Trauerlebensgeschichten: Jugendliches Leben nach dem Tod eines nahen Anderen 9783534402014, 9783534402038, 9783534402021

Wie leben Jugendliche nach dem Tod eines nahen Anderen? Wird danach 'alles anders', wie es so oft heißt?Michae

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Trauerlebensgeschichten: Jugendliches Leben nach dem Tod eines nahen Anderen
 9783534402014, 9783534402038, 9783534402021

Table of contents :
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Liebe Leserinnen und Leser!
Der Weg der Forschung
Typologie
Typ A
Skadi
Marie
Lutz
Darstellung
Typ B
Klara
Amelie
Stefanie
Frauke
Darstellung
Typ C
Sebastian
Markus
Annalena
Darstellung
Typ D
Elisabeth
Matz
Darstellung
Typ E
Leonhard
Katharina
Florian
Darstellung
Die Typologie als Beantwortung der Fragestellung
Typ A als Grundtyp der Typologie
Die Struktur der Typologie
Die Typen E und B – Nähe und Kontrast
Die Typen C und D – Nähe und Kontrast
Der Kontrast der Typen: B und E zu C und D
Die Nähe der Typen E und C
Die Nähe der Typen B und D
Schluss
Vollständigkeit der Typologie
Die Beantwortung der Fragestellung
Anhang: Systematik einer ‚inneren Provinz der Trauer‘
Die ‚innere Provinz der Trauer‘
Befindlichkeiten und Emotionen innerhalb einer ‚Trauerzeit‘
Reaktion auf Veränderungen und Krisenbewältigung
Reaktion auf den Verlust von Ressourcen
Biographische Verknüpfung
Teil der Identität
Ablehnung und pragmatische Wendung in die Zukunft
Erinnerung und Nostalgie
Bleibende Befindlichkeit einer inneren Provinz
Literaturverzeichnis
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Michael Paul Häußler

TrauerLebensGeschichten

Michael Paul Häußler

TrauerLebensGeschichten Jugendliches Leben nach dem Tod eines nahen Anderen Eine Typologie

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnd.d-nb.de abrufbar

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Inhalt Liebe Leserinnen und Leser!.......................................................................................... 7 Der Weg der Forschung.................................................................................................. 9 Typologie ....................................................................................................................... 17 Typ A......................................................................................................................... 20 Skadi................................................................................................................... 21 Marie................................................................................................................... 27 Lutz..................................................................................................................... 33 Darstellung......................................................................................................... 44 Typ B......................................................................................................................... 51 Klara.................................................................................................................... 53 Amelie................................................................................................................ 64 Stefanie .............................................................................................................. 73 Frauke................................................................................................................. 79 Darstellung......................................................................................................... 88 Typ C......................................................................................................................... 92 Sebastian............................................................................................................ 93 Markus .............................................................................................................101 Annalena..........................................................................................................109 Darstellung.......................................................................................................112 Typ D......................................................................................................................115 Elisabeth...........................................................................................................118 Matz..................................................................................................................128 Darstellung.......................................................................................................138 Typ E.......................................................................................................................140 Leonhard..........................................................................................................141 Katharina..........................................................................................................149 Florian..............................................................................................................160 Darstellung.......................................................................................................163 5

Die Typologie als Beantwortung der Fragestellung................................................171 Typ A als Grundtyp der Typologie.....................................................................172 Die Struktur der Typologie............................................................................180 Die Typen E und B – Nähe und Kontrast....................................................180 Die Typen C und D – Nähe und Kontrast...................................................182 Der Kontrast der Typen: B und E zu C und D............................................184 Die Nähe der Typen E und C........................................................................187 Die Nähe der Typen B und D........................................................................187 Schluss...........................................................................................................................189 Vollständigkeit der Typologie..............................................................................189 Die Beantwortung der Fragestellung..................................................................189 Anhang: Systematik einer ‚inneren Provinz der Trauer‘........................................190 Die ‚innere Provinz der Trauer‘...........................................................................192 Befindlichkeiten und Emotionen innerhalb einer ‚Trauerzeit‘........................194 Reaktion auf Veränderungen und Krisenbewältigung................................................................................................198 Reaktion auf den Verlust von Ressourcen.........................................................199 Biographische Verknüpfung ...............................................................................201 Teil der Identität ...................................................................................................204 Ablehnung und pragmatische Wendung in die ­Zukunft­.................................205 Erinnerung und Nostalgie...................................................................................207 Bleibende Befindlichkeit einer inneren Provinz ..............................................209 Literaturverzeichnis....................................................................................................211

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Liebe Leserinnen und Leser! Nach den ‚TrauerFallGeschichten‘ erzähle ich Ihnen nun ‚TrauerLebensGeschichten‘. Jene Trauerfälle hatten eine eigene Geschichte, zum ‚Leben mit der Trauer‘ können nun andere Geschichten erzählt werden: wie z.B. Karten im Spiel des sozialen Lebens neu gemischt werden, wie Individuen Veränderungen ihrer Lebensbedingungen erfahren und erleiden, wie Kollektive sich neu organisieren, wie neue familiäre Beziehungen entstehen. Erzählt werden dabei Geschichten vom ‚Leben mit dem Tod’ oder besser: ‚Mit den Toten‘, die weiterhin die ‚Unseren‘ sind. Die Erfahrung ihres Sterbens, die Wahrnehmung ihres toten Körpers und das Erleben ihrer Bestattung, ihr ganzes Sein bei uns und mit uns – solche Erinnerungen können wir nicht vergessen. Die Trauer um sie – ich nenne es ein ‚bleibendes Grundrauschen der Trauer‘ in uns – ist ein Teil von uns geworden, deshalb müssen wir damit leben, indem wir mit ihnen als ‚unseren Toten‘ leben. Solches Leben verstehe ich als ‚TrauerLeben‘, in dem es weiter geht mit dem Leben, in dem Tote und Trauer weiterhin dazu gehören. Für die gesellschaftliche Gruppe junger Menschen (12–25 Jahre) wird dieses Leben im Folgenden nachgezeichnet. Die Darstellung nimmt die Ergebnisse der Forschungen auf, die ich in meiner von Prof.  Dr.  Werner Fuchs-Heinritz betreuten und 2011 von der Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften der Fernuniversität in Hagen als Dissertation angenommenen Monografie (Häußler 2012) der fachwissenschaftlichen Leserschaft als ‚open-access‘-Datei zugänglich gemacht habe. Als solche kann sie weiterhin als Beispiel einer Studie zur Methode „der Typenbildung als eigenständige(r) Art der Analyse und Interpretation qualitativen Datenmaterials“ (Dunger 2016: 171. s. auch op.cit.: 178f) abgerufen werden. In den hier vorliegenden ‚TrauerLebensGeschichten‘ sollen die seinerzeitigen Forschungserträge nun im Anschluß an die weitergeführte Forschung, wie sie in den ‚TrauerFallGeschichten‘ dargelegt wurden, für einen breiteren Leserkreis in Buchform greifbar werden. 7

Für die ‚TrauerLebensGeschichten‘ wurde der Text der Dissertation zwar übernommen, aber umfassend überarbeitet. So konzentrierte ich mich auf die Darstellung des Forschungsprozesses und der eigenen Forschungsergebnisse. Sie als Leserinnen und Leser sollen auf eine ‚Forschungsreise‘ mit genommen werden: Entwicklung der Fragestellung, Wahl der Forschungsmethode und der Ausarbeitung, die Darstellung des Ergebnisses. Es wurde darauf verzichtet, eine Geschichte relevanter Forschungen nachzuzeichnen. Gleiches gilt für die Breite der Diskussion. Das Weggelassene ist an anderer Stelle erreichbar. Die der Darstellung der Typologie dienenden Fallgeschichten wurden teilweise neu zusammengestellt, maskiert und ergebnisorientiert erzählt. Auf die Darstellung interpretativ-analytischer Anteile wurde weitgehend verzichtet. Zuletzt habe ich versucht, manche Inhalte lesbarer zu gestalten. Dennoch folgen die ‚TrauerLebensGeschichten‘ inhaltlich der Dissertation. Insbesondere die Erarbeitung der Typologie ist fast unverändert übernommen worden. Ich sehe aber davon ab, wörtliche Übernahmen aus eigenem Text und Gedanken als solche zu kennzeichnen.

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Der Weg der Forschung Die Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Todes ist im Lehrplan des Konfirmandenkurses der evangelischen Kirche vorgesehen. Unter dem Titel „Tod – und was danach kommt“ wird dabei die christlich-kirchliche Vorstellung der ‚Auferstehung der Toten und des Lebens der kommenden Welt‘ (Symbolum Nicaeno-Konstantinopolitanum) thematisiert. Dieses Thema wurde zu Beginn der 2000er Jahre in einer Kursstunde meiner Konfirmanden pointiert auf das Leben derer bezogen, die nach dem Tod eines Anderen als Hinterbleibende weiterleben. Von diesem Weiterleben sollten die Konfirmanden erzählen und davon haben sie erzählt: Von eigenen lebensgeschichtlichen Erfahrungen als Waisen, oder denen Dritter mit dem Tod eines Anderen. Sie erzählten, wie z.B. nach dem Tod der Mutter Aufgaben in der Familie neu verteilt wurden, wie z.B. die Tochter die Rolle der Mutter einnahm oder ein Vater sich zur Hausfrau veränderte. Sie erzählten von Reaktionen ihrer Umwelt in der Familie, der Schule und im Freundeskreis auf ihren Status als Hinterbleibende und als Trauernde, berichteten von Isolationen, von Hilfen durch Lehrer und Freunde, von Leistungsabfällen in der Schule und auch von verändertem Verhalten in den unterschiedlichen Welten ihres Lebens. Die jugendlichen Hinterbleibenden mußten sich neue Gesprächspartner suchen, weil ein ehemaliger Gesprächspartner gestorben war und als solcher nicht mehr zur Verfügung stand. Neue Gefühlsbindungen wurden geknüpft, ehemalige abgebrochen. Den zuvor durch die Anwesenheit eines Elternteils umsorgten und behüteten Jugendlichen brach diese Versorgung weg; damit gewannen sie aber auch neue Freiheiten in der Gestaltung und der Bestimmung über ihre Freizeit. Wohnsituationen veränderten sich; durch den Tod eines Geschwisterkindes stand den Hinterbleibenden mehr Raum im Familienheim zur Verfügung. Durch die Erfahrung des Todes des Anderen änderten sich bei den jugendlichen Hinterbleibenden auch die Einstellungen zum Tod. Dieser rückte als Horizont eigener Lebenszeit näher, so nahe, dass die Sicherheit des Lebens verloren ging: Das, was mit einem Gleichaltrigen geschehen ist, könnte auch ‚mir‘ widerfahren. Die Informanten erzählten auch von Befindlichkeiten der Beteiligten, von Traurigkeit, Einsamkeit, Zorn, Enttäuschung und Angst, 9

aber auch von Dankbarkeit, Hoffnung und auch Zufriedenheit und Freude an der neuen Lebenssituation. Diese Befindlichkeiten wurden von ihnen als mit dem Tod ursächlich verknüpft dargestellt. Schon die wenigen Berichte und Erzählungen der Konfirmanden ergaben ein buntes Bild des Lebens von Hinterbleibenden nach dem Tod eines Anderen. Von Veränderungen des Lebens bzw. Dramatisierungen wurde erzählt, von Beibehalten eines Status quo bzw. Verstärkungen von Strukturen, Konfigurationen, Problemlagen, Befindlichkeiten und Verhalten. Dies erweckte mein Forschungsinteresse und damit nahm die Arbeit ihren Anfang, hier wurde die Forschungsfrage gewonnen und das Forschungsdesign initiiert:

Wie geht das Leben von Jugendlichen weiter nach dem Tod eines nahen Anderen? Wie aber sollte ich diese Frage beantworten? Und welche Art einer möglichen ‚Antwort‘ ist gemeint? Die Konfirmanden hatten mir ihre Lebensgeschichten und Lebensverläufe in mündlicher Form in einem Gesprächskreis erzählt. Solches in jener Konfirmandenkursstunde im Gespräch hergestellte Datenmaterial hatte in Bezug auf Form und Inhalt mein Interesse geweckt und mich nicht allein nur auf das Thema verwiesen, sondern bereits neue Einsichten verschafft. Pointiert gesagt: Was mir erzählt wurde, hatte ich zuvor nicht gewußt, und es weckte meine Neugier. Die Beantwortung der Forschungsfrage war ja ergebnisoffen und zu Beginn der Arbeit nur durch Vermutungen aufgrund von Alltagswissen (z.B. für den Seelsorger zum Thema ‚Trauer‘) theoretisch ‚vorbelastet‘. Die Grundstruktur meiner Forschung stand mir nun deutlich vor Augen: Gewinn von Erkenntnis des Nicht-Erkannten, so formulierte ich den Forschungsansatz. Und die Konfirmanden und andere Jugendliche sollten mit ihrem Wissen meinem ‚Nichtwissen‘ dabei ‚auf die Sprünge helfen‘. Aus ‚Befragten‘ wurden sie zu Informanten, welche mich ‚in Kenntnis‘ setzen. Einem so in aller Kürze beschriebenen ‚qualitativen‘ Forschungsansatz steht kontrastiv ein ‚quantitatives‘ Forschungsdesign gegenüber: Der Forscher kann 10

mit Hilfe eines entsprechenden Instruments (z.B. ein Fragebogen) nach dem Auftreten bestimmter Symptome fragen, die nach dem Tod im Leben der Jugendlichen auftraten, d.h. nach Mustern und Clustern des Handelns und Erlebens im ‚Trauerfall‘ suchen. Die Erarbeitung einer inhaltsanalytischen Studie mit der Erstellung einer deskriptiven Cluster-Typologie lag zu Beginn der Forschungsarbeit durchaus nahe. Das Spezifikum dieses methodischen Ansatzes ist ein ‚Vorwissen‘ um diese Symptome. Frage ich z.B. nach der Intensität von Trauergefühlen, so setzt diese Frage das Wissen um ‚Trauer‘ und spezifische Empfindungen voraus, die nun zu ‚messen‘ sind. Ich unterstelle dabei dem Befragten, dass er in seinem Erleben, Empfinden und Verhalten diesem Vorwissen entspricht. Freilich kann der Forscher in einem ersten Schritt qualitativen Designs von den Variationen eben jenes Erlebens, Empfindens und Verhaltens in Kenntnis gesetzt werden. Solches wird in dieser Arbeit vorgestellt. In einem zweiten quantitativen Forschungsschritt können durch unterschiedliche Methoden z.B. Korrelationen zwischen einzelnen Phänomenvariablen und daraus resultierende Möglichkeiten und Notwendigkeiten praktischer Anwendung heraus gearbeitet werden. In den ‚Trauerfallgeschichten‘ wurde eine solches Forschungsprojekt vorgestellt (Häußler 2018: 296ff). Die Erzählungen der Konfirmanden war qualitatives, biographisches Daten-Material; dies legte für diese Forschungsarbeit einen biographischen Forschungsansatz nahe. Mehr noch: Es ist autobiographisches Material, d.h.: Junge Menschen haben von ihrem Leben oder dem Leben eines ihnen bekannten Dritten nach dem Tod eines nahen Anderen erzählt und sollen dies für diese Forschungsarbeit auch tun: In einer offenen Interviewsituation werden die jugendlichen Informanten gebeten, ihre Lebensgeschichte nach dem Tod eines nahen Anderen zu erzählen. Zusätzlich findet biographisches Material anderer Art wie Informanten-Interviews und mündliche und schriftliche Berichte zur Erhebung einer jeweiligen individuellen Fallgeschichte Verwendung. Als Interviewtechnik wurde das biographische (‚lebensgeschichtliche’ – Rosenthal 1995: 186) Interview bevorzugt. Es ist ein offenes, nicht vorstrukturiertes Erhebungsverfahren und in besonderer Weise geeignet, relevante Daten zu jugendlichem Leben in seinen komplexen, sozialen Zusammenhängen und Prozessen, wie die Akteure es je für sich ‚erleidend‘, deutend und handelnd weitergeführt haben, zu gewinnen. Schütze (1987) hat darauf hingewiesen, dass die von ihm 11

entwickelte Methode des ‚narrativen Interviews‘ in besonderem Maße dem Forschungsanliegen der Erhebung eines sozialen Prozesses entspricht. Das Instrument findet vor allem für biographische Fragestellungen Verwendung, d.h. für die Erhebung der die Fragestellungen erhellenden Prozessgeschichten aus der biographischen Perspektive der Biographieträger. Es nimmt damit das ‚Expertentum‘ der Informanten in Bezug auf ihre Biographie ernst (Fuchs-Heinritz 1999: 99); sie sind es, die wissen und in Kenntnis setzen. Das Wissen um ihre Lebensgeschichte „ist den Informanten auf der Ebene der erzählerischen Darstellung verfügbar“ (Herrmanns 1991: 185) und darstellbar in eben dieser Stegreiferzählung. Diese ist deshalb das wesentliche Merkmal des ‚narrativen Interviews’. Die von Schütze so genannten ‚Zugzwänge des Erzählens’ führen dabei innerhalb der Stegreiferzählung zu einer Darstellung des Lebenslaufes, die dem in den erzählten Situationen Erlebten entspricht: „Aus der gegenwärtigen Erinnerung wird die Entwicklung des Stromes vergangener Ereignisse dargestellt: Es wird zunächst die Ausgangssituation geschildert („Wie alles anfing“), und es werden dann aus der Füller (sic!) der Erfahrungen die für die Erzählung relevanten Ereignisse ausgewählt und als zusammenhängender Strom von Ereignissen dargestellt („Wie sich die Dinge entwickelten“) bis hin zur Darstellung der Situation am Ende der Entwicklung („was daraus geworden ist“)“ (Herrmanns 1992: 121). „Oberstes Handlungsziel des narrativen Interviews ist es, über expandiertes Erzählen die innere Form der Erlebnisaufschichtung des Informanten hinsichtlich der Ereignisse zu reproduzieren, in welche er handelnd und erleidend selbst verwickelt war“ (Schütze 1987: 49). Fuchs-Heinritz schätzt den ‚dokumentarischen Gehalt’ des in solchen Stegreiferzählungen Dargebotenen als recht hoch ein (Fuchs-Heinritz 1999: 162; vgl. Schütze 1987: 25f; vgl. die Diskussion bei Fuchs-Heinritz 2009: 147ff). Die erzählten Lebensgeschichten sind individuell, als Erzählungen initiiert und verknüpft mit seinen Erzählern und geprägt durch subjektives Erleben und ihren Erzähl- und auch Darstellungswillen. Die Konfirmanden hatten in der Situation des Gesprächs im Konfirmandenkurs ein sehr persönliches Interesse, ihre Lebensgeschichte zu erzählen bzw. von der Lebensgeschichte anderer aus ihrer eigenen Perspektive zu berichten. Jeweils individuelle, also einzigartige Geschichten vom Leben nach dem Tod des Anderen brachten sie in das Gespräch ein: Eigene Beurteilungen, Anteilnahme und auch emotionale Bezüge zum berichteten Leben Anderer wurden vorgetragen. 12

Wie nun ist mit der Materialsammlung umzugehen? Als Material gelten die erhobenen Daten, also die verschriftlichten Interviews als die Dokumentationen der jeweiligen ‚Fälle‘‘. Schulze (2010) gibt zu bedenken: „Die Untersuchung gilt nicht dem Dokument, sondern dem, was in ihm dokumentiert ist, dem eigentlichen Fall“ (op.cit.: 31), also der Lebensgeschichte des Informanten, die über die Dokumentation seines Berichtens und Erzählens hinaus weiterer, ergänzender Nachfragen, Erläuterungen, Ergänzungen bedarf (auch durch Nachfragen einige Zeit nach dem Interview), und der biographischen Aufschichtung dieser Geschichte, d.h. die durch die Stegreiferzählungen im Zugzwang des Erzählens dargestellte innere Dynamik seiner Fallgeschichte, ihrer Prozesse des Erleidens und des Handelns, der Deutung durch die Informanten – auch im Vorgang des Interviews – und ihrer teleologischen Dimensionen, in denen (z.B. in einer Bilanzierung) soziale Anschlussfähigkeit und Zukunftsperspektiven thematisiert werden (‚jetzt wohne ich noch bei den Eltern, aber ich werde in einer anderen Stadt studieren‘). Für Schulze steht deshalb „die Biographie als Lebenswirklichkeit eines einzelnen Menschen, als zu lebendes und zu gestaltendes Leben im Mittelpunkt des Interesses“ (Schulze 2010: 33). In der Datenanalyse und der Rekonstruktion der Fallgeschichte sollen die jeweiligen Fallgeschichten deshalb nicht durch die Orientierung an einer vorgegebene Heuristik ‚erklärt’ und ‚eingeordnet’, sondern zunächst als Ganzes als individuelle und besondere Fallgeschichte ‚verstanden‘ und nachgezeichnet, d.h. interpretiert werden. In einem zweiten Schritt werden die besonderen Ausprägungen identifizierter Typiken in dieser Lebensgeschichte herausgearbeitet, und in einem dritten Schritt erfolgt durch die Kontrastierung der Typiken die verallgemeinernde Einordnung in die Typologie dieser Forschungsarbeit auf der Grundlage der Fokussierung auf eine Basistypik. In der Analyse der Interviews wurden zunächst die Ersterzählungen nach den Vorgaben der Methodik des narrativen Interviews (nach Schütze) segmentanalytisch interpretiert (vgl. Schütze 1987: 247f). Zur Erweiterung der Interpretation in Bezug auf die Linien des Lebenslaufes wurden die Daten des Nachfrageteils herangezogen. Zusätzliches Material zur Stützung bzw. Präzisierung der Interpretation wurde bei Bedarf nachträglich erhobenen Daten (Recherchen in weiterem biographischen Material, Nachfragen an Interviewpartner) entnommen. 13

Die segmentielle Analyse der Ersterzählungen der Mehrzahl der Interviews verlangte allerdings eine Modifikation der methodischen Vorgaben Schützes im Sinne einer ‚rekonstruktiven Fallanalyse‘ (so zuerst Rosenthal 1995) und im Anschluss an die Mahnung Schulzes (s.o.). Viele Interviews enthalten weitgehend argumentative Darstellungsteile; narrative Elemente sind mitunter nur in kurze Notizen eingebettet. Dennoch: In den Darstellungen werden Aufschichtungen der Ereignisse deutlich, die durch die Gestaltzwänge einer Stegreiferzählung weitgehend geprägt sind. Allerdings resultiert „die Geordnetheit der lebensgeschichtlichen Selbstrepräsentation […] sowohl aus der Gestalthaftigkeit des bisher gelebten Lebens als auch aus der Gestalthaftigkeit der Zuwendung in der Gegenwart des Erzählens“ (Rosenthal 1995: 132f). Die Darstellung des Verlaufs der Ereignisse und die biographische Einbindung der Informanten in diese Ereignisse als Handelnde und Erleidende orientiert sich dabei – so die Vermutung im Anschluss an Rosenthal – an komplexen Szenenbildern, welche als Ganze der Präsentation der Erzählung zugrunde liegen bzw. aktuell in der Konstruktion des Interviews zugrunde gelegt werden. Sie fungieren als Gestaltkriterium der segmentiellen Struktur der Ersterzählung und werden in ihr als erlebte, erinnerte und zugleich aktuell präsentierte Szenenbilder aufgeschichtet (wie einzelne Bestandteile in einem Bild aufeinander geschichtet werden) und ausgeformt. Die Bilder des Erlebens, der Erinnerung und der aktuellen Darstellung stehen dabei in einem interpretativen Gestaltzusammenhang; sie lassen in ihren Zusammenhängen, ihren Brüchen und in ihren Ergänzungen den Lebensverlauf der Informanten bis zum Zeitpunkt des Interviews als Erleben und Erleiden, als Handeln und als Deuten dieses Lebens für die eigene Identität erkennen (vgl. zum Ganzen Rosenthal op.cit.). Berichte, Schilderungen, Evaluationen und Argumentationen können so in die Analyse der so präsentierten Szenenbilder – sofern sie dort integriert sind (dies kann durch die Sequenzanalyse festgestellt werden – s.o.) – aufgenommen werden. Innerhalb der Schichten der Szenenbilder können dann Interaktionsfelder und ihre Veränderungen und Themenfelder analysiert und interpretiert werden. In den Fallgeschichten wird nachgezeichnet, auf (1) welchen Wegen und in welchen sozialen Strukturen das (2) jeweils individuelle Leben der einzelnen jugendlichen Hinterbleibenden nach dem Tod eines nahen Anderen verläuft. D.h.: Jeweils einzigartiges Erleben generiert umfassende und allgemeine Aussagen über ‚das‘ Leben von Jugendlichen nach dem Tod eines nahen Anderen. Jede individu14

elle Fallgeschichte kann in dieses Allgemein – und zwar als Ausprägung von allgemeinen Variablen – eingegliedert werden. Dies läßt die Vermutung zu, dass in der ‚gesättigten‘ Gesamtheit der Fallgeschichten das Repertoire der heute möglichen Lebensformen und Lebensabläufe von Jugendlichen nach dem Tod eines nahen Anderen abgebildet ist. Statt des Terminus ‚Gesamtheit‘ benutze ich in methodologisch präziserer Begrifflichkeit den der ‚Typologie‘. Ziel der Forschungstätigkeit und Antwort auf die Fragestellung ist also eine Typologie, die die Variationen des Lebens von Jugendlichen nach dem Tod eines nahen Anderen innerhalb der relevanten, d.h. jugendspezifischen Lebenswelten (damit sind sozio- lokale Bereiche des jugendlichen Lebens gemeint: Familie, Schule, Gleichaltrigengruppe) als System in Bezug auf die Ausprägungen seiner Variablen beschreibt.. Mit dem Instrument einer ‚kontrastiven Fallanalyse‘ vermag der Forscher die individuellen und unterschiedlichen Ausprägungen der Variablen eines weitergehenden jugendlichen Lebens nach dem Tod eines Anderen zu identifizieren und zu systematisieren. Das Ergebnis dieser Systematisierung ist eine Typologie des Lebens von Jugendlichen nach dem Tod eines Anderen, m.a.W.: Bezogen auf die Fragestellung, die sich auf das Leben der Jugendlichen bezieht, also auf strukturelle als auch prozesshafte Abläufe und Linien dieses Lebens, beinhaltet die Beantwortung der Fragestellung die Bildung einer Typologie, die sowohl deskriptive als auch genetisch-strukturale Typiken in sich vereint (vgl. Miethe 2010). Mit Kreitz (2010: 95f) wird dabei in ‚Typus‘, ‚Typik‘ und ‚Typologie‘ differenziert: „Ein Typus ist […] ein Orientierungsrahmen, für den eine bestimmte Erfahrungsbasis angegeben werden kann. Eine ‚Typik‘ repräsentiert die Orientierungsrahmen, die auf einer gemeinsamen (Erfahrungs-)Dimension liegen, und eine ‚Typologie‘ ist die Gesamtheit dieser Typiken.“ Bohnsack (Bohnsack 2010) bezeichnet Typiken oder ‚Erfahrungsräume‘ als „auf einer abstrakten Ebene als Gemeinsamkeit identifizierbar(e)“ (op.cit.: 61) Dimensionen der jeweiligen Fallgeschichten, die „von anderen, auf der Grundlage der fallspezifischen Beobachtungen ebenfalls möglichen Typiken“ (ebd.) unterschieden werden können und in einer konstrastierenden Fallanalyse in ihren individuellen Ausprägungen (gegenüber den Ausprägungen in einem alternativen ‚Fall‘) aufweisbar sind. In den Fallgeschichten überlagern sich die einzeln feststellbaren Typiken in ihren Ausprägungen; ein jeweils „‚reiner Typus‘ muss immer erst aus ihrer Überlagerung durch andere Typiken ‚herausabstrahiert‘ oder ‚herausdestilliert‘ werden, um von 15

anderen Typiken unterschieden und valide bestimmt werden zu können. […] Das Niveau der Validität wie auch der Generalisierung einer Typik ist somit davon abhängig, wie vielfältig, d.h. wie mehrdimensional, diese Typik innerhalb einer ganzen Typologie verortet werden kann“ (op.cit.: 60f). Die Bildung der gesamten Typologie ist nach Bohnsack (op.cit.) nun abhängig vom Erkenntnisinteresse des Forschers, d.h. dadurch bestimmt, welche Typik als ‚Basistypik‘ „den primären Rahmen“ der Typologie bildet (op.cit.: 61). Deskriptive Typiken dienen der ‚Oberflächen-Strukturierung‘ des Untersuchungsbereiches und werden aus den den Daten entnehmbaren ‚äußeren‘ Merkmalen der Fallgeschichten gewonnen wie z.B. das Alter des Informanten beim Tod des nahen Anderen und später beim Interview, die ‚Nähe‘ des nahen Anderen, das Geschlecht des Informanten, der Familienstand und die Lebenssituation des Informanten, der Bildungsstand, oder die Modi der Anteilnahme an spezifischen Lebenswelten wie Schule , Lehre, Studium und Gleichaltrigengruppen. Genetisch-strukturale Typiken (die Terminologie folgt Rosenthal 2005b: 24 und Miethe 2010: 83) werden gewonnen durch die Auswertungen der lebensgeschichtlich-narrativen Interviews als Rekonstruktionen der jeweils individuellen Fallgeschichte (Miethe 2010: 83; Rosenthal 1995; 2005a: 49ff; 2005b: 74ff), die die biographischen Linien des Lebens der Informanten nach dem Tod eines nahen Anderen nachzeichnen und darin verallgemeinerbare Orientierungsrahmen für Erfahrungen herausarbeiten, „die trotz unterschiedlicher Ausprägungen einer gemeinsamen Logik folgen“ (Wohlrab-Sahr 1994: 274).

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Typologie Die Ausarbeitung einer deskriptiven Typologie als Ergebnis dieser Forschungsarbeit ist möglich gewesen. Aus der Systematik der Fragestellung heraus entnommen und aus dem Sample gewonnen legten sich als Typiken zur Konstitution einer deskriptiven Typologie nahe: (1) Das Alter der Interviewpartner in einer sozial-rechtlichen Differenzierung in Volljährigkeit oder Minderjährigkeit der Jugendlichen. Die Merkmalsausprägungen verwiesen auf unterschiedliche Verläufe eines jugendlichen minderjährigen oder erwachsenen Lebens nach dem Tod eines nahen Anderen (z.B. in der Aufnahme der Selbstständigkeit der Haushaltsführung bei erwachsenen Jugendlichen gegenüber einer verstärkten Neuorganisation des alten Haushalts bei minderjährigen Jugendlichen). (2) Die Nähe des nahen Anderen mit den kontrastierenden Merkmalsausprägungen ‚naher‘ naher Anderer (z.B. als Elternteil) und ‚ferner‘ naher Anderer (z.B. als Freund oder Klassenkamerad). So bewirkte der Tod eines ‚nahen‘ nahen Anderen ‚in einigen Fallgeschichten erhebliche Veränderungen der Lebensabläufe, wohingegen der Tod eines ‚fernen‘ nahen Anderen bei unveränderter Lebenslinie vor allem zu emotionalen Konsequenzen führte. (3) Die Art des Todes des nahen Anderen als erwarteter oder unerwarteter Tod. Diese Typik ist nicht der Systematik der Fragestellung, wohl aber dem Sample zu entnehmen. In einem Teil der Fallgeschichten geht dem Tod des nahen Anderen eine mehr oder weniger lange Zeit des Siechtums voraus, in der die Betroffenen bereits strukturale Veränderungen innerhalb der Netzwerke ihrer Lebenswelten vornehmen können bzw. erleben. Diese Interviewpartner erzählen in ihren Interviews gegen die Aufforderung des Stimulus deshalb auch von der Zeit vor dem Tod des nahen Anderen. In der Ausprägung ‚unerwarteter Tod‘ erweist sich die Reorganisation z.B. der familiären Konfiguration in der Zeit nach dem Tod des nahen Anderen als eine schwierige und konfliktreiche Aufgabe. 17

Für die Konstitution der Typologie dieser Forschungsarbeit wurden zudem auch genetisch-strukturale Typiken (s.o.) herausgearbeitet. Identifiziert wurden zwei mögliche Basistypiken: (1) Die eine Typik ist von Interesse für eine soziologische Fragestellung nach der Wirkmächtigkeit der jugendgemäßen Entwicklungs- und Lebensabläufe, also den Entwicklungen in Familie, Schule oder Gleichaltrigengruppe im Gegensatz zu den Veränderungen, die nach dem Tod des nahen Anderen vorgenommen werden oder auch nicht notwendig werden (wenn z.B. familiäre Konstellationen neu geordnet werden müssen oder aber diese neuen Konstellationen bereits vor dem Tod initiiert wurden). Diese Typik bezieht sich auf die Art des Lebens der Jugendlichen unter den durch das Ereignis des Todes veränderten Verhältnissen. Als Ausprägungen dieser Typik gelten Veränderungen der Lebenslinien in den Lebenswelten wie Verstärkungen oder Beschleunigungen lebensgeschichtlicher Entwicklungen als auch Regressionen, Störungen oder Brüche und Lücken im Ablauf der Prozesse jugendlichen Lebens. In einer neutralen Ausprägung dieser Typik sind keine Veränderungen der Lebenslinien feststellbar, d.h. ‚allgemeine‘ Gesetzmäßigkeiten, normativen Abläufe bzw. bereits zuvor eingeschlagene Wege jugendlichen Lebens werden durch das Ereignis des Todes eines nahen Anderen nicht beeindruckt. (2) Eine zweite Typik bezieht sich vor allem auch auf ein psychologisches Erkenntnisinteresse. Für die Jugendlichen ist das Leben nach dem Tod eines nahen Anderen ein Leben mit der Trauer bzw. als Trauernde. Die Jugendlichen erzählen von ihren Befindlichkeiten und von Emotionen und den Reaktionen ihrer Umwelt in den Lebenswelten. Aufgrund ihrer Befindlichkeiten als ‚Trauernde‘ nehmen sie als Informanten an der Studie teil. Die Identifikation mit diesen Empfindungen prägt in bestimmten sozialen Netzwerken ihre Identität. Sie stellen sich als Trauernde dar bzw. werden als solche wahrgenommen und angesprochen. Die Trauer als Identitätsmerkmal prägt das zukünftige Leben oder aber betrifft es eigentlich gar nicht. Andere wiederum möchten ‚nicht als Trauerkloß leben‘, ‚normale‘ weil normative Formen jugendlichen Lebens bestimmen weiterhin die Lebensabläufe. Die Identität bzw. gar die Maskierung der Person als Trauernde zieht sich bis in die Jetztzeit, und mit der Trauer wird aktuelles Empfinden erklärt bzw. legitimiert. 18

Die Analyse der Fallgeschichten erweist: Beide Typiken sind aufeinander bezogen. Trauer wird sich innerhalb des mehr oder weniger bzw. in die eine oder andere Richtung veränderten Lebens der Jugendlichen nach den Tod eines nahen Anderen als eine Art emotionales ‚Grundrauschen‘ erweisen und jugendliches Leben in seinen Legitimierungen und Deutungen begleiten. Aber nicht die ‚Trauer‘ als Verlust, Erschütterung oder auch ‚übergroßer Schmerz‘ (und dies mag schon an dieser Stelle als eine Erkenntnis dieser Forschungsarbeit festgestellt werde) scheint die Lebenslinien und die Abläufe des Lebens zu bestimmen, sondern die ‚Trauer‘ bestimmt das Verständnis von sich selbst (die Identität) und damit zugleich auch die Deutungen, die Gestaltung der Bilder der Biographie, die Legitimationen, warum im Leben es nun nach dem Tod des nahen Anderen so und nicht anders verläuft. Der Tod eines Anderen verändert das Leben aber nur insofern, als neue soziale Konstellationen nach dem Tod bzw. mitunter schon vor dem Tod des nahen Anderen entwickelt und verwirklicht werden müssen bzw. alte Konstellationen den Anforderungen an eine Regulierung der Lebensprozesse nicht mehr gerecht werden. Diese Entwicklungen verändern den Lebensverlauf, nehmen Einfluss auf die Lebenslinien in den Lebenswelten und führen darin zu bestimmten Verhaltensmustern bzw. -weisen. Wer nur ‚trauert‘, dessen Leben verändert sich dennoch nicht, weil seine Befindlichkeiten aufgrund des Todes des nahen Anderen keine sozialen oder rechtlichen Auswirkungen auf seine Lebenslinien oder Lebensgestaltungen haben. Bezogen auf die Fragestellung dieser Arbeit und das damit initiierte Erkenntnisinteresse wird in der Konstitution der Typologie dieser Forschungsarbeit die erste Typik zur Basistypik. Die zweite oben definierte Typik wird für die Konstitution der Typologie korrespondierend herangezogen.

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Typ A Unverändertes Leben nach dem Tod eines nahen Anderen Typ A wurde als Grundtyp der Typologie herausgearbeitet, d.h. die Basistypik 1 zeigt keine Merkmalsausprägungen; die weiteren Typen B bis E dieser Typologie stellen – aufgrund von Modifikationen der für die Typen jeweils relevanten Merkmalsausprägungen und Dimensionen des Lebens (nach dem Tod des nahen Anderen) – Variationen dieses Grundtyps A dar. Der Tod des nahen Anderen beeinflusst für die Repräsentanten des Typs A das ‚Weitergehen des Lebens‘ nur sehr geringfügig und für eine bestimmte Zeit. Die Lebensführung und Lebenslinien der betroffenen Jugendlichen werden in den Lebenswelten durch den Tod des nahen Anderen nur für eine Zeit unmittelbar nach dem Todesfall als einer Art Trauerzeit verändert. Die späteren Lebenslinien und biographischen Verläufe werden dagegen von spezifischen Verlaufsformen der Lebensphase Jugend geprägt und dominiert. Der von den Interviewpartnern als ‚Trauer‘ bezeichnete Gefühls- und Erlebenszusammenhang (siehe Basistypik 2) darf hierbei als eine Art ‚Grundrauschen‘ innerhalb einer ‚inneren Welt‘ und dort in einer ‚inneren Provinz‘ bezeichnet werden. D.h. er ist nicht dominanter Bestandteil der inneren Welt der Betroffenen und als solcher dominantes Interaktionsmerkmal in den Lebenswelten im Sinn von spezifischen ‚Traueremotionen‘. Als ein latenter Teilbereich der inneren Welt wird er nur in sehr spezifischen Zusammenhängen von Interaktion und Kommunikation sozial wirksam (z.B. einer Internet-Trauergruppe oder im Interview für diese Forschungsarbeit). Skadi, Marie und Lutz sind die Repräsentanten des Typs A der Typologie. Ihre Fallgeschichten werden im Folgenden vorgestellt.

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Skadi Skadi ist 15 Jahre alt, als ihr Vater stirbt. Sein Tod liegt etwas mehr als ein Jahr zurück. Skadi erzählt von ihrem Leben innerhalb dieses Jahres nach dem Tod des Vaters. Nach dem Tod des Vaters lebt Skadi zusammen mit ihrer Mutter und ihrem sechs Jahre jüngeren Bruder Balder in einem kleinen Reihenhaus in einem Vorort von Dortmund. Die Mutter ist von Montag bis Samstag ganztags tätig. Skadi ist Schülerin der 10. Klasse eines Gymnasiums. Sie ist nach der Rückkehr aus der Schule bis zum späten Nachmittag allein zu Hause. Balder besucht von Montag bis Freitag die Ganztagsschule. Skadis sieben Jahre ältere Schwester Freya hat vor drei Jahren das Elternhaus zwecks Studium verlassen. Skadi lebt vor dem Tod ihres Vaters in einer modern-bürgerlichen familiären Umgebung von Geborgenheit und Behütetsein. Die Eltern bemühen sich, ihren Kindern ein geborgenes Zuhause zu bieten. Sie sind ‚seit 24 Jahren zusammen‘, wie Skadi betont, d.h. sie kennen sich sehr lange, und damit beschreibt Skadi die Art der Beziehung ihrer Eltern zueinander: Beide Eltern waren durchgehend berufstätig. Diese Tätigkeiten gaben beide Eltern auch nicht auf, als zunächst Freya und dann Skadi und Balder geboren wurde und die Aufgaben der Kindererziehung von ihnen organisiert werden musste. Skadi erzählt, dass nach der Geburt Freyas die Mutter, im Anschluß an Skadis und Balders Geburt aber der Vater neben seinem Beruf die Rolle des Hausmanns übernahm und für Haushalt und Kinder sorgte. Die Mutter blieb berufstätig. Diese Organisation des familiären Lebens änderte sich auch nicht mit der Diagnose einer Karzinomerkrankung beim Vater drei Jahre vor seinem Tod. Der Vater blieb seitdem zuhause. Skadi erzählt, dass sie das Leben mit ihrem Vater und ihrem Bruder – ‚die Freya war ja inzwischen nach Leipzig ( ) studieren‘, aber die wäre mit dem Vater gar nicht so gut klar gekommen – in dieser Zeit zum ‚totalen Papakind’ gemacht hat. Die dauerhafte Gegenwart des Vaters zuhause für seine Kinder ist für Skadi ein Merkmal von Geborgenheit. Der Vater ist Ansprechpartner und deshalb ihr ‚naher Anderer‘, er kocht für sie und begleitet sie in schulischen Angelegenheiten. Skadi beschreibt den Vater in 21

seiner Funktion für die Familie und seine minderjährigen Kinder, als den ‚Papa‘ für das Kind Skadi und dann als Person mit geringer Nähe zu seiner heranwachsenden jugendlichen Tochter. Für diese stehen seine funktionalen Dienste als Hausmann im Interesse. Auch die Krankheit des Vaters änderte an dieser Situation erst einmal wenig. Skadi sagt zwar, dass ihre Eltern in Bezug auf die Krankheit ‚immer sehr offen mit mir geredet‘ haben. Naheliegender ist aber, dass es den Eltern zunächst einmal schwer gefallen ist, ihren beiden Kindern die Ernsthaftigkeit und Tödlichkeit der Erkrankung des Vaters nahe zu bringen. Sie schickten Skadi deshalb in eine Gleichaltrigengruppe mit Mitgliedern in ähnlicher Situation. Hier erhofften sie Entlastung in Bezug auf die Aufgabe, mit ihrer Tochter ‚sehr offen‘ über die Krankheit des Vaters zu reden. In dieser Gruppe hatte Skadi die Möglichkeit, unter psychotherapeutischer Aufsicht „in einem geschützten Rahmen […] sich über ihre Erfahrungen und Gefühle mit anderen Kindern/​Jugendlichen, die sich in einer ähnlichen Situation befinden, auszutauschen“ (Webseite des ‚Hilfe für Kinder krebskranker Eltern e.V.‘). Skadi erzählt von Belastungen, die mit der schlimmer werdenden Krankheit des Vaters für sie als Jugendliche entstanden. Zum einen war der Vater durch sich häufende Krankenhausaufenthalte nicht immer präsent. Zum Anderen distanzierte er sich von seiner Tochter als einer pubertierenden jungen Frau und wird von der ‚Papa‘-Person zum Funktionsträger familiärer Geborgenheiten, und zum Dritten fühlt sich die inzwischen ‚flügge’ gewordene Skadi, die ihre kommunikativen ‚Antennen’ nach außen streckt, durch den immer kranker werdenden Vater in ihrer persönlichen Freiheit eingeschränkt. Das Leben mit der Krankheit des Vaters ist zuletzt auch mit Angst und Belastung verbunden. Dann stirbt der Vater, und Skadi ist nach einer kurzen Zeit der häuslichen Anwesenheit der Mutter über die Woche nachmittags allein zuhause. Für Freya ist eine Rückkehr keine Option: Sie hat sich mit ihrem Freund in Leipzig nieder gelassen und ‚in drei vier Jahren sei Skadi dann ja auch nicht mehr zuhause‘. Wenn Skadi nach Hause kommt, kann sie sich nicht mehr ‚sozusagen an den Tisch setzen und dann warten dass jemand mir was zu essen macht‘. Schon vor dem Tod des Vaters in den Zeiten seiner Abwesenheit aus Krankheitsgründen konnte sie sich ‚auch allein was zu Essen machen und so‘,aber nach dem Tod des Vaters und den sechs Wochen der ‚Trauerzeit‘, in der die Mutter den Haushalt ver22

sorgt, ist manifest, dass diese Zeit der kindlichen Geborgenheit und Bequemlichkeit im häuslichen Nest, wo es ‚natürlich bequemer (war) wenn man was gekocht gekriegt hat‘, vorbei ist. Dieses ‚Ende der Kindheit‘ ist für Skadi ‚ne krasse Umstellung‘. Sie muss auf sich selbst ‚aufpassen‘, d.h. ihr Leben in der Zeit nach der Schule selbst gestalten, organisieren und einteilen. Sie muss selbst darauf achten, dass die Hausaufgaben für die Schule erledigt werden und sie sich auf Klassenarbeiten ausreichend vorbereitet. Der Abend gehört der gesamten Familie, am Abend wird auch warm gegessen. Deshalb kocht Skadi in der Woche in der Regel nicht für sich selbst, sondern isst ‚halt Cornflakes‘. Am Samstag Vormittag sind Skadi und Balder ‚allein‘ zuhause. Die beiden Geschwister genießen das bilaterale Zusammensein: ‚miteinander essen, erzählen, ‚was so in der Woche war‘, essen kochen: meistens Nudeln, weil das einfach ist, schnell geht und beiden auch schmeckt. Nicht selten ziehen sich beide zurück in ihre Zimmer. Aber Balder ‚läßt dann immer die Tür auf.‘ Seit dem Tod des Vaters tut er dies. Die Mutter ist Samstag vormittags auch noch berufstätig; sie achtet aber auf die Versorgung ihres Sohnes durch Skadi und freilich auch darauf, dass beim Interview alles ‚in Ordnung‘ ist und die Tochter emotional nicht zu sehr gefordert wird in ihrer Erinnerung an den Tod des Vaters. Solche emotionale Schonung war ja auch eine Forderung an die Gleichaltrigengruppe gewesen, die Skadi auf Wunsch ihrer Eltern besucht hatte. Die Mutter befürchtet, dass Skadi durch die Aufforderungen zum Erzählen und die Nachfragen zum Leben nach dem Tod des Vaters erschüttert wird. Die Tochter aber ist keinesfalls irritiert und das Interview führt nicht zur Verstörung ihrer Befindlichkeit. Von weiterführenden Tätigkeiten und Verantwortlichkeiten Skadis im Haushaltsbereich wird nicht berichtet, aber auch nicht von Unstimmigkeiten und Auseinandersetzungen. Der Haushalt und die Anteile der einzelnen Personen der Familie an seiner Versorgung scheinen zumindest für Skadi kein Streitpunkt zwischen Mutter und Tochter zu sein. Skadi ist zufrieden mit der Existenz sichernden Abwesenheit der Mutter, die schon lange zuvor den Part der Ernährerin der Familie übernommen hat, und sie beklagt sich anders als Marie zudem nicht über fehlendes Interesse ihrer Mutter an ihrer Person oder über eine fehlende Geborgenheit im Familienheim. Dafür hat sie mutmaßlich einen schon zu großen Abstand genommen von kindlichen Betreuungsansprüchen. 23

Skadi entwirft so im Interview ein Bild von sich als einer Jugendlichen, die ihr Leben nach dem Tod des Vaters selbstständig organisieren und führen um zugleich Verantwortung für den jüngeren Bruder übernehmen kann. Der Tod des Vaters und damit ihr Halbwaise-Sein hat dieses Leben erst möglich gemacht. Sie teilt dieses Leben mit anderen ‚Schlüsselkindern‘. Skadi verharrt nicht in der Kindheit und fordert vom übrig gebliebenen Elternteil angemessene Betreuungsleistungen, sondern sie ergreift die Möglichkeit weitgehender Selbstständigkeit inklusive häuslicher ‚Schlüsselgewalt’. Wenn Skadi am frühen Nachmittag nach der Schule nach Hause kommt, kann sie innerhalb des Haushaltes zunächst völlig selbstbestimmt leben. Dies bedeutet für sie ‚ne logische Veränderung‘.Die Mutter sorgt für den Unterhalt und kann deshalb nicht die Rolle der Garantin einer häuslichen Geborgenheit übernehmen. Aber auch ihre Kontrolle über das Freizeitverhalten und die sozialen Kontakte ihrer Tochter ist oberflächlich, weil sich die nun selbstständige Tochter übermäßige Kontrollen verbittet und selbst bestimmt, in welchem Maße sie mit der Mutter kommuniziert. Das Verhältnis von finanziell sichernder Sorge der Mutter und zugleich übereigneter Freiheit ist für Skadi ausgewogen. Sie ist mit ihrer Situation rundherum zufrieden und hat abgesehen von den hin und wieder auftretenden, aber nicht allzu schwer wiegenden Gefühlen des Alleinseins und ungeachtet der eingetretenen Veränderungen keinen Grund zur Klage. Sie empfindet es gar als belastend und einschränkend, sollte die Mutter durch ihre Anwesenheit diese neue Freiheit stören bzw. sogar gefährden. Skadi vermittelt den Eindruck, dass sie in ihrem Leben nach dem Tod des Vaters ihre ‚neuen Freiheiten’ geradezu genießt. In Bezug auf ihre Lebenswelten Schule und Gleichaltrigengruppe erzählt Skadi nur von anfänglichen Irritationen in der Kommunikation mit Lehrern und Mitschülern. Mögliche Unsicherheiten der Interaktionspartner erlebt Skadi innerhalb der Zeit der Bestattung, in der z.B. ein ‚herzliches Beileid‘ den Trauernden gegenüber ein gefordertes Verhalten ist. Dieses Verhalten hat sie als anormal empfunden und diese Zeit als von Anormalität geprägt, und sie ist froh, dass die Normalität des Lebens, die vor und nach dem Tod des Vaters bestand und die nur durch die Zeit der Bestattung unterbrochen wurde, wieder einkehrt. Normalität heißt für Skadi das Ende der Anormalität der Bestattungszeit und bedeutet für die Zeit danach, dass der Tod des Vaters und ihr Status als Halbwaise nicht mehr zum Thema gemacht werden. 24

Skadi weiß aber auch: Ihr Leben ist ein Leben nach dem Tod des nahen Anderen und ein Leben als Halbwaise. Dies betrifft ihren Lebensstil und ihre Lebensführung aber nur insofern, als ihr damit die Möglichkeit und die Freiheit einer eigenen Lebensführung erlaubt werden. Sie hat keinen Grund, dieses Leben nicht ‚normal’ zu führen. Das gilt in der Familie, in der Schule und auch im Netzwerk der Freunde, die nicht Halbwaisen sind und mit denen sie ‚gut’ reden kann, d.h. in deren Gruppe sie gut aufgehoben ist und mit denen sie hin und wieder auch, wenn sie auf den Tod des Vaters angesprochen wird, darüber unbelastet sprechen kann. Die Empfindungen zum Tod des Vaters und die Erinnerungen an ihn und damit verknüpfte Befindlichkeiten sind auch für Skadi ein gefühlsmäßiges Hintergrundrauschen ihres Lebens, das von Zeit zu Zeit lauter wird, das aber den von ihr gewünschten normalen Verlauf des Lebens nicht infrage stellt bzw. gar nicht berührt. Skadi sieht sich als Jugendliche, die nach dem Tod eines nahen Anderen ihr Leben weiter lebt; sie hat in dieser Identität die Internetseite ‚trauertalk‘ aufgesucht und mit Gleichaltrigen Kontakt aufgenommen. Diese Kontaktaufnahme begründet sich zum einen im ‚Grundrauschen der Trauer‘, eines latenten bis offensichtlichen Befindlichkeitskomplexes nach dem Tod eines nahen Anderen. Zum Anderen ist Skadi ein ‚digital native‘ (Günther 2007; Palfrey&Gasser 2008), eine in der Nutzung von Informations- und Kommunikationsmedien, in der Wahl der Kommunikationsarten und im Aufsuchen von Interaktions- und Kommunikationspartnern aktive und extrovertierte Mediennutzerin moderner Medien wie Handy, ICQ oder e-mail. Eine ‚digital native‘ sucht in Internetforen nach Problemlösungen und in Internetbibliotheken nach Wissensbeständen und Informationen. Kommunikationspartner zu bestimmten Themen werden in der ‚weiten weiten Welt’ gesucht und auch gefunden. Es ist schick, im Internet zu surfen, mit verschlüsselter Identität durch Chatrooms zu springen und über weite Entfernungen neue Kontakte zu knüpfen. Diese Mediennutzung, und dies fügt sich in das Bild der selbstständigen Skadi ein, geschieht für die ‚digital native‘ zur „Herstellung und Bestätigung individueller Autonomie und Mobilität“ (Dollhausen & Wehner 2000: 78), d.h. der Autonomie in der Auswahl von Gesprächspartnern und der Kontrolle der Gesprächsinhalte und der Mobilität der Kontaktaufnahme über den Wohnort hinaus. Der Vater hatte Skadi in der Zeit seiner Erkrankung in die Enge und Geschlossenheit einer Gleichaltrigengruppe geschickt und damit verlangt, dass sie sich therapeutisch begleitet auf seinen bevorstehenden Tod vor25

bereiten lässt. Nun sucht sich Skadi Gesprächspartner und -inhalte sowie Formen und Modalitäten der Kommunikation und Interaktion selbst aus. Sie entscheidet, mit wem sie worüber spricht, wie sie ihre Person im Chatroom öffnet oder auch maskiert und welche Befindlichkeiten sie preis gibt oder auch vorspielt. Die Kommunikation im Internet ist für Skadi aber ‚problemorientiert‘ (Witte 2000: 12). Das ‚Problem‘ wird vom ‚Hintergrundrauschen‘ der Trauer vorgegeben und verbindet sich mit dem Mediennutzungsprofil Skadis als ‚digital native‘. Im Rahmen solcher Mediennutzung und aufgrund einer allgemeinen Befindlichkeit als ‚vom Tod Betroffene‘ ist Skadi auf die Internettrauergruppen gestoßen. Nach dem Tod des Vaters wird Skadi zunächst veranlasst, die Internetpräsenz „Jugendliche und Tod“ zu besuchen. Über diese Internetpräsenz lernt sie andere Mädchen kennen. Man besucht sich. Diese Besuche geschehen als Fortsetzung der Therapiegruppe, aus der sie durch den Tod des Vaters per Definition herausfällt, weil die Krankheit damit beendet ist und weil es zum anderen bei Skadi auch nicht mehr um kindliche Probleme geht. Auch dieser Wechsel des Selbstbildes gehört zum Ergreifen neuer Freiheiten durch Skadi, weil sie nun zugleich aus einer Enge quasi-kindlicher Gruppenzugehörigkeiten (wie Kindergarten, Kirchengemeinde oder ‚street-community’) in eine neue, weiter entfernte und personell und lokal weiter reichende Gleichaltrigengruppe wechseln kann (aufgrund ihres Status als Halbwaise, d.h. mit einem entsprechenden Identitäts- und Abgrenzungsmerkmal denen gegenüber, ‚denen sowas nicht passiert ist‘). In einer identitätstheoretischen Perspektive gesprochen: Aus der sozialen Identität ‚Kind eines krebskranken Elternteils‘ innerhalb der Therapiegruppe wechselt sie in die Identität ‚jugendliche Halbwaise‘ durch den Besuch der neuen (Internet-)Gruppen, die ein Beratungs- und Kommunikationsangebot an Halbwaise machen. Dies erhellt die soziologische Perspektive des Identitätsbegriffs: Der Halbwaisenstatus wird für Skadi hier sozial festgestellt, Ressourcen werden zur Verfügung gestellt und das Abgrenzungsmerkmal ‚Halbwaise’ verleiht dieser Gruppe Exklusivität. Zugleich aber sucht Skadi GesprächspartnerInnen auch aus einem größeren Umfeld, mit denen man über ‚Gott und die Welt’ sprechen kann. Chat und Forum der Präsenz ‚trauertalk ‚werden für Skadi deshalb vor allem auch zu einer Gleichaltrigengruppe neben anderen Gruppen in der Schule und im Wohnort. Hier reden die Jugendlichen über diverse Kommunikationskanäle (Telefon, ICQ und mail, persönliche Treffen) über Trauer, aber auch über andere, jugendspezifische Themen. 26

Marie Marie ist 19 Jahre alt. Sie hat zwei ältere Schwestern, (24 und 21 Jahre), mit denen sie im Familienhaus ihrer Eltern aufwuchs. Sie besucht zum Interviewzeitpunkt im örtlichen Gymnasium die Klassenstufe 13. Maries Vater starb vor fünf Jahren im Alter von 50 Jahren. Die Mutter ging schon längere Zeit vor der Krankheit des Vaters beruflich selbstständige Wege. Diese Selbstständigkeit gab sie auch während der Erkrankung und des Sterbens des Ehepartners nicht auf. Der Vater war als Journalist freiberuflich tätig. Er kümmerte sich um den Haushalt und versorgte die Kinder, zuletzt die beiden noch minderjährigen Töchter. Mit zunehmender Erkrankung nahmen allerdings die Abwesenheitszeiten des Vaters von Zuhause aufgrund von stationären Aufenthalten in Krankenhäusern zu. Die beiden seinerzeit 14 und 16 Jahre alten Töchter waren in dieser Zeit nachmittags zunehmend auf sich selbst gestellt. Nach dem Tod des Vaters blieb die Mutter weiterhin berufstätig. Die beiden Schwestern kümmerten sich nach Schulschluss um die eigene Versorgung, die Besorgung des Haushaltes und um die Gestaltung der Freizeit. Sie besuchten weiterhin das Gymnasium; von einem Leistungsabfall in der Schule nach dem Tod des Vaters erzählt Marie weder in Bezug auf die Schwester noch in Bezug auf ihre eigene Person. Marie schweigt im Interview über einschneidende Veränderungen ihrer Lebenssituation nach dem Tod des Vaters. Ihr Leben verlief nach einer kurzen Zeit der ‚Bestattung‘ ruhig und für sie zufriedenstellend; es ging ihr ‚gut‘. In der Nachmittagszeit führen sie ein selbstständiges Leben. Sie tun dies in einer geschwisterlichen Gemeinsamkeit. Beide besuchen dasselbe Gymnasium und haben damit gemeinsame Anfahrtswege zur Schule und nach Hause. Die beiden jüngeren Schwestern verstehen sich gut, sie haben vor dem Tod des Vaters und vor dem Auszug der älteren Schwester mitunter als Duett agiert, sie sind ‚zwei zwei‘ gegen die ältere Schwester aufgetreten. Es ist zu vermuten, dass sie in sich überschneidenden Freundeskreisen bewegen und auch große Teile der außerhäuslichen Freizeit miteinander verleben. Naheliegend ist, dass sie in ihrer Zweisamkeit am Nachmittag zusammenhalten, auch um der Mutter zu zeigen, dass sie ganz gut allein zuhause auskommen und diese nicht unbedingt auf sie aufpassen muss. 27

Dieses Leben Maries nach (und auch schon vor) dem Tod des des Vaters ist ein normales jugendliches Leben in geordneten und behüteten bürgerlichen Verhältnissen, in dem – aus welchen Gründen auch immer – ein Elternteil fehlt. Dieses Fehlen ist kein Problem für die familiäre Organisation und kaum verbunden mit Empfindungen von Verlust, Hilflosigkeit oder gar ‚Trauer‘. Marie erzählt im Interview von ihrem Vater und seiner Person nur sehr wenig. Er kümmerte sich um die Kinder und sicherte gerade durch sein innerhäusliches Engagement als Hausmann den Zusammenhalt der ganzen Eltern-Kind-Familie. Der ‚Papa‘ (Marie benutzt in ihrem Kindheitsbild hier eine kindliche Benennung für den Vater) kocht, er betreut die Hausaufgaben und weiß deshalb auch in Bezug auf Klausuren Bescheid. Zumindest darf allerdings bezweifelt werden, dass der Vater z.B. immer gewusst hätte, mit welchen Freunden sich die heranwachsende und jugendliche Marie am Nachmittag trifft. Mehr berichtet Marie nicht vom Vater, auch von emotional stärkeren Bindungen zu ihm kann sie nicht erzählen. Ihre etwas ältere Schwester ist das ‚Papakind‘, sie aber nicht. Das Bild des Vaters, das Marie im Interview zeichnet, stellt seine Rolle in der Familie dar, aber nicht seine Person. Der Vater ist Funktionsträger in einem familiären Zusammenhang, den Marie in einer naiven Perspektive im Idealbild darstellt: Als jüngstes Kind der Familie lebt sie sowohl vor als auch auch nach dem Tod des Vaters in einer für sie umfassenden physischen und psychischen Geborgenheit. In der Dramaturgie ihres Interviews beginnt deshalb das Leben Maries nach dem Tod des Vaters mit einem summarischen Bild einer familiären Gemeinsamkeit. Marie erlebt in dieser Zeit viel Gemeinsamkeit, emotionale und körperliche Zuwendung. Der reale Hintergrund dieser idealtypischen Szene ist das Zusammenkommen der Familienangehörigen und der Freunde der Familie nach dem Tod des Vaters. In Bezug auf die Teilnehmenden ist wirklich an ‚alle‘ zu denken: Die Mutter und die erwachsene Schwester Maries, die zuvor schon ‚ausgezogen‘ war. Hinzu tritt die Umsorgung und Anteilnahme durch die weitere Familie (die Geschwister der Mutter) und durch gute Freunde und Bekannte. Sie kommen in diesen Trauertagen vorbei und kondolieren. Sie erfüllen die Normen richtigen Trauerns während der Zeit der Bestattung. Für Marie sind die Ursachen des Verhalten der Familie und ihrer Freunde allerdings keine Trauernormen, die zu erfüllen sind, sondern sie deutet die Geschehnisse als reale Zuwendungen und Geborgenheit, d.h. als ein ‚Nicht-Allein-Sein‘ in dieser Zeit. 28

Solche Gemeinsamkeit gehört zum ‚Trauer‘-Verhalten in der Zeit der Bestattung und auch schon in die Zeit ‚davor‘, denn dem Sterben und dem Leichnam und auch einer Isolation des Trauerhauses durch seine Umgebung begegnet die Familie Maries nun in einer „emotional stabilisierten Gemeinschaft“ (Gerhards 1988: 41). Durkheim verwies in diesem Zusammenhang auf eine bedeutsame soziale Funktion von Trauerriten als Trauerverhalten eines Kollektivs: „Gruppen von Männern und Frauen sitzen auf der Erde, weinen, klagen und umarmen sich in bestimmten Augenblicken. Diese rituellen Umarmungen wiederholen sich, solange die Trauer andauert, oftmals. Die Menschen empfinden anscheinend das Bedürfnis, sich einander zu nähern und enger miteinander zu kommunizieren“ (Durkheim 1981: 525) Solchen Schutz und die emotionale und physische Wärme in der familiären Gemeinschaft empfindet die jugendliche Marie unmittelbar nach dem Tod des Vaters. Nach einer Woche aber, am Montag – nach der Beerdigung am Freitag – ist Marie wieder in der Schule. Für sie ist damit die Zeit der Bestattung beendet. Der Alltag, der nun ‚schnell einkehrt‘, ist ein Alltag ohne Trauer. Trauerrituale wie die öffentliche Umarmung sind ihr unangenehm, in der Lebenswelt der Schule sind keine Rücksichtnahmen mehr erforderlich. Eine gewisse Sonderbehandlung aufgrund ihres Halbwaisenstatus wird Marie nur noch für eine kurze Zeit zuteil, ehe dann die Normalität ihres Alltags wieder ‚einkehrt‘. Marie kennzeichnet sehr präzise den Übergang von der einwöchigen Bestattungs- bzw. Trauerzeit in den Alltag ihres schulischen und, so ist zu vermuten, auch ihres familiären und freizeitlichen Lebens. Marie hat in ihrem familiären, schulischen und freizeitlichen Leben viel gelacht und ist auch recht glücklich gewesen in den Jahren nach dem Tod ihres Vaters. Diese Befindlichkeit und dieser ‚Lebensgenuß‘ der jugendlichen Marie darf verallgemeinert und grundsätzlich auf den Lebensstil Maries nach dem Tod des Vaters bezogen werden, denn die Schwester moniert das Verhalten Maries nicht nur einmal, sondern ‚immer‘. In der Zusammenschau, d.h. nach Wegstreichen der Deutungen, die Marie im Interview aus gegenwärtiger Sicht vornimmt, stellt sich das Leben Maries nach dem Tod des nahen Anderen wie folgt dar: Das Leben nach dem Tod des Vaters ist für Marie weiterhin eine Zeit des Aufgehobenseins eines jungen jugendlichen Mädchens im Netzwerk der Familie und zugleich im Netzwerk der Altersgleichen. Marie geht es gut und sie fühlt sich ‚gut‘, sie lacht und sie ist glücklich. Der Aufenthalt in der Familie ist für sie dabei zum 29

einen durch eine fast kindliche Geborgenheit geprägt, zugleich aber mit einer großen Freiheit z.B. in der Auswahl des sozialen Umgangs und des Freundeskreises. Innerfamiliäre Konfliktpotentiale in diesem Leben nach dem Tod des Vaters werden nicht berichtet. Ihr Leben im Haushalt, in der Schule und in der Freizeit verläuft für Marie ‚nach Programm’ in partieller Selbstständigkeit und Kontrolle ihrer individuellen Lebensvollzüge und zugleich in Geborgenheit und Behütetsein. Nun versteht sich Marie im Interview als Waise und als Trauernde. Sie empfindet aktuell ein Gefühl des Allein- und des Verlassenseins. In ihrer Rückschau auf die Zeit der Bestattung und der in ihr geübten Zuwendungen hat sie anderes erlebt. Sie stellt jene Woche dar als ein Gegenbild zu ihrer aktuellen Situation. Heute ist sie allein, damals war man füreinander da. Als Summarium stellt Marie dieses positive Gegenbild gegen die aktuelle von ihr belastend empfundene Lebenssituation. Denn diese für Marie angenehme Unbeschwertheit des Lebens ändert sich aber vier Jahre nach dem Tod des Vaters und mit der Volljährigkeit Maries und dem bevorstehenden Abitur. Eine Ablösung und gegebenenfalls ein Auszug aus dem Familienheim wird für Marie nun zur konkreten Aufgabe. Maries Schwestern haben den Haushalt bereits verlassen, die letzte vor drei Monaten. Für Marie heißt dies zunächst: die Familie ‚bricht’ auseinander, Marie bleibt zuletzt mit der Mutter allein zuhause. Diese neue Situation kann sie schwer ertragen. Aus ihrer Stellung innerhalb der Familie als ‚Nesthäkchen’ empfindet sie nun große Einsamkeit – als Gegensatz zum Idealbild der Geborgenheit in einer Familie im Familienhaus. Innerhalb der häuslichen Konstellationen empfindet sie sich immer noch als (zudem jüngstes) ‚Kind’. Aber nun löst sich diese Heimat auf und Marie steht mit dem Vorbild ihrer Schwestern vor der Aufgabe, auch für das eigene Weiterleben perspektivisch und handelnd zu sorgen. Zudem ‚verändert’ sich auch die Mutter: Sie lernt einen Mann kennen. Marie kann und will diesen Mann nicht akzeptieren. Die Mutter darf von dem ‚Typen’ nichts erzählen, weshalb sich das Leben der Mutter mit ihm außerhalb der alten Familie bei ihm vollzieht. Die nach dem Auszug übriggebliebene familiäre Mutter-Tochter-Zweisamkeit zerbricht damit; die Mutter steht der Tochter nicht mehr in der geforderten Intensität zur Verfügung, in summa: sie kocht nicht, Marie müsse sich immer um alles selbst kümmern, kurzum: die Mutter zeige schlicht sehr wenig Interesse an ihrer Tochter. 30

Marie könnte sich nun ihrer endgültig gewonnenen Freiheit erfreuen, z.B. selbst für sich kochen und sich auch darüber hinaus um ihr Leben kümmern und es mit ihrem Partner weitestgehend von der Mutter gelöst leben. Das tut sie sicherlich auch, aber in der Situation des Interviews fällt sie angesichts der Ambivalenz von Kindheit und Erwachsenwerden zurück in den Status eines allein gelassenen Kindes mit seinen Anforderungen an familiäre Geborgenheit. Der Konflikt mit der Mutter, die mit dem ‚Kontakt‘ zu einem neuen von der Tochter nicht akzeptierten Lebenspartners die Tochter endgültig ‚aus dem Nest’ familiärer Geborgenheit stößt und sie vor das Faktum des Alleinlebens und die Notwendigkeit, dieses zu ergreifen, stellt, wird für Marie zur Krise. Krise heißt hier: Sie muss nun vollziehen, was die Mutter bereits getan hat: Sie lebt ein Leben jenseits einer Mutterrolle einem minderjährigen Kind gegenüber. Die Notwendigkeit dieses Wechsel der Rolle ist auch Marie deutlich: Im Interview zeigt sie ihre zukünftige Lebensperspektive auf: Sie zieht aus dem Familienheim aus und wird alleine wohnen. Warum aber nun ist dieses Leben Maries ein ‚Weitergehen des Lebens nach dem Tod eines nahen Anderen’, hier nach dem Tod des Vaters? Der Tod des Vaters liegt lange zurück und Marie hat die vergangene Zeit gut ohne die Erinnerung und Vergegenwärtigung des Todes des Vaters gelebt. Sie kann nun ihre vor ihr stehende Aufgabe ohne jeden Rückbezug auf den vor fünf Jahren erfahrenen Tod des Vaters angehen. Marie bezieht ihre gegenwärtige Situation aber auf jene längst vergangene Zeit. Warum? Ist es der neue Partner der Mutter, der in ihr die Erinnerung an den toten Vater wach ruft? Maries Empfindungen zum Tod des Vaters sind ein bleibendes ‚Grund- und Hintergrundrauschen‘ ihrer Existenz, eine latente Form von Trauer. Diese latente ‚Trauer‘ ist ein Merkmal des Typs A, den Marie repräsentiert. Maries Vater ist gestorben und sie ist Halbwaise; dies sind bleibende latente Identitätsmerkmale. Diese lebt sie in der Zeit nach dem Tod des Vaters nicht aus, sondern lebt quasi darüber hinweg. Der aktuelle Verlust der Geborgenheit als Krisenerfahrung wird mit dem lange vergangenen Tod des Vaters gekoppelt. Diese ‚Trauer’, also die Verunsicherung der wohlbehüteten Marie angesichts des Endes ihrer Kindheit im aktuellen Hier und Jetzt spiegelt sie zurück auf die Emotionen nach dem Tod des Vaters, die sicherlich auch bei ihr Empfindungen der Verunsicherung und der Angst 31

hervor gerufen hatten. Aber das Leben ging weiter und ein Grund- und Hintergrundrauschen der Trauer trat gegenüber jugendlicher Lebensfreude und Anforderungen und Interaktionen in anderen Lebenswelten wie der Schule oder der Gleichaltrigengruppe zurück. Nun aber, verunsichert durch die Veränderungen in ihrer familiären Lebenswelt, benötigt Marie neue Kommunikationspartner in Bezug auf ihre ‚Trauer’. Wie und wann ändert sich Maries Leben nach dem Tod des Vaters? Der Zeitpunkt der Veränderungen in Maries Lebenslinie ist nicht der Tod des Vaters. Veränderungen und Störungen ergeben sich Jahre später durch den allmählichen und dann endgültigen Auszug der Schwestern aus dem Familienheim. Das familiäre Programm ist damit für Marie abgeschlossen, sie ist nun ‚Einzelkind’. Ein zweiter, zeitgleicher Punkt der Veränderungen in Maries Lebenslinie ist das neue Leben der Mutter. Diese löst sich heraus aus einem ehemaligen Familienverbund, in dem es darum ging, wer nun ‚auf die Kinder aufpasst‘. Die Mutter ist nun nicht nur beruflich außer Haus, sondern beginnt auch privat ein neues Leben jenseits ihrer jüngsten Tochter. Pointiert kann gesagt werden: Die Mutter nimmt mit ihrem neuen Leben außerhalb der familiären Gemeinschaft mit ihrer jüngsten Tochter bereits vorweg, was sich auch für Marie als Aufgabe der Zukunft zeigt. Soweit ist Marie noch nicht. Diese Anforderung verunsichert sie aktuell und veranlasst sie zum nostalgischen Rückblick auf das ‚heile‘ Leben der Familie bis zum Tod des Vaters und auch noch in der Zeit eines unbeschwerten jugendlichen Lebens danach. Die Verstörungen der Lebenslinie Maries sind deshalb nicht durch den Tod des Vaters vor einigen Jahren begründet bzw. daraus erwachsen. Marie koppelt aber nun die ehemalige Erfahrung des Todes des Vaters mit der aktuellen Krisensituation. Aus der ‚Trauer’ aufgrund der soziostrukturellen Veränderungen der Jetztzeit und damit verbundene Verlusterfahrungen und um den Verlust der Kindheit wird eine in die Jetztzeit prolongierte Trauer um den verlorenen Vater. 32

Lutz Lutz erweitert das in den Fallgeschichten von Marie und Skadi dargestellte Bild des Typs, insofern im Sinne einer deskriptiven Typologie (s.o.) Marie und Skadi auf der einen Seite und Lutz auf der anderen Seite keiner gemeinsamen Typologie angehören können. Denn Lutz ist beim Tod seines Freundes älter als Marie und Skadi, er ist im Sinne der weiter oben angesprochenen deskriptiven Typik (1) volljährig, hat seine schulische Ausbildung bereits mit dem Abitur beendet und wird nach der Zeit des Zivildienstes ein Studium aufnehmen. Auch ist im Sinne der deskriptiven Typik (2) nicht ein Elternteil, also ein ‚naher‘ naher Anderer gestorben, sondern ein Freund, mit dem Lutz freilich einen großen Teil der Kindheit verbracht hat. In Bezug auf die deskriptive Typik (3) ist der Tod des Freundes für Lutz ein plötzliches und unerwartetes Ereignis im Gegensatz zu den erwarteten Toden der Väter von Marie und Skadi aufgrund der Krebserkrankungen. Lutz ist 21 Jahre alt. Er hat nach Abitur und Zivildienst als Rettungshelfer in einer Rettungsorganisation in Bochum an der Ruhr-Universität ein Lehramts-Studium aufgenommen. Lutz wohnt in Herne, einer Stadt in der Nachbarschaft von Bochum, im Haus der Eltern. Er plant aber in naher Zukunft gemeinsam mit der langjährigen Freundin in eine eigene Wohnung umzuziehen. Lutz‘ Hobbys sind Musik und Motorradfahren. Lutz gibt ein Interview, weil Patrick, Lutz’ Freund aus Kindertagen, vor eineinhalb Jahren ‚plötzlich und unerwartet‘ gestorben ist. Noch wenige Tage vor dem Tod hatten sich die beiden Freunde nach längerer Abwesenheit des Freundes getroffen und ein Treffen vereinbart. Nach dem Stimulus beginnt Lutz zunächst die sehr kurze Eingangssequenz seines Interviews mit der zeitlichen Einordnung des Geschehens und der Darstellung seines Lebens nach dem Tod seines Freundes: Exakt ist Lutz der Zeitpunkt des Todes nicht erinnerlich (‚wann war das noch mal‘). Andere biographische Daten helfen ihm bei der Einordnung des Geschehens, also des Todes seines Freundes: Es ist Sommer (‚August‘) – bei der Bestattung war es hochsommerlich warm, wie er sich an anderer Stelle des Interviews 33

erinnert: ‚war heiß: n heißer Tag:‘ – und Lutz erinnert sich, dass es die Zeit war, in der er sein Abitur abgelegt hat. Diese zweite Einordnung (‚Abitur‘) ist aber nun keine rein zeitliche Erinnerung, sondern markiert zugleich auch ein biographisches Datum von hoher Bedeutung für die Lebenslinie von Lutz. Dieses Datum und dieses Ereignis initiiert und definiert sein Leben nach diesem Zeitpunkt. Die biographische Bedeutsamkeit des Abiturs als eines Wendepunktes in der jugendlichen Lebenslinie wird von Lutz mit dem Tod des Freundes verknüpft. Auch den Tod des Freundes interpretiert er als Datum hoher Bedeutsamkeit für sein weiteres Leben. Aber ist der Tod des Freundes für Lutz so bedeutsam? Er kann sich ja nur allein durch die zeitliche Verknüpfung mit dem ‚großen Ereignis‘ Abitur an den Zeitpunkt des Todes des Freundes erinnern. Die Deutung des Abiturs für die Lebenslinie von Lutz als eines bedeutsamen Ereignisses ist – insbesondere innerhalb bestimmter gesellschaftlicher Milieus – kulturell geprägt: Das Abitur gehört mit der Aufnahme eines Berufs oder Studiums zu den ‚sozial typisierten Statusübergängen‘ (Rosenthal 1995: 141) von Jugendlichen auf dem Weg in das Erwachsenensein. Danach ‚geht es weiter‘, wie Lutz feststellt. Inwieweit allerdings der Tod des Freundes für Lutz in diesem Weitergehen bedeutsam ist, wird Lutz noch im Interview erzählen müssen. So bleibt dieser Tod zunächst ein ‚ziemlich großes Ereignis‘, das eine gewisse biographische Bedeutsamkeit allein durch die Synchronizität mit dem biographischen Wendepunkt Abitur zugewiesen bekommt und das deshalb auch gar nicht in Einzelheiten erzählt werden kann, weil ihm lebensgeschichtlich möglicherweise kaum Bedeutung zukommt. Lutz nennt mit dem Zivildienst und der Aufnahme seines Studiums zwei weitere bedeutsame biographische Wendepunkte seiner Lebenslinie mit impliziten Lebensverläufen in der Zivildienstzeit und den ersten Monaten seines Studiums nach dem Zeitpunkt des Abiturs und zeitgleich nach dem Tod des nahen Anderen. Von Letzterem zu erzählen war ja Aufforderung des Stimulus gewesen. Allerdings reiht Lutz in seinem biographischen Aufriss zwei Wendepunkte seiner Lebenslinie, die sich mit dem Tod des nahen Anderen berühren, insofern sie zeitgleich und zeitlich daran anschließend geschehen, aneinander und lässt weiterhin unklar, welche Bedeutsamkeit der Tod seines Freundes für diese Entwicklung hat. Lutz wechselt nun das Thema, die Form der Argumentation und er wechselt in ein unpersönliches ‚man‘. Er erzählt nicht (mehr), Zeiten und Orte im Zusam34

menhang des Todes seines Freundes und damit Erzählinhalte kann er für seine eigene Person nicht nennen, sondern sein ‚man‘ verweist auf seine zeitgleiche oder auch auch frühere allgemeine und thematische Beschäftigung (‚man (...) hat nachgedacht‘) mit dem Sterben und dem Tod. Allerdings: Der plötzliche Tod des Freundes bedurfte seinerzeit und aktuell der Deutung im Hinblick auf den Tod eines Anderen im Rahmen vorgeprägter Muster (Bednarz 2003) im Sinne einer „Auseinandersetzung mit dem Wert und Sinn von Leiden, Leben und Tod“ (op. cit.: 20). Diese Auseinandersetzung will Lutz ganz persönlich geleistet haben: Er hat genau darüber nach dem Tod des Freundes ‚natürlich schon nachgedacht‘ und auch eine Antwort gefunden: Der Tod ist ein ‚Bestandteil des Lebens‘, und als solcher Bestandteil des Lebens ist auch der frühe und plötzliche Tod des Freundes ‚ernst zu nehmen‘, weil er sich Lutz förmlich aufgedrängt hat, und deshalb durfte Lutz an diesem Tod nicht einfach ‚vorbeigehen‘, sondern es ist über ihn nachzudenken und er ist zu deuten und damit verstehbar zu machen. Lutz stellt exakt eine solche Verständnismöglichkeit vor, die auf vorgeprägte Muster zurückgehen, deshalb wählt er die unpersönliche Form eines ‚man‘ in seiner Argumentation, die vermuten lässt, dass Lutz merkt, dass er hier fremde Deutung wiedergibt – denn ‚vielleicht‘, so schließt Lutz diese kleine Sequenz ab, ist er sich für seine eigene Person dieser ihm dargebotenen Deutung des Todes gar nicht sicher? Ist der Tod wirklich so ‚einfach‘ zu erklären und damit gar nicht ernst zu nehmen? Denn der Tod seines Freundes brach ja plötzlich, gewaltsam und keinesfalls verständlich und begreifbar über ihn herein. Lutz erzählt nun über einen weiteren Todesfall: ich hab noch ähm n Bekannten (  ) war jetzt kein bester Freund. aber. hab ich auch schon verloren. Klassenkameraden. n knappes Jahr zuvor. Auch dieser zweite Todesfall, den Lutz hier berichtet, ist äußerst gewaltsam (so wird er später erzählen), plötzlich, unverständlich und unbegreiflich. Lutz wechselt im Folgenden in die ‚Ich‘-Darstellung. Er erzählt hier von seinem persönlichen Erleben und berichtet nicht allein in einem nüchternen und unpersönlichen Kurzbericht vom Tod des gleichaltrigen Schulkameraden einige Zeit zuvor. Ein Klassenkamerad von Lutz ist ein Jahr zuvor gestorben. Lutz formuliert, vielleicht in sprachlicher Reminiszenz an eine Trauersprache, ‚auch‘ hier ‚verloren‘ zu haben. Möglicherweise ist diese Formulierung aber auch eine emotionale Reaktion auf die Art des Todes dieses Klassenkameraden: Auf Nachfrage erzählt Lutz später: Dieser ist als Fußgänger 35

durch einen betrunkenen Autofahrer nach einem Jugend-Fest in Recklinghausen zu Tode gekommen; das Ereignis hatte seinerzeit für sehr viel Aufmerksamkeit in der Schule und auch in den Medien gesorgt. Lutz Formulierung ‚verloren‘ zu haben bezieht sich auf die Deutung dieses unerwarteten und plötzlichen Todes als eines gewaltsamen Todes, dem alle als ‚Opfer‘ dieses Todes ohnmächtig gegenüber gestanden hatten: Die Gewalt des Todes als quasi numinose Macht greift nach dem Leben dieses Schulkameraden und reißt es aus dem Leben und aus dem Kollektiv der Schule heraus. Lutz weiß, dass das Fehlverhalten eines Autofahrers für diesen Unfall ursächlich ist. Aber dieses Wissen beseitigt nicht seine Ohnmacht diesem Tod gegenüber; deshalb hat er ‚verloren‘. Das ‚Ich‘ in der Darstellung von Lutz verweist deshalb nun auf sehr persönliche Empfindungen angesichts des Todes der nahen Gleichaltrigen in seinem Leben. Beide Tode haben Empfindungen von Verstörung und Unverständnis und von Ohnmacht und Hilflosigkeit hervorgerufen und sich so auch dem Denken über den Tod aufgedrängt und dieses Denken verändert. Der Tod ist dann nicht verstehbarer ‚Bestandteil des Lebens‘, sondern Fanal seiner Kontingenz, der Lutz seinerzeit ‚fassungslos‘, also erschrocken und sprachlos gegenüber gestanden haben mag. Zum Ausdruck bringt Lutz diese mutmaßlichen Empfindungen an dieser Stelle des Interviews aber nicht. Lutz erzählt nun wieder in nüchterner Maskierung (‚man‘) von anschließenden weiteren eigenen und sehr persönlichen Erfahrungen mit dem Tod: Bei einem Motorradunfall ein Jahr später hätte auch er sterben können, so erinnert er sich. Und in der Zivildienstzeit als Rettungshelfer wird er, so erzählt er später, mit dem Tod von Anderen unmittelbar konfrontiert. Der Hörer gewinnt allerdings nicht den Eindruck, dass ihn dies erschrocken gemacht hätte. Die Möglichkeit des eigenen Todes und die Konfrontation mit dem Tod Anderer gehören nicht zu den Erwartungen in der Lebenslinie eines jungen Menschen (Hahn 1968; Ramachers 1995), er ist ‚weit weg‘. Lutz rekurriert hier auf die Konstruktion einer Lebenserwartung (Bednarz 2003: 76ff), die den Tod zum Lebensschicksal vor allem von älteren Menschen macht. Von dieser Konstruktion her sind seine eigenen Erfahrungen beinahe unwirklich, denn diese beziehen sich auf den Tod von jungen Menschen: ( ) man kann es sich also nicht vorstellen aber das Leben geht weiter man ist noch jung. ja ( ) was gibt’s da. was soll ich erzählen? mja: (3) Mit dieser Coda beschließt Lutz seine sehr kurze Eingangssequenz. 36

Er beantwortet damit zugleich auch die Forschungsfrage: Die lebensgeschichtliche Perspektive eines jugendlichen Lebens (‚man ist ja noch jung‘) stellt sich den beiden Todesfällen der Altersgleichen entgegen und geht gar über die Ernsthaftigkeit dieser Tode hinweg, einer mutmaßlichen emotionalen Unbegreifbarkeit der Kontingenz dieser Tode (es sei denn, ‚man‘ formuliert Lebensweisheiten, wie Lutz dies tut) schließt sich das ‚Weitergehen‘ eines jugendlichen Lebens an, das für Lutz jenseits der genannten emotionalen Verstörungen aufgrund der erlebten Kontingenz unverändert und unbeeinflusst weiter verläuft. Lutz zitiert hier nicht nur die Fragestellung der Forschungsarbeit, sondern gibt die Konstruktion der Erwartung einer jugendlichen Lebenslinie in der ‚man‘-Form exakt wieder: Der frühe Tod eines nahen Anderen und auch die eigene Todesgefahr ist zwar seine konkrete Erfahrung, er ist aber eine für die eigene Lebensgeschichte zwar denkbare und ansatzweise erlebbare (Motorradunfall), aber nicht konkrete Möglichkeit der Verstörung oder gar des Abbruchs der Lebenslinie. Deshalb geht das Leben für Lutz weiter, denn er ist noch jung, hat also die Zukunft ohne Perspektiven bzw. das Ernstnehmen der Kontingenz, also von Lücken oder Abbrüchen dieser Lebenslinie vor sich. Die kurze Eingangssequenz zeigt auf: Für Lutz‘ Lebenslinie in der Zukunft ist der Tod des Freundes bzw. auch des Klassenkameraden praktisch ohne Bedeutung bzw. Einfluss, deshalb ist er in Bezug auf die Ausprägung der Basistypik (1) Repräsentant des Typs A der Typologie. Lutz Bericht bzw. seine Argumentation verweisen an keiner Stelle auf Verstörungen oder Veränderungen, auf Verstärkungen oder ein Anhalten seines Lebenslaufes durch den Tod des Freundes. Sein Leben geht auch in diesem Sinn ‚weiter‘ in der vom Ereignis des Todes des nahen Anderen in keiner Weise beeinflussten Abfolge von Entwicklungsschritten und Wendepunkten in seiner Lebenslinie: Zivildienst, Studium und später möglicherweise einen geplanten Auszug aus dem Familienheim und das Zusammenwohnen mit der Freundin. Allerdings verleitet der Tod des Freundes Lutz in Bezug auf die Basistypik (2) zwar nicht zur traurigen Erinnerung an den Freund, sondern zu ‚philosophischen‘ Gedanken über die eigene Sterblichkeit und Lebenserwartung. Dies ist die spezielle Form seiner ‚Trauer‘: Darüber nachgedacht zu haben und möglicherweise auch weiterhin nachzudenken. Allerdings sind diese Gedanken nicht dominantes Merkmal innerhalb seiner Lebensplanung und -perspektiven – dann würde Lutz vielleicht das Motorradfahren aufgeben. Diese Art der Trauer, d.h. solches Nach37

denken spielt in einer ‚inneren Provinz‘ seiner Person und hat deshalb keinerlei Relevanz für sein Leben und Handeln. In diesem Sinne lebt Lutz ebenso wie Skadi nicht als nachdenklicher ‚Trauerkloß‘. Warum aber erzählt Lutz von diesen Gedanken? Sind diese so beschriebenen Befindlichkeiten und Nachdenklichkeiten Merkmal seiner Darstellung aktuell im Interview, d.h. in der situativen, provozierten Beschäftigung mit dem Thema? Der Tod des nahen Anderen, des Freundes und des Klassenkameraden, hätte ihn ‚reifer‘ gemacht, behauptet Lutz. Aber was heißt dies? Er denke nun intensiver über den Tod, auch die Perspektive des eigenen Todes nach. Und dies tue er, weil er innerhalb von zwölf Monaten zwei Todesfälle in seiner engeren und weiteren Gleichaltrigengruppe erlebt hat. Dies sei zumindest ungewöhnlich und hebe ihn mit diesem Erfahrungshintergrund von der Mehrzahl der Altersgleichen ab. Hat dieses Abgrenzungsmerkmal, ‚reifer‘ zu sein als Altersgleiche, Relevanz für sein soziales und sein kommunikatives Leben? Solche Überlegungen trägt er im Prozess des Interviews vor, d.h. dieses Merkmal kennzeichnet seine Identität innerhalb des Interviewprozesses. Dass dies seine Identität nach dem Tod des Freundes und im Zusammenhang weiterer ‚Todes-Erfahrungen‘ in der Zeit des Zivildienstes grundsätzlich bestimmt, erzählt er aber nicht, weil er dies nicht erzählen kann. Darüber hat ‚man nachgedacht‘, die Identität als ‚Trauernder‘, d.h. für Lutz als Nachdenklicher in Bezug auf die Nähe und zugleich Ferne von Sterben und Tod, aufgrund der Erfahrungen der Tode seiner Freunde, ist Bestandteil des Interviews und seiner Situation. Unterstellt werden darf Lutz darin allerdings, dass diese Interviewidentität doch auch eine Art Nachklang jenes hintergründigen ‚Rauschens‘ seiner Innerlichkeit nach dem Tod des nahen Anderen ist, das hier im Interview zum vordergründigen ‚Klingen‘ gebracht wird. D.h.: Ob sich Lutz grundsätzlich ‚reifer‘ fühlt, sei dahingestellt. Für die Darstellung des Interviews fühlt er sich so und stellt sich so dar. Die beiden Tode sind auch weiterhin, wenn auch marginale Elemente seiner inneren Existenz, die über Tod und Leben, auch vor allem das eigene Leben nachdenken lassen. Von einer länger andauernden Trauer in Bezug auf den Verlust des Freundes erzählt Lutz allerdings an keiner Stelle des Interviews. Nur für die Zeit unmittelbar nach der Nachricht des Todes des Freundes berichtet Lutz von einer Fassungslosigkeit über den Verlust eines Freundes. den man vorher 38

aber auch lange nicht mehr gesehen hat ( ) trotzdem so tief in der Erinnerung und plötzlich ganz weg. nicht mehr da. mit mmh so ein Mensch mit dem man soviel hm so viele Erfahrungen geteilt hat ( ) plötzlich nicht mehr da. Auch in Bezug auf seine Gefühle beim Tod des Freundes berichtet Lutz in der unpersönlichen Form des ‚man‘. Von seiner bereits in der Eingangssequenz angedeuteten Befindlichkeit einer ‚Fassungslosigkeit‘ angesichts der Brutalität des Todes des Freundes hätte Lutz auch in der Ich-Form erzählen können, ebenso von dem nun vorgetragenen Gefühl des Endes der Kindheit und der frühen Jugendzeit aufgrund des Verlustes durch den Tod des Freundes. Schon im Kindergarten, so erzählt Lutz im Nachfrageteil, waren die beiden befreundet, haben miteinander ‚da im Sandkasten gespielt‘. Die Freunde besuchten in der Folge dieselbe Grundschule und dieselbe weiterführende Schule. Gemeinsame Hobbies wurden gepflegt; Lutz denkt besonders zurück an das gemeinsame Musizieren mit Gitarre und Schlagzeug. Man traf sich in der gleichen Jugendclique, ‚machte Party‘ und fuhr Schlittschuh. In einer entsprechenden Sequenz erzählt Lutz in Kurzform die Geschichte seiner Kindheit und frühen Jugendzeit gemeinsam mit Patrick. Mit etwa 17 Jahren gehen die Freunde getrennte Wege. Warum dies geschieht, erzählt Lutz nicht. Sie sehen sich über zwei Jahre nicht mehr – Lutz erzählt: ‚davor hat er sich ja. 2 Jahre oder so nicht mehr blicken lassen. war ja außerorts‘, bis dann kurz vor dem Tod Lutz den Freund ‚bei uns im Garten getroffen (hat). drei Wochen. bevor er gestorben ist.‘. Lutz freut sich auf ein gemeinsames Musizieren in der Zukunft und hofft, die alten freundschaftlichen Beziehungen wieder aufleben zu lassen. Lutz erzählt nun doch von seinen Befindlichkeiten bei der Nachricht des Todes des Freundes. Er bricht nicht in Tränen aus, als ihm seine Mutter den Tod des Freundes mitteilt, sondern fragt nach dem Grund des Todes: Eine Herzmuskelentzündung kann den Tod auch eines jungen Menschen erklären, sie kann aber nicht die Fassungslosigkeit beseitigen darüber, dass da ein ‚Mensch aus dem Leben gerissen: ( ) [leise] ganz plötzlich:. n Mensch den du gut kanntest der genauso alt ist wie du: mmh‘. Lutz bezeichnet dies als Trauer und spricht von Emotionen, die dann später ‚mitspielen‘, ohne dass er die Art der Emotionen spezifiziert. Das Ereignis des Todes wird in der Gleichaltrigengruppe besprochen. Gleich nach der Todesnachricht ruft Lutz einen Freund an, später werden die Bekannten der Clique in Kenntnis gesetzt. Lutz nennt als Gründe dieser Kontakte nach 39

der Nachricht des Todes: Den Wunsch nach Information über die Art des Todes und die Zeit und den Vorgang der Bestattung, gemeinsame Absprachen über die Bestattung (sollen Freunde eine Grabrede halten? Die Bestattung und ihre Vorbereitungen in der Gleichaltrigengruppe führt zu Sicherheiten im der Situation angemessenen Verhalten durch eine Orientierung an für alle geltende Verhaltensmuster: ‚dann steht man nicht alleine da:‘), die Mitteilung der eigenen Befindlichkeiten an andere und Austausch über die Befindlichkeiten, um die eigenen Gefühle und Emotionen einschätzen zu können Lutz erzählt später im Interview von seiner Abiturfeier, in der gemeinsam an den Tod des ein Jahr früher gestorbenen Klassenkameraden erinnert wird, der durch den Autounfall zu Tode kam, und in der die Bedeutsamkeit gemeinsamer ‚Trauer‘ in der Gruppe hervorgehoben wird: bei der Abi-Abschlussfete warn ma kurz. hat man sich mal kurz auf. mmh. auf den Tod besonnen [...] u-unser Stufensprecher hat nne kleine Rede gehalten (6) und war der Meinung. dass er dass der Zusammenhalt ähm einer Gemeinschaft. ähm dann größer wird. wenn wenn. größer sein muss. größer werden muss. wenn e-eine Person aus dieser Gemeinschaft ähm. stirbt: und er meint dass wäre auch der Fall gewesen: Zur Beerdigung hat ‚man‘ ‚all die alten Leute wieder getroffen ( ) dies genauso wenig fassen konnten wie ich‘. Die ‚alten Leute‘ sind auf meine Nachfrage hin jene, ‚mit denen man sich früher getroffen hat. mit den man früher Parties gefeiert hat ( ) von denen man auch lange nichts mehr gehört hat:‘. Die ehemalige Clique ist also beim Tod des Freundes längst auseinander gebrochen. Auch Lutz Freundschaft mit Patrick ist von daher Element vergangener Beziehungen. Weder Clique noch Patrick sind Teil eines aktuellen sozialen Netzwerkes von Lutz. Lutz bemerkt, dass die emotionalen Verstörungen und das Suchen nach Nähe in der Gruppe schon nach einigen Tagen und noch vor der Bestattung geringer werden. Er besucht zu dieser Zeit einen Lehrgang für Rettungshelfer in M-Stadt und macht sich immer weniger Gedanken über den Tod des Freundes. Bei der in der ehemaligen Clique aufkommenden Frage, wie denn die Gruppe sich bei der Bestattung den Eltern gegenüber verhalten sollte, kommen die Jugendlichen überein, ‚still‘ zu trauern, d.h.: Der Freund hatte in den letzten Jahren doch einen geringen Kontakt zu den ehemaligen Freunden gehabt und die Eltern hatte ‚man‘ auch ‚schon so lange nicht mehr gesehn. mmh. das Verhältnis war auch nicht immer das beste‘. 40

Auf der Bestattung sind dann doch zumindest einige der alten Freunde anwesend, anschließend sitzt man am Treffpunkt der Clique noch zusammen, macht Musik und denkt über vergangene Tage nach. Dann geht das Leben ‚normal weiter‘, ‚ohne große Komplikation‘ – so beschließt Lutz diese Sequenz. Er bezieht sich dabei auf die Formulierung des Stimulus, in dem nach solchem Weitergehen gefragt wurde. Ich frage nach längerer Pause: ‚Wie gings nun weiter?‘ Lutz erzählt in der Folge aus seinem Erleben im Zivildienst. Er sagt, er hätte den Kollegen vom Tod seines Freundes erzählt. Er spürte bei ihnen ‚kurze Betroffenheit‘, dann aber auch weitgehende Gleichgültigkeit. Im Interview nimmt Lutz dies zum Anlass, weiter grundsätzlich über den möglichen Tod eines jungen Menschen nachzudenken und zu argumentieren. Im Anschluss daran erzählt Lutz von seinem Motorradunfall. Von einem Autofahrer wurde ihm die Vorfahrt genommen, er fuhr mit dem Motorrad auf das Auto auf. Lutz resümiert: ‚ich wags mal zu sagen dass ich. dem Tod da auch ganz kurz ins Gesicht geschaut habe: ( ) son bisschen:‘. Er kam aber dank der Schutzkleidung und eigener Geschicklichkeit beim Aufprall und folgendem Sturz mit Prellungen und Abschürfungen davon. Lutz hält diese Erfahrung nicht davon ab, weiterhin mit dem Motorrad unterwegs zu sein; drei Monate später hat er sich für sein kaputtes altes ein neues Motorrad angeschafft. Er behauptet, nun vorsichtiger zu fahren, aber doch eine Angst zu haben, weil: der Unfall ‚hat nicht an mir gelegen ( ) es hat äh nicht an der eigenen Unfähigkeit oder so gelegen‘. Allerdings, so fällt ihm auf: Im Verlauf seines Lebens wird, vor allem auch aufgrund des bisher Erlebten, ‚der Tod immer gegenwärtiger. immer. fassbarer (9)‘. Nach einer langen Pause (9 Sekunden) erzählt Lutz nun ausführlicher von seinen Erfahrungen aus der Zeit des Rettungsdienstes; dort hatte er auf verschiedene Art mit dem Tod bzw. mit Toten zu tun: alte Leute in ihren Wohnungen, Unfalltote, Tote im Krankenhaus auf der Intensivstation. Die erste Leiche, die er zu Gesicht bekam, ist die einer älteren Frau auf der Intensivstation. Er bemerkt die bläuliche Farbe der Haut, aber auch die Ruhe, die dieser Leichnam ausdrückt: ‚die lag da ganz ruhig die Hände verschränkt überm 41

Bauch‘. Lutz berührt die Leiche; die Haut ist ganz kalt, aber das ‚ist ja normal für ne Tote‘. Vielleicht, weil die tote Person ihm zu Lebzeiten nicht nahe stand, keine nahe Andere war, oder auch, weil es aussieht ‚als wärs ein Schlaf. den man nicht träumt‘, lässt ihn der Kontakt zum toten Körper emotional unberührt; er nennt keinerlei Befindlichkeit beim Anblick und bei der Berührung der Leiche. Er erzählt anschließend aus seiner letzten Woche im Zivildienst. Eine Wohnung musste aufgebrochen werden und ‚da lag auch ne alte Dame in ihrem Bett. genau wie die andere alte Dame a-auf der Intensivstation. Augen geschlossen. ganz. man hat äh das Gefühl gehabt. Person sei ganz ruhig verstorben:‘. Lutz erinnert sich hier der Art des Todes seines Freundes: Unter der Dusche soll plötzlich das Herz versagt haben. Hatte er da auch einen ruhigen Tod? Den beiden alten Damen unterstellt er einen solchen ruhigen Tod. Der Tod gehört zum Leben dazu, zumal im Alter nach einem langen Leben. Da wird er dann zu ‚Schlafes Bruder‘. Es ist unklar, ob Lutz hier eine religiöse Todesdeutung wiedergibt oder aber sein eigenes Verständnis des Erlebten und Gesehenen. Auf eine eigene Deutung weist seine Reaktion auf den Kontakt mit Leichen hin, und diese Reaktion erstaunt ihn: ‚die Frage hab ich mir gestellt ( ) nachdem ich die erste Leiche gesehen hab: ( ) vielleicht hab ich mir den Tod viel spektakulärer vorgestellt vielleicht vielleicht anders vielleicht äh. hätt ich von mir eine ganz andere Reaktion erwartet. nicht ähm. mmh. Gelassenheit. völlige Gelassenheit. und. nur Rationalität ( ) diese Person liegt da. die Herzfunktionen haben mmh versagt ( ) ja. und das ist das Ende: ( ) man ist also nicht heulend außer aussem Kämmerlein gelaufen und mmh. den Rest des Tages irgendwie fassungslos. gewesen. mmh ( ) komischerweise‘. Lutz hatte schon aus der Erfahrung der Tode seines Freundes und seines Klassenkameraden ein gelasseneres Verständnis zu Leiden und zum Tod. In der Zivildienstzeit lernt er nun einen professionellen Umgang mit Leichen kennen. Diese Professionalität gibt er an dieser Stelle des Interviews wieder: Er kann fast amüsiert von der ‚Pat-ex‘ Taste auf dem Funkgerät des Rettungswagens erzählen. ‚Patient exitus‘, ‚Patient gestorben‘, diese mit dem Funkgerät verbundene Taste ist nach vollzogenem Einsatz im Falle des Todes des Patienten zu betätigen, um die Einsatzleitung und andere Rettungswagen über den Todesfall zu informieren und weitere Maßnahmen in die Wege zu leiten. Lutz schätzt, dass innerhalb von zehn Einsätzen zwei bis vier mal diese Taste zu betätigen war. In der Einsatzleitung oder auf einem anderen Rettungswagen konnte er so auch mittelbar vom Tod von 42

Patienten erfahren. Es sind meist alte Leute, die sterben – Lutz hat dies in Protokollen vor Augen, erlebt es selbst im Einsatz mit, und er gibt zugleich damit auch einen statistischen Befund wieder. Diese Normalität des Todes und des Umgangs mit ihm gilt grundsätzlich auch für den Tod von Jüngeren, so zieht Lutz sein Resümee: der Tod ist völlig normal und. ähm. begegnet uns jeden Tag:. der Tod begegnet uns jeden Tag das heißt. der Tod gehört zum Leben:. wenn der Tod einem begegnet: ( ) ist komisch: Aber dann bezieht er sich doch wieder auf seine eigene Biographie und den Tod des Freundes: Eine Nachbarin ist in hohem Alter gestorben. Der Tod eines so alten Menschen gilt – auch nach seinen Erfahrungen im Rettungsdienst – für Lutz als ‚normal’. Aber der Tod des Freundes, den deutet er dann doch etwas anders: im Alter is ist der Tod normal. irgendwie ( ) beziehungsweise irgendwie alltäglich aber. i mmh im jungen Alter ( ) Alter von 19 20 Jahren. das ist schon was anderes: ( ) oder wenn Kinder sterben. das ist doch was ganz anderes ( ) ich denk mal. da zählen auch die Umstände. die Umstände. unter denen Menschen sterben zählen da auch noch mit ( ) Lutz gibt hier einen gesellschaftlichen Diskurs wieder, der die ‚Normalität‘ eines Todes zum einen an Altersnormen festmacht und zum anderen an den Modalitäten des Sterbens, ob also ein Tod qualvoll ist oder in Ruhe sich als Ableben vollzieht, ob er Menschen betrifft, die diesen Tod eines nahen Anderen erwartet haben oder aber von ihm abrupt getroffen werden und hinterbleiben. Nicht nur aufgrund seiner spezifischen Erfahrungen im Rettungsdienst, sondern auch in der Folge des Todes des Freundes und des Klassenkameraden ein Jahr zuvor bilden solche Gedanken über den Tod fortan eine innere Begleitmusik im Lebenslauf von Lutz. Was in der Vergangenheit geschehen ist, lässt ihn nicht unberührt, sondern prägt gewisse zukünftige Befindlichkeiten und Gedanken zu Tod und Leben. In der Zeit des Zivildienstes haben sich diese Gedanken anhand konkreter Erlebnisse Lutz förmlich aufgedrängt; die Anwendung professioneller ‚Copingstrategien‘ lernte Lutz ebenfalls innerhalb dieser Zeit. Aber auch mit solchen Gedanken geht sein Leben unbeeinflusst und unbeeinträchtigt weiter. Der Jugendliche Lutz durchläuft in Abitur, Zivildienst und später im Studium die angemessenen Schritte auf dem Weg vom Kind zum Erwachsenen; der Tod des nahen Anderen nimmt darauf keinerlei Einfluss. 43

Zu diesem Weitergehen gehört, dass die alte Gleichaltrigengruppe zerbrochen ist, sie ist wie die Freundschaft mit Patrick Vergangenheit. Dieses Netzwerk wird durch den Fortgang des jeweils individuellen Lebens seiner Mitglieder jenseits einer alten Clique aufgelöst und nicht erst durch den Tod eines ihrer ehemaligen Mitglieder. Sie ‚stirbt’, weil ihre Mitglieder andere Bezugssysteme und Netzwerke aufsuchen und ihre jeweils individuellen Lebenslinien darin weiterlaufen lassen. Zu diesen Lebenslinien gehört für Lutz ein Freundes- und Bekanntenkreis des Studiums, der mit dem alten Netzwerk keine personellen Überschneidungen zeigt: Ob Lutz und Patrick ihre Freundschaft hätten erneuern können, wäre Patrick nicht gestorben? Das sei dahingestellt. Den Tod des ehemaligen Freundes verknüpft Lutz mit der Auflösung ehemaliger Beziehungen. Er hat ‚mit den Leuten nichts mehr zu tun‘, auch nicht mit Patrick.

Darstellung Skadi, Marie und Lutz repräsentieren mit ihren individuellen Fallgeschichten den Typ A innerhalb der Typologie. Dieser Typ A ist zugleich der Grundtyp der Typologie; weitere Typen werden sich als Variationen bzw. Abweichungen betr. eines oder mehrerer Merkmale dieses Grundtyps darstellen lassen. Das Leben nach dem Tod des nahen Anderen ist für den Typ A altersspezifisch zunächst durch den Verbleib von Minderjährigen im Familienheim, bei Tod eines Elternteils beim übrig gebliebenen Elternteil, gekennzeichnet. Es ist der Typ eines jungen jugendlichen Lebens als Schüler nach dem Tod für die Altersspanne 12–18 Jahre. Dieses ist geprägt durch (1) eine weiterhin bestehende ökonomische und sozialrechtliche Bindungen an die Lebenswelt Familie bzw. das übrig gebliebene Elternteil. (2) Innerhalb dieser Lebenswelt werden weiterhin alterspezifische Teilreifen ausgehandelt und zugestanden. Bei Halbwaisen ist durch elterliche Berufstätigkeit ein höheres Maß an Eigenverantwortlichkeit der nachschulischen und freizeitbezogenen Lebensführung nachweisbar. Dieses Merkmal haben Halbwaisen allerdings mit weiteren Jugendlichen, deren Eltern berufstätig sind, gemeinsam. 44

(3) Notwendige Änderungen von Rollengefügen innerhalb der Familie nach dem Tod eines Elternteils werden zunächst unter weitgehender Beibehaltung des ‚Status Quo‘ vorgenommen. Für den Typ A bleibt zunächst nicht nur alles, wie es war, sondern es soll auch so bleiben. (4) In der Lebenswelt Schule wird der Tod eines nahen Anderen eines Schülers nur informell wahrgenommen. Moratorien für betroffene Schüler werden nicht gewährt, Leistungsanforderungen bleiben bestehen, Nichterbringung von Leistung wird sanktioniert. Dem Typ A gelingt eine unbeeinträchtigte Leistungserbringung nach dem Tod eines nahen Anderen. Den Leistungsanforderungen der Schule wird Typ A ohne Kompensation weiterhin gerecht. (5) Die Betroffenen des Typs A bleiben Mitglieder zuvor bestehender Netzwerke. Der Halbwaisenstatus bzw. der Status eines vom Tod eines nahen Anderen Betroffenen werden gelegentlich kommuniziert, d.h. der Tod des nahen Anderen ist ein marginales Thema der Kommunikation. Jugendspezifische Themen bleiben der dominante Inhalt jugendlicher Kommunikation auch nach dem Tod eines nahen Anderen. (6) Die Gemeinsamkeit der den Typ A repräsentierenden Jugendlichen des Samples ist die Teilnahme an spezifischen Netzwerken für ‚Trauernde‘. Über diese Teilnahme war eine Kontaktaufnahme möglich geworden. Die Neigung zu medialem Kontakt scheint ein generelles Merkmal jugendlichen Lebens zu sein. Über die bestehenden Kommunikationsmöglichkeiten (besonders Internetnutzung)werden die entsprechenden Netzwerke in außerfamiliären und auch außerschulischen Lebenswelten vor allem in der Gruppe der Gleichaltrigen aufgesucht. Die Netzwerke können sich zudem über ein gemeinsames Merkmal definieren; bei den Informanten des Samples geschieht diese Definition über ihren Status als ‚Trauernde‘ bzw. einer von ihnen selbst als identisch angenommenen emotionalen Situation. Der erlebte Tod eines nahen Anderen wird zur ‚Eintrittskarte‘ in Netzwerke schwächerer Beziehungen, in denen allerdings die Kommunikationsinhalte sich wiederum sehr weitgehend an jugendspezifischen Fragestellungen orientieren. Das Motiv, sich einem solchen Netzwerk anzuschließen, ist ein grundsätzliches, nicht an einen Typ gebundenes Affiliationsmotiv, das sich an den Möglichkeiten der Kommunikation orientiert. 45

Emotionale Begleitmusik oder innere Provinz der Trauer Der Tod des nahen Anderen führt zu einer affektiven, emotionalen ‚Begleitmusik‘ zur Lebenslinie im Sinne einer ‚inneren Provinz‘, also eines sich in der Innerlichkeit des Jugendlichen ‚abspielenden‘ Empfindungskomplexes mit geringen Auswirkungen auf bzw. Überführungen in die Lebenslinie. Im Sinne einer Emotionsarbeit veräußerlichen sich allerdings diese Empfindungen in gelegentlichen und geeigneten Interaktions- und Kommunikationszusammenhängen als Emotionen. Dieser Empfindungs- und Emotionskomplex kann als Merkmal des Typs A – und damit zugleich aller weiteren Typen der Typologie dieser Forschungsarbeit festgestellt werden. So empfinden sich die Jugendlichen des Typs A zunächst als ‚Trauernde‘ innerhalb ihrer familiären Lebenswelt in der unmittelbaren zeitlichen Nähe zum Tod eines nahen Anderen. Sie erfahren an sich selbst die Diffusität von Gefühlen angesichts des Todes des nahen Anderen, die sie in den Interviews sehr unterschiedlich beschreiben: Das starke und schmerzhafte Gefühl eines Verlustes, die Empfindung eines ‚Komischen‘ angesichts des komplexen Vorgangs des Umgangs mit dem Tod und mit dem Leichnam und der anschließenden Trauerritualik, die Empfindung des Nichtverständlichen und für ihre Person und Lebenslinie nicht Relevanten beim Tod des nahen Anderen; das Bedürfnis nach Kommunikation und Nähe zu Mitgliedern der Netzwerke, denen auch der nahe Andere angehörte. Sie erleben die Fremdheiten vorgenommener und für sie unverständlicher Trauerrituale durch die Erwachsenen, d.h. durch das überlebende Elternteil und die weitere Familie. Die Rituale im zeitlichen Zusammenhang von Tod und Bestattung beziehen sie als Kinder und auch jüngere Jugendliche nur sehr partiell und dann für Sie unverständlich mit hinein. Einige Interviewpartner erzählen von Exklusionshandlungen ihnen gegenüber durch die Eltern. D.h.: Sie sind beim Sterben des nahen Anderen nicht anwesend  –  weil dies ihnen nicht zugemutet werden konnte, so vermuten die erzählenden Jugendlichen, oder aber weil die Normativität des ‚normalen‘ Lebens weiterhin seine Macht ausübte: Sie nehmen unberührt am weiteren Unterricht in der Schule teil und werden in der Schule über den Tod des nahen Anderen informiert. Das Setting einer Leichenaufbahrung ruft für sie von sich aus Empfindungen von Fremdheit und darin Ungewissheit, Unkontrollierbarkeit und damit Angst hervor, der Kontakt zur Leiche Unsicherheit, Unverständnis, 46

aber auch Angst und Ekel und Abscheu. Die Interaktion mit den selbst durch den Tod situativ verstörten Elternteilen oder Angehörigen ist in diesem Prozess des ‚Trauerns‘ wenig klärend und deutend in Bezug auf das, was nun dort wirklich geschehen ist. Die Jugendlichen erzählen von einem größeren Maß an körperlicher Nähe und Zuneigung im Zusammenhang eines gemeinsamen Trauerns, die Betroffenen umarmen sich am Grab, sitzen miteinander zusammen und machen Musik in der Gleichaltrigengruppe (Lutz). Sie verbringen die Zeit nach dem Tod und vor dem Begräbnis in der familiären Gemeinschaft am Küchentisch (Marie). Vor allem Marie bezieht das Wohlempfinden in dieser engen Gemeinschaft auf entsprechende Defizite in viel späterer Zeit und weniger auf die unmittelbare Zeit nach dem Tod des Vaters. Die Jugendlichen des Typs A erzählen sehr wenig von ihren inneren Befindlichkeiten, Gefühlen und Emotionen im Zusammenhang mit dem Tod des nahen Anderen. Eine solche im Innern des Individuums verlaufende ‚Trauer‘, in der „das Individuum hauptsächlich auf sich“ verwiesen ist (Schäfer 2002: 44), ist nicht erzählenswert, weil nicht erinnerlich. Sie erzählen in der Regel sehr viel ausführlicher von den äußeren Formen, d.h. den sozialen Erscheinungen der Trauer in ihrem Umfeld der Familie, der Schule und der Gleichaltrigengruppe. Sie erzählen ihre Lebenssituation nach dem Tod des nahen Anderen als einen sozialen Prozess innerhalb ihrer Lebenswelten und kaum als individuellen Befindlichkeitskomplex. Sie erzählen freilich daraufhin auch davon, wie sie selbst in diesen Prozess eingebunden sind und darauf dann auch, welche Befindlichkeiten, Gefühle und Emotionen sie innerhalb dieses Prozesses an sich und anderen erleben. Wenn berichtet wird, dass es anderen Betroffenen ‚schlecht geht‘, so weist dies freilich auf die Wahrnehmung von Empfindungen und Gefühlen von anderen Personen durch sie hin, verweist aber noch intensiver auf die in der sozialen Umwelt gewünschte oder auch gewährte Unterstützung; hier werden zudem spezifische Traueremotionen als ‚ungeschriebene‘ Regeln des Verhaltens im Trauerfall erzählt. Skadi und Marie verstehen sich zunächst in einer Regression innerhalb des Interviews auf zeitlich zurückliegendes Erleben als die Kinder, die nun ihre Eltern, Mutter bzw. Vater verloren, haben. Ihre ‚Trauer‘ verstehen sie als eine kindliche, in der sie nichts wissen, nichts verstehen und auch nur recht wenig die Ernsthaftigkeit der Situation empfinden. Sie sind zum Zeitpunkt des Todes des nahen 47

Anderen minderjährige Jugendliche. Aber sie stellen sich sehr viel später im Interview immer noch als Kinder dar, denen eine Deutung des Geschehens nachhaltig vorenthalten wird und die damit auch im weiteren im Ungewissen und Angedeutetem belassen werden. Nicht nur ihre Darstellung ihrer Fallgeschichte ist durch diesen Befindlichkeitsrahmen geprägt. Sie erzählen ihr Durchleben der Phase unmittelbar nach dem Todesfall als durch fehlende Kommunikationsstrukturen bei zugleich starker körperlich-emotionaler Interaktion geprägt (Marie). Das Faktum fehlender Kommunikationsstrukturen setzt sich in der Erinnerung für sie in die Zukunft fort. Erst die Situation des Interviews scheint für sie die Möglichkeit der Reflexion auf die sozialen Prozesse im Zusammenhang und nach dem Tod des nahen Anderen zu eröffnen. Zu vermuten ist, dass diese Exklusionen und Kommunikationsdefizite von den Jugendlichen als ‚prägend‘ im Sinne von unvergesslich und weiterhin fremd und unverständlich und damit für nachträgliche spätere Deutung des Geschehenen als hinderlich, wenn nicht gar ‚verdrängend‘, erlebt werden. Die entsprechenden Befindlichkeiten werden von den Interviewpartnern im Nachhinein als Irritation, Unverständnis, Ausschluss aus einer Gemeinschaft und Verdrängung geschildert. Diese Befindlichkeiten ‚prägen‘ sich der inneren Welt der Jugendlichen ein. Eine innere Welt einer ‚Trauer‘ ist also für sie in der Regel durch die im sozialen Prozess ‚erwachsener‘ Trauer erlebten Exklusionen, Irritationen und Unverständnissen gekennzeichnet. In den sozialen Zusammenhängen der Lebenswelten Schule und Gleichaltrigengruppe werden Marie und Skadi als Repräsentantinnen des Typs A situativ als Hinterbleibende bzw. als ‚Trauernde‘ definiert und als solche von ihren Interaktionspartnern Lehrer, Mitschüler oder Freunde auch im unmittelbar zeitlichen Zusammenhang des Todesfalls angesprochen. Die Rolle einer ‚Trauernden‘ wird ihnen rituell zugewiesen (Stubbe 1985: 239f). Sie erzählen von solchen Rollenzuweisungen, sie erzählen von ihrem Unwohlbefinden angesichts dieser Definition und einer Ablehnung dieser Definition durch ihre Umwelt (und verbitten sich z.B. Beileidskundgaben und entsprechendes Angesprochenwerden durch die Gleichaltrigen – Skadi). Die soziale Rollenzuweisung ist für die Jugendlichen zunächst zeitlich an das Ereignis und seinen anschließenden rituellen Zusammenhang gebunden. Die Betroffenen sind für ihre lebensweltliche Umwelt die rituell ‚Trauernden‘, in der in der Regel stattfindenden Trauerfeier und der Bestattung sind sie durch ihre be48

sondere Stellung zum toten nahen Anderen schon durch die Sitzordnung, durch besondere Kleidung und besondere Erwartungen ihrer Umwelt an ihr Verhalten herausgehoben und an die Seite des toten nahen Anderen gestellt; sie haben Teil an der auch für das Kollektiv ‚unheimlichen‘ Sphäre des Todes und sind als solche besonders gekennzeichnet, d.h.partiell und situativ stigmatisiert. Diese soziale Zuweisung bzw. Stigmatisierung scheint allerdings bei den Betroffenen die innere Befindlichkeit nicht nur für die Gegenwart der Trauer am Grab und darüber hinaus, sondern auch für die Zukunft zu prägen. Die Betroffenen empfinden sich dauerhaft und nicht allein für die Dauer einer definierten und limitierten Trauerzeit als Hinterbleibende, als ‚Trauernde‘. Zu ‚trauern‘ ist für sie zwar kein bleibendes Merkmal ihrer äußeren Lebenswelt, wohl aber ihrer inneren Welt, das sich im Verlauf ihrer späteren Lebensgeschichte gelegentlich und situativ veräußerlicht, eben z.B. in ihrer Bereitschaft zum Interview. Sie sind zum Interview bereit und erzählen gern von ihren ehemaligen Befindlichkeiten und deren Verknüpfungen zur Jetztzeit. Die Form der Veräußerlichung solcher in die Innerlichkeit verlegter Trauer ist dabei die Emotion, die Form der Verinnerlichung ist die Bildung von Teilidentitäten, vor allem in spezifischen Netzwerken (z.B. einer Trauergruppe). ‚Moderne‘ Trauerrituale scheinen einer äußerlichen und sozialen Entbindung von Trauerstigmatisierungen nach Ablauf einer Trauerzeit zu entbehren. Mit dem Ablegen der Trauerkleidung wurde in älteren Trauerritualen die Zeit der ‚Trauer‘ und damit die Trauer selbst sozial und auch emotional beendet und der ehemals ‚Trauernde‘ auf ‚normales‘ Verhalten verpflichtet, quasi entstigmatisiert. Es darf vermutet werden: Trotz einer modernen Informalisierung der Trauer unter Beibehaltung der gesellschaftlichen Forderung nach kontrollierter Emotionalität (Wouters 1997) finden zunächst dennoch im Kontext der Bestattung in kultureller Vielfalt sozial zugeordnete Veräußerlichungen der Trauer statt. Die Trauernden haben sie so oder so zu verhalten! Allerdings scheinen die in der Tradition des Trauerverhaltens vorgegebenen Elemente einer Entstigmatisierung in den Zeiten moderner Informalisierung zu fehlen; ‚Trauer‘ ist ja in eine innere Provinz verschoben, ist individuell und nicht sozial definiert. Sie wird so eine nicht beendete, sondern dauerhafte Angelegenheit dieser inneren Provinz der Betroffenen und kann dann zu einem dauerhaften ‚Hintergrundrauschen ‚der Identität werden. Die Intensität der Dramatik einer inneren Stigmatisierung scheint mit sich der sozialen Nähe zum toten nahen Anderen zu verstärken. D.h.: Die Intensität der 49

Dramatik (als abhängige Variable) korreliert ihrerseits mit der Intensität der Rollenzuweisung im Trauerritual und weniger mit dem vom betroffenen Individuum empfundenen Intensität des erlittenen Verlustes. Die Halbwaisen Skadi und Marie gewinnen die Intensität ihrer Befindlichkeiten in Bezug auf den Tod des nahen Anderen, d.h. ihre Identität als ‚Trauernde‘, durch die besondere soziale Nähe zu ihrem Toten und durch den damit durch die soziale Gruppe zugewiesenen spezifischen Status der ‚Trauernden‘. Skadi wird durch den Besuch einer Therapiegruppe bereits im Vorfeld des Todes des Vaters sozial identifiziert. Lutz repräsentiert in Typ A eine vollständige Undramatik in einer innerlichen Begleitmusik der ‚Trauer‘. Er war der Freund des nahen Anderen und darin ein eher ‚ferner‘ naher Anderer. In der Lebenswelt der kindlichen Freizeit berührten sich die Lebenslinien der beiden Freunde, gemeinsame Hobbys ließen eine intensivere Gemeinschaft entstehen. Über die aktuellen Lebenswelten der Familie und der Schule/​Ausbildung sind Bindungen zum toten Freund nicht (mehr) vorhanden. Lutz‘ Leben verändert sich durch den Tod des Freundes im Zusammenhang der familiären und schulischen Lebenswelten nicht, sondern es geht ‚unberührt‘ und unverändert weiter. Im Zusammenhang eines trauerrituellen Ablaufes nach dem Tod des nahen Anderen ist er noch einmal Mitglied eines sozialen Netzwerkes, dem auch der Tote angehört hatte. Das soziale Netzwerk dieses Freundeskreises hat sich durch die Übergänge der Beteiligten in andere Netzwerke (Studium, Berufsausbildung) bereits aufgelöst und kommt allein zur Bestattung noch einmal als ‚die alten Freunde‘ zusammen. Diese ‚alte‘ Clique ‚trauert‘. Für einen begrenzten Zeitraum ist ‚Trauer‘-Verhalten im Zusammenhang dieses zum Zweck der Trauer ‚reanimierten‘ Netzwerkes auferlegt. Die Clique kommt zur Bestattung zusammen, findet dann aber mit dem Tod eines Mitglieds ein quasi symbolisches Ende. Das Begräbnis des Freundes ist zugleich auch die Feststellung des bereits längst ereigneten ‚Gruppentodes‘. Lutz‘ daraus erwachsenden Befindlichkeiten zum Tod des Freundes sind ebenso zeitlich limitiert. Sein ‚Hintergrundrauschen‘ innerhalb einer inneren Provinz zu späteren Zeiten bezieht sich auf vergangenes Leben der Kindheit und der Jugend in einer Clique mit dem Freund und der Vergegenwärtigung dieses Lebens durch Erinnerungen an dieses Leben und an die Person des Freundes. Diese Kindheit und auch dieser Teil der Jugend ist für Lutz allerdings auch ohne den Tod des 50

Freundes schon längst beendet. Der Tod des Freundes aus Kindheitstagen macht ihm diesen Tatbestand in besonderer Weise deutlich. Lutz versteht sich Altersgleichen gegenüber als ‚lebenserfahrener‘, denn er kann in seiner Lebensgeschichte auf die Erfahrungen des Todes als Beendigung des Lebens von jungen als auch alten Menschen zurückblicken. In der Situation des Interviews prägt dies seine Darstellung; er bezieht die Erfahrung des Todes seines Freundes auf die weiteren Todesfälle, mit denen er zuvor und dann in der Zivildienstzeit konfrontiert wurde. Solche Erfahrungen des Todes eines Anderen prägen das Hintergrundrauschen seiner Identität, dass sich bei gelegentlich und situativ verhaltensrelevant bemerkbar machen könnte.

Typ B Irritationen und Störungen der Lebenslinien nach dem Tod des nahen Anderen Das Leben der Jugendlichen, die mit ihren Fallgeschichten im Folgenden als Repräsentanten des Typ B dargestellt werden, ist nach dem Tod eines nahen Anderen wie im Typ A nicht grundsätzlich durch das Ereignis und die Erfahrung des Todes geprägt bzw. in seinem Verlauf und seinen Entwicklungen für das Individuum in seinen Lebenswelten nachhaltig verändert. Es verläuft auch nach dem Tod in den ‚vorgeprägten‘ Bahnen jugendlicher Lebenslinien und Teilreifen Allerdings ist der im Folgenden darzustellende Typ B als Variation des Typs A durch mehr oder weniger dramatische aktuelle Irritationen und Störungen des Lebensverlaufs der betroffenen Jugendlichen charakterisiert und unterscheidet sich darin vom Typ A. Die Störungen und Irritationen beziehen sich auf das Leben der Jugendlichen innerhalb ihrer jugendlichen Lebenswelten und nehmen dort Einfluss auf aktuelle und situative Handlungsweisen und -verläufe sowie auf lebensgeschichtliche Entwicklungen. Diese Verhaltensweisen können die Funktion des ‚coping‘ haben, d.h. zum Ausbalancieren von gestörten und irritierten Lebensverläufen der betroffenen Jugendlichen beitragen. 51

Der in der Beschreibung des Typs B benutzte Begriff ‚Störungen‘ bezieht sich auf sozialstrukturelle Veränderungen innerhalb der relevanten Lebenswelten. So können Störungen innerhalb der familiären Lebenswelt bei Veränderungen der personalen Zusammensetzung, der Organisation der familiären Lebensabläufe und der Umstrukturierung von Rollenkonstellationen auftreten. Sie können auftreten z.B. bei Scheidung, bei Veränderung des Status der Berufstätigkeiten von Familienmitgliedern (z.B. Arbeitslosigkeit), bei Veränderungen der ökonomischen Situation, im Falle von Erkrankung eines Familienmitgliedes, bei Hinzutreten neuer Familienmitglieder z.B. durch Geburt, beim Auszug von Familienmitgliedern, bei Verlegung des Familienheims an einen anderen Ort (Umzug) und eben auch beim Tod eines Mitglieds des familiären Kollektivs. In jedem Fall ist die Restrukturierung sozialer Figurationen nötig, innerfamiliäre Rollenkonstellationen sind neu zu bestimmen, der Alltag erfordert eine Neuorganisation innerfamiliärer Abläufe, Regeln und auch Prioritäten und Präferenzen. ‚Störungen‘ bei dieser Neuorganisation in den Lebenswelten bedeuten, dass diese Reorganisationsleistungen des familiären Systems von den Akteuren als konfliktbehaftet erlebt und in diesem Sinn erzählt werden können, und/​oder, dass die durch die Neuorganisation des Systems zu leistenden Anpassungen durch das Individuum nur mit Mühe vollzogen werden können. Aufgrund ausreichender Ressourcen werden diese Anpassungen trotz aller Störungen und Irritationen geleistet und insofern folgt das Leben der betroffenen Jugendlichen weiterhin einer Generallinie eines jugendlichen Lebensverlaufes. Bei der Darstellung des Typs A wurde das Phänomen einer emotionalen Begleitmusik oder inneren Provinz der Trauer festgestellt. Der Begriff ‚Irritation‘ bezieht sich innerhalb der Darstellung des Typs B auf diese ‚innere Begleitmusik‘. Die o.a. Störungen im familiären System haben Auswirkung auf die Befindlichkeit des einzelnen Akteurs und auf den emotionalen Zusammenhang innerhalb des familiären Systems. Gestörte Kommunikation und Interaktion generieren und strukturieren spezifische ‚gestörte‘ Empfindungen und Emotionen: Die Betroffenen fühlen sich verunsichert und irritiert und zeigen entsprechende emotionale Reaktionen. Auch in der Lebenswelt der Schule und der Gleichaltrigengruppe entstehen Irritationen. Den betroffenen Jugendlichen wird nach dem Tod des nahen Ande52

ren von den Kommunikationspartnern (Mitschüler, Lehrer, Freunde) der Status (Strauss 1959) von Trauernden /​Waisen zugewiesen; zugleich identifizieren sich die Jugendlichen selbst in diesem Status. In der Kommunikation und Interaktion mit Nicht-Trauernden kann diese Selbst- und Fremdzuschreibung zu Irritationen führen, wenn mit ihr exkludierende, weil für die Interaktionspartner nicht kommunizierbare, Emotionen und Verhaltensweisen einhergehen. Fehlende Normierungen von Trauerverhalten und damit defizitäre Kommunizierbarkeit provozieren Irritationen im sozialen Kontext durch Ausgrenzung und Isolation der Betroffenen.

Klara Störungen und Irritationen der Lebenslinie in der familiären Lebenswelt Klara ist 16 Jahre alt. Sie wohnt mit ihrem Vater und einer drei Jahre jüngeren Schwester in Leverkusen. Der Vater ist als Informatiker in einem Großunternehmen tätig, die Mutter war Gymnasiallehrerin. Die Familie bewohnt ein Reihenhaus mit einem Garten. Klara besucht die Klasse 10 eines örtlichen Gymnasiums. Klaras Mutter ist ein Jahr vor dem Interview an einer Karzinomerkrankung gestorben. Die Krankheit wurde etwa ein Jahr vor dem Tod diagnostiziert. Der tödliche Ausgang der Erkrankung wurde durch die Symptomatik sehr bald deutlich: Die Bewegungsmöglichkeiten der kranken Mutter wurden durch Lähmungen nach und nach eingeschränkt. Im letzten halben Jahr war sie an den Rollstuhl und das Bett gebunden und litt unter diversen Gehirnausfall-Erscheinungen. Die letzte Woche war sie in einem Hospiz untergebracht. Für Klara ist die tödliche Krankheit der Mutter zunächst ein Erkrankung. Mehr noch: Klara hat das Sterben der Mutter als solches nicht wahrgenommen. Vermutlich wurden sie und die jüngere Schwester von den Eltern und anderen Angehörigen (wie z.B. der Schwester der Mutter) über den tödlichen Charakter der Erkrankung nicht in Kenntnis gesetzt. Weder über Gefühle der Sorge und der Angst noch über die strukturellen Implikationen der Krankheit und des Todes der Mutter wurde in der Familie eingehender miteinander geredet. 53

Im Rückblick auf die Zeit vor dem Tod der Mutter beurteilt Klara dies als Kommunikationsdefizit. Mutter und Tochter hätten schon damals über das Sterben und den Tod der Mutter und über die Folgen für die Tochter und für die ganze die Familie reden sollen. Der Mutter sei es trotz eines oder mehrerer Versuche aber nicht gelungen mit der Tochter darüber ins Gespräch zu kommen, weil sie als Tochter seinerzeit die Notwendigkeit solcher Gespräche nicht erkannt hatte bzw. nicht erkennen wollte. Klara begründet das Kommunikationsdefizit durch eigenes Desinteresse und Ablehnung des Themas. Was bewegt Klara zu dieser Beurteilung? Es könnten Diskussionsinhalte im Internetforum sein, an dem Klara teilnimmt. Nicht zuvor über den Tod reden zu können, verhindert ein angemessenes Abschiednehmen, das gegebenenfalls zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt werden muss. Klara wird noch darauf zu sprechen kommen. Möglicherweise hätte sich Klara aber auch angesichts gegenwärtiger Irritationen und Störungen eine geeignetere Vorbereitung auf den Tod der Mutter und vor allem auf das Leben danach gewünscht: Siehätte ‚eigentlich‘ wissen müssen, wie es um die Mutter steht, so sagt sie selbst, dafür waren die Zeichen des Siechtums bei einer längeren Bettlägerigkeit und einem späteren komatösen Zustand doch zu deutlich. Aber sie hat daran vorbei gelebt, weil sie dies konnte, d.h. weil trotz des Ausnahmezustandes der Familie vor dem Tod der Mutter vor allem für die minderjährigen Kinder der Familie das Leben so normal wie möglich weitergehen sollte und auch weiter ging. Klara ist in der Erkrankungszeit der Mutter weiterhin ‚normal‘ zur Schule gegangen. Am Tag des Todes der Mutter hatte sie einen Leistungstest zu schreiben. Sie hat weiterhin ihre Freundschaften gelebt und ist ihren Interessen nach gegangen. Der Besuch einer Freundin Klaras wurde zwecks Beibehaltung der ‚Normalität‘ nicht etwa wegen der Erkrankung der Mutter abgesagt. Diese Erkrankung führte zu medizinischen ‚Härten‘, von denen Klara ausführlich erzählt; aber diese stellt sie nüchtern als medizinische Probleme dar, die durch medizinische Hilfe gelöst werden mussten, die aber das Zusammenleben der Familie nicht grundsätzlich infrage stellten. Das familiäre Leben und seine Organisation ist bereits in den Zeiten der Behinderung der Mutter wegen einer halbseitigen Lähmung und dann daran anschließend einer längeren Bettlägerigkeit ohne die Mutter verlaufen. Die übrige Familie verbringt ihren Urlaub, der noch gemeinsam mit der Mutter gebucht worden war, ohne sie. Es ‚ging‘ also in der Familie – Klara erzählt da nichts Gegenteiliges – ‚auch ohne die Mutter‘. Diese hilft zwar bei der Ernte des Obstes aus dem Garten und nimmt am Leben der Familie so gut sie 54

es kann teil. Klara stellt sie in einer romantischen und idealisierten Rückschau gar als den Mittelpunkt der Familie dar: ‚wir haben dann auch immer abends bei ihr am Bett gesessen haben, alle‘. Das familiäre Leben aber will den Ausnahmezustand der Familie nicht zur Kenntnis nehmen; es sind Ressourcen vorhanden (von denen Klara aber nicht erzählt), die mögliche Defizite in der Versorgung der beiden Töchter ausgleichen. Dies gilt auch für die emotionale Auseinandersetzung mit der Krankheit und dem bevorstehenden Tod, von der Klara ferngehalten wird. Für Klara und auch ihre Schwester verlief das Leben vor dem Tod der Mutter in gewohnten Bahnen. Das änderte sich, so Klara, aber mit dem Tod der Mutter, der sie ‚hart und überraschend trifft‘. Klaras Beurteilung ‚überraschend‘ mag sich auf einen in Bezug auf seinen Zeitpunkt unerwarteten Tod beziehen: Die Mutter ist im Hospiz untergebracht, sie liegt dort im Koma. Die Familie rechnet mit einem längeren Aufenthalt der Mutter im Hospiz. Aber dann ging es dann ziemlich schnell: ‚Das hätten wir so auch nicht gedacht‘. Die Mutter stirbt nach einer Woche des Aufenthaltes. Zeitlich mag der Tod der Mutter überraschend sein, aber ‚hart‘? ‚Hart‘ bezieht sich auch auf die Zeit nach dem Tod der Mutter: Nach deren Tod begannen ‚harte‘ und ‚schwierige‘ Zeiten für Klara. Sie kann hier an Abläufe der Zeit der Beerdigung denken, an die emotionalen Ausnahmesituationen einer Trauerzeit. In Bezug auf die Organisation des familiären Lebens nahm die Mutter bereits vor ihrem Tod an diesem Leben nicht mehr teil. Warum sollte aber das Lebens außerhalb einer definierten Trauerzeit und damit verbundenem Trauerverhalten nicht ‚normal‘, also ‚härter‘ als zuvor, weitergehen? Oder wollte Klara zunächst nicht wahrhaben, dass sich mit dem Tod der Mutter dennoch die Situation der Familie und die Anforderungen an die Organisation der Familie dramatisch ändern? Bestimmte Ressourcen, die in der Zeit des Siechtums zur Verfügung standen, wie Familienangehörige oder auch Menschen, die vor allem der Mutter verbunden waren, standen auf einmal nicht mehr zur Verfügung. Klara erzählt z.B. von einer guten Freundin der Mutter, die sich in der Zeit des Siechtums offenbar intensiver um sie kümmert. Solche sozialen Ressourcen können in der Zeit nach dem Tod der Mutter weggebrochen sein, in der die Familie vor der Aufgabe einer grundsätzlich neuen Organisation steht, in der ehemalige, an der Mutter orientierte Bezüge abbrechen und neue Bezüge gewonnen werden. Von dieser Anforderung der Neuorganisation erzählt Klara innerhalb ihrer Eingangs55

sequenz im Folgenden: ‚Also es hat sich halt hier zuhause ziemlich viel verändert. Mein Vater hat ja vorher fast überhaupt nichts im Haushalt gemacht und jetzt muß er das alles irgendwie hinkriegen mit uns. Das schafft er auch nicht so ganz gut – aber das passt schon.‘ Klaras Erzählung weist auf einen größeren Konflikt hin, d.h. auf eine Störung des Fortgangs ihrer familiären Lebenslinie nach dem Tod der Mutter. Der Konflikt fokussiert sich in ihrer Erzählung auf die Aufgabe der Haushaltsführung, d.h. der familiären Organisation, und als beteiligte Personen in diesem Konflikt auf den Vater und die beiden Töchter. Organisatorisch und personell hätten sich in der Zeit nach dem Tod der Mutter – und zu ergänzen ist: bis heute – ‚harte‘ und schwierig zu lösende Veränderungen ergeben. Die Situation vor dem Tod unterscheide sich also von der nach dem Tod der Mutter. Von welchen Veränderungen erzählt Klara? Sie verweist dabei auf die familiäre Organisation und damit den familiären Zusammenhalt: Der Vater ‚macht Haushalt‘, wohingegen er ihn ‚vorher‘ nicht gemacht hat. Dies kann auf eine stärkere Einbindung des Vaters in die haushaltstechnischen Zusammenhänge verweisen. Die folgende Sequenz läßt an eine zeitweilige Niederlegung von Lohnarbeit denken: ‚also mein Vater war früher immer arbeiten, und hat also nichts im Haushalt so wirklich gemacht. Das muss er jetzt alles schmeißen; und. das ist schon etwas kompliziert jetzt, es läuft nicht immer alles so ganz glatt‘. Zunächst beschreibt Klara in dieser Sequenz die Zeit vor dem Tod der Mutter: Der Vater hatte sich aus der Haushaltsführung herausgehalten, weil er ‚halt früher immer arbeiten war‘. In der Zeit des Siechtums der Mutter hatten Klara und die Schwester sich zumindest teilweise darum gekümmert. Klara selbst hatte bereits vor dem Tod und in der Zeit des Aufenthaltes der Mutter zuhause haushaltstechnische Aufgaben und auch Teile der Pflege der Mutter übernommen hat. Vielleicht standen auch andere Personen ausgleichend zur Verfügung bzw. konnten sich um die minderjährigen Töchter kümmern. Naheliegend ist allerdings, dass die beiden, ähnlich wie Marie und ihre Schwestern und auch Skadi, ihrerseits die Haushaltsführung bis zum Heimkommen des Vaters von der Arbeit zur Zufriedenheit aller erledigten. 56

Mit dem Tod der Mutter aber seien, so erzählt Klara, in Bezug auf die Teilnahme des Vaters am familiären Haushalt die oben beschriebenen Änderungen eingetreten. Klara erzählt hier nun nicht von neuem aber optimierungsfähigem haushaltlichem Engagement des Vaters. Sie deutet auch nicht auf eine Niederlegung der Lohnarbeit zwecks Ausübung haushaltlicher Aufgaben. Aber sie wirft dem Vater in der neuen Situation nach dem Tod der Mutter vor, dass er nicht tut, was er doch eigentlich tun ‚muss‘. Es gibt also ‚komplizierte‘ Veränderungen in Bezug auf die Beteiligung des Vaters an den innerfamiliären Konfigurationen und Interaktionen. Hier ergeben sich die für Klara entstehenden Störungen und damit verknüpften Irritationen. Auch der mentale Zusammenhang und Zusammenhalt der Familie ist gestört. Der Vater ‚schmeißt‘ nicht mehr den ganzen Haushalt, d.h.: er kümmert sich als Person nicht mehr ausschließlich um den familiären Zusammenhalt, sondern lebt ein eigenes Leben außerhalb der Familie. Nach dem Tod der Ehefrau ordnet und organisiert er auch als Mann und nicht nur als Vater sein Leben neu. Zuvor war dies anders: In der Zeit des Siechtums werden die organisatorischen Strukturen des Haushaltes beibehalten, und so gut wie möglich wurde der Ausfall der Mutter kompensiert. Der Vater erfüllte darin weiterhin seine eigene Rolle, indem er arbeiten ging, die selbst berufstätige Mutter konnte dies nicht mehr, war aber emotional bis zuletzt ein Teil des familiären Zusammenhalts. Von diesem Zusammenhalt erzählt Klara im Interview mit idealisierten Bildern. Beide Töchter haben in dieser Zeit ihren Teil zur Kompensation des Ausfalls beigetragen. Nach dem Tod der Mutter und der Ehefrau aber muss und will auch der Vater sein Leben neu projektieren und organisieren. Er tritt in neue Netzwerke ein, findet neue Freunde und er findet auch eine neue Partnerschaft. Hieraus ergeben sich die komplizierten Veränderungen, deren Konsequenzen für die Gesamtfamilie Klara anspricht. Sie erzählt fast anekdotisch ein Erlebnis der jüngsten Zeit: ‚jo. zum Beispiel ich war jetzt bis gestern. bei meiner Tante in Zülpich. bin dann gestern mitm Zug nach Haus gekommen ( ) und. es war nichts mehr da. also. wir hatte nichts mehr zu essen. und wir hatte ja es war. es war absolutes Chaos in der Wohnung eigentlich (3) naja ( ) und eigentlich. ich mein. das hätte er regeln müssen [schmunzelt] ( ) also das hätte er regeln können ( ) weil. er wußte ja. dass ich nach Hause komme und ( ) es war nichts mehr zu essen da ( ) naja.‘ Als Klara nach Hause kommt, ist der Vater nicht da, obwohl er es doch eigentlich hätte sein ‚müssen‘. Klara fühlt sich allein gelassen. Sie beklagt das Verhalten 57

des Vaters: Der Vater kümmert sich nicht in erwarteter oder zumindest für sie ausreichenden Weise um sie und um die Familie. Er tut nicht, was er doch tun ‚muss‘ und auch können sollte, nämlich bei Bedarf für die Nachlieferung verbrauchter Lebensmittel zu sorgen und den elementaren Pflichten innerhalb der familiären Gemeinschaft nach zu kommen und wie die anderen Familienmitglieder auch Ordnung zu halten. Und er freut sich nicht oder nimmt zumindest anerkennend wahr, wenn sie, Klara, nach einigen Tagen wieder nach Hause kommt, denn: Die Wohnung ist unaufgeräumt und es gibt nichts zu essen, weil der Kühlschrank leer ist. Klara interpretiert dies auch als Missachtung ihrer Person durch den Vater. Der lebt sein eigenes Leben. Zudem, so Klara, und diese Notiz rundet das für sie Defizitäre an dieser Situation ab, spricht der Vater nicht mehr mit ihr. Warum sieht Klara Gesprächsbedarf? Und worüber wäre zu reden? Klara nennt nun im weiteren Verlauf des Interviews einen möglichen Grund der Neuorientierung des Vaters: ‚mein Vater hat jetzt eine neue Freundin (14)‘. So teilt es Klara so lapidar wie bedeutungsschwer, weil zunächst ohne jede Kommentierung, mit. Im Anschluss daran macht sie eine 14-Sekunden-Pause. Auch ich bin wegen der scheinbaren Bedeutungsschwere dieser Notiz überrascht und begleite kommentarlos Klaras längeres Schweigen. Klara verknüpft an dieser Stelle des Interviews eindeutig den innerfamiliären Kommunikationsabbruch und die neue Freundin des Vaters. Folgende Interpretation dieser Sequenz liegt nahe: Offenbar ist die neue Freundin und das damit verbundene Verhalten des Vaters sowie die Reaktion der Tochter der Grund, weshalb der Vater sich partiell aus dem familiären Zusammenhang löst und die Familie als Ganze nicht weiterhin ihrer Aufgabe der Reorganisation nachkommen kann. Die Tante z.B. , Mamas Schwester’, gehört zu dieser Familie. Sie hat das familiäre Leben der Familie nach dem Tod begleitet, sei schon vor dem Tod der Schwester oft da gewesen und hält auch nach dem Tod vor allem zu ihren Nichten einen engen Kontakt. Die Tante komme damit auch nicht so gut klar, so Klara. Der Zusammenhang der kleinen Sequenz legt die Interpretation nahe, dass das ‚klar kommen‘ der Tante sich in der Darstellung Klaras nicht auf eine Trauerempfindung um die tote Schwester bezieht, und auch nicht auf das neue Leben des Vaters – sondern auf die innerfamiliären Störungen und Irritationen (zu den möglichen Irritationen siehe weiter unten), die für Klara aber durch die neue Partnerschaft des Vaters 58

aufbrechen. Hier findet Klara Unterstützung durch die Tante: ‚das ist auch die Einzige so innerhalb der Familie. mit der ich wirklich darüber reden kann. / mhm/ ( ) also meine Schwester die ( ) redet überhaupt nicht darüber die. hat auch nicht geweint bis jetzt oder. gar nichts. die zeigt überhaupt keine. Reaktion da drauf ( ) und mein Vater nja ( ) der redet mit anderen aber nicht mit mir (3).‘ Klara gleitet mit Hinweis auf das Verhalten der jüngeren Schwester nach dem Tod der Mutter in die Trauerthematik. Die kommunikative Verknüpfung der Trauerempfindungen mit einer aktuellen Problematik, d.h. Irritation bzw. Störung, wird analog zu Marie auch bei Klara bestätigt. Was stört und irritiert Klara? Ist es das Nichteinhalten einer formalen Trauerzeit, in der beim Tod des Ehepartners die Aufnahme von neuen Beziehungen anstößig ist? Kulturanthropologischen Arbeiten (z.B. Stubbe 1985: 132ff) weisen für die Wiederverheiratung von Witwen und Witwern, d.h. für neue Partnerschaften, innerhalb der Kulturen unterschiedliche Fristen nach. Trauerfristen in der Moderne sind freilich informell: Für die Situation Klaras ist es ihr individuelles Unbehagen bzw. ihre Verunsicherung, die die Länge einer ihr entsprechenden Trauerzeit subjektiv bestimmt. Klara kann sich mit der neuen ‚Freundin‘ des Vaters (noch) nicht abfinden; sie begründet dies mit ihrer ehemaligen Nähe zu ihrer Mutter und mit ihrer aktuellen Befindlichkeit der Trauer. Stört Klara das Leben des Vaters jenseits seiner Familie, seiner Töchter bzw. besonders Klara? Das neue Leben des Vaters distanziert Vater und Tochter voneinander (‚ der redet mit anderen aber nicht mit mir‘). Es beendet eine Zeit intensiverer Betreuung nach dem Tod der Mutter, der Vater ist nun nicht mehr umfassend für seine Töchter da. Möglicherweise hält er sich auch in seiner Freizeit bei der neuen Partnerin auf und diese nicht bei ihm und den Kindern. Vielleicht hat sie eigene Kinder, aber darüber erfahre ich nichts und frage auch nicht nach. Mehr als jene kurze Notiz gibt Klara zur neuen Freundin des Vaters auch nicht kund. Ich habe auch keine Informationen darüber, wie eng die Beziehung ist, inwieweit die Freundin des Vaters bereits Klara und ihrer Schwester ‚vorgestellt‘ wurde. Zu vermuten ist, dass dies bisher nicht geschehen ist und das Leben des Vaters bei seiner Freundin jenseits der Familie unbekannt ist. Dies verunsichert Klara. Sie bemerkt – wie Marie in Bezug auf die Abwesenheit ihrer Mutter – die Nichtanwesenheit des Vaters, das Unbekannte seiner neuen Beziehung und damit verbunden ein umfassendes Kommunikationsdefizit, das sie dem Vater anlastet, weil er ja die Familie aktuell ‚verlassen‘ 59

hat. Allerdings wird diesem Kommunikationsdefizit von Seiten des Vaters andererseits die Eigenständigkeit des Lebens der jugendlichen Klara entsprechen, wie sie ähnlich bei Skadi festgestellt wurde. Klara macht nicht nur wochenendübergreifende selbstständige Ausflüge zu ihrer Freundin in Köln oder zu ihrer Tante nach Zülpich, sie lebt auch in ihrer Heimatstadt eine freies und partiell selbstständiges Leben als Jugendliche. Nichts weist im Interview darauf hin, dass Klara in besonderer Weise der dauerhaften Betreuung des Vaters bedarf bzw. auf dauerhafte Kommunikation mit ihm angewiesen ist. Die Gesprächspartner für ihr Leben sind auch die Gleichaltrigen in der Schule, der Freizeit und auch in der Internettrauergruppe. In letzterer kann sie über ihre Trauer ‚schwätzen‘, der Vater und auch die Schwester verschließen sich dieser Kommunikation, vielleicht, weil sie sie nicht für nötig halten. Irritiert Klara die Perspektive, dass die neue Partnerin des Vaters ihre Stiefmutter werden könnte? Einen Kommunikationsabbruch diesbezüglich kann sie freilich ähnlich Marie erfahren, weil der Vater mit seiner minderjährigen Tochter über seine persönliche Lebensplanung nicht ‚redet‘, d.h. sich auch nicht hineinreden lässt. Eine engere Partnerschaft des Vaters mit der neuen Freundin, die die Hineinnahme der Partnerin in die Familie impliziert, wird allerdings auch Klaras Leben verändern: Sie muss sich in dieser neuen Konfiguration arrangieren oder aber sie sieht sich schon jetzt vor eine zukünftige Aufgabe gestellt, ihr Leben allein zu gestalten, eine Aufgabe, die z.B. Marie als Volljährige und Abiturientin als Merkmal ihres Erwachsenwerdens werten kann. Die Störung und Irritation in der Lebenslinie Klaras ist zusammenfassend zu beschreiben: Der Vater hat eine neue Partnerin. Zur Pflege dieser Beziehung vernachlässigt er zur Zeit die Versorgung seiner Töchter, die nach dem Tod der Mutter von ihm zunächst umfassend haushaltstechnisch und durch dauerhafte Anwesenheit betreut wurden. Die Töchter wissen zudem, dass der Vater diese neue Freundin auch in die Familie einführen wird. In diesem Fall haben die Töchter die neue ‚Mutter‘ zu akzeptieren und ‚mit ihr klar zu kommen‘. Aber er ‚fehlt‘ zur Zeit und was in der Zukunft in den familiären Konfigurationen sich entwickelt, ist für Klara mit großer Unsicherheit und mit Ängsten verbunden. Dass eine neue Frau des Vaters für Klara zwar nicht mehr Kindesmutter, wohl aber eine Gesprächspartnerin in ihrem Heranwachsen werden könnte, ist für Klara derzeit keine Option. Dazu müssten der Vater und dessen Freundin mit den Töchtern ‚ins Gespräch‘ kommen. Die durch diese Offenheit und Unsicherheit der aktuellen Situation (‚mein Vater hat jetzt eine neue Freundin‘) hervorgerufenen Irritationen schließen wie eine 60

Fortsetzung an die Irritationen durch die Krankheit und den Tod der Mutter an: Was ‚jetzt‘ auch ein neuer Anfang sein kann, ist zunächst einmal das endgültige Ende eines heilen Zuhause, in dem die Eltern sich um die Kinder kümmern: Etwas zu Essen und kein Chaos und immer ist ein Ansprechpartner anwesend. Klara beschwört im Interview diese heile Welt der Vergangenheit noch in der Zeit schweren Siechtums, wenn die ganze Familie am Bett der Mutter sitzt bzw. mit ihr im Garten Fruchtgelee zubereitet. Diese heile Welt befestigt sie an der Person der Mutter, deren enge Beziehung sie als Tochter sie in ebenso idealisierter, kindlicher Form erzählt. Die neue Freundin des Vaters und eine eigene mögliche spätere Annäherung an sie ist für sie wie ein Verrat an der Mutter, die sie aktuell sehr vermisst, ‚weil ‚ne Mutter kann man ja nicht einfach so ersetzen oder so. das ist einfach. ja. so die Ansprechpartnerin und ( ) einfach so. also dass sie immer für mich da war und ( ) ja ( ) s fehlt hat einfach.. In Hinsicht auf die für sie bedeutungsvolle Lebenswelt Schule erzählt Klara nicht von Leistungseinbrüchen. Sie ist leistungsstark genug, mögliche Irritationen und Störungen innerhalb der Lebenswelt Schule durch den aktuellen Tod der nahen Anderen zu kompensieren. So werden Leistungsanforderungen innerhalb dieser Lebenswelt aktuell und weiterhin ungebrochen an sie herangetragen. Emotional erfährt Klara in der Lebenswelt der Schule direkt nach dem Zeitpunkt des Todes und auch danach ‚unheimlich viel Unterstützung. ‚[...] auch von den Lehrern den Mitschülern und so‘. Es ist in der Regel eine Lehrperson, die Religionsunterricht erteilt, idealerweise mit eigener Trauererfahrung, die mit trauernden Schülern ins Gespräch kommt. Klara kann ausführlich mit ihrem Religionslehrer sprechen, der sich in diesem Gespräch ihr gegenüber selbst als Waise zu erkennen gibt: ‚und der konnte das halt alles ziemlich gut nachvollziehen und halt auch so die Gefühle die da in einem hoch kommen ( ) /​mhm/​und ( ) ja. das hat halt irgendwas ausgelöst.‘ Der ‚auslösende‘ Faktor dieses gemeinsamen Merkmals mit dem Religionslehrer, d.h. einer gegenseitigen Identifizierung als Trauernde, die dann aktuell auch miteinander trauern, lässt Klara sich bis zur Gegenwart in den Lebenswelten Schule und der Gleichaltrigengruppe als Waise und Trauernde empfinden. Eine bisher einjährige ‚Trauerzeit’ führte zwar zu besonderer Zuwendung durch die Gleichaltrigen, Klara erzählt hier recht unspezifisch von emotionalen Störun61

gen durch eigene Reaktionen sowie Unsicherheit bei den Kommunikationspartnern im Umgang mit ihr: ‚also. meine Klasse hat das einmal erlebt dass ich wirklich im Unterricht rausgegangen bin weil ich nicht mehr konnte weil ich halt. n totalen Zusammenbruch hatte und gar nichts mehr konnte. und seitdem sind die auch alle total anders und auch immer. versuchen halt einerseits immer zu helfen. aber andererseits immer so auf Abstand so. ich dacht die haben auch Angst davor. ist auch n bisschen unangenehm irgendwie‘. In welchen Zusammenhängen Klara diesen ‚totalen Zusammenbruch‘ erlebt hat und entsprechend innerhalb des Unterrichts reagierte, erzählt sie aber nicht weiter. Von emotionalen Reaktionen auf den zuvor erlebten Tod und den Verlust des nahen Anderen, ausgelöst durch spezifische Stimuli, erzählen auch andere Jugendliche des Samples. Denkbar ist, dass es sich, vor allem in einer Zeit nahe am Tod des nahen Anderen,um aktuelle und situative Reaktionen einer inneren ‚Trauerprovinz‘ auf äußere Reize handelt, allerdings nicht um eine dauerhafte und umfassende Beschreibung von Befindlichkeiten und Emotionen im Umgang mit einer äußeren Welt. Auch die Selbstbeschreibung Klaras als Waise gehört so eher zu ihrer innerlichen Befindlichkeit als zu ihren emotionalen Äußerungen ihres Lebens innerhalb der Lebenswelten der Schule und der Gleichaltrigen. Da möchte sie selbst ‚normal‘ behandelt werden, anderes empfindet sie als ‚manchmal n bisschen blöd‘. Allerdings wird sie nach einer Zeit der unmittelbaren Trauer im Umfeld der Beerdigung auch nicht mehr auf ihr Waisensein angesprochen, ‚weil sich die Leute zum Beispiel nicht trauen. das Thema Tod anzusprechen. in meiner Gegenwart. Sie versuchen halt einerseits immer zu helfen. aber andererseits immer so auf Abstand so. ich dacht die haben auch Angst‘. Die Irrelevanz des Themas ‚Tod und Trauer‘ lässt die Kommunikationspartner dazu schweigen, d.h. für Klara ist ihr Status als Waise nicht prägend für das Leben innerhalb der Lebenswelten. Ihrer Erzählung ist zu entnehmen, dass sie trotz einer partiellen bzw. innerhalb ihrer inneren Provinz selbstgedeuteten ‚Stigmatisierung‘ als Trauernde und Waise weiterhin ungestört und ohne größere Irritationen Mitglied der jugendlichen Netzwerke bleibt; in diesen wird aber kaum über Erfahrungen von Sterben und Tod und Trauer gesprochen. Dies ist allerdings in der Internettrauergruppe anders, hier sind Tod und Trauer das zentrale Thema. 62

Von dieser Erfahrung her interpretiert Klara fremdes (und eigenes) Desinteresse am Thema als ‚Sich nicht trauen‘ der Kommunikationspartner, über dieses Thema zu sprechen. Auch Klara wendet sich an das Forum ‚lassunsdrueberreden‘. Sie findet im Forum neue Interaktions- und Kommunikationspartner, ein neues Netzwerk. Der Zugangscode in dieses neue Netzwerk ist die Identifikation als ‚Trauernde‘: Ich habe jemanden verloren, so wie du auch. Die Internetnutzung zur Bildung entsprechender Netzwerke ist attraktiv, weil modern und zeitgerecht. Der Zugang zu einem exklusiven Forum verschafft eine exklusive Identität. Zweifellos wachsen Klara in ihren neuen Gesprächspartnern auch umfangreiche Ressourcen zur Weitergestaltung ihrer Lebenslinie zu; dieses ist, wie sie resümiert, ‚das einzige was. so wirklich hilft jetzt‘ in der Situation der innerfamiliären Irritationen und Störungen. Solcher Ressourcengewinn darf grundsätzlich als Funktion jugendlicher Netzwerke festgestellt werden. In der Familie werden ihr nach ihrer aktuellen Einschätzung auf Zukunft hin keine ausreichenden Ressourcen zuteil werden. Dafür aber reden die Leute der Internettrauergruppe mit ihr darüber! Selbst in den jugendlichen Internettrauergruppen ist aber nicht die Trauer allein Thema, sondern in viel größerem Maße jugendspezifische Fragestellungen (s.o.). ‚Trauer‘ ist also nicht nur ein Phänomen der inneren Welt, sondern das einer inneren Provinz in dieser inneren Welt, eines abgesteckten, quasi durch Stimulation ‚erwachenden‘ Bereichs von Befindlichkeiten und Emotionen. Klara malt innerhalb des Interviews allerdings ein Bild der Waisen, die durch das Stigma des Todes eines nahen Anderen sich von ihrer Umwelt distanziert bzw. auf Distanz gehalten wird. Diese Einschätzung ihres Lebens als Waise innerhalb der Lebenswelt der Gleichaltrigengruppe durch Klara entspricht nur in eng umsteckten Grenzen der Realität. Klara befindet sich aktuell als minderjährige Jugendliche trotz der dargestellten Störungen und Irritationen ‚im Schoße‘ der Familie. Wie Skadi oder Marie ist sie mit zunehmenden Teilreifen und damit mit Elementen jugendlicher und handlungsfähiger Lebensgestaltung in den entsprechenden Lebenswelten ausgestattet. Zu vermuten ist, dass sich dies während ihrer Minderjährigkeit auch nicht ändern wird und dass ihre Lebenslinie innerhalb der  –  vor allem minderjährigen – Jugendphase einem durch sozialrechtliche und sozialstrukturelle Vorgaben normierten Verlauf folgt. 63

Amelie Störungen der Lebenslinie in der familiären Lebenswelt und in der Lebenswelt der Gleichaltrigen Amelie ist 19 Jahre alt, Schülerin der Klasse 13 eines Gymnasiums. Vor zweieinhalb Jahren, da ist sie knapp 17 Jahre alt, ist ihre Mutter plötzlich gestorben. Gemeinsam mit der Mutter, dem Vater und dem vier Jahre jüngeren Bruder lebte Amelie seinerzeit in einer Vorortsiedlung von Hannover in einem kleinen Einfamilienhaus. Amelie wohnt nach dem Tod ihrer Mutter wie Klara zunächst in der elterlichen Wohnung, bevor sie dann kurz vor ihrer Volljährigkeit auszieht und sich eine eigene Wohnung nimmt. Dies entspricht der jugendlichen Entwicklungsaufgabe einer Verselbstständigung der eigenen Lebensführung durch Auszug aus dem Familienheim, in der Fallgeschichte Amelies freilich noch vor der Volljährigkeit und damit zu einem recht frühen Zeitpunkt. Dieser Zeitpunkt scheint aber auch durch den Tod der Mutter und der Reorganisation des Lebens nach dem Tod verursacht. Der Auszug Amelies aus dem Elternhaus ist ein Element auch dieser Neuorganisation. Amelie zeichnet aber zu diesem Verlauf ihres Lebens im Interview und der Erzählung ihrer Fallgeschichte nach dem Tod der Mutter ein Bild des ‚Erleidens’ und nicht das einer eigenständigen, selbstgewollten ‚Handlung’. Der Hörer gewinnt den Eindruck, dass der Auszug in die eigene Wohnung für Amelie nicht freiwillig und als Realisierungswille einer jugendlichen Entwicklungsgeschichte geschieht, nicht aus einer Handlungsoffenheit und -freiheit in Bezug auf die Möglichkeiten von Auszug oder Verbleib. Dies verweist auf Störungen und Irritationen in ihrer Lebensgeschichte während der Jugendphase nach dem Tod einer nahen Anderen. Amelies Auszug geschieht zur Unzeit, weil sie sich dazu gezwungen sieht. Ihr Auszug ist Flucht und damit auch ‚Vertreibung’. Eine Situation des sich Wohlfühlens und der Geborgenheit bei gleichzeitiger Wahrung der Privatheit hätte sie möglicherweise weiterhin im Haus der Eltern mit Vater und Bruder wohnen lassen. Sie erzählt ihre Situation aber als eine Vertreibungssituation, weil sie es mit 64

ihrem Vater zuhause nicht mehr aushalten konnte. Und in diesem Gesamtbild stellt Amelie das Leben nach dem Tod der Mutter und ihre aktuelle Lebenssituation im Interview dar. In dem, was sie tut, hat sie keine andere Wahl. Dieses Grundmotiv prägt die Darstellung ihrer Lebensgeschichte nach dem Tod der Mutter. Dieses Gesamtbild muss nicht mit ihrer tatsächlichen Lebensgeschichte übereinstimmen. Erzählte bzw. berichtete Lebensbilder folgen einem Darstellungswillen, mithin auch dem Bestreben der Darstellung der Kontinuität der eigenen Lebenslinie und damit auch der Legitimation eines gegenwärtigen bestehenden vorläufigen Endpunktes einer solchen Geschichte. Amelie ist volljährig, bewohnt eine eigene Wohnung und hat sich von ihrer Herkunftsfamilie weitgehend gelöst. Dies kennzeichnet ihre aktuelle Situation bzw. ihren aktuellen Entwicklungsstand. Aber wie ist es dazu gekommen? Der Ausgangspunkt der Erzählung Amelies ist der Stimulus des Interviews: Wie ist dein Leben nach dem Tod deiner Mutter … weitergegangen? Werden hier Verknüpfungen erzeugt, die Entwicklungen in die Zeit nach dem Tod der Mutter verlagern, die bereits vor dem Tod der Mutter sich abzeichneten bzw. sich aktualisierten? Die folgende Darstellung der Fallgeschichte Amelies wird sich an dieser Dichotomie orientieren. D.h.: Amelies Schilderung ihrer Lebensgeschichte eröffnet in Bezug auf den realen Verlauf des Lebens und der Ursachen und Wirkungen der familiären Interaktion unterschiedliche Deutungsmöglichkeiten. Die Darstellung orientiert sich zunächst an der Erzählung Amelies und wird in einem zweiten Verlauf eine alternative Deutung vornehmen. Allerdings, dies sei an dieser Stelle vorausgeschickt: Die Zuordnung zu dem hier vorgestellten Typ B ist in beiden Fällen gegeben. Amelie erlebt die Zeit unmittelbar nach dem Tod und vor der Bestattung als eine ‚Schockphase’, an die sie sich nur recht wenig erinnert. Hilfe erhält sie weniger durch den Vater und den Bruder – aber die Beziehung zu beiden Personen schildert sie im Interview als konfliktreich –, sondern durch die Schwester der Mutter, die die Beerdigung organisiert und auch als Gesprächspartnerin zur Verfügung steht. Danach aber kam niemand mehr vorbei. zum reden oder so. Erleidet Amelie hier einen Verlust ihrer Netzwerkverbindungen? Bekannte und Freunde, aus der erweiterten Familie oder auch aus der Gleichaltrigengruppe, kommen nicht mehr vorbei. Zuvor, im Zusammenhang des Todes und in der Trauerzeit danach, war dies noch geschehen. Im Anschluss daran setzt sich eine Normalität fort, die Amelie bereits vor dem Tod der Mutter als beziehungsarm 65

erkennen lässt: Die Vermutung liegt nahe, dass sie schon zu dieser Zeit eingeschränkte Kontakte zu Mitgliedern von Lebenswelten außerhalb der Familie pflegte. Diese mögen durch den Zusammenhang von Bestattung und Trauerzeit kurzfristig erweitert worden sein. Nun aber ist Amelie aus Gründen, die sie nicht erzählt, weitgehend allein. Auch die familiäre Kommunikation findet nach Amelies Bericht nicht mehr statt, sie fühlt sich bei Vater und Bruder einsam, ihre Mutter fehlt ihr als Partnerin und Bezugsgröße. Auch die Schwester der Mutter, kann dies nicht kompensieren. Amelie fasst diese Situation in einem Satz zusammen: ja. seitdem. ist alles anders geworden. Welche Änderungen haben sich ergeben? Im Nachfrageteil des Interviews erzählt Amelie ähnlich wie Klara detaillierter von Konflikten im Haushalt und dessen Führung und von fehlgeschlagener Kommunikation der übriggebliebenen Familienmitglieder. Wenn die Mutter die zentrale Bezugsgröße dieser familiären Einheit gewesen ist, so kann der Vater diese Funktion nun nicht mehr leisten: Die Familienmitglieder leben nebeneinander und zugleich getrennt voneinander. Amelie hat die Freundin, Partnerin, ‚signifikante Andere‘ für sie als Tochter und Frau verloren. Als Grund dieser Änderung nennt nun Amelie aber nicht den Tod und damit diesen Verlust der Mutter, sondern ihre Vertreibung und ihren Auszug aus dem elterlichen Haushalt. Exakt dies hat sich verändert. Amelie spricht pointiert von einem ‚Auszug’, einem Wegzug. Sie spricht an dieser Stelle des Interviews nicht davon, dass sie nun endlich in eine eigene Wohnung gezogen ist, zu einer Freundin oder einem Freund oder gar an einen anderen Ort. Der Hörer wird zunächst im Unklaren darüber gelassen, wohin Amelie sich verändert. Sie blickt in der Erzählung der Interviews zurück: Mit dem Auszug ändert sich ihre vorherige primäre Lebenswelt, ihr Aufenthaltsort und ihre Wohnsituation. Die Spanne zwischen Tod der Mutter und dem Wegzug bezeichnet ihr Leben nach dem Tod ihrer Mutter. Ihr Auszug dann ist eine Flucht, ein ‚Gehen aus dem Feld’. Für Amelie hat dies alles einen sehr konkreten Grund, und dieser ist wiederum nicht der Tod der Mutter ein gutes halbes Jahr zuvor. Amelie gibt in der folgenden Sequenz und später innerhalb des Interviews zwei Gründe, warum sie es zuhause ‚nicht mehr ausgehalten‘ hat. Da sei zunächst das ‚Alkoholproblem‘ ihres Vaters, das schon vor der Tod der Mutter bestanden hätte und das vor allem in der Familie der Mutter zu diversen Dis66

kussionen zwischen den Schwestern geführt habe. Die Mutter hätte sogar einmal über eine Trennung vom Ehemann nachgedacht, so wird ihr von der Schwester der Mutter mitgeteilt. Amelie verweist hier auf eine familiäre Netzwerkkonstruktion Mutter-Tochter-Tante. Der Vater war und ist nicht Teil dieser Konstruktion; seine Person aber ist Grund und Inhalt von Kommunikation und Überlegungen zukünftigen Handelns. Diese Überlegungen laufen auf eine Trennung hinaus, mithin auf einen Auszug eines Ehepartners. Wenn Amelie nun also nach dem Tod der Mutter genau diese Überlegungen durch ihren eigenen Auszug in die Tat umsetzt, folgt sie dem Programm dieser Netzwerkkonstruktion innerhalb der mütterlichen Familienlinie. Amelie vollzieht mit ihrem Auszug, was ihre Mutter, so hört sie es aus zweiter Hand, mutmaßlich plante. Die heranwachsende Tochter hätte dann aber ohne die Informationen der Tante über die Inhalte schwesterlicher Telefonate den Konflikt der beiden Ehepartner und mögliche Entwicklungen gar nicht bemerkt. Die Begründung dieses elterlichen Beziehungsproblem dient Amelie nun aber als Legitimation eigenen Verhaltens und Entscheidens. Ein zweiter Grund des ‚nicht mehr Aushaltens‘ sind Konflikte zwischen Tochter und Vater, die Amelie benennt. Diese gehören weniger in die Kausalität eines Alkoholproblems als mehr in den Konflikt zwischen fast erwachsenen Kindern und ihren Eltern und beziehen sich auf das Zugeständnis von Teilreifen. Amelie bezeichnet schon die Zeit vor dem Tod der Mutter als eine Phase, wo Eltern und Kinder einfach nicht so nah zusammen sind ich mein ich hatte meinen ersten Freund und wollte möglichst viel Zeit mit dem verbringen und ( ) ähm. das hat ja halt öfters mal nicht so gepaßt und. Ja. Amelie hat einen Freund und fordert von den Eltern Zugeständnisse in Bezug auf entsprechende Teilreifen ein: Abwesenheiten vom Elternhaus einschließlich Übernachtungen beim Freund. Darüber kam es zu Konflikten, die bereits vor dem Tod der Mutter auch in der Beziehung zwischen Mutter und Tochter ausgelebt wurden und sich nun nach dem Tod der Mutter in der Beziehung zwischen Vater und Tochter fortsetzen. Denn diesen Freund hat Amelie auch weiterhin nach dem Tod der Mutter und sie wird die Beziehung in der gewohnten Intensität weitergeführt haben. Tochter und Vater kollidieren so in den neuen familiären Strukturen, sei es in Bezug auf die Aufgaben der Haushaltsführung, von der Amelie glaubhaft erzählt, dass diese vor allem ihr als dem ältesten und zumal weiblichen Kind auf67

gebürdet wurden, sei es in Bezug auf Anwesenheiten zuhause bzw. Aufenthaltsbestimmungen, wenn Amelie z.B. bei ihrem Freund übernachten wollte. Diese ‚jugendgemäße‘ Konfliktkonfiguration maskiert Amelie im Interview wiederum mit dem Alkoholproblem ihres Vaters. Dass dieser trinkt und, wie sie später anmerkt, ständig mit seiner Tochter zusammen rasselt, bezeichnet sie als Problematik bereits vor dem Tod der Mutter. Tochter und Vater kollidieren aber nicht auf dem Hintergrund eines Alkoholproblems, sondern primär in Bezug auf Lebensführungen, auf Verhalten, auf Normen und Werte Zuvor war die ‚Beziehung‘ zwischen Tochter und Vater aber durchaus ‚gut‘. Das ändert sich mit dem Heranwachsen der Tochter. Der Vater war im Zugestehen von jugendlichen Freiheiten seiner Tochter gegenüber möglicherweise restriktiver als die Mutter. Zwischen ihr und Amelie bestand eine intensive Mutter-Tochter-Beziehung mit ausgleichenden Momenten gegenüber den Konflikten zwischen Tochter und Vater. Die Mutter kann nach ihrem Tod nun nicht mehr zwischen Vater und Tochter vermitteln oder als ‚Pufferung’ dazwischen stehen. Aber auch diese altersgemäßen Konflikte in der Entwicklungsaufgabe ‚Ablösung von den Eltern‘ durch Einfordern und Erkämpfen von Freiheiten und Teilreifen erzählt Amelie nun als mit dem Alkoholproblem des Vaters ursächlich verknüpft. Sie zeichnet das Bild der Tochter, die vom Vater aufgrund seines alkoholbedingten Verhaltens quasi ‚bedrängt’ wird und deshalb vor allem vor ihm flüchtet. Amelie erzählt, wie sie versucht hat, an anderen Orten zu übernachten, bei ihrem Freund oder bei Freundinnen. Dies hat sie sicherlich auch schon vorher getan und sie ist darüber mit der Mutter und nach deren Tod noch intensiver mit dem Vater in Konflikt geraten. Nun aber schildert sie diese Übernachtungen nicht als Ergreifen von mehr oder weniger zugestandenen jugendlichen Teilreifen und Freiheiten, sondern als Reaktion auf eine für sie nicht mehr erträgliche Situation, weshalb sie vor ihrem Vater fliehe. Beängstigende Erfahrungen mit dem Verhalten des Vaters nach abendlichem Alkoholkonsum dürfen realiter angenommen werden. Amelies Angst aufgrund solcher Erfahrungen scheint verständlich. Amelie findet in dieser Situation die Gesprächspartnerin in ihren Tanten, der Schwester der Mutter und der Schwester des Vaters. Mit ihnen kann sie über ihre Trauer sprechen und mehr noch über ihren Vater. Das Gespräch mit dem Vater 68

aber bleibt weitgehend aus. Die Konversation beschränkt sich auf  –  gegenseitige – Vorwürfe und Missverständnisse: irgendwann fing das auch so an dass. mein Vater mir nur noch Vorwürfe gemacht hat was ich alles nicht gemacht hab und ( ) das einfach nicht gewürdigt hat was ich gemacht hab und ( ) ja. daraus hat sich auch son Konflikt ergeben weil ( ) mh weil wir einfach. nicht aufeinander geachtet haben weil jeder so seinen Weg gegangen ist und. ähm ( ) wir uns nicht mal zusammen gesetzt haben und ( ) uns drüber unterhalten haben was wir denn auch so organisieren könnten dass. jemand anders für einen einspringt wenn es eben nicht so gut geht und am nächsten Tag ist es vielleicht anders rum ( ) /​mhm/​das lief bei uns einfach nicht. ( ) /​mhm/​(räuspern) also es war so (3) ja (2) Diese Schilderung verweist nicht so sehr auf bestehende Ängste, sondern mehr auf organisatorische Konflikte innerhalb der familiären Haushaltsgemeinschaft einschließlich der Sorge um den jüngeren Bruder; der Vater fordert ein größeres Engagement der mit siebzehn Jahren schon fast erwachsenen Tochter, als diese zu zeigen bereit ist. Die Schilderung verweist zugleich auf einen Konfliktkomplex in der Ablösung der Jugendlichen von ihrem Elternhaus und elterlicher Sorge. Amelie fordert ihre Freiheiten in Bezug auf Bestimmung der eigenen Freizeit und des Lebenswandels, geht dort ihren ‚eigenen Weg‘. Amelie ‚malt‘ im Interview für ihr Leben nach dem Tod der Mutter das Bild einer Flucht von zuhause vor dem Vater. In welchem Maße dies der Wirklichkeit entspricht und warum ihr Auszug konkret so früh geschieht, wird allerdings nicht vollständig deutlich, sondern erlaubt unterschiedliche Deutungen: (1) Eine objektiv‚vertreibende’ Situation durch ein Verhalten des Vaters der Tochter gegenüber erscheint als eher unwahrscheinlich. Der Vater wird im Interview ungeachtet seines Alkoholproblems als Person ‚gemalt’, mit der Amelie zwar klar kommen könnte, dies aber im Konkreten nicht kann. Amelies Schilderungen der bedrückenden Situation bleiben vage zwischen den Schilderungen ihrer Angst und deren konkreter Begründung und dem Hinweis auf kommunikative und organisatorische Konflikte zwischen dem Vater und seiner heranwachsenden Tochter. (2) Amelie müsste nicht zu einer Konstruktion einer Vertreibungssituation greifen, um ihren Wunsch nach frühzeitiger Unabhängigkeit vom Elternhaus und 69

Zusammenwohnen mit dem Freund inklusive finanzieller Alimentation durch den Vater in eben dieser Konstruktion durchzusetzen und zu legitimieren. Dies könnte sie in einem anderen Bild ihres Lebens nach dem Tod der Mutter, das ihre Selbstständigkeit und Entscheidungsfreiheit betont, ausmalen. Ihre diffusen Ängste, die sich am konkreten Alkoholproblem des Vaters und an ebenso konkretem Verhalten des Vaters seiner Tochter gegenüber anbinden, auf die diese mit Angst und Flucht reagiert, erscheinen deshalb glaubwürdig. (3) Ein weiterer Faktor prägt die Fallgeschichte Amelies und ihre gegenwärtige Situation: Amelie verfügt über nur sehr wenige starke Netzwerkverbindungen innerhalb der Gleichaltrigengruppe, so war oben vermutet worden. Vor und nach dem Auszug findet sie kaum Gesprächspartner und damit Unterstützung und soziale Ressourcen. Der Nachfrageteil des Interviews bestätigt dies, nennt allerdings keine Gründe für dieses kommunikative und auch ressourcenorientierte Defizit. Die Interpretation legt nahe, dass auch eine aus diesem Defizit erwachsende ‚Einsamkeit‘ Amelies in ihrer eigenen Wohnung und damit eine Art misslungener Versuch, die Lebensgeschichte nach dem Tod der Mutter erfolgreich in die eigenen Hände zu nehmen (‚Ich lebe in einer eigenen Wohnung und habe viele Freunde!‘), auch die negative Darstellung des Auszugsmotivs mitbestimmt. Sie kann auf eine solche ‚Erfolgsgeschichte‘ eines jugendlichen Lebens nicht zurückblicken; sie ist von zuhause vertrieben worden, lebt allein und hat wenige Freunde. Sie erzählt so an keiner Stelle des Interviews von intensiveren Hilfestellungen von Seiten von Freunden oder Mitschülern. Sie wohnt zwar bei einer Freundin nach dem Auszug und vor dem Einzug in die eigene Wohnung, aber diese Person ist ihr keine weitere Erwähnung wert. Vom Freund trennt sie sich nach einiger Zeit. Eine jugendliche Erfolgsgeschichte des Freundes aus dem ‚behüteten Elternhaus‘ ist mit Amelies Nichterfolgsgeschichte nicht kompatibel. Ihr Elternhaus ist kein behütendes mehr, weil die Mutter verstorben ist, weil ihr das Zusammenleben mit dem Vater nicht mehr gelingt und weil sie nun allein lebt und darin einsam ist. Weitergehende Gründe der Trennung von ihrem Freund nennt Amelie nicht. Amelie begründet und entschuldigt so ihre jugendliche Misserfolgsgeschichte mit einem Trauerstatus, indem sie quasi eine weitere, verlängerte Trauerzeit einfordert, und mit der Fluchtsituation aufgrund der unerträglichen Situation im Elternhaus. Amelie ist so anders als die zuvor dargestellten Mitglieder des Samples eine Repräsentantin der Bildung einer sehr spezifischen ‚Traueridentität‘; die 70

Intensivierung dieser Identitätsbildung und die Herausführung und Überführung dieser Identität aus der inneren Provinz einer inneren Welt in die Lebenslinie wird im Anschluss in der Fallgeschichte Stefanies dargestellt. Zur aktuellen ‚Einsamkeit‘ Amelies durch Selbststigmatisierung und Isolation, die sie in der Zeit des Interviews lebt, und zur Veränderung dieser Einsamkeit durch Aufnahme neuer Kontakte in neuen Netzwerken gehört zum Schluss nun auch die Planung der Gründung einer eigenen ‚Trauergruppe‘. Über das Abgrenzungsmerkmal ‚Trauernde‘ sucht Amelie nach neuen Kommunikations- und Interaktionspartnern als einer Kompensation ihrer Ressourcenproblematik. Sie plant, angeregt von den sozialpädagogisch vorgebildeten Inhaberinnen eines ‚alternativen’ Beerdigungsinstituts, die die Mutter bestattet hatten, eine Trauergruppe für ‚trauernde’ Jugendliche zu gründen. In der Lebenswelt Schule hat Amelie nach dem Tod der Mutter keine größeren Schwierigkeiten, ihre schulischen Ziele weiter zu verfolgen. Sie erzählt von keinen Leistungseinbrüchen oder interaktiven Problemen mit Mitschülerinnen und  – schülern. Diese komplexe familiäre und private Situation Amelies nach dem Tod der nahen Anderen darf als Irritation und Störung bezeichnet werden. Irritationen und Störungen ihrer Lebenslinie geschehen in der Lebenswelt der Familie und in der Lebenswelt der Gleichaltrigen. Die organisatorischen und darin zugleich kommunikativen Störungen innerhalb der Familie sind ein Merkmal des Typs B bezogen auf die Lebenswelt Familie. Klara hatte diese Störungen in einem Rückbezug auf kindliche Versorgungsansprüche wahrgenommen und sie mit einem Kommunikationsdefizit gekoppelt. Amelie bezieht sie auf die Bedürfnisse einer älteren Jugendlichen und ihres Wunsches nach Selbstbestimmung von Freizeit und in diesem Zusammenhang der Zueignung gewünschter Teilreifen. Hier scheint der Vater restriktiv zu handeln. Amelie erzählt zum Anderen von Irritationen in Bezug auf emotionale und kommunikative Strukturen innerhalb der Lebenswelt Familie. Die Störungen 71

entstehen an aktuellen und zugleich auch weit zurückliegenden Verhaltensformen des übrig gebliebenen Elternteils und zugleich ihren eigenen noch aus der Kindheit rührenden Ängsten. Wenn die Gegenwart der Mutter zuvor ausgleichend und kompensatorisch wirkte und sich darin die enge Beziehung zur Tochter begründete, so fällt durch ihren Tod diese Moderatorfunktion zukünftig aus und führt dazu, dass Amelie ihrer Ängste nicht mehr Herr wird und ihr Vater ihr zugleich z.B. durch Veränderung seines Verhaltens und seines Umgangs mit der fast erwachsenen und ihre Unabhängigkeit und Freiheiten einfordernden Tochter nicht mehr helfen kann. Organisatorisch und emotional kommt es zum nicht auflösbaren Konflikt. Amelie flüchtet sich so in einen Auszug aus dem Familienheim. D.h.: Amelies Erzählung verweist zugleich auch auf die Aufgabe der Ablösung und das Maß zugestandener Teilreifen durch den übrig gebliebene Elternteil. Diese gehen aber nicht auf dem Tod der Mutter zurück, sondern sind in einer Vater-Tochter-Beziehung begründet, in die freilich die Mutter nicht mehr ausgleichend bzw. sogar gegenläufig eingreifen kann – z.B. indem sie erlaubt, was der Vater verbietet. Der Verlust dieser innerfamiliären Kompensation ist allerdings real und nicht allein in der Innerlichkeit einer Trauer beheimatet. Zum Dritten erzählt Amelie die Geschichte des Lebens nach dem Tod der nahen Anderen von ihrer gegenwärtigen Situation her. Bedeutsame Entwicklungen der Lebenslinie sind defizitär. So hat sie mit dem Auszug aus dem Elternhaus keine stärkeren Beziehungen zu neuen Partnern und Netzwerken aufbauen können. Amelie interpretiert diese misslungene Entwicklungsaufgabe von ihrer Identität als ‚Trauernde‘ her. Trauernde zu sein ist Grund des Misslingens. Allerdings: Diese Interpretation geschieht ‚ex eventu‘ und darf als Versuch der entschuldigenden Legitimation und Kontrolle der aktuellen Situation verstanden werden. Amelie weiß aber, dass ihre lokale und auch personale Lösung vom Elternhaus und vom Vater Handlung einer selbstgewählten altersgemäßen Selbstständigkeit ist. Der Auszug von Zuhause hat ihr letztlich die gewünschte Selbstständigkeit der Lebensführung geschenkt. Anders als die später in Typ D und E dargestellten Fallgeschichten bedeutet ihr Auszug eben nicht eine Lücke, Leerstelle oder einen Rückschritt in der Abfolge ihrer jugendlichen Lebenslinie und Entwicklungsgeschichte. 72

Stefanie Störungen und Irritationen in der schulischen Lebenswelt und in der Lebenswelt der Gleichaltrigen Vor fünf Jahren ist Stefanies Mutter gestorben. Stefanie war beim Tod ihrer Mutter 14 Jahre alt. Sie lebt mit ihren zwei jüngeren Brüdern und dem Vater zusammen in einem kleinen, modern eingerichteten Reihenhaus in Hamm/​Westfalen. Stefanie geht in die Jahrgangsstufe 13 eines örtlichen Gymnasiums. Stefanie besucht z.Z. des Todes der Mutter die 8. Klasse. Ihre schulischen Leistungen sind zufriedenstellend. Dies ist auch begründet in der Kontrolle und Unterstützung durch die Mutter. Sie ist die Ansprechpartnerin bei Schwierigkeiten und zugleich diejenige, die die Leistungen der Tochter einfordert. In der Retrospektive des Interviews ist für Stefanie der Tod der Mutter das entscheidende Datum ihres Lebens, das aus aktueller Sicht ihren Status (ihre Identifikation durch andere) und ihre Identität (ihr Verständnis von sich selbst im sozialen Kontext) und ihr emotionales Erleben (die Interpretation/​Deutung ihrer Person in Interaktionen – ihr Selbstbild als ‚Trauernde’) prägte und weiterhin prägt: (1) Stefanie versteht sich zum Zeitpunkt des Interviews sozialstrukturell als Waise, (2) Sie versteht sich emotional, d.h. in der Eigendeutung ihrer Person als ‚Trauernde’. Dieses Selbstbild Stefanies ist aktuell. (3) Sie erzählt von ihrem Leben nach dem Tod der Mutter ‚durch die Brille’ dieses Selbstbildes. Ihr Selbstbild wird ein anderes gewesen sein in den ersten Jahren nach dem Tod ihrer Mutter. Diese Zeit durchlebt Stefanie nur im isolierten Bereich der Familie als Trauernde und als Waise. D.h.: Hier wird hin und wieder über das Erlebte gesprochen, hier erfährt sie Anteilnahme, die auch auf die besondere Situation einer Halbwaisen und damit verbunden ihre Bedürfnisse Rücksicht nimmt und diese in der Kommunikation miteinander akzeptiert. Außerhalb der Familie wurde Stefanie in einer kurzen ‚Trauerzeit‘ nach dem Tod der Mutter zunächst zwar als Waise und Trauernde identifiziert. Danach aber wurden dieser Status und damit 73

verknüpfte Gefühlslagen für sie selbst und für die Mitglieder ihrer Lebenswelten irrelevant. Sicherlich hat Stefanie eine weitere Identifizierung als ‚Trauernde‘ außerhalb der Familie und damit einhergehende mögliche Stigmatisierung in dieser Zeit auch abgelehnt und verstand sich deshalb selbst auch nur sehr eingeschränkt als ‚Trauernde’. Trauern hatte für sie etwas mit Kranksein zu tun. In der aktuellen Situation versteht sie sich allerdings von Anfang an als auf der Suche nach, wie sie es formuliert, ‚Akzeptanz‘ ihrer Situation und besonders ihrer Person durch die Menschen innerhalb ihrer Lebensfelder; ihre Erwartung war und ist, dass diese sie als Trauernde wahrnehmen und sich auf diese ihre Identität einlassen und ihr im Interaktionsprozess gerecht werden. Nur diese Akzeptanz macht sie für Andere und Andere für sie kommunikationsfähig. Nach eigener Beurteilung leisten Lebenswelten der Gegenwart (und auch der Vergangenheit) diese Identifizierung und Akzeptanz nicht. Stefanie gestaltet die Erzählung der Vorgeschichte und des Prozesses des Sterbens der Mutter im Interview sehr dramatisch, ihr Leben nach dem Tod der Mutter erzählt sie aber als ohne größere Probleme weitergehend. Die Neuorganisation der Lebenswelt Familie nach dem Wegfall der Mutter gelingt weitgehend reibungslos. Das häusliche Zusammenleben gestaltet sich zwischen Stefanie, ihrem Vater und den jüngeren Brüdern organisatorisch recht konfliktfrei, zumal die erweiterte Familie (Onkel und Tanten) sowie eine Haushaltshilfe in der Organisation helfend eingreifen. Die ‚Trauer’ und davon betroffenen inneren Welten der einzelnen Familienmitglieder werden wahr- und ernstgenommen. Vom Vater erzählt Stefanie, dass es ihm nach dem Tod seiner Frau recht schlecht ging und er einige Wochen arbeitsunfähig war. Stefanie hat dies sehr deutlich erkannt und in der Kommunikation entsprechend reagiert. Vom einem Bruder werden Protestäußerungen berichtet, die aber Stefanie nur ‚nerven‘ und scheinbar keine weiteren dramatischeren Folgen zeitigen; andernfalls hätte Stefanie dies erzählerisch ausgestaltet. Dem Vater scheint die Rolle des Alleinerziehers und des Witwers in den bewertenden Augen der Tochter zu gelingen; es wird nicht (wie z.B. von Klara in Bezug auf ihren Vater) erzählt, dass er eine neue Partnerbeziehung eingeht. Eine solche wäre entweder nicht existent bzw. wenn existent so doch nicht mit Konflikten innerhalb der Lebenswelt Familie behaftet. Allerdings: Stefanie ist das Mädchen unter den Männern ihrer Familie; sie erzählt bei Kontakten zur erweiterten Familie auch eher von männlichen Verwandten. Zu 74

vermuten ist, dass sie in ihrer beginnenden gender-orientierten Entwicklung in der Lebenswelt Familie kaum Gesprächspartnerinnen findet. Die Mutter als ‚natürliche’ Partnerin fällt aber als Gesprächspartnerin und Ratgeberin aus. Hier ähnelt Stefanie Amelie. Stefanie wird nun vor allem gleichaltrige und ältere Mädchen als Kommunikationspartnerinnen suchen – und sie vor allem in den Trauergruppen finden. Ganz anders und mit viel größerem Konfliktpotential stellt sich für Stefanie die Situation in der Lebenswelt Schule dar. Ihre schulischen Leistungen verschlechtern sich in den Jahren nach dem Tod der Mutter erheblich. Der Fortgang der eingeschlagenen Schullaufbahn ist in Gefahr. Stefanie erzählt zunächst nicht von den Gründen für diesen Leistungsabfall, sie erzählt aber auch von keinerlei Hilfestellung z.B. von Seiten der Schule oder von besonderen Rücksichtsnahmen auf ihre Situation einer Waisen, im Gegenteil: Die schulimmanenten Leistungsanforderungen bleiben bestehen. Stefanie kann die Klassenziele der Klassen sieben bis neun so nur durch erhöhte eigene Anstrengungen und durch Nachhilfe erreichen. Stefanie bewertet ihr Leistungsversagen aber individuell und in Bezug auf individuelle Leistungsnormen: Diese Bewertung entspricht einem allgemeinen Deutungsmuster bei Schulversagen; das Versagen ist in der Person des Schülers, seinem Fleiß und seiner Begabung, begründet; letztlich hat der Schüler diese Situation mit eben diesem Fleiß und seiner Begabung, d.h. aus eigener Kraft zu bewältigen (vgl. zum Ganzen Hildeschmidt 1998: 999f). Stefanie verknüpft erst viel später in der Retrospektive ihr Schulversagen mit einer ‚Trauer‘-Situation. Hier entsteht das Bild, das Stefanie in den Lebenswelten Freizeit und Gleichaltrige als Identität von sich selbst gewinnt und das sie dann später als ein solches zunächst auch inneres Bild in die Gestaltung ihres äußeren Lebens überführen wird. Nicht das Schulversagen an sich ist im Fokus ihrer erzählenden rückschauenden Betrachtung und damit die Möglichkeit einer „einer generalisierten und emotional besetzten negativen Selbstbewertung“ durch dieses Schulversagen (Hildeschmidt 1998: 1000), sondern das Schulversagen wird später erzählt als eine Episode in ihrem Leben als Waise und ‚Trauernde‘ nach dem Tod der Mutter, die übergeht in die Kontrolle der Situation und der Planung der Zukunft aus eigener Kraft und Fähigkeit – und eben weiterhin als solche Waise und ‚Trauernde‘. Eines Tages dann wird Stefanie zu einer Trauernden. Sie nimmt über das Internet Kontakt auf zu einer Selbsthilfegruppe. Zu welchem Zeitpunkt in ihrer biogra75

phischen Entwicklung und warum dies genau geschieht (‚und. dann. ähm. habe ich gedacht‘), wird nicht deutlich. Die folgende Entwicklung geschieht scheinbar ‚zufällig’ (‚dann hab ich mal geschaut, was da denn so‘). Stefanie äußert sich hierzu nicht detaillierter und man ist auf Vermutungen angewiesen: Zuhause oder an anderen Orten (Schule, Freunde, Internetcafe) eröffnen sich für sie technische Möglichkeiten des Internetzugangs zwecks Information und Kommunikation über das Thema Tod und Trauer. Stefanie sucht mehr oder weniger gezielt und findet dann auch im Netz die Präsenz ‚Trauertalk‘. Sie trifft beim Besuch der Website auf Anna. Die beiden Mädchen erkennen schnell die Gemeinsamkeit ihres Erlebens und Erleidens durch die Krankheit der Eltern und spenden einander ein ‚offenes Ohr’ und Verständnis für die Situation und ihre Nöte und Sorgen. Die Mädchen nehmen durch nicht näher bezeichnete Kommunikationsformen des Internet Kontakt auf. Den Verlauf dieses Kontaktes steigert Stefanie in ihrer Erzählung von der „Kontaktaufnahme“ über den „Chat“, das „Telefonieren“ bis hin zum persönlichen Treffen. Die beiden Mädchen vereinbaren, den entstandenen persönlichen Kontakt aufrecht zu erhalten und durch unterschiedliche Kommunikationsformen zu realisieren. Stefanie intensiviert durch „Chat“ und „Forum“ ihre Präsenz in der Webseite ‚trauertalk’. Ihren Kontakt gestaltet sie zunächst zurückhaltend, hält sich mit der Offenlegung ihrer Situation und Person zurück. In der Schule wird zur gleichen Zeit in ihrer Klassenstufe eine Unterrichtseinheit zum Thema „Tod“ und „Trauer“ durchgeführt. Stefanie hält ein Referat über „Trauer“ und als Waise damit auch über ihre damit einhergehenden eigenen Befindlichkeiten und innere Welt. Sie ist rege Teilnehmerin an Gesprächen im Trauerforum; durch die daraus gewonnenen Erkenntnisse fühlt sie sich für dieses Referat ganzheitlich qualifiziert; sie meldet sich dafür (bzw. wählt es gar selbst aus) und trägt es der Klasse vor. Stefanie sagt, dass sich ihr das Thema ihrer eigenen Existenz in diesem Referat ‚rein wissenschaftlich‘ erschlossen hat, also vor allem kognitiv. Damit äußert sie sich aber zu den Inhalten: Was wir heute über Trauer wissen. Grundkenntnisse aus der Trauerforschung teilt sie ihren Mitschülern mit und stellt sich als Expertin zum Thema und zugleich ihren sozialen (als Waise) und emotionalen (als ‚Trauernde‘) Status vor. Wie in der Trauergruppe so identifiziert sie sich in diesem Referat auch vor den Gleichaltrigen ihrer Lebenswelt als ‚Trauernde‘. Dies zu tun ist für Stefanie ‚an der Zeit‘. Solche Identifizierung prägt nach diesem Zeitpunkt ihre 76

Identitätsbildung und ist Ursache der Irritationen innerhalb der Lebenswelt der Gleichaltrigen außerhalb der Trauergruppe. Die Internetgruppe „trauertalk“ verabredet, einige Monate nach der Kontaktaufnahme ein Wochenende in einer Jugendherberge zu verbringen. Stefanie ist mit dabei. Sie sagt, dass an diesem Wochenende etwas ‚eingerastet‘ sei, da finden sich Gleichalterige und Gleichgesinnte, man lernt sich kennen und auch mögen, und auch Stefanie nimmt sich nun betont in ihrem Waisensein wahr. Die innere Welt ihrer ‚Trauer‘ veröffentlicht sich, für sie selbst und für ihre Umgebung. Sie findet in der Face-to-face (F2F)-Struktur dieser erfahrenshomogenen Gleichaltrigengruppe akzeptierte und akzeptierende Kommunikationspartner: Es sind Jugendliche mit der Erfahrung des Verlustes eines Elternteils. Stefanie empfindet eine große Geborgenheit in der Gruppe und Schutz und Hilfe durch die Gegenwart der anderen. Für die Zeit nach der Freizeit erzählt Stefanie von einem verstärkt empfundenen Alleinsein, d.h. sie sagt, sie hätte in den Gleichaltrigengruppen zuhause keine Kommunikationspartner, die mit ihr über ihre ‚Trauer’ reden könnten. Sie wird sich ihrer ‚Trauer’ dauerhaft bewusst. Sie wendet sich verstärkt per e-mail und ICQ den Jugendlichen des Internetforums und holt sich in Problemsituationen Rat. Vor der Klassenfahrt ihrer Schule einige Wochen nach der Freizeit hat sie ‚wahnsinnig Angst‘, weil: Die ‚Freunde aus dem Internet‘, ihre ‚Sicherungsleine‘, sind nicht da. Und weil andere Menschen in den Tagen der Fahrt ihre Bezugsgruppe bilden, kommt es trotz und auch wegen ihrer Vorbereitungen, durch die sie sich als ‚Trauernde‘ fixiert und dadurch von vornherein isoliert, in ihrer Wahrnehmung zum kommunikativen Fiasko: die Fahrt erzählt sie als Erlebnis einer großen Einsamkeit. Sie veräußerlicht den ‚Trauerkloß’, wohingegen ihre Mitschüler das Miteinander feiern. Stefanie hat zwar an einem Abend eine Gelegenheit, mit einer begleitenden Lehrerin, die ihren Trauerhintergrund kennt, zu sprechen, aber mit ihrer Situation kann sie selbst nur leben, indem sie sich täglich zu festen Zeiten in ihr Selbst zurückzieht. Als es an den letzten Tagen aus Zeitgründen nicht dazu kommt, fehlt ihr diese Stunde sehr. Auf der Rückfahrt isoliert sie sich aktiv und demonstrativ durch das Hören überlauter Musik unter dem Kopfhörer; es geht ihr ‚total schlecht‘, wohingegen ihre Umgebung, ihre MitschülerInnen, ‚lo77

gischerweise‘ die positiven kommunikativen Ergebnisse der Klassenfahrt feiern. Aber nur so kann sie diese Situation ihres offensichtlich ‚unlogischen’ Verhaltens für sich selbst ‚kontrollieren‘. Eine Lehrerin spricht auf der Rückfahrt auch noch einmal sehr lange mit ihr in einem Zweiergespräch als ‚Trauernde’, aber es gelingt der Lehrerin nicht, zu Stefanie engeren Kontakt aufzubauen. Obwohl Stefanie ihr Verhalten als ‚unlogisch‘ erkennt, sind es für sie die Unsicherheit der Lehrerin und die Gleichgültigkeit der Gleichaltrigen ihrer Situation gegenüber (‚total schlecht‘ – ‚gute Laune‘), die diese Distanzierung verursachen. Stefanie bewertet diese Kommunikationsstruktur als für sie stabil und unveränderbar, und dies prägt ihr Bild von sich selbst und die Wahl ihrer Interaktionspartner – u.a. auch des Interviews. Ihre innere Struktur innerhalb einer zunächst ‚inneren Provinz‘ einer Trauernden überführt sie dominierend in ihre Lebenswelten. Ihre Trauer ist ihr Thema und ihre Obsession. Stefanie ist Repräsentantin des Typs B, insofern ihre jugendlichen Lebenslinien und -verläufe nach dem Tod der nahen Anderen zunächst in den Bahnen eines jugendgerechten Lebens ‚weitergehen‘, partiell aber Störungen und Irritationen innerhalb der relevanten Lebenswelten als Abweichungen und Variationen dieser Lebenslinien auftreten. Die festgestellten Störungen und Irritationen ihres Lebens nach dem Tod einer nahen Anderen betreffen nicht die Lebenswelt der Familie; in dieser erhält Stefanie die nötige Geborgenheit. Sie darf ihre jugendgemäßen Freiheiten ausleben, es werden ihr die entsprechenden Teilreifen zugesprochen. Ihr projektierter Auszug aus dem Familienheim als Volljährige nach dem Abitur viele Jahre nach dem Tod der Mutter wäre eine altersgemäße Fortführung ihres Lebens im Finden und Leben größerer Selbstständigkeit auf dem Weg zum Erwachsensein. Der Tod der Mutter behindert weder diese Entwicklung noch beschleunigt er sie. In den Lebenswelten der Schule und damit der Gleichaltrigen als Schulkameraden geschehen für Stefanie allerdings Irritationen und Verstörungen. Stefanie wird den Leistungsanforderungen der Lebenswelt Schule nur unter großen Anstrengungen gerecht. Die Mutter fehlt ihr als Begleiterin auf dem Weg durch die Schule. Dies ist eine objektive Störung ihrer Lebenslinie und Entwicklungsverlaufes innerhalb der schulischen Lebenswelt und ihrer Schlüsselrolle für die Statuspassage der Jugend. 78

Die emotionalen Irritationen ihrer Lebenslinie ereignen sich für Stefanie in der Lebenswelt der Gleichaltrigen. Hier besteht für sie die Entwicklungsaufgabe der Bildung von Identität als Zugehörigkeit. Stefanie entdeckt sich als ‚Trauernde‘. Dieser Status (auch im Rahmen von Selbstwahrnehmung und Selbstkonzeption – Frey & Stahlberg 1997; Mummendey 1997) wird für eine gewisse Zeit zum dominanten Bestandteil ihrer Person und ihrer Zugehörigkeit zu anderen Jugendlichen gleicher Merkmalsausprägung. Diese Zugehörigkeit konstituiert und verstärkt ihr Selbstbild als ‚Trauernde‘ und führt in der Lebenswelt der Gleichaltrigen im Umkreis der schulischen Lebenswelt und der Lebenswelt der Gleichaltrigen ihres Wohnortes zu Irritationen in der Kommunikation und später zu massiven, von ihrer Seite aus vorgenommenen Isolationen. Nur durch den engen Anschluss an das Netzwerk der Internettrauergruppe kann sie zunächst neue und für sie wertgeschätzte Beziehungen aufbauen.

Frauke Störungen und Irritationen in der familiären Lebenswelt und in der Lebenswelt der Schule Fraukes Fallgeschichte ist ein weiteres Beispiel einer durch Störungen und Irritationen begründeten langfristigen Desorganisation und einer mühevollen Reorganisation des familiären Kollektivs nach dem Tod eines nahen Anderen. Frauke ist 24 Jahre alt. Sie hat erfolgreich ‚Pflegewissenschaften‘ studiert und arbeitet nun im Sozialdienst eines Alterheims. Die Mutter, 54 Jahre alt, betreibt in ihrem Heimatort eine heilpädagogische Praxis, der Vater, 57 Jahre alt und als Sozialarbeiter in einem Altenheim tätig, ist aufgrund einer Herzerkrankung vor zwei Jahren vorzeitig in den Ruhestand getreten. Die Erkrankung trat bereits vor mehr als zehn Jahren auf; entstehende berufliche Beeinträchtigungen wurden zunächst durch Verkürzung der Stundenzahlen kompensiert. Fraukes Adoptivbruder Dennis starb vor zwölf Jahren im Alter von 19 Jahren durch Suizid. 79

Dennis war im Kleinkindalter mit drei Jahren von Fraukes Eltern, die zu diesem Zeitpunkt kinderlos waren, zunächst als Pflegekind aufgenommen und noch vor der Geburt Fraukes adoptiert worden. Dennis hatte im Kleinkindalter als Pflegekind noch Kontakt mit der leiblichen Mutter. Später wird er von den Adoptiveltern über seine Herkunft und seine Adoption aufgeklärt. Frauke erzählt von ihrem Leben nach dem Tod des Bruders; aber ähnlich zu Sebastian beginnt sie das Interview mit ihrem Bericht über entscheidende Geschehnisse bereits vor seinem Tod. Sie ist zwölf Jahre alt, als der Bruder stirbt, d.h. sie befindet sich am Ende der Kindheit. Ihr Leben mit ihrem älteren Bruder hat sie in den vorausgegangenen Jahren als ein Kind erlebt. Sie ist mit ihm aufgewachsen. Zu ihm hatte sie ein ‚enges‘ Verhältnis, von dem sie im Interview mit viel Wärme und Zuneigung erzählt. Dennis ist in der geordneten und heilen Familienwelt ihrer Kindheit der große Bruder, der mit der kleinen Schwester spielt, sie in den Kindergarten und in die Schule begleitet, zu dem sie aufschaut, der sie beschützt und der auch zu vielen Themen des Lebens ihr Ansprechpartner ist. Der Zuneigung der kleinen Schwester wird die Zuneigung und das Wohlbefinden des ehemaligen Pflegekindes und aktuellen Adoptivkindes entsprechen. Dennis findet in der Adoptivfamilie seine Heimat; er ist das ältere Kind. Wann Frauke erfahren hat, dass Dennis nicht ihr leiblicher Bruder ist, bleibt unbekannt, vielleicht erst nach seiner Einweisung in das Heim?Denn diese Geborgenheit ändert sich mit der Pubertät des ‚Bruders‘; er wird verhaltensauffällig. Für die Adoptiveltern ist die Entwicklung ‚ihres Ältesten‘ zunächst ein großes Problem, schließlich dann eine Katastrophe. Dennis entzieht sich der wohl gemeinten Erziehung und der warmen Geborgenheit der Adoptivfamilie. Seine schulische Laufbahn zunächst in der Realschule, dann in der Hauptschule scheitert, er sucht sich gleichaltrige Ansprechpartner in der Jugendkultur und ‚Szene‘. Er hält sich immer weniger zuhause auf und gleitet schließlich in die Drogenszene einschließlich der Beschaffungskriminalität ab. Die Einweisung in ein Heim für Jugendliche ist für die Eltern die letzte Möglichkeit, diese Entwicklung aufzuhalten, die jüngere Frauke angesichts dieses delinquenten Verhaltens vor dem großen Bruder zu schützen und zugleich auch eine Kapitulation vor den immer schwieriger werdenden Aufgaben der Versorgung und Erziehung des Jugendlichen. Sie sind mit dieser Aufgabe überfordert. Das mit der Pflegetätigkeit und der darauf folgenden Adoption eingeleitete Programm 80

sozialen Engagements scheitert. Für die Eltern erwächst daraus die Empfindung versagt zu haben. Frauke hat die Veränderungen im Verhalten des Bruders erlebt, der ihr als der kleinen Schwester nicht mehr im gewünschten Maße zur Verfügung stand. Sie hat die Ängste und Unsicherheiten der Eltern in Bezug auf die Entwicklung des Bruders, die Rückzüge und Schamgefühle wahrgenommen. Sie berichtet von Situationen der Hilflosigkeit und dann wieder einer überzogenen Strenge im Versuch der Erziehung des Adoptivsohnes. Sie erlebt ein darauf reagierendes Verhalten ihrer Umwelt, die soziale Isolation der Familie von bisherigen Freunden aufgrund des Verhaltens des Bruders. Sie hört die mehr oder weniger guten Ratschläge, die von vielen Seiten erteilt werden, ‚Vorwürfe‘ und ‚Besserwissereien‘, wie sie es nennt. Und schließlich muss sie die für sie selbst damals und noch heute inakzeptable Reaktion der Eltern miterleben, dass der Bruder des Hauses verwiesen und in ein Heim verbracht wird. Zum Zeitpunkt des Geschehens ist Frauke ‚zu jung um zu verstehen‘. Aber auch später in der Situation des Interviews findet sie nicht zu einer Entlastung der Eltern. Die Vorwürfe der ‚Freunde‘ hat sie seinerzeit vor allem als belastend und nicht hilfreich empfunden, sie bleiben als solche aber in der nachträglichen Bewertung auch durch die älter gewordene Frauke bestehen. Es ist so nicht nur die belastende Reaktion der Umwelt auf das Geschehen ‚damals‘, sondern auch ihr weiterhin bestehende Unverständnis, das sie in der aktuellen Situation ‚total wütend‘ macht. Frauke steht dieser desaströsen familiären Situation verständnislos und hilflos gegenüber. In der Zeit vor der Heimeinweisung wird sich das Interesse der Eltern vor allem auf den Adoptivsohn bezogen haben. Frauke ‚erleidet‘ dies auf ihre Person bezogen auch als Versorgungsdefizit ohne Möglichkeit der Reaktion. Diese Situation familiärer Verunsicherung erlebt sie als Desintegration der Familienstruktur und damit als Verlust der eigenen familiären Geborgenheit. Diese Desintegration kumuliert situativ im Faktum und im Symbolgehalt der Heimeinweisung des Bruders. Die Sicherheit und Integrität der Heimstatt Familie ist fortan nicht mehr gewährleistet. Für Kinder ist das Zuhause der wichtigste Ort der Geborgenheit und der Sicherheit; Frauke erlebt aber nun, wie dies bei ihrem „Bruder“ sich anders 81

entwickelt, d.h. wie er diese Geborgenheit verliert. Und zudem: Die Eltern tun nicht mehr das, was Eltern tun müssen, nämlich behüten und bewahren und im Zuhause wohnen lassen. Die Legitimation und der Glaube an eine Unfehlbarkeit elterlicher Handlungsweisen durch das jüngere Kind wird durch die Entfernung des älteren Bruders infrage gestellt. Diese Situation ist traumatisch. Die Familie kann sich nach dieser Desorganisation ihres Kollektivs reorganisieren: Dennis wohnt nun nicht mehr zuhause. Er führt mit der Volljährigkeit eigenverantwortlich in der eigenen Wohnung sein eigenes Leben. Der soziale Kontakt zur Familie bleibt erhalten, wenn auch recht unverbindlich, vor allem durch Telefonanrufe. Und dieser Kontakt enthält kaum noch Konfliktpotential. Das ehemalige Fehlverhalten des Bruders ist fortan nicht mehr ein innerfamiliärer und zugleich sozialer und auch in der Öffentlichkeit ausgetragener Konflikt, sondern zunächst ein Konflikt des Heimes und später des Bruder selbst. Mit seiner Volljährigkeit und seinem damit sich vollziehenden auch sozialen Erwachsensein kehrt dann schließlich in die Familie Ruhe ein. Die beiden Eltern sind nun mit ihrer minderjährigen und weniger pflegeintensiven leiblichen Tochter allein, und für diese wird die Integrität und die Geborgenheit in der Familie alsbald wieder hergestellt. Der familiäre Alltag mit weniger problematischen Strukturen kann in der Familie gelebt werden. Es bestehen zwar weiterhin soziale Verpflichtungen der Kontaktnahme zum exkludierten Bruder. Aber Dennis ‚wohnte nicht mehr zuhause‘, er war nicht mehr Mitglied der Familie und ihrer Welt. Diese muss sich nun anderen Problemen zuwenden, z.B. der der Erkrankung des Vaters. Dann aber begeht Dennis Selbstmord. Der Tod des Bruders stört nicht die Organisation des familiären Haushaltes, allerdings sorgt er im Sinne einer Mediatorvariablen für erneute und massive Verstörungen der sozialen Einbindungen der Familie in die Netzwerke von Freunden und Wohnort, wie dies sein damaliges soziales Verhalten und seine Einweisung in das Heim bewirkt hatte. Frauke erzählt von Konflikten in den Lebenswelten der Schule und der Gleichaltrigengruppe. In der Familie werden durch den Tod des ehemaligen Pflegesohnes alte Konflikte, Versagens- und Schamgefühle aktualisiert und damit die emotionale und möglicherweise auch soziale Organisation der Familie irritiert, mit Fraukes Worten: für uns alle ist da eine Welt zusammengebrochen und wir wußten alle nicht wie wir damit umgehen sollen. 82

Die ‚Welt‘ war bereits viel früher schon ‚zusammengebrochen‘; aber diese unheile Welt der Familie konnte in eine heile reorganisiert werden. Der Tod, zumal der Tod als Suizid des Adoptivkindes, erweckt nun abermals Befindlichkeiten in Anbindung an die frühere Situation und überführt sie in einen Status der Schuldhaftigkeit und der Irreversibilität. Denn der Tod des Bruders kann nicht rückgängig gemacht werden und der Tod durch Suizid stellt vor ‚vollendete‘ und damit unveränderbare Tatsachen in Bezug auf Gefühle vor allem von Versagen und Scham und Schuld. Für archaische Gesellschaften ist der Tod nicht natürliches Ende eines Lebens , sondern beruht auf Wirkung von diesen Tod verursachenden Mächten und Kräften. Die Mächte wurden insbesondere bei vorzeitigem Tod als böse und feindlich empfunden. Insbesondere in Bezug auf den Tod eines jüngeren Menschen oder den Tod durch Suizid wird diese Attribution auf eine solche den Tod herbeiführende Macht auch weiterhin kulturell vorgenommen. Etwas oder jemand muss den Tod des Menschen verursacht haben, muss ‚schuld‘ sein am Tod eines Menschen – z.B. eine Krankheit oder im Falle des Selbstmordes das Versagen der sozialen Umwelt oder auch eines einzelnen Individuums. D.h.: Die Ursache des Todes des Bruders ist für Frauke verknüpft mit dem Versagen der Familie durch unterlassene Hilfeleistung und Exklusion. Frauke verweist hier – unbewusst – auf den Typ des egoistischen Selbstmordes in der durkheimschen Typologie (Durkheim 1897). Dieser geschieht aufgrund von Isolation und Auflösungen von sozialen Bindungen. Es kommt Frauke nicht in den Sinn, dass der Tod des Bruders so nicht interpretiert werden muss. Zwar erzählt sie von einem Abschiedsbrief, der ihre Beurteilung eines ‚egoistischen Selbstmordes‘ zumindest nahe legen könnte. Aber: Der Bruder ist inzwischen erwachsen und in der Situation des Aufbaus einer eigenen unabhängigen Existenz. Er hat seine sozialen Beziehungen und Zugehörigkeiten zu relevanten sozialen Netzwerken organisiert. Den Ausschluss aus der Adoptivfamilie und die Einweisung in das Heim hat er in diesem Neugewinnen seines Lebens hinter sich gelassen. Sein Selbstmord kann so von ehemaligen Situationen differente Ursachen haben und in jüngerem bzw. gar ganz aktuellem Verhalten oder aktuellem Empfinden, über deren Ursache hier nur spekuliert werden kann, begründet sein. 83

Frauke – und zu vermuten ist: auch ihre Familie – nehmen diese sie entlastende Deutung aber nicht vor. Die aus dem Erleben vorausgegangener desorganisierter familiärer Strukturen und Situationen gewonnenen Gefühle von Versagen und Scham zusammen mit dem Gefühl der Schuld nach dem Tod des Bruders werden zum Deutungsmuster zum Verständnis des Todes des Bruders. Im Interview vermischt Frauke deshalb die Zeitebenen ad quem und a quo des Todes des Bruders. Die Gefühle nach dem Tod beziehen sich zugleich auf quasi traumatische Erfahrungen vor dem Tod des Bruders. Auch die weitere Öffentlichkeit des kleinen Heimatdorfes interessiert sich für die Hintergründe des Todes des Bruders und rückt die Familie wieder in den Fokus der Aufmerksamkeit: Mit einem Suizid ist in der Regel ein besonderes Interesse von Seiten Dritter verbunden, das sich vor allem auf die näheren Angehörigen richtet: Die Familie, zumal als ‚öffentliche Familie‘ wird von der Polizei angesprochen, gerät z.B. durch mediales Interesse (Zeitung) in den Blickpunkt einer weiteren Öffentlichkeit (Hill et al. 1997). Der Tote wird durch dieses Verhalten und Geschehen wieder zum Mitglied dieser Familie. Diese erfährt Stigmatisierungen und Isolationen in den öffentlichen Lebenswelten wie Schule oder Beruf. Frauke erzählt für ihre Person von solchen Erfahrungen; sie wird in der Schule auf ihre Situation hin angesprochen, empfindet die familiären Stigmatisierungen ‚am eigenen Leib‘. Ihre schulischen Leistungen fallen ab und können nur unter leistungsfördernden Maßnahmen wieder angehoben werden. Frauke zeigt Verhaltensänderungen (vielleicht Aggression und Rückzug). Sie erzählt nicht davon, ob diese Verhaltensänderungen schon vor dem Tod des Bruders wirksam werden. Denkbar ist dies. Aber mit dem Tod rückt das Stigma der Familie erneut in den Blickpunkt der Öffentlichkeit. Die Familie selbst zieht nach einem Jahr in eine benachbarte Stadt um, mutmaßlich, um weiterer öffentlicher Stigmatisierung zu entgehen und das eigene Schamgefühl auch durch ‚lokales Vergessen‘ zu entlasten: Die Mutter betreibt ihre Praxis weiterhin im Heimatdorf, der Vater findet aufgrund seines gesundheitlichen Status eine Stelle in einem Heim des Anstellungsträgers in einer etwas weiter entfernten Stadt, bis er dann schließlich berufsunfähig wird. Der Prozess der erneuten Reorganisation der Familie gestaltet sich mühevoll und langwierig, zumal auch die zunehmende Erkrankung des Vaters zu Verstörungen 84

innerhalb der sozialen Strukturen des Kollektivs der Familie führt. Aber diese Reorganisation gelingt schließlich. Dies gilt nicht in gleichem Maße für Fraukes ‚innere Provinz der Trauer‘ und damit einhergehende Irritationen. Von diesen ist in der Folge zu reden: Mehr als drei Jahre nach dem Tod des nahen Anderen ist dieser ein unerklärtes und möglicherweise tabuisiertes Ereignis innerhalb der familiären Kommunikation; Frauke erzählt von einer Unfähigkeit der Eltern, das Erlebte im Familienzusammenhang zu besprechen. Allerdings: Auch andere, jüngere Interviewpartner erzählen von solchen ‚Sprachlosigkeiten‘ der Eltern ihren jüngeren Kindern gegenüber – möglicherweise als eine Strategie familiärer Geborgenheit, die die belastenden Themen von den jüngeren Kindern und Jugendlichen fernhalten möchte. Zu diesem Zeitpunkt besucht Frauke gemeinsam mit ihrer Mutter eine Therapie; der Tod des Bruders wird hier institutionalisiert zu einem gemeinsamen Thema der 15-jährigen Jugendlichen und ihrer Mutter. Frauke wertet diese Gemeinsamkeit positiv, aber diese Therapie kann in die Empfindungen von Verunsicherungen und Unverständnis keine Veränderung einführen. Davon erzählt Frauke im Interview: Wenn auch ihr jugendliches Leben nach dem Tod des nahen Anderen in den Bahnen altersgemäßer und altersspezifischer Verläufe und Entwicklungen sich vollzieht, so erwachsen aus ihrem ‚inneren Leben‘ Irritationen: Sie beziehen sich auf die positive und entlastende Beantwortung der ‚Schuldfrage‘ in Bezug auf den selbst-gewaltsamen Tod des Bruders und darin auf eine angemessene Bildung von eigener Identität. Mit Fraukes Worten (in der Dramaturgie des Interviews): aber du bist trotzdem die einzige deren Bruder sich umgebracht hat. und du bist die einzige die mit diesen Schuldgefühlen klar kommen muss und irgendwie sich überlegen muss ob sie vielleicht etwas anders hätte machen können. obwohl ich heute glaube dass eine Zwölfjährige nichts für ihren sieben Jahre älteren Bruder tun kann. Und er hat ja auch nie denn Mund aufgemacht, er hat immer so getan als gings ihm gut. ich glaube wenn er gesagt hätte dass er Probleme hat dann hätten meine Eltern alles getan um ihm zu helfen. aber das hat er nicht. In dieser kurzen Sequenz fasst Frauke ihre aktuellen Gedanken zum Tod des Bruders zusammen: 85

Der Suizid des Bruders ist das ‚Brandmal‘ (Stigma – Goffman 1963) auf Fraukes ‚innerem Leben‘ und damit ihre sich veräußerlichende Identität. Frauke nimmt hier freilich zum aktuellen Zeitpunkt eine Selbststigmatisierung vor: Dieser Tod des Bruders unterscheidet sie als Abgrenzungsmerkmal von Altersgleichen. Inwieweit dieses Abgrenzungsmerkmal konkrete Auswirkungen auf das Leben nach dem Tod hatte bzw. immer noch hat, ist nur in Bezug auf die Jahre der jungen Jugendzeit am alten Wohnort zu beantworten: Hier musste sich Frauke den Fragen von außen stellen, z.B. von Mitschülern oder Lehrern. Die Teilnahme an einer Therapie zum Problemfeld verstärkte die Selbststigmatisierung. Der Suizid des Bruders erweckt als solcher Empfindungen der Schuld (‚Schuldgefühle‘). Diese sind viel mehr noch aktuell in der Zeit des Interviews zu verorten als in der Zeit unmittelbar nach dem Tod. Sie waren Grund und Ursache einer Therapie, wurden als eine ‚Warum‘-Frage aber nicht einer Antwort zugeführt. Der Suizid des Bruders fragt nach Handlungsmöglichkeiten der Akteure bereits vor dem Tod und antwortet damit auf Empfindungen von Hilflosigkeit und Ohnmacht angesichts des Todes bzw. der ‚Mächte‘ gegenüber, die diesen Tod herbeigeführt haben. Was hätte Frauke anders machen können? Dies ist die Frage, die die Familie weiterhin begleitet und auch bedrückt. Der Suizid des Bruders wird letztlich auf diesen selbst zurückgespiegelt: Er hätte etwas sagen können! ‚Aber das hat er nicht‘. An anderer Stelle betont Frauke ihren Zorn über diesen Bruder, der durch seinen Tod die Familie ihrer Handlungsoptionen beraubt und ihr eine irreversible Deutung des Geschehens aufgezwungen hat. Diese Deutung erlebt Frauke an Leib und Seele der Mitglieder ihrer Familie: Der Vater erkrankt und die Familie wechselt ihren Wohnsitz. Diese kognitive Entlastung der Familie von der Frage der Schuld und des Versagens bleibt auf der Ebene der Empfindungen weiterhin offen. Den Eltern wird aufgrund der gesundheitlichen Situation keine ausgesprochene Zuweisung in der Schuldfrage zuteil. Im Gegenteil: Frauke wertet ihren eigenen Berufswunsch hin auf einen sozialen Beruf als grundsätzliche positive Bestätigung des Engagements der Eltern, die seinerzeit das Pflegekind aufgenommen haben und zum Adop86

tivkind machten. Frauke entlastet hier die Eltern auch ideologisch; sie haben in ihrem Engagement grundsätzlich recht gehandelt und ihnen ist allein schon von daher kein Vorwurf zu machen. Fraukes Engagement trägt auf sie selbst bezogen religiöse Züge einer Art symbolischer Selbstkasteiung. Bei einem entsprechenden Handeln des familiären Systems wäre dieses nicht durch den Auszug des Bruders zusammengebrochen und mehr noch: Der Bruder hätte sich nicht umgebracht. Das Gefühl der Schuld bleibt also und die Familie als Ganze wird aus der Verantwortung für das Geschehen nicht entlassen und entlastet. Frauke nimmt als Mitglied der Familie deshalb die Sühne für diese ‚Schuld‘ auf sich: In der Zukunft wird es für ihre Person und ihre Identität deshalb darum gehen, sich der Sache wegen ein wenig ‚selbst zurückzustellen‘ (die Bemerkung: ‚son bisschen‘ relativiert allerdings einen bedingungslosen Altruismus und entlarvt die Passage als professionstheoretisch orientierte Selbstbeschreibung): ja diesen Berufswunsch: ich merke an mir, dass es mir wichtig ist für andere da zu sein andern zu helfen und mich so ein bisschen aufzuopfern und mich selbst zurückzustellen. Frauke verlässt nach dem Abitur die elterliche Wohnung und zieht in eine weiter entfernte Universitätsstadt. Frauke erzählt ihr Leben nach dem Tod des Bruders also in zeitlichem Bezug auf eine ‚Krise‘ (im Sinne einer biographischen ‚Wendemarke‘), die sie aktuell erlebt. Die endgültige Auflösung der alten Eltern-Kind-Familie ist damit abgeschlossen. Die Eltern bleiben in einer ‚empty-nest-Situation‘ zurück. Im Rückblick Fraukes auf die seinerzeitige Exklusion des Adoptivbruders ist der erneute Wegzug in der Rückschau Fraukes deshalb nicht die alterspezifische und somit ‚vernünftige‘ Entwicklung innerhalb eines familiären Netzwerkes mit älter werdenden Kindern. Frauke verknüpft ihren Auszug biographisch mit der traumatischen Erfahrung der Vergangenheit. Der Wegzug der nun erwachsenen Tochter aus dem Elternhaus, in dem die alt gewordenen Eltern ‚zurückgelassen‘ werden, ist damit aus ihrem inneren Leben heraus in einem ganz anderen Sinn krisenhaft, d.h. desintegrativ, und wird deshalb von ihr negativ gedeutet. Ihren Auszug verknüpft Frauke biographisch mit dem Auszug ihres Bruders und mit dem mit diesem Auszug verknüpften Suizid. Dies ist das Merkmal der gegenwärtigen Irritation nach dem Tod des nahen Anderen im inneren Leben Fraukes. 87

Darstellung In den Fallgeschichten der Repräsentanten des Typs B beeinflusst der Tod der nahen Anderen und seine Folgen im Sinne einer ‚Störung‘ oder ‚Irritation‘ sonst möglicherweise alternativ verlaufende Lebenslinien in den relevanten Lebenswelten. Die Repräsentanten dieses Typs erzählen von sozialen, strukturellen und emotionalen Konflikten, die ihre Lebensverläufe ‚durcheinanderbringen‘. Diese Konflikte werden als mit dem Geschehnis des Todes des nahen Anderen verknüpft und als in den sozialen und emotionalen Konsequenzen des Todes eines nahen Anderen begründet erzählt. D.h.: In der zeitlichen Folge und auch in einer ‚kausalen‘ Konsequenz des Todes entstehen soziale und emotionale Konflikte und emotionale Irritationen der Individuen innerhalb der durch den Tod eines Mitglieds betroffenen Kollektive. Diese werden als temporal (‚nach dem Tod meiner Mutter‘) und auch kausal (‚weil meine Mutter tot ist‘) mit dem Tod verbunden gedeutet. Der Tod ‚an sich‘ als persönliche Verlusterfahrung und damit einhergehende ‚Trauer‘ als einer Art von emotionaler Verstörung ist nicht ursächliches Element der Verstörungen und Irritationen als Merkmale dieses Typs, wohl aber die konfliktbehafteten Implikationen der sozialen und emotionalen Neuorganisation des Kollektivs und des Individuums nach dem Tod. In Anlehnung an das Paradigma einer quantitativen Sozialforschung ist von Moderator- und Mediatoreffekten der unabhängigen Variablen ‚Tod eines nahen Anderen‘ zu sprechen, d.h. der Tod des nahen Anderen ist nicht monokausale Variable eines bivariaten Zusammenhangs zwischen Tod und Leben nach dem Tod. In den Fallgeschichte Klaras und Amelies ist die Lebenswelt der Familie zunächst mit der Neuorganisation der sozialen Rollen innerhalb der Familie und darin der Findung der eigenen Rollen der beiden Mädchen in der Gegenwart und in der Zukunft konflikthaft belastet. Störungen innerhalb der Reorganisation des familiären Systems treten auf nach der Desorganisation durch den Tod eines Mitglieds. Der emotionale und organisatorische Schonraum der Familie kann in dieser Phase der Reorganisation seine Funktion von Ort der Geborgenheit und als ‚Proberaum‘ nicht ausfüllen; er ist ‚gestört‘. Vor allem Aufgaben in der Organisation des Haushaltes, die zuvor der verstorbene Elternteil inne hatte, müssen von den Hinterbleibenden nach dem Tod des nahen Anderen neu verteilt werden. Der Tod eines Freundes oder eines entfernteren Verwandten z.B. führt nicht 88

zu den sozialen Desorganisationen des familiären Kollektivs und inhärenten Konfliktpotentialen. Der Tod der Mutter und des Vaters oder eines nahen Angehörigen wie eines Bruders aber tut dies aufgrund des Wegfalls dieser Person in der Figuration und Organisation der Familie und der damit nötigen Anpassung und Reorganisation. Die bei den Repräsentantinnen des Typs B erkennbaren Störungen der familiären Reorganisation provozieren zugleich emotionale Irritationen. Auch diese sind mit dem Tod der nahen Anderen als Moderator oder Mediator verknüpft. So kommt es bei den Mädchen durch den Ausfall der Mutter als des gleichgeschlechtlichen Elternteils zu emotionalen Irritationen die sich an der Person und an den Konflikten mit dem übrig gebliebenen Elternteil, dem Vater, entzünden. Die Mutter steht als gleichgeschlechtliche Kommunikationspartnerin nicht mehr zur Verfügung; der Vater kann dieses Ressourcendefizit in seiner Person nicht ausgleichen. Als Gesprächspartnerinnen nicht nur im Konfliktfall werden deshalb von beiden die Tanten (Schwester der Mutter /​des Vaters) gewählt. Zudem kann innerhalb der innerfamiliären Figurationen die Mutter bei Konflikten der Tochter mit dem Vater nicht mehr vermitteln bzw. ausgleichen. Diese kommunikativen Störungen und Irritationen lassen Amelie (allerdings vergeblich) nach alternativen Partnern in außerfamiliären Lebenswelten suchen. In ihrer Fallgeschichte führt dies zu ihrem frühzeitigen Auszug aus dem Familienheim im Sinne einer Störungen innerfamiliärer Reorganisation und in Bezug auf ihre jugendlichen Entwicklungsprozesse. Klaras Fallgeschichte lässt hoffen, dass diese Partner auch innerhalb der primären Familie gefunden werden könnten, wenn sich in dieser die Kommunikationsund Interaktionsstrukturen neu und für alle Beteiligten positiv organisieren. Auch Stefanie ‚vermisst‘ die Mutter als Kommunikationspartnerin in vor allem geschlechtsspezifischen Fragestellungen, findet aber im familiären Umfeld ausreichende Kompensation dieses Defizits. Die soziale Verstörung bzw. emotionale Irritation ihrer Lebenslinie geschieht nicht als Folge des Ressourcenverlustes durch den Tod und entsprechender Kompensationsbemühungen, sondern aufgrund einer aus ihrem Waisenstatus heraus gefundenen und sich dann im Engagement innerhalb der Internettrauergruppe sich ausbildenden und zu einem späteren Zeitpunkt sich umfassend veräußerlichenden Identität als ‚Trauernde‘. Frauke erzählt von Störungen im System der Familie schon vor dem Tod durch die Exklusion des Adoptivbruders aus der Familie. Diese Störungen setzen sich fort durch Krankheit eines Elternteils nach dem Tod, durch den Umzug in eine 89

neue Umgebung und damit für Frauke mit der Notwendigkeit des Aufbaus neuer Netzwerke in der Schule und in der Gleichaltrigengruppe. Diese familiären Störungen verknüpft Frauke mit dem Tod des Adoptivbruders. Der Tod des Bruders und die Störungen der Familie hätten ‚nicht sein müssen‘, wenn die familiären Ressourcen ausgereicht hätten. Deshalb bestimmt der Tod des Bruders immer noch die familiäre Identität und Frauke spiegelt an ihm und dem seinerzeit erlebten Erleidenszusammenhang den eigenen aktuellen Auszug aus der Familie und das Hinterlassen eines ‚empty nest‘ für die Eltern. Störungen in der Lebenswelt der Schule sind den Leistungsanforderungen innerhalb dieses Systems und der Forderung ihrer Erbringungen durch die Jugendlichen geschuldet. Dies betrifft alle jugendlichen Teilnehmer dieses Systems und nicht nur die Waisen. Die Vermutung liegt nahe, dass besonders die Aufgabe der Reorganisation innerhalb der Familie innerhalb einer ‚Trauerzeit‘ (und als solche ist Zeit der Reorganisation zu verstehen) die Leistungserbringung der betroffenen Jugendlichen im schulischen System im Sinne eines Mediators beeinflusst, insofern die Schule weiterhin ihre Leistungsanforderungen ohne Berücksichtigung der besonderen Situation und ohne eine mögliche Kompensation des Leistungsabfalls der betroffenen Jugendlichen aufrecht erhält. Die Repräsentanten des Typs B, die von schulischen Problemen erzählen (Stefanie und Frauke), legen in ihren Deutungen ihres Leistungsabfalls diese Annahme nahe. Insbesondere bei Stefanie ist der Ausfall der Mutter in der schulischen Begleitung und Unterstützung als Mediator ihres Leistungsabfalls zu interpretieren. Allerdings konnte dieser Zusammenhang innerhalb der vorliegenden Fallgeschichten des Samples aber nicht zwingend nachgewiesen werden. Nur wenige Informanten erzählen von schulischen Problemen nach dem Tod des nahen Anderen, und wenn sie davon erzählen, dann beziehen sie diesen Leistungsabfall nicht zwangsläufig auf das Erleben des Todes des nahen Anderen und die Reorganisation der Familie. D.h.: Eine Korrelation von Störungen im schulischen System mit denen im familiären System oder gar mit einer ‚inneren Provinz der Trauer‘ scheint nicht zwingend vorzuliegen. Entscheidende Faktoren einer Erfüllung der Ansprüche einer erfolgreichen Schullaufbahn sind individuelle intellektuelle Leistungsfähigkeiten der Jugendlichen, vorhandene Ressourcen bei der Erbringung der Leistung z.B. durch unterstützende Elternteile (Stefanie) und persönliche und internalisierte Einstellungen zur Leistungserbringung z.B. durch Irritationen des emotionalen Systems (Frauke). Fallen Ressour90

cen weg (Stefanies Mutter) bzw. finden Einstellungs- und Verhaltensänderungen statt, (Frauke aufgrund der Störungen im familiären System), so können Leistungsminderung und entsprechenden Störungen innerhalb der schulischen Lebenswelt entstehen. Amelie und Stefanie repräsentieren Irritationen und Störungen in der Lebenswelt der Gleichaltrigen. Diese durch Stigmatisierung und Isolation geprägten Störungen beziehen sich auf ihr Selbstbild und ihr Selbstkonzept als ‚Trauernde‘, d.h. auf Identitätsbildungen innerhalb ihrer Netzwerke und darin auf Kommunikationsstrukturen und Interaktionsverläufe mit den Gleichaltrigen auch im Zusammenhang dieser Identitätsbildungen. Stefanie schließt sich lange Zeit nach dem Tod der Mutter durch ihre Selbstbeschreibung bzw. Selbststigmatisierung als ‚Trauernde‘ aus sozialen Kontexten der nicht mit dem Merkmal der ‚Trauernden‘ behafteten Gleichaltrigengruppe partiell aus. Der Tod der Mutter wird Mediator ihres späteren Lebensverlaufes, wenn Stefanie zur Zeit ihrer Volljährigkeit und darüber hinaus und lange nach dem Tod der nahen Anderen ihre innere Welt mit der darin enthaltenen inneren Provinz der ‚Trauer‘ als zu veräußerlichendes Identitätsmerkmal wählt und in die Gestaltung ihrer Lebenslinien überführt. Die damit einhergehende Selbstexklusion führt aber für sie in den außerfamiliären Lebenswelten zu den dargestellten massiven Störungen und emotionalen Irritationen. Stefanie kann diese Störungen und Irritationen durch eine große Nähe zu Kommunikationspartnerinnen mit dem gleichen Merkmal als ‚Trauernde‘ kompensieren. Amelie ist bei der Wahrnehmung ihrer lokalen Selbstständigkeit nicht zugleich in ausreichender Weise in soziale Netzwerke und vor allem persönliche Beziehungen außerhalb der Familie und stabil eingebunden. Auch Amelie interpretiert ihre aktuelle soziale Situation als Folge ihrer Selbstwahrnehmung als Trauernde und einer quasi selbstgewählten Isolation von einer nicht-trauernden Umwelt; auch Amelies Beziehungen zu dieser Umwelt scheinen gestört. In den ebenfalls verunsichernden Störungen und Irritationen ihrer familiären Lebenswelt hatte sie sich selbst als Waise wahrgenommen, der die Mutter als geschlechtsgleiches Elternteil fehlt. Deshalb ‚trauert‘ sie. Mit dieser Teilidentität als Waise und Trauernde sucht sie zum Interviewzeitpunkt die Einbindung in lokale oder virtuelle Netzwerke, das Menschen mit dem Merkmal der ‚Trauernden‘ zusammenführt. Als Trauernder können sich ihr dort neue Möglichkeiten sozialer Kontakte eröffnen, die für sie Ressourcen zur Behebung von Irritationen und Störungen bereitstellen. 91

Typ C Beschleunigungen, Veränderungen und Verstärkungen der Lebenslinien nach dem Tod eines nahen anderen Beschleunigung und Verstärkung der Lebenslinie sind die Merkmale des Typs C. Seine Repräsentanten leben in ihren Lebenswelten intensiver, schneller, zielgerichteter. Sie erfüllen ihre Bildungsaufgaben, d.h. sie beenden zügig ihre Schulausbildung. Sie orientieren sich verstärkt an den ihnen zur Verfügung stehenden sozialen Netzwerken und suchen dort verstärkt nach Kommunikation und Kontakten. In den Gleichaltrigengruppen finden sie wichtige soziale Ressourcen. Sie streben autonomes Wohnen an bzw. werden z.B. durch eine ‚Erbensituation‘ in die Lage versetzt, sich frühzeitig zu verselbstständigen. Diese lokale Autonomie erlaubt ihnen ein Leben in Partnerschaften außerhalb des familiären Netzwerkes, zugleich bleibt ihre Bindung zu den Eltern und ihrem ehemaligen Familienheim bestehen. Sie bleiben dabei dennoch weiterhin wirtschaftlich von der Alimentation durch die Eltern abhängig, allerdings ist mittelfristig nach Abschluss von Berufsausbildungen bzw. Studien ein Übergang in die Eigenversorgung sichtbar. Diese wirtschaftliche Alimentation ist das letzte und einzige Merkmal ihres weiterhin bestehenden Jugendalters und Kriterium ihrer Zugehörigkeit zum Sample dieser Forschungsarbeit. Es ist der Übergang zur Erwachsenenzeit, der von den Repräsentanten des Typs C beschleunigt und verstärkt angestrebt wird. In ihren biographischen Zielen werden sie bestärkt und streben an, diese Ziele dann auch beschleunigt zu erreichen und bei ihrem Erreichen zu stabilisieren. Ihr Trauerverhalten entspricht dem des Typs A.

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Sebastian Sebastian ist 20 Jahre alt. Er trifft sich vier Wochen nach dem ersten Interview noch einmal mit mir zwecks Beantwortung von Nachfragen. Er wohnt in seiner eigenen Wohnung in Düsseldorf. Seine vier Jahre ältere Schwester wohnt und studiert in Essen. Sebastian hat zusammen mit der Mutter und der Schwester nach der Trennung der Eltern vor etwa 15 Jahren in Dortmund, dem Geburtsort und Wohnort der Eltern und der Schwester der Mutter, gelebt. Beide Eltern haben sich aber trotz getrennten Lebens nicht scheiden lassen. Nach einiger Zeit erkrankt die Mutter an einer zunächst langsam, dann aber beschleunigt verlaufenden degenerativen und tödlichen Krankheit. Dies macht zu einem späteren Zeitpunkt die Scheidung der Eheleute auch aus ‚moralischen’ Gründen unmöglich. Als die Symptome der Krankheit sich hin auf eine Pflegebedürftigkeit verschlimmern, muss die Mutter in einem Heim in Warendorf, etwa 120 km von Düsseldorf entfernt, untergebracht werden. Dies ist vor etwa zehn Jahren geschehen. Für Sebastian bedeutet dies eine erneute Änderung seiner familiären Lebenswelt. Der Vater nimmt den minderjährigen Sebastian zu sich nach Düsseldorf, die Schwester bleibt (auch aus schulischen Gründen) bei der Tante (Schwester der Mutter) in Dortmund. Der Vater lebt mit seiner Lebenspartnerin zusammen. Sebastian wird in diesem Haushalt untergebracht. Er ist zu diesem Zeitpunkt elf Jahre alt. Bald nach der Übersiedlung wechselt Sebastian in die weiterführende Gesamtschule. Er besucht die Schule bis zur Fachhochschulreife. Kurz vor diesem Abschluss (Sebastian ist nun 18 Jahre alt) stirbt die Mutter im Heim. Der Kontakt zu ihr wurde über monatliche Besuche aufrecht erhalten. Das Leben des minderjährigen Sebastian verläuft vor und auch nach dem Tod der nahen Anderen, seiner Mutter, in seinen jugendgemäßen Prozessen und Entwicklungen; Störungen in der Reorganisation der Familie im Zusammenhang der Erkrankung der Mutter und der Übersiedlung Sebastians zum Vater können festgestellt werden. Die Zeit nach dem Tod der Mutter aber wird im Gegensatz zur Zeit vor dem Tod für Sebastian, der in dieser Zeit auch volljährig wird, zu einem 93

Beginn einer neuen erwachsenen Lebenslinie, die ihn nach dem Ende der Schulausbildung und mit der Aufnahme einer Lehrstelle, weiterhin finanziell unterstützt vom Vater, in der eigenen Wohnung außerhalb seines Familienheims leben lässt. Nicht seine Volljährigkeit, die die sozialrechtlichen Voraussetzungen seiner biographischen Entwicklung schafft, sondern der Tod der Mutter ist für Sebastian in der Deutung seiner Biographie Ausgangspunkt für eine beschleunigte Entwicklung, die er nach dem Tod bis zum Zeitpunkt des Interviews genommen hat in Selbstständigkeit und handelnder Selbstverantwortung für sein Leben. Sebastians Fallgeschichte repräsentiert damit neben anderen Fallgeschichten den Typ C innerhalb der Typologie: Beschleunigungen, Veränderungen und Verstärkungen der Lebenslinie nach dem Tod eines nahen Anderen. Der Ausgangspunkt der Entwicklung Sebastians hin zu einem beschleunigten Erreichen einer erwachsenen Selbstständigkeit bei weiter bestehender wirtschaftlicher Abhängigkeit von seinem Vater liegt bereits in der Zeit vor dem Tod der Mutter, in der Sebastian aufgrund des Verlaufs der Krankheit der Mutter bei seinem Vater wohnt. Sebastian erzählt ausführlich auch aus dieser Zeit. Sie ist ihm in guter Erinnerung. Er ist im Haushalt des Vaters gut versorgt. Die erwünschten jugendlichen Freiheiten und Teilreifen werden ihm vom Vater großzügig gewährt. Ihm wird bei Abwesenheiten des Vaters die Haushaltsführung überlassen: Der Vater ‚füllt‘ den Kühlschrank, die weitere Selbstversorgung ist Sebastian überlassen. Seine Erzählungen dazu haben anekdotischen Charakter. Sebastian erzählt ausschließlich von Interaktionen und Kommunikationen mit seinem Vater und er stellt darin seine Beziehung zum Vater als positiv dar, denn diese positive Beziehung wird schließlich in die großzügige Unterstützung des Vaters bei der Verselbstständigung des erwachsenen Sohnes einmünden. Die Lebensgefährtin und spätere neue Ehefrau des Vaters existiert in den Erzählungen dieser Vater-Sohn-Beziehung, es ist aber zu unterstellen, dass auch sie bereits mit dem Einzug Sebastians in die väterliche Wohnung für ihren ‚Stiefsohn‘ Sorge getragen hat. Allerdings hat der Vater diese neue Lebenspartnerin noch nicht geheiratet; die Ehe mit der Mutter Sebastians ist nicht aufgelöst; beides verhindert, dass Sebastian die Lebenspartnerin seines Vaters als ‚Stiefmutter‘ empfindet und akzeptieren muss und von ihr als einer bedeutsamen Person seiner Lebensgeschichte erzählt. Bald nach dem Tod der Mutter zieht Sebastian zu gegebenem Anlass aus dem Haushalt des Vaters aus: und so. kam das dann halt alles das ich dann aus den 94

Fittichen meines Vaters äh entwischt bin: /​[lautes auflachen I]/​sag ich mal: [beide lachen]/​und das war eigentlich der Hauptgrund. und halt dass ich ähm mit seiner jetzigen Ehefrau nicht so gut auskomme. Sebastian erkennt in den Prozessen und Verläufen seines Lebens im Zusammenhang und im Anschluss an den Tod der Mutter einen biographischen Wendepunkt, der seinem Leben eine neue und zugleich an alte Entwicklungen anschließende Wendung gibt (‚und so. kam das dann halt alles das ich dann‘): Er wird volljährig, die Teilreifen des Schulabschlusses und der Aufnahme einer Berufstätigkeit als Auszubildender werden ihm erteilt, der Tod der Mutter macht die bis zu diesem Datum familiär gepflegte Aufrechterhaltung einer wie auch immer strukturierten familiären Einheit gemeinsam mit der Mutter überflüssig. Die Wiederverheiratung des Vaters zeigt auch für dessen Leben eine biographische Wende nach dem Tod der Ehefrau an – von dieser hatte sich der Vater ja nicht getrennt, wurde nun aber ‚durch den Tod geschieden‘. Mit der neuen Ehefrau möchte auch der Vater ein neues Leben nach dem Tod der nahen Anderen beginnen. Hierzu gehört auch die Autonomisierung des erwachsenen Sohnes. Auch insofern geschah ‚Erlösung‘, von der Sebastian zu Beginn in der Eingangssequenz als Resultat des Todes der Mutter resümiert. Die Wiederverheiratung des Vaters bedeutet ja nicht – wie z.B. in der Fallgeschichte Klaras als zukünftige Möglichkeit angedeutet –, dass sich Sebastian nun für die nächsten Jahre seiner volljährigen Jugendzeit mit einer ‚Stiefmutter‘ arrangieren müsste; diese ist eben keine Stiefmutter, sondern nun mit der Verheiratung die ‚jetzige Ehefrau‘ des Vaters und hat mit Sebastians Betreuung und Versorgung in einem neuen Leben nun nicht mehr zu tun; mit ihr ist ein ‚Hotel Mama‘ für Sebastian nicht möglich. Zudem: Mit ihr versteht er sich nur wenig; die Gründe bleiben unklar. Vielleicht kommt die neue Lebenspartnerin des Vaters mit den Versorgungsansprüchen eines volljährigen Sebastians ‚nicht so gut aus‘ und zwischen beiden kommt es zu spezifischen Konflikten. Das Unbehagen, das Klara angesichts der neuen Freundin des Vaters befällt, ist Sebastian nicht zu unterstellen. Ganz andere Motive bestärken seinen Wunsch und seine Entscheidung zum Auszug aus dem Haushalt des Vaters. Mit der Wiederverheiratung ist eine auf den zuvor minderjährigen und nun volljährigen Sebastian bezogene väterliche und erziehungsberechtigte Fürsorge des Vaters beendet; der Vater hat nur noch alimentierend für den volljährigen und mit schulischem Abschluss versehenen aber aufgrund der beruflichen Tätigkeit 95

als Lehrling noch nicht materiell autonomen Sohn zu unterstützen. Dieser Verlauf seines Lebens nach dem Tod der Mutter führt Sebastian in seine eigene Wohnung, in seine haushaltstechnische Selbstständigkeit, in der er für sich selbst sorgt. Ob Sebastians Lebenslinie auch ohne den Tod der nahen Anderen diesen Verlauf genommen hätte, gehört in den Bereich der Spekulation. Andere Lebensverläufe sind durchaus möglich (s.o.). Der Tod der Mutter und damit einhergehende Verläufe und Entwicklungen in seinem herkunftsfamiliärem System führen zur frühzeitigen Verselbstständigung Sebastians, d.h. diese Prozesse und Verläufe wirken auf den durch Sebastian vollzogenen Lebensverlauf hin auf erwachsene Selbstständigkeit beschleunigend. Sebastian zeigt hier eine Nähe zu Amelie (Typ B). Allerdings: er wird nicht wie Amelie ‚hinausgeworfen‘ und könnte sich in der neuen Selbstständigkeit und auch Einsamkeit nur schwer zurechtfinden, sondern die Heirat des Vaters zeigt, dass auch dieser sein Leben nach dem Tod der ersten Ehefrau neu und zugleich ohne elterliche Sorge- und Umsorgepflicht für den erwachsenen Sohn ordnen will. Sebastian versteht dieses Signal, das durch die Wiederverheiratung des Vaters gesetzt ist, sehr deutlich und nimmt es als Wegweisung für die eigene Weiterentwicklung auf. Dieses durch den Vater gesetzte sehr spezifische Verhältnis zu seinem Sohn verursacht die Beschleunigung in der Fallgeschichte Sebastian. Insofern ‚entwischt‘ Sebastian den ‚Fittichen‘ seines Vaters. Der Tod der Mutter an sich ist nicht die Ursache der Beschleunigung, sondern die dem Prozess der Neustrukturierung der familiären Systeme bereits vor und insbesondere nach dem Tod der Mutter inhärente Dynamik. Die Neustrukturierung entwickelt sich hin auf eine ganz spezifische Beziehung zwischen dem Vater und seinem ‚den Fittichen des Vaters entwischten‘ Sohn: Die sich für Sebastian und seinen Vater nun ergebende ‚passende Gelegenheit’ macht die weitere Entwicklung auch faktisch möglich: Die Wohnung des Vaters der neuen Frau im Erdgeschoss wird frei; zuvor hatte die Familie im Dachgeschoss gewohnt. Der Vater eröffnet dem Sohn die Umzugspläne. Der möchte aber nun nicht mit hinunterziehen, um dort erneute familiäre Verbindungen zu konstituieren, sondern sich oben in der alten Wohnung der Familie seine eigene Wohnung einrichten. Mutmaßlich aufgrund der Wohnungsgröße, aber auch wegen der räumlichen Nähe rät der Vater seinem Sohn ab und empfiehlt ihm – vielleicht auch auf Anraten der neuen Ehefrau, die die Zweisamkeit der Ehe mit ihrem jetzt rechtlich Anvertrauten ausleben möchte – sich doch etwas entfernt eine kleinere eigene Wohnung zu suchen. 96

Dies ist aber wiederum nur mit finanzieller Unterstützung des Vaters möglich, die dieser nicht verweigert, im Gegenteil: Der Sohn soll eine ordentliche und angemessene kleine Wohnung beziehen; der Vater will ihn dabei finanziell unterstützen. Sebastian erfährt dieses väterliche Interesse und die daran sich anschließende Alimentation als sehr positiv und stellt sie in der Erzählung des Interviews auch so dar. Vater und Sohn handeln die Höhe der Unterstützung partnerschaftlich aus, wie Sebastian sehr humorvoll erzählt, und Sebastian kann nach kurzem Suchen eine neue eigene Wohnung beziehen. Die Motivation zum Auszug ist für Sebastian der Wunsch nach erwachsener Selbstständigkeit. Mit Unterstützung seines Vaters kann er diese Selbstständigkeit nun in recht frühem Erwachsenenalter kurz nach der Reife der Volljährigkeit ergreifen. Sie ist freilich nicht vollständig, da er weiterhin vom Vater finanziell abhängig ist. Diesen Sachverhalt empfindet Sebastian aber nicht als nachteilig. Sebastian schildert diese Motivation im Interview sehr ausführlich und differenziert: ‚vielleicht ein Nebengrund war dass ich ähm. gesagt habe ok. vielleicht wird’s langsam mal Zeit dass ich auf meinen eigenen Füssen stehe. dass ich auch mal weiß. wie es halt ist wenn ich den eigenen Haushalt schmeißen muss. weil. als ich bei meinem Vater gewohnt hab da hat ich mein Zimmer. mein kleines was ich ordentlich halten musste. Kühlschrank war immer voll. essen war immer da. ab und zu musste ich mal spülen: auch nicht immer weil ich auch nicht so oft da war. und da hab ich mir gedacht wie ist das nun. ich hab mir überlegt wie schwer ist es denn. äh. wenn ich dann. ähm. meine Berufstätigkeit ausübe aber. im Endeffekt auch noch den Haushalt mache. das hat mich auch schon so ein ein bisschen gereizt. einfach mal diese Erfahrung zu machen. Die Fähigkeit einer eigenständigen haushaltsmäßigen Selbstversorgung durch Zubereitung des Essens und Pflege der eigenen Räumlichkeiten kann die Verselbstständigung von jungen Erwachsenen beschleunigen (Georg et al. 1994). Sebastian schildert dieses Motiv in der obigen Sequenz und bereits zuvor im Interview und auch im zweiten Interview ausführlich. Es ist mit dem Ausfall der Mutter als haushaltstechnische Versorgerin verknüpft, insofern Sebastian entsprechende kindliche ‚Belastungen‘ erzählt. Der Tod der Mutter als Garantin und Trägerin von Versorgung bzw. Umsorgung (vgl. Vaskovics et al. 1990) bedeutet für Sebastian 97

nun den Abbruch ehemaliger und die Möglichkeit zukünftiger Umsorgung in der Herkunftsfamilie und eine Beschleunigung und Verstärkung seiner Lebenslinie hin auf sein Erwachsenwerden. Zur Selbstständigkeit des Lebens in Distanzierung zur Herkunftsfamilie gehört die Zuwendung zu personellen Ressourcenträgern außerhalb der Familie in der Gleichaltrigengruppe, in einer Partnerschaft und im Beruf (Chrisholm  & Hurrelmann 1995). Insbesondere Kontakte zu Gleichaltrigen und das Eingehen von Zweierbeziehungen eröffnen personelle Ressourcen in der Erfüllung der durch die Distanzierung von der Herkunftsfamilie entstehenden Bedürfnisse nach persönlicher Nähe und Einbindung ein ein soziales Netzwerk, das bisher die Familie in verstärktem Maße zur Verfügung stellte (Berman & Sperling 1991; Takahashi & Majima 1994). Über Kontakte im Beruf kann Sebastian nur wenig berichten, aber seinen schon vor dem Tod der Mutter zur Verfügung stehenden Freundeskreis behält er bei; vor allem diese alten und auch neuen Freunde sind in der Zeit seines beginnenden Alleinwohnens und seiner intensiveren Zuwendung zu außerfamiliären Netzwerken eine wichtige personale Ressource. Es darf unterstellt werden, dass die Unterstützung, von der Sebastian aus der Zeit vor dem Tod der Mutter erzählt, sich in die Zeit nach dem Tod und dem Bezug der neuen Wohnung fortsetzt. Möglicherweise gehört zu diesen personalen Ressourcen auch die Familie seiner Mutter. Großvater und Großmutter, die beide zum Zeitpunkt des Interviews bereits tot sind, und die Schwester der Mutter wohnten in Dortmund. Hier war auch Sebastians Schwester nach der Krankenhauseinweisung der Mutter untergebracht und als minderjährige Jugendliche versorgt. Sebastian hatte bei Besuchen der kranken Mutter den Großvater mitgenommen. Nach dem Tod der Mutter besuchte er das Grab der Mutter; die Mutter wurde auf der Grabstätte der Eltern in Dortmund mit bestattet. Onkel und Tante haben die Grabpflege übernommen und entsprechende Aufträge an ein Pflegeunternehmen erteilt. Sebastian erinnert sich im ersten Interview an eine intensivere Pflege des Grabes der Mutter durch ihn, die später im Interview durch konkrete und praktische Angaben ergänzt und erweitert wird: ich bin früher. sehr sehr oft zum Grab von meiner Mutter noch gefahren.ähm. praktisch jeden Tag. und hab dann halt auch die ganzen Arbeiten da noch gemacht geharkt und. all das 98

Sebastians Erinnerungen in dieser Sequenz sind fehlerhaft. Für eine tägliche Grabpflege ist die Entfernung Düsseldorf – Dortmund zu groß. Sebastian reduziert die Frequenz der Besuche im zweiten Interview und hier reduziert sich auch seine Beteiligung an der Grabpflege auf die Zahlung eines Drittelanteils der Kosten. Grund dieser fehlerhaften Erinnerung sind mutmaßlich innerfamiliäre Konflikte um den Ort der Bestattung und zum anderen die Empfindung eines ‚schlechten Gewissens’ wegen einer Pflichtverletzung durch Sebastian selbst. Durch den entfernteren Ort ist die Pflege des Grabes der Mutter für Sebastian nun ähnlich erschwert, wie dies zuvor die Sorge um die kranke Mutter im Heim gewesen war. Er kann wieder nicht täglich bzw. ‚immer für sie da sein’, wie er meint, dass es seine Pflicht sei. Dieser Pflicht kam er seines Erachtens im Leben vor dem Tod der Mutter und nun auch nach ihrem Tod nicht in ausreichendem Maß nach. Auf dieses innere Leben Sebastians und seine innere Provinz der Trauer ist später noch zurück zu kommen. Sebastian erzählt nicht von Schwierigkeiten aus der Lebenswelt Schule. Die Gesamtschule vor Ort verlässt er mit dem Zeugnis der Fachhochschulreife. Mit diesem Zeugnis bewirbt er sich erfolgreich um eine Lehrstelle als Großhandelskaufmann. Zum einen sind Schulabschluss und anschließende Lehre eine Entwicklungsaufgabe eines Jugendlichen. Diese Entwicklungsaufgabe erfüllt Sebastian sehr pragmatisch und damit erfolgreich. Mögliche Irritationen durch das Erleben des Todes der Mutter weist er zurück. Zugleich aber verbindet er diese biographische Entwicklung mit dem Erleben des Todes der Mutter und seinem Leben danach. Schulabschluss und Lehre sind nicht nur im Sinne einer zeitlichen Koinzidenz zum Zeitpunkt des Todes in Beziehung zu setzen. Für Sebastian ist das Leben nach dem Tod der Mutter als solches in all seinen Verläufen mit deren Tod verknüpft; es ist als Ganzes Leben nach dem Tod, auch wenn die Verläufe und Prozesse dieses Lebens konkret vom Tod der Mutter nicht kausal abhängigen Entwicklungen folgen. Das Ende der minderjährigen Jugend und das Ergreifen neuer Möglichkeiten als Erwachsener prägt Sebastians Leben nach dem Tod der nahen Anderen. Sebastian schließt die Schule ab, was ihn stolz macht, er beginnt zielstrebig seine Berufsausbildung, er zieht in eine eigene Wohnung um und leistet eine zufriedenstellende haushaltstechnische Versorgung, er wendet sich neuen außerfamiliären Netzwerken zu. Er erfüllt damit altersgemäße Entwicklungsaufgaben. Die Prozesse und Verläufe im Zusammenhang des Todes der Mutter beschleunigen diese Erfüllung. Zielstrebig geht Sebastian auf sein weiteres Leben zu; er weiß, was er 99

will und auch ‚wo es lang gehen soll‘ mit seinem Leben. Und hier wirkt der Tod der Mutter als ‚Biographiegenerator‘. Hahn (1987) führte den Begriff des Biographiegenerators in die Diskussion ein. Biographiegeneratoren sind „Institutionen […], die die Individuen zwingen oder es ihnen gestatten, ihre Vergangenheit zum Thema zu machen.“ (op.cit.. 18). Hahn benennt als Biographiegeneratoren Beichte, Autobiographie und Psychoanalyse. Sie sind jeweils eine ‚soziale Institution [, die] auf ganz bestimmte Weise die Individuen zur Befassung mit sich selbst bringt und die im jeweiligen Kontext erzeugten Selbstbilder dann verpflichtend werden lässt. Mit den Bekenntnisformen werden Muster für das Reden und Denken über sich selbst zur Verfügung gestellt.“ (op.cit.: 18). Auch der Tod eines nahen Anderen bzw. die selbstbezügliche und sich selbst thematisierende Empfindung der ‚Trauer‘ kann ein Biographiegenerator sein, insofern von ihm aus sich die Anforderung des Schreibens und Beschreibens vergangener und geplanter zukünftiger Biographie ergeben. Vor dem Tod der Mutter war der Lebensablauf Sebastians von großer Offenheit geprägt: Durch die vielen Umzüge werden seine Interaktionsfelder verändert (‚wo komme ich als nächstes hin’), Sebastian erlebt über lange Zeit Rollendiffusionen (er übernimmt die Hausarbeit für die kranke Mutter), seine Lebenssituation ist unsicher, seine Lebensorientierungen vorläufig und von großer situativer Pragmatik geprägt. Er weiß nicht so recht, wie es mit seinem Leben weiter gehen soll. Die für einen Minderjährigen rechtlich geforderte Einbindung in eine (Herkunfts-) Familie, in seinem Fall die Familie des Vaters, verlangt aber eine Beibehaltung der Lebensgemeinschaft mit diesem und seiner Lebenspartnerin. Das Leben vor dem Tod der Mutter ist für Sebastian sowohl durch weiter bestehende Geborgenheiten im Haushalt des Vaters als auch zugleich von Störungen und Irritationen geprägt. Der Tod der Mutter (in seiner biographischen Relevanz und nicht etwa nur das zeitliche Ereignis) beendet diese unsichere und von Störung geprägte Situation (auch deshalb ist Sebastian beim Eintritt des Todes auch ‚nicht geschockt’; der Tod ist eine ‚Erlösung’) und eröffnet neue Möglichkeiten im Sinne einer Beschleunigung der biographischen Entwicklungen. Mit den ihm durch den Vater zur Verfügung gestellten Ressourcen (‚Vater, wie viel Geld gibst du mir dafür?’) und mit dem Geld aus der Auszahlung einer Lebensversicherung nach dem Tod der Mutter formt Sebastian seine Lebensgeschichte nach dem Tod der Mutter neu. Alte familiäre Bande müssen nun nicht mehr beibehalten werden. 100

Markus Mit Markus und Annalena werden die Fallgeschichten von zwei weiteren Repräsentanten des Typs C vorgestellt, freilich mit weiteren Merkmalen und entsprechenden Ausprägungen. Markus und Annalena sind beim Tod des nahen Anderen älter als Sebastian. Ihre Alterstufe verweist auf ein sich näherndes Ende der Jugendzeit und auf einen Übergang in die Erwachsenenzeit. Ihr Leben nach dem Tod eines nahen Anderen ist deshalb neben einer Beschleunigung – so Markus – geprägt durch Veränderungen und Verstärkungen und Stabilisierungen der Entwicklung der Lebenslinie. Diese Veränderungen, Verstärkungen und Stabilisierungen beziehen sich auf den zukünftigen Lebenslauf und die Biographie der Betroffenen und erstreckt sich auf ihr Leben als Erwachsene. Ihr späterer Stand als Erwachsene ist geprägt durch die im Folgenden darzustellenden spezifischen Entwicklungen ihrer Lebenslinie nach dem Tod des nahen Anderen. Markus und Annalena sind vor allem die ‚Generation der Erben‘, insofern beide in der Folge des Todes eines nahen Anderen in die Lage versetzt werden, dauerhaft in einer eigenen Wohnung oder einem eigenen Haus zu wohnen. Dies bedeutet Beschleunigung ihrer Entwicklung und Veränderungen älterer Planungen bei Markus, und zugleich Bestärkung der Lebenslinie hin auf eine ‚stabilitas loci‘ in einer eigenen Wohnung und einer eigenen Haushaltsführung vor allem bei Annalena. Diese ‚stabilitas loci‘ ist dauerhaft und bestimmt damit die lokalen und in der Fallgeschichte Annalenas zugleich die interpersonalen Merkmale zukünftigen Lebensverlaufes auch nach der Jugendzeit als Erwachsene. Vor allem Markus ist hier Sebastian ähnlich; zu dem schon bei Sebastian feststellbaren Schritt der Verselbstständigung der Lebensführung in der eigenen Wohnung mit der Volljährigkeit tritt bei Markus und Annalena das Merkmals einer zukünftigen Dauerhaftigkeit des Wohnens im eigenen Haushalt unter Ausschluss der Möglichkeit der Rückkehr in die Herkunftsfamilie im Sinne eines „returning young adult“ (Schnaiberg & Goldenberg 1989) hinzu. Markus ist 25 Jahre alt. Vor vier Jahren sind seine Großtante und seine Großmutter kurz hintereinander verstorben. Markus war zu diesem Zeitpunkt 21 Jahre alt; 101

er wohnte mit seiner Mutter als deren einziges Kind in einer Eigentumswohnung in einem Vorort von Bochum. Diese Eigentumswohnung ist Markus nach dem Tod des Vaters nach einer längeren schweren Erkrankung aufgrund dessen Erblassung übereignet worden; Markus war beim Tod seines Vaters vier Jahre alt. Die Mutter verwaltete in der Zeit der Minderjährigkeit für Markus diese Wohnung. Markus hat nach dem Abitur und dem anschließenden Wehrdienst ein Studium für das Lehramt in der Sekundarstufe 2 (Sport und Mathematik) an der Universität in Bochum begonnen. Das Studium hat er abgeschlossen; die erste Staatsarbeit (Abschlussarbeit) ist geschrieben und angenommen. Markus‘ Mutter ist Realschullehrerin an einer Schule im Nachbarstadtteil. Sie ist im Ortsteil im elterlichen Haus aufgewachsen. Die Großmutter mütterlicherseits und die Schwester der Großmutter leben weiter bis zu ihrem Tod im ehemaligen Familienheim der Mutter. Der Großvater ist schon seit einigen Jahrzehnten verstorben. Markus‘ Mutter ist nach dem Tod des Ehemanns und Markus‘ Vaters seit früher Kindheit von Markus alleinerziehend. Großmutter und Großtante lebten aufgrund der räumlichen Nähe zur berufstätigen Mutter im gleichen Stadtteil (Entfernung ca. zwei km) als ergänzende Erziehung und Versorgung des minderjährigen Markus. Markus hat eine feste mehrjährige Beziehung zu einer gleichaltrigen Freundin, die mit ihm an der Universität in Bochum studiert. Beide haben sich bereits vor dem Studium in einer Gleichaltrigengruppe kennengelernt. Auch die Freundin wohnt noch im elterlichen Familienheim. Beide aber planen in absehbarer Zeit (nach der Berufsaufnahme, d.h. mit Beginn der Erwachsenenzeit) das Bewohnen einer gemeinsamen Wohnung, nach Möglichkeit der Eigentumswohnung von Markus. Diese Zukunftsplanungen werden von Markus im Interview aber nicht mit der Situation nach dem Tod der Großtante und dann der Großmutter verknüpft. Nach dem Tod der Großmutter erbt Markus‘ Mutter das zuvor von Großmutter und Großtante bewohnte mütterlich-elterliche Reihenhaus ,in dem sie selbst aufgewachsen war. Sie will dieses elterliche Haus für eigene Wohnzwecke erhalten, lässt es renovieren und zieht nach der mehrjährigen Renovierung aus der Eigentumswohnung in das Reihenhaus ihrer Vorfahren um. Markus wohnt zum Zeitpunkt des Interviews allein in seiner Eigentumswohnung. Markus erzählt in seinem Interview zunächst von der Situation der Familie nach dem Tod der Großtante. Weihnachten und Jahreswechsel werden nicht wie ge102

wohnt im ‚Familienhaus‘ gefeiert, also bei der Großmutter, sondern in der kleinen Eigentumswohnung von Mutter und Sohn; hier trifft sich die nun kleiner gewordene Familie: war dann auch äh n sehr ruhiger Jahreswechsel. wo wir dann.halt äh nur zu dritt. bei uns zuhause dann gefeiert haben um halt auch nicht. die Gefühle hochkommen zu lassen. nachdem wir ja sonst immer oben in unserm Familienhaus gefeiert haben Die Feier in der Eigentumswohnung der Mutter ist in Bezug auf vorangegangene Gewohnheiten außergewöhnlich. Das ehemalige Familienheim von Mutter und Großmutter, in dem Markus‘ Mutter aufgewachsen war, ist auch für Markus das ‚Familienhaus‘. Als solches hat er es in der Vergangenheit als Kind und jüngerer Jugendlicher erlebt und darin gelebt. In diesem Haus ging er regelmäßig ein und aus, hier hatte er seine Kindheit verlebt und wurde täglich nach der Schule bei beruflicher Abwesenheit der Mutter durch die Großmutter und die Großtante versorgt. Nur durch diese Zusatzversorgung konnte die Betreuung und Versorgung des Minderjährigen sichergestellt werden. Auch als volljähriger Jugendlicher im Studium nahm Markus diese Versorgung durch die Großmutter gern in Anspruch. Markus besuchte auch in seiner Studienzeit seine Großmutter und ließ sich von ihr vor allem bekochen. Seine weiblich-familiäre Umgebung sorgte vor allem auch ‚durch den Magen‘ für ihn. Auch zu den Festen des Jahres kommt die Familie in diesem Familienheim zusammen; es ist das räumliche und in der Person der Großmutter das personale Zentrum der matrilinearen Familie, zu der Markus gehört. Durch den Tod der Großtante ist diese Versorgung nicht grundsätzlich infrage gestellt. Aufgrund spezifischer Befindlichkeiten der Großmutter nach dem Tod ihrer Schwester wird die Großmutter von der Versorgerin nun selbst zur durch Tochter und Enkelsohn Versorgten. Diese spezifischen Befindlichkeiten beziehen sich auf die Zeit unmittelbar nach dem Tod der Großtante; in späteren Zeiten danach ist die Großmutter durchaus in der Lage, ihre Lebensführung auch ohne die Unterstützung von Mutter und Enkelsohn zu leisten. Nur wenige Monate später stirbt auch die Großmutter. Nach ihrem Tod wird die Familie auf Markus und seine Mutter reduziert: ‚und das war dann recht schwierig. allein auch dadurch dass wir nur noch zu zweit waren. meine Mutter und ich als einzige der Familie. sozusagen der traurige Rest. und dann erst einmal damit klar kommen mussten. also diese ganzen Erbangelegenheiten. die vielen entfern103

ten Verwandten und Geschwister und die Abklärung ob da jetzt noch irgendwas zu machen ist. die ganzen Angelegenheiten noch zur Beerdigung’. Markus empfindet die Situation nach den Tod der Großmutter als ‚recht schwierig‘. Diese Beurteilung bezieht sich summarisch auf einen komplexen und länger andauernden Prozess der Bestattung (s.o.) und der Reorganisation der Familie. Die Abwicklung der Beerdigung nimmt in diesem Prozess der Bestattung die erste und auch kürzeste Zeit ein; Markus weist darauf hin, dass sich emotionale Schwierigkeiten aus dem Faktum ergaben, dass sich diese Beerdigungsabläufe innerhalb recht kurzer Zeit wiederholten. Auf konkrete Vorgänge bei der Beerdigung geht Markus in seinem Interview nicht ein. Zur Bestattung gehören organisatorische Vorgänge, aber auch emotionale Zusammenhänge: Zwei Menschen trauern als Hinterbleibende, Markus nennt ihn den ‚traurigen Rest‘ der Familie. Zudem sind Erbangelegenheiten zu regeln: ein Haus, das sich bis zum Tod im Besitz der Großmutter befand, muss in einen neuen Eigentümer übergehen. ‚Entferntere Verwandte‘ und ‚Geschwister‘ stellen mögliche Ansprüche; in welchem familiären Stand diese Angehörigen zu Markus und seiner Mutter stehen, ist dem Interview nicht zu entnehmen und wurde vom Interviewer nicht recherchiert. Zu denken ist an Geschwister und weitere Angehörige der Mutter. Das Ergebnis all dieser Auseinandersetzungen nach dem Tod der Großmutter um deren Erbe ist: Dieser neue Eigentümer des Familienheims wird schließlich Markus‘ Mutter sein. Die für seine Lebenslinie entscheidenden Problem- und Veränderungspotentiale erzählt Markus gleich zu Beginn: und das war dann recht schwierig. allein auch dadurch dass wir nur noch zu zweit waren. meine Mutter und ich als einzige der Familie. sozusagen der traurige Rest. Markus und seine Mutter sind nach dem Tod der Großmutter ‚nur noch zu zweit‘. Zur ehemaligen Familie gehörten Großmutter und Großtante. Spezifische Rollenzuweisungen waren mit diesem Familienverbund verknüpft. Markus‘ Mutter befand sich in der Rolle der Tochter, der in der Erziehung und Versorgung ihres Sohnes durch die Hilfe der Mutter entlastet wurde, die sich nun aber mit dem Älterwerden der Mutter zunehmend um diese zu kümmern hatte. Zu unterstellen ist, dass diese Sorge sich zunächst bei Beibehaltung der Selbstständigkeit der Großmutter im räumlichen Zusammenhang der bestehenden ortsnahen Wohnverhältnisse verwirklicht hatte und auch weiter verwirklicht hätte. Markus 104

erzählt von täglichen Besuchen bei der Großmutter, die Tochter wird ihre Mutter nur wenig seltener aufgesucht haben. Zu Markus‘ ‚geregeltem Tagesablauf ‘ gehört das Bekochtwerden durch die Großmutter wie auch die Sorge des Enkelsohnes um die Großmutter durch den täglichen Besuch. Markus befand sich so in der Rolle des versorgten älter gewordenen Kindes, das im ‚Nest‘ der Großmutter Geborgenheit erfuhr, sich nun aber als älter gewordener Student auch um die Großmutter sorgte. Mit dem Tod der Großmutter brechen diese Rollen weg. Die weiterhin berufstätige Mutter ist ihrer zukünftigen Sorge um die eigene Mutter enthoben und steht vor der Aufgabe einer Lebensplanung ohne diese Tochter-Rolle. Zudem steht sie mit dem Älterwerden des Sohnes vor dem Verlust ihrer Rolle als Hüterin eines leer werdenden Nestes; die Funktion dieses Nestes hat sie in der Vergangenheit freilich weitgehend an die Person und das Familienheim der Mutter (Großmutter) delegiert. Markus verliert durch den Tod der Großmutter seinen Status als Enkelsohn und gut Versorgten im ‚Hotel Oma‘. Auch für ihn entfällt die Pflicht, im Zusammenhang des Netzwerkes der Familie für die Großmutter zu sorgen. Für Markus und seine Mutter entsteht nach dem Tod der nahen Anderen die Aufgabe der Re- bzw. Neuorganisation des klein gewordenen familiären Netzwerkes. Eine Möglichkeit der Reorganisation ist eine Beibehaltung des Status quo einer gemeinsamen weiteren Wohngemeinschaft von Mutter und Sohn – ob nun im Familienheim der Mutter oder in der Eigentumswohnung des Sohnes. Diese Beibehaltung des gemeinsamen Wohnens bedeutet eine stärkere gegenseitige Fixierung von Markus und Mutter als eines ‚traurigen Restes‘ mit dem Ziel der Reorganisation und Stabilisierung der Familie. Die Beibehaltung eines gemeinsamen Familienheims ist bei jüngeren und minderjährigen Jugendlichen sozialrechtlich notwendig. Die Aufgaben der Erziehung, der Aufenthaltsbestimmung und der Versorgung sind durch die Erziehungsberechtigten nur im gemeinsamen Weiterwohnen mit ihren Kindern zu leisten und gesellschaftliche Norm. Diese Beibehaltung eines gemeinsamen Familienheims ist für Markus und die Mutter aber sozialrechtlich nicht mehr notwendig und entwicklungsspezifisch regressiv (vgl. Typ D). Markus ist volljährig und von dieser Volljährigkeit her und seinen altersspezifischen Verläufen seiner Lebenslinie hin auf den Abschluss des Studiums, die Berufswahl und eine Familiengründung zielt diese auf eine mittelfristig vorzunehmende wohnliche Trennung von der Mutter und weniger auf eine längerfristige Fixierung in einem ‚Hotel Mama‘. 105

Der Eintritt in die Erbfolge eröffnet für Markus und seine Mutter alternative Entwicklungen in der Lebenslinie, die mit dem Tod der nahen Anderen, seiner Großmutter, unmittelbar verknüpft sind: und dann ähm natürlich auch die Sache damals hatten wir unsere Wohnung [Name der Strasse, in der sich die Eigentumswohnung befindet] renoviert. eigentlich in der festen Annahme dass wir erst mal da die. nächsten. zumindest das nächste Jahrzehnt verbringen. und jetzt auf einmal stellte sich dann überhaupt die Frage was soll jetzt oben mit dem [Name der Strasse] passieren. was machen wir damit. wie geht das weiter. Mit dem Erbe des Hauses werden wie in Sebastians Lebensverlauf Fakten geschaffen, die Veränderungsprozesse in Gang setzen. Mutter und Sohn besitzen nach dem Tod der nahen Anderen zwei Familienheime. Die Eigentumswohnung war kurz vor dem Tod der Großmutter renoviert worden. Die Renovierung und eine damit verbundene Planung der familiären Zukunft weisen in die Vergangenheit und in die Zukunft. Die Mutter bewohnte seit Markus‘ Kindheitstagen gemeinsam mit ihrem Sohn die Eigentumswohnung. Nun hatte sie die Renovierung der Eigentumswohnung finanziert; dies alles sicherte ihr ‚moralisch‘ ein Wohnrecht für die nächsten Jahre bzw. Jahrzehnte. Analog darf vermutet werden, dass Markus seiner Mutter die Notwendigkeit des Umzuges in eine eigene Wohnung ersparen wollte, insofern er selbst die Wohnung für eigene autonome Wohnzwecke einfordern würde. Die Planung gemeinsamen Wohnens mit der langjährigen Freundin spricht Markus im Interview nicht an. Was Markus als technische Problematik darstellt, betrifft seine persönliche Zukunftsplanung und die Zukunftsplanung der Mutter. Die Renovierung der bisherigen gemeinsamen Wohnung war zum einen primär sachlich notwendig gewesen, zielte nach Markus‘ Auskunft sekundär aber auf ein geplantes gemeinsames Wohnen für eine längere Zeit (‚zumindest das nächste Jahrzehnt‘). Markus und die Mutter werden bei solcher Zeitangabe kaum an ein gemeinsames Wohnen bis über Markus‘ dreißigstes Lebensjahr hinaus gedacht haben. Allerdings war das gemeinsame Wohnen zunächst die mittelfristig gegebene Option für Mutter und Sohn bis zu einem Auszug des Sohnes aus der Wohnung; für Markus ist zudem die bleibende personale und lokale Nähe zur Mutter Desiderat seiner Zukunftsplanung auch als erwachsener Berufstätiger mit möglicher eigener Familie. Es darf unterstellt werden, dass die Sorge eines erwachsenen Markus für die Mutter weit über das ‚nächste Jahrzehnt‘ hinaus geplant ist. 106

Die Erbschaft eines zusätzlichen Hauses, das in der Folge nicht aufgegeben, sondern erhalten werden soll, greift nun aber in diese wohnrechtliche Situation von Sohn und Mutter ein und erlaubt eine deutliche Veränderung bestehender familiärer Planungen und beschleunigt und verstärkt zukünftige Entwicklungen: und. praktisch dann mit der Entscheidung das Haus zu halten und dann äh auch zu modernisieren. praktisch dann der nächste äh der. der nächste Problemfall halt. wie man damit umgeht. äh. das Haus modernisieren. der ganze Arbeitsaufwand der damit einherging. ähm. der Pfusch am Bau. und äh dass sich das über Jahre gezogen hat. Die Reorganisation der Familie, die nun auf eine räumliche Trennung von Mutter und Sohn zielt, verlangt in der Folge durch bautechnische Schwierigkeiten bei der Renovierung des alten Familienheims der Großmutter zwar noch einige Jahre Übergangszeit. Wichtiger ist für die Reorganisation der Familie in einer neuen Struktur, dass das alte Haus im Besitz der Mutter bleibt und zudem für deren Wohnzwecke renoviert wird. Auch Markus‘ Eigentumswohnung wird erhalten und Markus zieht nicht mit der Mutter in deren neues Haus. Dahinter stehen komplexe Neuplanungen und Modifikationen ehemaliger Planungen der familiären Zukunft durch die Mutter wie auch durch den Sohn nach dem Tod der Großmutter. Diese Planungen der Zukunft von Markus werden aufgrund der Erbschaft des Hauses hin auf eine Autonomisierung Markus‘ verändert. Dieser soll in der eigenen Eigentumswohnung weiterhin in der Ortschaft wohnhaft bleiben mit fußgängiger Nähe zum neuen Wohnsitz der Mutter. Durch das Bewohnen des alten Familienheims rückt diese in der Rollenkonfiguration der Familie in die Position der Familienältesten. Markus nimmt die ehemalige Position der Mutter ein, wenn längerfristig eine zukünftige Versorgungssituation der älter werdenden Mutter durch den erwachsenen Sohn und seine potentielle Familie in Ortsnähe angedacht wird. Zugleich aber befindet sich Markus ähnlich Sebastian in der Situation der wohnlichen Autonomie. Er bezieht diese Autonomie im Interview bereits auf seine Lage nach dem Tod der Großmutter, wenn er bedauert, nun nicht mehr bekocht zu werden, er erzählt diese Autonomie aber zugleich aus seiner gegenwärtigen Lage eines Alleinwohnenden nach dem Umzug der Mutter in deren eigenes Haus: und. äh. gleichzeitig damit dann halt auch. ähm. ja eigentlich das an mich heran. treten. äh. der Situation. dass ich einfach. nicht nur selbstständig sein konnte wenn ich wollte sondern jetzt auch regelmäßig sein musste: bisher war das eher so ne Sache. ich konnte zwar alles aber. [Zitierstimme] wozu denn. ähm./​(lautes Schmunzeln)/​das 107

hat mir ja eigentlich jeder abgenommen. und diese Situation war halt weg. wenn ich was. äh. zu essen wollte musste ich’s halt selber machen. weil Mutter halt meistens auch nicht da war. oder belastet war. ähm. auch einfach so Sachen. wenn ich was brauchte musste ich selber dafür sorgen. egal ob das jetzt. äh. irgendwo einkaufen ist. oder. ob man irgendwas ausmacht. und halt einfach. die Sache. ja. dass ich also (3) mmh (3) ja vielmehr auch auf eigene Faust mache: einfach die Sache das äh spricht man dann nicht mehr im Familienkreis ab. das macht man dann selber: Am Ende seines Interviews fasst Markus sein Leben nach dem Tod der Großmutter zusammen: ansonsten. ja in meinem Leben hat sich halt also. von dem was ich mache. wenig geändert: aber halt. ähm. wie ich mein Leben organisiere hat sich halt geändert ich hab inzwischen kochen gelernt. ich. äh. ja muss halt jetzt viel öfter für meine Bude sorgen. das macht keinen Spaß aber das funktioniert. das sind halt einfach Sachen die ich sonst vorher zwar konnte aber nicht machen musste:. insofern. ist halt n Stück Bequemlichkeit weg. wenn man’s jetzt nur mal so betrachtet. [Seufzer] aber dann leider [Ironie/​Lachen] sehr viel mehr Verantwortung da: (3) I. Wer hat’s vorher gemacht? M: (  ) Muttern. weil Muttern sich ja nicht um die andere Wohnung kümmern musste: /​aja/​(5) sozusagen aus Hotel Mama. ausgezogen. worden: (8) Die Veränderungen und Beschleunigungen der Lebenslinie beziehen sich bei Markus analog zu Sebastian auf seine neue Lage der Autonomie des Wohnens und der Planung und Ausführung der Lebensführung. Markus lebt nicht selbstständig auf Probe mit dem ‚Sicherheitsnetz‘ des versorgenden Elternhauses bzw. ‚Hotel Mama‘, sondern er ‚macht‘ das umfassend ‚dann selber‘. Vorher hat es die Mutter ‚gemacht‘. Mit dieser kleinen Notiz erzählt Markus seinen neuen Status und die erwachsene Art seiner Lebensführung und dies kennzeichnet ihn für große Teile seiner Lebenslinie als Erwachsenen. Übrig bleibt eine wirtschaftliche Abhängigkeit von der Mutter bis zum Ende des Studiums. Der mit dem Tod der Großmutter eingetretene Status als Erbe ermöglicht und beschleunigt seine Lebenslinie und weist hin auf mögliche spätere berufliche und persönliche Entwicklungen des erwachsenen Markus. 108

Annalena Annalena ist zum Zeitpunkt des Gesprächs 24 Jahre alt. Sie hat ein Studium zur Realschullehrerin an der Universität in Duisburg beendet und beginnt in Kürze das Referendariat. Sie ist seit kurzem verheiratet und lebt mit ihrem Mann in einem kleinen Reihenhaus in einem Vorort von Duisburg. In diesem Vorort ist sie aufgewachsen. Mit ihren Eltern und ihrem jüngeren Bruder lebte sie bis ein Jahr nach dem Tod des Großvaters im Reihenhaus der Eltern in einer Reihenhaussiedlung. Die Großeltern sowohl väterlicherseits als auch mütterlicherseits wohnten ebenfalls in dieser Siedlung. Beide Familien besaßen dort jeweils ein kleines Reihenhaus. Beide Familien wohnen schon seit 50 Jahren in dieser Siedlung, die seinerzeit nach dem Krieg in der Phase des Wiederaufbaus teilweise in Eigenhilfe errichtet wurde. Die Gärten der beiden Familien stießen aneinander; von daher kennen sich auch die Eltern Annalenas, die bereits im ‚Sandkasten‘ miteinander ‚gespielt‘ haben. Die Wohnlage der Siedlung ist attraktiv; vor allem junge Familien haben in den letzten Jahren in der Siedlung durch den Tod ehemaliger Bewohner und Besitzer Eigentum erworben bzw. sind in die Häuser ihrer Eltern gezogen. Die Siedlung hat eine gute Infrastruktur: Eine Kindertagesstätte und eine Grundschule sind vorhanden, weiterführende Schulen sind mit dem Öffentlichen Nahverkehr zu erreichen. Es bestehen zu Fuß erreichbare Einkaufsmöglichkeiten für die Dinge des alltäglichen Bedarfs. Ein Naherholungsgebiet (Park) ist von der Siedlung aus ebenfalls zu Fuß zu erreichen. Die Siedlung verfügt zugleich über gute Verkehrsanbindung zum Citybereich und zur Universität. Annalenas Mutter hat zwei Schwestern, der Vater ist ein ‚Einzelkind‘. Die einzige Cousine Annalenas ist verheiratet, hat ein Kind und wohnt mit ihrer Familie in der Nachbarstadt von L-Burg; sie hat dort mit Hilfe ihrer Eltern und ihrer Großeltern vor einigen Jahren mit ihrer Familie ein kleines freistehendes Einfamilienhaus erworben. Annalenas Vater, 57 Jahre alt, ist Hauptschullehrer an der knapp 3 km entfernten Hauptschule, die Mutter (56 Jahre) leitet eine Kindertagesstätte im benachbarten Stadtteil. Sie haben sich als Nachbarskinder in der Siedlung kennengelernt. Nach einem Wohnen in einem benachbarten Stadtteil haben sie selbst vor zwanzig 109

Jahren für ihre Familie in der Siedlung ein freigewordenes Reihenhaus erworben; die Großeltern Annalenas wohnten seinerzeit weiterhin in ihren Reihenhäusern und ehemaligen Familienheimen der Eltern Annalenas. Eine Schwester der Mutter wohnt noch bei den Eltern. Vor drei Jahren, Annalena ist wie Markus zu diesem Zeitpunkt 21 Jahre alt, ist der Großvater väterlicherseits gestorben. Für die Großmutter wurde das Reihenhaus zu groß (ca. 120 qm /​60 qm pro Etage) und die Arbeit im Garten zu schwer, eine raumtechnisch mögliche Vermietung einer Etage des Hauses an einen Untermieter mochte sie nicht vornehmen. Nach einem Jahr bezieht sie eine barrierefreie Wohnung mit betreutem Wohnen in etwa 1 km Entfernung vom alten Wohnort. Annalena studiert in dieser Zeit noch. Sie wohnt im Familienheim ihrer Eltern. Der jüngere Bruder macht auch sein Abitur und will ebenfalls an der Universität in Duisburg studieren und während des Studiums weiter bei den Eltern wohnen bleiben. Annalena erzählte im Gespräch von einem ausreichenden Maß an Privatheit und über ein „positiv-emotionales Familienklima“ (Schneewind 1988), das für beide inzwischen erwachsenen Kindern der Familie das Verbleiben im Familienheim attraktiv mache. Sie werden vollständig umsorgt (Vaskovics et al. 1990) und dürfen so der Gruppe der ‚unvollständig abgelösten jungen Erwachsenen‘ (Schnaiberg & Goldenberg 1989) zugerechnet werden. Im Familienheim wird es aber eng, zumal beide Kinder Partner /​Partnerinnen kennenlernen und diese in den familiären Haushalt intensiver einbringen. Anders als bei den lockeren Bindungen Annalenas an Partner innerhalb der minderjährigen Jugendzeit, die sich in der Lebenswelt der Gleichaltrigen auslebten und geringere Verbindungen an das Familienheim beinhalteten – Annalena erzählt von ‚Freunden, die man eben so hat‘ -, werden nun intensivere Kontakte zur gesamten Familie geknüpft und der neue Lebenspartner in die familiäre Lebenswelt eingebunden. Annalena lernt einen vier Jahre älteren Mann kennen, der an der Universität als Mitarbeiter tätig ist und in der Nähe der Universität eine kleine Wohnung bewohnt. ‚Von da an war der bei jedem Familienfest mit dabei‘. Die beiden bleiben beieinander, die Beziehung wird fester und so planen sie nach einiger Zeit, eine gemeinsame Wohnung zu beziehen. Dann stirbt der Großvater und die Großmutter ‚räumt‘ ihr Haus ‚für die Nachkommen‘. Denn diese Entwicklung prägt die Zukunftsplanung der nachkommenden Annalena, die nun beschleunigt und verstärkt hin auf die Entwicklung einer eigenen 110

Familie zielt. Die beiden späteren Eheleute (Annalena und ihr Freund werden ein Jahr nach dem Einzug in das Haus der Großmutter heiraten) beschließen, als Eheleute und mögliche spätere Familie in der Siedlung zu bleiben. Annalena bewirbt sich auf eine Referendariatstelle in Duisburgurg; als Grund wird die räumliche Nähe und die Pflegebedürftigkeit der beiden Großeltern mütterlicherseits angegeben. Dass Annalena und ihr Ehemann zukünftig in der unmittelbaren Nähe ‚Garten an Garten‘ wohnen, empfinden auch die Großeltern mütterlicherseits als angenehm. Mit dem Bezug des Hauses der Großeltern durch Annalena und ihren späteren Mann wird so eine angenehme und pragmatische Lösung möglicher späterer Versorgungs- und Betreuungssituationen gefunden. Zwar wird im Familienkreis kurz überlegt, ob Annalenas Eltern selbst das großelterliche Haus bewohnen. Dies schließen diese aber aus. Der Bruder Annalenas wohnt noch im Haus, zudem und vor allem ist es ihr Haus, das sie selbst erworben haben und das sie eingerichtet haben, um darin alt zu werden. Annalena zieht mit dem Freund in das Haus. An die Großmutter wird eine Miete ‚am unteren Rand der Mietskala‘ bezahlt. Die Großmutter finanziert mit dieser Mietzahlung einen Teil der Kosten für die Unterbringung in ihrer neuen Wohnung; einen weiteren Zuschuss bis zur vollständigen Miethöhe des betreuten Wohnens zahlen Annalenas Eltern an die Großmutter. Weitere Erbregelungen – z.B. im Todesfall der Großmutter väterlicherseits – werden nicht getroffen. Allerdings geht Annalena davon aus, dass ‚wir auf Dauer in dem Haus leben werden‘ und dass ‚unsere Kinder darin mal groß werden‘. Alle Beteiligten empfinden die Regelung als angenehm: Die Großmutter freut sich darüber, ihrer Enkeltochter eine Freude machen zu können und ‚dass das Haus in der Familie bleibt‘. Sie hat doch besonders in den Garten so viel Mühe und Liebe investiert. Annalena erzählt an dieser Stelle, dass für sie der Garten auch zu einem neuen Hobby geworden ist; dem Garten der Eltern hat sie zuvor nicht in gleichem Maße Interesse entgegengebracht. Der Bruder wohnt im Haus der Eltern mit diesen allein und hat nun mehr Platz für die eigene Privatsphäre. Die Eltern freuen sich, dass ihre Tochter in der Siedlung bleibt und damit eine Wohntradition der Familie weiterführt; sie selbst waren ja eben aus diesem Grund in die Siedlung zurückgezogen, um den eigenen älter gewordenen Eltern nahe zu bleiben. Für Annalena ist es wichtig, in der Nähe der Eltern zu wohnen. Diese sind mit einem Alter jenseits der 55 an einer Altersgrenze, an der es wichtig ist, ‚dass die 111

Familie zusammenhält‘. Ihr als Tochter, so Annalena, käme diese Aufgabe eher zu als dem Sohn und Bruder, der schon seinen Wegzug aus in eine weiter entfernte Universitätsstadt angekündigt hat. Und Annalena ‚schreibt‘ nach dem Tod des Großvaters an ihrer eigenen zukünftigen Biographie: ‚dass war dann eben irgendwie so eine Gelegenheit. da stellen sich dann so Weichen für die Zukunft. Und da hab ich mich für diese Zukunft entschieden‘. Sie hätte sich ‚ohne diese einmalige Gelegenheit so früh in einem Haus zu wohnen‘ möglicherweise zwar nicht anders, aber doch viel später für diese, wie sie sagt, ‚recht traditionelle‘ Konzeption ihrer persönlichen und familiären Zukunft entschieden. Annalena engagiert sich seit längerer Zeit in einem Sportverein am Ort. Sie arbeitet in ihrer Freizeit als Trainingsleiterin mit jüngeren Kindern und plant, sich in den Vorstand des Vereins wählen zu lassen. Auch dies verweist auf eine ‚stabilitas loci‘, also eine Bestärkung und Stabilisierung ihrer familiären und beruflichen Lebenslinien hin auf das Erwachsenenleben, die nach dem Tod des nahen Anderen, ihres Großvaters, sich für Annalena am Ort der Herkunft und des Aufwachsens verwirklichen lässt. Ihren Lebensentwurf bezeichnet Annalena als ‚traditionell‘. Ihre Ausbildung zu beenden, im Beruf tätig zu werden, zu heiraten und eine Familie in der Nähe zum elterlichen Wohnsitz, d.h. in weiterem Kontakt zu den Eltern zu gründen, ist die Perspektive und die geplante Zielsetzung ihres biographischen Entwurfs. Die Entwicklungsaufgabe einer Ablösung vom Elternhaus durch Alleinwohnen und Partnerschaft (Chrisholm  & Hurrelmann 1995) wird erfüllt „ bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Elternbindung“ (Papastefanou 1997: 30). Das Bewohnen des großelterlichen Hauses setzt diese familiäre Tradition fort und ermöglicht Annalena eine beschleunigte und dauerhaft verstärkte Verwirklichung ihrer Lebensplanung.

Darstellung Beschleunigung (Sebastian), Veränderung (Markus) und Verstärkung (Annalena und Markus) der Lebenslinie in Richtung auf ihre Erwachsenenzeit sind die Merkmale des hier dargestellten Typs C. Sebastian, Markus und Annalena übernehmen Verantwortung für ihren Lebensverlauf und gewinnen Entscheidungsfähigkeit. Sie werden bzw. sind (früher) erwachsen. Sie verlassen nach dem Tod 112

des nahen Anderen ihre Herkunftsfamilie. Die Selbstständigkeit einer eigenen Lebensführung und ihre Konsequenzen in Bezug auf die Lebenswelten der Jugendlichen (Familie, Studium und Beruf, soziale Netzwerke und Partnerschaft) ist das bedeutsamste Merkmal des Typs C. Hier werden die Beschleunigungen, Veränderungen und Verstärkungen ihrer Lebenslinie sichtbar. Eine weiterhin bestehende ökonomische Abhängigkeit von den Eltern beeinträchtigt nicht diese Entwicklungen, zumal die Repräsentanten mittelfristig, d.h. nach der Beendigung der Ausbildung (Sebastian) und des Studiums (Markus und Annalena), auch die ökonomische Eigenständigkeit vor Augen haben. Ökonomische Autonomie von den Eltern bedeutet für Markus und Annalena dabei aber nicht die vollständige Loslösung von den Eltern, sondern die Konstitution eines neuen familiären Rollengefüges. Die Beschleunigungen, Verstärkungen und Veränderungen werden von den Repräsentanten des Typs C nicht nur in eigener Entscheidungsfähigkeit und der Entwicklung eines individuellen Lebensentwurfes vollzogen, sondern zugleich in Bezug auf familiäre Strukturen und mit Mitgliedern der Familie, mit Eltern (Sebastian, Markus und Annalena) und Geschwistern (Annalena) besprochen und ‚geplant‘. Ein wichtiges Element der Lebensplanung für das Erwachsenenalter ist auch die Festigung der Bindungen der erwachsen werdenden Kinder zu den älter werdenden Eltern. Markus und Annalena möchten den Eltern auch lokal nahe bleiben und suchen deshalb auch die Nähe zu ihrem ehemaligen Familienheim als Wohnort der Eltern. Annalena will gar an dem Ort wohnen bleiben, an dem bereits ihre Großeltern zuhause waren, an dem ihre Eltern aufwuchsen und wo nun auch die Kinder und Kindeskinder groß werden sollen. Ihr ‚Erbe‘ eröffnet ihr diese persönliche und zugleich gesamtfamiliäre Zukunftsplanung. In den Lebenswelten des Studiums, der Berufsausbildung und der Gleichaltrigen wurden alte Netzwerke verstärkt und neue Netzwerke geknüpft. In ihrer Konzentration auf die Darstellung der familiären Veränderungen schweigen Annalena und Markus zu Entwicklungen in ihren außerfamiliären Netzwerken. Sebastian erzählt sehr ausführlich, wie in alten und nach dem Tod der Mutter erneuerten Netzwerken wichtige soziale Ressourcen findet. Annalena ist eine engere Partnerschaft eingegangen und will diese Partnerschaft stärken und dauerhaft festigen. Das gemeinsame Wohnen mit dem Partner im ‚geerbten‘ Haus erleichtert ihre diesbezügliche Zukunftsplanung. 113

Beschleunigung und Verstärkung bezieht sich auch auf die Selbstständigkeit der Haushaltsführung. Markus und Sebastian lösen sich aus der Geborgenheit und Bequemlichkeit Sebastian und Annalena erfüllen entschieden und beschleunigt ihre Bildungsaufgaben; diese Zielstrebigkeit ist vor allem für Sebastian Merkmal seines neuen Selbstverständnisses nach dem Tod der Mutter. Markus erzählt aber, dass nicht näher definierte Befindlichkeiten in der Zeit nach den Todesfällen in der Familie (Großtante und Großmutter) ihn für eine Weile an der Weiterführung des Studiums gehindert hätten. Sozialrechtliche (z.B. die Volljährigkeit) und materielle (z.B. Erbschaften,, Übernahmen von Gebäuden oder auch Unternehmen) Voraussetzungen ermöglichen den Jugendlichen des Typs C, ihre Lebenslinie zu beschleunigen (Sebastian) und in ihren Lebensplanungen und -zielen bestärkt zu werden (Annalena). Bereits eingeschlagene Entwicklungslinien müssen und können nach dem Tod des nahen Anderen neu bzw. modifiziert und zugleich beschleunigt verfolgt werden (Markus); dies bedeutet allerdings für Markus aber nicht Störung und Irritation der Lebenslinien, sondern produktive Korrektur eines zuvor geplanten oder auch regressiven und diffusen Lebensverlaufes hin auf die Erwachsenenzeit. Sebastian, Markus und Annalena erzählen auch von ihrer ‚Trauer‘. Sie beziehen sich dabei zum einen auf Erzählungen der Ereignisse unmittelbar nach dem Tod, zum anderen auf ihre Befindlichkeiten zum Zeitpunkt des Interviews. Ihre ‚innere Provinz der Trauer‘ ist in ihren Erzählungen nicht von jener Dramatik geprägt, die z.B. bei den Repräsentanten des Typs B zu beobachten war. Das Leben von Sebastian, Markus und Annalena geht weiter mit großen, allerdings für sie positiven Veränderungen. Diese Veränderungen führen sie auch auf den Tod ihrer nahen Anderen zurück. Dieser Tod hat nach einer Zeit der ‚Trauer‘ zur positiven Verstärkung und Beschleunigung ihrer Lebenslinie geführt, hat also, wie es Sebastian ausgesprochen hat, sie ‚erlöst‘ und befreit zu diesen Entwicklungen. Die Repräsentanten des Typs C haben es nicht nötig, aktuelle Problemlagen und lebensgeschichtliche Konflikte mit dem Rückbezug auf das Gefühl der Trauer über den Verlust des nahen Anderen zu maskieren. Insofern sich eine Empfindung der ‚Trauer‘ der Repräsentanten des Typs C auf das Objekt dieser Empfindung rich114

tet, den toten nahen Anderen, ist dieser nahe Andere (ähnlich Lutz in Typ A) eine Person der zurückgelassenen Vergangenheit. In idealisierter Form werden die toten nahen Anderen zu Sinnträgern von Vergangenheit und Vermittlern und Garanten von vergangenen und zukünftigen Werten (Annalena und Markus); insofern verweist die Wirksamkeit ihres Lebens und ihrer Personen für die ‚trauernden‘ Hinterbleibenden zugleich in die Zukunft.

Typ D Stillstand und Regression der Lebenslinie nach dem Tod eines nahen Anderen Typ D ist gekennzeichnet durch Innehalten und Regression der Lebenslinie durch die Repräsentanten. Die Repräsentanten dieses Typs haben die Möglichkeit des Weitergehens auf ihrer Lebenslinie bereits beschritten bzw. stehen kurz davor, ziehen diese Entwicklung dann aber für eine gewisse Zeit zurück. Sie ziehen sich in die Sphäre der Familie als primärer Lebenswelt zurück bzw. haben als ältere Jugendliche zum Zweck eines Studium bereits das Elternhaus verlassen, ziehen dann aber in dieses zurück, um die Stabilität des familiären Gefüges zu sichern. Die Repräsentanten des Typs D erzählen im Interview ihre Lebensgeschichte zeitnah, d.h. innerhalb eines Jahres nach dem Tod des nahen Anderen. Es darf vermutet werden, dass die für ihren Typ festgestellten Merkmalsausprägungen des Innehaltens und der Regression der Lebenslinie eingebunden und begründet sind in einem spezifischen Trauerverhalten in der Zeit zeitnah zum Tod des nahen Anderen (nicht zu verwechseln mit der Zeit der Bestattung!). Dieses Trauerverhalten betrifft nicht eine dauerhafte ‚innere Provinz der Trauer‘, sondern eine mit dem Tod beginnende Zwischenzeit der Trauer, eine quasi sozial ‚verordnete‘ ‚Trauerzeit‘. Innehalten und Regression sind für die Repräsentanten bewusstes und gewolltes, d.h. handlungsregulatives Verhalten innerhalb dieser Zeit. Ihre Lebensentscheidungen der Regression zum aktuellen Zeitpunkt sind für sie die angemessene Art der ‚Trauer‘, das heißt des sozialen Verhaltens nach dem Tod des nahen Anderen. Ziel ihres Verhaltens ist die Reintegration der vom Tod des nahen Anderen 115

betroffenen und durch ihn desintegrierten Familie (‚… meine Eltern /​meine Mutter allein lassen‘). Insofern ist ein weiteres Merkmal des Typs D im Sinne der deskriptiven Typik die Nähe des toten nahen Anderen innerhalb der Lebenswelt der Kernfamilie. ‚Trauer‘ als Befindlichkeitskomplex ist für die Repräsentanten in ihrer ‚Trauerzeit‘ sehr vordergründig und dient als Legitimationszusammenhang für die vorgenommenen Verhaltensmuster. Stillstand und vor allem Regression setzen bereits eingeleitete und auch teilweise abgeschlossene Entwicklungsprozesse und Verläufe jugendlichen Lebens voraus, die nach dem Tod des nahen Anderen zurückgefahren bzw. angehalten werden. So werden nun im Folgenden Elisabeth und Matz als Repräsentanten des Typs D dargestellt, bei denen aufgrund ihrer Lebensentscheidungen nach dem Tod eines nahen Anderen zuvor eingeleitete voranschreitende jugendliche Entwicklung angehalten werden, d.h.: für eine gewisse Zeit nach dem Tod des nahen Anderen verbleibt der Ablauf der Lebenslinie auf einem Status Quo, oder eine einmal eingeschlagene Entwicklungslinie nach dem Tod des nahen Anderen wird von einem erreichten Entwicklungstand in einen früheren jugendlichen Entwicklungsstand ‚zurückgedreht‘. Die Verlaufsformen ihres jugendlichen Lebens werden angehalten bzw. regredieren.Stillstand und Regression beziehen sich für Elisabeth und Matz dabei auf die ‚jugendliche Entwicklungsaufgabe‘ (vgl. Göppel 2005; Papastefanou 1997) der ‚Ablösung vom Elternhaus‘.

Exkurs: Ablösung vom Elternhaus Die räumliche Trennung vom Elternhaus und selbstständiges Wohnen wird als eine entscheidende jugendliche Entwicklungsaufgabe bzw. Merkmal des Erwachsenwerdens angesehen. Die Aufgabe der Jugendzeit besteht demnach in der allmählichen Lösung von den Eltern und dem Elternhaus einschließlich des Aufbaus einer eigenen Lebenswelt Familie durch Heirat und Familiengründung (Papastefanou 1997; so zuletzt Volz & Zulehner 2009). Diesem normativen Konstrukt eines adoleszenten Lebensverlaufes stehen allerdings in der jüngeren Zeit zwei Tendenzen entgegen, die einer mutmaßlichen Entwicklungsaufgabe der Loslösung von den Eltern durch Auszug aus dem Elternhaus scheinbar widersprechen: 116

(1) Ein eigenständiges Wohnen ist für Jugendliche unter 18 Jahren empirisch kaum feststellbar (vgl. aber Amelie). Bis zum Erreichen der Volljährigkeit wohnen Jugendliche zu 97 % (Shell 2010: 68; vgl. Shell 2006) im Haus und in der Obhut ihrer Erziehungsberechtigten. Im Verlauf der nächsten Jahre der Volljährigkeit ziehen nach und nach 60 % der Jugendlichen in eine eigene Wohnung. Allerdings wohnen noch dreiviertel der Jugendlichen zwischen 18 und 21 Jahren und 38 % der Jugendlichen zwischen 22 und 25 Jahren bei den Eltern (Shell 2010: 68ff), zum einen, weil sie es als bequemer empfinden, zum anderen, weil das Wohnen bei den Eltern finanziell geboten ist. Die schon früher festgestellte Tendenz (Shell 2002; 2006) hat sich also stabilisiert: Erwachsene Jugendliche verbleiben immer länger im Haushalt der Eltern. Mit dem Erreichen der Volljährigkeit ist zwar die Tendenz einer zunehmenden räumlichen Distanzierung der Jugendlichen von den Eltern zu beobachten. Diese gestaltet sich allerdings geschlechtsspezifisch differenziert: Während bei der Mehrheit der jungen Männer bis 25 Jahre und in geringerem Maße darüber hinaus ein Verbleiben im ‚Hotel Mama‘ auch noch bei ökonomischer Selbstständigkeit nachweisbar ist (Shell 2006: 64f; 2010: 67–70), wählen junge Frauen über 18 Jahre eher ein Leben in einer eigenen Wohnung außerhalb des elterlichen Hauses bei allerdings meist weiter bestehender ökonomischer Abhängigkeit von den Eltern. (2) Zugleich verschiebt sich aber die Selbstständigkeit des Wohnens innerhalb des Familienheims in immer frühere Altersstufen: Die Autonomie innerhalb eines ‚eigenen Zimmers‘ ist aufgrund eines größeren Raumangebotes innerhalb der Wohnungen und zugleich aufgrund geringer werdender Geschwisterzahlen heute für über 90 % der deutschen Jugendlichen der Regelfall (Wetzels & Brettfeld 2003:105f). Dieses Zimmer muss nicht mit einem Geschwisterkind geteilt werden und wird mit zunehmendem Alter der Jugendlichen auch der elterlichen Kontrolle entzogen. Solche wohntechnische ‚privacy‘ (Pastalan 1970; Altman 1973a ff) macht ein Verweilen in der Geborgenheit des Familienheims auch über die Minderjährigkeit hinaus zunehmend attraktiver. Das eigene Zimmer erlaubt schon zuvor in der Zeit der Minderjährigkeit im Elternhaus den Aufbau und die Gestaltung eigenständigen Wohnens und Lebens. Ein solcher Aufbau und eine solche Gestaltung des privaten Raumes, die aber nicht notwendigerweise mit einer lokalen Distanzierung zum Familienheim und familiären Netzwerk einhergehen müssen, können freilich als eine wichtige strukturelle Entwicklungsaufgabe des Jugendlichen zur Entwicklung einer 117

‚erwachsenen‘ Individualität angesehen werden. Denn nicht erst mit dem Alleinwohnen in einer eigenen Wohnung, sondern schon zuvor in der ‚Inbesitznahme‘ des eigenen Bereiches innerhalb der elterlichen Wohnung sind verbunden: Eigene Gestaltung des Raumes (Aufräumen, Möblierung), eigene Gestaltung des Aufenthaltes im privaten Bereich (Entscheidung über Zutritt in die Wohnung, in das Zimmer). Diese Entwicklungsaufgabe wird freilich nur ‚erfüllt‘, insofern jüngeren und älteren Jugendlichen von ihren Erziehungsberechtigten diese ‚Teilreifen‘ in Bezug auf ihren persönlichen Raum zugestanden werden.

Elisabeth Innehalten der Lebenslinie Elisabeth ist 21 Jahre alt. Sie wohnt mit ihrer Mutter in einem Reihenhaus in Recklinghausen. Elisabeths Vater ist ein Jahr vor dem Interview gestorben. Elisabeth erfährt eine ‚heile’ Kindheit innerhalb einer stabilen Kernfamilie mit zwei Eltern, die ihre Fürsorge auf ihre Tochter konzentrieren. Das Familienleben und der Haushalt sind in ihren Aufgabenfeldern und Rollenkonstellationen perfekt organisiert: Der Vater steuert die Außenbeziehungen, wobei er sich als Organisationstalent auszeichnet. Die Sorge der Mutter um den Haushalt ist von Ordnung und Sauberkeit geprägt. Elisabeth ist das behütete Kind innerhalb dieses gutbürgerlichen traditionellen familiären Settings. Die Familie wird während der Kindheit und Jugend Elisabeths lokal und personal stabil bleiben. Elisabeth besucht nach dem Kindergarten die Grundschule des Wohnortes, später wie die meisten Schüler ihrer Klasse das ortsnahe Gymnasium. Ihre schulische Motivation ist leistungsorientiert, das Erreichen der Hochschulreife obligatorisch. Elisabeth wechselt mit der Oberstufe auf ein anderes Gymnasium in etwas weiterer räumlicher Entfernung eines benachbarten Stadtteils. Dies ist durchaus nicht ungewöhnlich, wählen doch OberstufenschülerInnen nach der Qualifikation für die Oberstufe die für sie geeignete Schule mit den gewünschten Kursen; dies beinhaltet auch den Wechsel der Schule (mitunter auch der Schulform). Das Interview zeigt hier aber ein hohes individuelles Handlungspotential Elisabeths: Jenseits 118

familiär vorgeprägter ‚institutioneller Ablaufsmuster’ des Lebens (Schütze 1983: 288) wird der Wunsch nach Wahrnehmen eigener Entscheidung und Verantwortung für die Biographie ausgesprochen – gegebenenfalls und möglicherweise auch in protestierender Distanz zu den Eltern und ihren gesellschaftlich vorgeprägten Lebensverläufen. So kann der Schulwechsel Elisabeths für ein partielles Heraustreten-Wollen aus solcher Enge und Normativität hin auf die Entwicklung und Verfolgung eigener und selbstbestimmter Orts- und Milieu-Identitäten sprechen. Elisabeth entwickelt ihre Lebenslinie vom Status des Kindes hin zu einem Erwachsenensein in Ablösung von elterliche Sorge und auch Bevormundung. Elisabeth absolviert das Abitur in Regelzeit mit einem gutem (1,9) Abschluss. Sie wiederholt keine Klasse. Dies spricht für ihre Leistungsorientierung (s.o.) und darin für ihren Verbleib im bürgerlichen Regelsystem des Elternhauses. Der Vater ist als Chemiker bei einem ortsansässigen Chemieunternehmen angestellt. Dies beeinflusst die Studienwahl Elisabeths, die in die ‚Fußstapfen’ des Vaters treten möchte. Auch die Möglichkeit einer berufsspezifischen Lehre als Chemie-Laborantin vor dem Studium wird im Vorfeld des Studiums angesprochen. Interviewinhalte legen nahe, hier bei Vater und Mutter jeweils unterschiedliche Präferenzen zu vermuten (der Vater hält eine vorausgehende Lehre für sinnvoll, die Mutter lehnt dies ab). Aufgrund innerfamiliärer Machtbalancen und/​oder aber auch ihrer Leistungsorientierung nimmt Elisabeth das für sie ‚recht schwere‘ Studium an der für sie gut erreichbaren Ruhr-Universität in Bochum auf. Sie bleibt weiterhin bei den Eltern im Dachgeschoss des Elternhauses wohnen. Das Elternhaus zu verlassen und an einem weiter entfernten Studienort eine eigene Wohnung zu beziehen ist für Elisabeth keine Option. Sie stellt vielmehr in der Erzählung des Interviews ihre Eltern weiterhin als den Konzentrationspunkt ihres Lebens dar; von einer festen Beziehung zu einem Freund erzählt sie gar nicht, von Kontakten zu Altersgleichen und Mitstudenten nur im Zusammenhang ihres Studiums. An welchen Orten sie diese Kontakte pflegt, bleibt unklar. Es darf angenommen werden, dass sie auch im Haus ihrer Eltern wohnend ausreichend Privatsphäre zum Einladen von Freunden und Studienkollegen genießt. Elisabeth ist die ‚unvollständig abgelöste‘ und von den Eltern im Familienheim umfassend versorgte volljährige Jugendliche (Schnaiberg  & Goldenberg 1989; Vaskovics 1990), die trotz Ausleben von durch die Gesellschaft und auch die Eltern zugestandenen Teilreifen in Bezug auf Privatheit, Aufenthaltsbestimmung und Interaktion in außerfamiliären Lebenswelten ihrer familiären Lebenswelt, 119

d.h. ihren beiden Eltern, in ihrer Lebenslinie überaus eng verhaftet bleibt. Elisabeth ist gern weiterhin Kind ihrer Eltern. Der Vater erleidet kurz darauf einen Herzinfarkt, liegt einige Tage auf der Intensivstation und unterzieht sich dann stationär einer Reha-Maßnahme. Für Elisabeth markiert dieses Ereignis in zeitlicher Koinzidenz mit auftretenden Schwierigkeiten im Rahmen des Studiums (s.u.) einen entscheidenden Einschnitt in ihrem Lebensverlauf. Der vor allem auch in der Person des Vaters gewährleistete ‚normale’ Verlauf ihres kindlichen Lebens wird unterbrochen. Pointiert kann gesagt werden: Durch die Krankheit des Vaters verliert Elisabeth ihren Status als Kind. Sie erleidet diese Veränderungen als Verlaufskurve. Als ein Kind, dass seinen Vater verliert, steht sie hilflos, ohnmächtig und handlungsunfähig dieser neuen Situation gegenüber. Bewältigungsstrategien wurden innerhalb ihres bisherigen Lebensverlaufes nicht gelernt und waren auch nicht notwendig. Elisabeth stellt im Interview ihren Vater als personifizierte Bewältigung von eigenen Schwierigkeiten und Problemen dar. Er ist im Zusammenhang des familiären Rollengefüges von Eltern und Kind vor allem der auch körperlich manifeste Hort der Stabilität und der personalen und wirtschaftlichen Sicherheit. Er ist der ‚stabile Fels in den Brandungen des Lebens’, der ruhende Pol der Familie. Er kann alles und er macht auch alles – vor allem auch für die Tochter: ‚Papa macht es heile’. In Bezug auf die Studieninhalte ist er für Elisabeth ein ständig erreichbarer Gesprächspartner. Der Vater„kann“ nun aber nicht mehr alles schaffen. Elisabeth erlebt ihn schwach und hilfebedürftig. Der Vater ist auch körperlich nicht mehr anwesend (zunächst im Krankenhaus, dann in der Reha-Klinik), d.h. der auch körperlich manifeste Hort kindlicher Geborgenheit und damit bisher erlebte Stabilität drohen verloren zu gehen. Das vom Vater geprägte und unterstützte Bild einer angestrebten Biographie verändert sich, Leistungs- und Erfolgsideologien werden fragwürdig (dies wird von Elisabeth im Interview in den argumentativen Teilen wiederholt betont). Elisabeth erleidet eine Katastrophe (im Wortsinn). Elisabeth erlebt Schwierigkeiten innerhalb ihres Studiums. Ob und inwieweit die Erkrankung des Vaters und die Schwierigkeiten Elisabeths im Studium korrelieren, kann nicht geklärt werden (s.u.). Eine relative zeitliche Nähe der Ereignisse liegt aber vor, kausale Zusammenhänge können nicht ausgeschlossen werden. Eine erste von mehreren wichtigen und bereits angemeldeten Klausuren besteht Elisabeth nicht. Die Probleme im Studium deuteten sich möglicherweise schon 120

zuvor an, aber in den Prüfungssituationen werden sie manifest. Wie die Erkrankung des Vaters versteht Elisabeth auch den Einbruch im Studium als eine Verlaufskurve, der sie sich hilflos ausgesetzt fühlt. Die von ihr in Bezug auf beide biographische Daten so empfundene und verknüpfte „Ereigniskaskade des Erleidens“ (Schütze 1981: 97) wird sie im Interview rational als ‚Erleiden’ eines individuellen Krankheitsverlaufs ihrer eigenen Person deuten und legitimieren. Elisabeth wird in dieser Situation körperlich krank. Es kann vermutet werden, dass sie in der konkreten Lebenssituation zugleich wahrnimmt, wie sie den Anforderungen des Studiums nicht mehr gewachsen ist. Das wäre auf der Grundlage bisheriger Lebensorientierungen allerdings eine schmerzhafte Erkenntnis und würde zu Statusunsicherheit führen (ein Studienabbruch ist für sie sozial negativ konnotiert). Vielleicht nimmt sie aber auch die Gefährdung ihrer beruflichen Perspektive wahr: Mit einem endgültigen Nichtbestehen einer Prüfung kann sie das angestrebte Studien- und Berufsziel nicht mehr erreichen. Elisabeth besinnt sich auf frühere Überlegungen (vor einem Studium eine Lehre als Chemielaborantin zu absolvieren), die mögliche Entscheidung zur Aufnahme der Lehre wird (im Nachhinein des Interviews) rational und studienerfolgsorientiert gedeutet (mit Verweis auf erfolgreiche Mitstudenten, die zuvor eine Lehre absolvierten). Der Vater hätte sich in dieser Situation für eine solche Option ausgesprochen, so vermutet Elisabeth (dass sie mit ihrem Vater während seiner Krankheit darüber gesprochen hat, ist nicht erkennbar – wollte sie ihn damit nicht ‚belasten’?). Mutter und Tochter sind innerhalb der zwei Wochen des Reha-Aufenthaltes des Vaters allein im familiären Haus. Die Strukturen des ehemaligen familiären Interaktionsfeldes Vater-Mutter-Kind werden aber beibehalten, der Vater ist auch bei körperlicher Abwesenheit durch Kommunikationsmedien (Telefon) und Besuche weiterhin Mitglied dieses Feldes. Hinzu tritt aber eine dyadische Beziehung von Mutter und Tochter jenseits der Konzentration auf die Person des Ehemannes und Vaters. Das Interview lässt die Vermutung zu, dass sich diese Beziehung nicht unproblematisch gestaltet, weil sich diese Beziehung in der Abwesenheit des Vaters neu organisieren muss. Elisabeth kann in der Dyade Mutter-Kind nicht mehr in der quasi kindlichen Beziehung zu den beiden Eltern verbleiben. Mutter und Tochter bleiben räumlich aufeinander bezogen, leben bei Wahrung und mögli121

cherweise Verstärkung von beiderseitiger Privatheit gemeinsam in einem Haushalt, leben Gemeinsamkeiten in ihren Sorgen und Befürchtungen, Hoffnungen und Zukunftsperspektiven in Bezug auf den kranken Vater als Kristallisationspunkt ihres nun gemeinsamen Lebens. Beide organisieren gemeinsames Leben für sich selbst und in Bezug auf die Person des Vaters (Besuche, Gespräche, warten auf den allabendlichen Telefonanruf – es ist auch insofern kein Zufall, dass Elisabeth ‚eines abends’ im Hause ist). Insofern der Vater immer noch Teil des Interaktionsfeldes der Familie ist, nimmt er auch seinerseits wie vor der Zeit seiner Krankheit und seiner Abwesenheit Einfluss auf die Ausgestaltung der zweiseitigen Mutter-Tochter-Beziehung. In einem Anruf bezieht er die beiden im schlimmsten Fall (seines Todes – mit dem er rechnet) aufeinander (‚ihr beiden werdet das schon schaffen ohne mich’). Elisabeth versteht das ‚Testament‘ des Vaters als gegenseitige Verpflichtung zur Zweisamkeit. Zu vermuten ist aber, dass in dieser Zweisamkeit nun auch Konflikte aufbrechen: Unterschiedliche personale Orientierungen und Valenzen (die Mutter bezieht sich mehr auf den Ehemann als auf den Vater des gemeinsamen Kindes, die Tochter erlebt die Mutter nun als Rivalin in der Zuneigung des Vaters) und Lebensperspektiven (z.B. in der Freizeitgestaltung, in der beruflichen Perspektive sowohl der Mutter als auch der Tochter, bei Ordnungsvorstellungen im gemeinsamen Familienheim) stehen sich gegenüber. Die Rollen dieser neuen Zweisamkeit von zwei erwachsenen Frauen in einem Haushalt sind noch nicht ausgehandelt (die Rollen eines Eltern-Kind-Haushaltes mit der minderjährigen Elisabeth standen fest), das Ergebnis der Aushandlung ist unsicher und wird sich möglicherweise zunächst an alten Konstellationen orientieren. Das neue Miteinander von Mutter und Tochter (manifest nach dem Tod des Vaters und Ehepartners) muss erst noch gelernt werden. Im Interview wird Elisabeth dieses Lernen und die Definition ihrer neuen Rolle mit dem Begriff des ‚Helfens’ beschreiben. Elisabeth verbleibt in der Zweisamkeit mit der Mutter, um ihr zu helfen. In einem ‚biographischen Wandlungsprozess‘ (Schütze 1981; 1983; 1984: 92 u.ö.) wäre damit eine neue Rolle projektiert, die aber jenseits einer Option der räumlichen und persönlichen Verselbstständigung einer volljährigen Elisabeth diese bis auf weiteres als Tochter und Kind an die Mutter bindet. Für die volljährige Elisabeth ist dies allerdings eine ‚erwachsene‘ Rolle der Mutter gegenüber, insofern jene nun in ihrer Schwäche wahrgenommen wird und deshalb der Hilfe durch die erwachsene Tochter bedarf. In Bezug auf die Aufgabe einer Entwick122

lung hin zu einer erwachsenen Selbstständigkeit aber, die nach dem Erreichen der jugendrelevanten Teilreifen allein noch in Bezug auf eine Autarkisierung der Lebensführung aussteht, ist es weiterhin eine quasi Kind- Rolle der vom Elternhaus ‚noch unvollständig abgelösten‘ und weiterhin im Familienheim umsorgten Elisabeth. Forschungen zum Wohnverhalten von volljährigen Jugendlichen (s.o.) zeigen zwar, dass die Attraktivität bzw. die wirtschaftliche Notwendigkeit dieses in Bezug auf eine Entwicklung hin zum Erwachsensein ‚innehaltenden‘ Lebensverlaufes für volljährige Jugendliche und junge Erwachsene aus unterschiedlichen Gründen hoch ist. Für Elisabeth als Repräsentantin des Typs D aber ist ihre Entscheidung für ein Verbleiben bei der verwitweten Mutter im Elternhaus ein nach und im Zusammenhang mit dem Tod ihres Vaters vorgenommenes bewusstes und selbstbestimmtes Innehalten und Stoppen ihrer Lebenslinie und ihrer Entwicklung hin zu einer erwachsenen Selbstständigkeit. Elisabeth stehen andere Optionen offen (s.u.), aber sie entscheidet sich, ihrer Mutter in der Situation nach dem Tod des nahen Anderen für eine unbestimmte Zeit ‚beizustehen‘, d.h. mit ihr weiterhin in einer engen Wohngemeinschaft, wenn auch weniger von Eltern und Kind, aber doch von Mutter und Tochter, zu leben. Ein Wegzug Elisabeths nach den Tod des Vaters würde die vollständige Auflösung der ehemaligen Familie bedeuten; auch deshalb will Elisabeth weiterhin mit der Mutter im Familienheim wohnen; ähnliches wird bei Matz zu beobachten sein. Nach zwei Wochen stirbt der Vater innerhalb der Reha-Maßnahme. Die Nachricht vom Tod erreicht Mutter und Tochter in ihrer offenen und problematischen und in ihren Strukturen noch nicht ausgehandelten Zweisamkeit im elterlichen Haus. Es geht bei diesem Datum nicht nur um das Faktum des mitgeteilten Todes an sich und wie Tochter und Mutter damit umgehen, sondern auch um die damit eröffnete Interaktion von Mutter und Tochter in der Ausbildung ihrer Rollen zueinander als Teile der nun manifesten Zweisamkeit, also was beide jeweils an der anderen im Zusammenhang der Nachricht vom Tod des Vaters und Ehemannes wahrnehmen und wie sie es wahrnehmen und auf ihre Beziehung deuten. D.h.: Hier haben sich Beziehungsgestaltungen entschieden – also auch daraufhin, wie es mit der Beziehung zwischen Mutter und Tochter weitergeht, auch weil das verbindende Element des Vaters nun aus dem Interaktionsfeld herausgefallen ist. Die Familie (nicht nur Elisabeth und die Mutter, sondern auch andere Verwandte) treffen nun Vorbereitungen zur Bestattung. Notwendige Gespräche mit dem 123

Bestatter und dem Pastor als Vorbereitung auf die Beerdigung werden gemeinsam geführt; die Beerdigung selbst zeigt Mutter und Tochter als ‚trauernde’ Einheit. Hier muss die Familie zusammenhalten. Im Gespräch mit dem Pastor zeigt sich Elisabeth schweigsam und mehr in der Rolle der Beobachterin. Beim Bericht über Vorausgegangenes gehört der Mutter das Vorrecht der Berichterstattung. Für Elisabeth ist sie im Interview diejenige, die mehr ‚trauert’, die stärker betroffen ist, die mehr ‚leidet’ und der es ‚schlechter’ geht. Gemeint sind hiermit weniger individuelle Befindlichkeiten, deren Stärke und Bedeutung messbar wären. Wer mehr ‚leidet‘ und wem es ‚schlechter geht‘, ist Ergebnis von vorausgehender Interaktion und Kommunikation im (standardisierten) Prozess der Trauer. Diese Standards richtigen Trauerns weisen zu, welche Befindlichkeiten und Verhaltensweisen Mutter und Tochter jeweils unterschiedlich veräußerlichen können und sollen. Im Gespräch berichtet die Mutter vor allem von ihrer Beziehung zum Ehepartner. Wie aber Elisabeth sich ‚fühlt‘, welche Rolle im Prozess sie sich zugesteht (bzw. ihr zugestanden wird) in Bezug auf ihre nun verloren gegangene Beziehung zum Vater und in Bezug auf die Person der Mutter, bleibt zunächst offen. Elisabeth erzählt nun ihr Leben nach dem Tod des Vaters zunächst in Sicht auf ihre Person als Akteurin ihrer Biographie. Sie bricht ihr Studium ab; weitere Klausuren stehen vor der Tür, an deren Bestehen sie nicht mehr glauben kann. Sie beginnt die bereits angedachte Lehre. Durch Wegfall der alten Kindesrolle wird Elisabeth aber nun frei zur eigenen Lebensgestaltung. Elisabeth weiß um diese Freiheit, sie nimmt diese auch wahr und fühlt sich ‚gut’ dabei. Was zuvor innerhalb der Machtbalancen des familiären Spielgefüges entschieden wurde, wird nun ihre eigene, selbstbestimmte Entscheidung. Elisabeth ist stolz auf diese neue Position in den familiären Rollenkonfigurationen von Mutter und Tochter. Diese Position wird unter anderem auch durch die nun entstehende größere finanzielle Unabhängigkeit durch ihr Lehrlingsgehalt manifest. Elisabeth wird von weiteren Zuwendungen durch die Mutter auch finanziell unabhängiger. Sie kann ihre ‚jugendlichen Entwicklungsanforderungen‘ nun erfüllen, der Tod des Vaters wäre hierbei gar ein diese Entwicklung beschleunigender Faktor (vgl. Typ C). Aber: Elisabeth nimmt diese Optionen einer neuen Selbstständigkeit auch in der nachträglichen Deutung des Interviews nicht vollständig wahr und vor allem nicht ernst. Sie erzählt im Rückblick auf die Zeit nach dem Tod des Vaters nicht 124

etwa von ihren höchst aktiven Erkenntnissen bei der Beurteilung ihrer Studiensituation und der daran anschließenden Entscheidungsfindung beim Abbruch des Studiums und der studienimmanenten Ursachen dieses Abbruchs. Sie berichtet nicht davon, dass sie nun einen durchaus alternativen, zukunftsfähigen Berufswegs selbstbewußt beschreiten möchte, sondern sie benennt zuallererst eine ‚erleidende‘ Anspannung z.B. durch ihre nun entstehende eigene Krankheit; diese, und nicht ihre eigenen Überlegungen, sind Begründung ihres Leistungseinbruchs und deshalb Legitimation für das Verlassen des zuvor eingeschlagenen Studienund Lebensweges. Es ging ihr gar nicht gut, obwohl es ihr doch gut gehen dürfte und auch sollte. Elisabeth war in der Zeit nach dem Tod des Vaters zweifellos erkrankt. Die Ursachen der Erkrankung bleiben für sie unklar. Diese Erkrankung dient ihr aber nun als kausales Deutungsmuster späteren Verhaltens und späterer Handlung. In der Zeit unmittelbar nach dem Tod des Vaters geht es beiden Hinterbleibenden ‚schlecht‘. Der richtige Zeitpunkt, einen neuen Lebensweg zu beschreiten, ist innerhalb dieser Trauerzeit noch nicht gekommen. Der Tod, d.h. das Trauerritual hat in dieser Trauerzeit die ‚Handlungshoheit‘. Auch für Elisabeth ist der Vater in der Zeit des Interviews deshalb ein noch durchaus ‚lebendiger‘ Teil des Interaktions- und Handlungsgefüges. D.h.: So sehr Elisabeth de facto handlungsaktiv ihre neuen Lebenslinien in Bezug auf die Lebenswelten der Familie und der beruflichen Ausbildung verfolgt, so unsicher ist sie doch aufgrund ihrer Befindlichkeiten und der Emotionen der Mutter in der Trauerzeit. Diese Befindlichkeiten veräußerlichen sich für Elisabeth dann auch somatisch. Dies wirkt sich aus auf ihre quasi ‚gefühlte‘ Handlungsfähigkeit und damit auf ihre Motivation, das alte minderjährig-jugendliche Rollengefüge des Wohnens bei den Eltern, nun bei der Mutter, zum aktuellen Zeitpunkt zu verlassen. Sie will in dieser Trauersituation zunächst noch jene alten Konstellationen beibehalten, und sie ist sich aufgrund ihrer aktuellen Befindlichkeiten auch noch gar nicht sicher, wann sie die vor ihr liegenden Möglichkeiten einer neuen, nun mehr erwachsenen Rolle, ergreifen soll. Diese neue Rolle spielt sie nun zuhause im Beziehungsgefüge von Mutter und Tochter. Grundlage dieses Gefüges ist das gemeinsame Wohnen im Elternhaus. Sie bleibt bei der Mutter wohnen, weil sie dieser nach eigenem Willen eine Stütze sein möchte, und darin erweist sie sich vor sich selbst und anderen als selbstbestimmende erwachsene Jugendliche. 125

Welche Implikationen hat dieses ‚stützen’? Ist es ein Nicht-allein-lassen einer sonst sehr einsamen Witwe? Will Elisabeth ihrer Mutter in einer gemeinsamen ‚Trauerarbeit‘ bei einer ‚Sinnfindung’ durch Deutung des Todes helfen, auf dass ihr selbst dabei geholfen werde? Bezieht sich das ‚stützen’ gar auf die finanzielle Unterstützung, d.h. nun die Mitbeteiligung an der Aufrechterhaltung des gemeinsamen Haushaltes durch eigene Mittel von Seiten Elisabeths (des Lehrlingsgehalts)? Möglicherweise wird oder auch muss die Mutter Teile des Hauses vermieten oder sogar das Haus aufgeben und für sich selbst eine neue Wohnung suchen. Die ‚Auflösung‘ einer ehemals vor dem Tod des Vaters ‚intakten‘ Familie wird damit augenscheinlich. All dies wird Elisabeth wollen bzw. nicht wollen. So nimmt sie die Möglichkeit der Um- und Ausgestaltung ihrer Biographie nach dem Tod des nahen Anderen im Lebensfeld des Studiums und der Berufsausbildung selbstbestimmt handelnd wahr, bindet sich aber in diesem Handeln weiterhin in das familiäre Interaktionsfeld ein. Und sie stellt diesen ‚lebensgeschichtlichen Prozessablauf ‘ (Schütze 1981) im Interview nicht im Sinne einer positiven selbstbestimmten Handlungsorientierung dar, sondern als ‚Erleiden‘, d.h. ihr Verhalten erscheint ihr zugleich als aufgezwungen, als etwas, was sie in ihrem Leben unmittelbar nach dem Tod des Vaters tun muss innerhalb eines Prozesses, in dessen Ablauf sie reaktiv eingebunden ist. Für Elisabeth ist dies ein Innehalten bzw. gar ein Rückschritt auf ihrem Weg in die erwachsene Selbstständigkeit. Warum vollzieht Elisabeth für ihren Lebenslauf und ihr Verhalten nach dem Tod des nahen Anderen dieses Innehalten? (1) Für Elisabeth ist dieses Verlaufsmodell zunächst naheliegender und auch für sie selbst mental und praktisch bequemer. Sie hat ihren Lebenslauf in Kindheit und Jugend ohne große Krisen oder gar Abbrüche orientiert an ‚gutbürgerlichen‘ Ablaufmustern jugendlichen Lebens geprägt erlebt. Das implizierte eine Befreiung vom Zwang eigener wichtiger Lebensentscheidungen (vgl. aber die Entscheidung zum Schulwechsel) und zugleich den Entzug eigener Handlungskompetenz. Das führte für sie positiv zu Geborgenheit und Sicherheit im Schoß ihrer Familie, konzentriert und personifiziert in der Person des Vaters. Dieses biographiesichernde ‚normale’ Konstitutionsmerkmal ihres bisherigen Lebensverlaufes behält sie trotz des nun manifesten Abbruchs durch den Tod des Vaters, der für sie eine neue Rolle und für die Zukunft ausschließlich eigene Handlungskompetenz erfordert, partiell weiterhin bei. 126

(2) Elisabeth benutzt den Rückbezug auf den Vater als Legitimationshintergrund für ihr Verhalten in der Gegenwart in ihren unterschiedlichen Interaktionsfeldern und vor allem auch in der Familie der Mutter gegenüber. Der Vater ‚lebt‘ nicht nur in ihren Gedanken, sondern auch in ihren Entscheidungen noch ein wenig weiter. Er ist noch nicht endgültig bestattet. Elisabeths Innehalten ist aber nicht nur Element eines Trauerrituals, sondern dient als Konstitutionselement neuer Rollenkonfigurationen; der Vater wird als Ratgeber in ‚zukünftige Entscheidungen mitgenommen (‚was würde er zu meine Entscheidungen sagen?‘). Der Mutter traut Elisabeth eine Ratgeberrolle für ihre, Elisabeths, Lebensentscheidungen zur Zeit nicht zu. Im Gegenteil: Diese benötigt selbst ja in der aktuellen Lebenssituation Hilfe und Unterstützung durch die Tochter. Für sie übernimmt Elisabeth Rollenelemente, die ehemals der Vater innerhalb der Familie ausfülle: Sie wird in der Mutter-Tochter-Zweisamkeit der ruhende, rationale Pol, die Praktikerin, die die Weihnachtsbaumbeleuchtung erstellt und die auch sonst noch der Mutter eine Stütze ist. (3) Der von Elisabeth erlebte, gelebte und erzählte Verlauf ihrer Lebenslinie und ihr eigenes Verhalten nach dem Tod des Vaters sind auch begründet und geprägt durch spezifisches Verhalten in einer Zeit der ‚Trauer‘. Elisabeths Verhalten ist ‚Trauer‘ , ist geprägtes Verhalten einschließlich spezifischer Befindlichkeiten in der Zeit nach dem Tod des nahen Anderen mit dem Ziel der Stabilisierung der Restfamilie. Deshalb hält Elisabeth ‚inne‘, widmet sie sich mit ihrem Verbleiben im Familienheim emotional und psychisch der anderen hinterbliebenen Person des familiären Kollektivs, der Mutter. Diese möchte sie nicht allein lassen. Auch ihr selbst und ihren Befindlichkeiten entzöge eine nun mögliche Distanzierung zur Mutter die nötige Wärme und Geborgenheit. Auch aus diesem Grund verbleibt Elisabeth in der ‚Trauerzeit‘ im Familienheim gemeinsam mit der Mutter. Das Innehalten in einem Status Quo der Lebenslinie scheint Bestandteil eben dieser ‚Trauerzeit‘ bis zu einer ‚endgültigen‘ Bestattung (Hertz 1907) zu sein. Allerdings: So wie diese Trauerzeit in der Zeit des Interviews zweifellos besteht und andauert, so ist das Ende einer solchen Trauerzeit und die Eröffnung neuer Handlungsmöglichkeiten und Entwicklungslinien für Elisabeth eine Option der Zukunft, wenn auch in Bezug auf den Zeitpunkt des Endes durchaus offen.

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Matz Funktionale Regression in die Familie Verbleibt Elisabeth nach dem Tod des nahen Anderen im Familienheim und schiebt eine mögliche Verselbstständigung des Lebens bis nach das Ende einer ‚Trauerzeit‘ auf, so kehrt Matz nach dem Tod des Bruders für diese Trauerzeit nach einer Zeit des Alleinwohnens zurück in das elterliche Familienheim. Matz ist 23 Jahr alt. Er wohnt im Haus seiner Eltern mit diesen gemeinsam in einem östlichen Vorort von Bochum. Er studiert zum Zeitpunkt des Interviews an der Techn. Universität Dortmund Soziologie im 1. Semester. Dies ist sein zweiter Studiengang. Den ersten hatte er im Semester zuvor abgebrochen. Er hatte 3 Jahre vor dem Interview ein ingenieurswissenschaftliches Studium in Braunschweig aufgenommen. Am Studienort hatte er eine kleine Wohnung bewohnt. Matz‘ 18 Monate älterer Bruder Felix ist während Matz‘ Studienzeit in Braunschweig und ein Jahr vor dem Interview verstorben. Er litt seit früher Kindheit an einer zunehmenden körperlichen Behinderung. Seine intellektuellen Fähigkeiten waren durch die Erkrankung nicht eingeschränkt, obwohl seine Umgebung ihm dies unterstellte. Gut zwei Jahre vor seinem Tod macht er das Abitur an einer Schule für Körperbehinderte und studiert anschließend an der Fernuniversität in Hagen Kulturwissenschaften. Felix war in früheren Jahren durchaus in der Lage, körperlich mit Gleichaltrigen mitzuhalten und auch sportliche Aktivitäten zu ergreifen. Seine körperliche Verfassung wurde aber nach und nach immer schwächer, er wurde pflegebedürftig und war in den letzten zwei Jahren vor seinem Tod zudem auf eine regelmäßige stationäre Behandlung angewiesen. Matz berichtet über häufige zusätzliche Einweisungen in ein Krankenhaus aufgrund der Erkrankung. Die Lebenserwartung von Felix‘s wurde als gering eingeschätzt. Matz schildert das geschwisterliche Leben an vielen Stellen als durch die Behinderung und die Schwäche des Bruders problematisch: ‚dieses Bruderverhältnis war 128

ja immer ein bischen. anders eben weil der eben krank war und weil der viel im Krankenhaus war und weil der eben sehr schwach war und seine Möglichkeiten sehr begrenzt waren irgendwas zu machen dann auch‘. Die Brüder ‚lebten’ sich auseinander. D.h.: Sie lebten in unterschiedlichen Lebenswelten. Sie besuchten nicht die gleiche Schule, sie hatten nicht den gleichen Freundeskreis, gemeinsame Außenkontakte geschahen nur gelegentlich und ‚wenn mal‘, dann im Rahmen einer Art von Betreuungsprogramm, in dem sich der jüngere, gesundere Bruder ‚mal‘ um den kranken Bruder kümmerte. Der geschwisterliche Interaktion verlief so fast ausschließlich innerhalb der familiären Lebenswelt und ihres sozial-räumlichem Handlungszusammenhangs. Innerhalb dieser Lebenswelt war die Beziehung von Matz zu Felix von dessen Krankheit und ihren innerfamiliären Anforderungen und Konsequenzen geprägt. Die Familie verstand sich als Pflegegemeinschaft, deren Mittelpunkt der kranke Bruder bildete. Für Matz war diese familiäre Konstellation problematisch und konfliktbehaftet: ‚viele Leute haben mich immer befragt. ja fühlst du dich nicht benachteiligt‘. Diese Wahrnehmungen und Beurteilungen von Dritten zu seiner Situation sind nicht substanzlos: Die häusliche Situation mit seinem kranken und pflegebedürftigen Bruder wurde für Matz zunehmend eine dauerhafte Belastung und auch persönlich so empfundene Benachteiligung. Seine wortreichen Beschwörungen geschwisterlicher Nähe im Interview deuten darauf hin, dass zum einen von Matz diese Nähe innerhalb der Pflegegemeinschaft erwartet wurde und zum anderen er exakt diese Herstellung bzw. Aufrechterhaltung dieser Nähe innerhalb der Pflegegemeinschaft Familie zunehmend und letztlich durch Auszug aus dieser Gemeinschaft dann auch grundsätzlich verweigerte. Matz äußert zwar, dass dies alles für ihn ‚nie n Problem so‘ war. Aber diese Aussage ist wenig glaubhaft und im durch Matz durchgeführten Vergleich der beiden Brüder (‚weil ich nie mit ihm tauschen wollte‘) zudem entlarvend. Matz fühlte sich durch die häusliche Situation in Bezug auf seine eigene Lebensführung zunehmend belastet und in seiner Empfindung, wenn nicht zurückgestellt, so doch zu wenig ‚wertgeschätzt‘, um im Rahmen dieser familiären Konstellation weitere Ressourcen zu generieren. Matz reagierte auch auf diese Situation, indem er sein erstes Studiums in Braunschweig aufnahm. Dazu musste an den Studienort umziehen. Es wird ihm nicht schwer gefallen sein, seine alte familiäre Lebenswelt zum gegebenen und auch geeigneten 129

Zeitpunkt zu verlassen und am Studienort zu wohnen und zu arbeiten. Eine ständige Gegenwart in der Familie war für ihn nicht mehr attraktiv. Im Gegensatz zu Gleichaltrigen, deren Auszug aus dem Zusammenhang der Familie als altersgerecht zu bezeichnen ist – und Matz folgte ja einem vorgegebenen Muster des Auszugs und des Wohnens am Ort des Studiums – erfolgte dieser Auszug für Matz aber im Zusammenhang der Pflegesituation und der damit verbundenen Handlungszwänge. Matz wird seinen Auszug ähnlich Amelie, wenn auch nicht so dramatisch ‚gefühlt‘, als eine ‚Vertreibung‘ empfunden haben. Das ‚Programm’ der Pflegesituation in Matz‘ Familie war seit Jahren auf die Pflege des Bruders bezogen. Diese war Aufgabe der familiären Pflegegemeinschaft, sein Wohlergehen das Ziel, ‚weil das für Felix wichtig war‘. Alle Angehörigen der Familie verhielten sich ‚pflegegerecht’. Das elterliche Haus war pflegegerecht ausgestattet, wenn Matz nach D-Stadt fuhr, um für den Bruder notwendige Dinge zu besorgen, gehörte sein Verhalten einschließlich der einzuschlagenden Wege zum ‚Programm’ der Pflegegemeinschaft. Matz war in dieses Setting ‚zwanghaft’ eingebunden: als jüngerer, ‚gesunder’ Bruder spielte er im Zusammenhang die Rolle dessen, der in der Logik der Gemeinschaft zurückgestellt bzw. belastet werden darf und dennoch zufrieden und glücklich sein soll mit seinem Schicksal – ist er doch gesund und sein Bruder krank. Matz‘ Bemerkung zu diesem Zusammenhang erscheint ‚Dissonanz reduzierend’ (Festinger 1957). Diese Pflegegemeinschaft bewertet er im Zusammenhang des Interviews deshalb programmgemäß als unproblematisch, ‚weil ich nie mit ihm tauschen wollte. weil ich eben froh war dass ich gesund bin‘. Dann aber distanziert sich Matz physisch und emotional von seiner Familie und deren Programm; und dabei agiert er höchst aktiv. Er distanzierte sich darin auch von seinem Bruder. Der ist krank, er selbst ist gesund, und das ist ein Abgrenzungsmerkmal. Felix ‚muss’ ein Heimstudium an der Fernuniversität aufnehmen, Matz selbst kann und will etwas später ‚in die Fremde‘ ziehen und ein eigenes und selbstbestimmtes ‚Programm’ jenseits des familiären führen. Dieser Auszug einschließlich des zeitweiligen Alleinewohnens ist Handlung altersgerechter ‚Abnabelung’ vom Elternhaus, es erscheint aber noch mehr als ein ‚aus dem Feld gehen‘ im Sinne einer bewussten physischen, d.h. räumlichen Distanzierung zum häuslichen Pflege-Setting und seinen Programmpunkten. Die distanzierende Ent130

fernung nach Braunschweig mit der gleichzeitigen geplanten und wohl überlegten Option der entfernungstechnisch unkomplizierten (‚drei Stunden mit dem Zug’) zeitweiligen Rückkehr in die Geborgenheit bestehender Beziehungen am Heimatort erweist Matz‘ kontrollierendes Handeln. So ist er am Todestag bei seiner Freundin in Dortmund. Eine alternative Studienentscheidung, auf die er später zugehen wird, steht ihm auch schon zuvor zumindest als Option offen. Aber dies hätte zugleich bedeutet, in die familiäre Pflegegemeinschaft und ihr Programm weiterhin eingebunden zu sein und sich eben nicht daraus lösen zu können. In diese Gemeinschaft wird er aber beim Tod des Bruders wieder hineingeholt. Matz erzählt gleich zu Beginn des Interviews von solcher ‚Heimholung’: Über Handy, das eine ständige Rufbereitschaft möglich macht, wird er gebeten nach Hause zu kommen. Ich bin dann nach Hause gefahren. Die Heimholung ist abrupt, Matz gibt im Interview den ‚Befehl‘ (fast) wörtlich wieder: ‚komm nach Hause‘. Matz fühlt sich in diesem Moment erneut in die Pflegegemeinschaft eingebunden fühlt; er erzählt, wie er dieser Heimholung unverzüglich und widerspruchsfrei folgt. Er wird wieder zu einem Teil der Familie. Wie Matz sich nun verhält, erscheint als ein konstantes Verhaltensmuster innerhalb des Pflegekollektivs, in das Matz zurückfällt und in dessen Mittelpunkt allerdings der nun tote Bruder rückt. Es wird im weiteren Aufgabe der engeren und nun angesichts des Leichnams auch erweiterten ‚Familie’ werden, sich nun im Tod weiterhin um Felix zu kümmern, in dem dieser dann auch ‚nicht allein sein wird, weil die Leute sich um ihn kümmern‘. Die erneute Einbindung in das Kollektiv ist dem Tod des Bruders geschuldet und seiner Normativität. Die Leiche des Bruders wird zum Mittelpunkt weiterführender Handlungen. Das Familienkollektiv Matz‘ verändert sich vom Pflegekollektiv zum Bestattungskollektiv. Es hat die Aufgabe der Bestattung des Leichnams des Bruders. Dies ist eine durch verschiedene Professionen (Bestatter, Geistliche) unterstützte Aufgabe der Familie. Die Bestattung des toten Bruders war die eine Aufgabe des alten familiären Systems und seines Programms. Dieser Aufgabe hat die Familie erfolgreich erfüllt. Nun kommt eine weitere Aufgabe der Familie in den Blick: Die Familie ist durch den Tod des Bruders desintegriert. Sie hat nach der Bestattung und einer folgenden Trauerzeit in der alten Form  –  als Pflegegemeinschaft und mit altem Programm – keinerlei Funktionen mehr. Insofern muss das System Familie sich neu 131

ordnen, sein ‚Programm‘ neu schreiben. Die Teilnehmenden an diesem familiären System müssen ihre Biographie neu schreiben, Beziehungen zueinander und intrafamiliäre Rollen müssen neu bestimmt werden. Bricht nun aber die Familie als Ort-Zeit-personaler Zusammenhang auseinander, wenn z.B. der jüngste Sohn nun die vollständige Ablösung vollzieht? Einem solchen Auseinanderbrechen steht die Forderung eines Trauerrituals entgegen, das gefährdete System zu stabilisieren. Dieser Forderung entspricht Matz nun, möglicherweise unbewusst aber durchaus im Rahmen ‚richtigen Trauerns‘. Er muss in die Familie zurückkehren, damit und solange diese sich regeneriert und neu konstituiert (die Familie soll zusammenbleiben). Aus diesen Gründen kann Matz nun nach der Beerdigung und einer gewissen Anwesenheitszeit im Haus der Eltern aus ‚Trauergründen’ nicht weiter in Brraunschweig studieren und ein eigenständiges Leben fernab elterlicher Aufmerksamkeit führen. Er zieht nach dem Tod des Bruders sehr schnell zurück zu seinen Eltern und in das Elternhaus (die Begriffe Elternhaus und Eltern haben dabei durchaus unterschiedliche Konnotationen). Er gibt sein Studium und sein Wohnen in Braunschweig nach einem Semester auf, um dann im darauf folgenden Semester in Dortmund ‚etwas Vernünftiges‘ zu studieren. Wie begründet Matz seinen Rückzug in die heimische Atmosphäre? Zum einen: In der Situation unmittelbar nach dem Tod lässt Felix ihn nicht los. Matz verlässt Braunschweig aus Gründen der ‚Trauer‘ im Zusammenhang des familiären Zusammenhalts (eine Familie ‚trauert‘ gemeinsam). Das kennzeichnet eine ‚Trauer‘-Zeit unmittelbar nach dem Tod. Der Rückzug nach Hause (und weniger der Studienabbruch) sind Teil eines Verhaltens unmittelbar nach dem Tod des nahen Anderen. Matz fühlt sich verpflichtet, für diese Trauerzeit in die Gemeinschaft der Familie zurück zu kehren. Ein weiterer Grund für Matz‘ Rückkehr in die Familie wurde oben schon angedeutet. Die von Matz vollzogene Regression speist sich auch aus dem Gefühl einer vorherigen ‚Fahnenflucht’ aus der Pflegegemeinschaft. Im Nachhinein unter der Erfahrung des Todes des Bruders versteht Matz bereits die zunächst durch Studium und Wegzug vorgenommene Distanzierung als Desintegration der Familie, der er im Interview umso wortreicher entgegenwirkt, wenn er den Wunsch nach 132

Gemeinsamkeit der Familie zum Motiv der Veränderung seiner Lebensperspektiven für eine Übergangszeit macht. Die Familie gewinnt in einer spezifischen Trauer-Zeit eine besondere Bedeutung: Matz möchte seine Eltern unterstützen, die Familie zusammenhalten, alte Verbindungen, freilich ohne den Bruder, wieder rekonstruieren. Matz nennt freilich auch pragmatische Gründe seiner Rückkehr: Das neue wohnortnahe Studium ist der Weg zu einer Annäherung an die Familie zwecks pragmatischer Reorganisation. Dazu ist jetzt Zeit: Die beiden Eltern, bis zum Tod des Sohnes eingebunden und damit auch funktional getrennt innerhalb des Pflegesetting, können nun endlich wieder einmal gemeinsam in den Urlaub fahren. Matz hält inzwischen zuhause ‚die Stellung’. Hier wird ein familiäres ‚Programm‘ neu geschrieben. Unter einem ressourcentheoretischen Blickwinkel gefällt Matz auch wohntechnisch die Perspektive, im elterlichen Haus nun mit dem eigenen und dem ehemaligen Zimmer seines Bruders einen großen Wohnbereich für sich innezuhaben. Eine so große Wohnung könne er sich anderswo gar nicht leisten, so eine Bemerkung seinerseits dazu. Matz hatte im Familienheim weiterhin sein altes Zimmer beibehalten; die ‚Rückkehr des jungen Erwachsenen‘ ist so intrafamiliär auch von den Eltern so gewünscht, als Option vorbereitet und wird nun von Matz vollzogen. Den Einzug in die ehemaligen Räume des Bruders schildert er wie eine Inbesitznahme. Er wohnt nun allein als Sohn bei seinen Eltern in der elterlichen Wohnung. Matz sieht in dem allen aber auch sehr genau, dass seine Regression in diese ‚Trauerzeit’ begrenzt ist und seine Lebenslinie mittelfristig auf neue, weitere Lebensperspektiven hinauslaufen wird: ‚und ich merke jetzt langsam, dass ich auch wieder rausmöchte, und meine eigenen Wege gehe, also dass mir das langsam reicht so mit meinen Eltern zusammen zu sein‘.

Matz und Elisabeth als Studienabbrecher Matz und Elisabeth sind Studienabbrecher bzw. Studienwechsler. „Als Studienabbrecher sind eigentlich ehemalige Studierende zu verstehen, die zwar durch Immatrikulation ein Erststudium an einer Hochschule aufgenommen haben, dann aber das Hochschulsystem ohne (erstes) Abschlussexamen verlassen und ihr Stu133

dium auch nicht zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufnehmen“ (Heublein et al.). Matz und Elisabeth brechen ihr Erststudium im zeitlichen Zusammenhang des Todes ihres nahen Anderen ab. Diese Abbrüche bzw. Studienwechsel sind nicht als spezifisches Verhalten innerhalb einer Trauerzeit anzusehen, entstehen aber möglicherweise aus einem Motivationsfaktor ‚Tod des nahen Anderen‘ und haben ihre biographische Wirkung über die unmittelbare Zeit nach dem Tod hinaus. Der Abbruch bzw. Wechsel eines Studienganges ist ein ‚komplexes Phänomen‘ (Heublein et al. 2003). Eine Vielzahl von Faktoren führen zum Studienwechsel bzw. Studienabbruch: Materielle, strukturelle und individuell-psychische Bedingungsfaktoren. Heublein et al. (op.cit.: VII) nennen: „Studienbedingungen, Herkunft, Arbeitsmarkt etc.“ sowie „psychische Stabilität, Studienwahlmotive, Leistungsvermögen etc.“. „Die jeweils gegebenen Bedingungsfaktoren führen bei den Studierenden zu inneren Motivlagen, aus denen der Studienabbruch dann resultiert. Die Motivlage wird in der Regel nicht durch ein Studienabbruchmotiv allein bestimmt, sondern durch mehrere. Das ist u. a. abhängig vom Wirken der Bedingungsfaktoren. Unter den Abbruchmotiven kommt allerdings einem Motiv die entscheidende Rolle zu. Dieses Motiv gibt letztlich den Ausschlag für den Studienabbruch“ (ebd.). Ist der Tod des nahen Anderen das ausschlaggebende Motiv zum Studienabbruch bzw. -wechsel? In diesem Fall wären Matz und Elisabeth Repräsentanten des Typs E: Lebensgeschichtliche Abbrüche und Lücken nach dem Tod des nahen Anderen. Heublein et al. (2003: IX) nennen als eine ‚Gruppe von Problemlagen‘ und damit möglichen Motiven für den Abbruch des Studiums: „Studierende, deren Studienerwartungen hinsichtlich Fach und Studium nicht erfüllt wurden, die Schwierigkeiten haben, mit den problematischen Studienbedingungen zurechtzukommen, vor allem mit mangelnder Betreuung und Orientierung sowie fehlendem Praxisbezug, geraten in Gefahr, das Studium wegen mangelnder Studienmotivation oder unzulänglichen Studienbedingungen abzubrechen. Häufig ist im Zusammenhang mit solchen ungünstigen Studienverhältnissen auch die soziale Integration dieser Studierenden an der Hochschule nicht sehr hoch ausgeprägt“. In dieser Gruppe scheint Matz ‚abgebildet‘. Er bezieht seinen Studienwechsel vor allem auf die Empfindung, in A-Stadt nicht warm geworden zu sein. Das ist 134

ein Hinweis auf fehlende soziale Kontakte, auf Netzwerke, in die Matz in A-Stadt nicht eingebunden wird, die er aber ‚zuhause‘ in reichlichem Maße erfahren hat, weiterhin erfährt und nach denen er sich sehnt. Deshalb hat er ‚vorher schon. die Entscheidung getroffen in A-Stadt aufzuhören‘. Es zieht ihn zurück in die Geborgenheit und Wärme alter Netzwerke. Von Versagenserfahrungen hinsichtlich seines Studienverlaufs erzählt Matz nicht. Anders als Elisabeth berichtet er nicht von nicht bestandenen Klausuren oder Leistungsdefiziten. Seine Abiturnote und seine Qualifikationen im naturwissenschaftlichen Bereich, auf die er verweist, legten für ihn eine erfolgreiche Absolvierung des Studiums nahe. Matz will aber ‚was Anständiges‘ studieren. Dieser Zielsetzung scheint der bisherige Studiengang nicht zu entsprechen. Dies kann darauf hinweisen, dass das bisherige Studium die „Studienerwartungen hinsichtlich Fach und Studium nicht erfüllt“ hat (ebd.). Matz wechselt so nicht allein den Studienort, sondern auch den Studiengang. Die Wahl des neuen Studiengangs in den Kulturwissenschaften scheint von Zufälligkeiten geprägt: Er hat Verwandte, die gleiche und ähnliche Studiengänge abgeschlossen haben und damit erfolgreich tätig sind. Diese Information genügt Matz zunächst als Perspektive. Das Studium ist lustig und interessant, berufliche Aussichten mit einem solchen abgeschlossenen Studium werden noch nicht in den Blick genommen. Zu vermuten ist, dass in Matz‘ Familie dem Faktum eines Studiums an sich größere Bedeutung zumessen als dem beruflichen Erfolg in der Zukunft (Engels 2004). Sein Wechsel auf die TU Dortmund und das damit verbundene Wohnen im Familienheim ist für Matz allerdings verknüpft mit den Forderungen der Trauerzeit. Seine Nachfolge in der Studienwahl des Bruders aufgrund der familiären Tradition stellt Matz im Rahmen seiner biographischen Verknüpfung als durch den toten Bruder quasi legitimiert dar. Elisabeth trifft ihre Entscheidung zum Studienabbruch aufgrund anderer Motive: Sie berichtet vor allem von fehlenden Studienleistungen als Motiv ihres Studienabbruchs; sie besteht im ersten Fachsemester angesetzte Klausuren nicht, d.h. sie wird gleich zu Beginn des Studiums den Anforderungen des ‚superharten‘ Studiums nicht gerecht. Die Charakterisierung ‚superhart‘ bezieht sich für sie zum einen auf die Inhalte des Studiums, d.h. auf Verständnisschwierigkeiten 135

zu Inhalten von Vorlesungen und Übungen, zum anderen auch auf eine insbesondere in den ersten Fachsemestern hohe Durchfallquote in den vorgesehenen Leistungsnachweisen, unter die dann auch Elisabeth fällt. Intellektuelle und strukturelle Gründe des Leistungsdefizites treffen in ihrer Person zusammen. Sie hält sich zum gegebenen Zeitpunkt für nicht geeignet, das Chemiestudium weiterhin erfolgreich durchzuführen. Für sie ist dieses Leistungsdefizit das erste und entscheidende Motiv, ihr Studium abzubrechen und eine Lehre als Laborantin zu beginnen. Das Leistungsdefizit ist hierbei nicht ursächlich mit der Krankheit und dem späteren Tod des Vaters verbunden, wird aber von Elisabeth mit ihren Befindlichkeiten während der Krankheit und nach dem Tod des Vaters verknüpft. Die Aufnahme zunächst einer Lehre ist für Elisabeth auch eine wertgeschätzte Option der beruflichen Entwicklung vor einem Studium. Zuvor eingeschlagene Wege der Berufsausbildung können für sie deshalb legitim korrigiert werden. Zudem scheint die Aufnahme einer Lehre in Elisabeths Familie zuvor diskutiert worden zu sein. Vor allem der Vater stand nach Elisabeths Auskunft einer solchen Tätigkeit und Ausbildung vor einem Studium positiv gegenüber (‚er hätte sich tierisch gefreut‘), möglicherweise geprägt von einer professionellen Sachkenntnis in Bezug auf die Anforderungen des Studiums und vor allem auch des späteren Berufs. Bei Mitstudenten, die eine solche Ausbildung vor ihrem Studiums abgeschlossen haben, holt Elisabeth Informationen ein, die ihre Motivation, eine Lehre zu beginnen, verstärken und den Studienabbruch als vernünftig erscheinen lassen. Finanzielle Motive, die in der Analyse der Fallgeschichte Elisabeths unterstellt wurden, wie eine Unterstützung der nun auf verminderte Rentenbezüge angewiesenen Mutter und eine von daher motivierte Berufstätigkeit, sind dem Interview allerdings nicht zu entnehmen. Heublein et al. (op.cit.) weisen hin auf „familiäre Konfliktkonstellationen oder [...] Erkrankung, die eine Fortführung des Studiums aus Sicht der betreffenden Studienabbrecher unmöglich machen“. Elisabeth legitimiert den Studienabbruch u.a. durch ihre eigenen Befindlichkeiten nach dem Tod des Vaters und eine daraus resultierende Erkrankung. Ein solcher Verweis auf belastende Befindlichkeiten als Grund eines Studienabbruchs entspricht einem nicht ungewöhnlichen Legitimationsvorgang im Falle eines Studienabbruchs, der dem Wunsch nach Selbstentlastung bei empfundenen Versagensgefühls entspringen kann. Gesundheitliche Störungen und belastende Lebensumständen als Studi136

enabbruchgründe werden andrerseits ‚unter Experten‘ kaum bestritten (Engels 2004: 56f).

Biographische Verknüpfung und Legitimation des Studienabbruchs /​ -wechsels Elisabeths und Matz‘ Studienabbrüche sind durch jeweils unterschiedliche Motivationsfaktoren begründet. Für beide liegt ein multifaktorieller Begründungszusammenhang vor. Sozialhygienische (Matz) und leistungsbegründete (Elisabeth) Motive sind letztlich ausschlaggebend für die Aufgabe des Studiums. Dennoch verweisen beide Interviewpartner in der Situation des Interviews und vermutlich auch in der Situation der ‚Trauerzeit‘ (s.o.) auf einen Begründungszusammenhang mit dem erlebten Tod des nahen Anderen und dem eigenen Leben nach diesem Tod. Dies darf auf eine von beiden vorgenommene biographische Reflexion in ihrer ‚Trauerzeit‘ bezogen werden. Engels (2004) zeigt auf, dass Studienabbrüche  –  und damit auch Studienwechsel  –  vor allem biographische ‚Arbeit’ sind, die oft jenseits von unabhängigen Variablen im Sinne eines Bedingungsfaktors, Motivs oder Stimulus von den Betroffenen geleistet wird. Studienabbrüche und -wechsel werden in dieser biographischen Arbeit nicht vor allem als lebens- und entwicklungsgeschichtliches Defizit oder Versagen verstanden, sondern als konstruktives Element der Fortschreibung der eigenen Biographie. Der Tod eines nahen Anderen fordert als Biographiegenerator (s.o.) zu dieser biographischen Arbeit auf bzw. legitimiert zu einer Neuschreibung der Lebens- und Entwicklungslinie. Es geht dabei gar nicht um Gründe und Begründungen konkreter Veränderungen aufgrund des Todes; diese Veränderungen mögen in den sehr unterschiedlichen Bedingungsfaktoren eines Studienabbruchs begründet sein. Heublein et al. (2003: VIII) nennen dazu: „Motive, die im Zusammenhang mit einer beruflichen Neuorientierung stehen; finanzielle Motive sowie Motive, die sich aus mangelnder Studienmotivation ergeben. Mit diesen drei Gruppen ist die Hälfte aller Fälle examenlosen Verlassens der Hochschule erfasst“. Im Zusammenhang dieser Gründe des Verlassens der Hochschule sind Interpretationen möglich, die eine Bewertung des Geschehens als Abbruch bzw. Lücke in der Entwicklungslinie nahelegen. 137

Darstellung Elisabeth und Matz leben und erzählen ihre Lebensgeschichte innerhalb eines Jahres nach dem Tod des nahen Anderen. Diese zeitliche Nähe zum Ereignis des Todes prägt ihre Lebensgeschichte und ihr Verhalten nach dem Tod des nahen Anderen: Die bei ihnen als Repräsentanten des Typs D der Typologie festgestellten Merkmalsausprägungen des Innehaltens und der Regression der Lebenslinie sind eingebunden und begründet in einem spezifischen Trauerverhalten nach dem Tod des nahen Anderen. Dieses Trauerverhalten betrifft hier nicht eine ‚innere Provinz der Trauer‘, die bei anderen Repräsentanten auch lange Zeit nach dem Tod des nahen Anderen noch nachweisbar war und sich emotional und identifikativ äußerte. Ihre Lebensentscheidungen und Handlungen zum aktuellen Zeitpunkt sind für Elisabeth und Matz die angemessene Art der ‚Trauer‘. Ziel ist für beide die Reintegration der Familie, denn diese ist als Kollektiv vom Tod des nahen Anderen betroffen und nicht sie als Individuen allein. D.h.: Insofern Kollektive wie eine familiäre Lebenswelt vom Tod eines Anderen betroffen ist, können solche reintegrativen Handlungsmodelle nachweisbar sein, denn diese Handlungsmodelle dienen der Wiederherstellung des Kollektivs. Eine alternative Lebensführung im Sinne einer Verselbstständigung der Lebenslinie ist erst nach dieser ‚restaurierenden‘ Trauerzeit möglich und wird von Matz und Elisabeth ja auch projektiert bzw. zu einem späteren Zeitpunkt durchgeführt. Der Charakter der Zeit nach dem Tod des nahen Anderen als eine Art Zwischenzeit prägt die aktuellen und situativen Lebensentscheidungen der beiden Repräsentanten und ‚überkleidet‘ die lebensgeschichtlichen Entscheidungen, die nicht Bestandteil eines spezifischen Trauerverhaltens sind, im Sinne einer ‚biographischen Verknüpfung‘. Nach der Restauration des Kollektivs werden Elisabeth und Matz, so ist es bei anderen, zu einem späteren Zeitpunkt nach dem Tod des nahen Anderen interviewten erwachsenen Repräsentanten anderer Typen (Typ C; Lutz in Typ A) beobachtbar, ihre Lebenslinie als junge Erwachsene ohne weiteres Innehalten oder eine Regression weiterführen. D.h. Regression und Innehalten sind vor allem auch ‚Trauerverhalten‘ zwecks Reorganisation der Familie. 138

Sowohl Elisabeth als auch Matz zeichnen sich in ihrer Regression und ihrem Innehalten durch ein hohes Handlungspotential aus. Sie sind immer die ‚aktiv Handelnden‘. Sie sind dies zum einen in ihrer besonderen ‚Trauersituation‘; sie wollen ‚stützen‘ (Elisabeth) und die Familie zusammenhalten (Matz). Dies lässt sie in ihren Lebenslinien innehalten bzw. zurückgehen. Dieses Zurückgehen ist aber handlungsregulativ: Beide wissen, was sie tun, und so leben sie in der Situation der ‚Trauer‘ auch. Dies verbindet sie mit den Fallgeschichten des Typs C, den allerdings zu einem späteren Zeitpunkt nach einer ‚Trauerzeit‘ lebende Jugendliche repräsentieren. Typ C kann insofern lebensgeschichtlich an Typ D und an Lutz als Repräsentanten des Typs A anschließen, ist aber nicht dessen zwangsläufige Fortsetzung. In der Form, in der Typ C eine eigenständige Modifikation des Grundtyps A darstellt in seinem Charakter von Beschleunigung und Verstärkung der Lebenslinie bei volljährigen Jugendlichen hin auf ihr Erwachsenwerden, so bildet Typ D mit dem Charakteristikum der biographischen Entscheidungen und Verknüpfungen innerhalb ‚Trauerzeit‘ nach dem Tod des nahen Anderen, die aufgrund dieser ‚Trauerzeit‘ sich äußern in lebensgeschichtlichem Innehalten und Regression, ebenfalls eine Modifikation des Grundtyps A und einen eigenständigen Typen innerhalb der Typologie. Für die Jugendlichen Elisabeth und Matz ist der Tod des nahen Anderen so auch ein Biographiegenerator. Der Abbruch des Studiums, den beide vornehmen, macht im Zusammenhang des Erlebens des Todes eines nahen anderen in einem besonderen Maße eine ‚biographische Arbeit‘ notwendig. In einer Situation, in der zwei Biographiegeneratoren koinzidieren, findet eine ‚Aufforderung‘ zur biographischen Arbeit in doppelter Weise statt. Erfahrungen im Studium und damit entstehende Motivlagen, das Studium zu beenden, werden verknüpft bzw. verdoppelt mit den biographischen Entscheidungen in der Trauerzeit, d.h. im Leben nach dem Tod des nahen Anderen. Dies ist oben mit dem Terminus ‚biographische Verknüpfung‘ bezeichnet und erläutert worden. Eine ‚innere Provinz der Trauer‘ ist in den Fallgeschichten von Elisabeth und Matz nicht nachweisbar, weil ihre Befindlichkeiten im Rahmen ihrer ‚Trauerzeit‘ keine innere Provinz allein darstellen, sondern vielmehr veräußerlichtes, bei Matz mitunter stereotypisches Verhalten und sprachliches Darstellen ‚richtigen Trauerns‘. D.h. zweifellos reale Befindlichkeiten der Betroffenen sind geformt bzw. 139

‚überkleidet‘ mit den auch auf Emotionen sich beziehenden Formen eines ‚richtigen Trauerns‘ innerhalb einer ‚Trauerzeit‘ und auch innerhalb eines Interviews. Matz fühlt sich veranlasst, immer wieder seine Trauer um seinen Bruder kund zu tun und hat ein Bild seines Bruders in seinem Zimmer mit brennenden Kerzen verziert. Auch Elisabeth erzählt sehr wortreich von ihren Emotionen in der Zeit nach dem Tod ihres Vaters und ist beim Interview durch ein umgehängtes Kreuz ‚trauergerecht‘ gekleidet. Solche dargestellte Trauer wird im Rahmen auch dieser Formen von den Betroffenen als Emotionen in eine innere Provinz zurück geführt und dort archiviert.

Typ E Lücken und Brüche in den Lebenslinien nach dem Tod eines nahen Anderen Für die Repräsentanten des Typs E bricht die vorhergehende Lebenslinie in den Lebenswelten der Familie, der Schule und/​oder der Gleichaltrigen nach dem Tod des nahen Anderen ab. Der Verlauf ihres Lebens nach dem Tod des nahen Anderen weist im Vergleich zu den anderen Typen eine große Dramatik auf. Jugendliche Lebensmuster werden in den relevanten Lebenswelten stark gestört oder gar aufgelöst und zeigen in ihrem Ablauf hin zu einer wieder zu erlangenden ‚Normalität‘ jugendlichen Lebens Lücken, wenn nicht gar einen Abbruch der einen oder anderen jugendlichen Lebenslinie. ‚Ich hätte nicht gedacht, dass aus dem noch mal etwas wird‘, so lautet die Einschätzung der Umwelt, wenn der Lebensverlauf nicht perspektivisch auf Prozesse der Entwicklung auf ein Erwachsenenalter hin ausgerichtet ist. Das aktuelle soziale Verhalten wird defizitär, deviant und pathologisch. In den Lebenswelten stehen Ressourcen, die diese Lücken und Brüche ausgleichen können, nicht mehr zur Verfügung. Die Merkmalsausprägungen dieser Lücken und Brüche in der jugendlichen Lebenslinie beziehen sich z.B. auf die Auflösung von familiären Bindungen, auf den Abbruch von Schulkarrieren ohne die Erlangung von Bildungszertifikaten oder auf den Verlust der ehemaligen sozialen Netzwerke bis hin zu devianten Beziehungen z.B. innerhalb einer Drogenszene. 140

Die Befindlichkeiten einer ‚Trauer‘ sind für die Repräsentanten dieses Typs diffus: Der Verlust des nahen Anderen löst zum einen keine spezifische Befindlichkeiten aus oder aber führt dazu, dass der Betroffene die Kommunikation dazu durch einen inneren Rückzug verweigert. Lücken und Abbrüche der Lebenslinie können im Kontext des Interviews als Resultat einer solchen inneren Befindlichkeit erzählt werden. Der Typ E innerhalb der Typologie ist gekennzeichnet durch Brüche und Lücken innerhalb der jugendlichen Lebenslinien nach dem Tod eines nahen Anderen. Diese Lücken und Brüche manifestieren sich in allen Lebenswelten des jugendlichen Lebens.

Leonhard Vor sieben Jahren starb Leonhards Vater. Leonhard war zu diesem Zeitpunkt vierzehn Jahre alt. Die Darstellung seiner Fallgeschichte bezieht sich damit auf diese sieben Jahre seines jugendlichen Lebens nach dem Tod des nahen Anderen. Der Tod des Vaters geschah ‚plötzlich und unerwartet‘, und er stürzte Leonhard und seine ganze hinterbleibende Familie auch durch seine Plötzlichkeit in eine tiefe Krise in allen relevanten Lebenswelten. Die Familie hatte keine Möglichkeit gehabt, sich auf die Konsequenzen vorzubereiten und rechtzeitig angemessene materielle und persönliche Ressourcen bereit zu stellen, um die Ordnung der Familie zu reorganisieren. Es fehlte nach dem Tod des Vaters sowohl an Geld als auch an personeller Unterstützung in der weiteren Familie oder in den Netzwerken; die hinterbleibenden Familienmitglieder selbst waren nicht in der Lage, den sozialen und materiellen Konsequenzen des plötzlichen Todes des Vaters in geeigneter Weise entgegen zu treten: Wie soll die Familie mit einem erheblich verringerten Einkommen weiterleben und welche Personen innerhalb der engeren und weiteren Familie können die verlorenen personellen Ressourcen kompensieren, die zuvor in der Person des Vaters und seiner Sorge für die Entwicklung Leonhards zur Verfügung gestanden hatten? Die Erzählung des Interviews weist auf, dass diese Kompensation nicht stattfand. Der plötzliche Tod des Vaters fiel wie ein Unheil über die Familie und über Leonhard herein. In einem fast magischen Verständnis versucht Leonhard diesem Unheil ‚gute Mächte‘ entgegen zu setzen, indem er bei 141

seiner ersten Nachprüfung die Uhr des Vaters trägt – leider vergebens. Gerade für Leonhard waren insbesondere die personellen Ressourcen schon vor dem Tod des Vaters bedeutsam. Seine Lebenslinie hatte sich in der schulischen Lebenswelt bereits in Richtung auf Lücken und Abbrüche der Lebenslinie entwickelt. Der Vater war zu Lebzeiten und noch kurz vor seinem Tod dieser drohenden Entwicklung durch persönliches Engagement und finanziellen Einsatz entgegengetreten. Er betreute und begleitete Leonhard in der Freizeitwelt, er kümmerte sich um seine schulischen Leistungen und er finanzierte den Nachhilfeunterricht, der die schulischen Defizite beheben sollte. Leonhard sollte nicht schulisch und damit auch nicht sozial ‚abstürzen‘. Diese beiden durch den Vater bereit gestellten Ressourcen standen aber nach seinem Tod nicht mehr zur Verfügung, und kein weiteres Familienmitglied zeigte sich in der Lage, diesen Verlust der Ressourcen ausgleichen. D.h.: Dieser Verlust und die fehlende Kompensation wurden für Leonhard zum Moderator der Entwicklung seiner Lebenslinie nach dem Tod. Negative Entwicklungen in der Lebenswelt der Schule, in der Leonhard den geforderten Leistungsanforderungen nicht mehr gerecht wurde und deshalb bereits vom Gymnasium auf die Realschule wechseln musste, verstärkten sich nach dem Tod des Vaters. Leonhard verlässt die Haupt-Schule am Ende ohne Schulabschluss. Negative Entwicklungen in den Lebenswelten der Freizeit und der Gleichaltrigen schlossen sich an. Der Tod des Vaters führte für Leonhard letztendlich zu einer Verstärkung bzw. Beschleunigung all jener defizitärer und prekärer Entwicklungen in all seinen relevanten Lebenswelten, die zuvor sich nur als Möglichkeit abzeichneten und denen man aber zunächst gemeinsam hatte gegensteuern können. Leonhard lebte vor dem Tod des Vaters mit seinen Eltern und seiner fünf Jahre älteren Schwester gemeinsam in einer ca. 120 qm großen Wohnung in einem der ‚besseren‘ Vororte einer westdeutschen Großstadt. In den Lebenswelten der Eltern und der beiden Kinder gab es keine Anlässe zur Sorge: Nicht um Arbeitslosigkeiten und finanzielle Probleme, nicht um den Bestand und den Zusammenhalt der Familie, nicht um die Erfüllung der Bildungsaufgaben der Kinder und auch nicht um soziale ‚Abstürze‘, d.h. deviante Entwicklungen in der Welt der Freizeit und der Gleichaltrigengruppen. Die beiden Eltern, beim Tod des Vaters 46 (er) und 44 Jahre (sie) alt, sind finanziell gut gestellt. Er ist Feuerwehrmann im gehobenen Dienst, sie arbeitet als Chefsekretärin. Die Eltern achten auf die 142

weiterführende schulische Bildung ihrer Kinder, die ihnen für die Zukunft gute Berufschancen eröffnen soll. Leonhard besuchte deshalb zunächst das Gymnasium und die Tochter plante, ihre Schulbildung demnächst mit dem Zeugnis der Fachhochschulreife abzuschließen. Darüber hinaus achten die Eltern auch auf einen angemessenen ‚Umgang‘ ihrer Kinder in ihrer Freizeitwelt und den Gleichaltrigengruppen. In Bezug auf Bildungsziele war die Entwicklungstendenz für Leonhard schon vor dem Tod des Vaters eher negativ. Er besucht zum Todeszeitpunkt nicht das Gymnasium, sondern er hat bereits zwei Jahre vor dem Tod des Vaters das ortsnahe Gymnasium nach der Erprobungsstufe verlassen und mit Beginn der Klasse 7 auf die Realschule des Wohnortes wechseln müssen. Diese Realschule besuchte zu diesem Zeitpunkt auch seine Schwester. Möglicherweise hätte Leonhard zu jenem Zeitpunkt bereits die Hauptschule besuchen müssen, denn die Aufnahme auf einer Realschule nach der Erprobungsstufe liegt im Ermessen der jeweiligen Schulleitung, ist aber kein ‚Recht‘ des Schülers, der das Gymnasium verlässt. Auch auf der Realschule fällt Leonhard die geforderte Leistungserbringung schwer. Warum dies so ist, denn er ist doch eigentlich ‚ein guter Schüler‘, erzählt die Mutter nicht. Leonhard besucht zum Zeitpunkt des Todes des Vaters die Klasse 8 der Realschule und wird zunächst nicht in die Klasse 9 versetzt. Er muss eine Nachprüfung ablegen, um doch noch versetzt zu werden. Der Vater hatte alsVorbereitung auf die Nachprüfung dem Sohn Nachhilfeunterricht erteilen lassen, d.h. er hat sich darum gekümmert, dass Leonhard Nachhilfe erhält, und er hat diesen Unterricht auch finanziert. Das Zusammenleben der Eltern und die Organisation der Familie hatte bereits vor dem Tod des Vaters unter gesundheitlichen Einschränkungen beider Elternteile gelitten. Unterschiedliche Erkrankungen mit längeren Krankenhausaufenthalten stellten sie immer wieder vor die Aufgabe der Organisation eines durch die Krankheiten und damit verbundene Abwesenheiten gestörten familiären Ablaufs und der Kompensation auftretender personeller Defizite vor allem in der Versorgung der minderjährigen Kinder. Es ist denkbar, dass die schulischen Leistungen Leonhards in der Zeit der Erkrankung seines Vaters etwa ein Jahr vor dessen Tod aufgrund fehlender Betreuung durch die Eltern nachließen; diese Interpretation kann aber durch das Interview nicht abgesichert werden. 143

Die familiäre Situation und Leonhards schulische Situation sind vor dem Tod des Vaters also zumindest problematisch. Aber die Familie hält zusammen und zudem standen, unter anderem in den finanziellen Mitteln durch die Berufstätigkeit des Vaters, ausreichende Ressourcen zur Verfügung, die anstehenden Probleme zu bewältigen: Für die Bewältigung der schulischen Anforderungen wird für Leonhard die Nachhilfe finanziert, den durch die Krankheiten jeweils eines Elternteils entstehenden Problemen z.B. in der Betreuung des minderjährigen Leonhard kann durch gemeinsame familiäre Organisation der beiden Eheleute begegnet werden. In diese trotz alledem ‚heile‘ Welt bricht für die Familie der plötzliche Tod des Vaters ein und ‚ändert alles schlagartig‘, und zwar nicht nur das Leben Leonhards, sondern das ganze familiäre Leben. Insbesondere Leonhard verliert nicht nur seinen Vater, sondern auch seinen ‚Superfreund‘, der über sein Leben wachte und ihn durch die Entwicklungen seines frühen jugendlichen Lebens begleitete. Für die Lebenslinie Leonhards treten im Wortsinn ‚schlagartig‘ Veränderungen ein. Er erleidet in seiner schulischen Lebenswelt einen ‚Schlag‘: Er besteht die Nachprüfung nicht. Dies bedeutet zwar noch nicht einen weiteren Schulwechsel, wohl aber die Rückstufung in eine niedrigere und jüngere Klasse. Verbunden sind damit für ihn zumindest teilweise Abbrüche alter sozialer Beziehungen und Schwierigkeiten im Aufbau von Beziehungen zu den jüngeren Mitschülern und vor allem das Erleiden eines Statusverlustes und damit verbunden der Verlust von Selbstwertgefühlen (Hildeschmidt 1998: 998ff; Helsper 1993: 361ff ). Einen weiteren schulischen ‚Abstieg‘ durchlebt Leonhard innerhalb des ersten Jahres nach dem Tod des Vaters. Seine schulischen Leistungen verschlechtern sich so sehr, dass er nach einem Jahr der Wiederholung der Klasse 8 auf der Realschule wiederum nicht versetzt wird und deshalb auf die Hauptschule des Nachbarvorortes wechseln muss. Für Leonhard und die Familie ist dies ein Absturz in der Lebenswelt der Schule in eine schulische ‚Unterschicht‘. Der Besuch der Hauptschule ist angesichts der einstigen Bildungsambitionen der Familie Leonhards der ‚Absturz‘ in eine ‚Restschule‘ (Hildeschmidt 1998: 994), in der die Schüler aufgefangen werden, die an anderen Schulen die Leistungsanforderungen nicht erfüllen. Leonhard ist hier schulisch ‚ganz unten‘ angekommen. Leonhard erfährt aber im Folgenden, dass es für ihn noch ‚tiefer‘ hinabgeht. Leonhard kommt auf der Hauptschule von Anfang an ‚nicht zurecht‘. Das hat soziale 144

und erst sekundär leistungsspezifische Gründe. Er wäre ‚gemobbt‘ worden, sagt er, er hätte keinen sozialen Anschluss gefunden. Leonhard verliert jede Motivation, die Schule zu besuchen, am sozialen Leben der Schule teilzunehmen und Leistungen zu erbringen. Er verlässt schließlich mit der Beendigung der Schulpflicht nach zehn Schuljahren als Volljähriger die Hauptschule ohne schulischen Abschluss. Es konnte im Interviewverlauf nicht geklärt werden, ob Leonhard mit Erreichen der Volljährigkeit aufgrund seines Verhaltens von der Schule verwiesen wurde oder aber als Volljähriger die Schule ohne Abschluss verlassen hat, weil er „zwar die vorgesehene Dauer des Schulbesuchs absolviert, aber nicht den mit der Schulpflicht intendierten Wissensstand der neunten bzw. zehnten Jahrgangsstufe erreicht“ hat (Klemm 2010: 9). Er resümiert, er sei ‚letztendlich runter geschmissen‘ worden. Leonhards Schulversagen, so wurde oben schon angedeutet, geht einher mit massiven Störungen und Lücken in den anderen Lebenswelten. Vermutet werden kann, dass diese Störungen und Lücken miteinander ein Faktorenbündel für die Entwicklung der Brüche innerhalb der Lebenslinie Leonhards bilden. Zum schulischen ‚Abstieg‘ Leonhards fügt sich ein sozialer ‚Abstieg‘ der Familie. Soziale Beziehungen gehen verloren. Mutter und Kinder müssen aus finanziellen Gründen ein halbes Jahr nach dem Tod des Vaters die ehemalige große Wohnung aufgeben und in eine viel kleinere Wohnung in einem anderen Stadtteil umziehen. Die Eheleute hatten für den Fall des Todes des Vaters nicht in geeigneter Weise finanzielle Vorsorge getroffen, die Höhe der Renten für die Witwe und die Halbwaisen reichten zum Erhalt des alten Lebensstils nicht aus. Auch die mit dem Besuch der Schule verbundenen Netzwerke werden von der Familie verlassen. Nach einem weiteren halben Jahr ziehen die Mutter und der Sohn ein weiteres Mal um in das Miethaus, in dem bereits die Eltern der Mutter wohnen und in dem die Mutter aufgewachsen war. Die Tochter hatte zu diesem Zeitpunkt bereits sich aus der Betreuungsgemeinschaft für den minderjährigen Leonhard zurückgezogen. Zu vermuten ist, dass die Eltern der Mutter dieser in der Betreuung und Versorgung des Sohnes beistehen wollen, denn die Mutter ist aufgrund von Krankenhaus- und Rehabilitationsaufenthalten immer wieder für längere Zeit nicht im Familienheim anwesend. Sie kann deshalb nicht die Betreuung und Beaufsichtigung des minderjährigen Leonhard übernehmen; zunächst die Schwester und später die Großeltern übernehmen diese Aufgabe. Die Situation innerhalb des ersten Jahres nach dem Tod des Ehemannes und Vaters scheint sozial desaströs und finanziell prekär. 145

Leonhard sucht sich seine sozialen Netzwerke an anderen Orten und findet sie etwa ein Jahr nach dem Tod des Vaters in der (Sub-)Kultur der Punks (Baacke 2004: 75ff; Ecarius  & Fromme 2000: 146f) der er sich gemeinsam mit einem ‚Freund‘ zuwendet. Er findet dort eine neue ‚Heimat‘, ist im familiären Kontext zunehmend abwesend; er verhält und kleidet sich fortan milieugerecht. Die Gemeinschaft dieser ‚auffälligen‘ jugendlichen Kultur (s.o.) gibt ihm Schutz und Identität, die er in seiner schulischen Lebenswelt und den entsprechenden Netzwerken nicht mehr findet und auch nicht mehr finden will (vgl. Baacke 2004: 125ff; Helsper 1993: 367ff). Etwa zur gleichen Zeit ‚rutscht‘ er in die Drogenszene ab, d.h. er verschafft sich regelmäßig Drogen und konsumiert sie. Diese Zuwendung zum Drogenmilieu verstärkt seine Abkehr von der Lebenswelt der Schule und vom familiärem Leben. Die Familie dient ihm nur noch der Ressourcenbeschaffung: Geld, Kleidung, Unterkunft, Essen. Diese Zeitangabe ist freilich spekulativ. Der genaue Zeitpunkt konnte auch im Nachfrageteil nicht ermittelt werden. Der vermutete ‚terminus a quo‘ für Leonhards neue soziale Orientierung im Zusammenhang mit der Aufnahme des Besuchs der Hauptschule erscheint aber plausibel. In der neuen Schule findet Leonhard nicht für ihn attraktive Netzwerke und darin Schutz und Anerkennung. Er hätte durch die Mitgliedschaft in der Kultur der Punks dann versucht, die in der neuen Schule nicht gelingenden sozialen Kontakte zu Mitschülern durch soziale Kontakte und vor allem durch die Einbindung in schützende und Anerkennung schenkende Netzwerke andernorts zu kompensieren. Dieser Milieuwechsel, der ‚Absturz‘ in die Devianz der Drogenszene und Leonhards Schulversagen scheinen also einander zu moderieren. Er wird bereits ein Jahr nach dem Tod des Vaters aufgrund eines Gewaltdeliktes innerhalb des Milieus straffällig und dann anschließend selbst Opfer einer Gewalttat im Milieu. Er fällt in die Beschaffungskriminalität. Der ‚völlige Absturz‘ Leonhards in diese Szene und ihre Verhaltensmuster zeigt auch die Konsequenzen für die familiäre Lebenswelt und ihre Integrität auf; diese ist hoch gefährdet. Auch in der Familie zeigt er kriminelles Verhalten, indem er seine Mutter und die Schwester über mehrere Jahre hinweg immer wieder bestiehlt. Vermutlich verlässt die ältere Schwester die gemeinsame Wohnung mit 146

der Mutter und dem Bruder auch deshalb, weil sie das Verhalten des Bruders nicht mehr ertragen kann. Sie löst von sich aus die familiäre Einheit auf, die sie als bereits zerbrochen erlebt und nimmt mit einem Freund eine neue Lebenslinie auf, indem sie mit ihm zusammen eine Wohnung bezieht. Sie wird dann aber später in ihrer eigenen neuen Lebenslinie scheitern. Vielleicht nach einem übermäßigen Drogenkonsum wird Leonhard von seinen Kumpels seiner Mutter schwer krank ‚vor die Tür‘ gelegt. Er wohnt nun weiterhin bei seiner Mutter, umgeben von ihrer Fürsorge. Er bestiehlt sie und und die Schwester später zwar weiterhin, er stürzt durch unkontrollierte Interneteinkäufe die Mutter in große finanzielle Schwierigkeiten, er kommt nur ‚Stück für Stück‘ von den Drogen los, aber seine Mutter hätte ‚ihn nie aufgegeben‘. Ihren Sohn versorgt sie, so gut sie kann. Sie steht jeden Morgen mit ihm auf, macht ihm das Frühstück, sie sorgt dafür, dass er zur Schule geht, obwohl sie weiß, ‚er geht gar nicht zur Schule‘. Sie bezahlt seine Schulden und sorgt für den Wohlfühlfaktor im familiären Heim, das er hin und wieder auch einmal aufsucht, und sie sorgt entsprechend ihrer eigenen Möglichkeiten für finanzielle Ausgleichszahlungen für seine Schulden. Sie ‚spielt das Spiel mit‘, dessen Regeln allerdings der Sohn vorgibt, einschließlich der Regel, dass sie mit ihm nicht über seine Situation, seine Zugehörigkeit zum Punk-Milieu und auch über seinen Drogenkonsum spricht. Sie spielt dieses in seinen Regeln von Leonhard bestimmtes Spiel mit, weil sie nur so die familiäre Einheit in der Zweisamkeit von Mutter und Sohn erhalten kann. Diese Regel wird aber einmal unterbrochen. Mutter und Sohn unterhalten sich ‚super‘ miteinander, d.h. Leonhard lässt sich in einem ‚kurzen Moment‘ auf seine Lebenssituation und insbesondere auf seine schulische Situation hin ansprechen. Solche Momente des miteinander Sprechens waren selten. Leonhard wohnt zwar mit der Mutter in einer Wohnung, ist aber in Bezug auf die zeitliche und inhaltliche Organisation der Familie nicht mehr Teil derselben. Er kommt und geht, ist wach bzw. schläft zu anderen Zeiten als die Mutter. Sein ‚Abrutschen‘ ist ja auch innerfamiliär die Trennung von gemeinsamen Tisch- und Schlafenszeiten, und diese bedeutet auch die Auflösung der familiären Organisationseinheit und damit des familiären Zusammenhalts als Ganzem, es sei denn, es kommt zu Momenten, in denen Mutter und Sohn miteinander ins Gespräch kommen. Leonhard verändert irgendwann nach diesem Gespräch seinen Lebensverlauf. Er ist weiterhin der Subkultur der Punks verbunden und kleidet sich auch entspre147

chend. Den Zivildienst leistet er an Stelle des Wehrdienstes in einem Altenheim ab. Die Strukturierung seines Lebens durch den Zivildienst lässt ihn ‚aufleben‘, denn dort sind vereinbarte Arbeitszeiten einzuhalten, und Leonhard erfährt im Zivildienst soziale Anerkennung und Achtung seiner Person. Er besucht, vermutlich nach dem Zivildienst, mehrere Schulen, um doch noch einen schulischen Abschluss zu erreichen. Vielleicht wird ihm deutlich, dass er ohne einen solchen Abschluss auf dem Arbeitsmarkt chancenlos ist. Unter anderen wendet er sich an eine Fernschule, deren Kosten durch die Familie getragen werden bzw. an denen er selbst aktuell noch zu tragen hat. Alle diese Schulen bricht er aber ohne Abschlüsse ab, er kommt auch auf ihnen ‚nicht zurecht‘. schließlich wird er an eine ‚Berufsvorbereitende Bildungsmaßnahme‘ (BvB) eines gewerblichen Bildungsträgers vermittelt. Die ältere Schwester, die zu dieser Zeit vor ihrem Studium bei einem Berufsbildungsträger ein Praktikum absolviert bzw. beschäftigt ist, weist ihn auf diese Möglichkeit als einer ‚letzten Chance‘ hin. Leonhard kommt in der Bildungsmaßnahme mit anderen Jugendlichen in ähnlicher Situation zusammen. Schließlich wird er im Rahmen dieser Maßnahme in eine Lehrstelle als Servicemechaniker in einem größeren Autohaus vermittelt und ist zum Zeitpunkt des Interviews im ersten Lehrjahr. Dies ist eine Wendung des Verlaufs seiner jugendlichen Lebenslinie in eine positive und zukunftsweisende Richtung. Nach Abschluss der Lehre kann Leonhard den Realschulabschluss erwerben und in seinem Berufsfeld aufsteigen. Die Mutter und die Schwester unterstützen ihn auf diesem neuen Lebensweg nach Kräften, auch indem sie ihn kontrollieren und ermutigen, diesen Weg weiter zu verfolgen. Leonhards Fallgeschichte ist die der ganzen Familie und darin auch seine eigene. Solch familiärer Lebenslauf zeigte sich zwar als voller Lücken und Abbrüche, aber doch mit einem aktuell zufriedenstellenden Status: Leonhard, die Mutter und die Schwester sind auf einem guten Weg, die Brüche der Vergangenheit hinter sich zu lassen und ihren jeweiligen Lebensweg in eine positive Zukunft verlaufen zu lassen. Leonhard erzählt für alle Familienmitglieder diese positive Entwicklung mit einem gewissen Stolz: Sie alle haben es geschafft, das Leben, das nach dem Tod des Ehemannes und Vaters für alle so desaströs verlief, wieder in eine richtige Bahn und in eine hoffnungsvolle Zukunft zu lenken. Alle haben dies nach den schlimmen vergangenen Zeiten geschafft, nicht nur er allein. Allerdings: In seinem jugendlichen Lebensablauf, seiner Schul- und Drogenkarriere ist die schlim148

me Zeit der ganzen Familie im Sinne eines ‚pars pro toto‘ konzentriert, Leonhards Lebensverlauf ist mit dem Verlauf des Lebens der gesamten Familie quasi schuldhaft verknüpft: Krankheiten und Beziehungsproblematiken, finanzielle Schwierigkeiten und berufliche Neuorientierungen – all diese familiären Entwicklungen der anderen Familienmitglieder werden als von der Entwicklung der Lebenslinie Leonhards beeinflusst, von ihr übertroffen und dürfen sich hinter dieser ‚verstecken‘. Leonhard ist dies bewußt: Er trägt seinen Teil zum allgemeinen Ablauf der familiären Entwicklung bei, er ist aber zugleich die Person in der Familie, an der die Brüche und Lücken in all den Entwicklungen am deutlichsten zu erkennen sind bzw. aufgezeigt werden können. Sein Anteil am familiären Gesamtabbruch und am familiären Wiederfinden der Lebenslinien ist eben markant geprägt durch seine vergangene ‚Drogenzeit‘ und sein soziales und schulisches ‚Abrutschen‘ und schließlich durch seine gegenwärtige Rehabilitation. Dies ist ein in einer ‚neutralen‘ Konnotation zumindest nicht ‚normaler‘, also nicht einer allgemeinen Vorstellung eines jugendlichen Lebens ‚konformer‘ Lebensverlauf, wenn ein Heranwachsender in der bei Leonhard vorgelebten Form sich entwickelt. Er stellt in seinen Lücken und Brüchen den Verlauf des familiären Lebens in den vergangenen Jahren nach dem Tod des nahen Anderen nicht nur quasi beispielhaft dar, sondern hat darüber hinaus den allgemein familiären Lebensverlauf sogar maßgeblich mit geprägt. Die Intention der Erzählung erweckt gar den Eindruck, als hätte das Erleiden Leonhards die ganze Familie in das familiäre Erleiden mitgerissen. Die ganze Familie ist ‚abgestürzt‘ bzw. stand – und steht möglicherweise noch – vor dem Zusammenbruch.

Katharina Als weitere Repräsentantin des Typs E wird Katharina vorgestellt. Waren im Lebensverlauf Leonhards nach dem Tod des Vaters Brüche und Lücken in seinem gesamten Lebensverlauf in Bezug auf die Lebenswelten der Schule, der Freizeitwelt und der Familie identifiziert worden, so weist das Lebens Katharinas Brüche und Lücken ihres Lebensverlaufs ausschließlich in Bezug auf die Lebenswelt der Schule und die spezifischen Anforderungen dieser Lebenswelt auf. Denn ähnlich zu Leonhard erreicht sie zunächst die projektierten Bildungszie149

le der Schule nicht: Sie erreicht zunächst nur den Hauptschulabschluss. Dieses für sie nicht zufrieden stellende Resultat der schulischen Entwicklung ist Konsequenz ihrer von ihr bereits vor dem Tod des Vaters eingeschlagenen und dann nach seinem Tod weitergeführten Lebenslinie. Denn diese Lebenslinie verfolgt Katharina jenseits der Anforderungen der Lebenswelt der Schule, d.h. jenseits eines ‚normalen‘, an den Anforderungen einer schulischen Lebenswelt orientierten jugendlichen Lebensverlaufs. Dieser besondere Lebensverlauf Katharinas erweist sich in Bezug auf die Anforderung einer schulischen Lebenswelt, die jugendliche Entwicklung vor allem als Erreichen von Bildungszielen definiert, aber als höchst lückenhaft. Katharina ‚erkennt‘ dies erst zwei Jahre nach dem Tod ihres Vaters: Sie korrigiert ihre in Bezug auf die Anforderungen der schulischen und beruflichen Entwicklung defizitäre Lebenslinie, indem sie noch nicht erreichte Bildungsziele und -Zertifikate, die ihr eine berufliche Zukunft sichern, nachholt. Sie selbst interpretiert in der Retrospektive damit ihr Leben in den ersten zwei Jahren nach dem Tod des Vaters als lückenhaft und in Bezug auf eine an Bildungszielen orientierte jugendliche Entwicklung als zeitweilig abgebrochen. Katharina war 17 Jahre alt, als ihr Vater vor fünf Jahren im Frühjahr plötzlich starb. Am Morgen fand ihn die Ehefrau und dann die ganze Familie tot in seinem Bett. Katharina lebte damals gemeinsam mit ihren Eltern (Vater 46 und Mutter 47 Jahre alt) und ihrem drei Jahre älteren Bruder in einer angemieteten geräumigen Etagenwohnung im vierten Stock in einem Vorort einer westdeutschen Großstadt. Sie besuchte die Klasse Zehn der wohnortnahen Gesamtschule, ihr Bruder die dreizehnte Klasse des Gymnasiums am gleichen Ort. Der Bruder stand kurz vor dem Abitur und hat dieses wenige Monate nach dem Tod des Vaters auch bestanden. Beide Eltern waren berufstätig. Der Vater arbeitete als Busfahrer bei einem privaten Busunternehmen, die Mutter als Leiterin des Pflegedienstes in einem Seniorenheim. Die Versorgung der Kinder war dennoch gewährleistet, die Tätigkeit des Vaters scheint es ihm ermöglicht zu haben, schon in der Kindheit Katharinas und ihres Bruders mitunter in der Mittagszeit oder am frühen Nachmittag zuhause zu sein und dann die Kinder zu versorgen. Je nach Auftragslage des Unternehmens, bei dem er als Busfahrer beschäftigt war, hatte der Vater vielleicht eher unregelmäßige und verglichen mit anderen Berufen auch ungewöhnliche Arbeitszeiten 150

z.B. am Wochenende. Allerdings weisen Katharinas Einschränkungen wie ‚meist zuhause‘, ‚eigentlich immer‘ oder ‚generell‘ darauf hin, dass Katharina und der Bruder nicht selten in der Mittagszeit auch allein waren und sich selbst ‚bekochen‘ mussten. Dennoch hob sich für Katharina in der Erinnerung die zeitweilige Anwesenheit des Vaters und seine häuslichen Tätigkeiten von der regelmäßigen ganztägigen Abwesenheit der Mutter in ihrem Beruf ab. Für Katharina ist dies Grund genug, das Engagement des Vaters dahingehend zu idealisieren, dass er sich ‚ dann auch immer um alles gekümmert‘ hätte. Katharinas Brüche und Lücken ihrer Lebenslinie nach dem Tod des Vaters beziehen sich auf die Lebenswelt der Schule und die durch die schulischen Netzwerke geprägte Freizeitwelt. Katharina erreicht zum Einen nicht ihre Bildungsziele, insofern sie auch nach wiederholtem Besuch der Klasse Zehn auf der Gesamtschule nicht den Realschulabschluss erreicht, der sie für einen angestrebten Lehrberuf oder auch für den Besuch weiterführender Schulen qualifiziert hätte. Zugleich aber deutet sie in der Eingangssequenz soziale Brüche in ihren Beziehungen innerhalb schulischen Freizeitwelt an. Die Schule ist für Jugendliche der Ort der kommunikativen Organisation. „Schule [erweist sich] als organisierende Kraft moderner sozialer Netzwerke für Kinder und Jugendliche“ (Zinnecker et al. 2002: S.64). „Die ‚Gesellschaft der Gleichaltrigen‘ trifft sich“ (ebd.) in der Schule und erst dann auf der Wohnstraße. Allerdings weichen sowohl Katharina als auch Leonhard von dieser ‚Regel‘ ab. Dies markiert den Abbruch ihrer vorherigen Beziehungen zu Gleichaltrigen. Als Grund des Entstehens dieser Brüche und Lücken nennt Katharina ihre Abwesenheit von der Schule nach dem Tod des Vaters: Sie bleibt nach dem Tod des Vaters ‚erst mal lange Zeit zuhause‘. Welche genaue Zeit und warum Katharina zuhause bleibt, wird im Interview nicht deutlich. Sie erzählt später von keinen Krankheitszeiten nach dem Tod des Vaters, wohl aber von einer schon vor dem Tod des Vaters bestehenden Gewohnheit, den Schulbesuch hin und wieder zu ‚schwänzen‘. Diese Gewohnheit lebt sie auch nach dem Tod weiter aus: Sie verliert dadurch neben dem Anschluss an den Leistungsstand in der Klasse der Gesamtschule auch möglicherweise ihre sozialen schulischen Kontakte. Sie zieht sich zugleich auch zurück und bleibt ‚für sich allein‘. Sie geht besonders in der Wiederholungsklasse der Stufe Zehn weitgehend nicht mehr zu Schule und fällt nach eigenen Worten in ein ‚schwarzes Loch‘, erlebt also in ihrer eigenen retrospektiven Interpretation einen vollständigen Abbruch ihrer jugendlichen Lebenslinie. 151

Die Informationen aus dem Nachfrageteil stützen diese Interpretation und fügen ihr weitere Aspekte hinzu. Schon vor dem Tod des Vaters ist Katharina ein schulisches ‚Sorgenkind‘: ich ( ) war ( ) nie so äh ( ) die perfekte Schülerin ( ) ich bin auch früher nicht wirklich. so. häufig zur Schule gegangen. ( ) also es gab auch immer Ärger mit den Lehrern und ( ) meine Eltern durften dann immer in die Schule kommen und sowas. Der Kontext dieser Äußerung aus der Eingangssequenz verweist auf eine dauerhafte schulische Leistungsschwäche Katharinas und ihres Leidens an dieser Schwäche und ihren Konsequenzen. Ihre Bemerkung, ‹ nie so äh ( ) die perfekte Schülerin› gewesen zu sein, ist dem gegenüber eine Abschwächung oder aber zeigt ihre grundsätzliche Motivation und ihre persönliche Einstellung zum System der Schule. Diese Leistungsschwäche und die dauerhafte und immer wiederkehrende Feststellung dieser Schwäche in der und durch die Schule und darauf anschließend ihre motivationale Einstellung zur Schule ist für die Darstellung ihrer Fallgeschichte das entscheidende Thema ihres jugendlichen Lebens, aus dem sich die darzustellenden Lücken und Brüche ihrer Lebenslinie entwickeln. Katharina weist im Interview später darauf hin, dass sie zwei Jahre nach dem Tod des Vaters auf dem Berufskolleg vor allem wegen ihrer guten Leistungen als Stufenbeste und entsprechender Anerkennung wieder Interesse und auch Freude an der Schule und Perspektiven für die Zukunft gewonnen hat. Zu dieser Leistungsschwäche gesellen sich als Elemente eines Gesamtbildes ihrer Situation in der schulischen Lebenswelt und ihrer Einstellung dazu soziale Konflikte Katharinas mit Lehrern und mit Mitschülern (vgl. Ulich 1998: 391f). Zunächst hat sie ‚immer Ärger mit den Lehrern‘, die einen häufigen Besuch beider Eltern in der Schule notwendig machten. Die Eltern ‚durften‘ in die Schule kommen, wurden also durch Katharinas Verhalten und darauf folgender Reaktion durch die Schulbürokratie zur Anhörung vorgeladen. Leistungsdefizite können zum Einen Grund für solche Besuche sein. Diese sollten aber angesichts der dauerhaft defizitären Leistungsfähigkeit Katharinas eigentlich nicht der Erwähnung wert sein. Als Grund für den Besuch der Eltern liegen deshalb vor allem auch Gespräche über Verhaltensweisen ihrerseits in der Schule nahe. Katharina verhält sich nicht schulkonform, d.h. sie verhält sich in einer Weise, dass der Erfolg der schulischen Laufbahn und damit verknüpft ihre umfassende Bindung an die schulischen Netzwerke schon vor dem Tod des Vaters in Gefahr geraten. Sie verhält sich so, als gehöre sie nicht mehr zur Lebenswelt der Schule. Sie ‚schwänzt‘ ja 152

die Schule, d.h. durch ihre Abwesenheit verweigert sie dem von ihr abgelehnten schulischen System die grundsätzliche Anerkennung. Im Nachfrageteil erzählt sie von sozialen Problemen mit Mitschülerinnen als einem Grund ihrer Schulverweigerung bereits zwei Jahre vor dem Tod des Vaters beim Besuch der Klassenstufe Acht. Sie gerät in Streit mit den ‚Mädels‘, wird provoziert und denkbar ist, dass sie dabei auch angemessen und streitbar reagiert bzw. zuvor selbst schon provoziert hat. In ihrer Erinnerung führt diese soziale Situation für sie zur Schulverweigerung: nja. und da fing das da so an. ( ) dass ich nicht mehr hingegangen bin ( ) und. ja auch ein Gespräch mit dem Lehrer und den Mädels hatten. aber es hat sich einfach nichts gebessert und ( ) äh. ich hatt da auch keine Lust mit dem Lehrer drüber zu reden Der Konflikt Katharinas mit ihren Klassenkameradinnen ist aber Teil eines komplexen Prozesses des Abbruchs der Bindungen zur schulischen Lebenswelt, der bereits vor dem Tod des Vaters einsetzte. Ihre Bindungen zu Lehrern und Mitschülern sind da schon empfindlich gestört. Deshalb führen auch die Vermittlungsversuche des Klassenlehrers mit Katharina und den ‚Mädels‘ nicht zur Beilegung des Streits. Katharina fühlt sich zudem nicht vom Lehrer in ihrer Position angenommen oder gar gestärkt und führt daraufhin ihr abweichendes Leistungsund Sozialverhalten intensiviert weiter. Die Isolierung von der Klasse durch ihr Verhalten und die Isolation ihrer Person in der Klasse, wenn sie am Unterricht teilnimmt, bedingen einander. In der Retrospektive erkennt sie diesen ‚doofen‘ Prozess, diesen ‚circulus vitiosus’. Festgehalten werden darf: Katharina entwickelt sehr früh, vielleicht schon in der Grundschule als Kind, aufgrund von Leistungsschwächen Unlust am Besuch der Schule. Sie wendet sich mit der Zeit von der Schule ab, insoweit ihr solches Verhalten rechtlich (Schulpflicht) und organisatorisch (‚Entschuldigungen‘ für Fernbleiben) überhaupt möglich ist. Sie entwickelt innerhalb der Schule abweichendes, widerständiges, nach den Maßstäben der schulischen Lebenswelt a-soziales Verhalten. Aufgrund dieses Verhaltenszusammenhangs erfährt sie kumulativ Ausgrenzung und Stigmatisierung durch ihre Klassenkameraden. Aber sie hat eine Freundin in der Klasse, die ihr beisteht, weil sie ihr in Motivation und Einstellung zur Schule nahesteht. Der Nachfrageteil zeigt, dass die Beziehung zu dieser Freundin Moderator ihres Prozesses des Abbruchs der sozialen 153

Kontakte zur sozialen Lebenswelt der Schule ist. Es ist die gleichaltrige Person, mit der Katharina ‚dann auch in der Freizeit halt irgendwas unternommen‘ hat. Die Freizeitwelt der beiden Mädchen ist eine Lebenswelt, die nicht durch die Schule und ihre sozialen Netzwerke vermittelt wird bzw. der gar von der Institution der Schule entgegengewirkt wird: Denn mit dieser Freundin gemeinsam gleitet Katharina schon in der Klasse Acht in die außerschulische Lebenswelt einer Drogenszene ab. In der Retrospektive beurteilt sie diese Freizeitunternehmungen als Hineingeraten ‚in einen leicht falschen Kreis’. Die ausführlichere Darstellung des Lebens Katharinas vor dem Tod des Vaters war notwendig, um ihr Leben nach dem Tod in seinem Verlauf nachzuzeichnen, denn die bereits vor dem Tod des Vaters sich abzeichnende Entwicklung ihrer Lebenslinie erfährt nach dem Tod eine Verstärkung. Die Beendigung der schulischen Laufbahn durch den Hauptschulabschluss und zugleich zu diesem Zeitpunkt ohne fehlende Lehrstelle, stellt zwei Jahre nach dem Tod des Vaters den Abbruch der Lebenslinie Katharinas innerhalb der Lebenswelt der Schule und auch der beruflichen Entwicklung formal fest. In der Eingangssequenz zeichnet Katharina ihren schulischen Weg kurz nach. ‚Eigentlich wollt ich mal mein Abi machen‘, nennt Katharina als Bildungsziel. Auf der Gesamtschule erreicht sie aber nicht einmal den Realschulabschluss als Minimalziel. Sie geht mit dem Hauptschulabschluss als niedrigstem Bildungszertifikat des deutschen Schulwesens von der Schule ab. Eine Stelle zur Aufnahme einer Lehre steht ihr zu diesem Zeitpunkt nicht zur Verfügung; sie hat sich sicherlich zuvor darum auch nicht bemüht und mit ihrem Hauptschulabschluss auch recht geringe Chancen angenommen zu werden. Die andernfalls arbeits- und beschäftigungslose Katharina wird nun für ein weiteres Jahr im Bildungssystem ‚geparkt‘ (Shell 2006: 31). Mit der Perspektive, zumindest den Realschulabschluss nun in einem dritten Anlauf zu erreichen, kann sie ein Berufskolleg besuchen; hier ist sie ‚mehr oder weniger mit Glück noch reingerutscht‘. Katharina erreicht mit erfolgreichem Abschluss der Klasse 9 den ‚Hauptschulabschluss‘. Den ‚Hauptschulabschluss nach Klasse 10‘ oder eine höhere Qualifikation (z.B. ‚mittlerer Schulabschluss‘) erreicht sie trotz zweimaligen Besuchs der Klasse 10 nicht. Anschließend besucht sie vermutlich eine dem Berufskolleg angegliederte Berufsfachschule, die einen Bildungsgang zum Erwerb einer beruflichen Grundbildung und des mitt154

leren Schulabschlusses (Fachoberschulreife) anbietet. Auf dem Berufskolleg lebt sie aber auf, sie erbringt gute Leistungen, sie entdeckt auch, dass sie bei aller Ablehnung der Schule doch ihre Bildungsziele verfolgen muss und auch erreichen kann. Als Stufenbeste und aufgrund eines guten Kontaktes zu ihrem Stufenlehrer und dessen persönlicher Vermittlung beginnt sie anschließend nach dem erfolgreichem Ablegen eines Eignungstests eine Ausbildung zur Elektrikerin. Diese Entwicklung, so sagt Katharina, wendet ihre Lebenslinie ins Positive. Sie hat Erfolg in ihrer Berufsausbildung, sie entwickelt sich auch in ihrem Privatleben weiter, weil sie, so ist dem Nachfrageteil zu entnehmen, mit ihrem Freund in der Nähe ihrer Ausbildungsstelle eine eigene Wohnung bezieht. Die Abbrüche des vorausgegangenen jugendlichen Lebens sind damit überwunden, die Lücken innerhalb der alten Lebenslinien können aufgefüllt werden, und Katharina wird zu einer Erwachsenen. Als Erwachsene blickt sie auf die Zeit zuvor und vor allem auf die Zeit nach dem Tod des Vaters zurück. Katharina erzählt im Anschluss an die schulische Entwicklung und ihre Abbrüche und Neuanfänge zum ersten Mal in ihrem Interview von ihrer Entwicklung in der familiären Lebenswelt. Hier erinnert sie sich daran, mit ihrer ‚Ma nicht klargekommen‘ zu sein, also an Konflikte mit der Mutter. Welcher Art sind die Konflikte, woran entzünden sie sich? Liegen bei Katharina Verstörungen oder gar Abbrüche in der familiären Lebenswelt vor, wie sie z.B. bei Leonhard zu identifizieren waren? Nach dem Tod des Vaters werden Katharina von der Mutter alle Freiheiten zugestanden, ihr Leben in der eingeschlagenen Weise jenseits der schulischen Lebenswelt, die sie auch weiterhin nach Möglichkeit meidet, zu führen. Die Mutter ist tagsüber aufgrund ihres Berufs abwesend, Katharina und der Bruder können ihr Leben in der familiären Wohnung, in der Freizeit und auch in Bezug auf den Schulbesuch völlig nach eigenem Ermessen führen. Die finanzielle Versorgung der Familie ist sichergestellt, die Mutter lässt Katharina auch großzügig Geldmittel zukommen, ‚Zigaretten hat ich ( ) meistens von meiner Ma dann gekriegt (3) weil die auch immer versucht hat mit was Gutes zu tun‘. Aber die Mutter ist nicht in der Lage, sich intensiver damit zu beschäftigen, ob Katharina zur Schule geht, mit wem oder wo sie ihre Freizeit verbringt und wie sie ihr häusliches Lebens gestaltet. Mit der Notiz ‚ich konnte alles bei ihr machen ne‘ fasst Katharina ihr Leben mit der Mutter nicht nur in Bezug auf die Schule zusammen. 155

Die Konflikthaftigkeit des Themas Schule und ‚Erreichen von Bildungszielen‘ für die Beziehung zwischen Mutter und Tochter, die Katharina hier im Interview vorstellen möchte, ist wenig glaubhaft. Die Mutter spricht sie zwar immer wieder auf ihr schulisches Verhalten und die Konsequenzen für ihre Entwicklung hin an, allerdings mit keinerlei Erfolg, wie Katharina sich erinnert. Der Mutter fehlte nicht nur die nötige Autorität, sich dem Willen der Tochter gegenüber durchzusetzen und das Verhalten gegebenenfalls zu sanktionieren. Nach dem Tod des Ehemannes ist sie vor allem mit sich selbst beschäftigt, sie muss und sie will ihr Privatleben neu organisieren. Die Mutter gestaltet damit einen Neuanfang auch ihres Lebens jenseits der Lebenslinien ihres volljährigen Sohnes und ihrer fast volljährigen Tochter. Sie war dabei ‚n bisschen verwirrt.‘ bzw. sie ‚hat nicht son richtigen ( ) mja ( ) weiss ich nicht son richtigen Weg durchs Leben oder sowas.‘, beurteilt die inzwischen erwachsene Tochter diese Neuorientierung der Mutter, die ein halbes Jahr nach dem Tod des Ehemannes eine neue Beziehung aufnimmt. Für das erste Jahr nach dem Tod des Vaters bedeutet dies aber, dass die Abwesenheiten der Mutter tagsüber aufgrund der Berufstätigkeit und an vielen Abenden aufgrund der Aufnahme der neuen Beziehung ein intensiveres Engagement und Kontrolle der Tochter auch gar nicht zu ließen. Die alten Eltern-Kind-Beziehungen sind bereits aufgelöst, die Mutter akzeptiert die Selbstständigkeit der Tochter und will ihr in ihrem Heranwachsen eher eine freundschaftliche Beraterin denn ein erziehender Elternteil sein. Zudem ist ja auch der ältere Bruder nach seinem Abitur und einem nur sehr oberflächlich aufgenommenen Studium ‚in dem Moment halt die ganze Zeit zuhause‘ und kann die jüngere Schwester beaufsichtigen. Für Katharina ist deshalb die Anwesenheit des in Bezug auf Bildungsziele ebenso ‚unlustigen‘ Bruders eine wichtige familiäre Ressource in der Zeit nach dem Tod des Vaters. So birgt die schulische Situation nach dem Tod des Vaters viel weniger innerfamiliäres Konfliktpotential als Katharina sich im Interview erinnern möchte, weil die Mutter das Verhalten der Tochter toleriert und nur hier und da auf die Notwendigkeiten des Erreichens von Bildungszertifikaten hinweist. Katharina ist mit siebzehn Jahren alt genug, die Konsequenzen ihrer Schulverweigerung selbst zu erkennen bzw. selbst zu tragen. Schulorganisatorische Anfragen, die im Sinne der Durchsetzung einer Schulpflicht Erziehungsberechtigte in die Pflicht nehmen möchten, mögen der Mutter lästig gewesen sein. So bedient sich Katharina bei solchen Anfragen (‚Entschuldigungen‘) der Unterschrift der Mutter, indem sie 156

diese für notwendige Entschuldigungen einholt bzw. später selbst fälscht, wie sie im Nachfrageteil zur Kenntnis gibt. Eine solche Aktion führte zwischen Mutter und Tochter erst dann zu einem Konflikt, als wegen eines fehlenden ärztlichen Attests beim Fernbleiben von der Schule am Tag vor den Ferien die Schulverwaltung der Familie ein Bußgeld auferlegt. Für Katharina ist dieses Erlebnis allerdings nicht mehr als eine Anekdote in einer sonst unbeschwerten jugendlichen Lebensführung. Zwei Jahre nach dem Tod des Vaters erkennt Katharina, dass sie ihre Selbstständigkeit und Eigenständigkeit der Lebensführung nach dem Tod des Vaters zu einem Abbruch ihrer schulischen und beruflichen Ausbildung geführt hat. Eine stärkere Hinführung auf einen anderen ‚Weg‘ hätte dies vielleicht vermeiden können. Katharina hätte sich deshalb aus der Retrospektive ihres ‚Wechsel‘ im Lebensverlauf für jene Zeit mehr Einmischung und Zurechtweisung von Seiten der Mutter gewünscht, um nicht so massiv in ihrer Bildungskarriere einzubrechen. Sie vermutet, dass der Vater diesem Abbruch mit seiner Autorität entgegen gesteuert hätte, die fehlende Durchsetzungskraft der Mutter ihren heranwachsenden Kindern gegenüber und ihre Orientierung auf die eigene Neuorganisation ihres Lebens nach seinem Tod aber zu jenen Manifestationen der Lücken und Abbrüche in ihrer Lebenslinie geführt hat. Diese Einschätzung Katharinas erscheint allerdings als idealisierend und attributierend. Idealisierend werden die Interventionsmöglichkeiten des Vaters als hoch einschätzt, einem von Katharina längst eingeschlagenen Lebensweg noch entgegentreten zu können. Diese Möglichkeiten haben beide Eltern aber bereits vor dem Tod des Vaters nicht mehr wahrgenommen oder dem Willen ihrer Tochter gegenüber nicht mehr wahrnehmen können. Die Attribution des Schulversagens Katharinas auf die fehlende Intervention durch die Mutter sieht freilich von ihrer eigenen Verantwortung für das Erreichen von Bildungszielen ab bzw. nimmt fast naiv ihre Eigenständigkeit und Selbstständigkeit in der Wahl ihrer ‚schulfernen‘ Lebenslinie nicht ernst. Besonders diese Eigenständigkeit und Selbstständigkeit nennt der Bruder in seinem Interview als anerkennenswerte persönliche Merkmale im Leben Katharinas unmittelbar nach dem Tod des Vaters – ungeachtet der darin zunächst entstehenden Lücken und Brüche ihrer schulischen Entwicklung, die Katharina dann nach zwei Jahren aber aufgrund dieser Merkmale korrigiert. 157

Nach dem Tod des Vaters erlebt Katharina in der Schule zunächst besonderes Interesse an ihrer Person als Halbwaise. Solche Zuwendung ist ein pädagogisches Programm und wird von ihr aber als lästig empfunden: das fand ich n bisschen nervig weil ( ) mich natürlich alle drauf angesprochen haben und ( ) mhm ( ) ich wollt eigentlich gar nicht dass es irgendjemand weiss (5) /​mhm/​und teilweise hat ich das Gefühl die haben mir einfach nur gute Noten gegeben damit. ich mich besser fühle oder sowas Sie sei ‚dann deswegen irgendwann nicht mehr hingegangen weil ( ) mir das zu doof war dass die Lehrerin mich ständig rausholt und mit mir über irgendwas reden will‘. Katharina selbst hat nämlich ‚einfach keine Lust in dem Moment‘, die Schule zu besuchen, diese besondere Aufmerksamkeit der Lehrer behindert sie aber nun in der Freiheit ihrer Lebensführung und versucht sie an die schulische Lebenswelt zu binden. Diesem Versuch der Integration widersetzt sie sich. Sie nutzt die besondere Zuwendung der Schule wegen ihres Halbwaisenstatus für ihr eigenes Interesse aus, denn ‚die haben das alle auch auf den Tod von meinem Papa geschoben aber ( ) ich hatte einfach keine Lust in dem Moment. (7)‘. Sie meldet sich krank und fälscht für die benötigten Entschuldigungen die Unterschrift der Mutter. Auf diese Weise kann sie eine Weile legal der Schule fernbleiben. ‚Nur irgendwann fiel das auf. als ich n Tag vor den Ferien gefehlt hab weil da brauchte man ein ärztliches Attest und da hab ich dann n Bussgeld gekriegt.‘. Auf dem Berufskolleg wird sie vom Soziallehrer nicht mehr wie zuvor auf der Gesamtschule ‚wie ein rohes Ei behandelt. der hat mich ganz normal behandelt‘. Katharina hat dem Lehrer ihre Lebensgeschichte auch unter Hinweis auf den Tod des Vaters und ihres Status als Halbwaise erzählt. Der Lehrer aber ‚behandelte‘ sie in Gesprächen und im Unterricht nicht als ‚Trauernde‘, sondern ‚normal‘, also als Schülerin, von der er ein bestimmtes Verhalten erwartet. Er wird ihr deutlich gemacht haben, dass sie sich ihrerseits zukünftig bei einer Schulverweigerung nicht auf ihre besondere Geschichte berufen und ihr Schulversagen damit begründen kann. Spätestens seit Besuch des Berufskollegs ‚trauert‘ Katharina nicht mehr. Der Tod des Vaters ist nicht mehr ein Lebensthema und dient etwa als Begründungszusammenhang für ihr Schulversagen. Sie wird auf dem Berufskolleg nicht mehr auf ihren Halbwaisenstatus angesprochen und entsprechend behandelt. Der Tod des Vaters ist Teil ihres vergangenen Lebens, aber schon lange nicht mehr Modera158

tor oder gar Mediator der Entwicklungen ihrer Lebenslinie – dass er dies jemals gewesen ist, erscheint nach der bisherigen Interpretation ihrer Fallgeschichte als unwahrscheinlich. So erzählt Katharina im Interview gar nicht von Empfindungen innerhalb einer inneren Provinz der Trauer. Sie war zwar ‚das Vaterkind [...] ( ) also ich war sehr auf meinen Vater bezogen ( ) wir waren einfach. gleich in der Person.‘. ‚Vaterkind‘ zu sein, lässt Katharina sich an ihre Kindheit als ‚die kleine Tochter von ihm‘ eher erinnern denn an ihre Jugendzeit. Ähnlich anderen Informanten ist die Person des Vaters kein ernst genommener Gesprächspartner für die heranwachsende Tochter. Im Alter von vierzehn will Katharina ihren Vater zwar als Gesprächspartner entdeckt haben, ‚als wir dann ( ) ähm ( ) mehr miteinander geredet haben (2) als ich mich dann auch für seine Kindheit und Jugend interessiert hab und sowas‘. Für die ältere, siebzehnjährige Tochter mit sehr eigenen Vorstellungen erscheint der Wahrheitsgehalt dieser Idealisierung sehr unwahrscheinlich. Der Vater ist zwar oft zuhause, steht für Gespräche und auch für materielle Unterstützungsleistungen zur Verfügung, und in Situationen, in denen Katharina elterlichen Beistand nötig hat, darf sie sich auf seine tatkräftige Hilfe verlassen: Der war halt immer für mich da und ( ) ähm ( ) wenn mich irgendjemand doof angemacht hat oder sowas ( ) war er auch immer da (2)‘ und er ‚hat sich dann auch immer um alles gekümmert‘. Entscheidend war, dass er dabei nicht störend in ihr Leben eingriff und dass Katharina selbst, wenn der Vater argumentativ etwas lauter wurde, ihm nicht allzu sehr widersprach. Zu solchen Eingriffen in ihre persönliche Freiheit, so erzählt Katharina, hatte er nämlich das Potential: Er war in der Familie der ‚Macher‘, der das Notwendige ‚einfach tut‘; Katharina fühlt sich ihrem Vater aktuell in dieser persönlichen Disposition nahe, denn Jahre später erfährt sie, dass solche Handlungsweise sie in ihrer eigenen Lebenslinie wieder auf den rechten Weg gebracht hat. Die Person des Vaters wird von ihr im Interview deshalb in Rückbezug auf diese Disposition als das idealisierende Gegenbild zum gegenwärtig attributierten ‚Erziehungsversagen‘ der Mutter dargestellt (s.o.). Darüber hinaus aber erzählt Katharina nichts über die Person des Vaters und über ihre eigene Beziehung zu ihm. Für die Zeit unmittelbar nach dem Tod des Vaters berichtet sie in einer kurzen Zusammenfassung: danach war ich sehr viel zuhaus mit meiner Ma. und (2) äh haben schon sehr geheult und sowas ( ) is klar aber ( ) weiss nicht /​mhm/​( ) war die Beerdigung (2) das war auch ( ) seitdem geh ich nie wieder in ne Kirche ( ) ja ( ) /​mhm/​( ) 159

Die Zeit des gemeinsamen Weinens als Form des kollektiven Trauerverhaltens endet für Katharina in der Erinnerung mit der Beerdigung des Vaters, im deren Zusammenhang sie negative Erfahrungen mit dem Gottesdienst und dem Verhalten anderer Beteiligten macht. Ob sich diese Erfahrungen auf Form und Inhalt des Gottesdienstes oder auf die Erfahrung beim Kondolieren der Besucher macht, bleibt unklar. Direkt anschließend aber folgt Katharina ihrer eingeschlagenen Lebenslinie, die sie mit Ausnahme ihres Lebens in der schulischen Lebenswelt ja auch unbeeinträchtigt fortführen kann. Und in dieser Weiterführung ihres Lebens hat der Vater bzw. die Erinnerung an ihn keinen bedeutsamen Platz: ähm ( ) danach ( ) ich muss sagen ich hab sehr schnell mit dem Thema Tod abgeschlossen ( ) also ich bin momentan auf dem Stand dass ( ) ist einfach passiert und ( ) is gut. ( ) ich bin jetzt nicht der Mensch der ( ) die ganze Zeit trauert ( ) natürlich denk ich oft an meinen Papa. weil ( ) der mir sehr am Herzen lag. klar ( ). weil. es ist nicht mehr so schwer. ( ) (8) Unter dem ‚Thema Tod‘ ist der Tod des Vaters zu verstehen. Dieser Tod und der Gedanke an den Vater ist in der Zukunft kein Lebensthema Katharinas. Der Vater ist für sie Person ihres vergangenen Lebens, ihr Leben nach seinem Tod ist nach einer kurzen ‚Trauerzeit‘ ein Leben ohne dauerhafte Gedanken an ihn. Sein Tod ist ein ‚Grundrauschen‘ ihrer Befindlichkeit, das bei Zeit und Gelegenheit auch einmal an die Oberfläche tritt, aber keinesfalls ihren weiteren Lebensverlauf beeinflusst.

Florian Massive Brüche in der Lebenslinie von Heranwachsenden sind aus früheren Zeiten fehlender gesellschaftlich verankerter Sozialfürsorge für Kinder und Jugendliche überliefert. Als Beispiele der Literatur können die Figuren des Aschenputtel (für die dt. Version: Derungs 1999) oder die des Oliver Twist (Dickens 2003) dienen. Die literarischen Gestalten spiegeln eine seinerzeitige harte Realität für betroffene Kinder und Jugendliche u.a. nach dem Tod eines Elternteils wieder, wie sie z.B. Henry Morton Stanley (Stanley 2002) in seiner Lebensgeschichte beschreibt. Als nachhaltiger und traumatisierender Bruch der Lebenslinie wurde von den betroffenen Jugendlichen noch bis hinein in das 20. Jahrhundert die Unterbringung in Pflegefamilien oder einem Kinderheim u.a. aufgrund des Todes 160

eines nahen Anderen, insbesondere eines Elternteils, erlebt. Der Abbruch ehemaliger Lebenslinien in der Herkunftsfamilie wurde verstärkt erlebt in Heimen, die als Ausgleich für den erlittenen Verlust keine attraktive Ressourcen anboten bzw. durch ein defizitäres bis desaströses pädagogisches Verhalten die Erfahrung des Abbrechens bei den Heimkindern sogar noch verstärkten. Der Abbruch der Lebenslinie wurde doppelt erfahren. So verweist die Lebensgeschichte Sabinas, der Schwester Sebastians, auf Abbrüche und Lücken in der Lebensgeschichte nach der Krankenhauseinweisung der Mutter. Eine volljährige Sabina hat den Schritt in die Selbstständigkeit eigener Lebensführung analog zur späteren Entwicklung des jüngeren Bruders schon vor dem Tod der Mutter mutmaßlich vollzogen. Die minderjährige Sabina wird aber mit der Einweisung der Mutter in das Pflegekrankenhaus zeitgleich zur Unterbringung Sebastians beim Vater in der Familie ihrer Tante untergebracht. Diese Unterbringung außerhalb der Herkunftsfamilie birgt mögliche Irritationen und Verstörungen, kann aber auch gegenüber einer immer problematischer und verstörend werdenden Situation im Haushalt und der Familie der schwerer erkrankenden Mutter eine Stabilität und Potentiale positiver Entwicklung einer jugendlichen Lebenslinie in das Lebens Sabinas hineinbringen; die Unterbringung in der Pflegefamilie bei der Tante, um eine solche Familie handelt es sich rechtlich nach der Krankenhauseinweisung der Mutter, würde so im Vergleich zu einer desolaten Herkunftsfamilie gar zu einer Beschleunigung und Verstärkung der minderjährigen Lebenslinie Sabinas führen. Auch Florians Lebens ist nach dem Tod des nahen Anderen zunächst von Brüchen und Lücken in der Lebensgeschichte geprägt. Florian ist 14 Jahre alt und wohnte bei seiner alleinerziehenden Mutter bis zu deren Tod in einem ländlichen Vorort einer mittelgroßen Stadt im Süden Deutschlands. Florians leiblicher Vater ist sowohl der Mutter als auch dem Sohn bekannt, allerdings hat der Vater in den Jahren der Kindheit und der Jugend von sich aus den Kontakt zu Florian abgebrochen. Er wohnt mit seiner Lebensgefährtin in Norddeutschland. Florians Mutter erkrankt an einer tödlichen Krankheit. Florian ist zu diesem Zeitpunkt 12 Jahre alt. Nach einer kurzen Zeit stirbt sie an dieser Krankheit. In der Voraussicht auf ihren nahen Tod hat die Mutter für die Versorgung des minderjährigen Florian nach ihrem Tod Vorsorge getroffen. Der Vater ist an einer 161

Aufnahme und Versorgung des Minderjährigen nach dem Tod der Mutter nicht interessiert; seine familiäre Struktur erlaube eine solche Aufnahme zudem nicht: Er hat keine weiteren Kinder und seine Lebenspartnerin lehnt die Aufnahme des minderjährigen jugendlichen Florian strikt ab. Die Patentante Florians, eine enge Freundin der Mutter, die die Todkranke in den letzten Monaten ihrer Krankheit und damit auch Florian intensiv begleitete und für beide sorgte, soll den minderjährigen Florian nach dem Tod der Mutter vollständig aufnehmen und für ihn sorgen. Die Patentante lebt in ihrer Familie gemeinsam mit ihrem Ehemann und ihren zwei Kindern, einem Jungen von neun Jahren und einem Mädchen von sechs Jahren in einem Nachbarstadtteil. In den letzten Wochen der Krankheit und des Sterbens der Mutter ist Florian in der Familie seiner Patentante untergebracht. Er ist dort von der Familie liebevoll aufgenommen worden und fühlt sich auch in der Gemeinsamkeit der beiden jüngeren Kinder der Patentante wohl. Angesichts des Zusammenbruchs einer gemeinsamem familiären Situation mit der Mutter und bereits bestehender und zukünftiger Unsicherheit der Lebenslinie ist die Familie der Patentante in der Zeit des Sterbens der Mutter im Hospiz ein Ort der Sicherheit, Geborgenheit und Stabilität. Nach dem Tod der Mutter kümmert sich das Jugendamt um die Unterbringung Florians. Die Mutter hat vor ihrem Tod spezifische testamentarische Verfügungen erlassen, zu denen vor allem ihr Wunsch nach Unterbringung Florians in der Familie der Patentante gehört. Jugendamt und Familiengericht sind nach Prüfung der Lebenssituation der Familie mit dieser Regelung einverstanden. Florian zieht um zu seiner Tante und in deren Familie, die nun bis zum Zeitpunkt der Volljährigkeit seine Heimat und seine familiäre Lebenswelt sein soll. Umbauten im kleinen Reihenhaus der Familie machen es möglich, dass er in der neuen Familie den nötigen Raum an Privatheit eines eigenen Zimmers erhält. Seine schulische Lebenswelt kann Florian beibehalten, aufgrund der Nähe des neuen Familienheims zum alten Familienheim muss er die Schule nicht wechseln. Gleiches gilt für seinen Freundeskreis in der Gleichaltrigengruppe sowie im Sportverein. Die Lebensgeschichte Florians und Sabinas nach dem Tod der Mutter sind zunächst von Abbruch und Umbruch der Lebenslinie geprägt. Florian und Sabina verlieren die Geborgenheit ihrer Herkunftsfamilie und müssen sich in den Alltag einer neuen Familie einfügen. Diese neue Familie nimmt sie zunächst und 162

auch weiterhin sehr liebevoll auf; ihr Leben in dieser Familie wird nach einem Moratorium der ‚Trauer‘ aber keine weitere Rücksicht auf die besondere Situation der beiden nehmen; auch Konflikte in dieser Familie sind vor allem bei einem späteren devianten Verhalten denkbar. Dennis, der Adoptivbruder Fraukes (s.o.), ist ein Fallbeispiel für eine schließlich nicht gelingende Einbettung des angenommenen Kindes in die neue Familie. Florians Lebensverlauf kann aber nach dem Tod seiner Mutter, ähnlich wie bei Sabina vermutet, in der neuen Familie in eine Stabilisierung und eine spätere Beschleunigung der Lebenslinie und der Entwicklungen Florians münden. Hier darf die Lebensgeschichte des minderjährigen und nach dem Tod der Mutter erwachsenen Sebastian als Vergleich dienen. Die sozialstaatlichen Regelungen ‚zum Wohle des Minderjährigen‘ sollen eine solche Entwicklungsgeschichte bei minderjährigen Jugendlichen sicherstellen, ob dies nun in der Herkunftsfamilie geleistet wird oder aber in anderen Institutionen der Jugendhilfe von der Pflegefamilie bis hinein in eine Heimunterbringung und -erziehung. Im Vergleich zu Erlebnissen von Betroffenen bei Unterbringungen in Heimen oder Pflegefamilien früherer Zeiten steht damit in den modernen Heimen der Jugendhilfe die Sicherstellung und Stabilisierung einer angemessenen Lebenslinie und einer positiven Entwicklung der betroffenen minderjährigen Jugendlichen im Vordergrund.

Darstellung Vor allem die Entwicklungsanforderungen der Lebenswelt der Schule definieren Abbrüche und Lücken der jugendlichen Lebenslinien von Katharina und Leonhard als Repräsentanten des Typs E, denn im auf die Jugend bezogenen Bildungssystem werden die Weichen für den ‚den gesamten Lebenslauf ‘ gestellt (Shell 2006: 68; 2010: 71f; vgl. Hurrelmann 1999: 88ff). Jugend wird dabei primär als Schulzeit verstanden (Hurrelmann 1999: 89; Shell 2003: 53; Helsper 1993: 358f), innerhalb derer nicht nur Bildung vermittelt wird, sondern in der durch Zertifizierung erreichter Bildungsziele vor allem auch zukünftige und möglichst hohe gesellschaftliche Positionierungen verteilt werden. Wer keine ‚höheren‘ Bildungszertifikate vorweisen kann, hat den wichtigsten Zielpunkt eines jugendlichen Lebensweges verfehlt. 163

Von Brüchen und Lücken darf deshalb gesprochen werden, wenn Schulverweigerung, -versagen und -abbruch (‚Dropout‘) solche Bildungsziele aus den Augen verlieren lassen, und/​oder wenn Bildungsziele und/​oder -Zertifikate nicht erlangt werden. Defizite in der Bindung der Jugendlichen an die Lebenswelt der Schule verstoßen gegen eine gesellschaftliche Norm, die Jugendlichen den Besuch von entsprechenden Bildungseinrichtungen vorschreibt, und verweisen auf abweichendes bzw. sogar deviantes Verhalten auch in anderen Lebenswelten. Bildungszertifikate sind die Voraussetzung zufrieden stellender und erfolgreicher Übergänge in das Erwachsenenleben mit der Selbstständigkeit des Berufs und der finanziellen Versorgung, des Wohnens und der Gründung einer Familie. Brüche und Lücken innerhalb dieser Entwicklungen stellen diesen Übergang infrage. Bei Katharina und Leonhard sind die Brüche und Lücken zunächst in der Lebenswelt der Schule nachweisbar. Beide erreichen ihre Bildungsziele nicht zufriedenstellend bzw. überhaupt nicht. Für Katharina ist das Bildungszertifikat des Hauptschulabschlusses aufgrund eigener Zukunftsplanung nicht akzeptabel, auch der Weg in die berufliche Weiterbildung in einer Lehrstelle stellt sich durch die dreimalige Wiederholung der Stufe Zehn – zuletzt auf dem Berufskolleg – als lückenhaft dar. Katharina verliert aber nie ‚den Boden unter den Füßen‘, auch nicht in ihrem ‚schwarzen Loch‘. Sie hat die Fäden ihres schulischen Lebensverlaufes schließlich selbst in der Hand und nimmt dabei in Kauf, dass die Entscheidungen in Bezug auf ihre Handlungsweisen nicht allgemein befürwortet werden. Zu einem späteren Zeitpunkt kann sie dem stattgefundenen Abbruch ihres Bildungsweges durch Weiterbildung auf dem Berufskolleg entgegenwirken und die entstandenen ‚Bildungslücken‘ auffüllen. Die Unterstützung durch die neue Lehrerschaft auf dem Berufskolleg, die Gemeinschaft von Altersgleichen ohne gemeinsame Vergangenheit aber mit einem gleichen bisher lückenhaften Lebensverlauf innerhalb der schulischen Lebenswelt, die Wertschätzung ihrer Leistung und Motivation auf der neuen Schule und schließlich ihre hohe Positionierung als Stufenbeste lassen Katharina nach der Zeit der Abbrüche erfolgreich neue Lebenslinien aufnehmen. Leonhards schulische Lebenslinie bricht dagegen vollständig ab, insofern er durch das Schulsystem ‚durchgereicht‘ wird und schließlich ohne Abschluss die 164

Schule verlässt, dann seine Zivildienstzeit absolviert und erst daran anschließend mit Hilfe durch ein spezielles Bildungsprogramm und eine Lehre einen Schulabschluss nachholen und einen Ausbildungsabschluss erreichen kann. Im Lebensverlauf Leonhards sind parallel zur Lebenslinie in der schulischen Lebenswelt zudem Brüche in den Lebenswelten der Familie und der Freizeit nachweisbar. Er wird durch den zweiten Schulwechsel aufgrund des Schulversagens ein Jahr nach dem Tod des Vaters wiederum aus alten Beziehungen herausgerissen und kann an der danach besuchten Hauptschule keine sozialen Beziehungen aufbauen. Wie Katharina ‚schwänzt‘ der die Schule, er sucht wie sie seine sozialen Netzwerke an anderer Stelle in jugendspezifischen Kulturen und Milieus. Anders als Katharina sucht er diese Netzwerke aber ausschließlich in der ‚auffälligen‘ Kultur einer jugendlichen Freizeitwelt und im Drogenmilieu. Hier aber stürzt er in die Devianz ab. Er wird straffällig und kann sich selbst aus seinem jugendlichen und aufgrund des Drogenkonsums kleinkriminellen Milieu kaum lösen. Katharina ihrerseits hat neben der Freundin und ihrem ‚leicht falschen‘ Freundeskreis in ihrem ebenfalls zuhause lebenden Bruder eine wichtige Ressource des Lebens zur Verfügung; an ihn fühlt sie sich auch emotional gebunden, mit ihm verbringt sie große Teile ihrer Freizeit. Die Reorganisation einer Familie mit nun (fast) erwachsen gewordenen Kindern gelingt dagegen Katharina und ihrem Bruder trotz mancher Verstörungen in der haushaltstechnischen Organisation. In dieser Lebenswelt Katharinas sind Lücken oder sogar Brüchen nicht zu identifizieren. Solche familiären Ressourcen stehen Leonhard nicht zur Verfügung. Hatte der Vater vor seinem Tod noch der schulischen defizitären Entwicklung entgegengewirkt, so ist die Mutter nach dem Tod des Ehemannes aufgrund ihrer Abwesenheit durch Krankheit und Reorganisation des eigenen Lebens dazu nicht in der Lage. Auch die ältere Schwester ist für Leonhard kein Grund, emotional und auch räumlich in der Familie zu verbleiben. Denn sie zieht sich ebenfalls schnell aus der Familie zurück. Die Familie Leonhards bricht damit zusammen, eine Reorganisation findet nicht statt. 165

Für Florian und Sabina sind die Abbrüche ihres Lebenslaufes innhalb ihrer ehemaligen Herkunftsfamilien nur durch die Eingliederung in neue Familien zu kompensieren. In ihren neuen Familien werden ihnen aber sehr schnell geeignete soziale und materielle Ressourcen angeboten, die es beiden erlauben, ihr Leben in den Lebenswelten der Schule und der Welt der Gleichaltrigen recht unbeeinträchtigt weiter zu führen. Florian besucht anders als Leonhard weiterhin seine alte Schule und behält auch anders als Leonhard den Kreis der gleichaltrigen Freunde bei. Die Brüche in der familiären Lebenswelt werden besonders im Lebensverlauf nach dem Tod der Mutter sehr schnell durch die Aufnahme in die Pflegefamilie und die Bereitstellung von für Florian attraktiven Ressourcen der Geborgenheit, der Sicherheit und auch der Privatheit ausgeglichen. Brüche und Lücken in der Lebenslinie der Repräsentanten des Typs E werden erlitten bzw. auch provoziert, d.h. sie brechen über die Akteure herein, oder aber resultieren mehr oder weniger aus den Handlungsweisen der Akteure. So erleben Sabina und Florian auch aufgrund ihres jungen Alters hilflos und ohnmächtig den völligen Abbruch ihrer familiären Lebenswelt nach der Erkrankung bzw. den Tod eines Elternteils durch die Aufnahme in die neue Familie. Diese Aufnahme geschieht bei Florian zwar mit seiner Zustimmung, aber attraktivere Möglichkeiten stehen ihm nicht zur Verfügung. Und auch der fehlende Wille bzw. die fehlenden Möglichkeiten des hinterbleibenden Elternteils zur Aufnahme der Halbwaisen werden von beiden als Verlaufskurve erfahren. Andere Personen als sie selbst bestimmten über den Fortgang ihres Lebensweges. Auch der junge Leonhard erlebt im ersten Jahr nach dem Tod des Vaters den Zusammenbruch seiner Lebenslinien in den Lebenswelten wie ein böses Schicksal. Fremde Hilfestellung oder persönliche Stärke stehen ihm in seinen schulischen Abbrüchen nicht zur Verfügung. Katharinas Abbrüche sind dagegen provoziert und Resultate ihres bewusst abweichenden Verhaltens. Als Charakteristikum des Typs B wurde die Abhängigkeit dieses Typs von geeigneten Ressourcen dargestellt, die die Verstörungen und Verwirrungen aussteuern und ausgleichen konnten. Für den Typ E fehlen auch solche funktionalen Ressourcen als Ausgleichskräfte angesichts des provozierenden Verhaltens oder aber eines ‚bösen Schicksals‘. Die lebensweltlichen Systeme erleiden eine ‚Unwucht‘ und geraten ‚ins Trudeln‘. 166

Katharina führt durch ihr Verhalten eine solche Unwucht selbst herbei und niemand sorgt für einen Ausgleich. Erst später kann sie auf die wichtigste Ressource, die ihr in der Neuorganisation ihres Lebensweges zur Verfügung steht, zurück greifen: Ihre persönliche Handlungsstärke. Hatte sie diese Stärke zuvor eingesetzt, um möglichst trickreich dem nicht wertgeschätzten Besuch schulischen Unterrichts und den schulischen Sozialkontakten zu entgehen, so setzt sie nach dem vorläufigen Abbruch ihrer Schulkarriere mit einem für sie nicht akzeptablen Zertifikat ihr persönliches Potential zur Handlungsregulation erfolgreich zur Wende bzw. Umorganisation ihrer Lebenslinien hin auf ein zufrieden stellendes Erreichen eines erwachsenen Lebensweges ein. Sabina, Florian und Leonhard erleiden fast ohnmächtig diese desorganisierenden Kräfte. Leonhard fehlen nach dem Tod des Vaters vollständig eigene und fremde Kräfte, um den Unwuchten in den Lebenswelten entgegen zu steuern. Für die Lebenswelt der Schule fehlt ihm die Unterstützung des Vaters, die er hilflos durch das Tragen der Uhr des Vaters bei der Nachprüfung auszugleichen versucht. Für eine Reorganisation der Familie fällt die Mutter aufgrund eigener Reaktion auf den Tod des Ehemannes für längere Zeit aus. Die durch ihn vorgenommene und selbstbestimmte Wahl der Freunde in der Szene erweist sich letztendlich nicht nur als eine ‚leicht falsche‘ Wahl (Katharina). Den Lebensverläufen der Repräsentanten des Typs E haftet also auch etwas ‚Schicksalhaftes‘ an. Sie sind wie Katharina ‚ihres Glückes Schmied‘ und erscheinen zugleich als die Opfer, deren Lebenslinien abgebrochen werden, weil ihnen nach dem Tod des nahen Anderen die ‚Lebens-Mittel‘ ausgegangen sind. Dass allen nach einiger Zeit die Aufnahme einer positiv auf zukünftige Entwicklung ausgerichteten Lebenslinie gelingt, verdanken sie eigener Initiative und dem Zufließen neuer Kräfte, die vor allem Leonhard und Katharina nach den Irrwegen auf einen guten neuen ‚Weg‘ (Katharina) führen.

Typ E und eine ‚innere Provinz der Trauer‘ Katharina erzählt nicht von einer längeren, möglicherweise bis in die Gegenwart reichenden Trauerzeit. Trauergefühle sind für sie kein Thema der Gegenwart und auch kaum der Vergangenheit. 167

Zu ihren Befindlichkeiten unmittelbar nach dem Tod des Vaters erklärt Katharina, dass sie auch ‚natürlich‘ getrauert habe, ‚weils. viel zu plötzlich war.‘ Sie spricht damit ein spezifisches ‚Trauer‘-Verhalten nach dem Tod des Vaters und zugleich auch erlebte Befindlichkeiten zum Tod des Vaters an. Ihr Leben in dieser Trauerzeit ist für sie ‚merkwürdig‘; andere Interviewpartner nennen diese Erfahrungen ‚komisch‘. Auf Zeiten der intensiven sozialen Kontakte folgen Zeiten des Alleinseins mit ihrer Mutter. Katharina möchte schnell zur Normalität ihres Lebens zurückzufinden, und auch die Mutter ‚hat sich bemüht uns nicht zu zeigen dass sie trauert (3) aber es gab auch Tage wo wir zusammen sassen und ( ) den ganzen Tag nur geredet haben. über die Zeit (2)‘. Hier erzählt Katharina von den gemeinsamen Gefühlen, den gemeinsamen Erinnerungen und auch vom Trost, der in dieser ‚schweren‘ Zeit gespendet wurde. Katharina erlebt diese ‚Trauerzeit‘ in den Wochen und vielleicht Monaten nach dem Tod des Vaters gemeinsam mit der Mutter als eine besondere und außergewöhnliche, für sie aber auch befremdliche Zeit. Die Vorgänge und Verläufe der Trauerriten bei der Beerdigung erlebt sie als sehr negativ; ‚seitdem‘ geht sie ‚nie wieder in ne Kirche‘. Katharina ist froh, als sie nach einiger Zeit die Normalität ihres jugendlichen Lebens wieder leben und sie mit dieser Art von Trauer abschließen kann. Diese ‚merkwürdige‘ Trauerzeit und ihr Verhalten in der Schule in dieser Zeit sieht Katharina in besonderer Weise miteinander verknüpft. Sie hat in der Schule den Status einer ‚Trauernden‘, insofern sie von ihrer schulischen Umwelt als solche behandelt wird: ‚Wie ein rohes Ei‘. Und weil Lehrer und Schüler in dieser Form mit ihr umgehen, deshalb darf sie sich dazu auch passend verhalten, d.h. die Schule ‚schwänzen‘. Katharina erinnert sich, dass sie in der Trauerzeit legal der Schule fernbleiben durfte, und sie erlebte auch in Bezug auf abweichendes Verhalten sehr viel Verständnis von Seiten der Lehrer und der Schüler: ‚die haben das alle auch auf den Tod von meinem Papa geschoben aber ( ) ich hatte einfach keine Lust in dem Moment‘. Katharina bemerkt deutlich, dass ihr diese ‚Maske‘ gar nicht passt, dass diese ihr angetragene Trauer gar nicht ihren Empfindungen entspricht und dass sie ganz andere Motive hat, der Schule fern zu bleiben, als es ihre Umwelt ihr unterstellt. Sie empfindet das Verhalten ihrer Mitschüler und Lehrer deshalb als verlogen; es ist ihr peinlich, im Mittelpunkt des Interesses zu stehen und es entspricht auch nicht ihrer schon lange gewachsenen Ablehnung 168

des Schulbesuches und der sozialen Kontakte zu den Mitschülern. Aber für eine gewisse Zeit ‚spielt‘ sie in der schulischen Lebenswelt die ‚Trauernde‘ und nutzt diese Identität zu Legalisierung ihres Verhaltens. In gewisser Weise versteht sie ihr ‚Schwänzen‘ als ihr ganz besonderes und eigenes Trauerverhalten nach dem Tod ihres Vaters, denn dieses Verhalten mündet später ein in ein grundsätzliche Verhalten der Schule gegenüber, das zu den Lücken und Abbrüchen ihrer Biographie führt. Für Katharina sind ihr Verhalten in einer besonderen Trauerzeit und und ihre späteren Entscheidungen miteinander verknüpft. Sie ist ‚dann erst mal lange Zeit zuhause geblieben. also nicht mehr weiter in die Schule gegangen‘. Ihr ‚Schwänzen‘ der Schule und ihr Leistungsabfall sind temporal und nicht etwa kausal mit der besonderen Trauerzeit verbunden, d.h. der Tod des Vaters ist nicht, wie Lehrer und Mitschüler glauben, Ursache ihrer Schulverweigerung. Ihr Fehlen in der Schule in dieser Zeit wäre damit legitimiert. Den Schulbesuch zu verweigern hat Katharina schon vor dem Tod des Vaters entschieden; diese Entscheidung realisiert sie nach seinem Tod. Sein Fehlen in der Organisation der Familie (‚es war. danach n bischen leer bei uns (3)‘) und die fehlende Aufsicht ihres Verhaltens, die sie dem Vater unterstellt, wenn er weitergelebt hätte, erleichtert ihr später in der Folge solcher Legitimierung die Realisation ihrer Entscheidung. Erst das Verhalten des Soziallehrers auf dem Berufskolleg unterbricht einen solchen Legitimationszirkel. Katharina hat nach einer ‚Trauerzeit‘ unmittelbar nach dem Tod des Vaters zu einer Normalität des jugendlichen Lebens zurückgefunden, die nicht ‚die ganze Zeit‘ von dem Erleben eines Gefühls der Trauer und einem entsprechenden Verhalten geprägt wurde (s. Typ A) Der Tod des Vaters ist aus ihrer gegenwärtigen Sicht ‚einfach passiert und ( ) is gut.‘. Sie hat mit dem Erlebnis des Todes des Vaters ‚abgeschlossen‘. Sein Tod ist nach einer Zeit der ‚Trauer‘ nicht mehr bestimmend für ihr Leben. Sie hat gelernt, dieses Leben ohne den Vater zu führen. Dieser fehlt ihr in der Zukunft nur noch dort, wo sie von ihm mehr Ansporn und Aufforderungsdruck zum Besuch der Schule erwartet hätte. Darüber hinaus ist der Vater zu einer Person der Vergangenheit und der Erinnerung an ihn geworden. Er war eine wichtige Person ihres Lebens, an den sie hin und wieder bei Gelegenheit zurückdenkt. Er wird als ‚Papa‘ in ihrer Erinnerung z.B. dann wieder lebendig, als Katharinas Mutter eine neue Beziehung eingeht. Katharina vergleicht dann diesen neuen Partner mit der Person des Vaters. Da für Katharina diese neue Beziehung 169

aber nicht konfliktbehaftet ist, fällt ihr die Erinnerung an ihren ‚Papa‘ auch hier nicht schwer. Sie erlebt jene ‚innere Provinz der Trauer‘, deren Phänomen und Bedeutung bereits diskutiert wurde, in die sie in ihrem Leben von Zeit zu Zeit einkehrt, die sie dann aber auch wieder verlässt und die daher ihr jugendliches Leben nicht beeinflusst oder gar dominiert. Der Tod des Vaters bedeutet für Leonhard den Verlust jeder Möglichkeit, in den Schwierigkeiten des Lebensverlaufs seines Sohnes Ressource zu sein. Leonhard sucht Kontakt zu anderen, auch erwachsenen Personen. Zu einem dieser Bezugspersonen nimmt die Mutter dann auch eine Beziehung auf. In Bezug auf den Vater verweigert Leonhard jede Kommunikation, d.h. er schweigt in Bezug auf sein Sterben und seinen Tod und die Bedeutung für das Weiterleben der Familie; er schweigt aber auch in Bezug auf das Leben des Vaters und welche Bedeutung dieses Leben für ihn hatte. Für das Gefühlsleben Leonhards ist deshalb im Vergleich zu Katharina in einem noch geringeren Maße das Phänomen einer ‚inneren Provinz der Trauer‘ zu vermuten. Für Leonhard bedeutete der Tod des Vaters das abschließende Ende jeder Beziehung zwischen Vater und Sohn. Leonhard könnte hier wie Katharina sehr realistisch und pragmatisch darauf verweisen, dass die Person des Vaters keine Bedeutung für seine Zukunft hat und er selbst vor der Aufgabe steht, seine Lebenslinien zu verfolgen. Eine Rückerinnerung an den Vater ist ihm hier keine Hilfe und dient ihm nicht der Orientierung. Katharina ihrerseits konnte sich zumindest vorstellen, dass ein lebender Vater ihrem jugendlichen Leben die eine oder andere alternative Wendung gegeben hätte. Der Bezug auf den Willen und auch die Notwendigkeit einer eigenen Handlungsregulation für die Weiterführung der Lebenslinien ist eine Merkmalsausprägung des Typs E. Dies bezieht sich für Leonhard und Katharina auch auf ihre innere Provinz der Trauer. Das Ausleben dieser Gefühlswelt ist außerhalb einer gewissen Trauerzeit ist beiden nicht hilfreich für das Weiterleben und die Weiterentwicklung der jugendlichen Lebenslinien.

170

Die Typologie als Beantwortung der Fragestellung Wie geht das Leben von Jugendlichen nach dem Tod eines nahen Anderen weiter? Anhand der biographischen Analyse des Materials wurden fünf Typen des Lebens von Jugendlichen nach dem Tod eines nahen Anderen aus den Fallgeschichten entwickelt und oben dargestellt. Sie wurden in Orientierung an der oben dargestellten Basistypik (4.1.) und deren Merkmalsausprägungen in den Lebenswelten der Jugendlichen, der Familie, der Schule und der Gleichaltrigengruppe/​Freizeitwelt entwickelt: In Bezug auf die gefundenen Typen wird im Folgenden eine Typologie konstituiert, in der die Typen A bis E in ein ‚Gesamtbild‘ des jugendlichen Lebens nach dem Tod eines nahen Anderen synthetisiert werden. Zugleich soll die Struktur dieser Typologie, d.h. die Zuordnung der Typen in diese Typologie dargestellt werden:

Beschleunigung und Verstärkung

Lücken und Brüche

C

E

A D

B

Stillstand und Regression

Verstörung und Irritation

171

Typ A als Grundtyp der Typologie Typ A ist innerhalb des Diagramms im Zentrum der Typologie angeordnet. Er wurde als der Grundtyp der Typologie herausgearbeitet. Die weiteren Typen B bis E sind Variationen dieses Grundtyps, d.h. in ihnen sind anhand der sie repräsentierenden Fallgeschichten zu Typ A abweichende Merkmalsausprägungen nachweisbar, die die Entwicklung der variierten Typen und ihre Einordnung in das Gesamtbild der Typologie rechtfertigten. Der Typ A als Grundtyp der Typologie ist aus einer größeren Zahl von Fallgeschichten des Samples dieser Forschungsarbeit entwickelt worden, von denen oben drei Fälle als Repräsentanten dargestellt wurden. Er ist sogar aufgrund seiner mehrheitlichen Repräsentation im Sample, so meine Vermutung und ein wichtiges Ergebnis der vorliegenden Forschungsarbeit, in einer quantitativen Forschungslogik auch der ‚Mehrheitstyp‘ dieser Typologie. D.h.: In Typ A ist die Mehrheit individueller jugendlicher Lebenswege nach dem Tod des nahen Anderen abgebildet. Sein Grundcharakteristikum ist: Das jugendliche Leben nach dem Tod des nahen Anderen der diesem Typ zuzuordnenden Jugendlichen geht als Ganzes zwar nicht unverändert weiter (siehe die Diskussion dazu weiter unten), aber es geht in seinen alters- und entwicklungsspezifischen Linien und seinen Ausprägungen unbeeinträchtigt weiter. Die je nach Fallgeschichte differierenden, situativ bedingten und notwendigen Veränderungen innerhalb eines Kollektivs, die bei für die Gemeinschaft und den Einzelnen bedeutsamen Ereignissen wie dem Tod eines Familienangehörigen nötig werden, nehmen keinen dramatischen Einfluss auf die Lebenslinien der Akteure in ihren Lebenswelten. Dies beantwortet die Forschungsfrage dieser Arbeit, bezogen auf den Typ A. Die Forschungsfrage bezog sich auf weitergehendes Leben nach dem Tod in den „Lebensbereichen jugendlichen Daseins“ (Fuchs-Heinritz et al. 1991: 220), also den Lebenswelten der Familie, der Schule und der Gleichaltrigen. Die Ausprägungen des weitergehenden Lebens freilich sind vielfältig in Bezug auf die „Bewegungsformen, mittels derer Jugendliche heute ihren Weg durch die 172

Jugendphase gehen“ (ebd.). Nicht etwa ‚wird alles anders‘, sondern ‚alles bleibt, im Wesentlichen unverändert, wie es war‘ und das Leben der Jugendlichen geht weiter wie zuvor, wenn auch mit immer wieder vorzunehmenden strukturellen Veränderungen und Anpassungen an die jeweils vorfindlichen Situationen und Beziehungsgeflechte. Dieses Ergebnis bezieht sich nicht auf die mehr oder weniger kurze Zeit nach dem Tod eines nahen Anderen, die von allen Informanten als eine spezifische ‚Trauerzeit‘ erzählt wurde. Die Erzählungen zum Verlauf dieser Zeit wurden in den Interviews in der Regel durch darauf zielende Frage des Forschers initiiert. Berichtet wurde dabei von einem Moratorium für die ‚trauernden‘ Jugendlichen, das sich z.B. in einem legalisierten Fernbleiben von der Schule für einige Tage manifestierte. Erzählt wurde von der Organisation und Durchführung der Bestattung und von den für die Jugendlichen irritierenden Erfahrungen bei diesen Vorgängen, die diese Zeit gemeinsam mit älteren Angehörigen erleben und deren emotionalem Verhalten mit Unverständnis begegnen. Insbesondere in Bezug auf die Lebenswelt der Familie berichten die Informanten für die Zeit unmittelbar nach dem Tod eines Familienangehörigen als nahem Anderen von umfassenden Maßnahmen der Reorganisation des familiären Rollengefüges und von der Neuordnung z.B. der praktischen Aufgaben innerhalb des Haushaltes. Diese Neuorganisation innerhalb der ersten Monate nach dem Tod (z.B. unter der Fragestellung: Und wer passt jetzt auf die Kinder auf?) wurde von einigen minderjährigen Informanten auch als konfliktbehaftet erzählt. Dauerten diese Konflikte längere Zeit an, so waren die entsprechenden Fallgeschichten in einen anderen Typ einzuordnen. Diese mitunter sehr kurze, besondere Trauerzeit in ihren Varianten nachzuzeichnen, war aber nicht Aufgabe dieser Forschungsarbeit, denn deren Fragestellung bezieht sich auf einen längeren Zeitablauf mit darin verlaufenden Lebenslinien, von denen manche Informanten dann auch erst Jahre nach dem Ereignis des Todes des nahen Anderen erzählen. Diese als ein Ergebnis festgestellte fehlende Dramatik des in seinen ‚normalen‘ Bahnen jugendlicher Lebenslinien weiterlaufenden Lebensweges eines vermuteten Mehrheitstyps A scheint mit Ergebnissen aus psychologisch-psychotherapeutischen Studien nicht kompatibel zu sein. In ihnen werden sehr oft dramatische Prozesse psychischer und daraus folgend auch somatischer und sozialer Veränderungen in jugendlichem Leben nach dem Tod eines nahen Anderen diagnostiziert, und deshalb werden dem Tod eines nahen Anderen erhebliche psychische 173

und soziale Veränderungspotentiale zugewiesen. Bei den Jugendlichen des Typs A konnten aber solche dramatischen Prozesse in Bezug auf die sozialstrukturellen Veränderungen nicht nachgewiesen werden. Und auch in Bezug auf die Basistypik 2 (s.o.), die sich auf Ausprägungen der Befindlichkeiten der Informanten nach dem Tod ihres nahen Anderen bezog, also auf ein in dieser Forschungsarbeit so benanntes ‚Grundrauschen‘ der Trauer im Bereich innerer Befindlichkeiten, wurden von einigen Informanten bei der Schilderung der Ereignisse und Erlebnisse unmittelbar nach dem Tod zwar von Gefühlen (‚ich war sehr traurig‘) und Emotionen (‚ich habe geweint‘ – ‚wir haben miteinander geweint‘) erzählt. Andere Informanten äußern dagegen Irritationen in Bezug auf ihre gar nicht traurigen Befindlichkeiten und ihr eigenes, nüchternes und vom Tod des nahen Anderen kaum beeindrucktes Verhalten in dieser Zeit: Nicht geweint zu haben bzw. sehr schnell wieder zur ‚Tagesordnung‘ eines jugendlichen Lebens gefunden zu haben, wird dem erlittenen Verlust gegenüber als nicht angemessen interpretiert. Die für das Weiterleben der Jugendlichen des Typs A festgestellte ‚Undramatik‘ bedeutet nun freilich nicht, dass ihr Leben ‚einfach so‘ weitergegangen ist, als sei nichts geschehen. Leben nach dem Tod des nahen Anderen initiiert als ein Leben nach eingetretenen Veränderungen sozialer Konstellationen von sich allein Prozesse der Anpassung an neue Situationen und auch der Veränderung bisherigen Verhaltens und bisheriger Rollenkonfigurationen. Für die minderjährigen Jugendlichen des Samples beeinflussen besondere Maßnahmen zur Reorganisation des Rollengefüges im Bereich der familiären Lebenswelt nach dem Tod eines Familienmitglieds die Abläufe ihres jugendlichen Lebens im Familienheim noch für längere Zeit nach dem Tod. Sie sind nun sehr viel mehr allein zu Hause, sorgen für sich und mitunter auch für jüngere Geschwister oder werden von älteren Geschwistern versorgt oder andere Familienmitglieder, wie Onkel und Tanten, übernehmen ihre Versorgung. Die Übernahme von Aufgaben im Haushalt wird ihnen aufgetragen und führen bei Nichteinhaltung zu Konflikten. Diese notwendigen Maßnahmen der Reorganisation führen für die Jugendlichen des Typs A aber nicht zu Verstörungen und Irritationen (Typ B) oder gar zu Lücken und Abbrüchen (Typ E) in der familiären Lebenslinie, sondern die vorzunehmenden Veränderungen werden von ihnen pragmatisch, weil notwendig, oder gar als attraktive Ressourcen für die Fortführung ihrer gewohnten und in ihren Abläufen und Ausprägungen auch geschätzten Lebenslinien angenommen 174

und in die Führung ihres weiteren jugendgemäßen Lebensverlaufes assimiliert. Akteure wie Skadi genießen z.B. die größeren Freiheiten ihres häuslichen Alleinseins zur selbstverantwortlichen Ausgestaltung ihres Lebens bei gleichzeitiger neuer Verantwortung für die jüngere Schwester am Wochenende. Diese Belastung wird von ihr mit Blick auf die größere Privatheit in der Woche gern angenommen. Die Schullaufbahn wird wie vor dem Tod des nahen Anderen von den Jugendlichen des Typs A zielorientiert und mit Erfolg durchlaufen (hier variiert die Lebenslinie in der Lebenswelt der Schule bei den Repräsentanten der Typen B und E); Verstörungen innerhalb dieser Lebenswelt werden nicht erzählt bzw. sind als kurzfristige Beeinträchtigungen innerhalb der ‚Trauerzeit‘ unmittelbar nach dem Tod des nahen Anderen nicht der Erzählung wert. Die Bildungsanforderungen und -ziele des jugendlichen lebensgeschichtlichen Programms bleiben bestehen, und sie werden aufgrund der schulischen Leistungsfähigkeit der Informanten unbeeinträchtigt weiter verfolgt. Die Kontakte zur Lebenswelt der Freizeit und zur Gleichaltrigengruppe werden beibehalten. Alle Informanten berichten zwar von mitunter ‚seltsamen‘ bis ‚komischen‘ Verhaltensweisen ihnen gegenüber in ihrer sozialen Umwelt in der Schule und in der Gleichaltrigengruppe. Dieses Verhalten erzählen sie aber nur in Bezug auf jene erste ‚Trauerzeit‘ kurz nach dem Tod und dann in der Zeit bis zur Beerdigung. Für spätere Zeiten werden solche Verhaltensweisen ihnen gegenüber gar nicht mehr erwähnt. Manche Informanten wie z.B. Katharina, Marie oder Stefanie berichten über später statt gefundene Gespräche mit Lehrern oder Freunden über den Tod des nahen Anderen. Erinnerungen an solche singulären Ereignisse sind aber dem Interview und seinem Thema geschuldet: Hier werden in der Folge des Stimulus die Informanten in eine Identität als Hinterbleibende und als ‚Trauernde‘ gestellt und diesbezügliche Erlebnisse in den Fokus der Erzählung gerückt, d.h. die Informanten erzählen vor allem auch von Erlebnissen, in denen diese Teilidentität von inhaltlichem Belang war bzw. thematisiert wurde. In diesem Zusammenhang wie Marie zu weinen, ist ebenso dieser interviewaktuellen Identität und Befindlichkeit geschuldet und nicht ein Merkmal einer dauerhaften Traueridentität. In den Zeiten zuvor haben die Repräsentanten des Typs A (wie auch in der Regel die Repräsentanten der anderen Typen auch) ihr Leben nicht im Sinne einer solchen Fremd- oder Selbst175

stigmatisierung als ‚Trauernde‘ bzw. in eigenen Worten (Skadi) als ‚Trauerklöße‘ gestaltet, sondern sie haben weiterhin an jugendgemäßen Freizeitaktivitäten teilgenommen, ihre Hobbys wie zuvor verfolgt, ihre Partnerschaften gepflegt und sind neue Partnerschaften eingegangen, ohne dabei ihren Waisenstatus hervorzuheben und immer wieder zu thematisieren. Kurzum: Nach dem Tod des nahen Anderen werden die generellen Lebenslinien der Jugendlichen des Typs A nicht wesentlich beeinflusst oder verändert. Und solches unveränderte Weitergehen des Lebens, so wird vermutet, trifft auf das Leben der Mehrheit der Jugendlichen nach dem Tod eines nahen Anderen zu. Welches können die Gründe eines solchen Nicht-BeeinträchtigtWerdens sein, und welche Faktoren stützen diese Vermutung? Gedacht werden kann an folgende Faktoren: (1) Schulzeit und Familienzeit sind aufgrund sozialstaatlicher Gesetzeslage bedeutsame Faktoren zur Strukturierung minderjähriger jugendlicher Lebensabläufe (vgl. aber Fuchs-Heinritz et. al.1991: 220f). Ein Korsett moderner sozialstaatlicher Maßnahmen soll bei minderjährigen Jugendlichen insbesondere die Möglichkeit negativer sozialstruktureller Ausprägungen des Lebens nach dem Tod eines nahen Anderen herabsetzen, wie sie sich z.B. in Brüchen und Lücken in der jugendlichen Biographie besonders in der Familie oder in der Schule manifestieren können. Die Lebensverläufe von Jugendlichen in allen Lebenswelten sind deshalb zum Zweck einer positiven gesundheitlichen und psychosozialen Entwicklung der Jugendlichen sozialrechtlich in mehr oder weniger engen Eingrenzungen abgesichert. Über einen diese Entwicklungen nicht beeinträchtigenden Lebensverlauf eines minderjährigen Jugendlichen innerhalb der Familie oder in ähnlichen Sozialformen zur Erziehung von Jugendlichen ‚wacht‘ der Staat und übt, z.B. durch die Arbeit der Jugendämter, die Kontrolle aus. Für die Kontrolle einer Einhaltung des jugendlichen Schulbesuchs aufgrund einer Schulpflicht wacht neben der Schule selbst die zuständige Bezirksregierung. Katharina kann deshalb von einem von einer Bezirksregierung des Landes NRW der Familie auferlegten Bußgeld erzählen, das aufgrund ihres Fehlens ohne Attest vor den Ferien angeordnet wurde. Hier sind die Lebenswelten der Familie und der Schule im Rahmen des sozialstaatlichen Korsetts ‚zum Wohle der Jugendlichen‘ eng verzahnt. 176

Den Umgang von Jugendlichen in der Freizeitwelt will zum Schutz der Jugendlichen das sogenannte ‚Jugendschutzgesetz‘ regeln. Jugendliche, die sich in ihren Lebenslinien an diesen strengen Formen der Strukturierung jugendlichen Lebens orientieren, gehen zunächst einmal nicht in die Irre. Jugendliche mit abweichenden Lebenslinien sollen in einem Netz weiterer sozialstaatlicher Maßnahmen aufgefangen werden. Die Einordnung der Schulzeit als bedeutsam für die eigene Biographie ist allerdings den jugendlichen Akteuren anheim gestellt und kann gegebenenfalls zu Konflikten innerhalb dieser Lebenswelten führen (wenn z.B. Katharina die Strukturierung ihres Lebens durch die Schule ablehnt oder Leonhard sich in all seinen Lebenslinien nicht in dieses sozialstaatliche Netz einfügen will: Er bestimmt jenseits des Willens seiner Erziehungsberechtigten seinen Aufenthalt selbst, er verweigert den Schulbesuch und er hält sich in seiner Freizeit nicht an die Auflagen des JuSchG). In den Lebensgeschichten der Jugendlichen des Samples dieser Forschungsarbeit waren solche Ausprägungen eines lücken- und bruchstückhaften Lebensweges zunächst nicht nachweisbar; eine daran anschließende theoretische Erörterung legte aber trotz der unterstellten Wirksamkeit der sozialrechtlichen Regelungen Ausprägungen eines solchen jugendlichen Lebens für den Bereich der Bundesrepublik Deutschland nahe. Aus der Geschichte Europas, aber auch aus der Gegenwart in der Realität nicht weniger Länder aus anderen Teilen der Welt sind massive Brüche für die Lebens- und Entwicklungsgeschichte von Kindern und Jugendlichen nach dem Tod eines nahen Anderen, insbesondere eines oder mehrerer Elternteile nachweisbar (Meumann 1995). Als Folge solcher Überlegungen wurde daraufhin Typ E theoretisch konstituiert und daran anschließend Repräsentanten dieses Typs gewonnen und daraus der Typ E entwickelt. (2) Die durch quasi normative Ablaufmuster vorgegebenen jugendlichen Lebenslinien erweisen sich bei den Jugendlichen des Samples zudem als konservativ, d.h. als stark und gegenüber sozialen und emotionalen ‚Unwuchten‘ irritationsresistent. Die Anforderungen der Lebenswelt der Schule lassen für längere Trauermoratorien und daran orientiertes besonderes Verhalten oder Leben keinen Raum. Hier muss Trauer ‚warten‘ (Stefanie) oder findet erst gar nicht statt. Faktische Anforderungen in Bezug auf die Neuorganisation der Familie wirken normativ und lassen wenige Alternativen zu. Die Jugendlichen des Samples stellen sich sehr 177

schnell auf Veränderungen in der familiären Organisation ein. So steht für minderjährige Jugendliche des Typs A gegenüber einem weiteren Wohnen im Familienheim in der Regel keine Alternative zur Verfügung; ein Wohnen außerhalb des Familienheims ist aber zugleich für die Jugendlichen des Samples aufgrund der komfortablen Wohnsituation und des zugestandenen Maßes an Privatheit auch (noch) nicht attraktiv (anders Amelie in Typ B). Auch eingeschlagene Lebenslinien in der Freizeitwelt (Ausübung eines Hobbys, Leistungssport, Mitgliedschaften in einem Netzwerk) haben eine Tendenz zur Beibehaltung und werden von den Akteuren nur unter dem Druck einer Notwendigkeit verändert, wenn z.B. die Familie nach dem Tod des nahen Anderen in eine andere Wohnung umziehen muss. Freundschaften bleiben auch nach dem Tod des nahen Anderen erhalten, neue Beziehungen werden je nach Angebotslage aufgenommen. (3) (Nicht nur) Jugendliche leben ressourcen-orientiert, sie ‚konservieren‘ die von ihnen wertgeschätzten Ressourcen und gestalten mit ihnen ihren Lebensverlauf. Wertgeschätzte Ressourcen für einen angestrebten Lebensverlauf sind z.B. eine Geborgenheit vermittelnde Familie, genügend finanzielle Mittel, eine schulische Umwelt, die ihnen Wertschätzung entgegenbringt und in der sie Erfolg haben in der Verfolgung ihrer angestrebten Bildungsziele, ausreichende und einer Eigenbestimmung unterstellte Freizeit und inkludierende soziale jugendliche Netzwerke. Stehen diese Ressourcen in zufrieden stellender Weise zur Verfügung bzw. werden ihnen solche Ressourcen in ihren Lebenswelten weiterhin angeboten, werden die Lebenslinien, die die Jugendlichen mit der Hilfe dieser Ressourcen bereits zuvor gelebt haben, nicht verlassen. Die aufgrund vorhandener Ressourcen wertgeschätzte Weiterführung eines unveränderten jugendlichen Lebens ist erstrebenswert. Auf Ressourcenverknappungen (der Lebensraum in der Familienwohnung für Leonhard und seine Schwester wird durch Umzug kleiner und es kommt zum Auszug des erwachsenen Kindes; fehlende finanzielle Ressourcen lassen an Jugendliche an anderer Stelle nach Ersatz suchen (Leonhard) oder auch auf neu angebotene Ressourcen (Matz erhält einen größeren Wohnraum, Sebastian wird von seinem Vater in der Beschaffung eigenen Wohnraums unterstützt, Stefanie gewinnt durch die Inklusion in ein neues Netzwerk für trauernde Jugendliche eine für sie wichtige soziale Ressource) reagieren die Jugendlichen unmittelbar durch den Vorgang der Ressourcenkonservierung. Entsprechende Veränderungen werden in die Veränderung der Ausgestaltung eines jugendlichen Lebens einbezogen. 178

Diese Veränderungen können freilich deutlichere bzw. sogar dramatischere Folgen haben und generieren damit die von Typ A abweichende Typen B bis E. (4) Durch Ressourcen ermöglichte wertgeschätzte Lebenslinien eines jugendlichen Lebens vor allem in der familiären und der freizeitlichen Lebenswelt werden von den Repräsentanten des Typs A deshalb beibehalten, denn diese Lebenslinien sind für sie attraktiv. Eine Trauerzeit direkt nach dem Tod des nahen Anderen mit ihren unverständlichen und vor allem in Bezug auf eine jugendliche Lebensführung teilweise restriktiven Regeln ist aber keinesfalls erstrebenswert und wird deshalb als Einschränkung dieser Attraktivität des jugendlichen Lebens verstanden und folgerichtig nur sehr ungern ausgelebt bzw. von den Erwachsenen den Jugendlichen in der Regel als spezielle Trauerzeit erst gar nicht auferlegt. (5) Die Orientierung der Lebensführung an der Attraktivität der vorhandenen Ressourcen führt für die Jugendlichen zu einer ‚trauerfreien‘ Befindlichkeit. ‚Trauer‘ wird so für Stefanie erst viel später attraktiv, wenn sie in ihren neuen Netzwerken neue Ressourcen gewinnt. Trauer wird von den Jugendlichen als Befindlichkeit erlebt, wenn diese Trauer sozial durch entsprechendes Verhalten und Veräußerlichung im sozialen Zusammenhang gelebt wird. Die Informanten berichten, dass ein solches ‚Trauerverhalten‘ schon in der unmittelbaren ‚Trauerzeit‘ nur ein marginaler Bestandteil des inneren und emotionalen Lebens in der Gruppe ist. In späterer Zeit geht das jugendliche Leben vom Todesfall in Bezug auf eine Befindlichkeit der ‚Trauer‘ völlig ‚unberührt‘ weiter, denn Trauer wurde und wird später im jugendlichen Leben nicht mehr ausgeformt. Die Teilnehmer des Internetforums bemängeln, dass man nicht mehr darüber ‚spricht‘ und deshalb darüber nicht mehr nachdenkt. In der Familie Leonhards werden hin und wieder Bilder betrachtet, Matz und Klara haben – vielleicht auch nur für das Interview – einen ‚Hausaltar‘ zum Gedenken an den toten nahen Anderen aufgebaut. Allein in solchen Ausformungen der ‚Trauer‘ werden von ihnen Befindlichkeiten erlebt, und daher zeigen einige Informanten auch im Interview als einer besonderen Art der Ausformung der ‚Trauer‘ Emotionen. Dieses Ergebnis dieser Forschungsarbeit widerspricht freilich einem psychologischen Paradigma, das bei Hinterbleibenden eine primäre Gefühlslage postuliert, aus der sich Handlungsregulationspotentiale ableiten, und es stellt den Zusammenhang von ‚Trauer‘ und Verhalten ‚vom Kopf auf die Füße‘. 179

Die Struktur der Typologie Die Typen B bis E sind in der oben auch graphisch dargestellten Typologie Varianten des Grundtyps A. Sie variieren in den Ausprägungen ihrer Merkmale aber nicht nur zu Typ A, sondern auch untereinander haben sich in der Analyse der Fallgeschichten und der Entwicklung der Typen Beziehungen der Nähe und des Kontrastes der Typen zueinander gezeigt. Die Eintragung an eine bestimmte Stelle innerhalb des oben dargestellten Diagramms ist deshalb nicht zufällig gewählt, sondern sie soll die Zuordnungen der Typen, d.h. zugleich auch die innere Struktur der Typologie in Form der Graphik verdeutlichen. Die aus den jeweiligen Fallgeschichten entwickelten Typen und ihre Merkmalsausprägungen stehen dabei untereinander in einem Verhältnis der Gemeinsamkeiten und des Kontrastes in den Ausprägungen der Merkmale. Die Typen sollen im Folgenden in ihren vielfältigen Bezügen, ihren Kontrasten und ihrer Variationsvielfalt dargestellt werden. Als grobe Orientierung mag dabei die Eintragung in das Typologie-Diagramm oben dienen: (1) Die Typen E und B und die Typen C und D bilden jeweils eine Gruppe. In einer bestimmten Merkmalsausprägung kontrastieren die beiden Gruppen. (2) Die Typen innerhalb der beiden Gruppen zeigen im Kontrast zur anderen Gruppe Ähnlichkeiten auf, sie kontrastieren aber untereinander innerhalb der Gruppe. (3) Die Typen C und E weisen Ähnlichkeiten auf. (4) Die Typen D und B weisen Ähnlichkeiten auf.

Die Typen E und B – Nähe und Kontrast Die Typen E und B bilden innerhalb der Typologie eine Gruppe, die sich von der Gruppe der Typen C und D in bestimmten Merkmalsausprägungen unterscheidet. Zugleich kontrastieren die Typen E und B untereinander. Typ E und in Abschwächung Typ B sind im Vergleich zum ‚undramatischen‘ Grundtyp A die ‚dramatischen‘ Typen der Typologie. 180

Dies gilt in besonderem Maße für den Typ E. In Typ E zeigen sich sehr dramatische Veränderungen des Lebens nach dem Tod des nahen Anderen über einen längeren Zeitablauf. In den einzelnen Lebenswelten zeitigen sich massive Lücken und Abbrüche der gewohnten und bisher eingeschlagenen Lebenslinien. Aufgezeigt werden konnten bei beiden Repräsentanten Abbrüche in der schulischen Lebenswelt, in der Bildungsziele zunächst in der Jugendzeit nicht erreicht wurden. Diese Ziele wurden erst erheblich später in den Zeiten eines selbstständigen Erwachsenseins nachgeholt. Erst in dieser späteren Zeit wurden die entstandenen Abbrüche ausgeglichen, wurden Lücken ausgefüllt, die sich in der Lebenslinie der Schule ausprägten und die sich in einem Lebenslauf für eine Bewerbung um eine Stelle negativ bemerkbar machten. Hinzu traten Abbrüche in den schulischen Sozialbeziehungen und für beide Repräsentanten, freilich mit unterschiedlicher Intensität, das Hineingleiten in eine jugendliche Subkultur und eine Drogenszene. Auch der Typ B ist gekennzeichnet durch eine dramatische Variation zum Grundtyp A. ‚Störungen und Irritationen‘ der Lebenslinien in allen jugendlichen Lebenswelten konnten bei den Repräsentanten dieses Typs nachgezeichnet werden. Die schulische Lebenslinie ist bei Stefanie und Frauke gefährdet. Beide müssen erhebliche Mühen aufwenden, um die Bildungsziele zu erreichen, d.h. nicht ein Jahr wiederholen zu müssen. Für Klara, Amelie und Frauke ist zudem die familiäre Reorganisation gestört. Stefanie erzählt von den Irritationen in ihren sozialen Netzwerken der Schule und der Gleichaltrigen, die sie einige Jahre nach dem Tod ihrer Mutter erlebt und die sie Anschluss in einem speziellen Trauernetzwerk suchen lässt. Für beide Typen geraten die Systeme der verschiedenen Lebenswelten in eine ‚Unwucht‘ und für die Jugendlichen beider Typen drohen Zusammenbrüche in Bezug auf ihre Einbindung in die Systeme der Lebenswelten. Dies kennzeichnet die Nähe der Typen B und E. Dennoch kommt es für die Repräsentanten des Typs B nicht zu Brüchen oder Lücken in ihren Lebenslinien, denn die Irritationen und Störungen können durch geeignete und ausreichende materielle und soziale Ressourcen schon bald nach dem Tod des nahen Anderen ausgeglichen werden und sie können den Verlauf ihrer Lebenslinien in ihren Lebenswelten in positiver und ‚jugendgerechter‘ Form weiterführen. 181

Katharina und Leonhard als Repräsentanten des Typs E stehen solche Ressourcen an entscheidender Stelle nicht (mehr) zur Verfügung. Ihre Familien ‚brechen‘ als Erziehungsinstitution auseinander (Leonhard). Katharina allerdings schätzt in ihrer Beziehung zum älteren Bruder weiterhin die Ressource ‚Familie‘. Das ‚normale‘ schulische Leben findet weder für Katharina noch für Leonhard Wertschätzung, Schule machte ihnen schon vor dem Tod des Vaters ‚Stress‘ und diese ‚negative‘ Ressource behält ihren Charakter auch nach dem Tod des nahen Anderen bei. Die schulimmanenten sozialen Netzwerke und ihre Bildungsziele sind für beide nicht attraktiv. Wertgeschätzte Ressourcen werden von Leonhard und Katharina deshalb an anderer Stelle gesucht und auch gefunden; allerdings müssen beide nach einer gewissen Zeit erkennen, dass diese Ressourcen nicht zukunftsfähig sind, dass die mit ihrer Konservierung eingeschlagenen neuen Lebenslinien beiden doch die Entwicklung zu einer selbstständigen Erwachsenenzeit behindert. Störungen, die zu Abbrüchen führen und Lücken in den Lebenslinien aufzeigen, werden bei Leonhard und Katharina erst sehr viel später bzw. überhaupt nicht ausgeglichen; Dieses Ressourcendefizit und die daraus resultierenden Verläufe der jugendlichen Lebenslinien kennzeichnen den Kontrast zwischen den Typen E und B.

Die Typen C und D – Nähe und Kontrast Auch die Typen C und D zeigen im Vergleich zum Typ A weniger dramatische aber doch deutliche Veränderungen ihres Lebens nach dem Tod eines nahen Anderen. Für die Jugendlichen des Typs C ändert sich deutlich und beschleunigt das Leben in seinen jugendlichen Lebenslinien. So war im Weitergehen des Lebens und der Linien innerhalb der Lebenswelten nach dem Tod des nahen Anderen bei ihnen vor allem der Gewinn von größerer Eigenständigkeit in der selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Lebensführung, in finanzieller Hinsicht durch eine Erbensituation (Sebastian, Markus, Annalena), in der Aufnahme und im Ausleben von Partnerschaften und die Planung einer Zukunft mit dem Partner (Annalena und Markus), in der stringenten Verfolgung von (Aus)bildungszielen (bei Sebastian 182

und Annalena) sowie vor allem im Auszug aus dem Familienheim in eine eigene Wohnung festgestellt worden. Diese Entwicklungen wurden bei den dargestellten Jugendlichen als eine Beschleunigung und Verstärkung der Entwicklungen der jugendlichen Lebenslinien hin auf das Erwachsensein interpretiert. Das Leben nach dem Tod des nahen Anderen der Jugendlichen des Typs D verläuft dagegen in der Lebenswelt der Familie und in der des Studiums in Form eines Innehaltens in bereits eingeschlagener bzw. geplanter Lebenslinien bzw. gar in Form von Rückschritten in diesen Lebenslinien. In Elisabeths Leben nach dem Tod ihres Vaters wurde ein Innehalten im Status quo der Entwicklung in Richtung auf eine Loslösung von der Familie hin auf ein Alleinwohnen festgestellt. Elisabeth hatte in der Aufnahme des Studiums und der Selbstständigkeit der Lebensführung wegen des neuen Findens der Eltern zueinander ganz andere Planungen eingeleitet. Hier hält sie nun inne und begründete dies mit der Sorge um den Zusammenhalt der Restfamilie, d.h. um ihre Beziehung zu ihrer Mutter. Für eine Weile kann sie nach dem Tod des Vaters ihre Mutter nicht allein lassen, sondern muss ihr helfen, d.h. mit ihr zusammen wohnen. Matz vollzieht durch seinen Rückzug in das Familienheim sogar eine Regression in den bereits eingeschlagenen Entwicklungen, die er hin auf die Selbstständigkeit des Lebens und Wohnens, des Auslebens seiner Partnerschaft jenseits von den Eltern und deren Lebensbereichen bereits eingeschlagen hatten. Der Platz des Kindes bei den Eltern war von seinem Bruder besetzt worden; das ermöglichte Matz aber die größere Selbstständigkeit und Freiheit. Er wird beim Tod des Bruders von der Mutter aber zurück in das Familienheim gerufen. Er wohnt wie Elisabeth wieder (bzw. weiterhin – Elisabeth) ‚bei Mama (und Papa)‘. Bei beiden führte zudem der Abbruch des alten Studiums und die daran anschließende Aufnahme einer Lehre bzw. des neuen Studiums am alten Wohnort bzw. in der Nähe dieses Wohnortes zu einer Verstärkung des Innehaltens und des Zurückschreitens auf den Lebenslinien in der Familie und im Studium. Matz folgt anders als im ersten Studium dem Studienvorbild seines Vaters. Die ‚normalen‘ Entwicklungen jugendlicher Lebenslinien werden bei den Jugendlichen des Typs D gebremst, d.h. im Kontrast zum Typ C ‚entschleunigt‘, bzw. im Leben Matz‘ im Sinne einer ‚negativen‘ Beschleunigung auf frühere Entwicklungsstadien zurückgefahren. 183

Die Typen C und D konstrastieren deshalb in ihrem Charakter ihrer Beschleunigungen der Lebenslinien: Im Leben des Typs C werden die großen positiven (im Sinne einer positiven Beschleunigung) Schritte in die erwachsene Zukunft unternommen. Das Leben des Typs D, dessen Linien bereits in die Richtung auf ein Erwachsensein ausgerichtet waren (Elisabeth) bzw. auch schon von den Akteuren ausgelebt wurden (Matz), wird von den Akteuren hingegen angehalten bzw. bereits vorgenommene Entwicklungen werden zurückgenommen. Die Jugendlichen der Typen C und D sind in dem allen die Akteure ihres Lebens, die allerdings die positiven und negativen Beschleunigungen ihrer Lebenslinien auf das Ereignis des Todes des nahen Anderen und seiner Konsequenzen für sie und für ihre Familie und Freunde zurückführen. Sie begründen ihre Entscheidungen und Handlungen mit dem Tod des nahen Anderen und seinen realen bzw. möglichen Konsequenzen. Erst infolge oder gar aufgrund des Todes fühlen sie sich veranlasst oder in die Lage versetzt, in Bezug auf ihre jugendlichen Entwicklungsziele beschleunigt und bestärkt voranzuschreiten oder aber sie für eine Weise zurückzustellen oder gar zurückzugehen. Dieses beiden gemeinsame selbstständige und selbstverantwortliche Entscheiden und Handeln in Bezug auf die Weiterführung ihrer Lebenslinien nach dem Tod des nahen Anderen bestimmt die Ähnlichkeit der beiden Typen C und D, die deshalb in eine gemeinsame Gruppe eingeordnet werden.

Der Kontrast der Typen: B und E zu C und D Die Typen B und E kontrastierten in Bezug auf die ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen zur Bewältigung der Verstörungen und Irritationen nach dem Tod eines nahen Anderen. Zugleich bilden diese beiden Typen aber eine Gruppe, die sich in der Erfahrung eben jener Störungen und Verwirrungen ähnlich ist, auch wenn ihnen aufgrund ihrer Ressourcenlage unterschiedliche Möglichkeiten zufließen, diese Störungen auszugleichen oder aber ihnen ‚zum Opfer‘ fallen. Hierin unterscheiden sich die Jugendlichen der Typen B und E von den Jugendlichen der Typen C und D. Diese Differenzierung wird im Folgenden dargestellt: Die Jugendlichen der Typen B und E ‚erleiden‘ ihr Leben. Es verläuft im Sinne einer Verlaufskurve (Schütze 1987). Ihr Lebensweg hat fast etwas ‚Schicksalhaftes‘, 184

die Jugendlichen sind den auf sie einwirkenden Veränderungen und Störungen ihrer Lebenslinien fast hilflos ausgesetzt. Vor allem Katharina und Leonhard als den Jugendlichen des Typs E stehen dabei diese Verstörungen und Irritationen ausgleichende Möglichkeiten nicht zur Verfügung; in der Konsequenz führt dies in ihren Lebenslinien zu Abbrüchen und Lücken. Sebastian, Markus, Annalena, Elisabeth und Matz als Jugendliche der Typen C und D führen ihr Leben nach dem Tod eines nahen Anderen demgegenüber in aktiver Regulation ihrer Handlungsweisen und -vollzüge. Der Tod des nahen Anderen und seine Konsequenzen trifft sie nicht schicksalhaft, sondern fordert, wenn auch in unterschiedlicher Form, eigene Entscheidungen über die Art und Weise und auch die Zielvorstellungen des Fortlaufs ihrer Lebenslinien heraus. Die Jugendlichen der Typen C und D erleiden in alledem nicht passiv das ihnen zugestoßene Schicksal, sondern sie werden und bleiben weiterhin die Akteure ihres Lebens. Die Verstärkungen oder auch das Anhalten oder gar die Regressionen ihrer Lebenslinien vollziehen sie unter Nutzung der ihnen zur Verfügung stehenden und von ihnen wertgeschätzten Ressourcen aktiv und handlungsregulativ. Diese Befähigung zur aktiven Handlungsregulation, d.h. ihr ‚Akteur-Sein‘ unterscheidet sie von den Jugendlichen der Typen B und E. Als ein denkbarer Grund solcher Befähigung bzw. Nichtbefähigung zur Handlungsregulation wurde im Verlauf der Ausarbeitung der Typologie unter Rückbezug auf den Gedanken einer deskriptiven Typologie (s.o.) das Alter der Repräsentanten der Typen vermutet: Die Jugendlichen der Typen C und D sind im Gegensatz zu den Jugendlichen der Typen B und E volljährige Jugendliche und ihnen wird von ihrer Umwelt deshalb viel eher aktive Verantwortung für den Fortlauf ihrer Lebenslinien zugewiesen. Sich eröffnende Möglichkeiten eigenständigen Lebens und weitergehender Entwicklung zum Erwachsenen erleben die volljährigen Jugendlichen Repräsentanten als Beschleunigung und nicht wie die Jugendlichen der Typen B und E als Verstörungen und Irritationen. Die volljährigen Jugendlichen können solchen möglichen Verstörungen handlungsregulativ entgegensteuern bzw. Veränderungen im sozialen Gefüge des betroffenen Kollektivs oder im Ressourcengefüge (z.B. durch Erbschaften) konstruktiv zur Gestaltung eigener Zukunft nutzen. Selbst bei einer möglichen Ver185

störung der Lebenslinie (z.B. durch Wegfall der Alimentation durch den Tod des nahen Anderen) zeigt Elisabeth als volljährige Jugendliche durch die Aufnahme einer auch materiell ausgleichenden Berufstätigkeit alternative Handlungsoptionen auf, reagiert so handlungsregulativ auf diese neue Situation. Minderjährigen Jugendlichen der Typen B und E stehen solche Optionen der Handlungsregulation nicht in diesem Maße offen. Ihre wirtschaftliche Abhängigkeit ist sozialstaatlich fixiert, ihre partielle Unmündigkeit legt den Fortlauf ihrer Lebenslinie u.a. auf die Entscheidung ihrer Erziehungsberechtigten fest. Deshalb führen Varianzen in den sozialstrukturellen Voraussetzungen ihrer Lebenslinie nicht zu einer Beschleunigung oder Verstärkung, denn diese setzt die durch die Teilreife der Volljährigkeit eröffnete Handlungsregulationsoptionen voraus. Minderjährige Jugendlichen empfinden die Veränderungen ihrer Situation je nach Intensität der Ausprägung als Störung oder Irritation. Das Potential der Ausprägung dieser Veränderungen ist für minderjährige Jugendliche allerdings durch die o.a. sozialstaatlichen Maßnahmen eingeschränkt bzw. ‚gepuffert‘, für volljährige Jugendliche durch das Maß der weiterhin bestehenden materiellen Abhängigkeit von den Eltern bzw. Sorgeverpflichteten aber zeitlich limitiert. Eine vollständige Loslösung der Jugendlichen von der materiellen Bindung an die Eltern bezeichnet ihren Erwachsenenstatus und lässt sie aus dem Sample dieser Arbeit herausfallen. So haben zwei der Repräsentanten des Typs C (Sebastian und Annalena) zum Zeitpunkt des Interviews bzw. der Datenerhebung die Entwicklung zum Erwachsenen abgeschlossen; sie erzählen aus der Retrospektive von ihrer volljährigen Jugendzeit und den Beschleunigungen und Verstärkungen ihrer Entwicklung zum Erwachsenen. Allerdings erweisen sich auch die minderjährigen Jugendlichen des Typs E Katharina und Leonhard in Bezug auf die Wahl ihrer Ressourcen und der damit eingeschlagenen Lebenslinien zumindest partiell als selbstständige Akteure, wenn sie ihren jeweils selbstgewählten Weg in eine jugendliche Subkultur bzw. in die Schulverweigerung eingehen, auch wenn sie im Nachhinein die dadurch eingeschlagenen Lebenslinien korrigieren. Im Gegensatz zu erwachsenen Jugendlichen werden solche Wege freilich rechtlich sanktioniert und damit zugleich den betreffenden Jugendlichen die Entscheidungsmöglichkeit über eigene Lebenswege in den Lebenswelten der Schule und auch der Familie genommen. 186

Die Nähe der Typen E und C In der Merkmalsausprägung einer eigenständigen Wahl eines Lebensweges nach dem Tod des nahen Anderen sind Katharina und Leonhard als Repräsentanten des Typs E den Repräsentanten des Typ C nahe. Die Abbrüche konnten auch als Verstärkungen bisheriger Lebenslinien insbesondere im Leben Katharinas interpretiert werden. In Bezug auf ihre familiäre Lebenswelt hätte also Katharina auch als Merkmalsträger des Typs C dargestellt werden können, wohingegen der Bruch in der jugendlichen schulisch-beruflichen Lebenswelt sie als Repräsentantin des Typs E kennzeichnete. Auch bei Leonhard war ein möglicherweise spezifisches Verständnis von seinem eigenen Leben vermutet worden. Was gemäß der Regeln seines sozialen Feldes (z.B: Schule) ein Abbruch ist, wird von Leonhard durchaus zunächst als Option des Handelns hin auf eine Verstärkung bisher eingeschlagener Lebenslinien verstanden. Die durch diese Handlungen und Verhaltensweisen entstehenden Lücken und Abbrüche seiner jugendlichen Lebenslinien werden dagegen zunächst von seiner Umwelt und dann von ihm selbst zu einem späteren Zeitpunkt realisiert. Daraus erfolgt das Zurücknehmen dieser Linien, die von ihm selbst damit als wenig zukunftsträchtig definiert werden. Die von den Jugendlichen des Typs C vorgenommenen Veränderungen werden hingegen später von den Akteuren nicht mehr zurückgenommen, denn sie erweisen sich langfristig als Verstärkungen der angestrebten Entwicklungen.

Die Nähe der Typen B und D Eine Merkmalsausprägung der Typen B und D verweist auf eine Nähe der beiden Typen: Die Jugendlichen des Typs B zeigen sich als Erleidende und auf die neue Situation relativ passiv reagierend. Geeignete Ressourcen führen aber dazu, dass ihre Lebenslinien trotz der auf sie einwirkenden Störungen nicht abbrechen. Elisabeth und Matz als Repräsentanten des Typs D sind die Akteure in den weiteren Verläufen ihrer Lebenslinien. Allerdings wirken ihre Handlungen, durch die 187

sie sich auf die neue Situation nach dem Tod des nahen Anderen versuchen einzustellen, zunächst auch reaktiv wenn nicht gar passiv. Auch der Typ D ist wie Typ B für gewisse Zeit nach dem Tod in seinen Lebenslinien verstört und emotional irritiert, er reagiert auf diese Verstörungen durch Innehalten und Regression, und er wird die in dieser Situation getroffenen Entscheidungen später korrigieren. Erst mittelfristig dringt Typ D auf Veränderung, sein Innehalten und seine Regression sind zeitlich limitiert. Matz und Elisabeth werden deshalb später Typ C ähnlich sein, allerdings ohne dann diese Ähnlichkeit des Fortschreitens in der Lebenslinie auf den Tod des nahen Anderen und ihre besondere Situation nach diesem Tod zurück zu führen. Hier gleichen sie dem Typ A, wenn z.B. Marie mit dem Abitur ja auch erwachsen wird und sich erst sekundär in ihren Verstörungen in dieser Zeit auf den Tod des Vaters zurück bezieht.

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Schluss Vollständigkeit der Typologie Im Rahmen der der Typologiegenerierung zugrunde liegenden Basistypik 1 (s.o.) waren weder in der theoretischen Überlegung (‚theoretical sampling‘ – Strauss & Corbin 1996: 148ff; Strauss 1998: 70ff) noch vom empirischen Befund her weitere Typen jugendlichen Lebens darstellbar.

Die Beantwortung der Fragestellung Als Ergebnis dieser Forschungsarbeit darf deshalb abschließend festgestellt werden: Die dargestellte Typologie mit den Typen A bis E und den Bezügen der Typen zueinander bildet das Leben von Jugendlichen nach dem Tod des nahen Anderen innerhalb der Lebenswelten der Bundesrepublik Deutschland und den sozialstaatlichen, sozialrechtlichen und sozialstrukturellen Vorgaben umfassend und vollständig ab.

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Anhang: Systematik einer ‚inneren Provinz der Trauer‘ Die zuvor vorgestellte Typologie zeigte auf, in welchen ‚Bahnen‘ die Lebenslinien von Jugendlichen nach dem Tod eines nahen Anderen verlaufen. Sie orientierte sich dabei an den Ausprägungen der in den methodischen Überlegungen zur Typbildung herausgearbeiteten Basistypik 1 (s.o. 4.1), die die sozialstrukturellen Variationen des Lebens der Jugendlichen unter den veränderten Verhältnissen nach dem Tod eines nahen Anderen in den Blick nimmt. Die Jugendlichen des Samples berichteten in den Interviews (a) von ihren Befindlichkeiten und Gefühlen innerhalb des Lebens nach dem Tod des nahen Anderen und wie sie (b) diese Befindlichkeiten versuchten sich und anderen verständlich zu machen und in Netzwerken darüber ins Gespräch zu kommen. Im Interview davon zu erzählen bedeutete für die meisten Informanten (b) von ‚ihrer Trauer‘ zu erzählen. Zum anderen erzählen die Betroffenen authentisch von ihren (a) sehr diffusen Gefühlen zur Zeit des Todes des nahen Anderen, innerhalb einer ‚Trauerzeit‘ und danach auch in einer längeren Zeitspanne nach dem Tod des nahen Anderen. Dieser Zusammenhang verweist auf jene weitere, zweite Basistypik, die oben in den methodischen Überlegungen herausgearbeitet wurde und die ein quasi psychologisches Erkenntnisinteresse zeigte, indem sie sich auf die Variationen der Befindlichkeiten und Emotionen der Jugendlichen sowie ihre Veräußerlichung und Kommunikation bezog; bei Letzterem ist ein soziologisches Erkenntnisinteresse berührt: Die Jugendlichen ‚trauern‘ nach dem Tod des nahen Anderen nicht nur in äußerlichen Formen und Riten, sie ‚trauern‘ auch in ihrem ‚Inneren‘, einer ‚inneren Provinz der Trauer‘. ‚Trauer‘ ist durch die Erfahrung des Todes des nahen Anderen zu einem Teil ihrer Persönlichkeit und ihrer Identität geworden. Trauer als Schmerz über den Tod eines geliebten Menschen als innerliche Befindlichkeit zu verstehen, entspricht einem modernen (psychologischem) Verständ190

nis. ‚Trauer‘ wird (Winkel verweist auf Parallelen zur Liebessemantik: „Ebenso wie im Fall von Liebe besteht die Trauersemantik in einer Koppelung des Ausdrucks persönlicher, intimer Kommunikation mit dem Ausdruck von Einzigartigkeit“ (Winkel 2002: 80)) als das innerlichste und tiefste Gefühl der Person verstanden; ‚Trauer‘ zu empfinden, macht ihre Individualität beim Tod eines nahen Anderen aus, in der Trauer ist die Person bei sich selbst, Trauer ist ihr ‚Ureigenes‘, untrennbar mit ihr verbunden, Ausdruck und Element der Persönlichkeit und der Identität. Wer da nicht ‚Trauer‘ empfindet, ist nicht die vom Tod betroffene Person, denn die Person erfährt sich in ihren Befindlichkeiten. ‚Trauer‘ ist deshalb für Jugendliche, die auf den Tod eines nahen Anderen zurückblicken, das wesentliche Merkmal ihrer ‚inneren Welt‘. Ein solches Verständnis der ‚Trauer‘ als einer ‚inneren Provinz‘ verdankt sich freilich kultureller Entwicklung in der Moderne. Durkheim (Durkheim 1912) konnte für die archaischen Formen der Trauer bei australischen Aborigines feststellen, dass Traueremotionen nicht etwa innerliche und subjektive Befindlichkeiten der trauernden Individuen veräußerlichen, sondern dass Formen und Inhalte von Traueremotionen auf Trauerdispositiven beruhen, die normierte und ‚pflichtgemäße‘ Emotionen innerhalb von Trauerriten vorschreiben. In diesen kollektiven Riten geschah die gemeinsame Deutung der Situation (was geschehen ist und welche Bedeutung dieses Geschehen für die Gruppe und die Individuen hat). Traueremotionen hatten also eine gesellschaftliche Funktion. In der rituellen Interaktion vollzog sich (und vollzieht sich heute immer noch) die Deutung der gesellschaftlichen und individuellen Wirklichkeit. Ariès (Ariès 1981: 599ff) stellt für das neunzehnte Jahrhundert eine ‚Revolution des Gefühls‘ fest: „Die Affektivität beherrscht das Verhalten, vor allem, wenn die gute Erziehung am Ende eines Jahrhunderts Gleichmut vorzutäuschen fordert“ (op.cit.: 600). „Die hiermit verbundene Veränderung des gefühlsmäßigen Erlebens ist Teil eines umfassenden, der Differenzierung zwischen psychischen und sozialen Systemen geschuldeten Vorgangs, in dessen Folge persönliche Beziehungen erst ihren spezifisch exklusiven und affektiven Charakter entwickelt haben“ (Winkel 2002: 75). Die für die archaischen Formen der Trauer festgestellten Emotionsrituale wurden mehr und mehr in die Innerlichkeit der Individuen verlegt und dort verortet. „Das Individuum ist […] selbst zum Zentrum von Sinnerleben und Sinnverstehen geworden“ (op.cit.: 60). Winkel spricht von einer ‚Subjekti191

vierung und Emotionalisierung der Trauer‘ (op.cit.: 61ff), vom Entstehen einer in dieser Forschungsarbeit so benannten ‚inneren Provinz der Trauer‘. Hiermit soll nicht bestritten werden, dass die Informanten (im Sinn eines Stimulus-Response-Schemas) mehr oder weniger diffuse, leidvolle und für sie auch mitunter ‚komische‘ Befindlichkeiten beim Tod des nahen Anderen empfanden, die dann zu gegebener Zeit kommunikativ gedeutet wurden. So schauen sie im Interview zurück auf den Tod eines nahen Anderen und beziehen Empfindungen in der Vergangenheit, als der nahe Andere starb, und auch in der Gegenwart auf diesen Tod und deuten die in ihnen entstehenden diffusen Empfindungen als ‚Trauer‘. Sie sprechen mit Anderen über diese Trauer, Trauer wird zu einem Merkmal der Person innerhalb der Netzwerke, die Kommunikation über ihre Trauer bestimmt für eine gewisse Zeit Formen und Inhalte von Interaktionen in den Lebenswelten und Netzwerken. Grundsätzlich kann damit eine Interdependenz dieser Befindlichkeiten mit den sozialstrukturellen Variationen des jugendlichen Lebens nach dem Tod des nahen Anderen vermutet werden. Im Folgenden sollen deshalb die Ausprägungen der zweiten Basistypik dargestellt werden.

Die ‚innere Provinz der Trauer‘ Die sozialstrukturellen Variationen jugendlichen Lebens, eine ‚innere Provinz der Trauer‘ und die Kommunikation darüber, also eine soziale, eine individuelle und eine kommunikative Dimension der ‚Trauer‘ der betroffenen Jugendlichen, existieren bei den Informanten nebeneinander und beziehen sich aufeinander. Von Zeit zu Zeit und bei bestimmten Gelegenheiten und Anlässen wie z.B. an einem Gedenktag entstehen Empfindungen und Gefühle, die die Betroffenen als ‚Trauer‘ bezeichnen. Jenseits dieser besonderen Zeiten stehen freilich ganz andere Befindlichkeiten im Vordergrund der jugendlichen Gefühlswelt: Befindlichkeiten der Angst und der Sorge, der Leere und der Trauer, der Freude und der Unbeküm192

mertheit, der Liebe und des Liebeskummers, des Gewinnens und des Verlustes, der Unsicherheit und der Stärke und der Kraft u.v.m. Diese Befindlichkeiten sind verknüpft mit sozialstrukturellen Erfahrungen und Fragestellungen und bestimmen jugendliche Kommunikation über Gefühle und Emotionen: Wer bin ich, und zwar nicht als ‚Trauernde(r), wie sieht meine Zukunft aus, was bedeuten mir Liebe und Partnerschaft und wann gehe ich diese ein, welchen Beruf ergreife ich, wann ist es richtig und sinnvoll für mich, allein zu wohnen, u.v.m.? Im Zusammenhang solcher Empfindungen erzählen die Jugendlichen auch von einem Umwerfen und Abbrechen von Beziehungen und Lebensorientierungen; auch von einem Entstehen von Lücken und lebensgeschichtlichen Leerzeiten wird glaubhaft berichtet. Solche biographischen Ereignisse und Änderungen werden dann auch von manchen im Verlauf des Interviews auf die Auswirkung eines Trauergefühls kausal bezogen (s.u.). Allerdings wurde in der Interpretation herausgearbeitet, dass andere Faktoren und eben nicht der Tod des nahen Anderen, zu diesen höchst unterschiedlichen Irritationen und Verstörungen und Brüchen und Lücken in der Lebenslinie geführt haben (s.o.). Der Tod des nahen Anderen hat nur in einer spezifischen ‚Trauerkommunikation eine Art biographische Hoheit der Deutung, auch im Sinne eines Biographiegenerators (s.o.) beansprucht,. Spezifische Empfindungen der ‚Trauer‘ melden sich nur zu bestimmten (‚Trauer‘-)Zeiten und Gelegenheiten ‚zu Wort‘, z.B. in einem Interview über das Leben des Betroffenen nach dem Tod eines nahen Anderen, bei einem Referat über Tod und Sterben oder auch in der Kommunikation in einem thematisch entsprechend orientierten Chatroom. In diesen besonderen Bereichen einer ‚Trauerkommunikation‘ werden jene Empfindungen aus einer abgesonderten, von der Interaktion in den jugendlichen Lebenswelten isolierten inneren Provinz ‚hervorgeholt‘, besprochen, in ihrer Relevanz für die Identität bewertet und geordnet (z.B. im Sinne von ‚Trauerphasen‘). Darüber hinaus werden die Befindlichkeiten der Trauer über den Tod eines nahen Anderen für die Selbstwahrnehmung und die eigene Biographie nicht als bedeutsam wahrgenommen. Der alsbald nach dem Tod des nahen Anderen stattfindenden ‚Archivierung‘ eines solchen Gefühls in eine innere Provinz der Trauer entspricht freilich die prominente emotionale Ausgestaltung solcher Empfindungen innerhalb einer spezifischen Trauerzeit im Zusammenhang ebenso spezifischer Kommunikationscodes und Verhaltensregeln. 193

Befindlichkeiten und Emotionen innerhalb einer ‚Trauerzeit‘ Bei einigen Repräsentanten der Typologie (z.B. Matz und Elisabeth) war zum Zeitpunkt des Interviews eine aktuelle Einbindung der Jugendlichen in eine Trauerzeit festgestellt worden. Der Tod des nahen Anderen liegt für sie zu diesem Zeitpunkt nicht mehr als ein Jahr zurück. Andere Informanten, die aus größerem zeitlichen Abstand vom Tod des nahen Anderen und der Zeit danach erzählen, erinnern sich an die Zeit unmittelbar nach dem Tod des nahen Anderen als an eine ganz besondere und mitunter ‚komische‘ Zeit. Als ‚Trauernde‘ lebten sie innerhalb einer ‚Trauerzeit‘, die ihnen bestimmte Handlungsweisen abverlangte. Elisabeth und Matz folgen bewusst und handlungsregulativ diesen Anforderungen und verweisen zugleich auf eine Zukunft, in der die besonderen Anforderungen dieser Trauerzeit nicht mehr gelten. Für andere Informanten ist jene als seltsam empfundene und schnell durchschrittene Zeit eine erinnerliche Vergangenheit. Schon Hertz und Durkheim hatten aus unterschiedlicher Perspektive auf den Charakter der Zeit unmittelbar nach dem Tod eines nahen Anderen als einer ‚Trauerzeit‘ hingewiesen. Zum Einen entstehen beim Tod des nahen Anderen diffuse Befindlichkeiten innerhalb einer ‚inneren Welt‘. Die betroffenen Jugendlichen empfinden und verhalten sich zum erlebten Tod des nahen Anderen im Sinne eines psychologischen ‚Stimulus-Response-Schemas‘. Sie reagieren körperlich unbewusst auf das Erlebnis des Todes des nahen Anderen. Von solcherlei ‚komischen‘, also für sie nicht verstehbaren Befindlichkeiten erzählen viele Informanten. Sie erzählen davon, dass mit ihnen und an ihnen in der Zeit der ‚Trauer‘ etwas geschieht und in ihnen nicht nur beim Berühren des Leichnams, sondern auch in ihnen selbst oder auch beim Erleben von Reaktionen ihrer Umwelt z.B. beim Zusammenbruch Anderer bei der Überbringung der Todesnachricht Gefühle entstehen, die sie z.B. als Hilflosigkeit, Angst, Leere oder auch Unverständnis bezeichnen (Stubbe 1985: 272ff). 194

Zum Anderen aber veräußerlichen sie diese Befindlichkeiten und tauschen sich über sie in ihren Lebenswelten, in der Familie, der Gleichaltrigengruppe und in der Schule. Es entsteht eine sozial konstituierte und definierte Emotion ‚Trauer‘. Diese so kommunizierten Befindlichkeiten beeinflussen oder bestimmen ihr Verhalten und ihr Denken im Zusammenhang sozialer und kollektiver Trauervorgänge. Die betroffenen Jugendlichen empfinden sich hier als Trauernde und werden zugleich von ihrer Umwelt als solche behandelt. Die Interaktion geschieht unter dem Aspekt der Trauer, sie bestimmt Verhalten der Interaktionspartner und deutet zugleich die individuellen Befindlichkeiten. Kollektives Trauerverhalten als „Form kollektiver Kommunikation“ (Flam 2002: 86) konstituiert also individuelle Emotionen und Verhalten im Trauerfall. Diese Emotionen sind ihrerseits eben nicht nur in Befindlichkeiten einer inneren Welt begründet, sondern vielmehr individuell realisierte, d.h. bei Anderen erlebte, von ihnen gespiegelte und zugleich auch selbst gelebte und erlebte Traueremotionen. Trauer innerhalb einer Trauerzeit ist ein sozialer Vorgang. Diese soziale Emotion ‚Trauer‘ ist zu unterscheiden von individuellen Befindlichkeiten, die beim Auftreten eines Verlustes als einer vom Individuum wertgeschätzten Ressource entstehen mögen und die das Individuum dann in einem geeigneten kommunikativen Kontext veranlassen, von Trauer zu sprechen (‚ich bin traurig‘ und nicht nur einfach ‚verunsichert‘ oder ‚ängstlich‘). Gefühle angesichts eines Verlustes als Trauer zu bezeichnen und z.B. nicht etwa als Zorn oder Ohnmacht oder Hilflosigkeit, entspricht wiederum gesellschaftlicher Konvention bzw. einem spezifischen Kommunikationscode im Trauerfall: „Daß Trauer als persönlicher Schmerz und als individuell einzigartiges Leid erlebt wird, ist nicht zuletzt eine Folge des Trauerdispositivs mit seiner normierende Wirkung. Trauer ist in der Moderne also trotz des Wegfalls eines allgemein verbindlichen, rituellen Handlungsrepertoires in hohem Maße sozial determiniert. Dies gilt noch einmal in besonderer Weise für die Möglichkeiten des Ausdrucks, der Kommunizierung von Trauer. Auf der semantischen Ebene ist eine Kommunikationsanleitung existent, mit deren Hilfe die subjektive Relevanz und daran anknüpfend auch das einer jeweiligen Trauer innewohnenende Leid thematisierbar wird. Mit der Herausbildung dieses symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums verbindet sich die Besonderheit, daß Trauer auf der Ebene 195

der inneren Befindlichkeit als individuell einzigartiges Gefühl codiert wird“ (Winkel 2002: 75). Diese Überlegungen decken sich mit dem empirischen Befund: Die Jugendlichen des Samples erzählen von solcher Trauerzeit, vor allem in Bezug auf die Zeit unmittelbar nach dem Tod. Sie erzählen von ‚Trauerverhalten‘ als präsent, dominant, als Form der Kommunikation unter den Betroffenen und zwischen Betroffenen und den Mitgliedern ihrer Lebenswelten, z.B. der Schule. Reden über ‚Trauer‘ ist geradezu eine ‚geschwätzige‘ Kommunikation (Nassehi) und Interaktion. ‚Trauer‘ als informellen Regeln (Wouters 1997) unterworfene individuell-emotionale Äußerung bestimmt für die ‚Trauerzeit‘ das Leben der ‚Trauernden‘ wie eine schwarze Kleidung, die Trauernde in früheren Zeiten zur Kennzeichnung ihres Trauerstatus und zugleich als Verdeutlichung ihrer Befindlichkeiten trugen (vgl. Stubbe 1985: 37ff). Wird eine solche Trauerkleidung abgelegt, werden auch die so konstituierten Äußerungen der Trauer abgelegt und das jugendliche Leben nimmt seinen gewohnten und spezifischen Verlauf. Die betroffenen Jugendlichen haben diese ‚Trauerzeit‘ bezogen auf ihre Befindlichkeiten und damit zugleich ihre Befindlichkeiten selbst als verwirrend, irritierend, in ihren eigenen Worten als ‚komisch‘ erlebt. Die gelebte ‚Trauerzeit‘ mit ihren vorgegebenen und zugleich informellen sozialen Emotionen (einschließlich des Weinens) ist für das Verständnis und die Deutung der erweckten Gefühle wenig hilfreich gewesen. Die vollzogenen öffentlichen Rituale der Trauerzeit mitsamt der dabei angebrachten oder aber auch nicht zu zeigenden Emotionen (z.B. Weinen oder auch Nicht-weinen am Grab bei der Beerdigung) von Seiten vor allem der Älteren und Erziehungsberechtigten konnten sie nicht mit ihren persönlichen Befindlichkeiten verknüpfen. Sie konnten diese Rituale in der Regel nicht nachempfinden und nachleben; ihre innere Welt in ihrem mitunter erlebten Gefühls-Gemisch blieb ihnen aufgrund der fehlenden sozialen Deutung unverständlich, fremd oder gar beängstigend. Vor allem die jüngeren Interviewpartner erzählen von einer emotionalen Armut angesichts einer doch empfindungsreichen inneren Welt, sie berichten von einem Nichtbetroffensein vom Tod des nahen Anderen im Zusammenhang jener veräußerlichter Emotionen und zugleich tiefer innerer Verstörungen und Erschütterungen. D.h.: Zwischen den ihnen hier unterstellten und von vielen erzählten Befindlichkeiten ihrer inneren Welt und 196

der „ sozial und kulturell definierte(n) Rolle“ (Vester 1991: 185) von ‚Trauernden‘, konnten sie nicht vermitteln. D.h.: Wenn ‚Trauer ‚warten mußte‘ (Stefanie) in dieser Zeit der ‚Trauer‘, so deshalb, weil ‚Trauer‘ als innere Befindlichkeit der Jugendlichen nicht definiert, nicht kommuniziert und emotional und handlungsregulativ angemessen veräußerlicht werden konnte und dies in der Folge zu Irritationen und Missverständnissen innerhalb der Interaktion und Kommunikation vor allem in den außerfamiliären Lebenswelten führte. Ein Affiliationsmotiv zu Jugendlichen mit analoger Merkmalsausprägung als Waisen, das bei einigen Jugendlichen des Samples nachgewiesen wurde, mag u.a. in diesen Missverständnissen und Irritationen in den relevanten Lebenswelten begründet sein und sich dann zugleich auf die hoffnungsvolle Vermutung der Betroffenen stützen, mit anderen Jugendlichen aufgrund einer analogen Lebenserfahrung zu einer gemeinsamen Deutung und kommunikablen Veräußerlichung der Empfindungen gelangen zu können und damit ein sozial vermitteltes individuelles Verständnis eigener Befindlichkeit zu gewinnen. In einem solchen Prozess meldet sich auch zu späterer Zeit lange nach dem Tod des nahen Anderen eine ‚innere Provinz der Trauer‘ mitunter sehr deutlich zu Wort. Die Informanten berichten, dass in der Trauerzeit als unmittelbare Zeit nach dem Tod des nahen Anderen innere Befindlichkeiten und ‚Traueräußerungen‘ oft recht unverbunden nebeneinander stehen. Besonders die minderjährigen Jugendlichen berichten, nicht im angemessener Weise ‚getrauert‘ zu haben, weil sie z.B. nicht ‚weinen‘ konnten. Ihre Befindlichkeiten sind demgegenüber in eine innere Provinz der Trauer verschoben und ‚warten‘ quasi auf eine Reaktivierung zur gegebenen Zeit. Für ältere Informanten konnte eine intensivere aktive, d.h. handlungsregulative Einbindung in Trauervorgänge im Zusammenhang der Beerdigung und der daran anschließenden ‚Trauerzeit‘ nachgewiesen werden. Sie übernehmen die Organisation der Trauerriten für jene Mitglieder der Familie, die ihrem Gefühl nach schwerer betroffen scheinen. Mit diesen so berichteten Aktivitäten sind allerdings weniger Kongruenzen von Befindlichkeiten und Emotionen angesprochen, als mehr ein Reagieren auf die Anforderungen des weitergehenden Lebens wie auch eines mutmaßlichen ‚richtigen Trauerns‘ innerhalb der informell vorgegeben ‚Trauerzeit‘. 197

Reaktion auf Veränderungen und Krisenbewältigung Nach dem Tod des nahen Anderen hätten sich große Veränderungen in ihrem Leben ergeben, so erzählen manche Informanten. In den Familien der Halbwaisen waren Strukturen des Zusammenlebens neu zu ordnen, größere Freiheiten der Lebensgestaltung wurden gewonnen, Fortschritte in der Weiterentwicklung auf ein Erwachsenenleben hin errungen. Die Repräsentanten der Typen B und E erlebten irritierende und verstörende, ja schmerzhafte Veränderungen in ihren Lebenswelten. Sie beurteilen deshalb in der Retrospektive den Tod des nahen Anderen als einen Wendepunkt in ihrem eigenen Leben, von dem an ‚alles anders‘ geworden ist. Die Informanten beziehen sich dabei auf Veränderungen im Verlauf ihrer Lebenslinien. In einer Deutung dieser Veränderungen als eines Wendepunktes in der eigenen Biographie sind aber auch spezifische Befindlichkeiten und damit ein Vorgang innerhalb ihrer inneren Provinz der Trauer angesprochen: Es hat sich für sie nicht nur de facto einiges verändert, sie empfinden sich nach dem Tod des nahen Anderen als Andere, als sie zuvor waren. Der Tod des nahen Anderen ist in ihrem Empfinden ein ‚kritisches Lebensereignis‘, das sie in eine ‚Krise‘ führt, die sie erleidend durchleben und die sie zugleich nun veranlasst, als ‚Trauernde‘ eigenes Leben in der Gegenwart und in der Zukunft intensiver zu bedenken, zu planen und zu handeln. Es wurde beobachtet, dass die nach dem Tod eines nahen Anderen eingetretenen „Veränderungen der (sozialen) Lebenssituation“ (Filipp 1981: 24) Auslöser für erleidende und handelnde Reaktionen waren. Lebensereignisse wie der Tod des nahen Anderen werden zu kritischen Lebensereignissen, „wenn sie auf der Ebene subjektiver Erfahrungsverarbeitung als Weichenstellung für die Lebensgestaltung gedeutet werden“ (Große 2008: 24). Der Tod des nahen Anderen als ein solches kritisches Lebensereignis ruft Empfindungen hervor, die, weil sie im Zusammenhang des Todes des nahen Anderen erlebt werden, als ‚Trauer‘ gedeutet werden können. Die Jugendlichen reagieren affek198

tiv auf die erfahrenen Veränderungen und verknüpfen diese Veränderungen mit dem Gedanken an den Tod des nahen Anderen. Sie ‚trauern‘, freilich aufgrund der aktuell erlebten Krise, weil sich mit dem Tod ihr Leben veränderte und sie sich emotional, erleidend oder auch handelnd diesen Veränderungen stellen müssen. Diese Krise bereitet ihnen ‚Stress‘, dem sie individuell und sozial im Vorgang der ‚Trauer‘ begegnen. Vester weist darauf hin, dass zwischen der sozialen Darstellung von Emotionen und dem Problem, d.h. der Krise, die spezifische Empfindungen hervorruft und die soziale Form der Darstellung generiert und sozial einfordert, zu differenzieren ist (aaO.: 186). „Trauern ist ein kulturell modellierter Prozeß der Stressbewältigung, des emotionalen Coping“ (aaO.: 185). Erst sekundär ist diese Trauer an die Person des toten nahen Anderen gebunden, ist doch sein Tod die ‚gefühlte‘ Ursache der erlebten Krise. ‚Trauer‘ bezieht sich allerdings nicht auf die Person, die man verloren hat, sondern auf die eingetretene Krise, die erlitten wird und auf die emotional und handlungsregulativ zu reagieren ist. Das heißt aber: Nicht der Tod des nahen Anderen an sich – im Sinne eines Stimulus –, nicht der Verlust seiner Person und der emotionalen Bindungen an ihn wird hier als das kritische Ereignis verstanden, sondern die mit dem Tod eines nahen Anderen einhergehenden Veränderungen der Lebenssituation, die Potentiale dieser Situation, die zum Erleiden oder auch Handeln der Betroffenen führen. Diese pointierende Schlussfolgerung möchte differenzieren zwischen den durch die Veränderung eines Kollektivs (nicht nur) aufgrund des Todes eines Mitglieds entstehenden strukturalen Optionen und Notwendigkeiten der Reorganisation einerseits und den Befindlichkeiten einer inneren Welt der Betroffenen (auf die der Fokus dieses Kapitels dieser Forschungsarbeit zielt), die auf die Veränderungen der Situation affektiv reagieren und die diese Empfindungen als ‚Trauer‘ um den ‚Verlust‘ der Person des nahen Anderen verstehen.

Reaktion auf den Verlust von Ressourcen Die in diesem Unterabschnitt vorzunehmende Interpretation von Befindlichkeiten der ‚Trauer‘ als Reaktion auf den Verlust von Ressourcen schließt in der Argumentation an das zuvor diskutierte ‚Trauer‘-Modell an, das sich an der Reaktion 199

auf ein kritisches Lebensereignis bezog. Besonders die Repräsentanten der Typen B und E konnten in ihrem Verlust von Ressourcen nach dem Tod des nahen Anderen als aufeinander bezogen identifiziert werden. Die Lebenslinien der Repräsentanten dieser Typen wurden gestört bzw. brachen ab je nach Art und Maß der ihnen zur Weiterführung ihrer Lebenslinien zur Verfügung stehenden ‚Lebensmittel‘. Die Jugendlichen erzählten ihr Leben als den Einschränkungen und Veränderungen ihrer Situation nach dem Tod des nahen Anderen ohne Option einer eigenen, entgegensteuernden Handlungsregulation ‚ausgeliefert‘. Einschränkungen und Veränderungen bezogen sich auf sozialstruktuelle Merkmale z.B. innerhalb des familiären Systems durch den Ausfall einer Person und führten zu Verstörungen, Einschränkungen und Veränderungen, zu Lücken und Abbrüchen in interaktiven Zusammenhängen innerhalb der Lebenswelten. Leistungsabfall in der Lebenswelt der Schule und entsprechende Sanktionierung, missverständliche und defizitäre Kommunikation, Unverständnis dem Handeln und den emotionalen Äußerungen anderer gegenüber, hilfloses Mitleiden am Leiden anderer betraf und prägte auch die innere Welt der Jugendlichen nach dem Tod des nahen Anderen. Ähnliche Befindlichkeiten wie zuvor bei den eingetretenen Veränderungen der sozialen Situation nach dem Tod des nahen Anderen sind bei den Jugendlichen zu vermuten. Sie empfinden Hilflosigkeit und Ohnmacht angesichts der ihnen fehlenden Ressourcen in der Situation nach dem Tod des Anderen. Die so als ‚Trauer‘ interpretierte Gefühlssymptomatik bezieht sich auf den Verlust bzw. auf den Mangel an lebenswichtigen und notwendigen Ressourcen. Auch dies führt zu ‚Stress‘, denn Menschen streben danach, „wertgeschätzte Ressourcen aufzubauen und zu erhalten, wobei der Aufbau von Ressourcen mit Wohlbefinden und Gesundheit einhergeht. Der potentielle oder aktuelle Verlust dieser Ressourcen wirkt bedrohend.“ (Frieling & Sonntag 1999: 206). ‚Trauer’ als Stress entsteht nicht durch ein bestimmtes Ereignis oder einen Ereigniszusammenhang, sondern durch eine Situation, in der das Individuum notwendige Ressourcen des Lebens verliert, d.h.: Das Individuum ist nicht mehr in der Lage, aufgrund von Ressourcendefiziten in den unterschiedlichen Lebenswelten seinen Lebensverlauf zu kontrollieren. Dies bedeutet nun aber auch hier: ‚Trauer’ als emotionale Reaktion geschieht aufgrund des Verlustes von Lebensmöglichkeiten nach dem Tod einer Person, u.a. auch, weil eben jene Person zur Ressourcengewinnung nicht mehr beitragen kann und weil die durch den Verlust der Person verlorenen Ressourcen besonders wertgeschätzt wurden. 200

Biographische Verknüpfung Der Tod des nahen Anderen wird in der Retrospektive als eine bedeutsame biographische Erfahrung interpretiert, er wird für die Jugendlichen zu einem Biographiegenerator, aus dessen Beurteilung heraus sich in der jeweiligen Gegenwart Änderungen des Lebensverlaufes und der Entwicklungen nahe legen. Es ist dabei unerheblich, ob sich das Leben nach dem Tod des nahen Anderen tatsächlich durch diesen Tod geändert hat bzw. ändern wird. Winkel (Winkel 2002) hat diese ‚biographiegenerierende Funktion von Verlusterfahrungen‘ im Zusammenhang von Trauercodes herausgearbeitet. In den Lebensgeschichten der von ihr (Winkel 2002) interviewten Informantinnen wird Trauer „als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium zur Kommunizierung einer Vielfalt von leidvollen lebensgeschichtlichen Erfahrungen herangezogen. […] Unter Rückgriff auf den Trauercode wird die Leidens- und Lebensgeschichte in ihrer Gesamtheit […] thematisierbar und verstehbar. So wird deutlich, dass mit dem Trauercode ein semantisches Medium vorliegt, das generell die Thematisierung von Leid und Schmerz über lebensgeschichtliche Brüche und Krisen ermöglicht.“ (op.cit.: 103). Die betroffenen Jugendlichen schauen in dieser Art der ‚Trauer‘ auf den Tod des nahen Anderen zurück und gewinnen in dieser Rückschau Hinweise, die ihr vergangenes Leben interpretieren, die die gegenwärtige Situation und ihre Bedeutung für die Person (und ihre Identität) erhellen und die schließlich Argumentationen für Entscheidungen generieren, die ihre Zukunft betreffen. Wer war ich vor dem Tod, wer wurde ich danach, wer bin ich heute und wer werde und soll ich in Zukunft sein mit der Erfahrung des Todes des nahen Anderen? Dies sind die in abstrakter Formulierung gefassten Fragestellungen einer biographischen Arbeit nach dem Tod eines nahen Anderen. ‚Trauer‘ als biographische Verknüpfung dieser Frage mit der toten Person und seinem Tod und der Bedeutung des Todes und der Bedeutung auch der Person zu Lebzeiten kann eine solche Arbeit initiieren, kann sie erschweren oder auch erleichtern. Ange201

sicht der bereits erfahrenen und noch anstehenden familiären Veränderungen klammert sich Marie an alte familiäre Konfigurationen, an deren Stabilität ihr Vater in ihrer idealisierten Erinnerung wesentlich Anteil hatte, und kann auf die aktuellen Veränderungen ihrer Situation nicht angemessen reagieren und handeln. Matz und Elisabeth gewinnen im Rückblick auf Vater bzw. Bruder für sich tragfähige Vorstellungen von ihrem zukünftigen Beruf. Sie geben deshalb ehemalige Studiengänge auf und ergreifen neue berufliche Perspektiven. Die Retrospektive auf den Tod des nahen Anderen und auf seine Person, der die neue Wahl möglicherweise befürwortet hätte, wird für sie zur Legitimation ihres zukunftsträchtigen Handelns, wenn sie sich auf ein quasi ideologisches Vermächtnis berufen. So ‚entdeckt‘ Marie erst sehr spät ihre ‚Trauer‘. Diffuse Befindlichkeiten, die sich auf den Vater bezogen, hatte sie nach dem Tod des Vaters alsbald in die innere Provinz archiviert. Andere Befindlichkeiten der Geborgenheit in der Familie bei den Schwestern und auch der Mutter traten in den Vordergrund. Aktuell aber kommuniziert sie ihre ‚Trauer‘ um den Vater mit ihren Geschwistern und den Gleichaltrigen im Chatroom für trauernde Jugendliche. Die aktuellen Erfahrungen der Veränderung ihrer familiären Situation und dabei erlebte Befindlichkeiten der Unsicherheit, der Angst und des Verlustes kommuniziert sie nun im Rückgriff auf das Lebensereignis des Todes des Vaters. Dieses ist – und bleibt auch – für Marie eine bedeutsames biographisches Ereignis, an das sie sich nun in ihrer aktuellen Krisensituation in einem assoziativen Rückgriff ‚erinnert‘.In der aktuellen Situation entdeckt und identifiziert sie sich deshalb als ‚Trauernde‘, d.h. eine Passung zwischen Selbst und Umwelt zu erreichen. Maries ‚innere Provinz der Trauer‘ meldet sich ‚zu Wort‘ und verhilft ihr zur Kommunikation über die Krise in der gegenwärtigen Situation. Sie ist wieder ‚Trauernde‘, als solche darf sie sich auch wieder in sehr spezifischer Weise verhalten. Hier ist auch Weinen erlaubt, dass sich zwar auf die aktuelle angstmachende Situation bezieht, in der die Familie für sie in Auflösung begriffen ist, das aber in der Kommunikation als Trauer codiert ist und damit als angemessen legitimiert wird. Maries ‚Trauer‘ ist ein Beispiel für eine Art der Trauer, die sich an krisenhaften Situationen der Jetztzeit fixiert. Die ‚Trauer‘ um den Vater wird zu einem ‚Avatar‘ für die ‚Trauer‘ in der gegenwärtigen Situation und ermöglicht Kommunikation unter den Bedingungen des Trauercodes, der u.a. der Trauernden das wohlwollende Verständnis ihrer Umwelt für ihre kritische Lebenssituation sichert. D.h.: Die krisenhaften Potentia202

le der jeweils aktuellen Situation und ihre biographischen Verknüpfungen mit dem Ereignis des Tod des nahen Anderen initiierten bzw. ermöglichen aktuell und auch in späterer Zeit Befindlichkeiten und Kommunikationsvorgänge bei den ‚trauernden‘ Jugendlichen. Dieser Vorgang ist auch bei anderen Jugendlichen des Samples identifizierbar: Sebastian erzählt mit Stolz über seinen Schulabschluss und den erreichten Ausbildungsplatz, von hoffnungsvollen Aufbrüchen in sein weiteres, neues Leben jenseits der ‚Fittiche‘ des Vaters, er erzählt von seinem Wunsch nach Weiterentwicklung in den Lebenslinien des Berufs und der Gleichaltrigengruppe. Der Tod der Mutter war für ihn ein Wendepunkt seiner Lebensgeschichte, nach dem es für ihn verstärkt und beschleunigt ‚aufwärts‘ ging. Der Tod war nicht ‚schockierend‘, sondern eine ‚Erlösung‘, weil er aufgrund langer Krankheit erwartet wurde. Mit ihm verbanden sich Gefühle der Erleichterung und der Hoffnung auf das kommende Leben. So kann Sebastian für sein Leben nach dem Tod von einer hoffnungsvollen Lebensgeschichte erzählen unter Rückgriff auf den Tod der Mutter. In der biographischen Verknüpfung werden die positiven Veränderungen seines Lebens nach dem Tod, die aufgrund seiner Volljährigkeit und der veränderten Situation für den Vater und dessen neue Lebenspartnerin möglich waren, als Folge dieses Todes gedeutet und ihm selbst in dieser Form der ‚Trauer‘, die hier nicht mit Verlust oder Schmerz verbunden ist, verständlich gemacht. Lutz sagt, er sei durch den Tod des Freundes gereift und erwachsener geworden. Auch das Leben von Lutz befindet sich aktuell in einem Entwicklungsprozess, der auf Ablösung vom Elternhaus, auf die Eigenständigkeit des Studiums und der späteren Berufswahl hinausläuft. Hier finden die Reifungsprozesse statt. Lutz verknüpft diesen Prozess und die inhärenten Befindlichkeiten mit dem Erlebnis des Todes des Freundes. Im Rückblick interpretiert er seine aktuelle Situation als das Ende der Kindheit und der Netzwerke der jugendlichen Gleichaltrigengruppe. Denn zum Einen starb sein Freund aus Kindertagen und zum Anderen kam die Jugendclique zum Tod des Freundes noch einmal zusammen, um danach auseinander zu brechen. Der Tod des Freundes, der auf seine aktuellen Entwicklungen keinerlei Einfluss hatte, wird dennoch in der retrospektiven Deutung zum Wendepunkt des Lebens von Lutz. 203

Teil der Identität In der Trauerzeit nach dem Tod des nahen Anderen (s.o.) haben die betroffenen Jugendlichen besondere Aufmerksamkeit ihrer Umgebung erfahren, sie wurden von ihrer Umgebung für die Zeit dieser ritualisierten sozialisierten Trauer besonders gekennzeichnet, d.h. mit dem sozialen Status ‚Trauernde‘ versehen (Strauss 1959). Denn sie waren berührt vom Tod, waren in die Sphäre des Todes hineingezogen worden, das ‚Trauerhaus‘ war ein besonders Haus, in denen Interaktionen und Kommunikationen für die Trauerzeit anders verliefen als gewohnt. Die im Trauerhaus wohnenden Trauernden empfanden sich als besondere Personen mit einem einzigartigen Merkmal. Sie hatten Anteil am Tod, waren für eine gewisse Zeit selbst ein Teil des Todes, der erfahren wurde, wurden dem Toten gar ähnlich gemacht, wenn nicht nur der gestorbene Vater ‚zusammengebrochen‘ war, sondern auch seiner ‚zusammengebrochenen‘ Witwe geholfen werden musste (Elisabeth – vgl. zum Ganzen Hertz 1907: 110f, Stubbe 1985: 13ff). Der Jugendlichen erlebten, wie sie anders als zuvor behandelt wurden. Sie berichten von viel Zuwendung durch soziale Kontakte, die weitere Familie und die sozialen Netzwerke nahmen Anteil am Tod. Sie erlebten Verständnis und behutsame Behandlung durch ihre Umwelt, die auf ihren mutmasslichen Schmerz über den Tod des nahen Anderen Rücksicht nahm. Sie empfanden sich ja auch in ihrer Persönlichkeit berührt. Deshalb hatten sie zwecks Bewältigung und ‚Trauerarbeit‘ einen Therapeuten bzw. fragen danach, warum ihnen ein solcher eigentlich nicht zur Verfügung gestellt worden sei. Sie wurden nicht nur in einer Trauerzeit durch Trauerriten sozial stigmatisiert, sondern empfanden ebenso eine psychische Stigmatisierung innerhalb ihrer ‚inneren Provinz der Trauer‘. Die ‚Trauer‘ ihrer Innerlichkeit ist nicht etwa nach einer rituellen Trauerzeit beendet und dann darf das Leben neu beginnen. Durch die oben dargestellte Subjektivierung der Trauer in der Moderne und der Herausbildung einer ‚inneren 204

Provinz der Trauer‘ bleibt ‚Trauer‘ als Kommunikationsoption ein dauerhafter und bleibender Bestandteil der Person bzw. der Identität. ‚Trauer‘ schlummert in ihrer inneren Provinz und wartet auf Auferweckung zu gegebener Zeit. Die Archivierung einer Interpretationsoption der Gefühle als ‚Trauer‘ wurde dann aber bei einer Gelegenheit wie einem Referat über ‚Trauer‘ oder bei aktuellen Krisensituationen und daran anschließenden assoziativen biographischen Verknüpfungen aufgebrochen. Identität ist ein sozialer Begriff. Solche Auferweckungen bedürfen deshalb der sozialen Orientierung. Die eingeleiteten Affiliationprozesse orientieren sich an Altersgleichen mit gleichem Merkmal. Einige Informanten erzählen, wie sie mit ihrem Eintritt in Trauergruppen eine spezifische Traueridentität (und entsprechende Emotionskomplexe) entwickelten und in Chatrooms und anderen Netzwerken ‚auslebten‘. In dieser Identität und im Schutz dieser Gruppe können sie über ihre ‚Trauer‘ und vielleicht auch ihre Krisensituation ‚reden‘. Auch in der Bereitschaft zum Interview verstehen die Informanten sich als ‚Trauernde‘‘.

Ablehnung und pragmatische Wendung in die ­Zukunft­ Katharina und Leonhard ‚trauern‘ nicht und bilden deshalb in ihrer Art der ‚Trauer‘ einen Gegenpol zu Stefanie und Anderen. Weder verknüpften sie ihre aktuelle Situation mit dem vergangenen Tod, noch entwickeln sie eine besondere Traueridentität mit der Zugehörigkeit zu spezifischen Netzwerken und Lebenswelten. Die aufgrund ihrer prekären sozialen Situation entstehenden Befindlichkeiten werden nicht auf ‚Trauer‘ bezogen, d.h. mit den Vorgaben jener ‚inneren Provinz der Trauer‘ gedeutet, und als solche kommuniziert. Auf mögliche ‚Trauer‘ befragt antwortet Katharina sehr pragmatisch: Mein Vater ist tot, ‚und ist gut so‘, und ich habe mein Leben weiter zu leben. Die Themen und auch Anforderungen jugendlichen Lebens: Schulische Karriere, Berufswahl, Partnerschaft, Lebensperspektiven jenseits des Elternhauses oder aber familiäre Reorganisationen sind bedeutsamer als ein Nachdenken über den Verlust des Vaters, und die Notwendigkeit ihrer Bewältigung lässt keinen Platz für eine Kultivierung von oder gar ein Kokettieren mit ‚Traueremotionen‘. 205

Ältere sozial geprägte Trauerriten wurden auch mit dem Ziel durchgeführt, dass die ‹Trauer› nach der Trauerzeit ein Ende findet und das soziale Leben danach unbeeinträchtigt weiter verlaufen kann. Das Haus darf wieder verlassen werden um Geselligkeit zu pflegen (Stubbe 1985: 49ff), Verwitwete können wieder heiraten (op.cit.: 66ff), Halbwaisen finden neue Eltern, die Trauerkleidung wird abgelegt und die ehemals Trauernden werden wieder ‹für voll genommen›, nachdem sie zuvor ‹nicht ganz bei Trost› waren. Dagegen scheint in der Moderne eine Prolongierung der Trauerzeit mit ihren besonderen Emotionen des Schmerzes und des Verlustes zu stehen. Oben wurde vermutet, dass diese Prolongierung durch die Subjektivierung und Emotionalisierung, d.h. durch die Konstitutierung einer dauerhaften ‹inneren Provinz der Trauer› und die Verschiebung der Trauer in diese Provinz erst gebildet wurde. Die Informalisierung der Trauer macht nicht deutlich, wie lange eine Trauerzeit andauern muss und weiterhin entsprechende Verhaltensregeln einfordert, und verlegt die Entscheidung über eine Reaktivierung jener ‹inneren Provinz der Trauer› in das Belieben des Individuums und seiner jeweiligen Umwelt. In einem Interview darf dann Jahre nach dem Tod des nahen Anderen weiterhin über ‹Trauer› geredet werden. Die Ablehnung der Trauer bzw. die Äußerung, nicht (mehr) zu trauern ist unter dem Aspekt einer modernen Forderung nach informalisierter Verinnerlichung der Trauer schwer verständlich oder auch kaum akzeptabel. Gerade Katharina und Leonhard sind Personen, die aufgrund des Todes ihrer Väter und ihrer darauf folgenden Lebensgeschichte eigentlich weiterhin ‚trauern‘ müssten. Andererseits zeigen Katharina und Leonhard ein Ende der Trauerzeit auf, indem sie in der Folgezeit in der Deutung ihrer Befindlichkeiten nicht mehr auf die Dispositionen der ‚inneren Provinz der Trauer‘ zurückgreifen. Auch das Interview bildet trotz suggestiver Fragen durch mich für Katharina keinen Anlass, ‚Trauer‘ zu thematisieren bzw. davon zu erzählen. Es ist zu vermuten, dass dieser Sachverhalt für viele Interviewpartner gilt. Erst der Aufruf zum Interview und die Bereitschaft, dieses zu geben, führt für sie zu einer erneuten Beschäftigung mit jener ‚inneren Provinz der Trauer‘. Dieser inneren Provinz kam im Leben der Informanten allerdings bis zu diesem Zeitpunkt keine Bedeutung zu. Insbesondere für die Repräsentanten des Typs A ist eine solche Marginalisierung der ‚inneren Provinz der Trauer‘ zu unterstellen. Auch Sebastian als Repräsentant des Typs C schaut in die Zukunft und kann deshalb ‚erlöst‘ eine ‚traurige‘ Vergangenheit hinter sich lassen. 206

Im Zusammenhang eines Interviews als soziales Verhalten und Kommunikation zum Thema werden freilich die Normen eines Trauerdispositivs (Winkel 2002: 69ff) wirksam. Es wird über ‚Trauer geredet‘ und Emotionen der ‚Trauer‘ werden situativ generiert.

Erinnerung und Nostalgie Dennoch ‚trauern‘ die Jugendlichen weiterhin nach dem Tod des nahen Anderen. Zu bestimmten Zeiten werden Gefühle der Trauer in besonderer Weise kultiviert. Dies zeigt die folgende Ausprägung der Basistyp 2 innerhalb der vorliegenden Systematik der ‚Trauer‘: Der Tod des Freundes liegt für Lutz weit zurück, in einer biographischen Verknüpfung wurde er von Lutz mit Erinnerungen an die gemeinsame Kindheit und Jugendzeit verbunden, die durch die lebensgeschichtlichen Entwicklungen von Lutz bei der Aufnahme des Studiums und der Loslösung vom Elternhaus beendet wurden. Der Tod des Freundes markierte einen Schlusspunkt für Lebensabschnitte der Vergangenheit. Insofern Lutz vom Tod des Freundes aus auf eigenes zukünftiges Leben schaut, so schaut er zurück auf eine gemeinsame Kindheit und Jugend als Vergangenheit. In der hier vorzustellenden Art der ‚Trauer‘ sind die toten nahen Anderen nicht mehr Moderatoren der Gegenwart der Informanten, sondern Personen der Vergangenheit, an die sich die Lebenden erinnern. Orte und Zeiten der Erinnerung werden sozial eingerichtet in Ahnentafeln, Bildarchiven innerhalb des Hauses oder auch gesellschaftlich fixierten Gedenktagen. Sie sind ‚endgültig bestattet‘ und können (in den Empfindungen der Hinterbleibenden) nicht mehr lebendig werden. D.h.: Sie greifen nicht mehr ein in das Leben der Hinterbleibenden (bzw. ein solches Eingreifen wird ihnen nicht zugestanden); man erinnert sich ihrer, idealisiert werden sie zu Sinnträgern von Vergangenheit und Vermittlern und Garanten von vergangenen und zugleich zukünftigen Werten. Das Gedenken an die Ahnen hält die Geschlossenheit und die Integrität von Kollektiven aufrecht. An einem Volkstrauertag trauert ein Volk um seine Toten. Im 207

Besuch des Grabes eines Urgroßvaters vergewissert sich die Familie der Nachkommen der gemeinsamen Abstammung und darin auch einer gemeinsamen Zukunft. Christliche Totengedenktage dienen dem Lebenden und Toten gemeinsamen Bekenntnis an eine Auferstehung vom Tod. Ahnen sind damit nicht nur Personen vergangenen Lebens, sondern die Wirksamkeit ihres Lebens und ihrer Personen verweist auch in die Zukunft. Als Beispiel für diese Art einer auch sozial ritualisierten ‚Trauer‘ sollen Sequenzen aus dem Interview von Markus wieder gegeben werden: M: … pfff. was mir eigentlich jetzt so besonders fehlt. was mich jetzt so im Nachhinein ärgert. wo ich mich nicht rechtzeitig drum gekümmert habe. zum Beispiel die leckeren Kochrezepte von den beiden ähm mitzunehmen das ( ) fehlt dann schon son bisschen ( ) einfach diese gemütlichen. mmh. ja dieses gemütliche Essen zusammen. einfach dass mir jetzt dafür die Grundlage fehlt. das äh find ich zum Beispiel richtig schade. und ansonsten natürlich. klar. einfach die Anwesenheit der beiden ( ) und dann halt auch immer sich das fragen wie sahen die beiden noch mal genau aus. und was dann auch besonders günstig ist. wenn man alte Bilder sieht. wo die. ja. noch jung sind ( ) erst mal dann umdenken. (Zitierstimme) Moment. dass ist also schon. mmh. n-ne komische Erfahrung: und dann auch so bestimmte Sachen wie Geburtstage. äh. Todestage. zum Friedhof gehen. einfach ( ) sich bewusst gegen diesen Zeitfluss stemmen. so man sich dran erinnert: das ist einfach ( ) I: Das versteh ich jetzt nicht M: Ja. d-de-die Gefahr des Vergessens: I: hm M: Also ich hab immer Angst dass man vor lauter Alltäglichkeit und Banalitäten. vergisst sich das Ganze bewusst zu machen: einfach dass die da waren: ( ) /​ mh/​und dass man dann einfach vergisst. hinzugehen: und. wir versuchen das eigentlich so zu halten dass wir so mindestens. äh. drei viel mal im Jahr. also. äh. Gesteck niederlegen. halt an bestimmten. äh. Anlässen also Geburtstag Todestag ( ) weil. das ist halt nicht immer einfach. und einfach fällt’s einem dann auch auf 208

dem letzten Drücker wieder ein. (Zitatstimme) ach. Moment. heute ist doch. häh ( ) und das ist dann einfach ( ) ja aus diesem Alltagstrott heraus. mmh (3) also. äh. es tut einem. äh. nicht mehr direkt weh. aber es ist halt ärgerlich dass man dann gleichzeitig auch vergisst. und manchmal ist das dann auch wirklich störend: ( ) ‚Die waren einfach da‘, und dass sie da waren, erweist Wirksamkeit für das zukünftige Leben der Hinterbleibenden. Der Gang an das Grab ist nicht allein ein nostalgischer Blick zurück, sondern zugleich eine Erinnerung mit der Perspektive auf die Gegenwart und in die Zukunft. Der tote nahe Andere hat sein Leben gelebt, andere bewohnen nun seinen Lebensraum, schlüpfen in seine Rollen bzw. soziale Positionen.

Bleibende Befindlichkeit einer inneren Provinz Traueremotionen sind soziale und kommunikative Konstrukte. Sie werden freilich gespeist durch individuelle Befindlichkeiten aufgrund der Erfahrung des Todes und einer daran anschließenden unverständlichen bis ‚komischen‘ Trauerzeit. In ihren Befindlichkeiten reagieren die Jugendlichen auf soziale Veränderungen ihrer Lebenswelten und verknüpfen sie in jener ‚inneren Provinz der Trauer‘ mit der toten Person und deren Bedeutung für ihr Leben auch nach dem Tod dieser Person auf längere Zeit. Auf die Bedeutung des Todes eines nahen Anderen als Biographiegenerator wurde oben hingewiesen. Auch hier werden Emotionen kommuniziert und für die Deutung und Planung eigenen Lebens fruchtbar gemacht. Auf dem Hintergrund unterschiedlicher Optionen und Ressourcenlagen werden manche Jugendliche in die Lage versetzt, ihr Leben umzugestalten, neu zu entwerfen, neue Ziele zu verfolgen; sie taten das mit dem Ziel der Weiterführung ihrer Entwicklung hin auf das Erwachsenwerden. Beschleunigungen und Verstärkungen geschahen aufgrund sozialer und materieller Gegebenheiten und zugleich mit einem damit einhergehenden emotionalen Rückbezug auf die Person des toten nahen Anderen. Die auf diese Person und seine Bedeutung für die Hinterbliebenen ausgerichteten Dispositionen einer ‚inneren Provinz der Trauer‘ bleiben bei den Jugendlichen 209

dauerhaft bedeutsam. Auch wenn nach dem Tod des nahen Anderen und einer Trauerzeit ihre Lebenslinie ohne relevante Verstörungen der sozialen und Irritationen der inneren Welt verlebt wurde, ist die Person und daran geknüpft der Tod des nahen Anderen dennoch ein bleibendes weil im Innern quasi archiviertes Element auch ihres Lebens, das immer wieder mit aktuellen Befindlichkeiten und auch Emotionen gekoppelt werden kann. Bei Gelegenheit können die Jugendlichen auf dieses ‚Archiv‘ zur Thematisierung aktueller Krisen und zum Verständnis des Erlebten zurückgreifen. Nicht allein in ihren Erfahrungen des Todes eines nahen Anderen unterscheiden sie sich damit von der Mehrheit der Altersgleichen. Die komplexe Erfahrung dieses Todes ist schon von daher in ihren Lebenslauf und in ihre Biographie synthetisiert. Ihr Leben ist fortan immer auch Leben nach und damit mit dem Tod eines nahen Anderen. Die Dispositionen einer ‚inneren Provinz der Trauer‘ sind, wenn auch ein marginales, so doch bleibendes Element ihrer inneren Welt. Dieses Leben bedarf freilich immer wieder einer sozialen Realisierung und Ausgestaltung jener individuellen inneren Befindlichkeiten. Dies ist Aufgabe der Trauerkultur einer Gesellschaft. Die Gesellschaft und die Einzelnen können diese Aufgabe verweigern oder auch sie ‚verdrängen‘ – oder aber sich ihr stellen: für die Lebenden und die Toten.

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