nicht erinnerbare traumatische Momente in der Lebensgeschichte des Träumers abgetastet werden, und man verknüpft sie weitaus enger mit dem Kontext der betreffenden Sitzung bzw. der benachbarten Sitzungen und natürlich vor allem mit dem aktuellen Übertragungs-Gegenübertragungsgeschehen als damals, ja, sie werden neuerdings geradezu als intersubjektive Hervorbringungen des Zusammenspiels zwischen Analytiker und Analysand aufgefasst und entsprechend gedeutet« (Grubrich-Simitis 1999, S. 99). Adler hat keine systematische Darstellung seiner Traumtheorie vorgelegt. In seinem gesamten Werk finden sich – neben allerlei verstreuten Hinweisen – drei Arbeiten, die sich ausschließlich oder vorwiegend mit dem Traumproblem beschäftigen. Es sind dies die Aufsätze »Zwei Träume einer Prostituierten« (1908b), »Traum und Traumdeutung« (1913) und »On the interpretation of dreams« (1936). Auch in Heinz L. und Rowena Ansbachers (1972) systematischer Darstellung der Lehre Adlers sind dem Thema Traum und Traumverständnis nur ganze sieben Seiten gewidmet. Es sieht auf den ersten Blick so aus, als habe Adler dem Thema Traum nur eine untergeordnete Bedeutung zuerkannt – dies provozierte vielleicht auch das Missverständnis, dass es sich bei der Individualpsychologie eher um eine Bewusstseinspsychologie als um eine Tiefenpsychologie handele. Das ist ein gefährli59

ches Missverständnis, weil es die Vorstellungen Alfred Adlers herauszulösen versucht aus einem dialogischen – historischen und inhaltlichen – Zusammenhang mit anderen tiefenpsychologischen Schulen, in die sie zwingend gehören. Rudolf Kausen stellte hier richtig: »Tiefenpsychologie handelt von psychischen Vorgängen, die Verhalten und Erleben beeinflussen, dabei mehr oder weniger unbewusst sind, grundsätzlich aber bewusst sein können. Diese Definition passt für Psychoanalyse, Individualpsychologie und weitere Schulen, ungeachtet aller Unterschiede« (1979, S. 227). Adler stellt den Traum gleichberechtigt neben andere Ausdrucksphänomene des Menschen, etwa die frühesten Kindheitserinnerungen. So wird ein Traum individualpsychologisch nur dann richtig verstanden, wenn dieses Verständnis mit dem der frühesten Kindheitserinnerung korrespondiert. Auf die Ähnlichkeit des Verständnisses von Traum und bewusstem Inhalt der frühesten Kindheitserinnerung weist Victor Louis hin: »Die Erweiterung der Deutungstechnik und -methodik erweist sich innerhalb der Individualpsychologie deswegen als statthaft und damit auch als bereichernd, weil ein Gegensatz von bewussten und unbewussten Elementen, bei aller Respektierung der Unterschiede, nicht gesehen wird. Ein der Traumdeutung sehr naheliegendes diagnostisches Vorgehen hat gerade diesen Grenzbereich zwischen dem gerade noch Bewussten und dem, was man als unbewusst bezeichnen könnte, zum Gegenstand; die Deutung der frühesten Kindheitserinnerungen« (1976, S. 26). In der Arbeit »On the interpretation of dreams« (1936) zitiert Adler aus den Kindheitserinnerungen Hebbels diesen Satz: »Wenn ein Mensch seine Träume sammeln und untersuchen würde und zu all den Träumen, die er jetzt hat, alle Gedanken, welche er mit diesen in Verbindung bringen kann, all die Bilder und Erinnerungen, die er aus ihnen herleiten kann, hinzufügen würde, und wenn er diese dann mit den Träumen der Vergangenheit verknüpfen würde, so könnte er sich hierdurch viel besser selbst verstehen als mit Hilfe irgendeiner Seelenkunde« (zit. nach Ansbacher et al. 1972, S. 331). Gehen wir fünfzig Jahre wei60

ter, so treffen wir auf Freud, der als erster den Mut besaß, Hebbels Empfehlungen zu folgen (Adler 1936, S. 330f.). Adler erkannte also durchaus die Bedeutung der Traumdeutung – eines tiefenpsychologischen Traumverständnisses – an. Allerdings ist in diesem Zitat Hebbels, dem Adler zustimmt, eine Einschränkung wichtig: »Wenn er alle Gedanken, die er mit diesen in Verbindung bringen kann, hinzufügen würde, und wenn er diese dann mit den Träumen der Vergangenheit verknüpfen würde«, dann erst könnte er sich selbst besser verstehen. Adler sieht von Anfang an den Traum im Zusammenhang mit dem ganzen Lebensstil des Menschen. Lebensstil nennt er ein Programm, ein Muster von Meinungen über sich selbst, die anderen, die Welt, über Ziele und Mittel, die man einsetzen muss, um diese Ziele zu erreichen; ein Programm, das sich der Mensch bildet, herausgefordert durch die Erfahrungen mit seinem vorgefundenen sozialen Umfeld in der frühen Kindheit, als seine schöpferische Antwort auf diese Herausforderung. Es liegt auf der Hand, dass dieser Lebensstil mehr ein Geschöpf der Gefühle und einer privaten Logik ist als das einer sprachlich artikulierten Antwort – eine solche hat das Kind ja noch nicht – und schon gar nicht die einer objektiven Logik. In diesen Zusammenhang stellt Adler auch den Traum. Er entwickelt keine zusammenhängende Traumtheorie. Dennoch, in Adlers Vorträgen und Schriften finden sich eine Fülle von eingestreuten Bemerkungen – die meist kritische Repliken auf Freuds Theorien sind und die in ihrer Zusammenschau das Bild eines einheitlichen Traumverständnisses seiner Individualpsychologie ergeben. Es sollen nun Aussagen von Freud solchen von Adler gegenübergestellt und diskutiert werden. Die Fruchtbarkeit polarisierter Anschauungen über tiefenpsychologische Phänomene kann am Beispiel des Traumverständnisses besonders gut einsehbar gemacht werden.

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Übereinstimmungen der Theorien Adler hat sich wiederholt respektvoll über Freuds Traumtheorien geäußert. So schreibt er in Fortsetzung seines Zitats aus der Arbeit »On the interpretation of dreams« 1936, also kurz vor seinem Tod: »Obgleich an der Freudschen Traumdeutung heutzutage vieles nicht mehr haltbar ist, müssen wir ihn ehren, als den, der die Grundlage für die wissenschaftliche Traumdeutung gelegt hat« (S. 322). Völlige Übereinstimmungen zwischen beiden Schulen besteht in der Annahme der Voraussetzung, »dass der Traum kein somatisches, sondern ein psychisches Phänomen ist« (Freud 1916– 17/1969, S. 116). Adler sagt: »Nur wenn man die Träume als eine Ausdrucksform des Lebensstils betrachtet, kann man für sie eine angemessene Deutung finden« (1936, S. 333). Horcht man genauer in dieses Zitat von Adler hinein, so bemerkt man allerdings neben der grundsätzlichen Übereinstimmung eine – in allen, auch früheren Äußerungen Adlers wiederkehrende – eigenwillige und von vornherein andere Akzentsetzung. Auch hier wird spürbar, dass Adler von Anfang an eine finale Determiniertheit auch des Traumgeschehens gegenüber der Annahme einer kausalen Determiniertheit bei Freud betont. Vollkommen austauschbar für beide Schulen ist die Aussage, dass wir, um den Traum zu verstehen, den Träumer selbst befragen müssen. »Nur weiß er nicht, dass er es weißt, und glaubt darum, dass er es nicht weiß« (Freud 1916–17, S. 117). Löst man diesen Satz Freuds aus dem Zusammenhang, in dem er steht, und ohne zu wissen, wer sein Verfasser ist, könnte man ihn ohne weiteres Adler zuschreiben. Freud wie auch Adler nehmen an, dass der Traum, an den der Träumende sich erinnert, etwas verbirgt, was der Träumer zwar weiß, was aber seinem augenblicklichen wachen Bewusstsein nicht unmittelbar zugänglich ist. »Wir wollen das, was der Traum erzählt, den manifesten Trauminhalt nennen, das Verborgene, zu dem wir durch die Verfolgung der Einfälle kommen sollen, die latenten Traumgedanken« (Freud 1916–17, S. 134). 62

Die Unterscheidung zwischen dem Traumtext und dem in ihm liegenden Gedanken, den nur der Träumende selbst enthüllen kann, erkannte Adler ausdrücklich an. Gemeinsam ist beiden Psychologen der Respekt vor dem Träumenden. Er ist der Schöpfer des Traums und er ist der Wissende um dessen Sinn; ohne die Hilfe des Träumers kann der Traum nicht entschlüsselt werden. Eben dieser Respekt vor dem jeweils neuen, an die unverwechselbare Individualität eines jeden Menschen gebundenen und daher unwiederholbaren Ausdrucksphänomen – wie etwa der Traum – hinderte Adler, seine Anschauungen perfektionistisch in ein System zu bringen. Im Vorwort zum ersten Band der »Technik der Individualpsychologie« – und auch dieser Versuch einer systematischen Darstellung der therapeutischen Konsequenz seiner Theorien blieb übrigens Fragment – schreibt er: »Was mich bisher davon abgehalten hat (die Grundzüge der Technik individualpsychologischer Behandlung darzustellen), war die Schwierigkeit, das immer einmalige Gestalten, das jedem Einzelfall gerecht zu werden versucht, in Formeln und Regeln einzufangen« (1928/1974, S. 13). Das Werk »Die Kunst, eine Lebens- und Krankengeschichte zu lesen« ist ein schwieriges und faszinierendes Buch zugleich. Es ist zu verstehen als das Protokoll einer Reihe von Vorlesungen, in denen Adler die – zufällig erhalten gebliebene und von ihr aufgeschriebene – Lebensgeschichte einer jungen Zwangsneurotikerin als die Darstellung eines ihm noch unbekannten Falls vorträgt. Er reißt diese Lebensgeschichte auseinander, indem er sie unterbricht durch seine Kommentare, Deutungen, Vermutungen und Hypothesen (Schmidt 1977, S. 624f.). Die junge Wienerin berichtet auch über Träume: »Dann träumte ich, dass ein Hund mit einem Beißkorb sich in mich hereinbohre, seine Schnauze in mir umdrehe. Und dabei verspürte ich einen entsetzlichen Schmerz. Da machte ich schnell Licht und schaute nach, ob ich blutete oder verletzt sei, fand aber nichts. Dieser Traum wiederholte sich häufig.« Adler gibt einige deutende Hinweise zu diesem Traum. Er sieht in ihm am deutlichsten die Angst des Mädchens vor der 63

Überlegenheit des Mannes, sieht ihn also auf der Linie des männlichen Protests. Sie habe Männern ja schon immer den Beißkorb angelegt. Dass sie als Hunde auftreten, sieht Adler als Versuch der Sicherung durch Entwertung. Er weist aber auch eindeutig darauf hin, dass dieser Traum richtig nur zu verstehen sei, wenn wir die Einfälle des Mädchens zu ihm – und zu zwei weiteren, die in diesem Zusammenhang berichtet werden – kennen. Hier sehen wir eine weitere Übereinstimmung des Verständnisses von Träumen bei Freud und Adler. Freud äußert: »Wenn sie meinen, es sei willkürlich anzunehmen, dass der nächste Einfall des Träumers gerade das Gesuchte bringen oder zu ihm führen müssen, so irren sie groß« (1916–17, S. 121). So wie den Italienreisenden letztlich alle Wege nach Rom führen, so leiten alle Gedanken des Träumenden zum Traum hin auf den eigentlichen Kern des Traums, und alle Gedanken zum Traum unterliegen einem einheitlichen, das Seelenleben beherrschenden Determinismus. Freud forderte den Patienten auf, in einer Art assoziierenden – also frei strömenden – Denkens Einfälle zu den einzelnen Traumbildern mitzuteilen und so ihren Symbolgehalt dem Träumenden wie dem Therapeuten zu entschlüsseln. Diese Assoziationsmethode erkannten Adler und seine Schüler ausdrücklich an. So schreibt Erwin Wexberg: »Freud hat zu diesem Zweck eine Technik angegeben, die auf dem Grundsatz der Zielstrebigkeit der Assoziationen beruht. Unter der Voraussetzung der universellen Geltung der personalen Finalität müssen wir auch der Annahme zustimmen, dass scheinbar zufällige verknüpfte Gedankenketten unter der Herrschaft einer bestimmten Zielsetzung stehen » (1931/1969, S. 39). Die frei aufsteigende Assoziation des Träumenden ist allerdings auch – wie jede seiner Wahrnehmungen und Gedanken und schließlich der erinnerte Traum selbst – lebensstilbearbeitetes Material, das heißt gefiltert durch die subjektive Logik des Träumenden und seinen Widerstand. Freud nimmt für den Traum selbst eine Zensur an, die den Träumenden zwingt, den eigentlichen Traumgedanken, da er den Moralgesetzen eines 64

strengen Über-Ich nicht entspricht, in Symbole zu verhüllen. Wenn wir aber die Annahme einer solchen Traumzensur überhaupt bejahen, dann müssen wir logisch weiterfolgern, dass noch der sich erinnernde Mensch selbst die Erinnerung an den Traum zensiert durch Verändern und Vergessen und dass selbst noch die Assoziationen zum Traum dieser Zensur durch den Lebensstil unterliegen. Das Geschehen einer »Traumdeutung« – und hier wird vielleicht schon sichtbar, warum wir lieber von einem Traumverständnis sprechen – wird dadurch kompliziert, dass der »deutende« Therapeut den Traum und die Assoziationen des Träumenden zu ihm wahrnimmt durch die Brille seiner verzerrenden – etwa durch Theorien voreingenommenen – Wahrnehmung. Auf dieses Problem macht Paul Rom ausdrücklich aufmerksam: »Noch eine Methode ist zu erwähnen, die wohl überschätzt worden ist: die explorative Verwertung der sogenannten frei aufsteigenden Assoziationen. Die freie Assoziation ist jedoch weder tendenzlos, vom Unbewussten her unbeeinflusst, noch ist die Art ihrer Verwendung in der Psychoanalyse eine Garantie für Objektivität. Jedes Experiment, das sie mit der freien Assoziation machen, bestätigt ihnen, dass diese der Deutung ebenso unterliegt wie, sagen wir, der Traum. Keineswegs bestimmt die Assoziation die Richtung der Deutung. Ein orthodoxer Psychoanalytiker wird ebenso beharrlich jede Assoziation im Sinne des psychoanalytischen Schemas deuten, das die Wirkung einer gebundenen Marschroute hat, wie jeder psychoanalytisch beeinflusste Patient im Sinne der Freudschen Sexualsymbolik, an die er glaubt, träumen und assoziieren wird. Dessen ungeachtet verdient die Assoziationsmethode Beachtung und kann in einem gewissen Sinne brauchbar sein, wenn man sie nicht überschätzt« (Rom 1966, S. 98f.). Nachdenkend über den Sinn des Traums äußert Alfred Adler: »Eines Tages kam ich darauf, dass die wahre Bedeutung des Traumes vielleicht darin liegt, nicht verstanden zu werden: dass es vielleicht eine dynamische Kraft des Geistes gibt, die daran arbeitet, uns zu täuschen; und dass wir uns nicht durch die Gedanken 65

täuschen, sondern durch die Affekte und Gefühle, die durch die Gedanken und Bilder eines Traumes hervorgerufen werden« (1936, S. 334). Tatsächlich bemerkt man, wenn man auf seine eigenen Träume achtet, dass die eigentliche Brücke des Traums zum Wachleben sehr häufig ein Gefühl ist, das der Traum erzeugt und das am Morgen nach dem Erwachen noch lebendig ist. Vor einiger Zeit träumte ich, in einem herbstlichen Wald stürzte ein alter Mann und lag nun vom Laub bedeckt wie tot. Der Traum belebte in mir ein Gefühl der Traurigkeit, das wohl schon einige Tage in mir gewesen war. Es war eine Traurigkeit des Abschiednehmens. Ich hatte am Tag davor darüber nachgedacht, dass der alltägliche Stress von Freunden isoliert, weil er die Zeit stiehlt zum Gedankenaustausch mit ihnen. Ich erkannte den alten Mann im Traum zunächst nicht. Erst nach längerem Nachdenken im Traum entdeckte ich an ihm Züge eines älteren Schriftstellerfreundes – er trat in einer späteren Sequenz des gleichen Traums dann ganz als dieser auf. Später, im Nachdenken nach dem Traum, entdeckte ich an ihm dann auch Züge anderer Freunde, und ich fand auch mich selbst in ihm und mein Älterwerden. Das Traumgefühl drängte zur Aktivität. Ich schrieb an diesem Tag mehrere Briefe und setzte den Gedankendialog mit den Freunden fort. Nun kann der vom Traum geförderte Affekt auch der einer Wut sein oder ein anderes, uns peinlich berührendes Gefühl. Es ist nur zu begreiflich, dass wir dann seiner Aufdeckung Widerstand entgegensetzen. Darauf macht Victor Louis aufmerksam: »Ich habe es erlebt, dass in gewissen Fällen die Assoziationen nach der Schilderung eines Traumes blockiert sein können, sich jedoch in dem Moment lockern, in welchem es dem Analysanden gelingt, seinen Affektgehalt genau wiederzugeben. Allerdings kann auch die Schilderung des Affektgehaltes blockiert sein (1976, S. 24). Louis empfiehlt in einem solchen Fall, dem Patienten zu Hilfe zu kommen. Er verkennt dabei nicht die Gefahr der Suggestion, 66

nimmt sie aber in Kauf. Auch ich meine, dass wir manchmal unseren Patienten helfen müssen, ihre Affekte zu erkennen und anzunehmen. Das setzt allerdings voraus, dass wir uns schulen, uns in die Träume des Gesprächspartners verstehend hineinzuleben. Kritiker werden vielleicht einwenden, dass ich damit die objektive Distanz zum Patienten und seinem Traum opfere. Nun halte ich allerdings eine solche objektive Distanz ohnehin für eine Fiktion. Und wenn wir unsere Rolle gegenüber dem Patienten richtig einschätzen, wenn wir nicht Deuter sein wollen, sondern – bescheidener – verstehende Gesprächspartner, dann werden wir der Gefahr der Manipulation wohl kaum erliegen. Fragen wir uns also, welche Gemeinsamkeiten es zwischen dem freudschen Traumverständnis und der individualpsychologischen Auffassung bis heute gibt, können wir hierzu immer noch Adler zitierend sagen: »Vom Standpunkt der Individualpsychologie aus können Freuds unbestreitbare Beiträge wie folgt zusammengefasst werden. 1. Er bestätigte, dass die affektiven oder emotionalen Stellungnahmen in einem Traum die wahre Bedeutung treffender anzeigen, als es die rein figurativen und verbalen Elemente tun. 2. ... die Unterscheidung zwischen den manifesten und den latenten Trauminhalten ... 3. Träume sind als seelische-geistige Phänomene nicht einzigartig. Sie gebrauchen dieselben geistig-seelischen Dynamismen, die auch beim Versprechen, bei Tagträumen, Phantasien und anderen Wachzuständen verwendet werden. 4. Die Assoziationsmethode ist gültig zu Erlangung des latenten Trauminhaltes (Adler 1936, S. 332). ■ Freud und Adler stimmen überein in den Annahmen, dass – der Traum kein somatisches, sondern ein psychisches Phänomen ist, – im manifesten Traumtext ein latenter Traumgedanke verborgen ist, 67

– die Assoziationen zum latenten Traumgedanken führen können, – der im Traum enthaltene Affekt oft die wahre Bedeutung des Traums treffend anzeigt.

Die Verschiedenheiten der Theorien Die Frage, worin sich die Unterschiede eines Traumverständnisses bei Freud und Adler vor allem gründen, ist mit einem Satz zu beantworten: auf der Kritik Adlers an Freuds Anschauung von der Libido als Quelle der seelischen Dynamik des Menschen. Freud schreibt: »Halten Sie für jetzt an dem Eindruck fest, dass das Sexualleben – wie wir sagen: die Libidofunktion – nicht als etwas Fertiges auftritt, auch nicht in seiner eigenen Ähnlichkeit weiterwächst, sondern eine Reihe von aufeinanderfolgenden Phasen durchmacht, die einander nicht gleichstehen, dass es also eine mehrmals wiederholte Entwicklung ist, wie von der Raupe zum Schmetterling. Wendepunkt der Entwicklung ist die Unterordnung aller sexuellen Partialtriebe unter dem Primat der Genitalien und damit die Unterwerfung der Sexualität unter die Fortpflanzungsfunktion« (1916–17, S. 323). Gelingen oder Misslingen dieser Entwicklung – die auch jenseits aller Bezogenheit auf Genitalität als sexuell angesehen wird – bestimmen nach Freud das Schicksal des Menschen. So wie der Mensch bei Adler gesehen wird in einem Spannungsverhältnis von Ohnmacht und Macht, ist er bei Freud – wie wir sahen – determiniert durch das Streben nach Lustgewinn und die Vermeidung von Unlusterfahrung. Hieraus leitet Freud die Lehre von einer phasenhaften Entwicklung des Menschen – die bekannten oralen, analen und phallischen Erlebenszeiten – und seiner schließlichen Einmündung in den Ödipus- beziehungsweise Elektrakomplex ab. Eine verblüffend kurze und doch klare Zusammenfassung der freudschen Libidotheorie legt Paul Rom in einem erdachten Prolog einem Berater in den Mund. Er lässt ihn sagen: 68

»Sehen Sie, Freud will festgestellt haben, dass die Sexualität, die wir im allgemeinen dem Menschen von seiner Geschlechtsreife an zuschreiben, irgendwie schon im kleinen Kind wirksam sei. Er spricht davon unter dem lateinischen Wort ›Libido‹, das ›heftiger Wunsch‹ oder ›Begierde‹ heißt. So soll im Knaben der Wunsch vorhanden sein, die Mutter zu besitzen und den Vater auszuschalten. Für das kleine Mädchen gilt das Entsprechende: Liebe für den Vater, Hass auf die Mutter« (1966, S. 17). Paul Rom erweist sich hier als ein genialer und liebenswerter Vereinfacher. Die Entdeckung kindlicher Vorstufen der Erwachsenensexualität bleibt Freuds Verdienst. Was den so genannten Ödipuskomplex angeht, so hat Adler darauf aufmerksam gemacht, dass dies in Wirklichkeit ein sozialer Konflikt der Kindheit ist, der auftreten kann, aber nicht muss. Die Individualpsychologie wirft Freud eine einseitige Fixierung auf ein sexuelles Geschehen vor. Wir verstehen, dass Freud-Schüler bis heute in der Libidotheorie ein Kernstück jeder Tiefenpsychologie sehen; selbst moderne Narzissmusforscher wie Kohut oder Argelander, die in ihren Anschauungen über eine mögliche Dynamik der Neuroseentstehung individualpsychologischen Vorstellungen sehr nahe kommen, halten in eigenartig orthodoxer Weise an diesen Anschauungen fest und komplizieren und verwässern damit zugleich ihre Erkenntnisse über den Menschen. Ich sehe in der Fixierung Freuds auf eine allzu einseitige Wahrnehmung libidinöser Energien eine unglückliche Apperzeptionsbeschränkung, die ihn unfähig machte, alle Möglichkeiten seiner eigenen Entdeckung voll auszuschöpfen. In Adlers Skepsis gegenüber der freudschen Libidoauffassung lag die Ursache des Konflikts der beiden Psychologen begründet, und – nach anfänglicher Freundschaft – überschattete sie schon seit 1905 das Verhältnis beider Männer zueinander. 1910 brach der Konflikt offen aus und führte zum Bruch zwischen Freud und Adler. Letzterer hielt vor der Wiener psychoanalytischen Vereinigung zwei Vorträge, die er später unter dem Titel »Zur Kritik der Freudschen Sexualtheorie des Seelenlebens« in dem 69

Sammelband »Heilen und Bilden« (Adler u. Furtmüller 1914) aufnahm. Adler weist Freuds Auffassung, dass nur libidinöse Energien das Kind in seiner Entwicklung antreiben, entschieden zurück. Er gibt der kindlichen Sexualität den Stellenwert zurück, der ihr tatsächlich gebührt, indem er sie als Teil eines Ganzen sieht, das zu allen anderen Teilen (sprich auch Trieben) in einer wechselseitigen, sich gegenseitig beeinflussenden Beziehung steht. Als die eigentlichen Triebkräfte einer neurotischen Entwicklung sieht er die Organminderwertigkeit und den männlichen Protest an. »Das Sexualorgan entwickelt einzig und allein den sexuellen Faktor im Leben und in der Neurose. So wie die Sexualität Beziehungen eingeht zum gesamten Triebleben und seinen Ursachen, so gilt dies von jedem anderen Trieb. Bevor der Sexualtrieb eine nennenswerte Größe erreicht, etwa am Ende des ersten Jahres, ist das psychische Leben des Kindes bereits reicht entwickelt« (Adler 1911, S. 95). Daran anschließend schildert Adler einen Fall von »männlichem Protest«. Der Patient klagte über Anfälle von Zittern der Hände. Sein Vater war früh gestorben (an einer Rückenmarkschwindsucht, wie er mit 17 Jahren erfuhr). Er, ein schwächlicher, hinter anderen Jungen zurückstehender Knabe, wuchs in ohnmächtiger Abhängigkeit von seiner Mutter und zwei altersmäßig und auch sonst überlegenen Schwestern auf. Er kompensierte seine befürchtete Unmännlichkeit und Unterlegenheit in männlichen Omnipotenzphantasien. Adler zitiert eine frühe Kindheitserinnerung seines Patienten: »Wenn er im Grase auf dem Rücken lag, sah er oben in den Wolken das Bild seines Vaters. Er, der weibliche Schwächling, in der weiblichen Position; oben der Vater, der Mann.« Er fragt: »War nun seine Libido wirklich so groß, wie er annahm?«, und antwortet wenig später: »Er zittert, um seiner Urangst zu entgehen, wieder, wie einst bei der Mutter, unter die Gewalt eines Weibes zu kommen. Er zittert, um sich vor dem Schicksal des Vaters ... zu bewahren. Er zittert um den Dämon Weib, und um seiner eigenen Sinnlichkeit, wie der des Mädchens, zu entgehen. Und er 70

zittert, um, entgegen seinem eigenen Wunsch, dem der Mutter zu genügen« (Adler 1911, S. 98). Später sagt er: »Wie Sie wissen, habe ich zwei Durchgangspunkte der psychischen Entwicklung dafür verantwortlich gemacht, die ich hier nur kurz anführe. Der eine liegt im Aufkeimen eines beträchtlichen Minderwertigkeitskomplexes, das ich meist im Zusammenhang mit minderwertigen Organen beobachtet habe, der andere ist ein mehr oder weniger deutlicher Hinweis auf eine ehemalige Befürchtung einer weiblichen Rolle. Beide unterstützen das Auflehnungsbedürfnis und die Trotzeinstellung so sehr, dass stets neurotische Züge sich entwickeln müssen, ob der Betreffende nun als Gesunder gilt, als Neurotiker in Behandlung steht, als Genie oder als Verbrecher sich einen Namen macht« (S. 94f.). Ich hoffe, dass nun verständlich ist, dass die Individualpsychologie von dieser veränderten Sichtweise auf die psychische Entwicklung des Menschen in vielen Teilen auch eine veränderte Auffassung des Traums entwickeln musste. Das wird etwa deutlich an den unterschiedlichen Auffassungen zum Problem der Traumentstellung oder Traumzensur, von der Freud spricht. Er führt aus, »dass ein Wunsch der Erreger des Traumes ist, die Erfüllung dieses Wunsches der Inhalt des Traumes, das ist ein Hauptcharakter des Traumes« (1916–17, S. 143). Freud nimmt an, dass sich der Widerstand des Träumenden gegen die Enthüllung verbotener – weil aus unerlaubten Triebanteilen stammender – Wünsche richtet; »der Deutungswiderstand ist nur die Objektivierung der Traumzensur« (S. 152). Er meint, dass der Träumende seine Wünsche verleugnet und deswegen auch dem Aufdecken des latenten Traumgedankens in der Analyse Widerstand entgegensetzt, und kommt zu dem Schluss, »dass die Traumentstellung, welche uns im Verständnis des Traumes stört, Folge einer zensurierenden Tätigkeit ist, die sich gegen die unannehmbaren Wunschregungen richtet« (Freud 1916–17, S. 142). Adler kann von seiner Sicht her – in der er auch den Traum versteht als Teil einer final ausgerichteten Bewegung – eine Traumzensur im Sinne einer Abwehr unerlaubter Triebanteile 71

nicht anerkennen. Er sagt: »Das Streben nach Befriedigung (eines Wunsches), der Grundsatz der Psychoanalyse, ist nur eine unter den unzähligen Möglichkeiten des Strebens nach Überlegenheit; wir können es nicht als das Zentralmotiv aller Ausdrucksformen der Persönlichkeit akzeptieren« (1936, S. 332). Das ändert sich auch nicht, wenn wir zusätzlich den von Freud später bedachten Todestrieb als der Libido entgegenstehendes Prinzip, als zu verhüllenden Triebanteil, in die Überlegungen einbeziehen. Wenn für Adler der Traum als Tendenz des Strebens nach Überlegenheit zu verstehen ist – an anderer Stelle sagt er, dass der Traum der Versuch der Abwehr einer befürchteten Unterlegenheit sein kann –, so ist natürlich auch das als Wunscherfüllung zu interpretieren. Doch es ist eine sehr viel weniger festgelegte Tendenz, unter der sich viele auf Erfüllung drängende Wünsche – sexuelle wie andere – einordnen lassen. Die Zensur einer moralisch wertenden Instanz im Traum wird überflüssig. Mit Recht wird man hier fragen: Aber es findet doch ganz offensichtlich – das erkannte Adler ausdrücklich an – eine Entstellung des Traums vom latenten Traum zum manifesten Traumtext hin statt. Wo liegt der Sinn dieser Traumentstellung? »Ich hatte«, sagte Adler hierzu, »bei meinen Untersuchungen über den Traum zwei starke Hilfen. Die eine bot mir Freud in seinen unannehmbaren Anschauungen (Adler meint hier die Libidotheorie, Anm. d. Verf.). Ich lernte aus seinen Fehlern. Die zweite, viel stärkere Hilfe, erwuchs mir aus der festen, wissenschaftlich erhärteten und von vielen beleuchteten Einheit der Persönlichkeit. Die gleiche Zugehörigkeit zur Einheit muss auch dem Traum eigen sein. Das oberste Gesetz beider Lebensformen im Wachen wie im Schlafen ist: das Wertgefühl nicht sinken zu lassen« (1933, S. 167f.). Die Traumentstellung hat also den gleichen Sinn wie die Einengung der Wahrnehmung im Wachzustand. Zugelassen zum Traumbild wird das, was zum Bild passt, das der Träumende von sich selbst hat. Adler meint auch: »Die Entwertungstendenz liegt jener Erscheinung zugrunde, die Freud als Widerstand beschrie72

ben und irrtümlich als Folge der Verdrängung sexueller Regungen aufgefasst hat« (1936, S. 314). Entwertet wird das, was das Selbstbild des Ich bedrohen kann. Diese Art des Widerstands ist auch im Traum und bei der Erinnerung des Traums wirksam. Adler sagt aber auch, dass der Traum den Träumenden täuschen will. Ich betonte früher schon, dass der Sinn des Traums auch in der Erzeugung eines bestimmten Affekts liegt, der auf ein Ziel hin ausgerichtet ist. »Der Zweck des Traums wird aber eher durch die Verwendung von Affekten und Stimmungen als durch den Gebrauch von Vernunft und Beurteilung erreicht. Logisches Denken allein könnte uns nicht zielstrebig täuschen. Gedanken können den Anstoß zu Irrtümern in der Beurteilung geben, aber diese würden auf inadäquate Tatsachen zurückzuführen sein. Wenn unser Lebensstil mit der Wirklichkeit und dem Common sense in Konflikt gerät, empfindet er es – um den Lebensstil zu bewahren – als Notwendigkeit, mit Hilfe von Ideen und Bildern eines Traums Gefühle und Affekte hervorzurufen, die wir nicht verstehen« (1936, S. 6). Zu welch unterschiedlichen Ergebnissen der Interpretation solche grundsätzlichen Verschiedenheiten der Auffassung des Traums führen müssen, wird deutlich am Beispiel der Flugträume. Adler sah in ihnen eine Tendenz, sich überlegen zu fühlen. Freud kommt natürlich zu einem ganz anderen Ergebnis: »Lassen sich sich’s nicht nahe gehen, dass die oft so schönen Flugträume, die wir alle kennen, als Träume von allgemeiner sexueller Erregung, als Erektionsträume gedeutet werden müssen« (1916– 17, S. 164). Vielleicht werden beide Traumforscher bei der Betrachtung des Flugtraums Opfer ihrer Apperzeption. Vielleicht sehen beide den Traum zu eng, unter dem Einfluss der Lähmung durch die eigene Theorie. Aber Adler schränkt ein: »Die Deutungen haben nur Wahrscheinlichkeitscharakter«, es kann alles ganz anders sein. Freuds Blickwinkel ist hier eingeengter. Er lässt oft nur die Irritierung durch die unterdrückten Sexualtriebe zu. Natürlich, Freuds eigentliches Betroffensein von der Kultur geht weiter. 73

Libido und Sexualität sind Schlüsselworte. Und doch, ich meine, er hat ein Teilchen in der Dynamik der Triebkräfte der menschlichen Seele überscharf gesehen und es überdimensioniert. In einer späteren Revision seiner Traumtheorie stellt Freud die Technik seiner Traumdeutung auf eine zweite Basis. Als weiteres Hilfsmittel für das Verstehen des latenten Trauminhalts fügte er nun die Symbolübersetzung hinzu, ausgehend von der aus Beobachtungen gespeisten Annahme der mutmaßlich universellen, also für jeden Träumer gleichen Relation zwischen bestimmten Symbolen und dem von ihnen Symbolisierten, der identischen Bedeutung bestimmter Traumszenarios (Freud 1916–17, S. 159f.). Adler meint hierzu: »Die Symbole eines Individuums sind niemals die eines anderen« (zit. nach Ansbacher et al. 1972, S. 337). Er benennt nur ganz wenige Traumelemente, die möglicherweise bei verschiedenen Menschen in ihren Träumen mit ähnlicher Bedeutung wiederkehren. Das heißt nicht, dass wir die Annahme von häufiger auftauchenden, für verschiedene Menschen ähnliche Bedeutung tragende Symbole in Bausch und Bogen ablehnen. Solche Symbole von allgemeinerer Gültigkeit sind das Ergebnis der Begegnung mit dem Reichtum einer Kultur, die allen Menschen gemeinsam ist. Es sind zum Teil die gleichen Symbole, denen wir auch in Märchen und Sagen begegnen. Sie sind gewissermaßen tradierte Ausdruckschiffren der Gemeinschaft, in der wir leben. Aber sie werden deswegen nicht unbedingt mit gleichförmiger, unvariierbarer Bedeutung in den Träumen als Ausdrucksmittel verwandt. Sie sind nicht Vokabeln, die jeweils nur einen Sinn geben, nein, jeder Träumende spricht seine eigene Sprache. Wie irreführend die vorschnelle Festlegung des Symbolinhalts für ein Bild sein kann, zeigt zum Beispiel das in Träumen sehr häufig auftretende Motiv von den ausfallenden Zähnen. Es führt in manchen Analysen zu sehr langatmigen Erforschungen möglicher Erinnerungen an Kastrationsdrohungen, denn der Kastrationskomplex, als Angst des Mannes, seiner Männlichkeit beraubt zu werden, oder der Penisneid, als Angst der Frau, weniger wert zu sein, spielen in der Theorie Freuds eine große Rolle. Nun 74

kann tatsächlich das Bild des Zahnausfalls ein Hinweis auf eine früher erlebte Kastrationsangst sein. Das kam im Wiener Milieu der Jahrhundertwende, in dem Freud seine psychologischen Studien begann, sicher häufiger vor. Heute jedoch ist es eher unwahrscheinlich, dass mit dem Zahnausfall die Kastration gemeint ist. Häufig verweist dieses Bild jedoch in eine Zeit, in der sich mit dem Verlust der ersten Zähne – der so genannten Mausezähne – soziale Veränderungen im Leben des Kindes ereigneten. Mit dem Schuleintritt kommt das Kind dem verantwortlichen Erwachsensein ein gutes Stück näher. Das ist ein Entwicklungsschritt, der häufig auch angsthaft erlebt wird. Tatsächlich ist es öfter zu beobachten, dass Menschen in vergleichbaren Übergangszeiten, etwa vor einem beruflichen Wechsel oder im Klimakterium, träumen, ihnen fielen die Zähne aus. Wir können Traumsymbole, auch solche allgemeingültiger Art, nur verstehen, wenn wir sie im ganzen Lebenskontext des Träumenden zu entschlüsseln versuchen. Auf einen weiteren, nicht unwichtigen Unterschied ist noch hinzuweisen. Es geht um die Beurteilung der im Traum enthaltenen Tagesanteile. Freud spricht vom Tagesrest und sagt: »Etwas, was aus unserem bewussten Leben stammt und dessen Charakter teilt – wir heißen es die Tagesreste –, tritt mit etwas anderem aus jenem Reich des Unbewussten zur Traumbildung zusammen. Die Beeinflussung der Tagesreste durch das herantretende Unbewusste enthält wohl die Bedingung für die Regression« (1916–17, S. 216). In der Regression also, im Zurücksinken, im Wiedererleben des Vergangenen, das nur durch den Tagesrest angestoßen wird, sieht Freud den wesentlichen Inhalt des Traums. Adler relativiert: »Wir müssen demnach fürs erste feststellen, dass jeder Traumzustand einen exogenen Faktor hat. Das bedeutet wohl mehr und anderes als Freuds ›Tagesrest‹. Die Bedeutung liegt in dem Geprüftsein und Lösungsversuchen. Es enthält das ›Vorwärts zum Ziel, das ›Wohin‹ der Individualpsychologie im Gegensatz zu Freuds Regression und Erfüllung infantiler sexueller Wünsche« (1936, S. 7). 75

Der Traum ist also die Brücke von einem zum anderen Tag. Das Tagesproblem ist das wirklich im Traum bearbeitete Problem und nicht nur der Tagesrest, der die Regression auslöst. Und diese, die Regression, ist nicht das Eigentliche, sondern – wo immer sie auftaucht – ein Mittel, Rückgriff auf früher schon ausprobierte Techniken der Bewahrung der Lebensstilansprüche. ■ Der Traum drängt nicht nur in die Vergangenheit, er weist in die Zukunft. Das ist vielleicht die wichtigste Unterscheidung in den Traumauffassungen von Freud und Adler. Hier ist eine Randbemerkung zu machen. Der dem Psychotherapeuten zugänglich gewordene Traum ist fast immer ein auf die Therapiestunde hin geträumter Traum. Das zu bewältigende Tagesproblem ist die Therapiestunde selbst; nämlich die Überwindung oder aber Verteidigung des alten Lebensstils. Daher kommt es, dass in diesem Traum viel Vergangenes einfließt; nur zu häufig verhüllt der Patient ein Problem in einem Traum, um es dem Therapeuten mitzuteilen oder doch nicht mitzuteilen. So gesehen enthält jeder Therapietraum ein regressives Element. Adler sieht im Traum vor allem eine Bewegung vom Heute zum Morgen, eingebettet in den Kontext des ganzen Lebens des Träumenden und verständlich nur aus seiner Finalität. »Die einzig gültige Traumdeutung ist die, welche sich mit dem allgemeinen Verhalten des Individuums, mit ersten Erinnerungen und Problemen in Einklang bringen lässt« (Adler 1930, S. 147). ■ Die Unterschiede eines Traumverständnisses von Freud und Adler gründen sich auf die Kritik der Libidotheorie. Die Individualpsychologie lehnt deswegen ab: – die Auffassung, dass ein unerlaubter Triebwunsch der Erreger des Traums sei; – die Annahme einer Traumzensur als Abwehr verbotener Triebimpulse; – die Festlegung von Traumsymbolen, die nicht aus dem Erfahrungshorizont des Träumers erklärt werden. 76

Exkurs: Heutiges Traumverständnis und Neurobiologie In seinem Buch »Traum und Traumdeutung« stellt sich der Autor Wolfgang Mertens die Frage, ob Freud, wenn ihm bereits Methoden wie die des Elektroenzephalogramms oder des Elektrookulographen verfügbar gewesen wären, nicht doch versucht hätte, sich dem Traum auf dem ihm vertrauten Terrain der neurobiologischen Hirnforschung anzunähern, und formuliert folgende Antwort: »Zu vermuten ist aber, dass Freud zwar die Erforschung der Psychologie des Traums vorgezogen hätte, aber dennoch einen Brückenschlag zur Neurophysiologie oder -biologie versucht hätte« (Mertens 2000, S. 21). Die Frage ist natürlich spekulativ, und sie ließe sich für Adler ähnlich stellen und wahrscheinlich ähnlich beantworten. Letztendlich bin ich der Ansicht, dass es gut so ist, wie die Geschichte der Psychoanalyse und mit und in ihr die der Individualpsychologie verliefen – trotz aller dieser Geschichten immanenten Widersprüche, Umwege und vielleicht manchmal auch Irrwege –, denn ohne den innovativen Anstoß Freuds hätte wahrscheinlich diese ganze Vielfalt der Gedanken über die innerpsychische Struktur des Menschen, mit welcher die Psychoanalyse mit allen ihren Verzweigungen das Nachdenken über den Menschen und sein seelisches Sein bereicherte, nicht gegeben, und der Brückenschlag zwischen den tiefenpsychologischen Schulen und der Neurobiologie und Neurophysiologie scheint ja seit Ende des vergangenen Jahrhunderts doch noch zu gelingen. Gerald Hüther, der in seinem Buch »Biologie der Angst – Wie aus Streß Gefühle werden« (1997) neurobiologische und neurophysiologische Untersuchungen über Angst und Stress als Angelpunkt in der Psychodynamik des Menschen und Ausgangspunkt wichtiger evolutionärer Entwicklungen darstellt, schreibt in diesem Zusammenhang: »Es hat sich aber doch eine Entwicklung vollzogen von einem dualistischen zu einem integralen Denken. Wir sehen Leib und 77

Seele nicht mehr als voneinander getrennte, sondern als zwei sich gegenseitig beeinflussende und durchdringende Wesenheiten an, die eine komplementäre Identität bilden. Diese gegenseitige Durchdringung wird in weiten Teilen der aktuellen neurobiologischen und psychologischen Forschung immer deutlicher« (Hüther 1997, S. 14). Vielleicht bewegen wir uns ja zu auf eine Zeit einer neuen Ernsthaftigkeit im Nachdenken über den Menschen, die Gespräche am runden Tisch der Mittwochabendgesellschaft werden wieder aufgenommen und fortgesetzt, die Neurobiologen befreien sich aus der Enge ihrer Gefangenschaft der einseitigen Orientierung an dem zählbaren In- und Output an der Verhaltensoberfläche – Mertens spricht spitz, aber durchaus zutreffend von einer »Wustzipfel-Wissenschaft« (2000, S. 100) – und die Psychoanalytiker verlassen ihre elfenbeinernen Türme, beide Seiten suchen nach einer gemeinsamen Sprache oder doch mindestens nach einem Verständnis für die Sprache des anderen. In jüngerer Zeit ist eine Fülle von Veröffentlichungen erschienen, die für diesen Versuch eines Brückenschlags steht. In meinem Vortrag zur Eröffnung der Jahrestagung für Individualpsychologie im Herbst 2001 »Die Individualpsychologie in der Gegenwart – Eine Bestandsaufnahme« versuchte ich einen Bogen zu schlagen von Denkmodellen des 18. Jahrhunderts zu heutigem Denken und die Einordnung einer sich in der Tradition der Psychoanalyse verstehenden Individualpsychologie in diesen geistesgeschichtlichen Zusammenhang. Ich zitierte Gedanken von Friedrich von Hardenberg, der sich als Dichter Novalis nannte, und berichtete über die Aktualität seiner Texte, »in welchen sich in kühner poetischer Verflechtung philosophische, religiöse, historische und naturwissenschaftliche Bilder und Stimmen vermischen und vereinigen in dem Wissen, dass es eine reine Vernunft nicht gibt und nicht geben kann. Novalis formuliert also bereits zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts uns ganz heutig anmutende Überlegungen« (Schmidt 2002a, S. 28). Auf die Begrenzung unserer Erkenntnismöglichkeiten und die Relativität unseres Wissens – gleich, ob wir uns auf naturwis78

senschaftliche, wissenschaftstheoretisch und kausal eng begründete Experimente beziehen oder auf mehr hermeneutisch angelegte Denkmodelle der Psychoanalyse oder gar auf solche unsere Ahnungen, Hoffnungen und unser Unwissen in Bilder kleidende religiöse Aussagen berufen – macht Luc Ciompi aufmerksam, wenn er in seinem Buch »Die emotionalen Grundlagen des Denkens – Entwurf einer fraktalen Affektlogik« als Leitmotiv seiner erkenntnistheoretischen Reflexion das – der Astronomie entlehnte – Bild vom obligat beschränkten Horizont gebraucht: »Hinter einem kosmischen ›Ereignishorizont‹ verbergen sich alle die Ereignisse, die aus verschiedensten Gründen der menschlichen Beobachtung für immer entzogen bleiben müssen« (Ciompi 1999, S. 133). Bezug nehmend auf neurobiologische Forschungen, die Psychoanalyse, die genetische Epistomologie Piagets und die Chaostheorie entwirft er ein faszinierendes Modell einer »fraktalen Affektlogik«. Als eine zentrale These benennt er die untrennbare Verbundenheit von Fühlen und Denken: »Als Niederschlag der Aktion oder Erfahrung entstehen nicht bloß kognitive, sondern immer auch typisch affektiv-kognitive Bezugssysteme oder Schemata« (S. 44). Diese Aussage korrespondiert mit der adlerschen Auffassung, dass ein wesentlicher Sinn des Traums in der Bildung eines Affekts liegt, also einer schöpferischen Arbeit an einer affektiv-kognitiven Neueinstellung in der Bewältigung der Herausforderungen unseres Lebens in der Bewegung von einem zum anderen Tag. Als »fraktal« bezeichnet Ciompi »eine nichtlineare Dynamik auf Ebenen verschiedener Größenordnung selbstähnlicher Strukturen aus komplexen Systemen und Prozessen genau von der Art, wie sie im psychosozialen Klein- wie Großraum durchwegs anzutreffen sind« oder auch »Selbstähnlichkeit in kleinsten und größten Strukturen, Struktur in Struktur in Struktur«. Er betont, dass sich Anhaltspunkte für solche fraktalen Strukturen im psychischen Bereich in großer Zahl finden lassen (Ciompi, S. 13). An anderer Stelle schreibt er: »Letztlich muss vermutlich sogar die ganze Persönlichkeitsorganisation des Menschen als große ›fraktale Gestalt‹ verstanden werden, in wel79

cher das große Ganze schon im kleinsten und einzelnen angelegt und dem Kundigen durchaus erkennbar ist.« Als Individualpsychologe denke ich dabei an Adlers Gedanken über die Einheitlichkeit des Lebensstils und an die im Lebensstil gebundene schöpferische Kraft. Und wenn Ciompi formuliert: »In jeder spezifischen affektiven Befindlichkeit werden ganz andere kognitive Inhalte bevorzugt aus Umwelt und Gedächtnisspeichern selektioniert und zu umfassenden Sichtweisen und Wahrheitssystem verbunden« (S. 104), so lassen sich Adlers Begriff der »tendenziösen Apperzeption« assoziieren und natürlich auch Gedanken zur Gestaltung des Traums durch den ihn Träumenden, der ja beim Entwurf seiner Dramaturgie nach Auffassung Adlers zunächst auch der Leitlinie seines Lebensstils folgt. Im Zeitraum von 1992 bis 1998 versuchten Lotte Köhler und Wolfgang Mertens in einem Workshop auszuloten, inwieweit in der Psychoanalyse heute noch gebräuchliche Erklärungsmodelle mit dem gegenwärtigen Stand der Nachbarwissenschaften der Psychoanalyse vereinbar sind. Sie gewannen zahlreiche Wissenschaftler der beteiligten Disziplinen für diesen Dialog. Die – auch für die heutige Individualpsychologie äußerst wichtigen – Beiträge dieses Forums wurden in zwei von Martha Koukkou, Marianne Leutzinger-Bohleber und Wolfgang Mertens und herausgegebenen Bänden »Erinnerung von Wirklichkeiten – Psychoanalyse und Neurowissenschaften im Dialog« (1998) publiziert, wobei der erste Band eine Bestandsaufnahme widerspiegelt, während der zweite Band sich auf Folgerungen für die psychoanalytische Praxis bezieht. Im Vorwort zum ersten Band schreiben Lotte Köhler und Wolfgang Mertens: »Und nach und nach wurde deutlich, dass es keine unüberwindlichen Mauern zwischen der Psychoanalyse und der Cognitive Science sowie der Hirnforschung zu geben braucht, wenn es keine Gewichtung im Sinn der Frage ›Welche wissenschaftliche Perspektive ist naturwissenschaftlicher und damit (scheinbar) objektiver, grundsätzlicher, wirklichkeitsnäher ...?‹ vorgenommen wird« (1998, S. 10f.). Es ist natürlich nicht möglich, im Rahmen meiner Rekon80

struktion einer adlerschen Traumtheorie die vielen Gedanken und Diskussionsansätze nachzuverfolgen, die in den zwei Bänden des Workshops auf mehr als achthundert Seiten ausgebreitet werden. Ich möchte aber doch – gewissermaßen stellvertretend für die Gewichte des ersten Bandes – einen Beitrag herausgreifen, nämlich Andreas Hamburgers Aufsatz »Narrativ und Gedächtnis«, weil er meinem Nachdenken über den Menschen, sein Gedächtnis und seine Träume besonders nahe kommt. Hamburger stellt einige Thesen auf, die mir unmittelbar einleuchten: »(1.) Das Gedächtnis wird in der Interaktion erworben und funktioniert über die permanente Neukonstruktion szenischer Entwürfe. Diese Entwürfe skizzieren das Selbst in simulierten Interaktionssequenzen. (2.) Sie sind auch an innere Objekte gerichtet, werden innerlich erzählt« (Hamburger 1998, S. 228). Weiter schreibt er: »Die narrative Psychologie beschreibt die Innenwelt als permanenten inneren Erzählvorgang. Das ›Ich‹ ist Erzähler, das ›Selbst‹ Protagonist eines im bewussten und unbewussten Phantasiestrom stets neu formulierten Narrativs« (S. 229). Und in Bezug auf den Traum: »Der Traum ist eine spezifische Form des Denkens ... Der Protagonist der Traumerzählung ist das Selbst des Träumers, das sich durch das Feld seiner Selbstund Objektrepräsentanzen fabuliert und sich in dieser fortlaufend, ununterbrochen gemurmelten Erzählung erst konstituiert« (S. 223f.). Dieter Bürgin kommt bezugnehmend auf Hamburgers Beitrag in der Einleitung zum ersten Band zu der Schlussfolgerung: »Die narrative Auffassung des psychoanalytischen Prozesses und der Traumerzählung verändert die Anforderungen der Psychoanalyse an das Hirnmodell. Die neuen dynamischen, lebendigen Hirnmodelle, die von einem interaktionellen Organismus ausgehen, beenden die Epoche der starren Computermetapher und schließen ein Maschinenmodell nicht nur für die Welt, sondern auch für das Gehirn aus. Erleben und neuronale Erregung in komplexen Netzen sind nur zwei Formen desselben Geschehens, die auf Grund des unterschiedlichen Erkenntnis- und Ver81

ständigungswegs als verschieden erscheinen. Eine zunehmende Integration der Neurosciences in die Psychoanalyse und der Psychoanalyse in die Neurosciences erfordert anstrengendste Bemühungen, wird aber eine allmähliche Annäherung der beiden völlig verschiedenen Zugangswege zur conditio humana erwarten lassen« (Bürgin 1998, S. 21f.). Besonders anregend auch für die Reflexion eines Traumverständnisses in der gegenwärtigen Individualpsychologie sind die Beiträge des zweiten Bandes. Das Grundlagenmaterial, auf das sich die Beiträge dieses Bandes beziehen, sind die von Marianne Leutzinger-Bohleber vorgelegten Stundenprotokolle sowie der Initialtraum und der Beendigungstraum einer über fünf Jahre sich erstreckenden Analyse eines zu Beginn der Behandlung 25-jährigen Transvestiten. Im Verlauf der Analyse orientierte sich die Analytikerin an verschiedenen psychoanalytischen theoretischen Systemen und Behandlungstechniken wie etwa Kohuts Umgang mit der Spiegelübertragung oder Techniken der Objektbeziehungstheorie nach Winnicott oder Kernberg. Sie benennt als Voraussetzung für eine solche pluralistische Orientierung, sprich spielerische oder »träumende« Haltung, dass die in der Wahrnehmung des klinischen Materials verwandten theoretischen Modelle nachträglich bewusst gemacht und reflektiert werden (Leuzinger-Bohleber 1998, S. 41f.). Das Ergebnis dieser analytischen Arbeit ist faszinierend. Wir begleiten einen Prozess, in dessen Verlauf der Analysand Reifungsschritte vollzieht, die sich sichtbar und einfühlbar in seinen Träumen niederschlagen. Die Autorin schreibt, »dass Erinnerungen an konflikthafte und traumatische frühinfantile Ereignisse nur in der sensomotorischen-affektiven Interaktion mit dem Analytiker als einem ›bedeutungsvollen Anderen‹ möglich werden und sich anschließend einem verhaltensändernden, rekategorisierenden Durcharbeiten in der Übertragungsbeziehung erschließen« (S. 73). Dieser Prozess wird in dem Buch szenisch deutlich und immer wieder zurückbezogen auf aktuelle Erkenntnisse und Beiträge der neurobiologischen Hirnforschung. Am Ende wiederholt die Berichterstatterin eine Aussage der 82

klinisch-psychoanalytischen Forschung der letzten Jahre, nämlich »dass nur ein Durcharbeiten traumatischer Objektbeziehungserfahrungen in der Übertragung zu einer strukturellen Veränderung des Patienten führe« und betont, dass dieses Postulat eine interdisziplinäre Abstützung erhält, »da sie sich als extern kohärent mit Befunden der biologischen Gedächtnisforschung erweist« (S. 81). Leuzinger-Bohleber schlussfolgert: »Während mir die erwähnten Ergebnisse der neueren biologischen Gedächtnisforschung als extern kohärent mit Konzeptualisierungen der Objektbeziehungstheorie, der Selbstpsychologie und des Strukturmodells erscheinen, stehen sie eindeutig im Widerspruch zum ›energetischen Triebabfuhrmodell, das daher in der heutigen Psychoanalyse kaum noch aufrechterhalten werden kann« (S. 81). Solchen Sätzen mag ich als Individualpsychologe zustimmen. Sie entsprechen meiner Erfahrung in der täglichen therapeutischen Arbeit, und ich meine, dass auch weite Teile der frühen Theoriebildungen Adlers in diese externe Kohärenz einbezogen werden können. Das Buch enthält viele Anregungen. Auf einen Beitrag möchte ich noch kurz eingehen, nämlich das von Martha Koukkou und Dietrich Lehmann vorgestellte »Zustandswechselmodell«, weil es für mich die Anschauungen der Individualpsychologie über eine leiblich-seelische Ganzheit des Menschen auf eindrucksvolle Weise bestätigt. »Menschliches Verhalten ..., in der Wachheit oder im Schlaf, setzt die jeweiligen Ergebnisse der ständigen dynamischen und parallelen Interaktion des Individuums mit seinen externen (physikalischen und sozialen) und internen Realitäten voraus und stellt sie dar.« Die interne Realität entspringt – nach Aussage der Autoren – aus dem jeweils funktionalen Zustand der verschiedenen Organe und – dies ist die Kernannahme des Modells – »aus der Summe des allmählich im Gehirn des Individuums (durch seine ständige aktive und passive Beteiligung an den Ereignissen seiner Realitäten) erworbenen und kreierten Wissens über das Selbst, über seine Realitäten und über die Qualität der Beziehungen, die zwischen dem Selbst und seinen 83

Realitäten bestehen« (Koukkou u. Lehmann 1998, S. 165f.). Solche Aussagen erscheinen mir – bei aller Vorsicht – beinahe wie eine späte Präzisierung von Annahmen, die Adler 1907 eher spekulativ in seiner Theorie über »Organminderwertigkeit« als Ausgangspunkt neurotischer Entwicklungen äußerte. Über Träume schreiben die Autoren: »Das Träumen wie alle mentalen Prozesse während der Wachheit ist kontinuierlich, und Träume sind die in der Wachheit erinnerbaren Ergebnisse der aktiven und selektiven Interaktion des Individuums während des Schlafs mit seinen externen und internen Realitäten« (S. 183). Einen knappen, aber sehr präzisen Überblick über die Ergebnisse der neurobiologischen Traumforschung seit der Entdeckung der REM-Schlafphasen durch Aserinsky und Kleitmann im Jahr 1953, welche Freuds Annahmen zunächst als naturwissenschaftlich nicht haltbar erscheinen ließen, über die Korrektur dieser experimentell gewonnenen Beobachtungen durch Foulkes, welcher nachwies, dass Träume auch aus Nicht-REM-Phasen berichtet werden, wenn man die Versuchsperson nur auf geeignete Weise befragt, bis hin zu neueren Beobachtungen der am Traum beteiligten Hirnregionen durch moderne bildgebende Verfahren gibt ein Essay des englischen Neurobiologen und Psychoanalytikers Mark Solms (1999) im Begleittext zur Reprintausgabe von Freuds »Traumdeutung«. Er kommt zu der Schlussfolgerung: »Der derzeitige empirische Forschungsstand der Neurowissenschaften gibt uns allen Grund, Freuds radikale Hypothese ... ernst zu nehmen, nämlich dass Träume motivierte Phänomene und ihre Triebkraft Wünsche sind« (S. 113). Er entwickelt die Theorie, dass Traumbilder über einen Prozess generiert werden, der die Umkehrung der normalen Abfolge von Schritten bei der Wahrnehmungsverarbeitung darstellt. »Beim Träumen wird die normale Stufenfolge der Wahrnehmung umgekehrt« (S. 115). Er führt weiter aus, dass der psychische Prozess des Denkens im Schlaf weitergeht und nur unter bestimmten physiologischen Bedingungen die Form des Träumens an- nimmt. Er beschreibt den Traum als einen regressiven Pro84

zess, in welchem der Träumer im Schlaf nur seiner Vorstellung und nicht in Wirklichkeit sich gemäß seinen Motiven handelnd betätigt. Gegen Ende seines Essays äußert er, »dass ich persönlich der Meinung bin, wir wären gut beraten, Freuds Modell als Orientierungsrahmen für die nächste Phase unserer neurowissenschaftlichen Untersuchungen zu nutzen« (S. 119). Im Vorwort zur ersten Ausgabe dieses Buches begründete ich meine Nichtbeschäftigung mit Forschungsergebnissen der Neurophysiologie mit dem Hinweis, dass der tiefenpsychologisch tätige Arzt notwendigerweise über die Phänomene, die ihm begegnen, auch spekuliert und der messende und auf statistische Signifikanz angewiesene Naturwissenschaftler ihr Thema verschieden angehen. Die Individualpsychologie ist eine Schule aus der Tradition der Psychoanalyse und wird als solche auch in Zukunft eine Position zwischen Natur- und Geisteswissenschaften einnehmen, und sie wird in ihren Denkstrukturen eher einer hermeneutischen Vorgehensweise als einer nur an Kausalketten orientierten folgen. Solange die naturwissenschaftliche Hirnforschung aufgrund ihrer eingegrenzten Wahrnehmungsmöglichkeiten im Traum nur ein sinnloses Neuronengewitter erkennen konnte, hatte sie uns kaum etwas zu sagen. Dank verfeinerter Methoden der naturwissenschaftlichen Hirnforschung – zum Beispiel der Anwendung moderner bildgebender Verfahren – kam die Neurobiologie zu Ergebnissen, die mit den Aussagen der tiefenpsychologischen Schulen korrespondieren, sie ergänzen oder auf fruchtbare Weise in Frage stellen. Es hat sich ein Dialog ergeben, der für die Weiterentwicklung unseres Denkens unverzichtbar geworden ist. Es scheint sich ein Kreis zu schließen, eine alte abendländische Tradition des Denkens über die unteilbare Ganzheit des Menschen, von der Adler sprach, scheint sich fortzusetzen. Der Dichter Novalis drückte das um das Jahr 1795 so aus: »Wie der Körper mit der Welt in Verbindung steht, so die Seele mit dem Geist. Beide Bahnen laufen vom Menschen aus und enden in Gott. Beide Weltumsegler brauchen sich in korrespondierenden Punkten ihrer Bahn. Beide müssen auf Mittel denken, 85

trotz der Entfernung zusammen zu bleiben und zugleich und gemeinschaftlich beide Reisen zu machen« (Ausg. 1970, S. 337).

Zehn Thesen einer individualpsychologischen Traumtheorie Nachdem ich dargestellt habe, wo sich die Anschauungen über den Traum bei Freud und Adler berühren und wo und warum beide Psychologen zu anderen Positionen kommen, will ich nun versuchen, die grundsätzliche Stellung der Individualpsychologie zum Traum in zehn Thesen herauszuarbeiten. 1. These: Der Traum ist Ausdrucksform des Lebensstils. Den Begriff Lebensstil setzt Adler für den ursprünglich gebrauchten Begriff »Bewegungsgesetz des Menschen«. Es handelt sich hier also um ein in der Kindheit festgeschriebenes Grundmuster von Meinungen, die das Kind sich über sich selbst, und solchen, die es sich über andere Menschen und die Welt gebildet hat, sowie grundsätzliche Zielvorstellungen und Ansichten darüber, welche Mittel man einsetzen muss, um diese Ziele zu erreichen. ■ Lebensstil nennt Adler ein im Vorschulalter festgeschriebenes Bewegungsgesetz der seelischen Dynamik, in das Meinungen über den Selbstwert, über andere Menschen und die Welt sowie über Zielvorstellungen eingegangen sind. Dieses Bewegungsgesetz bestimmt fortan die Erfahrungen und das Handeln des Menschen. Ich will den Zusammenhang von Lebensstil und finaler Leitlinie am Beispiel der Krankengeschichte und des Traums einer Patientin mit Anorexia nervosa (nervöse Magersucht) deutlich machen. Sie war 14 Jahre alt. Ihre Erscheinung wirkte auf mich wie ein einziger Protest, der keine Sprache fand, sondern der sich aus86

drückte in der Haltung und im Verfall des Körpers. Sie war blass und so erbärmlich mager und zerbrechlich, dass man um ihr Leben bangen mochte. Sie selbst schien ihre Magerkeit nicht wahrzunehmen. Sie fand sich normal und absonderlich eher die anderen – die Mutter, den Vater –, die sich um ihr körperliches Befinden besorgt zeigten. Dieses äußere Erscheinungsbild erscheint uns wie eine Illustration zum freudschen Begriff der Regression. Freud ordnet die Anorexia nervosa einem Triebkonflikt der späten oralen Phase zu. Ich bin darüber anderer Meinung. Wenn wir in diesem Fall von Regression sprechen wollen, so sehe ich in ihr mehr ein Mittel zum Ziel und nicht eine Rückwärtsentwicklung. Stärker imponiert dem Individualpsychologen der ohnmächtige Stolz, der von solchen Patienten ausgeht. Eine magersüchtige Patientin sagte schon nach einiger Zeit der Behandlung und nachdem sich in ihrem Leben vieles zum Besseren hin gewandelt hatte: »Aber, wenn ich jetzt zunehme, dann gebe ich ja den anderen Recht.« Dieser Ausspruch könnte auch von der hier vorgestellten Patientin stammen. Die Eltern dieser Patientin waren wohlhabend; der Vater, im Bestreben, den Wohlstand zu erhalten und auszubauen, war oft auf Reisen. Wenn er zu Hause war, dann war er aus der Sicht des Kindes laut, fremd, sehr groß. Wenn er liebevoll war, geschah dies oft beiläufig. Seine Zuwendung blieb unbeständig. Die Laune konnte plötzlich umschlagen: Dann war das eine Forderung, nicht mehr zu stören, nun endlich ins Bett zu gehen, zu gehorchen. Das Bild der Mutter war überschattet durch die Konflikte, welche die 14-jährige Tochter mit ihr hatte. Auf die – früh, wie die Mutter meinte – erwachende Sexualität des Mädchens hatte sie ängstlich reagiert, mit Kontrollen, mit Misstrauen und Reglementierungen. Die Mutter hatte das Kind wohl immer schon ein wenig zu sehr beschützt, manchmal aus schlechtem Gewissen, denn der wirtschaftliche Aufstieg verpflichtete auch sie im Geschäft ihres Mannes. Oft gab es gesellschaftliche Verpflichtungen, dann war die Patientin der Obhut der sechs Jahre älteren 87

Schwester anvertraut. Diese wiederum hatte, nach langjähriger Verwöhnung als einzige Tochter und nachdem sie eine anfängliche Irritierung durch die Geburt der Schwester überwunden hatte, auf diese Herausforderung mit einem neuen Streben nach Selbstständigkeit und Tüchtigkeit geantwortet. Sie war immer schon Vaters Liebling gewesen. Sie blieb es, denn beim zweiten Kind hatte sich der Vater mehr einen Sohn gewünscht. Er konnte seine Enttäuschung nicht ganz verbergen. Das wiederum übertrug sich auf die Schwester und sie behandelte die Patientin mit einer Art »väterlicher«, teils liebevoller, teils gängelnder Herablassung. Wir wollen versuchen, das soziale Umfeld der Patientin mit den Augen des Kindes zu sehen, das sie einmal war. Als kleines Kind wurde sie oft verwöhnt, das war angenehm; aber auch gegängelt, das erzeugte eine Art dauernder Spannung in ihr, diesen leisen Zorn, der ihr blieb, der lautere Zorn wurde ihr verboten, bis sie ihn sich selbst verbot. Ihre Magersucht ist als eine Verweigerung zu verstehen. Sie wich aus vor dem Erwachsenenwerden – übrigens nicht aus Angst vor der Sexualität, wie Freud vielleicht meinen würde; die hatte sie längst genossen und als angenehm erfahren. Nein, die Rolle, die ihr jetzt und hier zu spielen aufgegeben war, erschien ihr zu unbedeutend, deswegen wich sie zurück. Sie machte sich zum Kind, um nun im Reich der Phantasie ihre in jedem Lebensbereich übersteigerten Wünsche zu erfüllen, mit Siebenmeilenstiefeln an Schwester, Mutter und Vater vorbeizueilen. In einem der ersten Gespräche erzählte sie von einem Traum: »Ich und meine Schwester und ihr Freund und andere, wir haben Kirschen geerntet. Die waren noch grün, aber doch schon reif. Hinterher haben wir Kirschmarmelade gemacht. Es war schönes Wetter und ich bemerkte, dass ich aus den Kirschen alle möglichen Marmeladen kochen konnte, Erdbeer-, Himbeer- und Aprikosenmarmelade. Das war sehr lustig.« Sie wachte am Morgen in allerheiterster Stimmung auf. Analysieren wir die Kindheitsgeschichte der Patientin. Wir müssen uns dabei fragen, welches Selbstwertgefühl sie dabei ent88

wickelt hat, wie sie die anderen sieht, welche Ziele sie sich setzen wird. Wir sehen vor allem zwei kausale Bedingungen, die ihr Selbstbild mitbestimmen konnten. 1. Sie war eine spätgeborene Jüngste, sah also die anderen groß und sich selbst als hilflos und klein an 2. Das Erziehungsklima war eine Mischung aus Verwöhnung und einem Mangel an Zärtlichkeit. Das war eine zusätzliche Entmutigung. Das verwöhnte Kind lernt nicht, sich selbst etwas zuzutrauen. Verwöhnung ist nicht mit echter Zärtlichkeit zu verwechseln, sie ist eher eine Gängelung, eine Sonderform autoritärer Erziehung. Die wiederholt erlebte Entbehrung bleibender Wärme hinterlässt im Kind ein es ins Erwachsensein begleitendes beständiges und nie stillbares Mangelgefühl. 3. Die anderen dominierten sie. Beide Schwestern scheinen ihre Vorstellung von Stärke und Kraft nach dem Bild des Vaters geformt zu haben. Aber gerade im sozialen Vergleich mit der Schwester erlebte die Patientin oft ihr Ungenügen bei der Verfolgung des Ziels, den anderen zu gleichen, was in der Überkompensation heißt, die anderen zu übertreffen. Ihr Selbstwertgefühl ist entmutigt. Ihr Ziel wird es sein, diese von ihr wahrgenommene Minussituation zu überwinden. Die dagegengesetzte Fiktion ist am Vater orientiert. Nach Adler wird jede Kompensation einer wahrgenommenen Minderwertigkeit stets als Überkompensation angelegt. Das Ziel »ich kann mehr« wird sie also am Vater vorbeiführen. Es wird unerreichbar bleiben. Um sich die Illusion des Ziels offen zu halten, wird sie die Realität leugnen müssen. Analysieren wir die Kindheitsgeschichte so, erscheint es unwahrscheinlich, dass der traumatisierende Konflikt auf eine einzige Entwicklungsphase beschränkt bleibt. Eher erkennen wir einen wiederholten Konflikt. Adler erkannte richtig, dass eine lang andauernde Verwöhnung als kränkende Beziehungserfahrung die Bedingung schafft für besonders rigide Neuroseformen. Betrachten wir nun den Traum. Er passt sich genau ein in diese finale Linie der Patientin vom Minus zum Plus. Er illustriert ihr inneres Bild. Sie drückt aus: »Ihr sagt, ich bin noch grün. Ich bin schon reif. Ich kann mehr als ihr.« 89

2. These: Der Traum spiegelt den Lebensstil in der Bewegung des Träumenden von einem zum anderen Tag. Diese These schränkt ein, stuft den Traum in der Bedeutung zurück. Tatsächlich träumte die Patientin ihren Traum vom Kirschenpflücken auf eine aktuelle Situation hin. Sie war von zu Hause fort in eine Wohngemeinschaft gezogen, in der auch ihre Schwester und deren Freund wohnten. Dieser Umzug brachte einerseits Entlastung in einem gefährlichen Machtkampf, der sich zwischen ihr und ihren Eltern eingespielt hatte und der sich äußerlich im täglichen Streit um das Essen und die Verweigerung des Essens darstellt. Andererseits schuf dieser Umzug neue Probleme; er stellte sie auf neue Weise vor ihr altes Problem, die Jüngste unter Älteren zu sein. Die Patientin machte sich mit diesem Traum gewissermaßen Mut für den folgenden Tag. Wir betonten schon an früherer Stelle, dass ein wesentlicher Sinn des Traums in dem von ihm erzeugten Affekt liegt. So spiegelt sich zwar im Traum der Lebensstil, aber doch nicht die ganze dialektische Spannung zwischen Ohnmacht und Zorn. Der Traum vom Kirschenpflücken stellt diese Problematik in eher liebenswürdiger Weise dar – diese Liebenswürdigkeit erwies sich übrigens auf Dauer als ein wichtiger Charakterzug der Patientin, im jetzigen Traum war sie auch Ausdruck der Entlastung durch die veränderte Situation. Ihr Traum war also Ausdruck ihres Lebensstils in ihrer ganz aktuellen Situation und auch eine Brücke zum kommenden Tag. 3. These: Der dem manifesten Traum innewohnende latente Traumgedanken kann nur gedeutet werden im Kontext und einem deutenden Verstehen der frühesten Kindheitserinnerungen und dem allgemeinen Verhalten des Individuums. Stärker formulierte die Patientin die Spannung ihres Lebensstils in den bewussten Erinnerungen an ihre frühe Kindheit: »Ich sehe mich auf einem Dreirad sitzen, aber ich kann mich gar nicht darauf halten. Ich bin erst drei Jahre alt und meine Beine sind viel 90

zu kurz. Links von mir steht die Mutter, daneben der Vater, rechts von mir steht die Schwester. Alle sind groß. Ich bin sehr enttäuscht.« Wie eine Fotografie hält diese Erinnerung diese Enttäuschung darüber fest, noch nicht größer zu sein. Dies ist die früheste Erinnerung. Adler misst der allerfrühesten Kindheitserinnerung eine besondere Bedeutung bei. Darin sei der Grundakkord der ganzen Lebensmelodie schon voll enthalten. Er heißt hier: Ich bin klein. Meine Beine sind zu kurz. Ich kann es nicht. Unsere Gespräche kreisten um ihre Probleme mit dem Angenommensein und dem Ernstgenommenwerden. Wenn sie sich angenommen fühlte, milderte sich das Gefühl der Enttäuschung, kleiner zu sein als die anderen. Wenn sie sich gegängelt oder manipuliert fühlte, steigerte sich das Gefühl zu ohnmächtiger Wut. Hierfür steht eine Kindheitserinnerung aus ihrem vierten Lebensjahr: »Ich war noch wütend, weil ich beim Friseur gewesen war. Haareschneiden war schrecklich. Ich ging hin und schnitt der guten Käthe-Kruse-Puppe meiner Schwester die Haare ab. Meine Mutter guckte rein. Sie war unheimlich sauer. Ich erinnere mich an mein Gefühl der Wut, aber auch an ein Unverständnis über den Zorn der Mutter. Ich dachte, die Haare wachsen nach.« Diese Erinnerung ist eigentlich eine kleine Geschichte, die sich um zwei sinnlich erinnerte Momente rankt. Die eine ist die Erinnerung an die Wut über das Haareschneiden und ihre Entladung an der Puppe. Die andere ist die Erinnerung an den Zorn der Mutter und eine Art Unterwerfung, Unverständnis (»Ich dachte, die Haare wachsen nach«). Sie führt zu Spekulationen, etwa in Richtung auf Freuds Begriffe vom Kastrationskomplex und Penisneid. Der Patientin wären sie fremd gewesen. Dennoch fällt auf, dass das in dieser Erinnerung enthaltene Aggressionsund Unterwerfungsspiel sich auf Schwester und Mutter ausrichtet. Tatsächlich scheint sie während Phasen ihres Lebens ihr Gefühl von Minderwertigkeit auch auf ihre Rolle als Frau bezogen zu haben. Stärker kränkend war das Gefühl, die Jüngste, die 91

Kleinste zu sein. Das findet Ausdruck in ihrem größten Wunsch: »Ich möchte, dass ich noch wachse, und zwar in die Höhe.« Den Vater bewunderte sie während der Kindheit beinahe kritiklos. Umso mehr kränkte es sie, wenn er sie zur Kleinen machte. Später erlebte sie an ihm alle Ohnmacht. Der ohnmächtige Zorn auf den mächtigen Vater bestimmte am Ende den Gegenpol zur Enttäuschung über ihre täglich erfahrene Rolle der unterschätzten jüngsten Tochter. ■ In den frühesten Kindheitserinnerungen bildet sich der Lebensstil ab. Im Traum wird er sichtbar als daraus abgeleitetem Bewegungsgesetz in der Bewegung von einem zum anderen Tag. Sinn und Bedeutung des Traums können nur im Dialog mit dem Träumenden selbst entschlüsselt werden. Dass der Träumende selbst der alleinige Wissende um den latenten Traumgedanken ist, ist so selbstverständlich, dass wir hierfür keine eigene individualpsychologische These aufstellen wollen. Er allein weiß um den geheimen Gedanken des Traums und lässt ihn dennoch zum Bewusstsein nicht zu, weil er sein Selbstwertgefühl dadurch irritieren würde. Der Traum selbst ist Teil des nachdenklichen Dialogs, den der Träumende mit seinem Therapeuten über das ihm noch verborgen bleibende Gesetz seines Lebens führt. Nach Adler sind die Wiederholungsträume näher den frühesten Kindheitserinnerungen als unmittelbar den Lebensstil darstellendes Ausdrucksphänomen des Menschen zu sehen. Es sind dies Träume, die der Mensch in einer bestimmten Phase seines Lebens – manchmal auch während seiner ganzen Lebenszeit – gleichartig – oder doch ein einziges Thema nach gleicher Struktur immer wieder variierend – träumt. Über sie schreibt Adler: »In wiederkehrenden Träumen können wir den Lebensstil mit großer Deutlichkeit ausgedrückt finden. Sie geben uns einen definitiven und unverkennbaren Hinweis auf das Ziel der Überlegenheit des Individuums. Ein wiederholter Traum ist eine wiederholte Antwort auf ein wiederholt konfrontiertes Problem« (1936, S. 13). 92

4. These: Der Traum hat vor allem die Funktion, das Selbstwertgefühl des Träumenden nicht sinken zu lassen. Auf den hier besprochenen Traum vom Kirschenpflücken können wir diese These ohne Schwierigkeiten anwenden. Das Selbstwertgefühl der Patientin ist dadurch gefährdet, dass sie in der Wohngemeinschaft wieder »nur« die Jüngste ist. Außerdem erfolgte wohl der Auszug aus dem Elternhaus nicht ganz ohne Ängste. Im Traum führt sie sich vor Augen, was sie ist und was sie kann, sich spricht sich durch ihn Mut zu. Auch auf den Traum im Kapitel »Dramaturgie eines Traums ...« (S. 30) werden wir die 4. These ohne weiteres anwenden können. Wir erinnern uns, er holte einen Kindheitsschmerz zurück ins Traumbewusstsein. Der Vater jener Patientin zog in den Krieg, als sie ein kleines Mädchen war. Die Trennung wurde als Kränkung erlebt. Die Finalität ihres Lebensplans wurde fortan bestimmt durch den Wunsch nach Überwindung dieser Kränkung. Im Traum überwindet sie die ihr Selbstwertgefühl in Frage stellende Kränkung, indem sie sich an einen König wendet, der ihrem späteren Einfall nach Gott ist. Sie nimmt den König in ihre Dienste, sie ist vielleicht selbst der König. Dabei war der Traum durchaus provoziert durch ihr augenblickliches Erleben. Die Bewusstmachung grundsätzlicher Lebensängste tangierte ihr Selbstwertgefühl. Er ist ein gezielt auf die Therapiestunde hin geträumter und durch die in den Gesprächsstunden erfolgte Begegnung mit der Vergangenheit angeregter Traum. Er lehrt uns auch, dass der Therapietraum eine Besonderheit darstellt gegenüber dem alltäglichen. Er ist häufig ein Teil des Dialogs mit dem Therapeuten und eine verschlüsselte Botschaft an ihn. Selbst auf die literarischen Träume des ersten Kapitels lässt sich unsere These anwenden. So ist das Wertgefühl des chinesischen Weisen bedroht durch die Vergänglichkeit seiner Existenz. In C. G. Jungs Traum finden wir – wie in seiner ganzen Psychologie – den Wunsch erfüllt, aufgehoben zu sein in einer tieferen Sinnhaftigkeit aller Existenz. Wir erfahren aus seiner Biographie, 93

dass die Beziehung zu seiner Mutter gestört war. Wir können diesen Traum und andere verstehen als den Versuch, die Kränkung, die er hierdurch erfuhr, zu überwinden. Valentins Komödientraum von der Ente ist vordergründig wohl nur der eines hungrigen Müncheners. Aber auch Hunger ist eine Kränkung. Er enthüllt auf eine lustige Weise viel vom melancholischen Lebensstil des Träumers. Dennoch möchte ich eine Einschränkung machen, die ich in der These dadurch ausdrückte, dass ich sage: »vor allem«. Physiologisch gesehen hat der Traum wohl vor allem den Sinn, den Schlaf zu erhalten gegen von außen oder innen kommende Reize. In seinen Traumvorlesungen erzählt Freud, dass er einmal träumte, der Papst sei gestorben, und er sei Zeuge seines Begräbnisses (1916–17, S. 111). Im Nachdenken darüber, am folgenden Tag, fiel ihm ein, dass zum Zeitpunkt des Traums die Kirchenglocken im Dorf seinen Schlaf gestört hätten. Der Traum hatte wohl offenbar nur den Sinn, dem Schlafenden eine Erklärung für die seinen Schlaf störende Lärmbelästigung zu liefern. Immerhin fällt auf, dass Freud hier, zur Bewahrung seines Schlafs, ein ganzes Papstbegräbnis bemüht. Dass ein sehr dramatischer Traum eine durchaus harmlose Bedeutung haben kann, möchte ich an einer eher lustigen Begebenheit illustrieren. Ein mir befreundeter Kollege erzählte mir, er habe geträumt, jemand habe ihn gewürgt. Er habe im Traum des Gefühl gehabt, keine Luft mehr zu bekommen, sich aber gleichzeitig darüber gewundert, dass er gar keine Angst habe. Im Traum griff er nach der ihn würgenden Hand und biss kräftig hinein. Er wurde von einem furchtbaren Spektakel wach. Er hatte seinen Hund gebissen, der im Schlaf neben ihm gelegen und selber schlafend seine Pfote auf den Hals seines Herrn gelegt hatte. Wir sollten den Traum nicht überinterpretieren, indem wir uns fragen, warum sich der Herr im Traum zum beißenden Hund macht, sondern nur festhalten, dass der mangelnde Affekt im Traum dem Träumenden schon sagte, dass es sich offenbar um keinen Traum von besonderer Bedeutung handelte. 94

5. These: Der Traum verdichtet Elemente der unteilbaren Ganzheit der Person des Träumenden und seines unauflösbaren Verflochtenseins in einen sozialen Kontext. Diese These ist nur scheinbar die Wiederholung einer vorangegangenen, nämlich dass der Traum Ausdruck des Lebensstils sei. Sie will einen der wichtigsten Grundgedanken der Individualpsychologie herausstreichen, nämlich dass der Mensch sein Ich über die anderen definiert. M. Sperber drückte das so aus: »dass die unvermeidliche Vergesellschaftung ebenso des Menschen Schicksal ist wie der Tod« (1978, S. 9). So wie der Mensch von Natur aus ein Gemeinschaftswesen ist, entspricht es ebenso seiner Natur, dass er bei der Formulierung seines Lebensstils – was während der Kindheit mehr über gefühlshafte Stellungnahmen als über Sprache erfolgt – sozusagen ein vergleichender Psychologe ist und in seinen Träumen ein vergleichender Träumer. Ist sein Lebensentwurf in Harmonie mit der Gemeinschaft der anderen und gelingt, spiegelt sich sein Ich im Du der anderen; wo er im Widerspruch steht zur Gemeinschaft – also etwa im Fall der seelischen Krankheit –, findet er nur Zerrbilder seiner selbst in der Fremdheit der anderen Menschen. Unsere bis zur Selbstvernichtung protestierende jugendliche Patientin war übersensibel bereit, im Spiegel der anderen zu sehen, dass sie klein und ihnen gegenüber minderwertig sei. Das erlebt sie auch in der Wohngemeinschaft. Ihr Traum dient der Kompensation dieses Gefühls. Sie bedient sich dabei im Traum eines Kunstgriffs. Die Aussage: »Die Kirschen sind grün und doch schon reif« bezieht sie auf die ganze Gruppe. Sie wertet also die anderen ein Stück ab, zieht sie auf ihr angenommenes Niveau, um sich dann selbst noch einmal ein gutes Stück gegenüber den anderen aufzuwerten, indem sie sich eine Fähigkeit zuschreibt, die die anderen nicht haben. ■ Ein häufiges Mittel zur Kompensation der im sozialen Vergleich wahrgenommenen Minderwertigkeit im Traum ist das der Entwertung der anderen. 95

Eine ähnliche Tendenz zur Entwertung finden wir auch im Traum »vom großen König« (S. 30). Wir erinnern uns, ihre Kränkung in der Kindheit bestand unter anderem darin, dass sie die älteste von mehreren Töchtern war und im Schatten ihrer Brüder stand. Von der Mutter sah sie sich verwiesen auf die Rolle einer dienenden Frau. Ganz im Sinne des adlerschen Begriffs vom »männlichen Protest« lehnte sie diese Frauenrolle in einer – nach ihrem Erleben – männlich dominierten Welt ab. Ein Stück der Verachtung dieser Frauenrolle finden wir im zweiten Traumteil. »Im Dorf ist eine alte Frau. Sie redet auf mich ein.« Entwertung ist nur eine der Formen sozialer Stellungnahme im Traum. Ich bin der Meinung, dass jeder Traum auch eine Spiegelung der sozialen Beziehungen des Träumers ist. Nun gibt es aber Träume, in denen offenbar gar kein soziales Bezugssystem zu erkennen ist. Denken wir an C. G. Jungs Traum im ersten Kapitel. Tatsächlich unterscheidet er sich von den anderen dadurch, dass in ihm keine anderen Personen vorkommen, nur der Yogin, der den Träumenden träumt. Ist er also zu verstehen als der Traum eines Einsiedlers, der in seiner Einsiedelei nur sich selbst begegnet? Ich glaube nicht. Ich meine, dass auch die Finalität dieses Traums zu verstehen ist aus dem sozialen Kontext des ihn Träumenden. Diese Finalität zielt auf eine tiefere Seinsverbundenheit und Geborgenheit. Der Yogi ist der Träumende selbst – denn er trägt sein Gesicht – und er ist doch auch wieder nicht der Träumende, sondern jemand, der schon lange vor ihm da war. Er stellt im Traum eine soziale Beziehung her. Diese wird bei Jung häufig nicht so sehr im Hier und Jetzt gesehen, sondern im Lebensstrom der Menschen in der Vergangenheit. Hierfür setzt Jung Begriffe wie Archetyp und kollektives Unbewusstsein. Also er selbst definiert den Menschen auch in einem sozialen Bezugssystem. So gibt es viele Träume, in denen der Träumende nur sich selbst begegnet. Aber das Bild, das er sich im Traum von sich selber macht, ist immer beeinflusst durch ein soziales Umfeld der Gegenwart und der Vergangenheit.

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6. These: Jedes Traumelement ist eine Spiegelung des Träumenden selbst. Andererseits übernimmt der Mensch niemals das Bild der anderen einfach als naturalistisches Abbild in seinen Traum. Er dichtet es um, nach seiner Wahrnehmung, nach seiner finalen Tendenz. Der Traum spiegelt etwas, was außerhalb seiner selbst vorhanden ist. Er ist nicht verständlich als ein bloßes L’art-pour-l’artProdukt. Er bezieht seinen Stoff aus dem sozialen Umfeld des Träumenden, aber er ist völlig unrealistisch. Der Traum dichtet die Wirklichkeit und die in der Wirklichkeit handelnden Personen um nach dem Lebensstil des Träumers. So wie etwa ein Geschichtenerzähler in jede von ihm erdichtete Person etwas von sich selbst hineingibt oder wie ein Maler in jedem von ihm gemalten Bild ein Stück von sich selbst verausgabt, so legt auch der Träumende in jede von ihm geträumte Person, ebenso wie in jedes von ihm erträumte Symbol, etwas von sich selbst hinein. In jeder Traumfigur ist ein Stück von ihm selbst enthalten; oder sie ist auch er selbst. So kommt es zum Beispiel häufig vor, dass eine im Traum auftretende Person Träger der Merkmale verschiedener Personen ist. In der Regel hat diese Traumperson dann kein erkennbares Gesicht. Ein Beispiel für diese These, dass jede im Traum auftretende Person auch der Träumende selbst sein kann, ist der Traum vom großen König (S. 30). In der Bearbeitung dieses Traums kam es sehr eindrucksvoll heraus, dass die Träumende selbst gleichzeitig die Beobachterin am Ufer und der einer Insel zustrebende Reiter war – der auch ihr Vater war –, gleichzeitig das belehrte Mädchen wie die entwertete Frau – die gleichzeitig ihre Großmutter war – und auch die Frau, die neben dem König einherschreitet, und der König selbst – der gleichzeitig Gott ist. Jede Metapher des Traums ist eine Metapher des Träumenden selbst und geprägt durch seinen Lebensstil.

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7. These: Die im Traum auftretenden Symbole sind zwar Ausdrucksform des kulturellen Zusammenhangs, in dem der Träumende steht, sie sind aber nur zu verstehen auf dem Hintergrund seines individuellen Lebensstils. Es verbietet sich also, im Traum auftretende Symbole lexikalisch zu deuten, indem wir etwa die kulturell tradierte Bedeutung, die ein Symbol hat – und die übrigens niemals ganz eindeutig ist –, einfach auf den Traum übertragen. Solche Versuche entspringen dem in diesem Jahrhundert so weit verbreiteten Irrglauben, dass wir alles, also auch den Traum, objektivieren könnten. Wir wollten Weisheit durch Wissen ersetzen und beginnen erst langsam wieder zu begreifen, dass manchmal ein weiser Rat jenseits allen Wissens wichtiger ist als vermeintliches Wissen, das oft nur die Fiktion von möglicher Allwissenheit ist. Auf diesen Zusammenhang macht Albert von Schirnding in seinem Buch »Die Weisheit der Bilder« aufmerksam, wenn er etwa schreibt: »Die Unendlichkeit ist in unser Bewusstsein eingedrungen und hat die Kategorien von Raum und Zeit als Anschauungsformen unseres Denkens zertrümmert. Der Odysseus unserer Zeit weiß zu viel, um weise zu sein« (1979, S. 13). Symbole sind Zeichen, die in das verlorene Land des Mythos weisen. Für Jung sind sie vieldeutig, ahnungsreich und im letzten Grund unausschöpfbar (1957, S. 49). Unsere Kultur ist angefüllt mit Bildern und Symbolen, die einer eindeutigen intellektuellen Fixierung nicht zugänglich sind. Das alles ist richtig, aber dennoch bin ich der Meinung, dass die im Traum auftretenden Symbole aus der Begegnung des Individuums mit der Kultur stammen. Der Träumende erinnert sie im Sinne seiner subjektiven Wahrnehmung und flicht seine ganz persönliche Wertung des Symbolbildes in den Traum ein. Der Traum selbst ist eine persönliche Schöpfung des Träumenden. Seine Bildersprache kann nur mit Hilfe des Träumenden selbst entschlüsselt werden. Der latente Traumgedanke kann im Bilderreichtum des manifesten Traums verständlich werden. Aber 98

er ist nicht rational objektivierbar. Er lässt zwar gewisse, in allen Träumen wiederkehrende Gesetzmäßigkeit erkennen, aber er ist nicht nach einem Schema enger Regeln in die Sprache des Logos zu übersetzen. 8. These: Eine Traumzensur im Sinne einer Abwehr unerlaubter Triebanteile ist nicht dominierend. Abgewehrt wird vielmehr eine drohende Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls. Die Reserve gegenüber der freudschen Auffassung von einer Traumzensur ergibt sich aus der Kritik der Libidotheorie. Tatsächlich kommen im Traum sexuelle Inhalte ebenso oft verhüllt wie unverhüllt vor. Die Annahme, dass die Traumverhüllung immer den Sinn hat, verbotene Triebanteile zu verschlüsseln, erweist sich bei vergleichender Betrachtung vieler Traumtexte als nicht wahrscheinlich. Als typischer regressiver Sexualtraum gilt der so genannte Toilettentraum. Ein sehr kultivierter und künstlerisch empfindender jüngerer Mann war peinlich berührt von einem solchen Traum; beschämt auch über die Situation, in welcher er den Traum träumte. Er erzählte den Traum so: »Ich war zum Pissen (das Wort war mir im Traum ganz gegenwärtig) auf eine Damentoilette gegangen. Das ganze Klo war furchtbar mit Kot beschmutzt. Ich sagte, das muss einmal sauber gemacht werden, tat aber nichts. Ich erwachte mit einem sehr unbehaglichen Gefühl.« Er träumte diesen Traum nach einem Beischlaf mit seiner Lebensgefährtin. Als er erwachte, lag er in den Armen dieser Frau. Er war begreiflicherweise sehr erschrocken. Bei der Besprechung stellte es sich heraus, dass es seit Wochen zwischen den Partnern starke Spannungen gegeben hatte, unter denen er sehr litt. Die Spannungen waren auch noch keineswegs beseitigt. Die Frau hatte sich durch Erwartungen, die darauf hinausgingen, dass sie ihren Beruf aufgeben sollte, um sich ganz auf ihn zu beziehen, und durch seine Eifersucht so eingeengt gefühlt, dass sie aus der Zweierbeziehung ausgebrochen war und eine flüchtige sexuelle Beziehung mit einem anderen Mann begon99

nen hatte. Sie war zu ihrem Partner zurückgekehrt, aber der Konflikt war nicht beseitigt. Das Gefühl der Kränkung durch seine Partnerin konnte auch durch das zärtliche Beisammensein nicht ausgelöscht werden. Im Schlaf setzte es sich durch. Die unterdrückte Wut und Trauer drückte sich im Traum aus als Entwertung der gemeinsamen Sexualität. Das äußerte sich in dem Sprachschatz des Träumenden sonst ungewohnten Wort »Pissen« und im Bild von der beschmutzten Damentoilette. Wird hier Sexualität wegzensiert? Nein, sie wird entwertet. Dahinter steckte bei dem Träumenden eine tiefe Verlustangst. Er sagte: »Mit meiner Zärtlichkeit liefere ich mich aus, mache ich mich verwundbar.« Bei der Entwertung bediente er sich der Regression als Mittel zum Ziel. Dass Sexualität schmutzig sei, hatte er in seiner Erziehung oft zu hören bekommen. Er griff also bei der Entwertung seiner Partnerin und ihrer gemeinsam genossenen Zweisamkeit zurück auf überwundene Normen seine Kindheit. Der Traum zeigte auch einen Ausweg. Er liegt in dem Satz: »Das muss einmal sauber gemacht werden.« Das hieß übersetzt: »Der Schmutz der Missverständnisse und Meinungsverschiedenheiten, der mich von meiner Partnerin entfremdet, muss beseitigt werden. Dabei muss ich aktiv etwas tun.« Tatsächlich gelang es beiden Partnern – auch mit Hilfe von Paargesprächen –, im Gegeneinander der verschiedenen Erwartungen des einen an den anderen, tragfähige Lösungen zu finden. 9. These: Was Freud Widerstand nennt, ist in Wirklichkeit eine Entwertung jener das Selbstwertgefühl des Ich bedrohenden Traumgedanken. Diese These ist eine Präzisierung der vorangehenden. Denken wir an den eben berichteten Toilettentraum: Das Selbstwertgefühl des Träumenden ist bedroht durch die noch nicht verarbeitete Untreue der Partnerin. Die Kränkung liegt auch in einer Verletzung der männlichen Eitelkeit des Träumenden. Die Klischeevorstellung, dass der Mann Hörner aufgesetzt 100

kriege, wenn ihm die Frau untreu wird, hat er tief verinnerlicht. Der Traum spiegelt deutlich die Züge des männlichen Protests, zeigt den Mann zunächst in einer durchaus überlegenen Position. Sie kann allerdings nicht aufrechterhalten werden. Der Gedanke setzt sich durch, dass er selbst etwas tun müsste, um den Schmutz zu beseitigen. Der Träumende wacht auf. Er tut dies, weil er die Abwehr der Bedrohung seines Selbstwertgefühls im Traum nicht aufrechterhalten kann. Das angestrebte Ziel im männlichen Protest heißt Überlegenheit als Mann, die abgewehrte Kränkung Konfrontation mit einer möglichen Unmännlichkeit. Wie in der Neurose selbst und wie in der Therapie richtet sich auch im Traum – wie auch in der Traumverarbeitung – der Widerstand gegen das Aufgeben des fiktiven Ziels, welches der Abwehr einer möglichen Unterlegenheit dient. Unterlegen fühlte sich unser letzter Patient unter der Macht der Frau, ihn zu verlassen. Im Fall der Frau mit dem »Traum vom großen König« bedeutet Unterlegensein das Im-Stich-gelassenWerden von dem Beschützer, den man in seine Dienste nahm, und das Verwiesenwerden auf die Rolle der dienenden Frau. Im Fall der jungen Patientin mit einer Magersucht bedeutet es das Klein-gehalten-Werden im Status der gegängelten jüngsten Tochter. 10. These: Auch der Traum unterliegt den Gesetzen der tendenziösen Apperzeption. Es wird zum Bewusstsein nicht zugelassen, was nicht in den »Lebensstilkram« (Adler) passt. Denken wir an den Toilettentraum. Der Lebensstil des Träumenden ist geprägt von der Furcht, dass Frauen ihn in seinem männlichen Stolz kränken könnten, indem sie sich abwenden. Im Traum ordnet er den Schmutz der Frau zu. Als sich der Gedanke durchsetzt, dass er etwas tun muss, um den Schmutz zu beseitigen – dass also der Schmutz in der Beziehung auch seine eigene Sache ist –, wacht er auf. Auch die Tendenz des Traums vom Kirschenpflücken ist 101

unschwer zu verstehen. Die Träumende nimmt vor allem wahr, dass die anderen sie in die Rolle der Kleinen drängen. Die Dynamik des Traums wird ausgerichtet auf die Abwehr dieser befürchteten Kränkung. Wie sehr der Traum unter dem Gesetz einer tendenziösen Wahrnehmungsveränderung steht, wird auch deutlich an dem oft beobachteten Umstand, dass der Träumende in der Therapie der Tendenz des psychologischen Systems seines Therapeuten folgt. So wird der orthodoxe Analytiker die Tendenz der Träume seines Analysanden lenken. Kommt dieser nun zu einem Schüler C. G. Jungs, wird er in Symbolen träumen, und beim Individualpsychologen passt er sich dem Schema der Individualpsychologie an. Das bedeutet nicht, dass er damit das Schema des Analytikers, des Jung-Schülers oder des Individualpsychologen bestätigt. Er passt sich nur im Stil seiner Träume der tendenziösen Apperzeption seines Therapeuten an. Die individualpsychologische Theorie geht von der Vorstellung aus, dass dem Lebensstil oder dem Common sense zuwiderlaufende Fremdwahrnehmungen und Selbstwahrnehmungen zum Bewusstsein nicht zugelassen werden. Damit dies nicht geschieht, bedarf es der tendenziösen Einschränkung der Wahrnehmung. Freuds Lehre von der Verdrängung steht im engen Zusammenhang mit seiner Libidotheorie. Es war zweifellos ein Verdienst Freuds, entgegen der prüden Sexualmoral seiner Zeit, als Wissenschaftler dargestellt zu haben, wie das Wissen um einen für das Selbstbild des damaligen Bürgertums peinlichen Tatbestands der Sexualität aus der allgemeinen Diskussion ausgeblendet wurde. Aber indem er diese Tendenz des Ausblendens einengte auf den Fakt der Sexualität – denn in der Tat wurden in der bürgerlichen Moral zum Beispiel ebenso ein hemmungsloses Streben nach Macht und Erwerb ausgeblendet –, blieb er gewissermaßen auf halbem Weg stehen. Seine Verdrängungstheorie geriet ihm zu mechanistisch. Mit Recht kritisiert Manès Sperber: »Ohne die Bedeutung der sexuellen Unbewusstheit und Un102

terdrückung in Frage zu stellen, lehnen wir die Auffassung von der Verdrängung ab, da sie notwendig voraussetzt, dass das Unbewusste bewusst gewesen ist, ehe es verdrängt worden ist. Freud lässt also die Wahrnehmung sozusagen normal funktionieren und an einem bestimmten Punkt einen Entwendungsprozess eintreten, in dessen Verfolg ein Bewusstseinsinhalt in das Souterrain des Unterbewusstseins verschwindet. Die These der Verdrängung ist angesichts des wirklichen Vorgangs ebenso primitiv wie mechanistisch« (Sperber 1970, S. 59). Nach individualpsychologischer Auffassung ist alles menschliche Leben Bewegung, die auf Ziele ausgerichtet ist. Alle Lebensäußerungen des Menschen stehen unter dem Gesetz dieser finalen Bewegung. Auch die Wahrnehmung des Menschen ist dieser Gesetzmäßigkeit zugeordnet. Folgerichtig verstehen wir auch den Traum als Teil des Ganzen dieses immer in Bewegung befindlichen Lebens. Auch im Traum unterwirft sich der Mensch dem selbstverordneten Gesetz seiner subjektiven Logik und der daraus resultierenden subjektiven Wahrnehmungsverzerrung. Alle zehn von mir formulierten Thesen heben sich letzten Endes auf in einem einzigen Satz: ■ Der Traum ist wie alle Ausdrucksphänomene des Menschen jenem Bewegungsgesetz unterworfen, das Adler Lebensstil nannte.

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II. Teil: Traumbeispiele

Drei zusammenfassende Thesen Ich werde zehn Träume vorstellen, die wir in Zusammenschau mit den Einfällen des Träumers zum Traum, der Biographie des Träumenden, der Analyse seiner Familienkonstellation und seinen Kindheitserinnerungen deutend verstehen wollen. Alle hier vorgestellten Träume wurden auf den Prozess einer Analyse hin geträumt. Der Therapietraum stellt insoweit eine Besonderheit dar, als er Teil des Dialogs ist, den der Patient mit seinem Therapeuten führt. Es gibt durchaus banale Träume, die lediglich die Funktion einer Abwehr den Schlaf störender Reize haben. Diesen banalen Träumen möchte ich schöpferische Träume gegenüberstellen. Auch sie sind Hüter des Schlafs. Sie dienen der Abwehr einer von inner her kommenden, als existenziell erlebten Bedrohung. In den therapeutischen Prozess eingebrachte Träume sind fast immer der schöpferischen Art. Alle Patienten, deren Träume wir hier vorstellen, litten unter mehr oder weniger starken neurotischen Symptomen. Das macht es notwendig, den individualpsychologischen Begriff von Neurose an dieser Stelle noch einmal zu präzisieren. Adler verstand die Neurose vom Ziel her. Von der privaten Logik des neurotischen Menschen aus erschien sie ihm durchaus sinnvoll. Der neurotische Mensch verfolgt aus seiner Sicht das Ziel, ein ihn bedrängendes und festgehaltenes Gefühl der eigenen Minderwertigkeit zu überwinden. Er kann dieses Gefühl nicht kompensieren in der Auseinandersetzung mit der realen Gemeinschaft, in der er lebt, weil seine tendenziöse Apperzeption ihn hindert, jene Wahrnehmungen zu realisieren, welche sein Minderwertigkeitsgefühl relativieren könnten. Man könnte also auch sagen, dass er sein neurotisches System keineswegs auf105

rechterhalten muss, weil er einem dauernden Wahrnehmungsirrtum aufsitzt. Sein Verhältnis zur realen Welt bleibt gestört. Er versucht die Kompensation seiner angenommenen Minderwertigkeit, die für ihn viele Ausdrucksformen haben kann, als Überkompensation in der Ausrichtung auf Fiktionen. Seine neurotischen Symptome wie Wahn, Angst, Depression oder körperliche Beschwerden braucht er, um diesen Rückzug aus der Realität rechtfertigen zu können. Da ihm diese Vorgänge unbewusst sind und da in ihm auch ein Rest des Gemeinschaftsgefühls erhalten ist, leidet er auf dreierlei Weise: an seiner Minderwertigkeit, an seinen Symptomen und an seiner Einsamkeit. Mit Recht schreibt Manès Sperber: »Der Neurotiker wird erst zum Neurotiker im Zusammenstoß mit Umweltbedingungen, die durchaus nicht denen entsprechen, für die er erzogen wurde. Nicht nach irgendwelchen abstrakten moralischen Grundsätzen, nicht vom Standpunkt ethischer Forderungen entscheidet sich, was Neurose ist, sondern durch ihren Misserfolg wird unvermeidlich, wenn die Anpassung des Individuums unzulänglich und unbrauchbar, weil den realen Lebensbedingungen nicht adäquat sind« (1978, S. 276). Wir verstehen Neurose also richtig, wenn wir sie als Entfremdung beschreiben, nämlich als Fremdwerden oder Fremdbleiben in der Welt. Karin Horney definiert in ihrem Buch »Neue Wege in der Psychoanalyse« die narzisstische Neurose so: »Schließlich ist der Narzissmus nicht ein Ausdruck der Eigenliebe, sondern der Entfremdung vom eigenen Ich« (1972, S. 80). Tatsächlich ist in jeder neurotischen Störung Entfremdung auf zweierlei Weise enthalten: als mehr oder weniger ausgeprägte Entfremdung vom Ich und als mehr oder weniger ausgeprägte Entfremdung von der Gemeinschaft. Mir ist es wichtig, dies festzustellen, weil in dem Wort Entfremdung die Wechselbeziehung enthalten ist von neurotischer Störung und Umfeld. Das genaue Verständnis dieser Beziehung ist wichtig für das Verstehen der Wechselbeziehung von Neurose, Heilung und Traum. Psychotherapie ist nämlich der Versuch, den neurotischen Menschen aus seiner Fremdheit in die Realität dieser Welt 106

zurückzuführen. Eines der Mittel, deren sich der Klient und der Therapeut dabei bedienen, ist der Traum. Beide arbeiten an ihm und begegnen sich dabei. Gelingen oder Misslingen dieser Arbeit ist auch abhängig vom Gelingen oder Misslingen dieser Begegnung. Der Traum ist nicht einfach ein Rätsel, das der Patient dem Therapeuten in die Sprechstunde bringt und das dieser für ihn löst. Die Beziehung ist komplizierter. Der Traum ist Teil eines Dialogs und oft ist der Therapeut selbst in diesen Traum einbezogen und auch ein Befangener. Die Beziehung zwischen Patient und Therapeut ist vielleicht die erste Chance einer nicht entfremdeten Beziehung. Deswegen ist es so wichtig, dass der Therapeut lernt, den Traum richtig zu verstehen und nicht die Theorie über den Traum zu stülpen. Dieses Traumverständnis zu vertiefen ist Anliegen des folgenden Abschnitts. Ich fasse meine Gedanken in drei Thesen zusammen: ■ Jede Neurose ist eine Form von Entfremdung. Sie ist der Versuch auszubrechen aus der Faktizität einer realen Welt in eine fiktive Welt. ■ Psychotherapie ist der Versuch, den neurotischen Menschen wieder an die reale Welt heranzuführen. Der Traum ist dabei ein vom Patienten und Psychotherapeuten gemeinsam eingesetztes Mittel. Versuche ich nun, den Traum zu dieser Neurose- und Therapieauffassung in eine Beziehung zu setzen und dabei in einem einzigen Satz zu bündeln, was über eine individualpsychologische Auffassung des Traums schon besprochen wurde, so komme ich zu folgender These über den Traum: ■ Der Traum ist der schöpferische Versuch des Menschen, die Spannung zwischen seiner Fiktion und der erlebten Realität zu überwinden, anders gesagt, der Traum ist der Versuch der Überwindung der Entfremdung des Menschen im Schlaf.

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Die hier vorgestellten Träume meiner Patienten versuchen wir in diesem Spannungsfeld zu verstehen.

Zehn Beispiele von Träumen Ein Patient erklärt dem Therapeuten die kausalen Bedingungen seines Lebensstils im Traum Diesen Traum träumte ein 28-jähriger Kaufmann, der an einer Angstneurose litt. 1. »Ich sehe meine Schwester auf der Straße in einem schwarzen Schlüpfer. Ich war in Begleitung einer Person, die mich auf der Straße verfolgte. Es passierte ein Mord. Ein Mann wurde mit drei Messerstichen getötet. 2. Ich befand mich in einer Familie, sie war kinderreich. Ich fühlte mich nicht wohl und wurde ein Gefühl innerer Spannung nicht los. Die Frau monierte, dass mein Taschentuch schmutzig war. 3. Die Familie bestand aus drei Mädchen, die sollten nach Mailand fahren, worüber ich traurig war. Es waren da mehrere Jungen im Alter von acht bis zehn Jahren, die ich nicht mochte. 4. Ich traf die Mutter dieser Familie in einem Lokal, in dem sie Kellnerin war. Ich gab ihr 5 DM, womit diese liederliche Person nicht zufrieden war. Sie warf die 5 DM auf den Fußboden. Ich hob sie auf und gab ihr 1 DM, weil ich der Meinung war, dass dieser Betrag mehr als genug sei. 5. Ich musste fliehen, weil zwei Kellner mich verfolgten. Ich versteckte mich in einem der oberen Räume. Ich floh über das Dach. Einer der Kellner wurde von mir zusammengeschlagen. 6. Die Familie saß am Tisch. Ein Festmahl wurde ausgebreitet. Vater und Mutter saßen mit am Tisch. Vater forderte mich auf, ich solle mittrinken. Ich lehnte ab, weil ich – wie ich sagte – am Morgen arbeiten müsse.«

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Wir erkennen an diesem Traum sechs voneinander deutlich abgesetzte Bilder, die doch alle in einem deutlichen Zusammenhang miteinander stehen. Ich muss gestehen, dass ich erst durch die Fülle der Bilder erschreckt war. Mir fielen Adlers Gedanken über den langen Traum ein: »Träume, die sehr lang oder sehr kompliziert sind, werden von Patienten geträumt, die in ihrem Leben übertriebene Sicherheit mittels überlistender Umwege suchen, oder von Patienten, die für ihre Probleme verschiedene Lösungen ins Auge fassen. Solche Träume deuten im allgemeinen eine Verzögerung an und weisen darauf hin, dass der Patient den Wunsch hegt, sogar seine eigene, selbstbetrügerische Lösung – falls sie nicht erfolgversprechend erscheint – zurückzustellen« (1936, S. 12). Auch auf unseren Träumenden treffen Adlers Gedanken wohl zu. Es stimmt, dass er für sein Leben übertriebene Sicherheit mittels überlistender Umwege suchte. Es stimmt wohl auch, dass er, durch das Einbringen sehr langer und komplizierter Träume, in manchen Phasen der Therapie eine Art Widerstand leistete. Jedoch ist dies nur ein Teil der Wahrheit. Dieser Traum erwies sich bei näherem Hinsehen als sinnvoll und für das therapeutische Gespräch konstruktiv. Vor Beginn der eigentlichen Traumarbeit ist es notwendig, einige Informationen über den Träumer selbst zusammenzutragen. Er brachte diesen Traum in die zehnte Therapiestunde ein. Der Traum selbst war angeregt durch die vorangegangene Zusammenarbeit. In den vorherigen Stunden hatte er mir von seinen Ängsten erzählt, die ihn schon seit seiner Jugendzeit verfolgten, die aber in den letzten Jahren ein Ausmaß angenommen hätten, dass sie ihm praktisch jeden ernsthaften Kontakt mit anderen Menschen unmöglich machten. Er hatte mehrfach Stellungen verloren, weil ihn die Ängste in seiner Leistungsfähigkeit vollkommen blockierten. Seit vielen Monaten war er arbeitsunfähig. Anderen Menschen gegenüber, aber besonders solchen, die in irgendeiner Weise als höher gestellt erlebt wurden und die Macht über ihn hätten haben können, war er misstrauisch. Er begründete dieses Misstrauen damit, dass die anderen einen 109

Makel an ihm entdecken könnten, den er vor allem darin sah, dass er als 17-Jähriger für kurze Zeit wegen einer paranoiden Symptomatik mit Verfolgungsängsten in einer Nervenklinik untergebracht war. Er hatte die Theorie, dass die anderen, hätten sie seine Schwäche erst einmal erkannt, diese ganz gewiss als Waffe gegen ihn missbrauchen würden. Als Abwehr dagegen hatte er eine Fülle von Zwängen entwickelt, die ihn schließlich ganz in seinem häuslichen Bereich festhielten. Nur dort fand er Halt, bei seiner Frau, die er vor sechs Jahren geheiratet hatte, sowie bei seinen zwei Töchtern, an denen er mit großer Zuneigung hing. Er entstammt einer kleinbürgerlichen Familie und hatte seine soziale Herkunft immer schon als starke Benachteiligung erfahren, die ihn auch daran gehindert hatte, mehr als einen Hauptschulabschluss zu erreichen. Seine Mutter sei ängstlich und kontrollierend gewesen, sie habe die Kinder übermäßig beschützt. Es sei ihr immer wichtig gewesen, was die Nachbarn gesagt hätten, sie habe viel genörgelt und geschimpft oder gar geschrieen. Der Vater dagegen sei mächtig gewesen, schrecklich im Jähzorn. Er war das zweite von fünf Kindern. Seine zwei Jahre ältere Schwester habe er nie gemocht, er erlebte sie als hochnäsig und falsch. Ihn, den jüngeren Bruder, habe sie nie gut behandelt. Er war der erstgeborene Sohn und hatte als solcher in der Familie über mehrere Jahre durchaus eine Vorzugsstellung. Diese jedoch wurde im streitig gemacht, als vier Jahre nach ihm ein Bruder geboren wurde. Dieser zog viel Aufmerksamkeit auf sich, weil er kränklich war. Es stellte sich später heraus, dass er geistig etwas behindert war. Ihm wurde viel nachgesehen, was man dem Patienten nicht durchgehen ließ. Die beiden jüngeren Schwestern, fünf und acht Jahre jünger als mein Patient, waren weniger wichtig für seine Entwicklung. Sie verstärkten in ihm nur das Gefühl, in einer drangvollen, ihn benachteiligenden Enge groß zu werden. Versuchen wir nun die Welt mit den Augen des Kindes zu sehen, das in dieser Umwelt heranwuchs. Wir sehen eine Folge von Kränkungen. Die ältere Schwester zeigte ihm ihre Überlegenheit. Um die Vergünstigungen, der erstgeborene Sohn zu sein, wurde 110

er – nach seiner Sicht – betrogen durch die Geburt des vier Jahre jüngeren, leicht behinderten Bruders. Dies war vielleicht die größte Kränkung. Seine Mutter wertet er deutlich ab. Sie war ungerecht, denn der leistungsunfähigere Bruder wurde ihm vorgezogen, er bekam die Verwöhnung, die der Patient vorher bekommen hatte. Mutter war ängstlich, das war eine zusätzliche Entmutigung. Später nahm er die soziale Minderwertigkeit der Familie wahr. Der Vater wird herausgehoben, er war mächtig und jähzornig. Er formte sich vielleicht daraus sein Vorbild. Aber in seinem Jähzorn entmutigte ihn der Vater. Die Meinung, die er sich über sich selbst bildete, blieb schwankend. Er traute sich wenig zu. Dass ihm durch die anderen Unrecht geschah, schien ihm sicher. Der Ausgangspunkt seiner Finalität war ein negatives Weltbild. Wir halten – gewissermaßen als Nebenergebnis unserer Traumarbeit – fest: ■ Individualpsychologie ist eine Beziehungspsychologie. Gegenstand ihrer Untersuchungen ist das ganze soziale Umfeld der frühen Kindheit. Dieses wird in unserer Kultur vor allem durch die Familie – Mutter, Vater, Geschwisterkonstellation – gebildet. Wie gefährlich negativ das Bild der anderen und der Welt war, das er sich in diesem sozialen Umfeld entwarf, illustrieren seine drei frühesten Kindheitserinnerungen: 1. »Vater warf mit einem langen Fleischermesser nach der Mutter. Ich sehe das Messer durch die Luft sausen. Es steckt in der Tür, die Mutter steht dicht daneben, starr.« (»Ich war fünf Jahre alt. Mein Gefühl ist noch heute Betroffenheit, ein großer Schreck, Angst.«) 2. »Ein Auto ist gegen das Haus gefahren – es war das Haus des Großvaters. Ein junger Mann liegt auf der Straße und brüllt. Beide Beine sind ihm überfahren.« (»Ich bin zwischen fünf oder acht Jahre alt, mein Gefühl ist Angst.«) 3. »Meine Großtante liegt aufgebahrt im Haus meiner Tante. Sie liegt auf einem Bett in einem kalten Flur. Es stinkt irgendwie, 111

der Geruch ist penetrant. Ich gehe daran vorbei.« (»Ich bin fünf Jahre alt, ich habe ein Gefühl von Unheimlichkeit.«) Was fällt uns an diesen Erinnerungen auf, wenn wir sie nicht als objektive Abbilder einer Wirklichkeit werten, sondern als subjektive Gleichnisse für seine Sicht der Welt? Er selbst kommt in allen drei Erinnerungen in einer passiven, eher zuschauenden Weise vor. Der höchste Grad der Aktivität ist: »Ich gehe an ihr vorbei.« Das entspricht durchaus seiner Situation zum Zeitpunkt der Aufnahme unserer Gespräche. Er hatte sich hinter seiner Angst versteckt und sich zum passiven Zuschauer des Lebens gemacht. Die anderen, das sind der Vater, mächtig und bedrohlich, und die Mutter, sie ist starr; keine Erinnerung an Zärtlichkeit. Die einzige von ihm ausgehende Aktivität finden wir in der dritten Erinnerung. »Ich gehe daran vorbei.« Das bleibt eigentlich seine Lebensattitüde. Er wird später die Angst final einsetzen, um der »stinkenden« Realität des Lebens zu entgehen. Familienkonstellation und Kindheitserinnerungen geben interessante Hinweise zum Traum, die allerdings nur zu Hypothesen führen. So bedeuten vielleicht die fünf Mark im Traum die fünf Kinder der Mutter, die eine Mark, sein Wunsch, nur der einzige Sohn zu sein. Der Wurf mit dem Fleischmesser in der Kindheitserinnerung nach der Mutter könnte auch eine dichterische Einkleidung sein für einen ödipalen Konflikt mit dem Vater. Dass Kindheitserinnerungen Dichtungen der Phantasie sein können, darauf hat Adler am Beispiel einer eigenen Kindheitserinnerung aufmerksam gemacht. Wir haben nun vielleicht genug Informationen über den Träumer, um den Traum besser verstehen zu können. Wir achten zunächst auf die Dynamik des Traums. Bei den ersten Traumbildern entspricht der Aktivitätsgrad etwa dem der Kindheitserinnerungen. Der Träumende ist zwar im Traum drin, aber eher ein Voyeur, auch bei der Mordszene noch ein Beobachtender. Im zweiten und dritten Bild ist er immer noch mehr Opfer als Akteur. Erst in der vierten, fünften und sechsten Szene wird er ein 112

Handelnder. In den letzten Traumbildern lässt er deutlich mehr aggressive Aktivität zu. Wir leiten daraus die Vermutung ab, dass die bisher geführten Therapiegespräche etwas in ihm in Bewegung gesetzt haben. Fragen wir nun nach den Einfällen und ordnen wir sie den Bildern zu. Bild 1: Bei der Schwester fällt ihm das Wort »Fetischismus« ein, er äußert Schuldgefühle. Erst in einem viel späteren Stadium der Analyse griff er im Traum dieses Thema noch einmal auf, indem er ganz unverhüllt von einem sexuellen Kontakt mit der Schwester träumte. Damals fiel ihm als Assoziation dazu die Antwort einer Verwandten auf die kindliche Frage der kleinen Schwester ein, warum sie den Papi nicht heiraten könne: »Das wäre ja Blutschande.« »Es schien mir ein großes und dunkles Wort.« Findet also in unserem Traum doch Traumzensur und Verdrängung statt? Ich glaube, dass wir den Traum besser verstehen, wenn wir davon ausgehen, dass er zu diesem Zeitpunkt der Analyse noch nicht ins Traumbild zulassen kann, was ihn in Konflikt mit dem Common sense bringt. Die Analyse erwies, dass die erotische Begegnung mit der Schwester in seiner Phantasie keineswegs nur sexuell belegt war. Es ging vielmehr um das Problem der männlichen Dominanz. Ihm fiel dazu der Satz ein: »Ich habe mir die Schwester, die mich unterdrückte, gefügig gemacht.« In dem sexuellen Traumbild steckt also eine Entwertung der Schwester. Bei der begleitenden Person fällt ihm der Verfolgungswahn ein, der in seinem 17. Lebensjahr zu vorübergehenden Einweisung in eine psychiatrische Klinik führte. Zu dem Mord äußert er spontan, das war Jesus Christus, und er lässt keinen Zweifel, dass dieses Bild seiner eigenen Größenphantasie entsprang. Bild 2: »Die große Familie, das war meine eigene Situation zu Hause«. Zu dem schmutzigen Taschentuch fällt ihm das durch Bettnässen beschmutzte Bettlaken ein, das seine Mutter ihm vorhielt. 113

Bild 3: Die drei Mädchen, das sind seine Schwestern. »Mailand«, sagte der Patient, »dort ist die Mailänder Skala. Mädchen haben es leichter, auf der Bühne des Lebens zu bestehen, von ihnen wird nichts Besonders verlangt.« Die Jungen, »das ist mein Bruder«. Bild 4: »Die Mutter bedient, sie fordert Dank. Sie hat mir nicht genug gegeben.« Bild 5: »Die beiden Kellner, das sind Vater und Bruder.« »Ich fliehe nach oben.« Er versucht sich über sie zu stellen. »Meinen Bruder kann ich besiegen.« Bild 6: »Das Problem der Konkurrenz mit dem Vater habe ich noch nicht gelöst. Ich kann mich mit ihm nicht an einen Tisch setzen. Ich muss eine Ausrede finden.« In diesem Traum verteidigt der Patient sein Weltbild gegen den »Angriff« der Therapie. Er knüpft an ein Erlebnis als 17-Jähriger an. Die Schwester war das erste Opfer seiner sexuellen Neugier. Selbst – wie er meint – Opfer einer repressiven Sexualerziehung, konnte er das nicht verarbeiten. Er rettete sich in Schuldgefühle, sah das Bild, das er sich von sich selbst machte, beschmutzt. In der realen Welt war dieses Bild gefährdet, die anderen in dieser Welt waren Konkurrenten und Verfolger. Indem er verschiedene Stationen seines Lebens in Traumbilder kleidet, begründet er sein Weltbild. Die Familie war eng. Von der Mutter bekam er – seinem Empfinden nach – nicht genug Zärtlichkeit. Das Signal seines Bettnässens verstand sie nicht. Sie fordert viel zu viel Dank und hat ihn nicht verdient. Mädchen haben es leicht, den Bruder kann ich besiegen, aber an die Auseinandersetzung mit dem Vater traue ich mich nicht heran. Ich kann mich mit ihm nicht an einen Tisch setzen zum gemeinsa114

men Mahl. Ich muss einen Vorwand erfinden, um weiter davon träumen zu können, dass ich stärker bin als er. Dieser Traum enthielt, das bestätigte der Patient, eine Botschaft an den Therapeuten. Er erklärte mir die Bedingungen seines Lebensplans und weihte mich in seine Omnipotenzphantasien ein.

Der Patient erklärt dem Therapeuten in einem Traum, dass er die Mutter nicht aus der Verantwortung entlassen will Bleiben wir noch bei diesem Patienten. Wir wollen ein paar Phasen der Therapie in drei weiteren Traumbeispielen zu verstehen versuchen. Die Kränkung, die für ihn darin bestand, dass die Mutter in seiner Kindheit für die Schwächen des Bruders – aus seiner Sicht – mehr Verständnis aufgebracht hatte als für ihn und dass sie seine Signale des Wunsches nach Zuwendung nicht verstanden hatte, beschäftigte ihn noch lange. Er träumte: »Mein Auto fuhr im Zimmer herum. Es war ein Feuerwehrauto, ein Spielzeug, das die Richtung wechselt, wenn es gegen ein Hindernis fährt. Das Auto bespritzte die Wände mit Wasser. Meine Mutter kratzte mit dem Fingernagel eine schmale Furche in die Wand. Sie stritt ab, das getan zu haben.« (»Ich wachte auf und hatte ein Gefühl von Angst.«) Bei der Besprechung des Traums fiel dem Patienten ein, dass er als fünfjähriger Junge solch ein Spielzeug besessen habe. Das war die Zeit kurz nach der Geburt des Bruders, in der ihn Auseinandersetzungen mit der Mutter um das Bettnässen belasteten. In dem Bild des Autos, das mit Wasser die Wände bespritzt, erkannten wir das Bettnässen wieder. Auch in der Eigenschaft des Spielzeugautos, die Richtung zu wechseln, wenn ein Hindernis auftritt, konnte der Patient eine eigene Lebensattitüde erkennen. Zum Auftreten der Mutter in diesem Traum äußerte er: »Sie stritt ja immer alles ab. Sie sagte, dass sie sich für die Familie opfere. Als sie die Furche mit dem Fingernagel machte, gab es ein kreischendes Geräusch. Kreissäge fällt mir ein, ein Brett, das durchgesägt 115

wird. Irgendwie schwirrt mir das Wort ›Sarg‹ durch den Kopf. Mutter pflegte bei allen Gelegenheiten zu sagen: ›Du bist der Nagel zu meinem Sarg.‹« Ich erinnere mich deutlich, wie sehr es mich beeindruckte, als ich vor vielen Jahren in einer Vorlesung über Kinderheilkunde den Satz hörte: »Wenn ein Kind bettnässt, dann weint es durch die Blase.« Diese finale Zielsetzung des Symptoms Bettnässen leuchtete mir damals unmittelbar ein. Erst später begriff ich das ganze Ausmaß von Verzweiflung eines Kindes, die daran liegt, dass es sich immer wieder mit einem – es selbst beschämenden – Symptomappell an die Mutter wendet und dabei in Kauf nimmt, dass es als Aufmerksamkeit so oft nur Schläge und Schelte erntet. Auch das kennzeichnet die neurotische Beziehung zwischen Menschen, der zerbrochene Dialog. Mit diesem Traum teilte der Patient mit, wie sehr es ihn heute noch kränkt, dass er seine Mutter damals – als er glaubte, sie an den Bruder verloren zu haben – nicht zwingen konnte, eine zärtlich-verwöhnende Haltung ihm gegenüber einzunehmen. Am Ende der Stunde äußerte er beinahe verzweifelt: »Ich will die Mutter aus der Verantwortung für mich nicht entlassen. Sie soll schuld sein.« Später erarbeiteten wir gemeinsam den ergänzenden Satz »Ich will ein Träumer bleiben, einer, der sich vorstellt, dass er alles machen kann«, als finalen Sinn dieser Verweigerung.

Ein Traum vom Therapeuten – der Patient leistet Widerstand Im Verlauf der Analyse fühlte sich der Patient aktiviert, sich stärker der realen Welt zuzuwenden. Das brachte natürlich Probleme mit sich. In der Konfrontation mit anderen Menschen musste er auch seinen Anspruch, etwas Besonders zu sein, auf die Probe stellen. In Anspielung auf den ersten Traum machte er häufiger Bemerkungen wie diese: »In der Familie fühlte ich mich immer blamiert. Deswegen musste ich unfehlbar sein.« – »Ich muss so 116

sein, wie Jesus von Nazareth.« – »Wenn ich ein Besonderer sein will, muss ich vollkommen sein.« Es fiel ihm schwer zu realisieren, dass jeder Mensch seine individuelle Besonderheit in der Gemeinschaft der anderen entwickeln will, kann und soll, dass er aber sich selbst verfehlt, wenn er die Gemeinschaft der anderen außer Acht lässt, wenn er ein Besonderer auf Kosten der anderen sein will. In der konkreten Begegnung mit anderen Menschen erschienen diese ihm häufig wieder als Konkurrenten. Die Tendenz, zwischen sich und die Realität seine Angst zu stellen, wuchs. Er reagierte mit Angstsymptomen, die sich bis zum Gefühl des Verfolgtwerdens steigerten. Sein Widerstand äußerte sich als Symptomverstärkung. In dieser Zeit fühlte er sich gelegentlich verraten von seinem Therapeuten. Er übertrug auf ihn Erwartungen wie auf seine Mutter oder wie auf andere Personen, die Einfluss auf ihn hatten. Er war bereit, am Therapeuten die gleichen Enttäuschungen zu erleben, die er an der Mutter erlebt hatte. Es war eine schwierige Phase, in welcher er begreifen musste, dass der Therapeut aus Verantwortung für ihn sich auf diese Erwartungen nicht einlassen durfte. Er träumte: »Ich sah den Bundeskanzler Schmidt. Er stand an einer Frittenbude und rauchte eine Zigarette. Ich fragte einen Freund: ›War das der Schmidt?‹ Dieser sagte: ›Nein, der sah nur so aus.‹ Ich ging noch einmal zurück und fand in ihn nicht wieder.« (»Der Traum hinterließ in mir ein ängstliches Gefühl.«) Wir brauchen hier nicht die Assoziationen des Träumers zu bemühen, um zu verstehen, dass der Bundeskanzler Schmidt der Therapeut war. Indem er ihm das Attribut »Bundeskanzler« zuordnet, überhöht er ihn, stellt ihn auf einen Sockel. Indem er ihn an einer Frittenbude eine Zigarette rauchen lässt, bringt er ihn in eine profane Wirklichkeit zurück. Es liegt sicher ein Stück Entwertung des Therapeuten darin, dass er ihm im Traum eine Schwäche zuordnet, die dieser tatsächlich hat, das Rauchen. Der Träumer ist unsicher. So wie er anderen Menschen noch nicht auf einer Ebene der Gleichwertigkeit begegnen kann, kann er dies auch dem Therapeuten gegenüber nicht. Er hat nur zwei 117

Beziehungsmöglichkeiten zu anderen Menschen eingeübt, die man so formulieren könnte: 1. Sie haben Einfluss auf mich, also sollen sie mich leiten und die Verantwortung für mich übernehmen. 2. Sie sind stark, missbrauchen ihren Einfluss oder lassen mich im Stich, ich muss mich gegen sie absichern, ich muss sie entwerten. Er schwankt also zwischen Unterwerfung und Überbietung. Die dritte Möglichkeit – ich kann mich den anderen gegenüber als gleichwertig erleben, ich kann mit ihnen zusammenarbeiten, ich kann mich auseinander setzen und mich verständigen – ist ihm nicht vertraut. Er leistet also Widerstand gegen die Veränderung seines Lebensstils. Auf die Bedeutung des Widerstands in der Therapie hat Adler sehr eindringlich hingewiesen in »Praxis und Theorie der Individualpsychologie«: »Da sich der Arzt dem neurotischen Streben des Patienten in den Weg stellt, so wird er wie eine Wegsperre oder ein Zaun empfunden, der die Erreichung des Größenideals auf neurotischem Weg zu verhindern scheint. Deshalb wird jeder Patient versuchen, den Arzt zu entwerten, ihn seines Einflusses zu berauben, ihm den wahren Sachverhalt zu verschleiern, und er wird immer neue Wendungen finden, die gegen den Psychotherapeuten gerichtet sind« (Adler 1930/1974, S. 84). ■ Der Widerstand richtet sich nach individualpsychologischer Meinung nicht gegen den Therapeuten, sondern gegen das Aufgeben des fiktiven Ziels der Überlegenheit. Darin liegt die Kunst des Therapeuten: in der Ermutigung, diesem Widerstand zum Trotz einen Dialog zu beginnen.

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Ein Traum, in welchem der Träumende versucht, seine persönlichen Ideale den realen Möglichkeiten anzugleichen Als unser Patient sich seinen realen Problemen zu stellen begann, musste er die schmerzliche Erfahrung verarbeiten, dass ihm bei seiner Suche nach Arbeit häufig seine lange Arbeitslosigkeit und seine früheren Krankheiten negativ zu Buche schlugen. Er musste bald erkennen, dass es schwer für ihn sein würde, in seinem alten Beruf wieder Fuß zu fassen. Diese – für ihn häufig kränkende – Situation provozierte den folgenden Traum: 1. »Ich war in meiner alten Firma. Ich stellte fest, dass die alten Abteilungen nicht mehr dort waren, wo sie einst gewesen waren. 2. Ich ging in die Diele in eine Ecke an ein Fenster und blieb dort stehen. Meine fünfjährige Tochter war auch dabei. Plötzlich kamen zwei Herren. Einen davon kannte ich. Er empfing Vertreterbesuch. 3. Ein Buch, das ich mit hatte, fiel hin und ich hob es auf. Einer der Herren sah mich an und sprach etwas Belangloses in Bezug auf meine Tochter. 4. Als ich hinuntergehen wollte zum Ausgang, traf ich T., der einen weißen Kittel trug. Er lächelte. Er war der Sohn des Rektors, mit dem ich früher Unterricht hatte. 5. Ich ging die Treppe hinunter und schaute in die Registratur hinein. Es war niemand da. Alles war leer. Es schien vieles verändert, das Personal auf ein neu gegründetes Zweigwerk verteilt zu sein. 6. Plötzlich lief meine Tochter nach draußen am Pförtner vorbei. Ich rief: ›Stop.‹ Leute, die draußen standen, wollten sie festhalten. Meine Tochter lief nicht auf die Straße, sondern blieb auf dem Bürgersteig. 7. Anstelle meiner Tochter läuft jetzt ein Spatz oder Sperling, dann ist es ein aufgescheuchtes Huhn, das ich fangen will. Es flattert an einer Frau vorbei, diese verliert zwei Fische, die sie in der Tasche hatte, die lagen nun auf dem Boden. 119

8. Dann stand ich vor einem Fischgeschäft. Ich sah einen ziemlich großen Fisch, der bereits gebraten war. Er sah sehr schmackhaft aus und hatte etwa die Größe eines Hais. 9. Ich war in einem Geschäft und verlangte einen Blumenkohl. Der Händler zeigte mir einen. Er war zwar angeschnitten, aber erheblich größer, als dies ein Blumenkohl sonst zu sein pflegt. Dann wollte ich noch eine halbe Sellerieknolle.« Die Stimmung dieses Traums war anfangs gedrückt, ängstlich. Die Angst steigert sich im Verlauf des Traums und wich erst am Ende einem befreiten, eher ausgeglichenen Gefühl. Zu den einzelnen Traumabschnitten äußerte der Träumende folgende Einfälle: 1. »Es war eine ungemütliche Atmosphäre. Es war die Firma, in der ich meine Lehre machte. Damals begannen meine Schwierigkeiten, ich drehte durch und kam dann in die Klinik.« 2. »Meine kleine Tochter kann mir auch sonst die Angst nehmen. Ich hatte sie wohl zum Schutz dabei. Der eine der Herren war ein früherer Vorgesetzter von mir. Zwei Herren bedeutet wohl zwei Seelen, zwei Gesichter. Ich weiß, dass er einen guten Mitarbeiter in mir sah, und ich glaubte, was er mir versprochen hatte. Dann hat er mir doch gekündigt.« 3. »Jetzt fällt mir ein, dass es das Buch von Melanie Klein »Psychoanalyse des Kindes« war. Es machte mir Angst, dass man beim Kleinkind die Entwicklung noch rückgängig machen kann, beim Erwachsenen aber nicht.« 4. »Der T., das bin wohl ich oder ich, wie ich sein wollte. Ich wäre wohl lieber aus einem anderen Haus gekommen, mit besseren Startchancen.« 5. »In der Registratur habe ich gearbeitet. Ich komme wohl nicht mehr da rein, vielleicht will ich es auch gar nicht.« 6. »Meine Tochter, das könnte ich sein. In Wirklichkeit läuft ja nicht meine Tochter fort, sondern ich. Den Bürgersteig (hier als Symbol der bürgerlichen Ordnung) habe ich ja eigentlich nie verlassen.« 7. Diesem Traumteil scheint der Träumende eine besondere Be120

deutung zu geben. Ich habe die Erzählung des Traums wörtlich mitgeschrieben und schon beim Mitschreiben registriert, dass er diesen Teil – im Gegensatz zu den anderen – grammatisch in die Gegenwartsform setzte. In diesem Abschnitt steigert sich auch das Gefühl diffusen Unbehagens zur Angst. Er äußert folgende Einfälle: »Das aufgescheuchte Huhn, das bin wohl ich. So habe ich ja immer reagiert. Ich geriet dann plötzlich in Panik. Die Frau ist meine Mutter, das ist klar. Ihr passte es wohl nicht, dass ich sie anstieß und dass jetzt diese Fische am Boden liegen. Merkwürdig, bei den Fischen fallen mir Monatsbinden ein. Ich mochte das nicht, wenn mal so eine von den Schwestern herumlag. Geschwister sind miteinander verbunden und doch getrennt.« 8. »Es war ein Hai. Das ist seltsam, ein Haifisch ist eigentlich gefährlich – das möchte ich manchmal sein. Aber er ist auch schmackhaft. Es sind übrigens schon Fleischstücke raus. Ich möchte es essen, aber es ist schon irgendetwas kaputt.« Zu diesem Traumteil fiel ihm eine Tagesassoziation ein. Er hatte einen Film gesehen. Fischer hatten einen Schwertfisch an ihrem Boot festgebunden. Die Haie kamen und bissen sich fest. 9. »Blumenkohl schmeckt gut. Ich esse ihn ausgesprochen gern. Im Traum ist er zwar auch beschädigt. Er entspricht nicht meinem Ideal. Aber ich kaufe ihn schließlich doch und habe gar kein so schlechtes Gefühl dabei. Die halbe Sellerieknolle bedeutet, dass ich nicht immer das Ganze haben muss.« Wie verstehen wir nun den Traum? Die unmittelbare Bedrohung sind die täglichen Erfahrungen bei den Vorstellungsgesprächen bei Personalchefs, an die ihn das Arbeitsamt empfohlen hat. Der Träumende sagt: »Sie sind meine Feinde, sie wenden das, was schwach an mir ist, gegen mich.« Er sagt auch: »Ich bin beschädigt, ich bin vielleicht gar nicht mehr heilbar. Ich hätte bessere Startchancen haben müssen, so wie jener T. Ich bin längst ausgeschlossen. Davor möchte ich fliehen. Ich klage die Mutter an. Unter den vielen Geschwistern – 121

wir waren verbunden und doch getrennt – fand ich bei ihr keine Geborgenheit. Ich möchte der große Hai sein und den großen Brocken Fleisch essen, aber alles ist schon beschädigt.« Am Ende des Traums setzt sich ein anderer Gedanke durch. »Ich kann versuchen, das anzunehmen, was mir das Leben gibt. Es ist vielleicht gut, aber es ist beschädigt. Ich will versuchen, mich zu beschränken in meinen Erwartungen. Der Teil vom Ganzen ist vielleicht doch genug.« Genau gesehen endet der Traum in diesem »Ja, aber«. »Ich will es versuchen, den mir zukommenden Teil als genügend anzusehen, aber die alten Kränkungen sind noch nicht überwunden und die alten Wünsche sind noch wach.« Der Traum deutet eine Wendung an, der begonnene Weg ist noch lang und krisenreich.

Ein anderer Traum, der »ja, aber« sagt – Bemerkungen über Organminderwertigkeit und das Aufwachen aus dem Traum Diesen Traum brachte ein anderer, etwa 30-jähriger Patient, der wegen eines aktuellen Partnerschaftsproblems bei mir therapeutische Gespräche gesucht hatte, ein. »Ich war bei einer Frau, die ich seit einiger Zeit kenne. Tagsüber. Es waren ganz viele Leute da. – Es waren drei Gruppen von Menschen: ihre Bekannten, mit denen ich nichts zu tun habe, gemeinsame Freunde und meine Leute. Sie hatten Gesichter, aber ich kann mich nicht an sie erinnern. Es war viel Trubel. Alle gingen raus, ich mit. Ich hatte etwas vergessen und ging zurück. Ich war allein. Es kam ein ganzer Trupp Militär rein, blau, faschistisch, pompös. Der Kommandeur war ein SS-Soldat mit potenziellem Totenkopf. Jemand sagte: ›Sie werden einen fairen Kampf haben.‹ Mir wurden die Augen ausgeschossen. Dann bekam ich eine Pistole.« (»Ich wachte auf mit einem ängstlichen Gefühl.«) Wir verstehen, dass sich der Patient in diesem Traum offenbar mit seinen Beziehungen zu anderen Menschen auseinander 122

setzt. Um ihn besser zu verstehen, wollen wir auch bei ihm einen Blick in seine Biographie werfen. Er war als jüngerer von zwei Brüdern in einer gutbürgerlichen Familie aufgewachsen. Reich begabt, hatte er sich doch immer wieder gekränkt gefühlt durch die Wahrnehmung, dass sein Bruder bei den Eltern – vor allem beim Vater – mehr Geltung hatte als er. Dieser Bruder war in seinen Augen ein Macher, ein Blender, ein oft gedankenloser Tatmensch. Er selbst war der Grübler, kritisch sich und anderen gegenüber, im Handeln oft ein Zauderer. Dank seiner intellektuellen Fähigkeiten hatte er mehrere Studiengänge mit guten Abschlusszensuren hinter sich gebracht. Aber kein Erfolg hatte ihn mutig genug gemacht, sich nun auf Dauer an eine Aufgabe zu binden. Unruhig und ziellos erlebte er in sich den Zwang, immer wieder neue Anfänge zu suchen. Ähnlich war es ihm in seiner Beziehung zu Frauen ergangen. Immer war er bereit, himmelhoch jauchzend alles auf die Karte dieser einen neuen Liebe zu setzen, um doch zugleich wieder im Aufbruch zu sein, bereit, die kleinsten Anzeichen von Entfremdung und Kränkung wahrzunehmen, die Brücken abzubrechen und neu auf die Suche zu gehen. Im Verlauf unserer Gespräche war er sicherer geworden im Umgang mit sich selbst und anderen. Im Beruf schien er seinen Weg gefunden zu haben, bereit, diesen fortan kämpferisch und zielstrebig weiter zu verfolgen. Er hatte viele neue Freundschaften geschlossen und hatte auch mit neuem Mut eine Beziehung zu einer Frau begonnen. Er schien nun bereit, Bindungen einzugehen. In dieser Phase träumte er. Der Traum hatte in einer guten Stimmung begonnen. Sie entsprach etwa seinem jetzigen Lebensgefühl, über das er einmal äußerte: »Ich tue viele Dinge und knüpfe viele Kontakte und bin erstaunt darüber, mit welcher Leichtigkeit das alles geschieht.« Im Verlauf des Traums machte sich eine Unruhe breit, eine gedämpfte Angst, am Ende verwirrtes, ängstliches Erstaunen. Auch der Anfang des Traums selbst spiegelt ziemlich realistisch seine augenblickliche Lebenssituation. Es ist eine heitere Stimmung unter vielen Menschen. Aber es ist sehr bald ein Mo123

ment der Beunruhigung da. Die drei Gruppen wollen sich nicht recht mischen, es entsteht keine harmonische Gemeinschaft. Das war in der Tat ein Problem, das er – mehr unterschwellig beunruhigt – manchmal in die Therapiestunde einbrachte, dass seine Welt und die seiner Freundin getrennt blieben. Er geht mit den anderen hinaus, aber dann trennt er sich von ihnen und geht wieder zurück; er hat etwas vergessen. Dieser Traumteil ist in Wirklichkeit der Unruhigste. Er sagt, die Beziehung – unter anderem die zu der Frau – stimmte nicht. »Ich war verbunden und doch getrennt.« Nun setzt sich die andere, die gefährliche Welt durch. Hierzu hatte er reichlich Einfälle. Er dachte an seine letzte USA-Reise und seine Angst vor Polizeigewalt und Gewalt überhaupt. Er hatte kürzlich ein Buch von Lettau gelesen: »Der tägliche Faschismus«. Dazu assoziierte er Brutalitätsbilder aus Chile. Zur letzten Traumszene assoziierte er einen Westernwitz. Jemand sagt, ehe die große Ballerei beginnt: »Man muss immer zuerst die Lichter ausschießen« – »Augen«, sagte er, »das sind bei mir die minderwertigen Organe.« Er kennt sich in Adlers Terminologie aus. In dessen 1908 vorgelegten »Studie über Minderwertigkeit von Organen« führt dieser den berühmt gewordenen Begriff »Minderwertigkeit« erstmals ein: »Es ist das missratene aber verhätschelte Organ, das infolge bewusster und unbewusster Aufmerksamkeit stets die Psyche in Erregung hält« (1908a/ 1960, S. 2). Der Träumende macht in diesem Traum sein minderwertiges Organ zum Symbol seiner Hilflosigkeit. Was sagt der Träumende mit diesem Traum? Etwa dies: »Ja, gewiss, ich bin sicherer geworden, ich habe viele Freunde und mir gelingt manches, aber ich bin doch nicht so sicher, ob ich die Erwartungen an mich erfüllen kann. Ich habe vielleicht schlechtere Chancen als andere, ich bin minderwertig.« Im Traum führt er die Minderwertigkeit als Organminderwertigkeit ein. – Das ist ein anschauliches Beispiel dafür, wie sehr sich auch ein Träumer den Theorien des Therapeuten anpassen kann. Dieser Träumer hat sich auch theoretisch intensiv mit Adler auseinander gesetzt. Aber die Organminderwertigkeit ist natürlich nur Zitat. 124

Gemeint ist immer noch jenes quälende Gefühl von Minderwertigkeit, das er empfand, wenn er mit dem älteren Bruder konkurrierend – scheinbar vergeblich – um die Achtung durch den Vater warb. »Sie werden wegen Mordes gesucht«, in dieses Zitat kleidet er im Traum die Erinnerung an die frühere Ablehnung des Bruders. »Sie werden einen fairen Kampf haben«, das ist Ironie, denn in Wirklichkeit erlebte er an seinem Bruder immer wieder seine Unterlegenheit und kam keineswegs zu der Meinung, dass er ihm gegenüber eine faire Chance hätte. Der Patient und ich verstanden diesen Traum als einen Widerstreit zwischen neu gewonnenem Mut und altem Lebensstil. Ich formulierte als vierte These über ein individualpsychologisches Traumverständnis: »Der Traum hat vor allem die Funktion, das Selbstwertgefühl nicht sinken zu lassen.« Auf den ersten Blick scheint dieser Traum diese These zu widerlegen. Auf den zweiten Blick sehen wir gerade in diesem Traum den wiederholten – allerdings vergeblichen – Versuch des Träumenden, sein Selbstwertgefühl zu behaupten. Im letzten Traumteil bedient er sich dabei auch des Mittels der Entwertung. Die Vergeblichkeit, eine das Selbstwertgefühl beeinträchtigende Kränkung im Traum abzuwehren, widerlegt die These nicht. Folgt man Freuds Gedanken, dass der Traum eine Wunscherfüllung sei, so wäre der Wunschgedanke dieses Traums, eine harmonische Beziehung – mit der Frau wie mit den Freunden – zu erleben. Die abgewehrte Gefahr heißt Fremdheit. Dieser Traum ist also zunächst der Versuch der Abwehr einer Kränkung, die durch das Gefühl des Fremdwerdens des Gegenübers entsteht. Es ist zuerst die Freundin, dann sind es die anderen, ihre und seine Freunde. Es gelingt dem Träumenden nicht, Verbundenheit an die Stelle der Entfremdung zu setzen. Am Ende ist offene Feindschaft. Da wacht er auf. Das ist der letzte Ausweg des Träumenden. ■ Der Traum hat die Funktion, eine befürchtete Kränkung abzuwehren. Misslingt dieser Versuch der Sicherung des Selbstwertgefühl, so wacht der Träumende auf.

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Ein Traum wird verständlich aus assoziierten Kindheitserinnerungen In meiner fünften These heißt es, dass der Traum nur verständlich wird aus der Korrespondenz mit den frühesten Kindheitserinnerungen und dem gesamten Lebensplan des Träumenden. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel ist der Traum einer 30jährigen Frau, die wegen einer konversionsneurotischen Symptomatik in Behandlung kam. Wie ein roter Faden zog sich eine Bindungsangst durch ihr Leben, anders gesagt, eine Angst vor Verlust, eine Angst, nicht angenommen zu sein, das so sehnlichst gewünschte Erlebnis eines völligen Geborgenseins bei einem anderen Menschen nicht erleben zu dürfen. Diese – vom Bewusstsein meist ausgeblendete Angst – überschattete ihr Leben von Kindheit an. Sie machte sie einerseits übersensibel für die Wahrnehmung solcher Signale, die eine drohende Entfremdung vom geliebten Partner andeuten konnten, und hilflos. Andererseits trieb ihre Angst sie oft dazu, sich solche Partner zu suchen, die geeignet waren, sie in der befürchteten Weise zu kränken. Sie träumte: »Ich lag mit meinem Bruder im Bett. Schauplatz des Traums war die alte Wohnung in G., der Ort, wo ich bei meinen Eltern bis zu meinem sechsten Lebensjahr aufwuchs. Das Bett stand am Ende einer Zimmerflucht. Am äußersten Ende stand meine Mutter. Sie beobachtete uns, kontrollierend. Ich hatte das Gefühl, etwas verbergen zu müssen. Die Stimmung war angenehm, stark erotisiert. Ich wachte auf.« Der im Traum vorkommende Bruder wurde drei Jahre nach der Patientin geboren. Kurz nach der Geburt hatte ihre Mutter sie verlassen, um mit ihrem Mann in einer viele Kilometer entfernten Stadt eine Existenz aufzubauen. Bei ihren Großeltern – vor allem bei der Großmutter, einer sehr warmherzigen und weltaufgeschlossenen Frau – hatte sie Geborgenheit erfahren. Aber durch den Bruder, der dann ebenfalls bei den Großeltern heranwuchs, war ihre Stellung im großelterlichen Haus gefährdet worden. In ihrer Kindheit habe sie den Bruder häufig als ent126

wertend und arrogant empfunden, gleichzeitig habe sie aber mit großer Liebe an ihm gehangen. Er habe später mit seiner Familie völlig gebrochen, auch mit ihr, der Schwester, zu der er über lange Zeit ein vertrauensvolles Verhältnis gehabt habe. Sie habe unter dieser Entfremdung gelitten. Als die Patientin ins Schulalter kam, nahmen sie ihre Eltern zu sich in ihre Familie. Die Trennung von den Großeltern verunsicherte sie. Eine vertrauensvolle Bindung zur Mutter gelang nicht. Der Vater habe eine Macht über sie gehabt, der sie sich bis in ihr Erwachsenenalter nicht habe entziehen können. Sie habe diese Macht oft als Zumutung empfunden. Sicherheit und vertrauensvolle Geborgenheit habe sie bei ihm gesucht, aber nicht gefunden. Die Träumerin erzählte Tagesereignisse, die in den Traum eingegangen waren: Ein entfernter Verwandter, der wohl homosexuell veranlagt sei, habe sie besucht und in ihrer Wohnung übernachtet. Sie erwähnte, dass sie eine Frau sei, mit dem es ihm wohl möglich wäre, eine Beziehung zu haben. »Ich kann ihn auch gut leiden«, sagte sie, »er erinnert mich an meinen Bruder. Mir fällt dabei ein, dass ich damals, als ich mit sechs Jahren zu meinen Eltern nach D. kam, häufig große Sehnsucht nach meinem Bruder hatte.« Weiter berichtet sie: »Meine Mutter verhielt sich im Traum so, wie sie es oft im Leben tat, wenn es um gefühlshafte – auch sexuelle – Dinge ging, schamhaft und ängstlich.« Als weitere Assoziation fällt ihr ein zurückliegender Traum ein: »Ich war in einer wunderschönen, mir sehr vertrauten Stadt. Es war eine Art Platz, sehr harmonisch, umgeben von gemütlichen Häusern. Ich hatte einen kleinen Jungen an der Hand, den ich behütete.« »Dieser Traum erinnert mit durch die Stimmung an den heute Nacht geträumten, er war erotisch, ein schönes Empfinden von sexueller Erregung.« Die Stadt in diesem zweiten Traum erinnerte die Träumerin an Paris; der Traumort war der Platz, an dem das Geburtshaus von Victor Hugo steht. »Dort hatte ich ein schönes Gefühl von Harmonie und Geborgenheit.« Der Patientin kommen Kindheitserinnerungen in den Sinn. »In der Stadt D. gab es einen Platz, der war eine Art Freiraum für 127

Kinder. Dort war es noch möglich zu toben und so etwas wie Freiheit zu erleben. Ich hatte damals Freude daran, die kleinen Jungen benachbarter Familien zu hüten. Ich bekam manchmal dafür eine Belohnung. Ich fühlte mich ihnen gegenüber wie eine Große.« Ich fragte: »Was geschah damals Besonderes in Ihrem Leben?« Sie: »Ich war neun Jahre alt. Meine Mutter war schwanger. Kurze Zeit später gebar sie meinen kleinen Bruder.« Sie sagte weiter: »Ich erinnere mich jetzt genau an das Gefühl von Scham, das ich mitempfand, als meine Mutter mir zu erklären versuchte, wie die kleinen Kinder auf die Welt kämen. Sie war verklemmt und total unfähig. Ich war traurig. Ich identifizierte mich sehr mit der Mutterschaft meiner Mutter. Ich war sehr gekränkt, dass ich fortgeschickt wurde, als das Kind zur Welt kam.« Die Träumerin fuhr fort: »Mir wird nun auch wieder ganz gegenwärtig, wie gespannt die Stimmung zwischen den Eltern war. Meine Mutter wurde unterdrückt. Dass meine Eltern sich liebten, konnte ich mir nicht vorstellen.« Dieser Traum ist ein Therapietraum. Sein Inhalt wurde provoziert durch die aufdeckende Analyse, durch die nachdenkliche Wiederbegegnung mit der eigenen Vergangenheit; er enthält eine Botschaft, welche die Träumerin in die nächste Analysestunde hineinträgt. Ist dieser Traum ein sexueller Traum? Das Traumgefühl ist unverhüllt das einer – auch körperlich wahrgenommenen sexuellen – Erregung. Aber Sexualität ist hier nicht der als unerlaubt angesehene und deshalb zu verhüllende Triebanteil dieses Traums, und sie ist auch nicht die eigentliche Triebkraft. Was die Träumende sucht, ist nicht Sexualität, sondern jene Zärtlichkeiten, die in ihren Beziehungen zu Mutter und Vater fehlte. Die schmerzende und zu überwindende Kränkung ist in Wahrheit ein Mangel an Empathie. Der Traum öffnet einen tiefen Einblick in das innere Erleben der Patientin und drängt Bilder und Ereignisse ans Tageslicht, die bisher im Bereich des Vor- und Unbewussten verborgen blieben. Dieser Weg ins Unbewusste führt fast immer hin zu einem Schmerzpunkt, dem der Mensch auf immer zu entrinnen sucht. In diesem Traum – und 128

in ihren Assoziationen dazu – erzählt die Patientin von einer Trauer, die darin lag, von der Mutter ausgeschlossen zu sein. Er führt bis zu einer Randschicht eines immer wiederholten schmerzlichen Erlebnisses. Er versetzt die Träumerin zurück bis in die Zeit zwischen ihrem sechsten und neunten Lebensjahr. Es ist die Entfremdung von der Mutter, die als fortgesetzter Schmerz erlebt wird: Das Erleben kumuliert in der Erfahrung des Nichtteilhabendürfens an der Mutterschaft der Mutter. Die Distanz der Mutter wird als Lieblosigkeit erlebt. Im Zustand dieser erfahrenen Lieblosigkeit fühlt sich das Kind als Objekt der Mutter. Es wird von nun an dieser Erfahrung, nur Objekt, nicht geliebter und somit lieben könnender Partner zu sein, zu entfliehen versuchen. In ihrer Phantasie errichtet sie sich ein Reich der Zärtlichkeit und der Freiheit. Aber dieses Reich der Phantasie liegt außerhalb der realen Welt. ■ Alle Konflikte in der Familienkonstellation scheinen im Ursprung auf die Mutter bezogene Konflikte zu sein. Es liegt nahe, dass sie ihren kleineren Bruder zum Objekt ihrer Zärtlichkeit macht. Sein Erscheinen auf dieser Welt bedeutet für sie einen Verlust an Sicherheit und Geborgenheit, die sie bei den Großeltern fand. In ihrer Phantasie – wie in den Kindheitserinnerungen – holt sie bei ihm zurück, was sie durch ihn verlor. Sie macht sich und die kleinen Jungen, die ihn in den Kindheitserinnerungen vertreten, gleichzeitig überlegen, sie fühlt sich groß. In der Realität ging sie übrigens Beziehungen mit gleichaltrigen oder jüngeren Partnern aus dem Weg, mit der rationalen Erklärung, diese seien zu unreif für sie. Sie suchte sich meist ältere Partner, an denen sie ähnliche Enttäuschungen erlebte wie an der Mutter – und später auch an ihrem Vater. ■ Neurose ist auch eine Art unbewusster Wiederholungszwang. Der neurotische Mensch sucht die ihn vernichtende Erlebnisstruktur, die er doch eigentlich vermeiden will, immer wieder, in dem 129

vergeblichen Versuch, die schmerzhafte Kränkung der Kindheit zu überwinden.

Ein Traum erzählt von einer Kränkung durch den Vater und von einem ödipalen Konflikt Ein wichtiger Schritt in der kindlichen Entwicklung des Menschen ist nach der Theorie Freuds die Überwindung des von ihm so genannten Ödipuskomplexes. Freud nimmt an, dass der Sohn im Kindesalter seine Liebe zur Mutter zu der Phantasie steigert, mit ihr auch sexuell verbunden sein zu wollen. Der Vater erscheint ihm in dieser Entwicklungsphase als Konkurrent, den er sich wegwünscht, den er lieber tot als lebendig sehen möchte. Die Individualpsychologie bestreitet nicht das Vorkommen eines Konflikts des Kindes mit dem Vater um die Liebe der Mutter. Aber sie bezweifelt, dass dieser Konflikt eine notwendige Durchgangsstufe des Kindes sein muss; sie sieht in ihm nicht so sehr ein Triebgeschehen, sondern einen sozialen Konflikt, in dem der Vater ebenso ein Konkurrent sein kann wie die Geschwisterkinder. Wir sprechen daher von einer in der Kindheit häufig – aber eben längst nicht immer – vorkommenden ödipalen Konfliktsituation. ■ Der ödipale Konflikt ist aus individualpsychologischer Sicht ein sozialer Konflikt. Die Triebwünsche sind in dieses soziale Geschehen eingeordnet. Von einem solchen erzählt der folgende Traum: »Als Kind bin ich zu Hause und fange im Mühlenteich Krebse. Es macht mir Spaß. Der Vater tritt auf und sagt, die sind giftig. Er verbietet mir, davon zu essen. Meine Mutter gibt mir ein Geschirr mit und sagt, ich soll da Krebse reinmachen. Ich komme wieder zum Mühlenteich. Es ist Hochwasser. Auf dem Teich schwimmt eine schwarze Chemikalie. Sie entzündet sich, dieses Flächenfeuer bedroht das Haus. Ich sehe, dass der Vater und der Bruder löschen. Ich teile 130

die Personen ein, so dass auf jeder Seite des bedrohten Hauses zwei Personen sind. Auf der einen Seite sollen mein Bruder und mein Vater weiterlöschen, meine Mutter und ich auf der Küchenseite. (Deutliches Gefühl der Entspannung im Traum.) Mein Vater ist unaufmerksam. Der Öltank fängt Feuer. Ich lösche den Öltank alleine. Ich mache dem Vater Vorwürfe, dass er nicht aufmerksam war.« (»Ich erwache mit einem Angstgefühl. Es ist eine Angst, dass das Haus sich entzündet, aber keine Angst vor den beteiligten Personen.«) Der Patient litt an einer Angst, die ihn hinderte, über Brücken zu gehen, große Plätze zu überqueren oder schnell mit dem Auto zu fahren. Alle diese Ängste behinderten ihn sehr. Es stellte sich heraus, dass diese Ängste begonnen hatten, als kurz vor dem Abitur feststand, dass er nun sein Elternhaus bald verlassen müsste. Er war in einer – nach seiner Beschreibung – idyllischen Situation, in einem umgrenzten Teil nah einer süddeutschen Kleinstadt aufgewachsen. Die Welt seiner Kindheit war überschaubar. Eine genauere Erforschung seines Lebens brachte zutage, dass die Wurzeln seiner Angst viel weiter zurückreichten in seine Kindheit. Er war der jüngste von zwei Brüdern und sehr stark an die Mutter gebunden, die er als großzügige und dem Leben zugewandte Frau erlebte. Während seiner ersten fünf Lebensjahre war der Vater im Krieg. Als dieser heimkehrte, veränderte sich im Elternhaus vieles. Der Vater war nämlich ein ängstlicher und abgesicherter Mensch, der alles sehr genau nahm. Die Welt der Kinder war nun eingeengt durch Verbote und Regeln, denen alle sich zu unterwerfen hatten, die Mutter ebenso sehr wie die Kinder. Auch die Mutter veränderte sich in den Augen des Sohnes. Sie unterwarf sich dem Vater und forderte, dass auch die Kinder den Gesetzen des Vaters folgten. In seinem Traum versetzte der Patient sich genau in diese Situation seiner Kindheit. Im ersten Bild stellt er sich noch einmal das schöne und ungebundene Leben vor Augen, bevor der Vater kam. Die Szene, Haus und Mühlenteich, ist realistisch. So sah seine Kinderwelt aus. Der Vater tritt auf wie ein Störenfried in 131

einem Theaterstück. Alles, was schön und natürlich war, erklärt er für giftig. An dieser Stelle fiel dem Patienten ein Beispiel ein. »Mein Vater lehnte Autos ab. Er erklärte, dass sie gefährlich und sinnlos seien. Damit hängt es wohl zusammen, dass ich bis heute Schwierigkeiten mit dem Autofahren habe.« Der Traum enthält zahlreiche Symbole. Der Mühlenteich ist zwar ein realer Ort seiner Kindheit. Aber es würde auch uns – wie dem Patienten – nicht schwer fallen, im Wasser des Mühlenteiches das Wasser des Lebens, das Mütterliche zu sehen. Das ganze erste Bild des Traums stand für den Patienten für eine harmonische Welt, die gekennzeichnet war durch eine gelungene Empathie von Mutter und Kind. In den Krebsen würde mancher vielleicht ein Sexualobjekt sehen wollen, ein Tier, das auch die Gefährlichkeit der diesem Trieb beigemischten Aggressivität verkörpert. Auch mir fiel übrigens die eigentümliche Sprachwendung auf: »Sie (Mutter) sagte, ich solle da die Krebse reinmachen.« Man mag dabei an die Vorgänge bei der Reinlichkeitserziehung denken. Auch hierin sehen wir nicht so sehr eine Phase der frühkindlichen Sexualentwicklung als einen sozialen Lernschritt. Zum ersten Mal wird von dem Kind eine Leistung eingefordert – nämlich die, seine Ausscheidungen beherrschen zu lernen – und die Erfüllung oder Nichterfüllung dieser Leistung wird leider allzu oft mit Lohn oder Strafe beantwortet. Dass es in dieser und in den vorangehenden und folgenden Phasen zu Tabubildungen kommt, hängt meist mit einer Körperfeindlichkeit der Umwelt zusammen und nicht mit der Notwendigkeit der Triebdomestizierung. Mein Patient brachte spontan keine Einfälle, welche die Vermutung hätten unterbauen können, dass hier im Traum ein zitathafter Hinweis auf diese frühe Phase seines Lebens zu sehen sei. Ich habe ihn nicht darauf hingelenkt. Wir wollen die Krebse sein lassen, was sie für den Patienten waren, ein Symbol für den freien und vertrauten Umgang des Kindes mit der Natur, damals, als die Welt noch heil war, ehe der Vater kam. Ich bleibe bei der These, dass die im Traum auftretenden Symbole nur zu verstehen sind auf dem Hintergrund seines individuellen Lebensstils. Und 132

selbst wenn wir die Vermutung hätten beweisen können, dass hier ein zitathafter Hinweis auf eine frühe Entwicklungsphase, eine erste flüchtige Störung der Empathie zwischen Mutter und Kind gegeben sei, so hätten wir deswegen diesen Traum nicht tiefer verstanden. Das Auftreten des Vaters im Traum, wie im Leben, bedeutet dem Jungen ein Stück Verlust der Mutter. Das reine Wasser seiner Kindheit ist vergiftet, das Haus der Kindheit ist durch Feuer bedroht. Wir erinnern uns, dass für Freud das Haus als Symbol für die Ganzheit der Person steht. Das mag oft so sein. Aber hier ist es gemeint als das gemeinsame Haus, in dem Kind und Mutter wohnen. Die drohende Gefahr des Traums ist die Zerstörung dieser heilen Kinderwelt durch den Vater. Aber als Konkurrent tritt nun nicht nur der Vater auf, sondern auch der Bruder. Diese Geschwisterrivalität bestand sicher schon vor der Heimkunft des Vaters. Aber erst nun wird sie bedrohlich und unausweichlich. Der Träumende versucht, die Gefahr abzuwenden. Er macht sich größer, Vater und Bruder überlegen. Er teilt die Löschtruppen ein. Den Bruder ordnet er dem Vater zu, sich der Mutter (»auf der Küchenseite«). Die heile Welt ist nun wieder in Ordnung. Das äußert sich im Traum als Gefühl der Entspannung. Aber die Gefahr ist nur scheinbar abgewehrt. Unvorsicht kommt ins Spiel. Er ordnet sie dem Vater zu. Dabei war es der Vater, welcher die Kinder ermahnte, nur ja vorsichtig zu sein. Der Träumer versucht, den Spieß umzudrehen. Noch einmal versucht er, sich überlegen zu machen. Er löscht den Öltank, er macht dem Vater Vorwürfe. Es gelingt nicht. Er hat die Ermahnungen des Vaters zur Vorsicht verinnerlicht. Er wacht auf. »Das Wasser der Kindheit ist vergiftet«, sagte er in der Therapiestunde, als wir den Traum besprachen.

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Zwei Träume von der Auseinandersetzung mit dem Vater Wir wollen den Patienten in seiner Auseinandersetzung mit dem Vater noch ein Stück begleiten. Kurze Zeit nach dem besprochenen Traum »vom vergifteten Wasser der Kindheit« brachte er einen neuen Traum in die Therapie ein, der sehr kurz war. »Ich sah einen jungen Mann in der Bank. Er wurde von außen von Scharfschützen überwältigt. Ich war einer von ihnen.« Der Patient bemerkte zu dem Traum, dass der junge Mann seinem Bruder ähnlich sah. Eine weitere Assoziation zu dem Traum war sehr vorsichtig und verhüllte das Geheimnis desselben noch einmal. Der Patient äußerte nachdenklich: »Meine Mutter konnte mit 65 Jahren noch keinen Scheck ausfüllen.« Wir werden nicht überrascht sein, zu erfahren, dass der Vater des Patienten selbst im Bankfach tätig war. Die Assoziation ist ein Bild für die Abhängigkeit, in welche der Vater die Mutter zeitlebens hielt. Der Träumende erkannte nun in dem jungen Mann den Vater seiner Kinderjahre. Verwunderlich erscheint ein Satz, dass die Scharfschützen von außen den Mann überwältigten. Scharfschützen – und dass es mehrere waren, ist ein weiterer Teil der Traumverhüllung – überwältigen nach unserer Vorstellung nicht – sie schießen. Der junge Mann, der dort in der Bank stand, war offenbar jemand, der die Bank ausrauben wollte, der also etwas Unerlaubtes tat und der deswegen »überwältigt« werden musste. Wir sehen, wie dieser kleine Traum äußerst kunstvoll in einem Bild einer einzigen Person einen sehr komplexen Zusammenhang von Interaktionen und Geschehnissen verdichtet. Wir erinnern uns an die sechste These: »Jedes Traumelement ist eine Spiegelung des Träumenden selbst.« Der Traum wiederholt nicht ein objektives Geschehen, und die in ihm auftretenden Personen sind nicht einfach ein naturalistischer Abklatsch wirklicher Personen, sondern alles entsteigt der Innenwelt des Träumenden. Das Bild der Welt, das er sich macht, ist sein Bild und also ein Teil von ihm. Vater und Bruder, die dieses Buch vielleicht 134

lesen, müssen nicht erschrecken, wenn sie einen gegen sie gerichteten Tötungswunsch in ihm entdecken. Das Töten im Traum ist meist ein symbolisches Geschehen. Es geht oft darum, ein falsches Bild auszulöschen, das man sich macht. In diesem Traum geht es darum, das falsche Bild des Vaters auszulöschen; eine neue Beziehung zu ihm zu suchen, was der Patient zu diesem Zeitpunkt bereits begonnen hatte. Eine dialogische Beziehung zwischen Menschen ist nur möglich auf der Basis einer Gleichwertigkeit. Der Sohn, der eine dialogische Beziehung zu seinem Vater finden will, muss das Bild des übermächtigen Vaters in sich überwinden. In diesem Zusammenhang ist der Traum zu verstehen. Es ist ein Ablösungstraum. Um seinem wirklichen Vater als ein sich gleichwertig fühlender Sohn gegenübertreten zu können, muss er sich noch einmal mit dem kränkenden Vater seiner Vergangenheit auseinander setzen. Es geht darum, die falsche finale Zielsetzung zu korrigieren. In diesem Traum heißt sie immer noch Überbietung des Vaters und des Bruders. Mein Patient hatte zu dieser Zeit schon einige seiner Ängste abgelegt. So konnte er störungsfrei Brücken überqueren und er hatte gelernt, Genuss zu empfinden beim – vernünftig kalkulierten – schnellen Fahren mit dem Auto. Dennoch wurde er kurze Zeit später von einer Angstkrise heimgesucht. Das kam so: Er hatte sich wegen einer harmlosen Warze an der Hand in hautärztliche Behandlung begeben. Vor ihrer Entfernung unterspritzte der Arzt diese mit einem die Schmerzempfindung der Nerven ausschaltenden Mittel. Mein Patient reagierte darauf – seinem ängstlich-sensiblen Naturell entsprechend – mit einer Kreislaufschwäche. Der Arzt reagierte erschrocken, dachte wohl an eine allergische Reaktion, eine Anaphylaxie. Solche Reaktionen verlaufen mitunter sehr dramatisch und können ein lebensbedrohendes Ausmaß annehmen. Er verabreichte mehrere Spritzen und eröffnete dem Patienten, dass er ihn mehrere Tage in seine Klinik aufnehmen müsse, um seine Allergiebereitschaft zu testen. Auf den Patienten machte der Arzt einen sehr besorgten und strengen Eindruck. Er entnahm den Worten des 135

Arztes, dass er durch diese Allergie sehr gefährdet sei und jederzeit in eine lebensbedrohliche Situation kommen könne. Der Verdacht erwies sich als unbegründet. Aber auch nach der Krankenhausentlassung wich die Angst nicht von meinem Patienten. Im Gegenteil, sie steigerte sich, nahm von ihm Besitz, ließ ihn ständig seinen Körper beobachten. Somatisch äußerte sich die Angst in quälenden Kreislaufstörungen mit Schwindelgefühlen, Schwächeanfällen und beunruhigendem Herzjagen. In dieser Zeit suchte er mich häufig auf in meiner Praxis auf, um sich beruhigen zu lassen. Er begriff bald selbst, dass alle diese körperlichen Symptome ein Ausdruck von Angst waren, und er begann, sich mit ihr auseinander zu setzen. Ihm fiel ein, dass der streng ermahnende Arzt ihn an seinen Vater erinnert hatte. Mitten in einer Phase, in der er den Vater, der ihn bei der Mutter verdrängt und mit ängstlichen Regeln beherrscht hatte, überwinden wollte, stand dieser in der Gestalt des Arztes vor ihm, ausgestattet mit aller Macht, ihn zu seinem Objekt zu machen. Dies ist eine Besonderheit jeder Arzt-PatientBeziehung, dass der Arzt, ob er nun will oder nicht, ein Mächtiger ist. Er wird erlebt als Wissender um bedrohende Geheimnisse und ein Überlegener, in dessen Fähigkeit – oder Unfähigkeit – das Schicksal des Patienten gelegt ist. Es bedarf einer großen Begabung mitmenschlicher Freundlichkeit und einer Bereitschaft zu kritischer Selbstbeobachtung, wenn die dialogische Beziehung zwischen Patient und Arzt nicht an dieser Barriere scheitern soll. Am Ende dieser Auseinandersetzung mit der Angst, die gleichzeitig auch ein fortgesetzter innerer Dialog mit dem Arzt und mit dem Vater war, träumte unser Patient diesen Traum: »Ich stand auf einem hohen Gerüst, so eine Art bewegliche Brücke oder Schwenkkran. Ich hatte eine entsetzliche Angst runterzufallen und war ratlos darüber, wie ich aus dieser hilflosen Lage herauskommen sollte. Dann tauchte ein älterer Mann auf, wie am anderen Ufer. Er reichte mir eine Stange herüber. Ich erkannte darin eine Injektionsnadel. Ich ergriff sie. Das verdichtete Ende der Nadel war wie ein Haltegriff. Ich verhakte die Spitze der 136

Nadel irgendwie in seinem Rücken. Durch geschickte Verlagerung meines Gleichgewichts konnte ich ihm folgen und mich so aus meiner schlimmen Lage befreien.« (»Ich schlief nach diesem Traum weiter und wachte am anderen Morgen völlig frei von jeder Angst auf. Auch an den folgenden Tagen fühlte ich mich wohl und befreit und konnte meinen alltäglichen Pflichten unbelastet nachkommen.«) Zu der im Traum vorkommenden älteren Person sagte der Patient: »Das war mein Vater, das war der Arzt, das waren Sie.« Ihm fiel ein Tagesrest ein. Seine Frau hatte in einem Telefongespräch seinen Eltern gegenüber seine Krankheit erwähnt. Sein Vater hatte sich zwar besorgt geäußert, aber auch gesagt: »Das ist einfach Überarbeitung, er nimmt sich zuviel vor. Er wird es schon packen, wenn er etwas zurücksteckt, und er kann sich darauf verlassen, dass wir ihm helfen.« Der Patient äußerte etwa dazu: »Ich erlebte meinen Vater ganz anders, als ich ihn immer gesehen hatte, viel näher und menschlicher.« Er konnte ihn nur so erleben, weil auch seine Wahrnehmung des Vaters sich zu verändern begann.

Ein so genannter Übertragungstraum In unserem vorangegangenen Traumbeispiel kommen deutliche Übertragungsmomente zum Ausdruck. Der ältere hilfreiche Mann ist wie die meisten im Traum auftretenden Personen vieldeutig. Der Träumende erkennt in ihm den Vater, die Injektionsnadel weist auf den Arzt, das Wort »Arzt« auf den Psychotherapeuten. Würden wir den Traum mit den Augen C. G. Jungs sehen, könnten wir in ihm unschwer den Archetyp des Alten Weisen erkennen. Wir kehren noch einmal zurück zum Begriff der Übertragung. Es erscheint notwendig, die Stellungnahme der Individualpsychologie zu diesem Phänomen anhand eines Traumbeispiels weiter zu erläutern. Wir erinnern uns, im freudschen Therapiemodell nimmt die Übertragung und die daraus abgeleitete Übertragungsneurose 137

einen entscheidenden Platz ein. »An Stelle der eigenen Krankheit des Patienten tritt die künstlich hergestellte der Übertragung, die Übertragungskrankheit, an Stelle der verschiedenartigen irrealen Libidoobjekte das eine wiederum phantastische Objekt der ärztlichen Person« (Freud 1916–17/1969, S. 426f.). Freuds Auffassung über den Umgang mit dem Phänomen der Übertragung leitet sich aus seiner Libidotheorie ab. Aufgabe des Therapeuten ist es, mit dem Patienten an den Ursprungsort der Konflikte zurückzukehren, wo die libidinöse Objektbesetzung misslang. »Die Übertragung wird also das Schlachtfeld, auf welchem sich alle miteinander ringenden Kräfte treffen sollen« (Freud, S. 437). Suchen wir uns nun darüber zu informieren, welchen Stellenwert die Individualpsychologie der Übertragung in der Interaktion Patient – Psychotherapeut einräumt, nehmen wir also zu diesem Zweck die sicher gründlichste systematische Darstellung der Psychologie Alfred Adlers, nämlich das Buch »Alfred Adlers Individualpsychologie« (1972) von Heinz L. und Rowena R. Ansbacher zur Hand, so machen wir eine überraschende Feststellung: Das Wort »Übertragung« kommt im Sachregister nicht vor. Tatsächlich verweigerten Individualpsychologen oft – in Abgrenzung gegen Freud – den Gebrauch des Begriffs »Übertragung«. Sie gerieten damit in Gefahr, die damit verbundenen Phänomene überhaupt zu leugnen. Wir wollen uns nun, ehe wir das Übertragungsproblem theoretisch weiter untersuchen, dem Traumbeispiel zuwenden. Ich verdanke es einer jungen Frau, die in ohnmächtigem Protest gegen den mächtigen Vater und in der Wiederbelebung dieses Konflikts in ihrer Ehe in eine Phase der Magersucht geraten war. Sie träumte diesen Traum in einer fortgeschrittenen Phase der Therapie, als sie sich mit einigen illusionären Verschleierungen von Beziehungsstörungen in ihrer Ehe mit deutlichen Widerständen auseinander setzte. »Ich träumte, ich hätte bei Ihnen einen Samstagstermin bekommen. Das Haus sah ganz anders aus. Sie steckten den Kopf raus und sagten: ›Frau Ypsilon, kommen sie doch rein.‹ Im Türrahmen brach ich ohnmächtig zusammen und fiel Ihnen in die Arme. Das war sehr schön, aber ich 138

lehnte es gleichzeitig ab. Ich hielt es für einen Trick der Psychoanalytiker.« In diesem Traum waren einige Tagesereignisse eingegangen. So hatte sie das Buch von Tilman Moser »Lehrjahre auf der Couch« gelesen und dabei einiges Unbehagen über die nie ganz gelöste Abhängigkeitsbeziehung zwischen Analysanden und Analytiker erlebt. Am Abend hatte sie ein Gespräch mit ihrem Ehemann über Störungen in ihrer Beziehung zueinander gehabt. In ihr war der Eindruck zurückgeblieben, dass ihr Mann ihr Verhältnis zueinander viel negativer sah als sie. Zum Traum hatte sie spontan folgende Einfälle: »Sie sahen anders aus im Traum, nicht wie Sie wirklich sind, irgendwie verklärt. Mit fällt der blödsinnige Satz ein: ›Wir werden nur mit unseren verklärten Leibern aufgenommen.‹ Das hat wohl etwas mit meiner katholischen Vergangenheit zu tun. Die ganze Sache – auch ihr Haus – erinnerte mich an das Hexenhäuschen, dieses ›Knusper-Knusper-Häuschen‹ aus dem Märchen ›Hänsel und Gretel‹. Sie lachten auch so einladend wie die Hexe.« Findet in diesem Traum Übertragung statt? Ganz sicher. Der Tatbestand der Übertragung – wie übrigens auch der der Gegenübertragung – kann gar nicht geleugnet werden. Aber die Assoziationen der Träumerin führen uns auf eine wichtige andere Spur. Der Therapeut im Traum gleicht nicht dem wirklichen Therapeuten, er gleicht der Hexe aus dem Märchen »Hänsel und Gretel«. Die Gestalt des Therapeuten im Traum ist also wieder mehrdeutig, ganz ähnlich wie der hilfreiche Mann im letzten Traum. Die Assoziationen weisen uns den Weg zum Ehemann, zum Vater, zur Mutter und natürlich zum Therapeuten. Das Märchen »Hänsel und Gretel« erzählt unter anderem von einer Urangst des Menschen, nämlich der, von den Eltern getrennt, das heißt verstoßen zu werden. Die Patientin war die älteste von sieben Geschwistern. Nach ihr kamen fünf Schwestern und mit einem Abstand von fünfzehn Jahren zu ihr ein Bruder. An ihrer Mutter hing sie mit großer Liebe. Aber sie hatte sie auch immer als überfordert erlebt und dabei einen Verlust an Nähe der Mutter empfunden. 139

Die früheste Kindheitserinnerung, in welcher ihre Mutter vorkommt, lautet so: »Ich war damals fünf Jahre alt. Weihnachten wurde meine Mutter mit einer Blinddarmentzündung ins Krankenhaus eingeliefert. Ich habe mich an sie geklammert und geschrieen. Als sie weg war, war ich fest entschlossen, mir meine Finger aufzuschneiden, damit ich zu ihr ins Krankenhaus käme. Ich habe mich aber nicht getraut. Ich fühlte mich ganz allein.« Die Angst, aus der liebenden Fürsorge der Mutter verstoßen zu werden, war das Urerlebnis aller Angst in ihrem Leben. Das Leiden unter der Strenge des Vaters war in Wirklichkeit auch eine Enttäuschung darüber, dass er diesen Schmerz nicht heilen konnte. Auch ihre Partnerschaft war geprägt und gefährdet durch diese – vom Bewusstsein nicht zugelassenen – Angst. Aus Furcht vor dem Alleinsein bei der notwendigen Ablösung vom Elternhaus rettete sie sich in eine frühe Ehe. Die in der Ehe auftretenden Konflikte übersah sie aus Angst vor dem Verlust des Partners. Die Trennungsangst wurde zur eigentlichen Belastung ihrer Ehe. Gewiss übertrug sie diese – aus einer Schädigung des Urvertrauens zur Mutter herrührende – Spannung auch auf den Therapeuten als den übermächtigen Wunsch, verstanden und geheilt zu werden, und auch die Angst vor Enttäuschung. Dieser Traum ist ebenso sehr ein Widerstandstraum, wie er ein Übertragungstraum ist. Die im Traum aufscheinenden Gefühle dem Therapeuten gegenüber sind hoch ambivalent. »Ich träumte, ich hätte bei Ihnen einen Samstagstermin bekommen ... Ich fiel Ihnen in die Arme. Das war sehr schön, aber ich lehnte es gleichzeitig ab. Ich hielt es für einen Trick der Psychoanalytiker.« Es wird offenbar in diesem Traum etwas wiederbelebt, eine verschüttete Sehnsucht nach dem Vater, vielleicht Verliebtheit, aber auch Misstrauen den eigenen Wünschen gegenüber. Eine kritische Sicht auf die Mutter scheint auf, diese mischt sich in das Bild als das der Märchenhexe, verleugnete Aggressionen gegen das verinnerlichte mütterliche Objekt werden sichtbar und ansprechbar. Das alles geschieht auf der Ebene der Übertragung auf den Therapeuten und natürlich auch einer Gegenübertragung des Therapeuten auf die Patientin, denn auch dieser gestaltet 140

diese Beziehung, in der das im Traum aufsteigende unbewusste Material sichtbar und der Bearbeitung zugänglich wird, mit seinen lebensstiltypischen Mustern. Wexberg schrieb zum Phänomen der Übertragung in seinem 1931 erschienenen Buch »Individualpsychologie, eine systematische Darstellung«: »Es ist nicht schwer zu verstehen, dass dieser ganze Vorgang, den die Psychoanalyse als Übertragung bezeichnet, durchaus nichts mit einer ›Libidoübertragung‹, also mit einer wirklichen Liebe zum Arzt, zu tun hat, sondern dass er letzten Endes nichts anderes darstellt als einen Versuch, den Pfahl der Individualpsychologie, den der Kranke schmerzhaft im eigenen Fleische fühlt, dadurch wieder herauszuziehen, das man den Arzt als solchen wieder entwertet« (1931/1969, S. 43). Diesem Satz möchte ich entschieden widersprechen. Erstens kommen natürlich auch libidinöse Anteile in der Übertragung vor, sie sind aber nicht die alles beherrschende Tönung, sondern übertragen wird eine Fülle von positiven und negativen Gefühlen; zweitens entspricht die Deutung einer möglichen – sehr häufig auch stark libidinös getönten – Verliebtheit der Patientin als Entwertung des Therapeuten vielleicht doch eher einem Gegenwiderstand, einer aus der Lebensgeschichte des Therapeuten erklärbaren Angst vor starken Gefühlen und dem Wunsch nach übermäßiger Abgrenzung. Die Entwertung der Gefühle des Patienten durch den Therapeuten ist aus meiner individualpsychologischer Sicht nicht hilfreich. Übertragung und Gegenübertragung sind zu verstehen als ein ganzheitliches Geschehen. Es geht in der therapeutischen Beziehung darum, die Ganzheit der in ihr aufscheinenden Gefühle ansprechbar, erlebbar und sozial verfügbar zu machen (Schmidt 2002b, S. 156f.). Ich werde auf die Thematik der therapeutischen Beziehung an späterer Stelle noch zurückkommen (»Über die therapeutische Beziehung«, S. 215ff.). Einstweilen formuliere ich folgende These: ■ Das Phänomen der Übertragung wird von der Individualpsychologie nicht geleugnet. Der Patient überträgt auf den Therapeuten, was er auch sonst im Leben auf andere Personen überträgt. 141

Übertragung und Gegenübertragung sind lebensstiltypische Erfahrungsmuster, die in die Beziehung eingebracht werden. Ihre Wahrnehmung und ihre Bearbeitung sind wichtiger Bestandteil der Traumarbeit. Der Patient darf nicht in den alten Erfahrungsmustern stehen bleiben. Der Therapeut macht ihm ein anderes Angebot und wiederholt es mit nicht ermüdender Geduld: das der Gleichwertigkeit und des Dialogs. Hierin ist die Chance für eine grundsätzliche neue Erfahrung für den Patienten zu sehen. Freilich, das ist oft ein schmaler Grat. Der Patient – der vielleicht für dieses Angebot der Gleichwertigkeit noch gar nicht bereit ist – darf nicht überfordert und dadurch entmutigt werden. Er muss sich unseres kritischen Wohlwollens (Sperber) über alle Widerstände hinweg sicher sein können. Wir müssen ein geduldiges Verständnis für seine Verunsicherung haben. Von der Tiefe dieser Unsicherheit spricht dieser so genannte Übertragungstraum.

Ein Traum, in dem der Träumende sich Mut macht Ich sagte: »Der Traum drängt nicht nur in die Vergangenheit, er weist in die Zukunft.« Sehr häufig ist er ein vorweggenommener Lösungsversuch uns bedrängender Probleme, so dieser eines 25-jährigen Studenten: »Ich träumte, ich hätte ein Mädchen getroffen (eines, von dem ich schon häufiger geträumt habe). Ich habe mit ihr geredet und ich hatte dabei das Gefühl, dass ich so bleiben kann, wie ich bin, und dass sie mich mag. Das Mädchen sagte (wohlwollend): ›Willst du dich nicht entschuldigen?‹ Ich: ›Das ist vielleicht doch nicht so einfach, vielleicht muss ich da was erklären.‹« »Ich war mit anderen Leuten zusammen, ich war glücklich darüber, dass ich das dem Mädchen erklären konnte. Ich konnte mich ohne besonderen Aufwand verständlich machen.« »Ich habe das Mädchen geküsst. Wir beide hatten einen Lutscher im Mund. Wir waren allein. Ich holte tief Luft und wollte 142

dem Mädchen etwas erklären.« (»Als ich wach wurde, war ich traurig, dass der Traum nicht wahr war.«) Dieser Traum ist erkennbar als der eines schüchternen Menschen. Er erträumt in ihm den Lösungsversuch eines ganz konkreten Problems, nämlich das seiner Beziehung zum anderen Geschlecht. Es ist auch ganz ohne Zweifel so, dass in diesem Traum sexuelle Triebansprüche verhüllt werden. Stimmt es also doch, dass im Traum Sexualität verdrängt wird – einer Zensur zum Opfer fällt –, weil sie von einem strengen Über-Ich als unerlaubt angesehen wird? Auch diesen Traum werden wir nur verstehen, wenn wir ein wenig mehr von dem Träumenden selbst und seinem Lebensplan wissen. Er ist der Älteste von drei Brüdern. Der nächst jüngere Bruder war lebhafter und drängender, auch seine Beziehungen zu Mädchen sind überaus erfolgreich. Der jüngste Bruder gleicht wiederum mehr dem Träumenden. Einen Einblick in die Dynamik seines Lebens gibt wieder eine frühe Kindheitserinnerung und die erste Erinnerung, in welcher seine Mutter vorkommt: »Ich war damals zwei bis drei Jahre alt. Ich lag im Bett. Meine Mutter kam ins Zimmer. Sie hatte ein rotes Kleid an und machte das Licht aus. Ich fand sie ungeheuer anziehend und fühlte mich sehr verlassen.« Wieder führt uns diese Erinnerung auf eine grundsätzliche Kränkung, eine Entfremdung von der Mutter durch die Geburt des zwei Jahre jüngeren Bruders. Er, das zweijährige Kind, das er war, gerade dem Babyalter entwachsen, erlebte die Zuwendung der Mutter an den neugeborenen Bruder als schmerzhaften Verlust. Er beschloss, fortan von der Mutter nicht mehr zu lassen. Er lehnte diesen Bruder ab, er verachtete ihn. Er wollte besser sein als dieser, größer und stärker. Aber in der Realität machte er später die Erfahrung, dass er ihn nicht überwinden konnte. Zu oft erlebte er, dass der Bruder stärker und vitaler war als er. Wie im Märchen vom Hasen und vom Igel war er der Hase, der sich abhetzte. Und zu oft schien es ihm, als riefe der Bruder in der Rolle des Igel »Ik bin all do«. So zog er sich aus der Realität zurück, denn sie war nur eine Kette fortgesetzter Kränkungen für ihn. Er wurde scheu, er mied 143

die Kontakte mit anderen. Aber in seiner selbst gewählten Einsamkeit war er gut und groß. Niemals während der ersten zwanzig Stunden unserer Gespräche sah er mich an. Nur manchmal konnte ich sehen, dass ihm Tränen in die Augen schossen – die Fassade seiner selbst gewählten Einsamkeit wurde transparent, ein Blick in die schreckliche Verlassenheit seiner Phantasiewelt möglich. Einmal sagte er: »Meine Mutter war zu gut. Mir ist klar geworden, dass mein Verhältnis zu ihr zu eng war. Nun habe ich es sterilisiert. Ich glaube, dass es so sein muss.« Auch das war noch Flucht vor dem Schmerz der Trennung, vor dem Erwachsenwerden, vor neuen Bindungen, die seiner festgeschriebenen Erfahrung nach doch wieder nur neue Verluste und neue Kränkungen bringen konnten. Wundern wir uns, dass dieser junge Mann seine Sexualität nicht annehmen konnte? Er musste sie abwerten. Adler fragt: »Wie kommt die Sexualität in die Neurose und welche Rolle spielt sie also?« Er antwortet: »Sie wird frühzeitig geweckt und gereizt bei vorhandener Minderwertigkeit und starkem männlichen Protest, sie wird als riesenhaft angesetzt und empfunden, damit der Patient sich davor rechtzeitig sichert, oder sie wird entwertet und als Faktor gestrichen, wenn dies der Tendenz des Patienten dient« (1911/1973, S. 101). Die Tendenz unseres Patienten war Überlegenheit über den Bruder – und, wie ich hier nicht weiter ausführen kann, über den Vater. Er musste daher auch die Sexualität des Bruders – des Vaters – entwerten, also auch seine eigene. Er musste, entsprechend seinem Lebensplan, die konkrete Begegnung mit dem anderen Geschlecht vermeiden. Diesen Traum träumte er, als er schon zögernd entschlossen war, den »elfenbeinernen Turm« seiner Phantasie zu verlassen – so nannten wir ihn in der Therapie –, als er begonnen hatte, sich mit den realen Gegebenheiten seines Lebens auseinander zu setzen. Dass er sexuelle Inhalte verschlüsselt, geschieht nicht, weil eine strenge Über-Ich-Moral diese Sanktion gebietet. Nein, er gesteht sich nur zögernd seine wirklichen Wünsche ein und er144

wägt, dass sie lustvoll sein können. Hierfür steht das Bild von den Lutschern, die das Mädchen und er im Mund haben. Bisher durfte er seine eigenen sexuellen Wünsche ins Bewusstsein nicht zulassen – oder er musste sie entwerten –, weil sie nicht in das Bild des »besseren Bruders« passten, das er sich in seinen Phantasien gemacht hatte. Am Ende hinterlässt der Traum in ihm eine angenehme Stimmung, zwar traurig darüber, dass das, was er im Traum tut, noch nicht wahr ist. Dieser Traum steht am Anfang eines neuen Wegs, der ihn auf andere Menschen zuführt.

Vorläufiger Rückblick Die Grundannahme der Individualpsychologie, dass die seelische Entwicklung des Menschen dann sinnvoll verläuft, wenn sie sich nach der Gemeinschaft hin orientiert, bedeutet auch, dass eine gelungene zwischenmenschliche Beziehung nur als dialogische Beziehung gedacht werden kann. Das setzt die Gleichwertigkeit des Menschen voraus. Eigentlich ging es in allen hier vorgestellten Träumen um dieses Problem. Gleichwertigkeit bedeutet nicht Gleichheit. Wir sagen, dass jeder Mensch unwiederholbar er selbst und jeder dem anderen gleichwertig ist. Entfremdung unter Menschen – wir sahen in der Neurose eine ihrer Formen – ist eine Folge des Abbruchs dialogischer Beziehungen. Das bedeutet im individuellen Schicksal des Menschen also den Weg in die Neurose oder auch in die Kriminalität oder die Machtausübung über andere Menschen oder sklavische Unterwerfung, was vielleicht das gleiche ist, denn für den Herrscher ist der Sklave ebenso Objekt, wie dies der Herrscher für den Sklaven bleibt. Mit Recht sagt Josef Rattner: »Die Mitmenschlichkeit ist nach Adler die Grundstruktur der menschlichen Existenz« (1972, S. 189). Alle in diesem Buch aufgeschriebenen Träume variieren dieses Thema, es heißt: die Stellung des individuellen Ich gegenüber 145

der Gemeinschaft der anderen. Wir führen uns die Träume noch einmal vor Augen. Die ersten vier Träume stammten von einem Patienten mit einer Angstneurose. Er begründet in seinem ersten Traum sein Misstrauen gegen Menschen und gibt ihm den Sinn, sich unangreifbar gegen vermutete Feindseligkeit zu machen. Er stellt sich über die anderen. In seinem zweiten Traum berichtet er von einer Kränkung durch die Mutter, durch welche sein Misstrauen begründet wurde. Im dritten Traum setzt er dem dialogischen Angebot des Therapeuten noch Widerstand entgegen, indem er diesen zugleich erhöht und entwertet. Im vierten Traum wiederholt er noch einmal alle Argumente, aber er sucht nun – zögernd – über die Angst vor Kränkung hinweg einen Weg zurück zur Welt der Realität. Der fünfte Traum, der vom »Ja, aber« und den minderwertigen Augen, drückt aus, dass er sich doch auch fürchtet vor deren Erwartung, vor der Fremdheit und vor seinem Unvermögen. Der sechste, der »erotische« Traum einer jungen Frau, setzt den Wunsch nach allergrößter Nähe gegen die Angst vor unüberbrückbarer Distanz, die sie an der Mutter erfuhr. Der Traum »vom vergifteten Wasser der Kindheit« erzählt von dem – vom Patienten in seinen Kinderjahren so erlebten – Verlust der Mutter an den Vater. Die folgenden Träume dieses Patienten spiegeln die Auseinandersetzung mit dem verinnerlichten mächtigen Vater und die Überwindung dieses Bildes. Der so genannte Übertragungstraum einer jungen Frau bündelt im Bild des Therapeuten alle Erfahrungen vom Schmerz der Enttäuschung und weist wieder zurück auf die Angst vor dem Verlust der Mutter. Der letzte Traum macht dem Patienten zögernden Mut, einen lang verweigerten Schritt auf das andere Geschlecht hin zu tun. Was ist all diesen Träumen – und denen, die ich im ersten Teil des Buches zitierte – gemeinsam? Jeder dieser Träume ist der Versuch, die Beziehung zu anderen Menschen in der Bewegung vom Heute zum Morgen neu zu definieren. Er ist oft nur die Wiederholung des alten misslungenen Dialogs, manchmal aber auch schon der Beginn einer neuen, besseren Beziehung. 146

Der Tatbestand, dass jeder Träumende sich jeweils sein subjektives Bild der Welt und der anderen entwirft, ist allen Träumen gemeinsam. Jeder Traum ist immer seine ureigenste Schöpfung. Jede im Traum auftretende Person ist gleichzeitig ein anderer aus der Umwelt des Träumers, aber auch erdichtete Person im Traum, Träger der Merkmale verschiedener Personen und auch Teil des Träumenden selbst. Alle Träume weisen weit zurück in die Vergangenheit des Träumers. So gesehen enthalten die Träume regelmäßig ein regressives Element. Die finale Linie, welcher der Traum folgt, kann zurückverfolgt werden bis in die Kindheit des Träumers und seine Erfahrungen mit den Bezugspersonen seines frühesten sozialen Umfelds, das sind bei der heutigen Familienstruktur vor allem die Mutter, der Vater und die Geschwister, aber auch andere wichtige Bezugspersonen wie zum Beispiel die Großeltern. Die Dynamik, die dem Traum seine Richtung weist, ist meist angestoßen durch einen Schmerz, der bei einer Enttäuschung, einer Kränkung, einem Verlassenwerden erlebt wurde. Die größte Macht zu kränken hat die Mutter. Alle Konflikte in der Geschwisterrivalität, aber auch der so genannte ödipale Konflikt mit dem Vater, haben offenbar ihren Ursprung in einem befürchteten Verlust der Mutter. Die gelungene Empathiebeziehung zur Mutter scheint das wichtigste Vermögen zu sein, das ein Mensch mitnehmen kann aus der Kindheit als einen Grundstock zur mutigen Lebensbewältigung und zur gelungenen Beziehung mit anderen Menschen.

»Lieber Freund, mir träumte ...« – Darstellung eines Teils des Prozessverlaufs einer individualpsychologischen Analyse am Beispiel von fünf Träumen Ich möchte an fünf Traumbeispielen eines Patienten verdeutlichen, wie sich in diesen der Verlauf eines analytischen Prozesses widerspiegelt, dessen wesentliches Agens die Beziehung 147

zwischen dem Patienten und seinem therapeutischen Begleiter war. Es handelt sich um Mitteilungen eines älteren Patienten über seine Selbsterfahrung in einem analytischen Prozess. Wir haben exemplarische Sequenzen aus diesem Prozess ausgewählt, sie in Briefform gekleidet und sie für diese Veröffentlichung verfremdet. Die tiefenpsychologischen Dimensionen dieser Arbeit mit Träumen sind aber – so hoffen wir – unbeschädigt geblieben. Der Verfasser dieser Briefe unterzog sich im Zeitraum vom Beginn seines 61. bis in sein 63. Lebensjahr einer psychoanalytischen Behandlung. Er war in eine tiefe Sinnkrise seines Lebens geraten. Einige Todesfälle, der seiner Mutter und dreier älterer Freunde, hatten ihn tief erschüttert. Er hatte sich in dieser Zeit auch aus einer langen ehelichen Beziehung gelöst und eine Lebensgemeinschaft mit einer sehr viel jüngeren Frau begonnen. Das alles hatte ihn sehr verwirrt. Die Verluste, die er erlitten hatte, und die Abschiede – auch die von ihm so gewollten – schmerzten ihn tief und hinterließen Wunden. Obwohl er davon überzeugt war, dass er diesen Weg, so wie er ihn ging, gehen musste, war er doch auch voller Schuld- und Schamgefühle. Er träumte in dieser Zeit viel und auch seine Träume verwirrten ihn. Sie erschienen ihm wie rätselhafte Botschaften aus seiner Seele, die er nicht verstand. In dieser Situation suchte er therapeutische Hilfe. Er wollte seine inneren Bilder ordnen, wollte sich selbst verstehen. So trat er ein in einen analytischen Prozess. Es war eine modifizierte analytische Therapie. Sie war zeitlich unbegrenzt und fokussiert auf Bilder, Träume, Erinnerungen und Gefühle, die sich jeweils spontan in den analytischen Sitzungen darstellten. N., den 14. Februar 1991 Lieber Freund, ja, ich habe mich in die Obhut eines Psychoanalytikers begeben. Du wirst vielleicht meinen, da begibt sich der alte Esel auf Glatteis und wird sich vielleicht die Beine brechen. Ja, es mag Dir als etwas Unangemessenes erscheinen, als etwas Exhibitionisti148

sches. Vielleicht nehme ich mich ja gar zu wichtig. Vielleicht will ich ja auch nur vor meinem Alter weglaufen und den Tod verleugnen. Der hat ja in den vergangenen Jahren reiche Ernte in meinem Umfeld gehalten. Alle diese Gedanken und Zweifel waren natürlich in mir, und dennoch mußte ich diesen Weg gehen. Ich habe in jüngster Zeit so viel getan, was meinem Status als nun schon über sechzigjährigen Mann vielleicht unangemessen war. Ich habe mich von meiner Frau getrennt, mit der ich drei – nun freilich schon erwachsene – Kinder habe und mit welcher ich viele durchaus glückliche Jahre zusammenlebte. Ich liebe, lasse das zu, gebe dem nach. Ich habe mit einer zwanzig Jahre jüngeren Frau eine Lebensgemeinschaft begonnen. Hätte man mir dies alles vor zehn Jahren vorausgesagt, ich hätte es für unmöglich gehalten. Das, was ich getan habe und tue, widerspricht den meisten meiner inneren Überzeugungen, die ich so lange Zeit in mir festgehalten habe. Aber glaube mir, es war nicht einfach ein Spaziergang ins Glück. Natürlich Glück, unaussprechliches Glück, war auch auf diesem neuen Weg. Ich habe mich dabei auch neu entdeckt. Aber es ist auch ein Weg der Schmerzen. Ich habe erfahren, daß Abschiede wie Sterben sein können, qualvoll und an allen Ecken lauert die Schuld. Ich wurde von Träumen heimgesucht. Die in diesen aus meiner Seele aufsteigenden Bilder verwirrten und erschreckten mich. Ich wollte mich diesen inneren Bildern stellen und den Motivationen meines Handelns auf den Grund gehen. Ich wollte ganz einfach ehrlich mit mir selber sein. In dieser Situation suchte ich die Hilfe eines Psychoanalytikers. Ich mußte lange suchen. Er sollte älter sein als ich, so eine Art Vater, dem ich mich anvertrauen wollte. In einer Vortragsveranstaltung fand ich ihn. Er ist in der Tat nur wenige Jahre älter als ich, aber, wie ich glaube, gütig und streng. Ihm kann ich mich öffnen. Ich will Dir nun einen meiner Träume erzählen. Dies war der erste Traum, der sich mir mit Hilfe des Therapeuten in den Analysestunden ein Stück enträtselte. Mein älterer Bruder Friedrich – er ist drei Jahre älter als ich – 149

trat auf und erzählte mir, daß Gedichte von mir schon vor einundzwanzig Jahren in einem Verlag in Blankenstein oder Blankenburg erschienen seien. Er tat dies eher beiläufig – abfällig, wie mir schien –, und er sah sehr eigenartig aus. Er war gekleidet in die Tracht eines höfischen Dieners aus der Rokokozeit. Es war etwas Distanziertes und sehr Herablassendes in seinem Wesen. Ich hatte nun das Buch in der Hand. Es zerfiel und war in einer eigenartig verschnörkelten, jugendstiligen Weise gedruckt (wie eine Jugendstilausgabe von Goethes gesammelten Werken, die ich seit meiner Jugendzeit besitze). Das Buch gefiel mir eigentlich nicht. Ich fragte meine Mutter, ob sie die Gedichte gelesen habe. Sie erschien mir auch unwirklich, wie eine Jugendstilzeichnung. Sie antwortete: »Nö.« Ich war gekränkt, dachte ich doch, daß sie die Gedichte für mich abgeschrieben habe. Friedrich sagte, daß der Verlag vielleicht nur zwanzig oder einundzwanzig Exemplare des Buches verkauft habe. Ich dachte, daß ich dann ja vielleicht fünf oder sechs Bände zurückkaufen könne. Auf dem Titelblatt des Buches standen noch mehrere Autorennamen. Ich dachte mir, daß wohl verschiedene Bände erschienen seien. Die Namen leuchteten in Golddruck. Eine Name war schwer entzifferbar: »Mar ...« (Margarete, der Name meiner Mutter?). Ich dachte auch: »Die Gedichte sind schön. Es sind alte Gedichte von mir.« Mir fiel nun ein, daß ich irgend etwas Zwanghaftes tun sollte, um die Schönheit der Gedichte zu verbergen. Soweit mein Traum. Es verwunderte mich, dass mein Bruder Friedrich so eigenartig fremd und verwandelt in ihm auftauchte. Mir fiel dazu ein, daß er ja Schauspieler ist. Er ist es als gewohnt, in verschiedene Rollen zu schlüpfen. Das könnte bedeuten, daß er in dem Traum er selbst und doch ein anderer ist. Vielleicht mein Vater? Der pflegte, wenn er von seinem Beruf sprach, manchmal zu sagen, daß er als Arzt ein Diener der Menschen sei. Aber auch ich selbst könnte in der Gestalt des Dienerbruders verborgen sein oder doch ein Teil von mir. Um seinen Schauspielerberuf habe ich Friedrich beneidet. Ich wäre auch gerne zum Theater gegangen. Aber dann habe ich den Weg in eine viel bürgerliche Existenz gewählt. Meine Mutter hat mich in diese Rich150

tung gedrängt, oder ich habe mich dahin gedrängt gefühlt oder mich drängen lassen. Ich fühlte immer, daß sie von mir erwartete, daß ich den Beruf meines Vaters aufnähme. Also bin ich ein Landarzt geworden. Ach, überhaupt, meine Mutter! Obgleich sie ja eher schemenhaft in dem Traum auftritt, scheint sie mir doch eine sehr zentrale Rolle in ihm einzunehmen. Mit der jugendstiligen Zeichnung ist sie – oder doch mindestens ein Teil von ihr – sehr gut getroffen. Sie war eine anrührend schöne Frau, bis in ihr hohes Alter hinein. Aber sie war auch manchmal sehr fern, wenig greifbar, eben wie jene Zeichnung im Traum. Oft habe ich sogar den Verdacht gehabt, daß sie mich nicht ganz erst nahm, ja vielleicht sogar ein wenig verachtete. Es könnte sein, daß ich ihr zu weiblich war oder zu wenig männlich. Friedrich entsprach sicher mehr ihrem Männlichkeitsideal und war darüber hinaus meinem früh verstorbenen Vater ähnlicher als ich. Eigentlich war ich der Künstler. Ich glaube, die Rolle von Friedrich und mir haben sich später vertauscht. Als Jugendlicher schrieb ich viele Gedichte. Als ich zwanzig oder einundzwanzig Jahre alt war, hat meine Mutter für mich meine Gedichte auf ihrer alten Schreibmaschine, die damals in der Nachkriegszeit ein Heiligtum war, abgeschrieben. Darauf deutet das Zahlenspiel im Traum, wie auch der Ortsname Blankenstein, der einer in unmittelbarer Nachbarschaft unseres damaligen Wohnortes liegenden kleinen Stadt. Meine Mutter hat meine Gedichte also geschätzt. Einige der Gedichte erschienen auch gedruckt in Jugendzeitschriften und Zeitungen. Meine Mutter arbeitete zu dieser Zeit als freie Schriftstellerin für allerlei Zeitungen. Ich wollte ihr imponieren, wollte ihr intellektueller Gesprächspartner sein. Ich war es auch, viel mehr als mein Bruder, und doch fühlte ich mich in meinem Künstlertum nicht angenommen. Da war etwas wie Scham, das deutet sich ja am Ende des Traums an. Ich bin ein wenig bestürzt über die Erkenntnis, daß mein späterer Lebensweg so sehr durch das Motiv gelenkt war, in den Augen meiner Mutter ein ganzer Mann zu sein. 151

Der Gedanke im Traum, daß ich vielleicht sechs oder sieben Bücher zurückkaufen könne, weist wohl auf eine viel frühere Phase in meiner Kindheit hin. Als ich sechs oder sieben Jahre alt war – ich konnte kaum schreiben –, habe ich mein erstes Gedicht geschrieben. Meine Mutter hat das übrigens auch auf einer Schreibmaschine abgeschrieben. Wir hatten mit meiner Mutter einen Ausflug zu einem kleinen verwunschenen Fluß unternommen. Wir waren auf dem Stakelboot über den Fluß gefahren. Ich war wie verzaubert von der Klarheit des Wasser, den Fischen und den glitzernden Kieselsteinen. Davon handelte das Gedicht, und es war wohl auch ein Liebesgedicht an meine Mutter. Du siehst nun, in dem Traum verbirgt sich eine lange und geheimnisvolle Geschichte, ich bin neugierig geworden.

N., den 4. März 1991 Lieber Freund, mir träumte, mein Bruder Friedrich käme aus dem Zimmer meiner Freundin und Lebensgefährtin. Er war wieder gekleidet in das Kostüm eines Kammerdieners der Rokokozeit. Er gab sich würdig und ganz von oben herab. Ich war nackt. Er trug meine Klamotten fein säuberlich gefaltet über den Arm. Er bedeutete mir stumm: »So gehst du da nicht rein!« Ich war sehr ärgerlich. Du siehst, das Thema des ersten Traums setzt sich fort. Nur ist diese kleine Szene viel drastischer und deutlicher. Das liegt vielleicht daran, daß ich zu meinem Analytiker noch mehr Vertrauen gefaßt habe. Ich darf mich ihm zeigen, ganz so, wie ich bin, gewissermaßen nackt. Ich habe begonnen ein Traumtagebuch zu führen. Ich versuche meine Träume auch in Bilder zu fassen. Das sind kleine Skizzen, die ich manchmal farbig koloriere. Ich tue das ganz intuitiv. Mir ist dabei, als zeichnete nicht ich, sondern als zeichnete es mich. Das Ergebnis dieser Zeichnungen ist interessant. Die Träume werden auf eine neue Weise kompakt und sinnlich. Ich war zum Beispiel ganz überrascht, daß ich in den Rahmen der Tür das Abbild einer nackten Frau andeutete. Es schimmert gewisser152

maßen durch die Tür hindurch. Hinter der Tür ist meine Sinnlichkeit, meine Geilheit. Ist das ein Thema, das ich so lange vor mir verborgen habe? Mein Bruder Friedrich neckt mich. Er hat auch etwas von einem Schalk, so als wolle er sagen: »Was willst du kleiner Junge – oder auch du alter Bock – denn dort hinter der Tür? Dort hast du doch gar nichts verloren.« Und in der Gestalt des Dieners ist auch wieder mehr versteckt als nur mein Bruder Friedrich, vielleicht der Vater, ein Ich-Anteil von mir oder ein Über-Ich. Mir wird auch deutlich, daß ich in der Darstellung meinen Bruder Friedrich – oder wer immer er auch ist – in seiner Verkleidung ein Stück entwerte. Ich mache ihn lächerlich. Ich selber stehe in Rückenansicht im Vordergrund des Bildes und schaue auf die Szene. Ich habe die Gestalt von heute. Ich bin ein alter Mann. Aber in dem alten Mann steckt auch ein Junge. Wieder mischen sich die Zeitebenen. Daß ich mich im Traum ärgerte und mit dem Ärger wach wurde, hat meinen Analytiker gefreut. N., den 13. April 1991 Lieber Freund, ich bin unruhig, umgetrieben. Manchmal, wenn ich zu meinem Analytiker gehe, klopft mein Herz. Es sind zwei Impulse in mir. Der eine drängt mich zu ihm hin, will wissen, immer mehr wissen, will erfahren. Der andere will mich forttreiben. Wenn ich sein Wartezimmer betrete, halte ich mein Traumbuch fest in der Hand. Manchmal begegne ich anderen Patienten, wenn sie gerade aus seiner Ordination kommen. Wir lächeln uns zu, als wären wir uns vertraut, sind uns doch fremd. Das ist uns gemeinsam, daß wir Reisende ins Land des Unbewußten sind. Blöderweise fällt mir der Satz ein: »Morituri te salutant« – »Die Todgeweihten grüßen Dich«. Aber das war doch der Gruß der den Löwen preisgegebenen Sklaven an den großen Cäsar. Bei dem Gedanken muß ich grinsen. Doch die Frage ist ganz ernst: »Wird er mich halten?« Ja, er wird mich halten. Ich habe Vertrauen. Dabei sagt er nicht viel. Er 153

ist wie ein alter Bauer, der hebt seine Nase in den Wind und schweigt viel. Meine Zeichnungen in meinem Traumbuch schaut er sich lange und wohlwollend an. Ja das Wohlwollen strömt ihm aus allen Poren. Irgendwann klappt er das Traumbuch zu und schaut mich an. Er wartet, manchmal führt er ein wenig, manchmal hinterfragt er mich. Er fragt überhaupt viel. Er führt mich mit seinen Fragen zu Lösungen. Immer weiß er ganz genau, was in den vergangenen Stunden gewesen ist. Er ist ganz bei mir. Dann löst sich mein Erschrecken über meine Träume. Ich war überschwemmt von Bildern aus dem Unbewußten. Immer wieder fuhr ich in meinen Träumen über große Meere nordwärts. Ich wurde verfolgt und gefoltert, ich tanzte auf dem Seil und drohte zu stürzen, ein Nilpferd stolperte durch mein Bett, eine Schlange züngelte. Einmal war ich sogar eine Gestalt wie Christus persönlich, der zum Ölberg geführt wurde. Dieses Bild war mir sehr peinlich. Ihn aber scheinen meine Träume nicht zu erschrecken. Er nimmt mich mit meinen Träumen an. Also berichte ich so, wie ich Dir jetzt einen Traum erzähle. Maria, meine nächstjüngere Schwester, und ich fuhren auf Booten über ein gewaltiges Meer nordwärts. Heinrich, ihr Ehemann, war dabei in einer beschützenden Funktion. (Er war U-Bootfahrer im Zweiten Weltkrieg, und er hat in seinem Wesen und im Aussehen eine verblüffende Ähnlichkeit mit meinem Analytiker.) Es war ein starker Wellengang. Das Meer war tiefschwarz. Es wogte auf und ab. Zeitweise war es, als wären wir mit unseren Körpern ganz in das Meer getaucht, als schwämmen wir darin. Das war ein Gefühl von Getragensein und Bangigkeit. Rote Blitze leuchteten in der Ferne. Wolken rissen auf. Jemand sagte: »Das Meer ist hier sechzig Kilometer tief, und wir müssen noch vier oder fünf Minuten schwimmen.« Ich dachte bei mir: »Die Tiefe des Meeres sagt nichts aus über die Gefahr des Schwimmens. Wenn es tief ist, trägt es gut.« Wir schwammen auf eine kleine Insel zu. Es hieß, Menschen hätten sie beschädigt. Sie drohte auseinanderzubrechen. Ein Mensch sei getötet worden. Einige von denen, die das getan hätten, seien noch auf der Insel. Jemand – vielleicht Maria? – schob mich auf einer Schubkarre zu 154

der Stelle der Beschädigung. Wir waren nackt. Ich lag ausgestreckt auf der Karre, mein Geschlecht lag offen, aber kindlich, androgyn. Ein Mann, ebenfalls nackt, irgendwie wie aus dem Bilderbuch »Wo die wilden Kerle wohnen« entnommen, stampfte mit einer Art Preßlufthammer den schwarzen Boden fest. Er hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit meinem Vater. Ich war ängstlich, aber er sah auf mich herab und grinste gutmütig. Später saßen wir – Maria und ich – irgendwo zwischen Dünen oder in einer Wüste. Wir warteten darauf, dass meine Eltern kämen – mit einem Lastwagen –, um uns heimzuholen. (Diese Szene war undeutlich und verschwommen, aber die Gefühle waren sehr präsent, irgend etwas zwischen Feierlichkeit und ängstlicher Erwartung.) Der Traum führte mich offenbar in tiefe, unbewußte Schichten. Hierfür stehen Sturm, Wolken und Blitze. Der U-Bootfahrer, welcher Maria und mich begleitet in einer sichernden Funktion, ist natürlich mein Analytiker. Aber wohin geht die Fahrt? Nach diesem Traum hatte ich, ganz spontan und für mich zunächst unerklärlich und auch den Zusammenhang mit meinem Traumerleben zunächst nicht erkennend, den Drang, in den Gedichten von Georg Trakl zu lesen. Ich hatte sie lange nicht zur Hand genommen. Ich habe sie immer geliebt. Zu vielen Zeiten meines Lebens – vor allem aber in meinen Jugendjahren – war ich angezogen von ihrem dunklen Herbstglanz, von ihrer Sinnsuche und vor allem von ihrem Klang von Trauer über erfahrene Schuld. Nun las ich wieder in ihnen. Ich zitiere Dir einige Verse aus dem Gedicht »Die schöne Stadt«. Rösser tauchen aus den Brunnen. Blütenkrallen drohn aus Bäumen, Knaben spielen wirr von Träumen Abends leise dort am Brunnen. Mädchen stehen an den Toren, Schauen scheu ins farbige Leben, Ihre feuchten Lippen beben Und sie warten an den Toren.

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Ich habe dieses Gedicht gewählt, weil sich in ihm die Stimmung meines Traums spiegelt. Die blauen Schatten, die über vielen der Gedichte Trakls liegen, sind ja auch Ausdruck einer – von ihm so erlebten – Inzestschuld, die er durch sein Leben trug. Also ist ein Ruch von Inzest auch in meinem Traum? Gewiß! Das hat nichts mit Mißbrauch und Übergriff zu tun. Das ist ganz zart, ganz fragil und sehr zerbrechlich, ein Wolkengespinst der Phantasie. In meinen Kindheitserinnerungen gehe ich mit meiner Schwester Maria Hand in Hand – wir beide ganz alleine, ich vielleicht fünf oder sechs Jahre alt – vorbei an einem kornblumendurchwirkten Weizenfeld zu einem Gut außerhalb der Stadt, oder wir spielen Vater-Mutter-Kind, wir kochen auf einem Puppenherd, ich verbrenne mir die Finger. Die darin verborgenen Kindheitsphantasien sind nur noch erahnbar, etwa im Gefühl meines Traums. Die Insel in dem Traum ist also das Land meiner Kindheit. »Jemand ist getötet worden«, das deutet darauf hin, daß dort viele Menschen ihr Leben verloren, auch mein Vater. Vielleicht ist auch von mir etwas dort gestorben. Die Insel ist beschädigt. Tatsächlich sind Nazizeit, Krieg und die Zerstörungen der Nachkriegszeit über das Land meiner Kindheit hinweggegangen und haben tiefe Spuren der Beschädigung, ja der Vernichtung hinterlassen. Mein Vater hat sich redliche Mühe gegeben, diese Beschädigungen in Grenzen zu halten. Ich habe ihn deswegen idealisiert. Im Traum erscheint er mir als ein wilder Kerl. Auch das ist ein Bild meiner Kindheit, das ich durchaus mit seiner Wirklichkeit in Übereinstimmung bringen kann. In meiner Idealisierung hatte ich das lange Zeit weggeblendet. Er schaut wohlwollend auf mich. Das hat etwas Versöhnliches. Mein Analytiker hat mir sehr geholfen, das Bild meines Vaters ganzheitlicher zu sehen. Unter seiner behutsamen Führung wurde der Vater aus einer idealisierten Lichtgestalt zu einer realen Person, die ich begreifen und lieben kann. Ich berichtete ihm zum Beispiel, dass mein Vater häufiger allein »ins Reich« – wie man das bei uns nannte – nach BadenBaden in Urlaub oder zu Kongressen fuhr. Er besuchte dort wohl 156

auch Nachtbars. Meine Mutter erzählte so davon: »Und dann hat er der Dame einen Fünfzigmarkschein ins Strumpfband gesteckt. Weiter ist aber nichts passiert.« Die Geschichte von dem Fünfzigmarkschein im Strumpfband der Dame hat mir damals sehr imponiert. Mein Analytiker lachte herzlich. »Das habt ihr also geglaubt? Und die Mutter hat ihm nicht die Leviten gelesen?« fragte er sinngemäß. Das klang herzlich, keine Spur von Verurteilung war in seinen Worten und seinem Lachen. Es hat mir die Augen geöffnet. Mir fielen nun allerlei Erinnerungen ein, die meinen Vater in einer sehr menschlichen Gestalt erscheinen ließen. In dieser neuen Vielseitigkeit konnte ich ihn begreifen, ihn annehmen und lieben. Die Bilder klären sich. N., den 10. Juni 1991 Lieber Freund, die Bilder und Themen meiner Träume wechseln in rascher und manchmal verwirrender Folge. Die Mutter tat wieder häufig in den Mittelpunkt des Geschehens. Ich hatte übrigens auch das Gefühl, daß sie in dem Traum von der Insel, auf welcher ich meinem Vater begegnete, in dem Bild von der Schwester mit verborgen war. Überhaupt überrascht mich immer wieder die Vieldeutigkeit der Bilder und Symbole. Manchmal ist in einem einzigen Detail eine ganze Geschichte versteckt. In meinen jüngsten Träumen erschien mir die Mutter oft sehr streng und übermächtig. Manchmal war sie eine Hexe, manchmal eine Richterin. In einem Traum war sie eine mittelalterliche Fürstin. Sie schritt hoheitsvoll einher und schaute verächtlich auf mich herab, der ich auf einem Klo saß. Oft erschien sie aber auch verführend, rief mich. Es schien, als könnte ich das Bild meiner Mutter nicht zu einer Einheit zusammenfügen und als könnte ich sie nicht loslassen. Das scheint sich verändert zu haben. Der letzte Traum deutet darauf hin. Ich will ihn Dir erzählen. Ich träumte, ich stünde mit einer ganzen Gruppe jugendlicher Menschen – Jungen und Mädchen – an einer Kreuzung. Schon im Traum erkannte ich diese wieder als die Kreuzung 157

zweier Straßen, die wir häufig als Fahrschüler auf unserem Schulweg vom Bahnhof zu dem Gymnasium in der Nachbarstadt, das ich von meinem vierzehnten Lebensjahr an bis zu meinem Abitur besuchte, überqueren mußten. Mir fiel plötzlich ein, daß ich ein Fahrrad bei mir hätte. Es war ein rotes Fahrrad. Ich konnte es aber nicht besteigen, weil ganz viel Autoverkehr auf der Hauptstraße war. Ich dachte auch: »Ich gehe wieder zur Schule. Diesmal muß ich es richtig machen. Ich muß meinen Mathematiklehrer befragen, daß er mir die durchgenommenen Gleichungen noch einmal erklärt.« Ein Auto hielt neben oder vor mir und behinderte mich. Es war offenbar defekt. Eine Dame, grau und altmodisch gekleidet, stieg aus und beschimpfte mich. Sie wartete wohl ungeduldig auf eine Reparatur. Dann sagte sie zu mir: »Verzeichnung, daß ich Sie – oder Dich? – behindert habe.« Es blieb im Traum unklar, ob sie mich duzte oder siezte, das schien aber wichtig zu sein. Sie räumte nun den Weg. Ich stieg auf mein rotes Fahrrad und fuhr los. Ich fuhr durch eine Art Trümmerstraße – es war eine Straße in meinem Schulort, aber auch in der vom Krieg stark zerstörten Stadt meiner frühen Kindheit. Ich hatte ein ängstliches und gespanntes Gefühl dabei. Aber ich schaffte einige schwierige Wegstellen und fühlte mich zunehmend freier. Die Frau war meine Mutter, aber in der Traumgestalt auch die Mutter meiner Mutter. Das war – nach meinem Erleben – eine strenge und kalte Frau. Wir fanden in ihrer Wohnung Unterschlupf nach unserer Flucht aus dem Osten. Ich glaube, sie ließ es uns und unsere Mutter spüren, daß wir ihren Altersruhestand, den sie sich ganz anders vorgestellt hatte, störten. Ich denke auch, daß meine Mutter lebenslang in ihrer Gefangenschaft blieb. Zu dem Auto meiner Mutter, das offenbar Schaden genommen hatte, fiel mir ein, daß ja auch ihre Lebenslinie durch die Kriegsereignisse jäh unterbrochen war. Die Flucht, der Tod des Vaters und die Vernichtung unserer Existenzgrundlagen, das alles war wie ein Unwetter über sie gekommen. Sie reagierte darauf zeitweise mit einer tiefen Depression. Dabei war sie tapfer, packte das Leben an. Mit ihrer schriftstellerischen und journalistischen 158

Arbeit schuf sie sich eine neue Existenz. Aber es war spürbar, daß innerlich in ihr etwas zerbrochen war. Das machte die Loslösung von ihr so schwer. Das rote Fahrrad verstanden wir in der Analyse als Symbol meiner Eigenbeweglichkeit, also meiner Autonomie, um im Jargon der Psychoanalyse zu sprechen. Das Fahrrad ist natürlich weniger imposant als das Auto meiner Mutter. Aber das ist ja defekt. In dem Traum gewinne ich meine Beweglichkeit wieder. Ich stehe im Traum an einer Schwelle. Das deutet sich in dem Spiel mit dem Du und dem Sie an. Das eine steht für alte Muttergebundenheit, das andere für Selbstbestimmtheit und autonomes Sein. Ich muß meinen Mathematiklehrer, das heißt meinen Analytiker, noch einmal befragen, um die Aufgabe von der Lösung aus meinem Muttergebundensein zu lösen, und wieder führen die Spuren des Traums bis zurück in meine Kindheit. Natürlich wirst Du sagen: »Aber Du bist doch ein gestandener Mann. Die Aufgabe der Loslösung von den Eltern ist doch eine der Kindheit und der Adoleszenz.« – Meine Mutter sprach in dem Zusammenhang übrigens von »gestandenen Mannsbildern« und meinte damit Männer, wie ihr Vater einer war. Die waren laut und selbstbewußt. – Ich antworte Dir, daß Du recht hast und doch nicht recht. Denn erstens sind wir ja alle in unserer Kindheit und Jugend in der freien Loslösungsbewegung von unseren Eltern behindert worden. Im Traum wurde ja auch auf die Muttergebundenheit meiner Mutter verwiesen. Zweitens meine ich, daß wir immer mal wieder in unserem Leben auf neue Weise vor der Aufgabe solcher Loslösung und vor neuen Reifungsschritten stehen. In einem Buch – ich glaube, es war von C. G. Jung – fand ich die Lebensbewegung des Menschen als eine spiralförmige Aufwärtsbewegung beschrieben. Wir bewegen uns in Kreisen aufwärts und kehren dabei, aber jeweils auf einer neuen Stufe, zu alten, längst überwunden geglaubten Punkten zurück. Dieses Bild leuchtet mir ein und tröstet mich. Denn natürlich war ich auch in meinem zurückliegenden Leben ein erwachsener Mann. Beruflich war ich erfolgreich. Ich war Ehemann und Vater, so gut 159

ich das konnte – vielleicht gar nicht einmal schlecht. Aber angesichts der Begegnung mit so viel Tod in meinem Leben haben sich alle Fragen noch einmal neu gestellt. Mein Leben stellte mich vor neue Erfahrungen und forderte neue Antworten. N., den 9. September 1991 Lieber Freund, mein Analytiker nennt es einen Prozeß. Ich empfinde diesen Prozeß manchmal wie einen Film mit bizarren Schnitten. Du glaubst vorangekommen zu sein, und du findest dich wieder in einem Meer von Zweifeln. Ich hatte in dieser Zeit auch Angst, mein Analytiker könne mich verlassen oder mich am Ende doch nicht verstehen. Einmal kam ich vergeblich vor seine Tür. Er war plötzlich erkrankt. Die Nachricht über den Ausfall der Stunde hatte mich nicht erreicht. Unsere Sitzungen fielen über mehrere Wochen aus. Ich war sehr erleichtert, als ich wieder zu ihm gehen konnte. Allerlei dunkle Bilder der Vergangenheit holten mich in meinen Träumen ein. Immer wieder fuhr ich über das große Meer nach Norden. Dieses Bild erinnert mich heute an unsere Flucht über das Haff bis zur Ostsee und dann am Meer entlang nordwärts und westwärts. Viel Seelenmüll brachten meine Träume in mein Bewusstsein. Die Nazizeit hat tiefe Spuren hinterlassen. Ich will Dir einen dieser Träume erzählen. Ich ging über die Königsberger Straße in meiner alten Heimatstadt. Ein jüdischer – oder doch fremdländischer – Freund begegnete mir. Er trug einen feierlichen spitzen Hut und eine Art Kaftan, silbergrau und blau und schwarz. Ich berührte ihn freundschaftlich, aber er winkte ab und ging eilig weiter. Er hatte eine Art Bibel unter dem Arm. Ich dachte: »Ach ja, er geht zum Gebet.« Ich sah dann, daß sich auf der Straße große Gruppen von Kindern in ähnlicher Kleidung versammelt hatten. Es waren wohl jüdische Kinder, und es hieß, sie feierten den ersten Ferientag. Dann sah ich, daß zwischen ihnen auch große Gruppen von Hitlerjungen saßen. Auch SA-Männer in braunen Uniformen und mit reichlichem goldenen Flitterkram ganz nach Goldfasa160

nenart, wie man das damals nannte, waren aufmarschiert. Ich ging nun die Straße weiter. Ich dachte, daß ich zu einer Nachprüfung in Psychologie bestellt sei. Das mußte aus irgendeinem Grunde sein. Mir war nicht mehr gegenwärtig, ob das Treffen in der Privatwohnung des Professors oder in seinem Institut stattfinden sollte. Ich beschloß, ins Institut zu gehen, das war mir lieber. Als ich dort ankam, war alles im Umbau, oder es wurde abgerissen. Dann hörte ich Polizeisirenen und wusste, dass der Professor kommt. Er kam die Treppe herabgeschritten, begleitet von vielen Personen. Er trug einen Bademantel wie einen Königsmantel. Der Mantel öffnete sich, und er war darunter nackt. Er wollte wohl zum Duschen gehen. Ich begrüßte ihn mit Küssen auf beide Wangen. Ich sagte ihm, daß wir zu einer Prüfung verabredet seien. Er hatte das wohl vergessen und fragte, wie denn die anderen Prüfungen gelaufen seien. Ich antwortete: »Sehr gut.« Er deutete an, daß wir die Sache wohl gleich erledigen könnten. Ich ging dann im Garten herum. Es war dort eine Art Abschiedsfest. Ein Mann fragte mich, ob ich wohl wisse, wo ein Arzt zu finden wäre, der wüßte, wo man die reichen Frauen finden könne. Der Traum endete in einer Art Sehnsuchtsgefühl. Ich habe auch diesen Traum in meinem Traumbuch in einer kolorierten Skizze festgehalten. Als ich mir die Zeichnung ansah, war ich sehr erschrocken. Ich hatte mich nämlich in jeder der im Traum vorkommenden Person selber dargestellt. Ich war also in jeder dieser Personen enthalten, oder jede im Traum auftauchende Person war ein Teil von mir. Ich war also mein Traum-Ich, ich war aber auch der jüdische Freund, ich war Hitlerjunge und SAMann, und ich war schließlich der Professor, der im offenen Bademantel sich entblößend in die Traumarena geschritten kam. Mit der Identifikation mit den Hitlerjungen konnte ich mich gut abfinden. Schließlich war ich ja ein solcher gewesen, zwangsläufig und ohne Begeisterung, wie ich mich erinnere. Ich war in der Hitlerjugend sicher mit mehr Widerständen als die meisten meiner Klassenkameraden und Freunde. Das hing damit zusammen, daß meine Eltern deutlich gegen Hitler eingestellt waren, was wiederum zu einer inneren Spannung führte zwischen der 161

durch mein Elternhaus geprägten Innenwelt und der äußeren Wirklichkeit, der ich mich ja auch zugehörig fühlen wollte. Schwerer fiel mir die aus meiner Zeichnung deutlich werdende Verinnerlichung der SA-Männer als ein Teil von mir. Ich verstand sie als unbewußte Identifikation mit dem Aggressor. Wer will schon gerne den Machtlosen, den Unterdrückten und Ausgelieferten zugehören. Vielleicht geht das Kind immer mit den Starken, weil es sich sonst gefährdet sähe, in ein Nichts zu fallen. Dieser Gedanke einer innerseelischen Verwurzelung des Nationalsozialismus verfolgt mich. In dem jüdischen Freund, der mir so abweisend entgegenkam, fand ich mehrere Menschen wieder, jüdische und auf andere Weise »fremdländische«, mit denen ich mich verbunden fühlte und fühle. Vor allem aber dachte ich an einen Jungen, der in meiner frühen Volksschulzeit mein Banknachbar war. Uns verband vielleicht eine gemeinsame Schüchternheit dem Leben gegenüber. Zwischen uns entstand der Keim einer Freundschaft. Der wurde bald zertreten. Der Junge, Sohn eines jüdischen Kaufmanns, dessen Kaufhaus an der Königsberger Straße stand, blieb nur kurze Zeit in unserer Klasse. Die Schulkinder rannten hinter ihm her und riefen: »Jude Itzig, Jude Itzig!« Ich habe ihm übrigens nicht beigestanden. Ich habe mich nur scheu zur Seite gedrückt, wahrscheinlich, weil ich ebenso wenig wehrhaft war wie er selber. Irgendwann blieb er aus der Schule fort. Irgendwann waren die Fenster des Kaufhauses seines Vaters zertrümmert, und SA-Männer standen davor und wachten darüber, daß niemand dem Juden öffentlich beistehe. Immerhin habe ich dann von meinen Eltern erfahren, daß die Familie meines kleinen Freundes, mit dem ich doch nicht Freund sein konnte, nach Amerika ausgewandert war. Ich habe später in meinem Leben wiederholt an die kurze Begegnung mit diesem jüdischen Klassenkameraden denken müssen. Ich glaube heute, die Verunsicherung über sein Schicksal und damit das vieler Judenkinder hat tiefere Spuren in meiner Seele hinterlassen, als ich es lange Zeit wahrnehmen konnte. Ich glaube heute auch, daß damals ein Teil meiner Seele mit ihm 162

nach Amerika emigrierte. Dafür sprechen viele meiner Kindheitserinnerungen, zum Beispiel die Idealisierung des Indianerlandes Amerika als ein Reich der Freiheit. Die herausragende Figur in meinem Traum ist ganz sicher der Professor. In meiner Traumskizze hebt er sich hoch über alle anderen hinaus wie ein Denkmal – und das Wort »germanisch« kam mir in den Sinn. Dort, wo er für mich selber steht, kennzeichnet er ein Größenselbst. Der blaue Bademantel gleicht haargenau dem Morgenrock, den ich trage. Die Nacktheit unter dem sich öffnenden Morgenrock ist einerseits provozierend, weist aber andererseits auch auf Verletzlichkeit hin. Mir fiel aber auch ein SS-Mann ein, dem ich als Dreizehnjähriger auf sehr unangenehme Weise begegnet bin. Er kam als Kommissar in die Stadt, um eine Untersuchung gegen meinen Vater zu leiten. Die Mutter schickte mich zu ihm. Ich sollte ihn nach dem Verbleib meines verhafteten Vaters befragen. Er stauchte mich furchtbar zusammen. Im Traum küsse ich ihm beide Wangen. Vielleicht zeichnet der Traum hier meine Ambivalenz zur Obrigkeit nach. Natürlich ist in dem Traumbild auch ein Teil meiner Beziehung zu meinem Analytiker abgebildet. Ich hatte ja Ängste, von ihm verlassen zu werden. Befürchtungen wurden wach. Auch erschreckt mich der Gedanke, daß – folgte ich nur der Logik meines Traums, daß das Böse des Nationalsozialismus auch Teil in mir ist, das heißt in uns allen – es auch in ihm, meinem Analytiker, sein müsse. Ich antworte im Traum auf alle diese Zweifel mit einem eigenartigen Nähe- und Distanzspiel. Ich bin meinem Analytiker dankbar, dass dies Raum hatte in unserer Beziehung. Wichtig erscheint mir auch noch die letzte Szene in meinem Traum, die Gartenszene. Ein Mann, der natürlich auch wieder ich selber bin, fragt nach den reichen Frauen. Tatsächlich treten ja in meinem Traum nur Männer auf. Es ist auch die Dominanz des Männlichen, die mich in ihm einholt. Am Ende bleibt die Frage nach dem Weiblichen, dem Mütterlichen in mir.

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Nachgedanken Mit diesem letzten, im Brief aufgezeichneten Traum war die Analyse nicht beendet. Sie wurde noch über ein gutes Jahr fortgesetzt, ehe sie mit einem für den Briefschreiber und seinen Analytiker befriedigenden Ergebnis abgeschlossen wurde. Es ging mir nicht darum, eine Analyse in ihrem vollständigen Verlauf darzustellen, sondern die Bedeutung dieser Träume in einem prozesshaften Geschehen erfühlbar zu machen. Schauen wir noch einmal zurück auf die Details, die uns durch die Briefe und die in ihnen wiedergegebenen Träume bekannt geworden sind, so bemerken wir ohne Zweifel, dass viele der in ihnen aktualisierten innerseelischen Konflikte durchaus zu verstehen sind als solche, wie sie Sigmund Freud in seinen Vorlesungen zur Psychoanalyse beschrieben hat. Es geht also auch um Fragen des Schicksals der Libidoentwicklung, also der psychosexuellen Identitätsentwicklung, der Triangulierung und der damit verbundenen Gefühle von Schuld und Scham. Die hier berichteten Träume berühren mehrfach den Konflikt von Triebwunsch und Kultur. Dies wird am deutlichsten erkennbar in den ersten zwei Träumen, die von der Orientierung des Kindes im Umfeld von Eltern und Geschwistern berichten, und im dritten Traum, in welchem nahezu unverhüllt das Inzestthema angesprochen wird. Aber es ging in dieser Analyse um mehr. Es ging um das Verstehen eines diesen Konflikten übergeordneten Lebensgesetzes, an dem sich die Sinnsuche des Patienten brach. Von Alfred Adler lernten wir, dieses Lebensgesetz als final ausgerichtete Lebensbewegung zu verstehen. »Ein Mensch wüsste nichts mit sich anzufangen, solange er nicht nach seinem Ziel gerichtet ist. Wir sind nicht in der Lage zu denken, zu fühlen, zu wollen, zu handeln, ohne dass uns ein Ziel vorschwebt, denn alle Kausalitäten genügen dem Lebensorganismus nicht, das Chaos des Zukünftigen zu bewältigen und die Planlosigkeit, deren Opfer wir wären, aufzuheben. Alles Tun verharrte im Stadium eines wahllosen Herumtastens, die Ökonomie 164

des Seelenlebens bliebe unereicht, ohne jede Einheitlichkeit« (Adler 1913/1974, S. 2). Eine bis ins Spirituelle, bis ganz in die Nähe religiöser Sinnsuche reichende Erweiterung erfährt diese finale Betrachtungsweise bei C. G. Jung. In seinem vierten Brief bezieht sich der Träumer ausdrücklich auf Jungs analytische Psychologie. In seinem Buch »Bewusstes und Unbewusstes« schreibt Jung bezugnehmend auf die Traumarbeit und das Ziel der Sinnsuche mancher Patienten: »Der Weg zum Ziel ist zunächst chaotisch und unabsehbar, und nur ganz allmählich mehren sich die Anzeichen einer Zielgerichtetheit. Der Weg ist nicht gradlinig, sondern anscheinend zyklisch. Genauere Kenntnis hat ihn als Spirale erwiesen: die Traummotive kehren nach gewissen Intervallen immer zu bestimmten Formen zurück, die ihrer Art nach ein Zentrum bezeichnen«, und an anderer Stelle fährt er fort: »Man könnte solche spiraligen Verläufe mit Wachstumsvorgängen bei Pflanzen in Parallele setzen ... (1957, S. 81f.). Jung äußert die Vermutung, »dass es in der Seele einen von äußeren Bedingungen sozusagen unabhängigen, zielsuchenden Prozess« gebe (S. 81f.). Vielleicht könnte das ja der Sinn von Psychoanalyse überhaupt sein, dort, wo dieser Suchprozess durch innerpsychische Blockaden oder finale Determinierungen verstellt ist, den Weg dieser ganz natürlichen und individuellen Suchbewegung wieder zu öffnen.

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III. Teil: Traum und Tagtraum

Tagträume in tiefenpsychologischer Sicht Ein Patient, dessen Lebensstil geprägt war durch die Erfahrung, der Jüngere von zwei Brüdern zu sein und deswegen ständig zu erleben, dass er »nur der Kleine« war, verneinte die Frage, ob es ihm wichtig sei, mehr zu gelten als andere, ganz entschieden. Er sagte: »Das passt überhaupt nicht in mein Weltbild, ich bin eher ein bescheidener Mensch.« Gleichzeitig schob er zwei Einfälle nach. Er erzählte: »Mir klingt noch die Frage der Mutter im Ohr: ›Kann der Kleine das überhaupt?‹ Das verletzte mich immer aufs Neue tief.« Zweitens berichtete er über einen Tagtraum, den er früher oft in mancherlei Variationen wiederholte: »In meinen Tagträumen malte ich mir aus, dass ich größer und stärker sei als mein Bruder, und überhaupt, dass ich ein Erfinder sei, der alle anderen übertreffe und mitleidig auf sie herabschaue.« Mein Patient hatte mit seiner Schilderung von dem ihm bewussten Erleben seiner Realität einerseits Recht. In seinem alltäglichen Leben trat er auf als ein bescheidener Mann, der die Kollegen sich um Ämter und Ehren streiten ließ. Er selbst schaute nur zu und verzichtete – wie er sagte – auf den »billigen« Wettkampf. Andererseits enthüllt sein Tagtraum das – von ihm zum Bewusstsein nicht zugelassene – Ziel, mehr zu gelten als andere. Er erreichte das im realen Leben durch eine Entwertung der Ziele der anderen. Die Lösung war aber offenbar nicht befriedigend für ihn. Die Bescheidenheit, die er sich abverlangte, forderte ihren Preis. Er bekam ein Zwölffingerdarmgeschwür. Durch die Krankheit drückte er aus, wie sehr die Erfolge der anderen ihn kränkten. Er blieb immer stecken in der Position des kleineren Bruders, der die Erfolge des Älteren mit – uneingestandenem – Neid beobachtete. Seine Rationalisierungen erinnern stark an 167

La Fontaines Fabel »Vom Fuchs und den sauren Trauben«. Unverhüllter – nämlich befreit von der Last, sein Selbstbild ständig stabil zu halten – äußert sich sein Lebensstil in den geschilderten Tagträumen. In ihnen war er der größere Bruder, der von allen unerreichte Erfinder, der auf die anderen herabschauen konnte. ■ Auch der Tagtraum folgt einer finalen Leitlinie, die aus einer Minussituation in eine Plussituation führt. Weil wir in ihnen so ungehemmt, fern von jeder Realität, unseren Fiktionen frönen können, sind uns unsere Tagträume oft so peinlich. Wir verwahren sie in uns als ein Geheimnis. Sie werfen auch ein Schlaglicht auf das Problem des so genannten Unbewussten, das sehr oft ein geheimes Wissen ist, das wir nur nicht wahrhaben wollen. Walter Toman definiert: »Tagträume und Phantasien helfen einer Person, die Belastungen begehrter, aber noch nicht erreichter Zielzustände zu ertragen und die Zielzustände selbst nicht aus den Augen zu verlieren« (1978, S. 213). Dieser Beschreibung von Tagträumen kann der Individualpsychologe zustimmen, denn sie erfasst exakt die finale Leitlinie, der jeder Tagtraum genau so folgt wie der Traum oder sonstige Ausdrucksformen des Menschen. Die Psychoanalyse entdeckte die Tagträume und bis heute spielen diese freien Phantasiegebilde in der Realität tiefenpsychologischer Therapie eine wichtige Rolle. Sucht man dagegen in den Werken von Freud und Adler nach Hinweisen auf eine tiefer gehende Erforschung des Sinnzusammenhangs von Phantasien und Tagträumen mit dem Ganzen des Lebensplans eines Menschen, so fallen die Ergebnisse eher bescheiden aus. Mit Recht bemerkt J. L. Singer kritisch: »Gleichzeitig herrschte innerhalb der Psychoanalyse und verwandter Ansätze ein seltsamer Mangel an Interesse, die strukturellen Besonderheiten von Phantasie, Tagträumen und Affekten im einzelnen zu erforschen. Man sucht in der breiten psychoanalytischen Literatur vergeblich nach sorgfältigen Analysen der funktionellen Rolle der Phantasie innerhalb des gesamten senso168

risch-motorischen Apparates oder, allgemeiner, der Persönlichkeitsstruktur. Die Phantasie wird im allgemeinen vorwiegend auf ihren Inhalt hin und als Manifestation eines Konflikts oder einer Abwehr untersucht« (1974, S. 43). Freud äußert über Tagträume: »Es sind Szenen und Begebenheiten, in denen die egoistischen Ehrgeiz- und Machtbedürfnisse oder die egoistischen Wünsche der Person Befriedigung finden« (1916–17, S. 114). In mehreren Publikationen Adlers finden sich Entwürfe eines »Individualpsychologischen Fragebogens« zur Erfassung des Lebensstils, so auch in dem Buch »Der Sinn des Lebens«. Die Frage nach Tragträumen finden wir unter dem Oberbegriff Interessen: »Lieblingsspiele? Lieblingsfiguren aus Geschichten und Dichtungen? Stört er gerne die Spiele anderer? Verliert er sich in Phantasien? Denkt er nüchtern und lehnt Phantasien ab? Tagträume?« (1933, S. 200f.). Er ordnet also in diesem Fragebogen Tagträume eher den unnützlichen Phantasien zu. Tatsächlich äußerte Adler mehrfach, dass das Begehen von Heldentaten in Tagträumen auf einen Mangel an Mut im realen Leben hindeute. Das ist sicher nicht unrichtig. Jedoch möchte ich darauf hinweisen, dass auch der nur im Tagtraum phantasierte Mut unter Umständen ein sehr wichtiges Stück Mut des Phantasierenden ist. Hier kann die Ermutigung der Therapie ansetzen. Zweifellos ist der Tagtraum der Dichtung verwandt. Er ist ja eine erfinderische Umgestaltung der Realität in der Phantasie. Um den Tagtraum und seine Spannung zur Realität besser verstehen zu können, halte ich es daher für nützlich, vor allen weiteren Untersuchungen eine Textstelle aus der schönen Literatur wie einen Tagtraum zu betrachten. Wir wählen dafür einen kleinen Abschnitt aus »Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke« des jungen Rainer Maria Rilke. Das Thema dieses Dichters war immer sein Angerührtsein von der Verlorenheit des Menschen in einer lauten und kranken Welt, wie er sie in einem seiner Gedichte nannte. So träumt er sich hinein in das kurze Leben eines fernen Vorfahren, besingt es und identifiziert sich mit seinem Cornet. Ich zitiere: »Der von Langenau ist tief im Feind, aber ganz allein. Der 169

Schrecken hat um ihn einen runden Raum gemacht, und er hält, mitten drin, unter seiner langsam verlodernden Fahne. Langsam, fast nachdenklich schaut er um sich. Es ist viel Fremdes, Buntes vor ihm. Gärten – denkt er und lächelt. Aber da fühlt er, daß Augen ihn halten und erkennt Männer und weiß, daß es die heidnischen Hunde sind –: und wirft sein Pferd mitten hinein. Aber, als es jetzt hinter ihm zusammenschlägt, sind es doch wieder Gärten, und die sechzehn runden Säbel, die auf ihn zuspringen, Strahl um Strahl, sind ein Fest. Eine lachende Wasserkunst« (1906/1975, S. 247). Dieser Text ist zu verstehen wie ein Tagtraum, und er folgt auch der von uns vermuteten finalen Linie eines Tagtraums. Rilke versucht in ihm, sein eigenes Geworfensein in eine als unzärtlich erlebte Welt und sein Ausgeliefertsein an den Tod poetisch zu überwinden. Er setzt gegen die Realität von Brutalität und Tod die Erinnerung an die Schönheit von Liebe und Gärten. Wenn wir es individualpsychologisch ausdrücken wollen, so versucht Rilke in seinem Text sein kosmisches Minderwertigkeitsgefühl kompensatorisch zu überwinden. Seine Dichtung steht hier im gleichen Spannungsverhältnis zu der – von ihm so erlebten – Realität dieser Welt wie der Tagtraum. Ich behaupte, dass Tagträume die gleiche Funktion haben, die Dichtung auch haben kann; sie sind der phantasierte Versuch der Kompensation einer das Selbstwertgefühl kränkenden Realität. Dabei steht offenbar der Tagtraum – anders als der Traum – einer romanhaft erzählenden Dichtung näher als etwa dem Drama oder dem Gedicht. Stärker als im Traum, in dem der Konflikt durch das aus dem Unterbewussten zur Oberfläche drängenden Material vorgegeben ist, verfügt der Tagträumende über alle Freiheit der Phantasie, die ungeliebte Realität in Richtung auf seine Fiktionen zu verändern. Daher kommt es wohl auch, dass der Tagträumer durchschnittlich häufiger das Mittel der direkten Selbstwerterhöhung einsetzt, während wir im Traum öfter dem Mittel der Entwertung zur Abwehr einer Gefährdung des Selbstwertgefühls begegnen. Eine Ausnahme hiervon macht der gelenkte Tagtraum, der 170

durch ein vom Therapeuten angegebenes Vorstellungsmotiv angeregt wird. Das in ihm provozierte Material ähnelt – wie ich später noch zeigen werde – mehr dem des Traums. Die das Selbstwertgefühl bedrohenden Kräfte aus der realen Welt können in ihm nicht so spielerisch bewältigt werden wie in der ganz freien – nur der subjektiven Logik folgenden – Tagtraumphantasie. Der gelenkte Tagtraum nimmt also eine Zwischenstellung zwischen Traum und Tagtraum ein. Betrachten wir auf diesen Gedankengang hin Rilkes Text noch einmal näher, so bemerken wir, dass auch hier dieser der Realität stärker ausgeliefert bleibt als etwa der Tagtraum eines neurotischen Menschen. Dies macht die Qualität von Dichtung aus, dass sie der Realität nicht entfliehen, sondern sie bewältigen will, dass sie also nicht an der privaten Logik orientiert ist, sondern am Common sense. Die Chance der Arbeit am Tagtraum liegt darin, den Tagträumenden zu ermutigen, seine Kraft, Bilder zu erfinden, stärker in Richtung seiner gemeinschaftlichen Verbundenheit auszurichten als auf die private Logik. ■ Der Tagtraum ähnelt einer erzählenden Dichtung, in welcher der Tagträumende die Realität in Richtung seiner subjektiven Logik verändern kann. Er enthält die Kraft des Verändernwollens. Aber tun wir dem eingangs erwähnten Tagtraum unseres Patienten nicht zuviel Ehre an, wenn wir ihn mit Rilkes poetisch-sensiblem Gebilde vergleichen? Gewiss, er ist aus einem sehr viel gröberen Stoff gewebt. Aber auch aus Traumstoff. Auch er ist der Versuch, eine kränkende Minderwertigkeit in der Phantasie zu überwinden. Der Tagtraum folgt der Fiktion der Überlegenheit. Aber wir verstehen den Träumenden nur, wenn wir den Gegensatz zwischen der existenziellen Bedrohung sehen, die in unserem Tagtraumbeispiel in der immer wiederholten Erfahrung liegt, der Kleine zu sein, und dem Wunsch, groß zu sein. Wir verstehen ihn richtig als den einzigen Lösungsversuch, den die subjektive Wahrnehmung den Patienten in seiner damaligen Situation sehen ließ. Das heißt, wir werden dem Tagtraum nur gerecht, 171

wenn wir das Zusammenspiel einer den Tagtraum provozierenden Kausalität und der finalen Antwort des Träumenden wahrnehmen. Jemand erzählte mir, dass er sich täglich beim morgendlichen Duschen in genussreiche Tagträume verliere. Einer lautete etwa so: »Ich trat vor der UNO auf. Ich hielt eine flammende Rede gegen das Unrecht, das ich darin sehe, dass die reichen Länder den armen Ländern stets statt Entwicklungshilfe und Brot Kriegstechnologien und Waffen verkaufen, die sie nicht brauchen und die ihre Armut nur vermehren. Ich sprach so leidenschaftlich und so überzeugend, dass mir am Ende die Abgeordneten stehend applaudierten. Ich beendete nach solch einem Tagtraum die Duschzeremonie mit einem befriedigten Gefühl, das mich den ganzen Tag begleitete.« Dieser Tagtraum befriedigt unverkennbar auch eine Eitelkeit des Träumenden. Aber das Gefühl der Ohnmacht, die hier in der Phantasie überwunden wird und die als ein Leiden an der Unfähigkeit von uns Menschen erlebt wird, diesen Erdball zu einem wohnlicheren Ort zu machen, empfinden wir alle täglich neu. Noch etwas begegnet uns in diesem Tagtraum, was wir aus Träumen schon kennen: Er erzeugt ein Gefühl, das den Träumer in den Tag begleitet. Also auch der Tagtraum hat die Funktion, einen bestimmten Affekt in uns zu erzeugen. ■ Traum und Tagtraum ist es gemeinsam, dass sie einen den Tag begleitenden Affekt in uns erzeugen können. Wir begegnen also im Tagtraum – ähnlich wie im Traum – einer Fähigkeit des Menschen, Schwierigkeiten, die sich dem geheimen Lebensstil entgegenstellen, in phantasierten Bildern zu überwinden. Und wie im Traum sehen wir auch im Tagtraum diesen Lebensstil unverhüllt und meist bezogen auf den Konflikt zwischen subjektiver Finalität und der Realität des heutigen Tages. Wollen wir Phänomene wie Traum und Tagtraum wirklich verstehen, müssen wir lernen, sie nicht nur in einem Prozess kognitiven Denkens entschlüsseln zu wollen, sondern uns in einer 172

Art phantasierender, bildverstehender Einfühlung in sie zu versenken. Ich glaube, dass J. L. Singer Recht hat, wenn er sagt, »daß es für die psychotherapeutische Praxis ungeheuer wichtig sei, sich auf die Imagination des Klienten und dessen Fähigkeit zum Tagträumen verlassen zu können und daß bezüglich dieser imaginativen Fähigkeit der Nachweis erbracht werden kann, daß es sich dabei um grundlegende Prinzipien menschlicher Informationsverarbeitung und Emotion handelt, die sich der exakten wissenschaftlichen Forschung nicht entziehen« (1974, S. 9). C. G. Jung hat mit seiner Technik der aktiven Imagination der Tiefenpsychologie eine wertvolle Anregung zu einer kreativeren Art des Umgangs mit Träumen und Tagträumen gegeben. Jung ging von der Überzeugung aus, dass wir in uns Metaphern und Symbole tragen, in denen sich die kulturelle Erfahrung unserer Vergangenheit und die unserer Vorfahren widerspiegelt. Nach Jungs Auffassung sind die im Traum auftretenden Bilder und Symbole gewissermaßen Wegzeichen in die Tiefenschichten des Unbewussten. In der aktiven Imagination nutzt er die Fähigkeit des Menschen zum Tagträumen, indem er den Analysanden die Bilder des Traums nacherleben lässt und mit ihm gemeinsam zu einem vertieften Verständnis des eigentlichen Kerns des Traums – verstanden im System Jungs – zu kommen versucht. C. G. Jungs Gedanken über Traum, seine Anregungen, die Fähigkeit des Träumers zu imaginieren zu nutzen und schließlich sein kenntnisreiches Nachdenken über Symbole als einer Bildersprache, die tief in der Kulturgeschichte der ganzen Menschheit verwurzelt ist, bedeuten für jeden Psychologen eine wichtige Erweiterung der Denk- und Deutungsansätze. Obwohl auch ich den Menschen aus seiner Verbundenheit mit der Gemeinschaft aller Mitmenschen verstehe, sehe ich in ihm ebenso sehr das unwiederholbare und nicht austauschbare Individuum. Ich sehe daher auch in seinen Ausdrucksformen wie Träumen und Tagträumen und den in ihnen vorkommenden Symbolen und Bildern zwar durch die Kultur, der er auf seinem Lebensweg begegnete, angeregte, doch unvertauschbare Produk173

te seiner eigenen Schöpfung. Ich bleibe daher bei meiner These, dass die im Traum wie im Tagtraum auftretenden Symbole nur auf dem Hintergrund des individuellen Lebensstils zu verstehen sind. Eine der fruchtbarsten Folgen der anregenden Gedanken Jungs im europäischen Kulturraum war sicherlich die Entwicklung von Techniken des gelenkten Tagtraums als diagnostisches und therapeutisches Mittel der Psychotherapie. Ich denke hier an den gelenkten Wachtraum von Robert Desoille, an die Omisotherapie von Frétiguy und Virsch und an das katathyme Bilderleben von Hans Carl Leuner. Das katathyme Bilderleben ist vielleicht das ausgefeilteste, zumindest aber das im deutschen Sprachraum bekannteste Verfahren. Leuner schreibt dazu: »Das katathyme Bilderleben geht als eine Tagtraumtechnik von zwei Prämissen aus: 1. daß das Erleben des Menschen – und sei es auch nur in der Phantasie – und die damit verbundene Freisetzung emotionell-affektiver Impulse gemäß der jeweiligen individuellen Bedürfnisse eine intensive, d. h. tiefgreifende Auseinandersetzung mit sich selbst zur Folge hat; 2. daß diese phantasiegetragene Auseinandersetzung unter den empirisch gewonnenen Einsichten der Tiefenpsychologie zu betrachten und am besten aufzuschlüsseln ist. Daraus ergeben sich nicht nur konzeptionelle, sondern auch technisch-therapeutische Konsequenzen« (Leuner et al. 1977, S. 9). Der ersten Prämisse Leuners kann ich voll zustimmen. Der zweiten Prämisse begegne ich zurückhaltender. Sie ist aus meiner Sicht nur dann richtig, wenn sich Leuner dabei nicht zu eng an den kausal-deterministischen Ansatz der Psychoanalyse bindet. ■ Der Individualpsychologe wird auch im gelenkten Tagtraum vor allem das Ziel suchen. Auch der gelenkte Tagtraum ist geformter Ausdruck des Menschen unter dem Gesetz der Finalität des Lebensstils. Leuners katathymes Bilderleben, auch Symboldrama genannt, 174

knüpft an die unstrukturierten Methoden des Bildstreifendenkers von Kretschmer und die Anleitungen Happichs an. Der Patient wird aufgefordert, in einem entspannten Zustand – der durch das autogene Training nach Schulz erreicht werden kann –, einer vorgegebenen Vorstellung folgend, seinen phantasierenden Projektionen freien Lauf zu lassen. Das Verfahren dient der Übung der Phantasie, der Hervorbringung diagnostischen Materials, der Konfrontation mit Symbolen, der assoziativ vorgehenden Aufarbeitung des gewonnenen Traummaterials und der analytischen Aufarbeitung. Den Kernpunkt der Methode bildet die Konfrontation mit den in den Motiven vorgegebenen Symbolen. Leuner benutzt zehn kardinale Vorstellungsmotive: die Wiese, Aufstieg auf den Berg, Verfolgung des Bachlaufs, das Haus, die Begegnung mit Beziehungspersonen, sexuelle Szene, das Motiv des wilden Tieres, Ich-Ideal, das Motiv des dunklen Walds, das Motiv des Moors. In zwei Punkten erscheint mir das Symboldrama als anregend. Erstens – das belegen auch meine Erfahrungen – ist es geeignet, eine erstaunliche Fülle von Bildern hervorzubringen. Auf Gefahren hierbei machen Leuner und seine Schüler selber aufmerksam. Sie liegen darin, dass es zu einer nicht unmittelbar zu verarbeitenden Überschwemmung mit Bildern kommen könnte. Edda und Horst Alfred Klessmann meinen hierzu: »In der Regel wird jedoch nicht mehr Bildmaterial produziert, als jeweils verkraftet werden kann« (Leuner et al. 1977, S. 65). Dennoch erscheint es mir wichtig, darauf hinzuweisen, dass bei der Anwendung der Technik des katathymen Bilderlebens – auch in Kursen – immer die Möglichkeit einer analytischen Aufarbeitung garantiert sein sollte. Zweitens eröffnet das Symboldrama die Möglichkeit, stützend in den Tagtraum einzugreifen und dadurch unmittelbar therapeutisch tätig werden zu können. Kritisch merke ich an, dass die von einem an der klassischen Psychoanalyse und der jungschen Auffassung der Symbole orientierten und sehr rigiden Vorstellungsmotive geeignet sein können, den Patienten allzu einseitig auf die Apperzeption des Therapeuten festzulegen. In meiner Tätigkeit als Psychothera175

peut und als Lehranalytiker hatte ich häufig Gelegenheit, durch das katatyme Bilderleben provozierte, aber unverarbeitet gebliebene Wachträume – übrigens häufig solche, die den Träumer sehr erschreckt hatten, wie etwa der von der aufblühenden Blume, die plötzlich verwelkt und zu Asche verfällt – mit dem Analysanden aufzuarbeiten. Es bestätigt sich für mich immer wieder, dass der Analysand ganz unter dem Gesetz seiner Finalität geträumt hatte und dass die geschilderten Traumphantasien einer individualpsychologischen Aufarbeitung zugänglich waren. Ein Beispiel aus dieser Arbeit soll belegen, dass sich das katathyme Bilderleben zwar einerseits durchaus sinnvoll in eine individualpsychologische Therapie einordnen lässt, warum ich ihm aber andererseits dennoch mit Zurückhalten begegne. Eine Psychologin, die in der individualpsychologischen Lehranalyse schon recht weit fortgeschritten war, erzählte, nachdem sie an einem Kursus zur Einführung in das katathyme Bilderleben teilgenommen hatte, das folgende Tagtraumerlebnis. Es handelte sich um die Übung »Verfolgung eines Bachlaufs«. Der Übende wird dabei aufgefordert, sich einen Bach vorzustellen und dessen Lauf zu folgen, entweder abwärts zur Mündung oder aber aufwärts steigend der Quelle zu. Die Psychologin berichtete: »Ich beschloss, dem Bach zunächst abwärts zur Mündung zu folgen. Er wurde bald breiter, aber das Wasser war trüb und es war mir unangenehm, darin zu waten. Es war aber am Ufer auch kein Weg, auf dem ich hätte weitergehen können. An einem Nussbaum machte ich Rast, aß einige Nüsse und beschloss dann, zum Ausgangspunkt meiner Wanderung zurückzukehren. Von dort stieg ich dann dem Bachlauf folgend aufwärts und kam schließlich zur Quelle. Ich wunderte mich darüber, dass die Quelle kein Bett hatte, sondern dass das Quellwasser einfach so – über braune Tannennadeln fließend – aus der Erde stieg. Ich war enttäuscht darüber, dass dort keine Blumen wuchsen und keine Erdbeeren. Ich sah aber ein Vogelnest mit Eiern darin und ein Spinnennetz. Ich badete meine Füße in dem Quellwasser. Ich sah, dass der Wald, der die Quelle umgab, warm war und gemütlich. Später folgte ich dem Bach wieder abwärts. Dort, wo er brei176

ter wurde, stieß ich auf ein Boot, das war leuchtend rot und es saßen Leute drin. Ich stieg ein und wir ruderten weiter flussabwärts. Der Fluss mündete in einen schilfumstandenen See, und ich dachte: ›Es ist gut, dass du den Weg nicht allein gegangen bist.‹« Dieses phantasierte Bild verrät deutlich, dass die Träumerin weite Strecken einer individualpsychologischen Analyse hinter sich gebracht hat. Das anfängliche Unbehagen, im trüben Wasser zu waten, verstand sie als eine Art Widerstand dagegen, durch die Vorgabe auf ein Konzept festgelegt zu sein, aber auch dagegen, diesen Weg allein gehen zu wollen. Zweimal kommt in dem Tagtraum das Motiv des Essens vor – sie aß die Nüsse, sie vermisste die Erdbeeren –, es steht für Zuwendung, für den Wunsch, nicht allein zu sein, an der Quelle für den Wunsch nach der Zuwendung der Mutter. Der Weg zur Quelle führt sie noch einmal zurück in die früheste Kindheit. Im Nachhinein spürt sie einen Mangel, das war in der Analyse deutlich geworden. Sie war die älteste von vier Geschwistern. Nach ihr kamen drei Brüder. Als sie geboren wurde, sei die Mutter enttäuscht darüber gewesen, dass sie »nur« ein Mädel war. Im Nacherinnern vermisst sie etwas von warmer Geborgenheit. Das Nest mit den Vogeleiern ist das Nest, aus dem sie gekommen ist, das Spinnennetz ist der bedrohliche Anteil der Mutter. Aber sie badet die Füße im Bach und der Wald drumherum ist warm. Es war doch Wärme da, die einem Mut machen konnte, den Weg ins Leben zu gehen. Dann sind da die anderen – das leuchtende rote Boot, das einen trägt –, die Gemeinschaft, zu der sie längst gefunden hat. »Es ist gut, dass du den Weg nicht allein gegangen bist.« Der Traum folgt unverkennbar einer finalen Leitlinie. Die abgewendete Gefahr ist die Einsamkeit, die sie in der Vergangenheit – in der Kindheit an der Mutter – oft erlebte, die Lösung liegt in der Zuordnung zur Gemeinschaft. Dieses Beispiel zeigt eindrucksvoll, dass das katathyme Bilderleben sehr wohl geeignet ist, eine Fülle von aus dem Unbewussten aufsteigenden Bildern zu provozieren, die in einer individu177

alpsychologischen Therapie aufgearbeitet werden können. Die Tagträumerin produziert in ihm auffällig viele Symbolbilder, das des Essens stehend für den Wunsch nach Zuwendung, das Spinnennetz als Symbol der bösen und das Vogelnest als das der guten Mutter und schließlich das leuchtend rote Boot als Sinnbild des Wunsches nach Gemeinschaft. Dieser Symbolreichtum verwundert uns nicht. Die Tagträumerin ist eine psychologisch gebildete Frau, die in ihrer vielfältigen Begegnung mit Kultur viele Symbole verinnerlichte. In ihrer Symbolproduktion scheint sie sich einer Tendenz anzupassen, die in Leuners theoretischem System impliziert ist. Unverkennbar erscheint aber auch der Widerstreit zweier Tendenzen in diesem Tagtraum, von denen ich die eine die vom Therapeuten angebotene, psychoanalytische, auf Tagtraumarbeit im System der Aufdeckung abgewehrter Triebimpulse zielende nennen möchte, die andere die von der Träumerin verinnerlichte individualpsychologische, auf Lösungen im Sinne des Gemeinschaftsgefühl zielende. Am Ende setzt sich im Bild des leuchtend roten Bootes – beinahe signalhaft – das individualpsychologische Konzept durch. ■ Aus individualpsychologischer Sicht suchen wir nach einer Methode der Arbeit mit dem gelenkten Tagtraum, die geeignet ist, den Patienten nicht auf ein Schema der Symbolsprache des Analytikers einzuengen.

Der Tagtraum als konkrete Utopie – die Anregungen Ernst Blochs In einem Interview sagte der Maler Oskar Kokoschka: »Es geht um die Erforschung der Imaginationskraft des Menschen. Wenn der Psychiater den Puls daraufhin erfühlen könnte, wie die Phantasie zu retten sei, dann wäre die Welt zu retten.« Dieser Satz umreißt auch unser Problem. Hans Carl Leuner leistete mit sei178

nem Symboldrama einen beachtenswerten Beitrag für eine solche »Rettung der Phantasie«. Unbefriedigt ließ mich die Bindung und Bahnung der Einbildungskraft durch vorgegebene Vorstellungsmotive. Eine wichtige Anregung für ein individualpsychologisches Verständnis der Tagträume und für den Umgang mit ihnen brachte mir die Philosophie Ernst Blochs. Das erscheint nur auf den ersten Blick erstaunlich. Unter allen marxistischen Denkern ist Bloch derjenige, welcher Adler am nächsten steht. Auch er geht von einer Minussituation des Menschen als Ausgangsposition aus; in seinem Werk bezeichnet er sie häufig als Hunger. Das Leben des Menschen in der Geschichte zielt bei Bloch auf Überwindung des Hungers. Er schreibt: »Doch immer bleibt unser Selbst, mit seinem Hunger und dessen variablen Erweiterungen, noch offen, bewegt sich selber erweiternd« (1959/1977, S. 77). Auf die Ähnlichkeit der Strukturen des Denkens von Bloch und Adler habe ich wiederholt aufmerksam gemacht: »Der Philosoph Ernst Bloch beschreibt sein Ich als das eines Suchenden. Dieses Ich findet keine Ruhe bei sich, drängt aus sich heraus. Es ist nicht statisch, sondern dynamisch. Der Arzt und Psychologe Alfred Adler beschrieb die Gangart des Menschen in seiner Bewegung aus einer als Minderwertigkeit erlebten Unvollkommenheit auf eine als Fiktion gesetzte Vollkommenheit zu« (Schmidt 1977, S. 624). Adlers Gedanken – vor allem in seinen frühen Schriften – sind an vielen Stellen nachweisbar angeregt durch Ideen von Karl Marx. Direkt auf ihn berufen hat er sich allerdings nur in einem Vortrag »Zur Psychologie des Marxismus«, den er 1909 in der psychologischen Mittwochgesellschaft bei Professor Freud hielt. In den zwanziger Jahren gab es einen starken marxistischen Flügel der Individualpsychologie. In ihrem Buch »Der Weg zum Wir« (1927) ging Alice Rühle-Gerstel so weit, eine Verschmelzung von Individualpsychologie und Marxismus vorzuschlagen. Das ist aus meiner Sicht nicht möglich. In einem Kommentar zur Neuauflage dieses Buches (1980) führte ich aus, dass Philosophie (oder auch Soziologie) und Psychologie von verschiedenen Aus179

gangspunkten ihrer Untersuchungen ausgehen. Der Philosoph Karl Marx postulierte eine dialektische Gesetzmäßigkeit im Ablauf der Geschichte der Menschen und beschrieb von dieser Position her individuelles Schicksal; Adler untersuchte die seelische Dynamik einzelner Menschen und kam von dort her – im Vollzug einer vergleichenden Psychologie – zur Beschreibung kultureller Phänomene. Die Denkergebnisse beider Männer sind keineswegs deckungsgleich. Die Systeme sind nicht amalgamisierbar. Adler selbst hat sich gegen jede mögliche Ideologisierung seiner Theorie zur Wehr gesetzt. Dennoch bleibt Rühle-Gerstels Aussage richtig: »Der Mut ist eine soziale Funktion. Die Möglichkeit zum Mut stößt bald an die Grenzen der gesellschaftlichen präfomierten Möglichkeiten und kann nur in Zusammenhang mit diesen gefördert werden« (1927/1980, S. 119). Worin bestanden nun die Anregungen, die im Werk Blochs mich als Individualpsychologischen angingen? Erstens war dies eine bestimmte Art des Denkens, die bei Bloch dialektisch ist, präzise und kompromisslos und die gleichzeitig immer das eigene subjektive Betroffensein mitreflektiert. Zweitens waren es Blochs direkte Aussagen zum Tagtraum in seinem Hauptwerk »Das Prinzip Hoffnung« (1959). Für die Struktur seines Denkens steht repräsentativ für mich eine Aussage, die ich der Biographie Ernst Blochs von Silvia Markun entnahm. Diese Aussage wird dem jungen Bloch zugeschrieben: »Es gibt nur Karl May und Hegel, alles dazwischen ist eine unreine Mischung.« Was sagt dieser Satz? Zunächst einmal provoziert er Gedanken in uns selbst. Er steht für eine Kompensation, die einerseits in der geistigen Klarheit Hegels, andererseits in der phantasierten Abenteuerwelt als unentfremdete Menschen erfundener Romanhelden, wie etwa Winnetou, gesucht wurde. Uns fällt Blochs Ausgangssituation ein, er schildert sie so: »Die badische Anilin- und Sodafabrik, der Kern der IG-Farben (hierher verlegt, damit Rauch und Proletariat nicht nach Mannheim bliesen), wurde das buchstäbliche Wahrzeichen der Stadt. Drüben lag das Schachbrett der alten Residenz, heiter und 180

freundlich gebaut wie zu Hermann und Dorotheas Zeiten; hatte statt der größten Fabrik das größte Schloss Deutschlands, vielleicht weniger Wahrzeichen im 19. Jahrhundert, doch eine schöne Dekoration, die der Bourgeoisie Haltung gab, Ludwigshafen dagegen blieb der Fabrikschmutz, den man gezwungen hatte, Stadt zu werden« (Bloch 1935/1977, S. 209). Hier also Ludwigshafen als Symbol des Hässlich-Unfertigen – dies ist das Thema, das er in seinem Werk »Spuren« (1930) Seite um Seite anschlägt –, drüben Mannheim, die vorläufige Möglichkeit von Schönheit. Das bei Bloch schon im frühen Tagtraum Gewollte heißt Überwindung der alltäglichen Wirklichkeit. In Blochs Werk wird es zur gelungenen Kompensation – nämlich zur konkreten Utopie –, indem er es nicht als private Befreiung missversteht, sondern es als mögliche Befreiung des Menschen bedenkt. Er zielt auf das Prinzip Hoffnung. Blochs Satz provoziert auch persönliche Erinnerungen, so diese an einen Fluss in einer Stadt, die heute Ketrzyn heißt. In meiner Erinnerung bleibt er klar und reißend, obwohl ich später die Wirklichkeit wohl wahrnahm, nämlich dass er immer schon ein abwasserüberladenes, schmutziges Flüsschen war. Hier steht bei mir der Realität eine subjektive Wahrnehmungsverzerrung gegenüber, die ich nicht preisgeben will, weil solche Preisgabe den Verrat des Wahrheitsgehalts früherer Tagträume bedeuten könnte. Blochs Satz provoziert die Erinnerung an gelebte Tagträume des Zehnjährigen, der ich war. Es sind Erinnerungen an eine Bande, die wir – angeregt durch den gleichnamigen Indianerhäuptling – den »Texumsehbund« nannten. In ihm wurde – um das Jahr 1940 – jeden Tag nach Schulschluss ein Reich der Freiheit Wirklichkeit, in dem keiner das Objekt des anderen war und keiner den anderen zum Objekt machen wollte. Ich versuche am Beispiel meiner eigenen Erinnerung sinnhaft zu begreifen – und begreifbar zu machen –, welche Möglichkeiten der Überwindung in unserer Fähigkeit tagzuträumen enthalten sind. Psychologie – mindestens eine solche, die auf Psychotherapie zielt – kann nicht wertfrei sein und auch nicht frei von subjektiven Erfahrungsmustern. Wenn wir es leugnen, dass wir 181

in jede Interaktion, auch in das Gespräch über Träume und Tagträume, persönlich eingebunden sind auch als Betroffene, so betrügen wir uns, unter anderem um unseren persönlichen Erfahrungsreichtum. Die gelebten Tagträume des zehnjährigen Jungen, der ich war, waren der instinktiv gesunde Versuch der Kompensation der täglich erlebten Unfreiheit und Fehlen von Gemeinschaft. Das hatte ich schon geahnt im Schrecken der »Kristallnacht« und damals, als die ersten Züge der Kriegsgefangenen durch unsere Stadt getrieben wurden, dass ein Volk, das andersrassige und andersdenkende Menschen erniedrigt, keine Gemeinschaft sein kann. Die scheinbare Flucht ins Spiel war Verarbeitung von Informationen aus einer Welt der falschen und großen Worte, der zackigen Grüße, der vielen Uniformen und der Angst in den Gesichtern der Erwachsenen. Ich lernte später bei Bloch: ■ Der Tagtraum ist die Möglichkeit der Bewahrung der Integrität der Persönlichkeit in einer diese bedrängenden Umwelt. Am Anfang seines Hauptwerks »Das Prinzip Hoffnung« setzt Bloch sich mit den Traumtheorien der Tiefenpsychologie auseinander. Er kritisiert – wie ich meine zu Recht – den Triebansatz der Psychoanalyse als zu partial. Immerhin behandelt er dabei Freud mit einigem Respekt. Jungs Ausweitung des Unbewussten ins »Kollektiv-Urzeitliche« weist er überscharf zurück. Das Werk Alfred Adlers hat Bloch missverstanden als das eines Psychologen, der – »indem er die Libido einfach ersetzt durch einen Machttrieb« – nach seiner Ansicht nur eine neue, schlechtere Variante der Triebpsychologie liefert (Bloch 1959/1977, S. 81). Hier hat Bloch miserabel recherchiert. Er kann eigentlich nur ein Buch von Adler gelesen haben – er zitiert »Über den nervösen Charakter« –, und dies nicht einmal gründlich. Sonst wäre seine Fehlinterpretation des Wortes »Individualpsychologie« als Psychologie des »bürgerlichen« Individuums nicht möglich. Bloch sieht nicht, wie sehr Adler den Menschen als unteilbare Ganzheit begreift – unlösbar auch aus seinen sozialen Beziehungen. Adlers 182

wichtigen Begriff »Gemeinschaftsgefühl« erwähnt er überhaupt nicht. Bloch bedauert, dass nirgends in der Tiefenpsychologie das Unbewusste als das »Noch-nicht-Bewusste« erscheint, das in die Zukunft weist. In Adlers Auffassung vom Gemeinschaftsgefühl – ebenso wie im finalen Verständnis der Ausdrucksphänomene des Menschen wie Kindheitserinnerung, Traum und Tagtraum – hätte er es finden können als ein Wissen darum, dass erst die Zuordnung des eigenen Strebens zum Lebensstrom der Mitmenschen diesem eigenen Streben einen Sinn gibt. Was Adler mit Macht meint, das ist Bloch sehr nahe; es ist das Herauswollen aus der Ohnmacht. Bloch schreibt, dass der Selbsterweiterungstrieb – der auf ein Noch-nicht-Bewusstes, ein in der Vergangenheit nie bewusst und nie vorhanden Gewesenes zielt – letztlich dem Hunger entspringt: »Aus dem ökonomisch aufgeklärten Hunger kommt heute der Entschluss zur Aufhebung aller Verhältnisse, in denen der Mensch ein unterdrücktes und verschollenes Wesen ist« (Bloch 1959/1977, S. 84). Diese Aussage kommt dem dialektischen Ansatz Adlers ganz nahe. Beide geben den Menschen in der Bewegung aus der erlebten Unvollkommenheit – die Adler zum Beispiel im Gesundheitsbuch für das Schneidergewerbe (s. S. 18) auch als soziale Minderwertigkeit begreift – zur gewünschten, geträumten, utopischen Vollkommenheit, die nach Adlers Meinung immer nur gedacht werden kann – dort, wo sie konkrete Utopie ist – als Vollkommenheit der Gemeinschaft, nicht aber als die des Einzelnen. Wenn Bloch Hunger sagt, dann meint er natürlich immer auch den Hunger des Jungen, der er war und der in der Goldgräberstadt der ersten industriellen Revolution, Ludwigshafen, aufwuchs, den Hunger nach Gerechtigkeit und nach Schönheit. Und wo Adler Macht sagt, meint er – als geträumte Potenz des Ohnmächtigen – nicht nur die krude Macht über die anderen, sondern auch die Macht, Gerechtigkeit und Schönheit zu schaffen, oder dort, wo Einsamkeit die erlebte Ohnmacht war, die Macht, Liebe zu erzwingen. Es kann aber auch die Macht sein über die Kräfte, denen er ausgeliefert ist, so zum Beispiel die – ausgeführt 183

in Adlers Aufsatz »Ein Beitrag zur Psychologie der ärztlichen Berufswahl (1914) –, den Tod zu besiegen. Adler sagt hier über sich – anspielend auf eine Kindheitserinnerung, in der ein Friedhof vorkam, den er täglich auf seinem Schulweg überqueren musste und der, wie er später mit Erstaunen erfuhr, auf diesem Weg gar nicht vorhanden war: »Sie (die Kindheitserinnerung) sollte mir ähnlich wie in anderen Lebenslagen zeigen, dass man den Tod und die Todesangst überwinden könnte, dass es ein Mittel geben müsse, und dies wirkte wie ein kraftvoller Zuspruch, dass es mir gelingen könnte, in schwierigen Lebenslagen ein solches Mittel gegen den Tod zu finden. So kämpfte ich gegen meine Kindheitsfurcht, so bin ich Arzt geworden und so sinne ich auch jetzt noch Problemen nach, die mich gemäß dieser psychischen Eigenart anziehen« (Adler 1914/1973, S. 184). Wie nah war Adler auch hier Bloch, von dem uns ein Zuhörer damaliger Tage erzählte, dass er in einem seiner letzten Vorträge äußerte, dass er doch nun endlich dem Tod hinter die Schliche kommen wolle. Ich stelle mir vor, wie fruchtbar es gewesen wäre, diese beiden Männer, der Philosoph Bloch und der Psychologe Adler, die sich in der Dynamik ihrer Weltwahrnehmung und ihres Denkens so ähnlich waren, wären in ein Gespräch miteinander gekommen. Bloch schreibt: »Das Opium erscheint dem Nachttraum zugeordnet, das Haschisch dem in Freiheit schweifenden, schwärmenden Tagtraum. Auch im Haschischrausch wird das Ego wenig alteriert, weder das individuelle Naturell noch sein Verstand werden hier eingezogen. Die Außenwelt ist zwar abgeriegelt, doch keineswegs wie im Schlaf, gar Opiumschlaf ganz, sondern nur insoweit, als sie zu den erscheinenden Bildern nicht passt, als ihre Dreinrede nur dumm erscheint, mitleiderregend dumm« (Bloch 1959/1977, S. 89). Tatsächlich hat Bloch den Tagtraum schärfer, in der Abgrenzung gegen den Schlaftraum deutlicher und im Ganzen positiver wahrgenommen als Freud und Adler. Wenn dieser schreibt: 184

»Kriegsphantasien, Heldentaten, Rettung von hochstehenden Personen weisen in der Regel auf ein tatsächliches Schwächegefühl hin und sind im Leben durch Zaghaftigkeit und Schüchternheit ersetzt« (Adler 1933, S. 163), so ordnet er wohl den Tagtraum vorerst noch mehr den unnützlichen Kompensationsversuchen zu als der kreativen Kraft des Menschen. Adler hat dem Tagtraum nicht jene Aufmerksamkeit gewidmet wie etwa den frühesten Kindheitserinnerungen. Daher kommt es wohl, dass er etwas Wichtiges übersehen hat, die Tatsache nämlich, dass der im Tagtraum enthaltene Mut eben auch ein Mut des Träumers ist, der nutzbar gemacht werden kann, wenn er von der Fiktion auf das reale Sein ausgerichtet wird. Bloch ergänzt ihn hier und seine Tendenz der Wahrnehmung liegt ganz auf der Linie der Finalität Adlers. Früheste Kindheitserinnerungen und Tagtraum sind Ausdruckphänomene des Menschen, die nah beieinander gesehen werden müssen. Man könnte Adlers Kindheitserinnerung von der Überquerung des Friedhofs auf dem täglichen Schulweg wie einen Tagtraum betrachten. Adler selbst bezeichnet ihn als eine Dichtung seiner Phantasie. In ihr hat er die »Kraft des Zuspruchs« erkannt, die darin enthalten war. ■ Der Tagtraum entspringt einer Kraft des Menschen zur Imagination. In ihm waltet die Phantasie freier als im Traum. Er steht der Realität näher und dichtete diese um nach dem Gesetz der Finalität des Lebensstils. Ich füge hinzu, dass der gelenkte Tagtraum – wie ich an Beispielen noch vertiefend zeigen werde – eine Zwischenstellung zwischen Tagtraum und Traum einnimmt. Im Tagtraum enthüllt sich das Ziel. In den gelenkten Tagtraum dringen oft Impulse aus tieferen Schichten des Unbewussten. Um noch einmal ganz deutlich zu machen, welchen Sinn der von mir geführte Dialog zwischen Individualpsychologie und der Philosophie Ernst Blochs für ein Verständnis der Tagträume hat, schlage ich ein gedankliches Experiment vor. Wir stellen uns 185

vor, Bloch hätte Adler in einem (fiktiven) Brief einige seiner Gedanken über den Tagtraum mitgeteilt, etwa so: Geehrter Herr Adler! Also findet sich das Ich im wachen Traum recht lebhaft, auch strebend vor. Es ist besonders eng und grundfalsch, wenn Freud über die Tagträume bemerkt, sie seien alle solche von Kindern, sie seien nur mit einem unerwachsenen Ich versehen. Wohl wirken in ihnen Erinnerungen an ein misshandeltes Kinder-Ich gegebenenfalls mit, auch infantile Minderwertigkeitskomplexe, aber sie machen nicht den Kern aus. Der Träger der Tagträume ist erfüllt von dem bewussten, bewusst bleibenden, wenn auch verschiedengradigen Willen zum besseren Leben, und Held der Tagträume ist immer die eigene erwachsene Person. Was dem Tagtraum, besonders in der Fahrt ins Ende, wesentlich ist: Ernst eines Vorscheins von möglich Wirklichem. Mit freundlichen Grüßen Ihr Ernst Bloch Dieser Brief wurde selbstverständlich, aber auch bedauerlicherweise niemals geschrieben. Ich habe ihn aus Zitaten aus dem Buch »Das Prinzip Hoffnung« zusammengesetzt (1959/1977, S. 101 u. 109). Adler hätte der finalen, der in die Zukunft weisenden wahrnehmenden Betrachtungsweise Blochs zum Tagtraum durchaus zugestimmt. Er hätte wahrscheinlich aber auch darauf aufmerksam gemacht, dass vor allem egozentrische, dem Common sense zuwiderlaufende und dem Tagträumer deshalb peinliche Anteile der Persönlichkeit in ihnen ungehemmter zum Ausdruck kommen können. Er hätte Bloch mit seiner Auffassung von Regression bekannt gemacht, dass er in ihr einen Rückgriff sähe auf überwundene Vorstellungs- und Handlungsmodelle der Kindheit und nicht ein Zurücksinken; dass also der Erwachsene in der Regression nicht zum Kind werde, sondern als ein Erwachsener 186

fühle und handele wie damals als Kind, und dass dieser Tatbestand im Tagtraum häufiger zu beobachten sei. Blochs letzter Satz hätte ihn wahrscheinlich nachdenklich gemacht: »Ernst eines Vorscheins von möglich Wirklichem.« Es hätte ihm den Tagtraum möglicherweise mehr in die Nähe der Utopie gerückt – weg vom nur psychologisch zu verstehenden Phänomen. Er hätte in ihm mehr die Fähigkeit des Menschen erkannt, sein Leben vorausschauend phantasierend zu entwerfen und zu verstehen, eine Begabung, die er bei Dichtern wie Dostojewski und Shakespeare – der adlersche Menschenkenntnis Jahrhunderte vorwegnehmend szenisch gestaltete – bewunderte. Er hätte vielleicht auch einige seine Schüler, die er als abtrünnig erlebte, weil sie die konkrete Utopie, die sie in seiner Theorie vom Menschen zu erkennen glaubten, realer, marxistisch oder christlich verwirklichen wollen wie Otto Rühle und Alice Rühle-Gerstel, Manès Sperber oder Fritz Künkel. Sicher wäre die Individualpsychologie durch solch einen Dialog vor mancher Einengung bewahrt worden. Er hat nicht stattgefunden. Es war nur ein Gedankenexperiment. Ein Tagtraum also? Ich sage ja und meine, dass auch der Psychologe seine Tagträume nicht verachten soll. Er war Wunscherfüllung, phantasierte Konkretisierung einer denkbaren Möglichkeit. Er diente der Vergewisserung. Eine Wissenschaft, die – zugunsten einer Fiktion von Objektivität – auf Imaginationen verzichtet, kann sicher wertvolle Forschungsergebnisse liefern, sie wird aber nicht sein, was eine die Psychotherapie vorbreitende Wissenschaft sein muss: verstehende Psychologie. Bloch hat uns gelehrt, dass im Tagtraum ein auf die Zukunft gerichteter Mut enthalten ist. In der täglichen psychotherapeutischen Praxis mit dem Tagtraum kommt es darauf an, diesen Mut – als konkrete Utopie – zur Bewältigung der Realität verfügbar zu machen. Was dies heißt, möchte ich an einem Beispiel verdeutlichen. In einer therapeutischen Gruppensitzung berichtete ein Schüler von seinen tiefen Depressionen. Er hatte Gelegenheit gehabt, ein bereits verlorenes Schuljahr ein drittes Mal zu wiederholen. Vor vier Wochen hatte er endgültig das Handtuch ge187

worfen, seitdem hatte er sich meist resignierend in sein Zimmer verkrochen, war Menschen aus dem Weg gegangen und war über den Punkt seines vermeintlichen Versagens nicht hinweggekommen. Er hatte sich dabei – in seinen Grübeleien – einen Tagtraum immer wieder wiederholt. Er verlachte ihn, er schien ihm verächtlich, wie er selbst. Als wir ihn aufforderten, seinen Tagtraum doch ernst zu nehmen, begann er, sich mit der positiven Botschaft, die er enthielt, auseinander zu setzen. Der Tagraum lautete: »Ich dachte Segelschiffbauer wäre ein möglicher Beruf für mich. Ich baue mir ein Schiff und fahre damit nach Singapur. Dort schlendere ich über den Markt, esse Äpfel und exotische Früchte. Mein Singapur liegt in Nepal. Ich erwerbe zwei schöne Nepalteppiche und bringe sie mit zurück, hierher. Ich verkaufe sie und werde reich.« Wir verstanden den Tagtraum als den Ausdruck seines Wunsches, in einer von ihm sinnlich angenommenen Welt zu leben. In seiner tiefen Depression meldete sich im Tagtraum der Teil in ihm zu Wort, der weiterleben wollte. Das Symbol für dieses Leben war in ihm Singapur. Den Wunsch, zwei schöne Teppiche aus Nepal mit nach Hause zu bringen, deutete die Gruppe als den Wunsch, etwas Wertvolles anbieten zu können. Auch hier kleidete er einen gesunden Anteil seines Ich in ein Bild. Es gelang der Gruppe, ihn an diesem Abend über die Arbeit an dem Tagtraum so zu ermutigen, dass die Depression sichtbar von ihm abfiel. Er begriff, dass sein Singapur nicht ein Paperlapapp sei, dass er verachten müsse, sondern das Symbol für ein Ziel, auf das er zugehen könnte, wenn er es nur in der realen Welt suchte und nicht im unerreichbar fernen Land der Fiktionen. ■ Der Tagtraum entspringt derselben kreativen Kraft wie der Traum. Grundsätzlich gelten für ihn alle Aussagen, die ich über den Traum auch gemacht habe. Ihn therapeutisch nutzen heißt, das in ihm enthaltene Potenzial an schöpferischem Mut zur Bewältigung der Realität nutzbar zu machen. Hierbei nutze ich zwei Möglichkeiten: erstens die direkte Arbeit 188

mit dem Tagtraum, das heißt Aufarbeitung des sich in ihm abbildenden Lebensstils und »Umfinalisierung«, das heißt Ermutigung, die im Tagtraum auf die Aufrechterhaltung fiktiver Ziele ausgerichteten schöpferischen Kräfte zur Bewältigung der Realität zu nutzen. Zweitens bediene auch ich mich des gelenkten Tagtraums. Ich greife dabei auf Leuners Anregungen zurück, indem wir die von ihm vorgeschlagene Technik der Entspannung und der Konzentration auf Vorstellungsmotive anwenden. Ich bin aber der Meinung, dass jeder Mensch über genügend kreative Kraft verfügt, um aus sich selbst heraus die Vorstellungsmotive zu entwickeln. Ich entnehme diese seinen Phantasien und seinen Träumen.

Tagtraumbeispiele Ich habe erläutert, dass ich in den Träumen und Tagträumen eine wichtige Fähigkeit des Menschen erkenne, sich kreativ einen zukünftigen Weg zu entwerfen. Dabei ist das gestalterische Prinzip dieser Ausdrucksformen, ihre Dramaturgie, geprägt von den Gesetzen einer finalen Bewegung des Menschen, die in seinem Lebensstil vorgegeben ist. Es erscheint mir wichtig, an dieser Stelle in Erinnerung zu rufen, was Adler Lebensstil nannte. Er sah darin einen grundsätzlichen Lebensplan, den sich ein Kind im Vorschulalter aus den Erfahrungen festschreibt, die es im vorgegebenen sozialen Umfeld macht. Es sind dies Meinungen, die es sich über sich selbst und die anderen Menschen bildet, ebenso wie Stellungnahmen zur Welt; das Kind setzt sich in diesem Umfeld Ziele, Nahziele wie auch grundsätzliche Lebensziele, und es bildet sich Vorstellungen darüber, welche Wege es einschlagen wird, um zum Ziel zu kommen oder um doch wenigstens bei der Illusion bleiben zu dürfen, dass es sich auf einem Weg in Richtung auf diese Ziele hin bewegt. Adler geht davon aus, dass schon allerfrüheste Erfahrungen 189

im Säuglingsalter stärkste kausale Prägungen bei der Formulierung dieses Lebensstils sind. Hierin ist er sich mit allen tiefenpsychologischen Schulen einig. Diese frühesten Erfahrungen des Kindes, die er als so wichtig ansieht, sind in aller Regel keine sprachlichen Erfahrungen, sondern sinnliche, solche, die über Gefühle, über Geschmack und Geruch, über Geräusche und Bilder vermittelt werden und die auch mit Gefühlen beantwortet werden. Hierfür ein Beispiel: Kürzlich erzählte mir eine Patientin einen Traum, in dem sie gebar. Es war eine Art Stofftier und die anderen lachten darüber. Nur über das Gefühl der Weichheit erkannte sie es wieder als ein kleines Stoffäffchen, das sie in der allerersten Kindheit besessen und als Kuscheltier herzlich geliebt hatte. Eine Psychologie, die nur über Sprache, gewissermaßen intellektuell-analytisch, den Lebensstil zu erfassen versuchte, würde sicherlich nur oberflächliche Fragmente bewusst machen, sie würde den Menschen in seinen tiefsten Dimensionen nicht wirklich begreifen. Deswegen erscheint mir auch für die Individualpsychologie der einfühlende, kreative Umgang mit Träumen und Tagträumen so wichtig. Beide geben uns einen Einblick in solche tieferen, gefühlshaften Bereiche des Menschen. Da sie seinem schöpferischen Anteil entstammen, sehen wir in dieser Fähigkeit des Menschen zum von aller Alltäglichkeit befreiten Phantasieren auch ein wichtiges Mittel der Diagnostik und der Therapie. Ich erinnere auch daran, dass Adler selbst – wie übrigens auch Freud – die dem Tagtraum immanenten positiv schöpferischen Anteile in ihrer Bedeutung für Diagnostik und Therapie noch nicht voll erkannte. Hier sind Nachfolger der Pioniere in der Tiefenpsychologie von Jung bis Leuner vorgezeichnete Wege weiter gegangen. Adler war geneigt, in den Tagträumen nur eine Flucht aus der Realität zu sehen. Tagträume drückten für ihn – so gesehen – einen Mangel an Mut in der realen Welt aus. Das halte ich nur zum Teil für richtig. Sicher beobachen wir oft, dass der neurotische Mensch sich in Tagträumereien verlierend die wirkliche Welt zu meiden versucht. Er kann dabei 190

seinen fiktiven Zielen auf Größe und Überbietung ganz ungehemmt folgen. Es stimmt auch, dass diese Fiktionen mit der Realität oft nicht in Einklang zu bringen sind. So gesehen sind sie unnützlich – dieses Wort gebrauchte Adler oft. Aber es stimmt ebenso sehr, dass sie Schöpfungen sind, Ausdruck einer Kraft, die eine entmutigende Wirklichkeit überwinden will. Es drückt sich in ihnen der Wille aus zu überleben, und es ist längst nicht immer so, dass die Fiktionen nur Unrecht haben und die Wirklichkeit nur Recht. Auch hier gibt es einen unauflösbaren Zusammenhang zwischen individuellem Weg und gesellschaftlichem Sein. Die Fiktionen – und die finale Ausrichtung darauf im Tagtraum – sind also auch der positiv zu sehende Versuch, sich nicht einfach zu unterwerfen, sich nicht kritiklos anzupassen. Dort, wo die Ausrichtung des Einzelnen auf seine Fiktion ihn weit entfernt aus der Gemeinschaft aller Menschen und Wesen und in die Vereinsamung des vereinzelten Ich führt – dort entsteht Neurose. Psychotherapie ist der Versuch, Hilfe zu leisten bei der Suche nach einem lebbaren Ausgleich zwischen Fiktion und Realität. Wir würden uns selbst eine wichtige Möglichkeit der Hilfe nehmen, wenn wir unsere Patienten nicht ermutigten, ihre Fähigkeit zu achten und zu nutzen, sich schöpferisch-phantasierend auf Zukunft einzustellen. In diesem Sinn sind Ernst Blochs philosophische Gedanken über die schöpferische Kraft des Menschen im Traum und im Tagtraum eine wichtige Hilfe, den ermutigenden und menschenfreundlichen Ansatz in Alfred Adlers Individualpsychologie weiter zu verfolgen. Ich möchte nun an drei Beispielen bisher erprobte Möglichkeiten im therapeutischen Umgang mit dieser Fähigkeit der Patienten in der Diagnostik und Therapie individualpsychologischer Praxis darstellen.

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Ein Junge enthüllt im Tagtraum sein aktuelles Problem Dieser Junge war 13 Jahre alt, als er in die Praxis kam. Er wurde geschickt, weil er bettnässte und auch sonst allerlei schulische Probleme und Ängste hatte. Er war ein Einzelkind. Beide Eltern waren fürsorglich um ihren Sohn bemüht, aber auch besorgt und ehrgeizig, überbeschützend und gleichzeitig überfordernd. Er berichtete über viele Tagträume, in denen er als Detektiv große Heldentaten vollbrachte, Menschen aus Gefahren errette und knifflige Problem löste. Tatsächlich war er in seinen Tagträumen mutiger als im Leben. Er bestätigte also Adlers Meinung über Tagträume scheinbar vollkommen. Eines Tages erzählte er diesen Tagtraum: »Wir – meine Klassenkameraden und ich – fuhren von unserem Ferienheim mit einem Autobus zu einem Ausflug in die Landschaft. Es war wunderbar, die Sonne schien so schön und wir alle waren in bester Ferienlaune. Hinter mir im Autobus saß eine Dame in einem grauen Mantel und mit einem grünen Hut auf dem Kopf. Sie machte dem Autobusfahrer unentwegt Vorschriften und vermieste allen die Stimmung. Schließlich ließ sie den Bus anhalten, um sich bei der Polizei über das unmögliche Benehmen des Fahrers zu beschweren. Da platzte mir der Kragen. Ich ging zur Polizei und erklärte, dass die Dame ganz im Unrecht sei und die ganze Zeit über unvernünftige Vorschriften machte.« Ich fragte den Jungen, ob er die Dame mit irgendeiner tatsächlich lebenden Person in Verbindung bringe. Er verneinte. Ich fragte ihn weiter: »Kennst du denn jemanden, der so einen grauen Mantel und einen grünen Hut trägt?« Da lächelte er mich schelmisch an, legte den Kopf schief und sagte: »Meine Mutter wird es doch wohl nicht gewesen sein?« – »Warum meinst du denn, dass du gegen deine Mutter die Polizei zu Hilfen holen musst?«, fragte ich. Nun kam die ganze Geschichte heraus. Tatsächlich fühlte er sich von seiner Mutter dauernd kontrolliert und in Regeln eingeengt. Er durfte dies nicht und jenes nicht, was seinen Freunden in der Klasse ohne weiteres erlaubt war. Aber 192

er traute sich auch nicht, seine Probleme offen auszusprechen, er unterwarf sich, weil er fürchtete, die Liebe der Mutter zu verlieren. Er fasste Mut und erzählte seinen Eltern den Tagtraum und was wir dazu erarbeitet hatten. Das leitete die Wende ein. Die Eltern spielten mit. Sie änderten ihre Erziehungshaltung, nahmen den Jungen stärker als gleichwertigen Partner an. Probleme wurden offener besprochen, gemeinsame Lösungen angestrebt. Sein Mut wuchs, das Symptom Bettnässen wurde überflüssig. Der Junge hatte sich also als Opfer einer verwöhnenden Erziehung erlebt. Diese ist in Wirklichkeit eine andere Form der autoritären Erziehung. Die Eltern des jugendlichen Bettnässers waren liebevoll und fürsorglich. Aber indem sie ihn verwöhnten und gängelten, machten sie ihn – ohne dies zu wollen – zu ihrem Objekt, entmutigten ihn. So kam es, dass die Appelle des Jungen an die Mutter um Zuwendung versteckt und regressiv waren – er wandte sich an sie über das Bettnässen. Seinen Mut legte er in den Tagtraum. Darin missriet ihm sein Umgang mit der Mutter überkompensatorisch. Indem er die Polizei gegen sie zu Hilfe nahm, machte er wiederum sie zu einem Objekt. Die Beziehung auf einer Ebene der Gleichwertigkeit und gegenseitigen Achtung, die es erlaubt, alle Gedanken und Gefühle auszudrücken, war versperrt. Im Familienrat konnten die echten und direkten Kommunikationswege zwischen den drei Mitgliedern dieser Familie geöffnet werden. Die Notwendigkeit des Bettnässens entfiel damit, ebenso wie die zur Überkompensation im Tagtraum. Der junge Patient konnte seinen Mut nun in der gelebten Realität beweisen. Ich hoffe dennoch, dass er sich die Fähigkeit bewahrt hat, phantasierend tagträumend Lösungsversuche für die Zukunft zu entwerfen. Dieser Tagtraum eines 13-jährigen Bettnässers war der Versuch, sich einer verwöhnenden und dadurch entmündigenden Erziehung nicht zu unterwerfen. Seine ständig wiederholt erlebte Unterlegenheit unter die Macht der Mutter musste er im Tagtraum kompensieren durch das Streben nach Überlegenheit. 193

Deswegen musste er die Polizei zu Hilfe holen – sie erscheint in vielen Tagträumen von Kindern als die Macht, eine gerechte Ordnung in einer als ungerecht erlebten Welt wiederherzustellen. Da die Kritik des Jungen an der Mutter den ihm durch Erziehung vermittelten Normen – seiner Erfahrung des Common sense – widersprach, musste er sich im Tagtraum verhüllen. Das Unbewusste erscheint hier als ein Vorbewusstes, wie so oft im Tagtraum, als ein geheimes Wissen, das man vor sich selbst und anderen nicht preisgeben darf. In diesem Fall konnten wir das im Tagtraum verhüllte Nahziel, Entmachtung der Mutter, direkt aufdecken. In Zusammenarbeit mit der ganzen Familie konnte eine nützlichere Kommunikationsform aller Familienmitglieder erprobt werden. Die causa finalis war eine Entfremdung zwischen Mutter und Kind in einer verwöhnenden und zu stark auf Leistung hin orientierten Erziehung. Das eigentliche Ziel des Jungen war Zärtlichkeit, nur in der Überkompensation seiner empfundenen Ohnmacht wurde es Macht. Als der Junge sich im Familienrat mit den Eltern eher gleichwertig angenommen fühlte, entfiel der Sinn des Symptoms Bettnässen, und er konnte es aufgeben.

Im Weiterphantasieren einer Kindergeschichte trainiert ein Patient Mut Hier berichte ich über den Verlauf einer Therapiestunde, die über mehrere Tagtraumerinnerungen zu einer konkreten Erinnerung führte, die wir nach Art eines gelenkten Tagtraums aufarbeiteten. Dieser jugendliche Erwachsene berichtete über einen Tagtraum, der sich in seiner Kindheit oft wiederholte, den er aber auch bis in die Jetztzeit träumte. Er erzählte, dass er halb wachend, halb dämmernd bunte Bilder vor sich sehe, die sehr angenehm seien, nicht konkret, nicht fassbar, wie Projektionen auf eine Leinwand. Früher sei dieser Tagtraum wohl deutlicher gewesen, er habe ihn entkonkretisiert. Es schien so zu sein, dass es 194

sich um eine Art Grundmuster für einen Tagraum handelte, den er gelegentlich mit Omnipotenzphantasien füllte, deren Motive er Science-Fiction-Romanen entnahm. Es fiel ihm nun ein, dass er bis zu seinem 13. Lebensjahr mit seiner Mutter in einem Klappbett geschlafen habe. Dieses Bett konnte durch einen Vorhang gegen die Außenwelt abgeschlossen werden. In diesem abgegrenzten Raum habe er oft gesessen und taggeträumt, etwa so: »Ich stellte mir vor, ich sei eingeschlafen. Irgendwann wachte ich auf. Fremde Personen standen neben meinem Bett. Sie waren unheimlich freundlich. Eine junge, sehr schöne Frau nahm mich an die Hand und führte mich zu einer Familie, die sich sehr freute, dass ich kam. Ich dachte mir, dass mein tägliches Leben vielleicht ein Traum sei. Ich könnte aufwachen, das wirkliche Leben würde beginnen.« Es stellte sich heraus, dass dieser Traum der konkrete Ausgangstraum war, den er später entkonkretisierte, um ihn mit seinen Omnipotenzphantasien aufzufüllen. Er scheint ihn phantasiert zu haben, als er vier Jahre alt war und gerade sein jüngerer Bruder geboren wurde. Beide Kinder waren unehelich, die Mutter berufstätig. Der Tagtraum war der eines entmutigten Kindes, das sich in seiner Umgebung nicht angenommen fühlte. Es fand keinen anderen Ausweg aus seiner realen Situation als den, sich aus ihr herauszuträumen. Er schlief im Bett der Mutter – also in einer viel zu großen Nähe zu ihr. Aber er empfand, dass alle unbefangene Zärtlichkeit der Mutter an den Bruder ging. Er spürte, dass die Mutter etwas von ihm verlangte, was ihm unklar blieb. Er sollte ihr Sicherheit geben, vielleicht eine Art beschützender Ersatzmann für sie sein. Dass er nicht aufgegeben hatte, den Tagtraum von den bunten Bildern immer wieder neu zu variieren, bedeutete, dass er die Verunsicherung über seinen Wert und seine Rolle nicht überwunden hatte. In seinen Beziehungen zu anderen Menschen, besonders in denen zum anderen Geschlecht, war er ängstlich. Erst jetzt, während der Therapie, tat er zögernde Schritte, sich aus seiner selbstverordneten Einsamkeit, die ihn sicherte, zu befreien. 195

Er wuchs auf in einer Art Großfamilie, die beherrscht wurde von seinem Großvater. Dieser war ein strenggläubiger Patriarch, der über Frauen und Kinder ein hartes Regiment führte. In seiner Erinnerung war dieser Großvater riesig, bedrohlich, strafend. Der Patient sah sich im gegenüber und seinen strengen Moralgesetzen immer noch als schwach und vollkommen hilflos an. Er war immer noch der Untertan, obwohl der Großvater seit fast zehn Jahren tot war. Er erinnerte sich, dass dieser Großvater in seiner Kindheit ein selbst erfundenes Märchen erzählte: »Das Hasenbubbel«. Es begann so: »Es war einmal ein kleiner Hase, der ging in das Salatfeld, weil dieser ihm so gut schmeckte. Da kam der Bauer und jagte ihn.« Hier brach die Erinnerung ab. Mit aller Gewalt konnte er sich nicht weiter erinnern. Ihm fiel assoziativ ein, dass es zu Hause manchmal ein lettisches Gericht gab, Salatköpfe, die mit Sahne übergossen wurden, dazu gab es Bratkartoffeln. Das war ein Höhepunkt an Genuss. Aber die Geschichte ist eine Warngeschichte. Sie sagt: »Wenn du den Genuss suchst, gerätst du in Gefahr. Lauf nicht von zu Hause weg, rühr nicht anderer Leute Sachen an.« Ich forderte ihn auf zu versuchen, die Geschichte als einen gelenkten Tagtraum weiterzuphantasieren. Er tat es, stockend, mit Widerständen und sichtbarer Angst: »Der kleine Hase versucht wegzulaufen. Es ist schlimm. Der Bauer kommt mir riesigen Schritten und verstellt mir den Weg. Das ist wie in dem Märchen vom Hasen und vom Igel, immer ist der Bauer schon da. Die Eltern versuchen, dem kleinen Hasen zu helfen. Der alte Großvater hoppelt über das Feld und lenkt den Bauern ab. Der kleine Hase kann weglaufen.« Er zögerte. Er musste sichtbar in sich einen Widerstand überwinden. Er sprach zögernd weiter: »Der Bauer schießt. Kommt der kleine Hase davon, kommt er nicht davon? Ich habe ein Bild vor mir, da wird er getroffen. Das entspricht wohl der Moral. Aber ich glaube, er wird nur an der Hinterpfote getroffen. Er schleppt sich durch das Feld. Dann retten ihn die Alten, dann kommt er davon.« Er schloss erleichtert. »Immerhin, denke ich, ein bisschen Glück hat der Hase doch 196

gehabt. Und er bleibt ja auch nicht einfach liegen, starr vor Angst. Er schleppt sich durch das Feld.« Aber noch konnte sich der Patient aus der Abhängigkeit des Großvaters nicht lösen. »Dann retten ihn die Alten, dann kommt er davon.« Später forderte ich ihn auf, sich vorzustellen, er sei ein alter Hase, der diese Geschichte seiner Kindheit seinen Enkeln erzählt. Es fiel ihm schwer und es gelang ihm auch nur bruchstückhaft. Aber trotzdem, nun war der kleine Hase schon viel findiger. Er konnte sich verstecken und Haken schlagen und den Bauern narren und er entkam aus eigener Kraft. Ganz langsam begann der Patient, sich aus dem Bann des Großvaters zu lösen und die reale Welt um sich herum deutlicher wahrzunehmen. Wir fassen den Prozessablauf zusammen: Die beiden ersten Tagträume hatten zunächst mehr einen diagnostischen Wert. Beide, der von den diffusen Bildern und der von der erträumten Familie spiegeln die Finalität eines entmutigten Menschen, der sich aus der Realität weit zurückgezogen hat. Über die Beziehung zur Mutter ist er tief enttäuscht, er hat sie – so sieht er es – an den jüngeren Bruder verloren, die ihm angebotene Rolle, beschützender Eratzmann für die Mutter zu sein, verweigert er. Die Identifizierung mit einem männlichen Leitbild in der Familie, dem Großvater, misslingt. Dieser bleibt stark und autoritär, er bleibt ein schwacher Untertan. Die Geschichte vom Hasenbubbel war nach vielen Widerständen eines der ersten konkret erinnerten Bilder seiner Kindheit. In diesem Zusammenhang ist die Assoziation von dem lettischen Gericht wichtig. Zum ersten Mal erinnert er sich sinnlich fassbar an ein Stück wirklicher Verbundenheit mit der Welt, in der er lebte. In all seinen narzisstischen Phantasien verborgen, war doch der Wunsch nach Teilhabe an dieser Welt noch wach. Aber er konnte ihn nicht aggressiv einlösen, deswegen floh er in seine Traumwelten. Tagzuträumen hatte er trainiert. Wir nutzten diese Fähigkeit, indem wir die abgebrochene und aus dem Bewusstsein ausgeblendete Geschichte vom Hasenbubbel in der Art eines gelenkten Tagtraums zu einem befriedigenden und für ihn ermutigenden Ende zu phantasieren versuch197

ten. Tatsächlich gelang ihm nun ein erster wichtiger Schritt in Richtung auf eine ermutigtere Wahrnehmung von sich und der Welt.

Eine Patientin löst sich vom Elternhaus im tagtraumartigen Weiterphantasieren eines Traums Diese 21-jährige Patientin war ebenfalls sehr entmutigt. Sie war voller Angst und klammerte sich an die Mutter. »Jenseits der Mutter ist überall Angst«, formulierte sie spontan. Das Leben außerhalb des Elternhauses begegnete ihr feindlich. Unter ihren Arbeitskolleginnen fühlte sie sich isoliert und minderwertig. Gegenüber ihrem Chef – wie bei allen höher gestellten Personen – sah sie sich hilflos und von ihm unterdrückt. Das Problem der Begegnung mit dem anderen Geschlecht erschien ihr als ein unüberwindbarer Berg von Zumutungen. Sie war aufgewachsen als die Älteste von drei Geschwistern. Sehr gekränkt hatte sie die Geburt des drei Jahre jüngeren Bruders, der in der Familie als Stammhalter begrüßt wurde. Sie beschloss, die »verlorene« Liebe der Mutter um jeden Preis wiederzuerlangen. So wurde sie die Vertraute der Mutter, die Brave, die Willfährige. Dort, wo sie sich im Vergleich mit anderen minderwertig fühlte, machte sie sich diesen moralisch überlegen. Der zehn Jahre jüngeren Schwester gegenüber übernahm sie Mutterfunktionen. Sie machte sich damit bei der Mutter unentbehrlich. Den Vater sah sie als schwach an. Sie musste ihn entwerten, denn er war ein Konkurrent in ihrer Beziehung zur Mutter. So hatte sie sich in das Bild der guten und unentbehrlichen Tochter hilflos verrannt. Alle so genannten bösen Gefühle, die nicht in dieses Bild passen mochten, hatte sie in sich unterdrückt. Aber es gelang ihr nicht, alle Sehnsüchte auszublenden. Wie ausgeschlossen stand sie am Rand des Lebens und blickte voller Neid auf das bunte Treiben der Mitmenschen. Zu einer Zeit, als sie schon begann, sich und die Mutter kritischer zu sehen, sich aus der selbst gewählten Abhängigkeit zu befreien, träumte sie diesen Traum: 198

»Ich hatte mit meinen Eltern und Geschwistern einen Tagesausflug gemacht. Ich trennte mich von den anderen und stieg eine kleine Anhöhe hinauf, um von dort die Aussicht anzusehen. Als ich oben war, hatte ich dauernd das Gefühl, ein Brett vor Augen zu haben. Ich geriet in Panik und muss wohl in Ohnmacht gefallen sein. Als ich im Traum wieder wach wurde, war meine Mutter bei mir.« – »Ich wurde nun wirklich wach. Ich war pitschnass geschwitzt. Das Gefühl, als meine Mutter bei mir war, war irgendwie beruhigend und beunruhigend zugleich.« Wir verstanden den Traum als den Ausdruck des in ihr stärker werdenden Wunsches, sich von der Familie und der Mutter zu trennen. Aber wir verstanden auch den Widerstand, der in ihr diesen Wunsch blockierte. »Jenseits der Mutter ist überall Angst.« Ich schlug ihr vor, eine Art Traumzensur zu spielen. Sie war einverstanden. Wir kamen überein, sie würde sich vorstellen, sie stünde wieder im Traum auf dem Hügel: Aber ein Zauberer käme vorbei und zauberte ihr das Brett weg. Sie träumte nun ihren Traum als gelenkten Tagtraum weiter: »Ich sehe eine herrliche Landschaft. Im Tal ist ein Dorf mit schönen alten Fachwerkhäusern. Ich werde neugierig und laufe auf das Dorf zu. Ich sehe keinen Menschen.« Sie stockte, schaute aus ihrer Versenkung auf und blickte mich ziemlich hilflos an. Ich bedeutete ihr, dass sie ja irgendetwas tun könne. Sie phantasierte weiter: »Ich klopfe an eine Haustür. Eine freundliche ältere Dame öffnet mir. Ich bitte um Nahrung. Sie bringt mir Milch und ein Stück Brot. Ich sitze auf einer Bank in der Sonne, esse das Brot und trinke die Milch. Ich fühle mich sehr wohl und bemerke mit Erstaunen, dass ich meine Familie fast vergessen habe.« Sie wollte wieder unterbrechen. Ich fragte sie, ob sie noch in wenig weiterphantasieren wolle. Sie könne sich ja im Dorf umsehen. Sie tat es bereitwillig. »Ich schlendere neugierig durch das Dorf zum Marktplatz. Ich bewundere die schönen alten Häuser. Dann gehe ich in die Kirche. Es ist eine gemütliche, bäuerliche Barockkirche. Die Frauen, die hereinkommen, haben sich Tücher 199

über das Haar gelegt. Das habe ich früher schon mal gesehen, irgendwo in einem südlichen Dorf. Die Frauen knien nieder und beten. Ich sitze sehr lange dort. Ich bemerke, dass es zu spät geworden ist, an diesem Abend noch zur Familie zurückzukehren. Ich gehe in ein Gasthaus. Abends sitze ich noch in der Gaststube, höre zu, wie die Leute lachen und schwätzen. Es ist sehr gemütlich. Später schlafe ich unter einer dicken Daunendecke ein. Am nächsten Morgen benutze ich nicht den ersten Bus. Ich bin sicher, dass ich meine Familie gesund wiederfinden werde.« Während des Tagtraums konnte ich eine eindruckvolle Veränderung der Patientin beobachten. Zu Beginn der Stunde hatte sie – wie meist – verkrampft in ihrem Stuhl gesessen. Sie hatte die Angewohnheit, mit der linken Hand, den rechten Unterarm fest zu umgreifen, so als müsse sie sich an der Bewegung hindern. Sie sprach mit einer leisen, kaum vernehmbaren Stimme, die darüber hinaus noch gepresst klang, so als müsse sie alle lauten Gefühle in sich unterdrücken. Während des Tagtraums hatte sich diese Spannung mehr und mehr gelöst. Ihre Stimme war fest und sicher geworden. Als sie ging, blickte sie mich an und lächelte. Es scheint so, als ob dieser Tagtraum einen entscheidenden Durchbruch in ihrem Leben bewirkte. Sie war sehr ermutigt. Kurze Zeit später veränderte sich viel in ihrem Leben. Sie gewann neue Freunde, sie verliebte sich und zog aus dem Elternhaus aus, in eine eigene Wohnung. In der therapeutischen Gruppe – in die sie integriert war –, äußerte sie den Wunsch, die Therapie abzubrechen. Sie blieb nicht einfach fort, sondern kam und diskutierte ihre Absicht mit den anderen Gruppenmitgliedern. Sie machte dabei einen sicheren Eindruck. Sie äußerte, dass sie das Gefühl habe, nun ohne therapeutische Hilfe weitergehen zu können und zu sollen. Sie sei sicher, dass sie auch mit kommenden Schwierigkeiten fertig werden könne. Sie habe einfach keine Angst mehr. Sie habe jetzt Freunde und wisse, dass sie auf Menschen zugehen könne. Ihre Mutter habe sie schon mehrfach zum Tee in ihre Wohnung eingeladen. Beide seien sehr zufrieden mit der Entwicklung. 200

Ich stimmte ihrem Entschluss auch innerlich zu, denn ich glaubte, dass ihre Einsicht richtig war, dass auch die Lösung aus der Therapie notwendig sei, um ihren Mut zu festigen. Dieses junge Mädchen strebte nach der Macht, die Mutter vollkommen auf sich zu beziehen. Das auslösende Trauma war der scheinbare Verlust der Mutter an den jüngeren Bruder, der als Stammhalter einen besonderen Stellenwert in der Familie hatte. Die eingesetzten Mittel waren einerseits der Versuch, sich unentbehrlich zu machen, andererseits die signalisierte Ohnmacht, mit der sie die Mutter auf sich bezog. Da sie ihre weibliche Rolle im sozialen Vergleich mit dem Bruder als minderwertig ansah, konnte sie sich einen Lösungsversuch nur im Streben nach Überlegenheit vorstellen. Daher gelangen ihr in der Außenwelt keine gleichwertigen Beziehungen. Das Streben nach Überlegenheit wird im Traum deutlich durch den Aufstieg auf die Anhöhe. Das Brett vor den Augen bezeichnet den Widerstand. Wir zauberten ihn weg. Das mag als Manipulation erscheinen. Die Patientin und wir verstanden die kleine Zauberei eher als ein Experiment. Im gelenkten Tagtraum versuchte sie zu ergründen, was wäre, wenn dieser Widerstand nicht vorhanden wäre. Das Ergebnis des Experiments ermutigte sie sehr. Eine Voraussetzung für das Gelingen war das ständig wiederholte Angebot der Gleichwertigkeit des Patienten im therapeutischen Prozess. Deswegen erscheint es uns so wichtig, das Vorstellungsmotiv für den gelenkten Tagtraum mit der Patientin zusammen aus dem von ihr eingebrachten Material zu erarbeiten. Kurt Seelman berichtet in seinem Aufsatz »Adlers Lebenslauf bis zu seiner Trennung von Freud« (1977), dass Adler gesagt habe: »Wer kann schon sagen, er sei ganz normal? So ein bisschen neurotisch sind wir doch alle. Die Neurose ist nach meiner Meinung eine Übertreibung der Normalität.« Was heißt im Lebensentwurf unserer Patientin so gesehen Normalität? Der Versuch, die Bevorteilung des Bruders als Stammhalter nicht kritiklos anzunehmen, entsprang zweifelsfrei einem ganz gesunden Anteil ihrer Persönlichkeit. Die Übertreibung sehe ich in der Überkompensation. 201

Finalität ist keine Bewegung, die nur vom Ziel her definiert werden kann. Tun wir dies, so geraten wir in die Gefahr zu moralisieren und den Widerstand unserer Patienten zu fördern. Wir verstehen ihre Dynamik erst, wenn wir an den Ursprung dieser Bewegungslinie zurückkehren. Sie ist eine Bewegung von einem Punkt fort hin zu einem anderen Punkt. Der Ausgangspunkt dieser Bewegung liegt im Unbewussten. Hier sind auch die Kräfte zu finden, die den Menschen befähigen können, neuen Mut zu einem glücklicheren Lebensplan zu schöpfen. Ich baue auf die Kraft des Menschen, zu erkennen und nach seinen Erkenntnissen zu handeln. Aber dieses Begreifen darf nicht nur kognitiv bleiben, wenn es zu verändertem Handeln führen soll. Um zu begreifen, bedarf der Mensch der – vielleicht erst wiederzuentdeckenden – Fähigkeit zu fühlen, zu träumen und zu phantasieren. In diesem Sinn enthält jeder Tagtraum ein Stück überwindender Phantasie, er enthält den »Ernst des Vorscheins von möglich Wirklichem«, wie Ernst Bloch sagte.

Exkurs über das Unbewusste am Beispiel eines gelenkten Tagtraums Immer wieder haben wir in den zurückliegenden Kapiteln die Begegnung mit dem Traum und dem Tagtraum begriffen als eine Begegnung mit dem Unbewussten. Es erscheint von daher sinnvoll, am Ende genauer zu erläutern, wie die Individualpsychologie diesen Begriff versteht. Ebenso wie Freud sah auch Adler im Unbewussten eine wichtige und zentrale Annahme jeder Tiefenpsychologie. Freud schrieb pragmatisch: »Was wir bewusst heißen, brauchen wir nicht zu charakterisieren. Es ist das nämliche wie das Bewusstsein der Philosophen und der Volksmeinung. Alles andere psychische ist für uns das Unbewusste« (1916–17, S. 420). Diese Definition bildet sozusagen den kleinsten gemeinsamen Nenner, auf den alle tiefenpsychologischen Schulen sich einigen können. An anderer Stelle grenzt Freud ein, indem er 202

sagt, dass wir uns dieses Unbewusste topisch vorstellen müssen und dass wir es in der Erinnerung aufsuchen müssen, wo es durch eine Verdrängung zustande gekommen ist. Er weist dem Unbewussten nun eine Instanz zu, das Es. Diese Eingrenzung Freuds ist ganz im Zusammenhang mit seiner Libidotheorie zu verstehen. Jean-Paul Sartre, in dessen Gedanken viel Individualpsychologie enthalten ist, kritisierte, nach meiner Meinung zu Recht, dass die Psychoanalyse Freuds hier zu synkretistisch und nicht dialektisch sei (1971, S. 16). Die Frage, wo sich das Bewusste gegen das Unbewusste abgrenzt, bleibt unbefriedigend beantwortet. Auch wenn wir zwischen das Unbewusste und das Bewusste das Vorbewusste setzen mit vielerlei Schattierungen, haben wir nun zwar die Vorstellung von einem sanften Übergang, wie von einem Seeufer über seichtes Randgewässer zu der Tiefe des Sees. Aber die Vorstellung ist nicht klar und der Verdacht bleibt, dass die Grenzziehung zwischen Bewusstem und Unbewusstem doch künstlich bleibt. Adler ging bei der Betrachtung des Unbewussten grundsätzlich von einem anderen Standort aus. Er grenzt es nicht ab als Instanz, sondern sieht es von der unteilbaren Ganzheit der Persönlichkeit her als Verarbeitetes oder Nicht-Verarbeitetes, als zum Bewusstsein Zugelassenes oder nicht zum Bewusstsein Zugelassenes. Hierbei relativiert er das Unbewusste, ohne dass es seine Bedeutung im psychologischen System verliert. Diesen Tatbestand arbeitete Robert Antoch in der Arbeit »Das Unbewusste und die Einheit des Lebensstils bei Alfred Adler« heraus: »Damit erweist sich das Problem des Unbewussten in der Individualpsychologie verschränkt mit der Frage der dialektischen Beziehungen des Individuums zu den Einflüssen aus Natur und Gesellschaft, denen es ausgesetzt ist. Individualpsychologischer Auffassung entsprechend ›unterliegt‹ das handelnde Individuum diesen Einflüssen nicht, sondern nimmt sie nicht wahr oder nimmt sie wahr und gestaltet sie, wie es seinen aus seiner Lebensgeschichte von ihm abgeleiteten bewussten und unbewussten Intentionen entspricht« (1980, S. 28). 203

Das Unbewusste geht also in den Lebensstil ein. Heinz L. und Rowena Ansbacher schreiben: »Schließlich bedeutet fiktives Ziel auch, dass es unbewusst ist. Adlers Zielbegriff wird vor allem durch die Tatsache charakterisiert, dass das Individuum sich weitestgehend des Zieles nicht bewusst ist, dass es ein verborgenes oder unbewusstes Ziel ist, das Ziel, das das Individuum nicht versteht. Es ist die wahre Natur des verborgenen Ziels eines Individuums, die nach Adler den wesentlichen Bestandteil des Unbewussten ausmacht« (1972, S. 102). Unbewusst bleibt dem Menschen nach dieser Auffassung also sein Ziel. Das erscheint mir zu eng. Dieser These widerspricht auch die wiederholte Beobachtung, dass viele Menschen trotz kognitiver Erfassung des fiktiven Charakters ihrer Ziele keineswegs bereit sind, diese aufzugeben, kurz, diese These erklärt nicht den Widerstand. Der Lebensstil spiegelt nicht nur die Zielorientiertheit des Menschen, sondern weist auch zurück auf die causa finalis. Können wir also sagen, das Unbewusste ist der Lebensstil? Wir wollen diese Frage am Ergebnis der Arbeit mit dem gelenkten Tagtraum untersuchen. Ein Patient, der wegen wiederholter Depressionen und einer oft unbezwingbaren Todessehnsucht in Behandlung gekommen war, berichtete während einer Gruppensitzung: »Immer im Frühjahr, wenn ein gewisser Geruch von verfaulenden Blättern und Aufbruch, das mit einem ganz bestimmten Licht verbunden ist, die Luft erfüllt, überfiel mich in der Vergangenheit eine mir ganz unerklärliche Depression. Sie zwang mich über drei Wochen ins Bett. Dort schirmte ich mich völlig gegen die Außenwelt ab. Ich suchte den Schlaf und wachte nur auf, um etwas zu trinken oder für eine unvermeidliche Verrichtung.« Nachdem er seine Bereitschaft erklärt hatte, dieses Problem gemeinsam in der Gruppe zu bearbeiten, baten wir ihn, sich zu entspannen, sich dabei ganz auf die Vorstellung dieses geschilderten Geruchs und Lichts zu konzentrieren und gleichzeitig alle ihm hierzu erscheinenden Bilder und Einfälle zuzulassen und mitzuteilen. Der Patient erreichte in dieser Übung einen 204

Zustand tiefer Versenkung. Nach einiger Zeit begann er zu stammeln: »Der Führer ist gestorben, der Führer ist gestorben.« Er stieß diesen Satz wiederholt, aber beinahe emotionslos aus sich heraus. Ich entsann mich, dass der Patient 1940 geboren wurde. Im Mai 1945 hatte Hitler Suizid begangen. Er schien in seiner Erinnerung an diesen Zeitpunkt zurückgekehrt zu sein, als diese Nachricht die Erwachsenen erreichte. Aber es schien nur eine Erinnerung zu sein, die etwas anderes zudeckte. Ich orderte ihn auf, sich weiter zu konzentrieren. Er begann nun mit etwas jammernder Stimme zu sprechen. »Ich habe mir den Finger verbrannt, ich habe mir den Finger verbrannt. Meine Schwester tröstet mich. Ich bin ein dummer kleiner Junge.« Dann wurde er unruhig: »Es ist etwas geschehen«, wiederholte er, »es ist etwas Furchtbares geschehen. Ein Telegramm ist gekommen. Ich bin ganz allein. Alle weinen.« Plötzlich begann er heftig zu weinen: »Vater ist gefallen, Vater ist gefallen.« Es dauerte einige Zeit, bis er sich soweit beruhigt hatte, dass wir seine Phantasien aufarbeiten konnten. Die Bilder standen nun ganz klar vor seinen Augen. Die Erinnerung an den Tod Hitlers war ihm schon früher gekommen. Aber er hatte sich nie einen Reim darauf machen können, in welchen Zusammenhang dieses Ereignis für ihn – den überzeugten Sozialisten und Antifaschisten – mit seinen Depressionen haben sollte. Der damals fünfjährige Junge hatte eine vage Vorstellung von einem mächtigen Mann, der nun gestorben war. Er hielt es für möglich, dass er aus diesem Bild Material für Omnipotenzphantasien entnommen hatte, die er zeitlebens in der Phantasie seinen Minderwertigkeitsängsten entgegengestellt hatte. Die Erinnerung an den verbrannten Finger führte über dieses Ereignis hinaus in die Vergangenheit. Er erinnert sich deutlich. Er hatte mit dem Puppenherd seiner älteren Schwester gespielt und mit ihr zusammen Sahnebonbons darauf zubereitet. Er hatte sich tatsächlich die Finger an den heißen Töpfen verbrannt. Seine Schwester hatte ihn getröstet. Schmerzhafter als der körperliche 205

Schmerz war in seiner Erinnerung das Gefühl, so ein dummer, tollpatschiger kleiner Junge zu sein, der sich die Finger verbrannte. Die letzte Erinnerung führte zurück in den April des Jahres 1943. Damals war der Patient knapp drei Jahre alt. Ein Telegramm kam und brachte die Nachricht, dass der Vater gefallen sei. Was ihn so bitter traf, war wiederum nicht eigentlich der Schmerz über den Verlust des Vaters, den er ja kaum gekannt hatte, sondern das Gefühl, dass alles an ihm, dem Kleinen, vorbeiging. Die Angst, unwichtig zu sein, nicht wahrgenommen von der großen Schwester und der Mutter, überfiel ihn wie ein lähmender Schmerz. Spätere Erlebnisse – so eine Krankheit, die ihn lange in die Abgeschiedenheit eines orthopädischen Gipsbettes in Kliniken verbannte – schienen ihm diese »vergessene« Urerfahrung immer aufs Neue zu bestätigen, so dass er sich oft vor den anderen in die Einsamkeit seiner Allmachtsphantasien geflüchtet hatte. Was er eigentlich zum Bewusstsein nicht zulassen konnte waren aber weniger die kompensatorischen Allmachtsphantasien, sondern die von ihm als Vermutung festgehaltene ausweglose Gewissheit seiner Unwichtigkeit und Verlorenheit. Was lehrt uns diese Expedition in die von diesem Patienten bisher so nicht erinnerbare Vergangenheit? Sicher, dass das Unbewusste mehr ist als nur das Nichtwissendürfen um das geheime Ziel. Das Tagtraumerlebnis führt uns zurück zu Ursprungserlebnissen, in deren Verarbeitung die finale Zielsetzung begründet war. Wir können nun sagen, das Unbewusste ist der Lebensstil, wenn wir bei seiner Erarbeitung das in ihm enthaltene Grundgefühl des Verlorenseins und Minderwertigseins als einen tiefen Schmerz emotional wiedererlebbar machen können. Tief im Nichtbewussten verborgen ist das dialektische Gegenstück zum Ziel, das wir causa finalis nannten, der immer aufs Neue vermiedene Schmerz und die immer aufs Neue vermiedene Kränkung, also die geheime Antriebskraft des Lebensplans. Ich meine, das Beispiel zeigt auch, dass die Grenze zwischen Bewusstem und Unbewusstem nicht scharf gezogen ist, dass 206

Grenzüberschreitungen jederzeit möglich sind. Sartre ersetzt in seinem Flaubert-Buch den Begriff »Bewusstsein« durch »le vécu«. Er meint damit die »gelebte Erfahrung«. Das Wort bezeichnet – wie er definiert – weder die Ausflucht des Vorbewussten noch das Unbewusste noch das Bewusste, sondern es umschreibt jenen Bezirk, »in dem das Individuum immerfort von sich selbst und seinen Reichtümern überwältigt wird und wo das Bewusstsein zu der List greift, sich selbst durch Vergessen zu bestimmen« (Sartre 1971, S. 20). Wir denken hier gleich an Adlers Begriff von der tendenziösen Apperzeption, die wir ja auch definieren können als die List des Menschen, sich selbst durch Vergessen zu bestimmen. Dieses Verständnis von Bewusstem und Unbewusstem ist deswegen der Individualpsychologie nah, weil in ihm das Ganze des dialektischen Prozesses des psychischen Lebens »als ein Prozess, der sich selbst notwendig weitgehend verborgen bleibt« (Sartre), aufgehoben ist. Die Libidotheorie Freuds birgt die Gefahr in sich, das Unbewusste einzugrenzen auf den Prozess einer Triebverdrängung. Eine nur auf oberflächliche Betrachtung der Zielgerichtetheit des Menschen beschränkte Psychologie wäre ein Missverständnis der Individualpsychologie Alfred Adlers und würde das Unbewusste wiederum unzulänglich eingrenzen auf einen Prozess des Verbergens, der mit dem Common sense nicht in Einklang zu bringenden Zielvorstellungen. Wir können das Unbewusste gut verstehen als einen nicht verfügbaren Teil des Bewusstseins, der der »List des Vergessens« anheim gefallen ist. Das Vergessen der im Lebensstil enthaltenen Ziele ist vielleicht nur die oberflächliche Schicht des Unbewussten. Mit aller Vorsicht – denn ein solches Modell kann nur Konstrukt sein, Anschauungscharakter haben, es gibt keine Wirklichkeit wieder – formuliere ich folgende Thesen über das Unbewusste:

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■ Das Unbewusste entspricht dem unbewussten Lebensstil. 1. In einer oberflächlichen Schicht des Unbewussten (oder Vorbewussten) finden wir die Verhüllung der im Lebensstil enthaltenen Ziele. 2. In tieferen Schichten verbirgt das Unbewusste einen Schmerz oder eine Kränkung (die verborgene Gewissheit einer Minderwertigkeit), deren Wiederbegegnung der Mensch zu vermeiden sucht, deren Wiedererinnerung er Widerstand entgegensetzt. 3. Dadurch beinhaltet das Unbewusste auch einen Verlust an Bildern und Fähigkeiten, die nicht verfügbar gemacht werden dürfen, weil mit ihnen der Schmerz einer Wiederbegegnung verbunden ist (schöpferische Kraft). Diese Definition des Unbewussten schließt Freuds Annahmen über unbewusste Triebzurückweisungen (Freud meint Verdrängung) nicht aus. Aber die Individualpsychologie argumentiert von der Annahme eines unteilbar ganzen Ich her und lehnt von daher die Festlegung auf ein – die Ganzheit teilendes – energetisches System ab. Sie geht damit immer noch über die heutige IchPsychologie hinaus, durch welche die meisten Grundannahmen Adlers bestätigt wurden. Die Individualpsychologie schließt in diesem Modell auch Jungs Annahme eines kollektiven Unbewussten nicht aus, lehnt wiederum nur die Festlegung auf ein bestimmtes Modell ab. Diese Erörterungen über das Unbewusste sind mehr als akademischer Art. Sie weisen nämlich dem Traum wie dem Tagtraum – neben seiner therapeutischen Bedeutung – einen hohen Stellenwert in der Diagnostik zu. Therapie und Diagnostik sind auch in der Individualpsychologie einander begleitende Vorgänge. In dem Aufsatz »Anwendung individualpsychologischer Methoden in der allgemeinärztlichen Praxis« schlug ich vor, den ursprünglichen schmerzhaften oder kränkenden Konflikt in der frühen Kindheit Primärkonflikt zu nennen. Er spiegelt sich – ganz im Sinne des sartreschen »le vécu« – in späteren Sekundärkonflikten und in der aktuellen Konfliktsituation, in welcher sich 208

der Patient erlebt. »Die Struktur der Neurose ist um so rigider, je stärker die Entmutigungstendenzen in der frühen Kindheit waren« (Schmidt 1976, S. 184). Diese Entmutigung ist groß, wenn der Primärkonflikt sehr weit in den sprachlosen Raum der ganz frühen Kindheit verschoben ist oder wenn eine Traumatisierung durch eine lang anhaltende Verwöhnung oder das wiederholte Erleben von schwerwiegender Zärtlichkeitsverweigerung gegeben war. Traum und Tagtraum weisen oft noch stärker als die frühesten Kindheitserinnerungen im Verlauf einer Therapie auf diesen Primärkonflikt zurück. Traum und Tagtraum mobilisieren im Verlauf einer Therapie auch die Kräfte, die den traumatisierenden Primärkonflikt überwinden helfen.

Ein Ausblick In seinem Lebensbericht »Ungleiche Welten« (1962, S. 637) erwähnt Hans Carossa unter anderen Träumen diesen: »Einmal ging ich durch ein fahlgelbes Gebirgstal und begriff, dass ich auf dem Monde war. Männer in Uniformen schlichen dicht an mir vorüber; offenbar sahen sie mich nicht. Wie als Knabe beim Versteckspiel rief ich: Kuckuck, Kuckuck, Kuckuck. Sie erschraken, blieben stehen und blickten drohend um sich. Ihren schwarzen Mützen war ein Kranz von Seepocken aufgenäht, die bei genauer Betrachtung winzige Totenköpfchen waren und phosphorbläulich leuchteten. Sie suchten mich, darüber war ich mir im klaren, und während sie einen Berg entlang gingen, lösten sie Stahlschlingen von ihren Gürteln und fuchtelten in Klüften, Ritzen und Höhlen herum. Als ich wieder Kuckuck, Kuckuck rief, wurden sie wie rasend, schauten mich an, und hieben mit ihren Stahlschlingen kreuz und quer durch die Luft. In mir war keine Furcht; ich wusste mich im Schutz der Mondgöttin und ihrer Geister.« Carossa träumte diesen Traum 1943, als er sich unter dem Schutzgrund einer leichten Erkrankung den ungeliebten Re209

präsentationsverpflichtungen des ihm vom Propagandaministerium verordneten Amtes als Präsident einer »Europäischen Schriftstellervereinigung« in Weimar durch Verlängerung eines Italienaufenthalts entzog. Wir können die Finalität dieses Traums leicht verstehen. Der Dichter versucht, in ihm einer verhassten politischen Realität zu entfliehen, wie er es zum Zeitpunkt des Traums wirklich tat. Die im Traum auftretenden Männer in Uniform sind ohne weiteres als SS-Angehörige zu erkennen. Ein Detail freilich lässt uns stutzen. Die auf den Mützen aufgenähten Totenköpfchen leuchteten phosphorbläulich. An einer früheren Stelle des Buches erwähnte Carossa, dass ihm die phosphoreszierenden Anstecknadeln, die man während der Verdunkelung trug, um von Entgegenkommenden gesehen zu werden, in ihrer tristen Hässlichkeit als eine Art Symbol der Untergangsempfindung erschienen, mit der er zu dieser Zeit die reale Welt in Deutschland wahrnahm. Der Träumer stellt also mit diesem Detail eine Verbindung zwischen sich und den SS-Männern her. Er deutet vielleicht für sich selbst damit an, dass er wohl leidend spürt, dass ein Dichter, der in dieser barbarischen Welt unbeschadet lebt und schreibt – obwohl er doch so vieles verschweigen muss –, auch Mitschuld trägt an dem, was um ihn herum geschieht. Auf den ersten Blick hat es den Anschein, als sei dieser Traum eher heiter, als triebe der Träumer sein Neckspiel mit den kettenschwingenden Schergen. Aber die ganze Szenerie »Ich ging durch ein fahlgelbes Gebirgstal« und die Steigerung der Bedrohung, die von den SS-Männern ausgeht, stehen im harten Kontrast zu dieser Stimmung. Am Ende ruft Carossa – ganz seinem Lebensstil entsprechend – die Mondgöttin und ihre Geister zu Hilfe. Carossas Traum kann ganz unter dem Schema einer individualpsychologischen Traumtheorie gesehen und verstanden werden. Aber ich meine nicht, dass damit alle Fragen beantwortet sind, die dieser Traum in uns aufwirft. Mir fällt auch ein – wenn wir die Zeit bedenken, die Carossa in seinem Buch be210

schreibt –, dass es Situationen gibt, in denen Träumen – als Wach- oder Schlaftraum – das einzige Ausdrucksmittel ist, in dem der Mensch einen freien Weg gestaltend beschreiten kann. Die Träume allein sind nicht kontrollierbar, doch schon ihre Entäußerung ist gefährlich. Dennoch faszinierte mich der Gedanke, dass in Gefängnissen und Konzentrationslagern der Diktatoren Tausende in ihren Träumen eine Utopie von Freiheit entwerfen; und dass sich hier in der Fähigkeit des Menschen zu träumen eine Macht der Bilder artikuliert, die gegen die Barbarei der Unterdrückung steht. Freilich, der Freiheitswunsch darf nicht nur Traum bleiben, er muss auch Wirklichkeit werden. Aber gäbe es nicht die Fähigkeit zu träumen, so würde vielleicht mit der Zeit der Gedanke der Freiheit unter der Bedingung der Diktatur ganz erlöschen. Traum und Tagtraum sind also nicht nur Flucht aus der Realität, sondern immer auch der Versuch des verändernden Gestaltens im freien Raum der Phantasie. Psychotherapie ist unter anderem auch der Ansatz zur Ermutigung, die Kraft dieser Träume zur Veränderung der Faktizität des Realen nutzbar zu machen. Damit der Psychotherapeut diese Aufgabe der Ermutigung erfüllen kann, darf er nicht nur psychologische Theorien entwerfen, er muss auch die Philosophie und Dichter befragen. So sah Adler Entsprechungen seiner Denkansätze in der Philosophie Faihingers und in der Dichtung Dostojewskis. Mich interessierte die Nähe mancher Gedanken Adlers zu denen von Bloch und Sartre. Aber was sagt uns Carossas Traum? Gestaltet der Träumer nicht doch nur eine Flucht aus der Welt? Macht er sich nicht nur unsichtbar und vertraut sich schließlich den unwirklichen Mächten der Mondgöttin und ihrer Geister an? Ist nicht am Ende seine Sehnsucht nach Harmonie, seine Suche nach dem »Tal des Ursprungs« – so benennt er das Ziel in einem Gedicht aus den Kriegsjahren, das er mit »Flucht« überschreibt – nur romantische Fiktion? Ich glaube, diese Metapher im Traum Carossas ist, wie so viele Traumbilder, vieldeutig. Ich erkenne drei Bedeutungen. Erstens ist das Bild wohl angeregt durch die Wiederbegegnung mit dem 211

heiteren Geist so vieler Kunstwerke während seiner Italienreise, denen er allerdings, da sie oft verschalt werden, um vor Kriegsschäden bewahrt zu werden, manchmal mehr in seiner Erinnerung als im wirklichen Anschauen begegnet. Zweitens bedeutet das Traumzitat eines höheren, bewahrenden geistigen Wesens tatsächlich ein Stück Flucht aus einer ihn verwirrenden Ungeistigkeit, der er sich ausgeliefert sieht, also ein Stück Aufhebung der Faktizität des Realen. Drittens beschwört er in dieser Metapher die heilenden Geister, die durch das Wort zu befreien er als seine dichterische Aufgabe ansah. Soll man ihn deswegen schmähen? Hier blitzt im Traum etwas auf, was auch im dichterischen Werk Carossas in dieser Zeit immer wieder anklingt: Sehnsucht nach einer stillen, seinsverbundenen Welt, die der Barbarei widersteht. Das war die dichterische Utopie Carossas; und jede Dichtung enthält, wie der Traum, eine Utopie. Walter Jens machte aufmerksam, dass möglicherweise vom schriftstellerischen Werk Ernst Wiecherts eine starke Ermutigung ausging für die Mitglieder der »Weißen Rose« zum aktiven Widerstand gegen die Nazidiktatur. Wir könnten uns denken, dass von einem so stillen Buch wie »Das Jahr der schönen Täuschungen« (Carossa 1941) in einer Zeit der lauten und Angst machenden Worte eine ähnliche Wirkung ausging. Warum schreibe ich das? Um in einem literarischen Essay eine Rechtfertigung Carossas zu versuchen? Nein. Alfred Adler hat uns vor allem gelehrt, dass man den Menschen – also auch seine Träume und Tagträume – nur als unteilbare Ganzheit verstehen kann. Dass er die Tiefenpsychologie aus der Enge einer vorwiegend triebpsychologischen Theorie erlöste, indem er den Menschen in seiner Bewegung in einem sozialen und geschichtlichen Feld beschrieb, bleibt sein größtes Verdienst. Ich wollte am Beispiel des Traums eines Dichters noch einmal ganz deutlich machen, dass eine solche ganzheitliche Betrachtung mehr bedeutet als die rein kognitive Erfassung der Dynamik einer finalen Leitlinie in einer Kindheitserinnerung oder einem Traum. Zwar spiegelt uns der Traum das Gesetz der Bewegung des Träumen212

den von diesem auf den kommenden Tag in der Erstarrung eines Bildes. Aber wir werden dieses Bild nur verstehen, wenn wir es in Beziehung setzen zu allen uns erreichbaren Hinweisen auf den, der das Bild schuf. Ich wollte aber auch darauf aufmerksam machen, dass die Psychologie – hier verstanden als Tiefenpsychologie – nicht alle Fragen nach dem Wesen des Menschen und seiner Träume beantworten kann. Sie kann nicht Weltanschauung sein und nicht Religion. Sie ist »nur« Wissenschaft und befasst sich vorwiegend mit der Motivation menschlichen Handelns. Sie kann nur Wissenschaft sein, wenn sie dabei bescheiden anerkennt, dass sie fragender und antwortender Partner anderer Disziplinen ist, wie etwa der Theologie, der Philosophie, der Dichtkunst wie der Kunst überhaupt und natürlich der Naturwissenschaften. So erfindet die Tiefenpsychologie zum Beispiel den Begriff der Neurose. Sie hebt neurotisches Verhalten ab gegen so genanntes normales Verhalten. Sie tut dies in einer Zeit, in der Hunderte von atomaren Sprengköpfen im Osten gegen Hunderte von atomaren Sprengköpfen im Westen stehen, in der kluge Zeitkritiker Zweifel darüber äußern, ob es dem Menschen gelingen kann, dieses Vernichtungspotenzial unter Kontrolle zu halten, und in der der Mensch sich gleichzeitig außerstande sieht, Millionen seiner Artgenossen ein menschenwürdiges Dasein zu garantieren. Ist nicht vielleicht der Techniker, der immer neue Waffen konstruiert, der technokratische Generalstäbler oder Politiker, der sie einplant, oder aber der reiche Playboy, der sich gegankenlos einen guten Tag macht im Elend dieser Welt, ebenso neurotisch wie jener, der zwischen sich und der Welt Barrieren der Angst errichtet? Tiefenpsychologie kann beobachten, beschreiben, kann Erklärungsmodelle liefern und vielleicht einen kleinen Beitrag zur Heilung leisten. Das ist gewiss viel. Aber sie kann nicht werten, weil sie aus sich heraus keine Wertmaßstäbe entwickelt. Sie kann aber auch nicht wertfrei sein. Jeder Psychotherapeut steht in dem Dilemma, dass er mit verinnerlichten Wertvorstellungen in den Prozess der Psychotherapie hineingeht. Allein diese Tatsache 213

macht es notwendig, dass er ein Fragender bleibt, der bei allen, die ihm antworten können, Antworten sucht. Dieses Buch schrieb ich ausgehend von der Grundannahme, dass Adlers Beitrag zur Psychologie unverzichtbar ist und bleibt. Dies gilt vor allem auch für das Verständnis der Träume und Tagträume des Menschen. Adler lehrte uns, dass der Mensch als unteilbare Ganzheit zu verstehen ist. Ausgehend von der Überzeugung, dass der Mensch nur im Miteinander mit der Gemeinschaft überdauern kann, setzte er an die Stelle einer Triebspsychologie seine Sozialpsychologie. Er sah den Menschen als ein Wesen, das nicht statisch ist, sondern in der Bewegung aus einer Minussituation in eine Plussituation. Er lehrte uns den Menschen verstehen aus seinen Zielen. Indem er den Begriff der Finalität einführte, verstand er den Menschen als einen, der niemals nur Opfer, sondern immer auch Handelnder ist. Das alles waren geniale und bis heute nicht voll ausgeschöpfte Anregungen für die Tiefenpsychologie. Ich meine, dass im dialektischen Bezugsfeld Adlers, unter dem Gesetz der Finalität, auch seine Träume verständlicher werden. Dies alles bleibt. Aber das Gesetz, dass alles menschlich Lebendige bewegt ist, wenn es lebendig sein soll, gilt auch für Adlers Theorien selbst. Sie können keine ewig gültigen Wahrheiten sein, sondern sie wollen weitergedacht werden. Und wie jede menschliche Beziehung nur als dialogische fruchtbar wird, kann die Individualpsychologie nur weitergedacht werden im Dialog. Adler selbst hat dies immer gewusst: »Ich glaube mich an keine strenge Regel und Voreingenommenheit gebunden, vielmehr huldige ich dem Grundsatz: alles kann auch anders sein. Das Einmalige des Individuums lässt sich nicht in eine kurze Formel fassen, und allgemeine Regeln, wie sie auch die von mir geschaffene Individualpsychologie aufstellt, sollen nicht mehr als Hilfsmittel sein, um vorläufig ein Gesichtsfeld zu beleuchten, auf dem das einzelne Individuum gefunden oder vermisst werden kann. Diese Wertung von Regeln, die stärkere Betonung einer Anschmiegsamkeit und Einfühlung in Nuancen stärkte jedes Mal meine Überzeugung von der freien 214

schöpferischen Kraft des Indivuduums in der ersten Kindheit« (Adler 1933, S. 7). Adler selbst war ständig bereit für das Unerwartete. Er war fasziniert vom möglichen Reichtum des Lebens. Er verstand sich als jemand, der seine Aufgabe im Hier und Jetzt dieser Welt sah. Darin ist er mir sehr nah. Aber ich betone auch, dass dieses Hier und Jetzt mehr ist als nur diese flüchtige Sekunde, sondern auch Vergangenheit und Zukunft, als eine Bewegung aus der Vergangenheit in die Zukunft in dieser Sekunde. Daraus folgere ich, dass auch der Traum zwar das Phänomen einer Nacht zwischen den Tagen ist, dass aber das, was sich in ihm bewegt, aus ferner Vergangenheit kommen und in ferne Zukunft reichen kann. Ich mag auch die Anregungen Calderóns beim Nachdenken über den Traum nicht missen, von dem wir lernten, unser flüchtiges Sein als Verantwortung zu begreifen.

Traumarbeit in der Gruppe – das Unbewusste als Inszenierung im Beziehungsgeflecht von Übertragung und Gegenübertragung Über die therapeutische Beziehung Je länger und je intensiver ich mit Träumen – vor allem in Gruppen – arbeitete, umso mehr ist es mir deutlich geworden, dass Traumarbeit – wie alle therapeutisch analytische Arbeit – vor allem und zunächst Beziehungsarbeit ist. Ich will also am Beispiel der Arbeit mit Träumen in der Gruppe den Zusammenhang zwischen dieser Art von Traumdeutung und Beziehung verdeutlichen. Dies macht es notwendig, einige Sätze über die therapeutische Beziehung überhaupt zu sagen. Die Überlegungen gelten grundsätzlich für die Einzel- wie für die Gruppentherapie. Natürlich ist in der Gruppensituation das Übertragungs- und Gegenübertragungsgeschehen komplizierter, auch abgemilderter, gleichzeitig 215

wird der ganzheitliche Aspekt der Übertragung deutlicher. Ich stelle eine Behauptung an den Anfang: Das eigentliche Agens jeder therapeutisch analytischen Arbeit, auch der Traumarbeit, ist – individualpsychologisch verstanden – die Beziehung. Diese Behauptung widerlegt nicht den bekannten Satz Sigmund Freuds, dass die Traumdeutung die »Via regia« zur Kenntnis des Unbewussten im Seelenleben sei (1900/1961, S. 497). Dieser Satz ist gewissermaßen schulenübergreifend und deutet auf einen Grundbestand analytischen Einverständnisses hin. Der Satz macht aber auch deutlich, dass jeder Traum eine sehr intime Mitteilung ist, denn in ihm stellt sich das Unbewusste dar, wenn auch verhüllt. Wir verhüllen es vor uns selbst und möchten es schon gar nicht einem anderen offenbaren. Der Traum als Mitteilung an den anderen kommt einer Entblößung tiefster Seelenschichten gleich. Das setzt Vertrauen voraus und das provoziert Widerstände, und damit sind wir mitten in einem Geflecht von Beziehungsproblemen. Therapeutische Traumarbeit ist also Beziehungsarbeit, und zwar Reflexion aller Aspekte der Beziehung. In der von Übertragungen und Gegenübertragungen gesättigten Beziehung zwischen dem Patienten und seinem Therapeuten – oder dem Patienten, der Gruppe und dem Therapeuten – inszeniert sich das Unbewusste; der Traum ist Teil dieser Inszenierung. Dieser Aspekt der Beziehung als das Agens analytischer Therapie ist in den letzten Jahrzehnten in den Vordergrund der Forschungen und Reflexionen aller tiefenpsychologischen Schulen getreten. Die Individualpsychologie begriff sich immer als eine Beziehungspsychologie. Manès Sperber schreibt: »Die Beziehungen der Menschen zueinander, aber auch die Beziehung des Menschen zu sich selbst, in bezug auf seine Beziehung zu anderen, das ist das Grundthema; denn das menschliche Sein ist ein stetes Bezogensein. Der Mensch wäre nicht imstande, ich zu sagen, wenn es die anderen nicht gäbe« (1989, S. 13). Es geht hier also um die Dialektik zwischen Ich-Bezogenheit und Du-Bezogenheit des Menschen. Der Mensch erfährt sich in Beziehungen. Er ist wahrscheinlich in Beziehungen – in alten, 216

autoritären, in Machtbeziehungen, im Klima von Verwöhnung oder Vernachlässigung – krank geworden. Die Therapie als Beziehungsangebot enthält die Chance zur Heilung. Das setzt voraus, dass sie nicht Wiederholung alter – kränkender, also krank machender – Strukturen ist. Manès Sperber fordert: »Wenn es nicht absolut und stetig klar bleibt, dass in dieser eigenartigen Begegnung, die eine Psychotherapie ist, jeder, der ein Menschenantlitz trägt, dem anderen gleicht, und dass Therapeut und Patient einander stets in Augenhöhe betrachten, dann ist die Behandlung gefährdet« (1989, S. 19). Die kritische Reflexion der unter dieses hohe Ideal gestellten therapeutischen Beziehung blieb freilich über lange Zeit unbefriedigend. Zu häufig wurde sie als Einbahnstraße dargestellt. Die Übertragungsaspekte des Patienten wurden als Widerstände analysiert, die Gegenübertragung des Therapeuten – oder sein möglicher Gegenwiderstand – wurde vernachlässigt. Meine Erfahrung als praktizierender Therapeut und Kontrollanalytiker sagt mir, dass die Widerstände gegen die Bewusstwerdung ins Unbewusste abgedrängter – schmerzlicher und peinlicher – Erfahrungen längst nicht immer vom Patienten herrührt, sondern oft auch vom Therapeuten, der seinen eigenen Erfahrungen in denen der Patienten begegnet. Einen Beitrag zu der hier berührten Problematik solcher Verschränkungen der Widerstände von Patient und Therapeut findet sich in den Kapiteln über Individualpsychologie in dem von T. Reinelt und W. Dattler herausgegebenem Buch »Beziehung und Deutung im psychotherapeutischen Prozess« (1989). In ihrem eigenen Beitrag stellen die Autoren den Begriff der Apperzeption beziehungsweise der eingeengten Apperzeption ganz in den Mittelpunkt. Wir erinnern uns: Unter tendenziöser Apperzeption verstand Alfred Adler eine Wahrnehmungseinschränkung. Der Mensch blendet aus seiner Wahrnehmung aus, was ihm – wie Adler lapidar formulieren würde – nicht in den Lebensstilkram passt. Adler beschreibt hier eine Eingrenzung des Bewusstseins. Eigentlich nennt er damit einen – nach heutigem tiefenpsychologischen Verständnis frühen – Abwehrmechanismus, der sehr ähn217

lich ist dem der Spaltung oder der Leugnung. Er beschreibt also eine Einengung des Bewusstseins oder eine Abwehr gegen das Unbewusste. Die Theorie von der tendenziösen Apperzeption ist ein wichtiger Gedanke. Allerdings würde ich mich weigern, ihn zu einem Leitgedanken der Individualpsychologie hochzustilisieren. Dies käme – nach meiner Meinung – einer Vernachlässigung des Unbewussten und der in ihm enthaltenen schöpferischen Kraft gleich. Immerhin macht die Einführung des Begriffs aber einiges klar. Es geht in der Beziehungsarbeit der Traumarbeit natürlich um die Wahrnehmung der Verschränkung eingeengter Sehweisen, um einen tiefen Blick nach innen, um den Versuch der Aufweichung der Einengung und um die Befreiung des im Traum aufscheinenden Unbewussten. Tatsächlich wird durch »die Bemühung des Begriffs der tendenziösen Apperzeption nicht nur die doppelte Problematik der ›Entfaltung des therapeutischen Beziehungsgefüges‹ und der ›Nichtherauslösbarkeit des Deutens aus diesem Beziehungsgefüge‹ erhellbar, sondern auch die Wichtigkeit des Deutens dieses Beziehungsgefüges selbst« (Reinelt u. Datler 1989, S. 137). Der Begriff der tendenziösen Apperzeption verweist so gesehen auch auf einen ganzheitlichen Aspekt von Übertragung und Gegenübertragung und damit auf ein individualpsychologisches Verständnis dieser Phänomene. Übertragung ist im individualpsychologischen Verständnis unteilbar. Es lassen sich aus der Übertragung (wie aus der Gegenübertragung) nicht Triebanteile abspalten; eine Trennung von therapeutischer Übertragung und realer Beziehung ist aus dieser Sicht nicht vorstellbar. Der Mensch nimmt ganzheitlich wahr, auch dort, wo er eingeengt wahrnimmt. Er ist auch nicht teilbar in ein therapeutisches Ich und ein privates Ich oder ein Patienten-Ich und ein reales Ich. Sie sind in ihrer unteilbaren Ganzheit präsent, auch dort, wo diese durch ihre tendenziöse Apperzeption eingeengt ist. Die Bewusstmachung des Unbewussten im therapeutischen Geschehen ist also ebenso sehr ein Prozess des Therapeuten wie des Patienten. 218

Ich möchte meine Überlegungen in drei Thesen zusammenfassen: 1. Die eigentliche Via regia der individualpsychologischen Traumarbeit ist die Reflexion der therapeutischen Beziehung. 2. Übertragung und Gegenübertragung in der therapeutischen Beziehung sind unteilbar. Die dritte These folgt aus den beiden vorhergehenden: 3. Der Therapeut muss in dieser Art individualpsychologischer Traumarbeit begreifbare Person sein. Was dies heißt, möchte ich nun an zwei Traumbeispielen aus Gruppensituationen deutlich machen.

Der Traum einer Patientin und ein Traum des Therapeuten Die heutige 58-jährige Patientin hatte zu dem Zeitpunkt ihres Traums bereits zwei Jahre an der analytisch arbeitenden Gruppe teilgenommen. Sie war wegen Herzrhythmusstörungen und massiver Ängste in die Therapie gekommen, die aufgetreten waren, nachdem ihr Ehemann sich nach über zwanzigjähriger Ehe von ihr getrennt hatte. In der Gruppe war sie die älteste Teilnehmerin. Der jüngste Teilnehmer war 25 Jahre alt. Entsprechend ihrem Alter nahm sie in der Gruppe eine – harmonisierende und oft beschützende – Mutterrolle ein. Sie zog dadurch – vor allem bei jüngeren Teilnehmern – auch heftige Aggressionen auf sich. Die Übertragungsbeziehung zwischen ihr und mir als dem Gruppenleiter war kompliziert. Einerseits erlebte sie mich als idealisierte Vaterfigur, von dem sie Schutz erwartete. Sie identifizierte mich wohl mit ihrem eigentlichen Vater, einem Schneidermeister, der – nach ihren Erzählungen – im kargen und ärmlichen Klima ihrer Kindheit der einzige Glanz gewesen war. Er war gestorben, als sie sieben Jahre alt gewesen war. Andererseits hatten Einblicke in mein privates Leben bei ihr sehr heftige Aggres219

sionen wachgerufen, die sie aber über lange Zeit nicht preisgab. Ich selbst begegnete ihr behutsam, nahm ihr Angebot, sie zu beschützen, an und neigte dazu, meinerseits aggressive Impulse ihr gegenüber – die sie durchaus in mir auslöste – zu leugnen. Es bestand also zwischen uns eine gegenseitige Verschränkung aggressiver Hemmungen – also auch sich gegenseitig bedingender tendenziöser Wahrnehmungseinschränkungen. Diese Übertragungssituation war in den letzten Monaten der Bearbeitung zugänglich geworden. Das hatte einen erheblichen Entwicklungsschub in ihr ausgelöst. Es war, als befreite sie sich von innerlich festgehaltenen Bildern. In dieser Zeit gewann sie auch einen Freund, mit dem sie – erstmals nach vielen Jahren – in eine vorsichtige erotische Beziehung trat. In diese Entwicklungsphase hinein träumte sie folgenden Traum: »Ich träumte, ich war in einem mir unbekannten Raum in einem unbekannten Haus. Ich lag in einem breiten Bett. Dann tat sich die Tür auf und mein Mann trat herein. Er sah genau so aus, wie ich ihn immer gekannt habe, nur war er klein, wie ein Junge. Er legte sich auch auf das Bett, etwas entfernt von mir. Ich hatte den Impuls, ihn zu berühren, ihn zu trösten. Dann dachte ich aber, das kannst du Heinz (dem neuen Freund) ja nicht antun. Plötzlich sah ich auf einem Sims drei wunderschöne rote Rosen liegen. Ich musste sie immer wieder anschauen, aber das Eigenartige war, dass in mir kein Gefühl damit verbunden war.« Dieser Traum löste in der Gruppe heftige Gemütsbewegungen aus. Eine junge magersüchtige Frau sprach unter Tränen von der Notwendigkeit des Abschiednehmens. Der jüngste Teilnehmer reagierte mit Somatisierungen, Kribbeln in den Händen und Füßen. Von Tod und Trennungen war die Rede. Auch in mir bewirkte der Traum ein sehr heftiges Gefühl, das mir Tränen in die Augen trieb. Ich war überrascht von dieser Reaktion und konnte sie mir zunächst nicht erklären. Fast alle Gruppenteilnehmer reagierten auf diese oder ähnliche Weise. Der Traum rührte, obwohl er von der Träumerin zunächst ohne erkennbare Gefühlsbeteiligung vorgetragen wurde, tiefe und unbewusste Seelenschichten in jedem Gruppenmit220

glied an. Der Traum berichtete ganz offenbar von tiefen und schmerzlichen Trennungserfahrungen der Patientin. Auffallend war, dass keine mit diesem Erleben verbundenen Gefühle im Traum selbst vorkamen. Die Träumerin hatte sich ja in ihrem Traum darüber gewundert, dass kein Gefühl mit dem Bild der drei Rosen verbunden war. Indem die Gruppenmitglieder nun ihre durch den Traum provozierten Erlebnisse und Gefühle mitteilten – wobei die Gefühlsmitteilung teils direkt, teils über Somatisierungen erfolgte –, halfen sie der Patientin, ein ihr unverständliches Gefühl von Trauer, das sie später, am folgenden Tag, im Nachdenken über den Traum gespürt hatte, diesem zuzuordnen. Dies war natürlich nur möglich in einem Klima, in dem das Thema von Abschied und Trennung und den damit verbundenen – oft abgespaltenen, verleugneten oder verdrängten – Gefühlen längst zum immer wiederkehrenden unbewussten Thema der Gruppe geworden war. In jeder Gruppe, die sich auf ein analytisch prozesshaftes Geschehen einlässt, entwickelt sich mit der Zeit so etwas wie ein »kollektives« Unbewusstes der Gruppe, welches das Unbewusste jedes Individuums in der Gruppe gleichzeitig einschließt und überschreitet. In mir provozierte der Traum der Patientin in der nachfolgenden Nacht einen eigenen Traum: »Ich träumte, wir – das heißt ich und einige mir sehr nahe stehende Menschen – spielten an einem Fluss. Wir waren in der Gestalt von heute, aber ich wusste im Traum, dass dieser Fluss die Guber war, das Flüsschen in meiner Heimatstadt, aus der ich mit 14 Jahren geflohen bin. Es war Winter. Plötzlich kam eine Frau angelaufen. Ich erkannte sie als meine Schwester, obwohl sie eine ganz andere Gestalt hatte. Sie trug einen riesigen Wasserski – eine Art Kanu – mit beiden Händen über sich und streifte dabei meinen Kopf, dass es laut in meinem Ohr krachte. Sie warf das Kanu in den Fluss und sprang hinterher. Dann tauchte sie auf und sprudelte das Wasser aus ihrem Mund. Wir fragten entsetzt, ob es ihr nicht zu kalt sei. Sie antwortete, es sei alles in Ordnung.« Dieser Traum hinterließ in mir ein Gefühl von Trauer, Lähmung und Anspannung. Mir kamen allerlei Gedanken. Das 221

Symbol der Guber entschlüsselte sich leicht. Es war ein Symbol für Freiräume in meinem Kinderleben. Aber im Traum war es Winter. Mir fiel ein, dass wir im Winter geflohen waren. Ich musste daran denken, dass der Weg über das gefrorene Haff während unserer Flucht sehr lang gewesen war. Ich hatte immer nur Sekunden davon in Erinnerung. Tiefflieger hatten den Treck angegriffen. Bedrohung war ein Stichwort. Das Kanu, das (meine Schwester?) über sich getragen hatte und das mir fast den Kopf zerschmettert hätte, erinnerte mich daran. Aber da war mehr. Sie war meine Schwester, aber sie hatte eine andere Gestalt. Ihre Gestalt war die der Patientin. Diese hatte bei der Bearbeitung des Traums erzählt, dass sie eine Schwester gehabt habe, die als Kleinkind verstorben sei; ein Kind, das nicht leben durfte. Nun stand plötzlich vor meinen Augen das Bild eines Kindergrabs. Ich hatte eine Schwester, die lange vor meiner Geburt gestorben war. Sie lag begraben auf dem Friedhof meiner Heimatstadt. Es wurde kaum von ihr gesprochen. Es war ein Geheimnis, etwas Unverstandenes, eine unverstandene Bedrohung durch Tod und Trennung. Kehren wir zurück in die Gruppensituation. Alle diese Bilder standen vor meinen Augen. Ich teilte in der folgenden Sitzung einiges davon mit. Die Träumerin konnte berichten, dass sie zwar im Traum nur Verwunderung, aber sonst kein Gefühl gespürt habe, dass sie aber – wie schon erwähnt – am nächsten Tag, als sie über den Traum nachdachte, eine ihr unerklärliche tiefe Traurigkeit gespürt habe. Und nun spürte sie Wut über die Erwachsenen, die sie so ratlos gelassen hätten. In der weiteren Arbeit und Reflexion wurden die Traumbilder erklärbar. Die drei Rosen standen für drei Verluste in ihrem Leben. Als sie vier oder fünf Jahre alt war, starb ihre kleinere Schwester. Ihr Sarg wurde mit Rosen und Glanzbildern geschmückt. Ihr sei das alles unklar gewesen, was Tod sei. Auch als ihr Vater gestorben war, habe sie das nicht begriffen. Sie habe ihn einfach innerlich nicht sterben lassen, sie habe ihn ja gebraucht. Sie sei immer sehr einsam gewesen. Auch als ihr Mann sie verlassen habe, habe sie diese Tatsache eigentlich geleugnet. Erst 222

jetzt bemerke sie, dass sie sich von ihm löse! Erst jetzt werde ihr das alles klarer. Ich möchte an dieser Stelle einige ergänzende Mitteilungen über meine Traumarbeit in der Gruppe einfügen. Sehr häufig spielten wir Träume oder wir choreographierten und tanzten sie. Sehr viele Anregungen für diese Art von Traumarbeit fand ich in der Begegnung mit der Tanztherapie und dem Tanztherapeuten Cary Rick. Der Träumer oder die Träumerin selbst inszeniert den Traum, wählt die Darsteller aus, stellt die einzelnen Szenen und gibt die Aktionen an. In unserem Fall wären das Traum-Ich, die Rosen, der Mann zu besetzen, auch die Szenerie kann gespielt werden. Diese Arbeit des Wählens, des Aussuchens und Ausprobierens hat viel Ähnlichkeit mit der freien Assoziation in der individuellen Traumarbeit. Ihr haftet etwas kreativ Regressives an. Es ist ein gemeinsames Arbeiten der ganzen Gruppe. Der inszenierende Träumer ist in dieser Arbeit nun gleichzeitig mit seinem individuellen Unbewussten konfrontiert, aber auch ermutigt und getragen von dem »kollektiven« Unbewussten der Gruppe. Das ermöglicht eine große Tiefe der schöpferischen Regression. In der Regel wird die Rolle des Traum-Ich zunächst von einem Gruppenmitglied übernommen. Die Träumerin oder der Träumer kann vorerst außerhalb stehen. Nach und nach sind alle Szenen erstellt, der Traum als Ganzes ist spielbar geworden und das Spiel vom Regisseur für stimmig, das heißt für übereinstimmend mit dem Traumtext und den Traumgefühlen erklärt worden. Nun ergibt sich die Möglichkeit einer weiteren Vertiefung. Die Träumerin oder der Träumer kann selbst in die Rolle des TraumIch schlüpfen – der bisherige Rollenträger übernimmt hierbei häufig die Funktion eines stützenden Hilfs-Ich – und kann nun spielend den Traum nachträumen. In den dabei bei allen Beteiligten aufkommenden Gefühlen, Bildern und Gedanken enthüllt sich hinter dem manifesten Traumtext der latente Traumgedanke. Das Unbewusste des Träumens wie die unbewussten Impulse der Gruppe werden zum Gegenstand langer und prozesshaft ablaufender Reflexionen. 223

Hierbei hat die Analyse aller dabei entstehenden Beziehungen und Berührungen oder auch Widerstände in der Gruppe eine besondere Bedeutung. Schauen wir noch einmal zurück. Mit ihrem Traum berührte die Träumerin verschiedene Gruppenteilnehmer in ihrem inneren Kern. Der Themenbereich kreiste um Trennung und Wut über Trennung und Bedrohung. Der Weg führte dabei zurück in früheste Kindheitserfahrungen. Die eigentlich positive Entwicklung, welche die Träumerin in den letzten Monaten durchgemacht hatte, die Bereitschaft, sich zu lösen und neue Bindungen einzugehen, rührte auch an bedrohliche Urerfahrungen. Das wiederum löste in tiefen Seelenschichten der Mitpatienten und des Therapeuten Mitschwingungen aus, deren Wahrnehmung und deren Mitteilung einen wichtigen Anteil bei der Traumerhellung und der Traumarbeit als Reifungsarbeit hatten. Es handelt sich hierbei um eine Art projektiver Identifikation. Die Gegenübertragung wird hierbei zum wichtigen diagnostischen und therapeutischen Instrument. Kernberg betont das bezogen auf frühe Störungen (1985, S. 184). Bei meiner Patientin würde ich sagen, dass sie in einem Reifungsschritt, der einen inneren Konflikt auf ödipaler Stufe – also einer reiferen Stufe der Entwicklung – der Bearbeitung zugänglich machte, früheste Erfahrungen von Verlassensein durch die Mutter wiederbelebte und dabei auf den alten Abwehrmechanismus der Spaltung oder den der Trennung von Affekt und Gefühl, der Affektisolierung zurückgriff. Es ging in der therapeutischen Arbeit um die Zusammenfügung von Erleben und Gefühl, um die Wiederherstellung einer Ganzheit.

Über Abstinenz und Agieren Meine Ausführungen provozieren eine kritische Frage, die mir tatsächlich öfter gestellt wird, nämlich wie ich es denn mit der Abstinenzregel halte. Ich stelle die Forderung auf, dass der The224

rapeut für den Patienten eine klar erkennbare Person sein soll. Für die Gruppe schlage ich Spiele vor, in denen agiert wird, in denen Berührungen stattfinden, in denen auch der Therapeut berührbar ist. Ich teile mich mit, ich berichte einen eigenen Traum. Freud führte den Begriff ein mit seiner Bemerkung: »Die Kur muss in der Abstinenz durchgeführt werden« (1916–17, S. 315) und er meinte damit »Entbehrung«. Das hatte – und hat – seinen Sinn in einem engen, aus der Libidotheorie abgeleiteten analytischen Setting. Der Begriff war übrigens immer umstritten. Ich verweise nur auf die Auseinandersetzungen zwischen Ferenczi und Freud. In Alfred Adlers Werk finden wir an den verschiedensten Stellen und immer wieder fast leidenschaftlich vorgetragene Hinweise auf die »heilige« Funktion der Mutter. Er folgert daraus, dass im Prinzip in der Therapie das nachgeholt werden müsse, »was die Mutter ursprünglich versäumt hat« (Adler 1982, S. 1632ff.). In der modernen analytischen Literatur hat vor allem Tilmann Moser (1987) auf höchst eindrucksvolle Weise darauf aufmerksam gemacht, dass zu rigide gehandhabte therapeutische Settings bei manchen Patienten genau jene Mangelsituationen wiederherstellen, die sie in früher Kindheit erlebten. Die analytische Kur heilt in solchen Fällen nicht, sondern bestätigt nur alte Defiziterfahrungen. Worum geht es denn in den Begegnungen des Kindes mit seinen frühesten Bezugspersonen? Um die Erfahrung von Nähe und Grenze, um die Herauslösung des autonomen Ich aus dem ursprünglichen Verschmolzensein mit der Mutter. Gute Eltern geben ihrem Kind Schutz und entlassen es liebevoll in seine Autonomie. Genau um diese – korrigierende – Wiederholung der Erfahrung von Nähe und Grenze geht es in der therapeutischen Beziehung. Wenn ich also fordere, dass der Therapeut für den Patienten eine klar erkennbare Person sein soll, meine ich damit, er soll fähig sein, Nähe zu geben, und er soll ebenso fähig sein, sich zu umgrenzen und Grenzen des anderen zu achten. Dies setzt ein gewisses Maß an Abstinenz voraus. Der Therapeut muss 225

der Versuchung widerstehen, den Patienten zum Objekt seiner Wünsche zu machen. Neurose kann ich auch beschreiben als Einengung von Autonomie. Adler stellt eine Beziehung her zwischen der Autonomie eines Menschen und seinem Gemeinschaftsgefühl. Der autonome Mensch ist im Verständnis Adlers auch ein auf andere Menschen und die Welt positiv bezogener Mensch. In der von mir so verstandenen therapeutischen Beziehung soll ein ermutigendes Klima geschaffen werden, in dessen Schutz Autonomie wächst, auf deren sicheren Grund ungelöste innerpsychische Konflikte zur Lösung gebracht werden können. Das von mir in der Gruppentherapie vorgeschlagene Spiel ist ein Mittel. Es darf nicht Selbstzweck werden. Ich kann es auch im Sinne des Widerstands einsetzen, als Mittel zum Wegagieren. Adler nannte das Spiel die Arbeit des Kindes. Es geht hierbei um ernsthafte Arbeit, ich nannte sie Beziehungsarbeit in der Begegnung mit Träumen. So können wir die schöpferische Kraft des Traums nutzbar machen zur Förderung ganzheitlicher Beziehungen zu uns selbst und zu den anderen.

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Ein unverstandener Traum ist wie eine unverstandene Antwort Christoph Werner / Arnold Langenmayr

Jürgen Körner / Arnold Krutzenbichler (Hg.)

Der Traum und die Fehlleistungen

Der Traum in der Psychoanalyse

Psychoanalyse und Empirie, Band 2. 2004. Ca. 240 Seiten, kartoniert ISBN 3-525-45006-0

2000. 211 Seiten mit 10 Abbildungen, kartoniert ISBN 3-525-45875-4

Empirische Untersuchungen der freudschen Konzepte zum Traum und den Fehlleistungen bestätigen seine Annahmen, die ein je zufälliges Zustandekommen ausschließen.

Ein Jahrhundert nach Freuds "Traumdeutung" bietet dieser Band ein Forum kritischer Reflexion der psychoanalytischen Arbeit mit Träumen.

Gaetano Benedetti Holger Bertrand Flöttmann

Die Botschaft der Träume

Träume zeigen neue Wege

Unter Mitarbeit von Elfriede Neubuhr, Maurizio Peciccia und J. Philip Zindel. 1998. 297 Seiten mit 11 Abbildungen, kartoniert ISBN 3-525-45803-7

Systematik der Traumsymbole 2., erweiterte Auflage 2004. 340 Seiten, kartoniert ISBN 3-525-46194-1

Diese Systematik von Traumsymbolen basiert auf der wissenschaftlich fundierten Auswertung einer großen Anzahl von Träumen. Sie findet Anwendung in tiefenpsychologischer und psychoanalytischer Therapie, kann aber genauso jedem Träumer und jeder Träumerin als Orientierung dienen.

"Diesem Buch ist ebenso unter psychotherapeutisch engagierten Ärztinnen und Ärzten, Diplom-Psychologen/-innen wie auch interessierten Theologen und Pädagogen große Verbreitung zu wünschen. Die Lektüre wirkt stellenweise geradezu faszinierend ...“ Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt