Trauer hat System - Veränderungsdynamik in Krisen: Leidfaden 2015 Heft 03 9783666806100, 9783525806104, 9783647806105, 9783525491331, 9783525702147, 9783525453766, 9783456852744

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Trauer hat System - Veränderungsdynamik in Krisen: Leidfaden 2015 Heft 03
 9783666806100, 9783525806104, 9783647806105, 9783525491331, 9783525702147, 9783525453766, 9783456852744

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EDITORIAL

Erschütterte Systeme Die Wandlungskraft von Trauer In Zeiten von Verlust und Krise kommt die gewohnte Lebensordnung durcheinander, bisweilen auch völlig abhanden – vieles ist erschüttert und irritiert. Wenn Zusammenhang und Sinn verloren gehen, schwindet zumeist auch das Vertrauen ins Leben: Vieles erscheint brüchig und oft wie abgebrochen. Was kann dann Orientierung geben und Zuversicht vermitteln, dass es (womöglich ungeahnte) Wege gibt, die durch die Krise (weiter-)führen und unter veränderten inneren wie äußeren Umständen ein Leben entwickeln lassen, für das es sich (wieder/noch) zu leben lohnt? Das vorliegende Heft will solche Wandlungsprozesse thematisieren und Spuren aufnehmen, wie Schritte ins Neue versucht werden, was dabei unterstützt und auch was (mehr oder weniger) hindert und beschränkt. So werden die Trauernormen von gesellschaftlichen Systemen erörtert, die sich in einer (impliziten) Hierarchisierung von Verlusten, Trauernden und Trauerreaktionen auf der Angebotsseite von Trauerbegleitung spiegeln. Systemische Familienrekonstruktion lässt bedeutsame Systemwirkung über Generationen hinweg verstehen und womöglich umgestalten. Die verschiedenen Auswirkungen von Trennungen werden mit systemischem Blick betrachtet. Trauerprozesse in Adoptionsfamilien, bei Flucht und Migration sowie im Umgang mit Demenz wollen die oftmals nicht erkannten oder gar aberkannten Verlusterfahrungen würdigen. Krise und Veränderung im Prozess der Geschlechtsangleichung sowie in der neu gewählten Lebensform betonen die Bedeutung und Tragweite der eigenen Lebensverantwortung. Der sensible Zeitraum zwischen Tod und Begräbnis wird im systemischen Zusammenwirken der unterschiedlich beteiligten Personen und Diensten reflektiert. Im Spannungsfeld von Fürsorge und Autonomie wird die rechtliche Betreu-

ung als Arbeitsfeld der systemischen Beratung und Unterstützung illustriert. Die Vermittlung unterschiedlicher Systemlogiken im interprofessionellen Team sowie bei der Gestaltung der Schnitt-/Nahtstellen einer integrierten Versorgung zum Wohl der Betroffenen wird als herausfordernde Notwendigkeit einer systemisch fundierten Praxis verdeutlicht. Aus Sicht der Organisationsberatung werden Krisen und Veränderungsprozesse aus unterschiedlichen Perspektiven und Betroffenheiten wahrgenommen und begleitend unterstützt. Schließlich wird in einem Beitrag aus der aktuellen Trauerforschung eine soziokulturelle Anwendung des Dualen Prozess­ modells auf die gesellschaftlichen Prozesse in Chile und Argentinien nach der ­Militärdiktatur unternommen. Trauer hat System spannt so einen weiten Bogen: vom individuell-persönlichen Erleben bis hin zu professionellen und gesellschaftspolitischen Kontexten. Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre und einen angereicherten systemischen Blick im Umgang mit Krisen und (notgedrungenen) Veränderungssituationen!

Petra Rechenberg-Winter

Leidfaden, Heft 3 / 2015, S. 1, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015, ISSN 2192–1202

Christian Metz

Inhalt 4

Annette Linné-Genth Familiendynamik in Trauerprozessen und Familienkrisen

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Tanja M. Brinkmann und Chris Paul Gesellschaftliche Systeme und ihre Trauernormen am Beispiel der aberkannten Trauer

18 23 8 Tanja M. Brinkmann und Chris Paul Gesellschaftliche Systeme und ihre Trauernormen

29 32 35 38 43 47

29  Erich Lehner | Trauernd sich finden

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Susanne Vormbrock-Martini und Sybille Vormbrock Scheidewege – Getrennt neue Wege gehen Ursula Wolter-Cornell Systemische Familienrekonstruktion Erich Lehner Trauernd sich finden Beatrix Weidinger-von der Recke Kinderlose Menschen trauern – anders Mary Kreutzer Sterben, ohne Bagdad noch einmal zu sehen Cornelia Kunert Eine Reise in einem Boot aus Haut Radoslaw Celewicz Systemwechsel Helga Müller-Finger Demenz – Angehörige brauchen Begleitung Evelyn Schmidt Wege zum gelingenden Umgang mit Trauer im Zeitraum vom Tod bis zur Beisetzung

63 Birgitta Hadatsch-Metz »Wie kann es weitergehen …?«

77  Hannes Jahn und Carolin Vogt | Mit der Haltung eines Künstlers

55 60 63 67 70 77

Iris Peymann Rechtliche Betreuung von Engeln und Robotern Sonja Hofmann Am selben Strang ziehen? Birgitta Hadatsch-Metz »Wie kann es weitergehen …?« Werner Grafen Besser keine als diese Familie Kirsten Fehrs »Nur durch den Schmerz hindurch …« Hannes Jahn und Carolin Vogt Mit der Haltung eines Künstlers – Organisationsberatung in Krisensituationen

80

Gero Mertens Unternehmenstheater – Katalysator für Systemveränderungen

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Aus der Forschung: Wie Chile und Argentinien nach den Militärdiktaturen um die nationale Aufarbeitung der Massenmorde ringen

88

Fortbildung

93 Rezension

94 Nachrichten



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Vorschau

100 Impressum

60 Sonja Hofmann | Am selben Strang ziehen?

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Familiendynamik in Trauerprozessen und Familienkrisen Annette Linné-Genth Man soll die Dinge nicht so ernst nehmen, wie sie sind. (Aaron Antonovsky)

Carl Larsson, Christmas Holidays, pub. in »Lasst Licht Hinin«, 1909 /  Private Collection / The Stapleton Collection / Bridgeman Images

Chronische Erkrankungen, der Verlust eines nahen Menschen und andere existenzielle Veränderungen fordern das gesamte Familiensystem heraus und jedes einzelne Mitglied auf ganz individuelle Weise. Mitunter entsteht zunächst eine Atmosphäre der Sprachlosigkeit. Alle sind vorsichtig, verwirrende Gefühle und neue Gedanken werden im eigenen Kopf und als innerer Dialog

bewegt. Als Schutzhaltung ist dies angemessen, doch wenn Schweigen länger anhält, kann es (ungewollt) in Vertrauensverlust, Ohnmachtsgefühlen und Einsamkeit münden. Dann werden wesentliche Grundgefühle, wie Wut, Trauer, Angst, Freude und Liebe, die der Wertschätzung und konstruktiven Resonanz bedürfen, nicht ausreichend in Kontakt gebracht. Oder gegenteiliges Verhalten bildet sich heraus, die Beschreibungen der familiären Situation kreisen über lange Zeit um die mit Krankheit verbundenen Themen, wer-

Die Beschreibungen der familiären Situation kreisen über lange Zeit um die mit Krankheit verbundenen Themen, werden zum zentralen Inhalt familiärer Gespräche und zum dominierenden Beziehungsgestalter.

Fa m i l i e n d y n a m i k i n Tr a u e r p r o z e s s e n u n d Fa m i l i e n k r i s e n    5

den zum zentralen Inhalt familiärer Gespräche und zum dominierenden Beziehungsgestalter. In Umbruchzeiten ist das Familiensystem meist ein Ort eng aufeinander abgestimmten Lebens. Die Belastungen der einen Person rufen die unterschiedlichsten Belastungen der anderen hervor, und wechselseitige Erwartungsstrukturen sind eng miteinander verknüpft. Der systemische Ansatz und die Familienmedizin verstehen Familie als eine Einheit aller ihrer Mitglieder. In existenziellen Wendezeiten betrachten sie darüber hinaus das Netz der Interaktionen zwischen Familienmitgliedern und Behandlungssystemen. Denn die damit verbundenen Erfahrungen beeinflussen wiederum das Innen der Familie. Damit diese Wechselwirkungen zu einem förderlichen und gelingenden Prozess im Innen und

Isolation nach außen – Jetzt müssen wir zusammenhalten. Die Außenwelt wird zunehmend als verständnislos wahrgenommen. Zeit und Energie, sich auseinanderzusetzen, sind mitunter kaum vorhanden. Harmonisierung – Wir können keine weiteren Konflikte tragen, mag vielleicht das vorherrschende Gefühl in der Familie sein. Aus einem Schutzimpuls heraus werden Konflikte vermieden, Rücksicht und Vorsicht sollen das Familiengeschehen sichern. Situation einfrieren  – Ich empfinde gar nichts mehr. Jede tiefgreifende Veränderung wirkt zunächst bedrohlich. Man möchte die Zeit anhalten, sich und die anderen schützen, den Gefahren soweit als möglich ausweichen. Eine Art Totstellreflex zeigt in Form der Erstarrung, wie übermäßig stark die Belastungen erschüttern und wie schwer es der Familie fällt, mitzugehen.

Außen und in der Kooperation von Innen mit Außen werden, sind Zur-Sprache-Bringen und Austausch zentral. So können die Beteiligten eine Umwelt von Bedeutungen entwickeln mit der Chance, einen förderlichen Einfluss auf das Erleben der Familienmitglieder zu nehmen und den vielfältigen Erschütterungen etwas Tragendes entgegenzusetzen. Strategien in Zeiten der Not Ist das bisherige Leben erschüttert und erzwingt grundlegende Veränderungen, engt sich unser Handlungsspielraum ein, wir greifen auf bewährte Strategien zurück beziehungsweise übernehmen frühe Verhaltensweisen als bewährtes Überlebensmuster die Regie.

Trennung – Rette sich wer kann. Für manche Menschen scheint es nicht leistbar, sich neben der aktuellen Belastung auch noch mit den von der allgemeinen Lebensentwicklung geforderten Aufgaben auseinanderzusetzen. Sie fühlen sich zu stark verletzt, erleben sich intensiven Ängsten ausgesetzt und von Schuldgefühlen geplagt. Existenzielle Verluste haben ihr eigenes Konfliktpotenzial und Trauer, Konflikt und Krise sind mitunter eng verwoben. Enge Beziehung – Ich bin immer an deiner Seite. Oft sind es die Mütter, die sich in Krisenzeiten besonders verantwortlich fühlen für Schwache oder Gefährdete ihrer Familie. Doch überfordert eine solche Spagatexistenz zwischen der sorgenden Fürsorge und ihren Gefühlen, den Rest der Familie zu vernachlässigen. Quälende und vorwurfsvolle Suche nach der Ursache – Was haben wir (habe ich/hast du)

Leidfaden, Heft 3 / 2015, S. 4–7, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015, ISSN 2192–1202

6   A n n e t t e L i n n é - G e n t h falsch gemacht? Diese Frage nach Ursache, Sinn und Bedeutung stellt sich wohl jeder Mensch, der mit einem Schicksalsschlag konfrontiert wurde. Schuld und Scham werden zu (unausgesprochenen) Familien­ begleitern. Tabuisierung und Bagatellisierung – Solange wir es nicht aussprechen, haben wir es noch gebannt. Die Tabuisierung und Bagatellisierung ist eine Versuch, belastende Situationen zu kontrollieren. Mit aller Kraft wird versucht, sich und andere vor der grausamen Realität zu schützen, zumindest noch ein Weilchen. Denn gleichzeitig wird intuitiv wahrgenommen, dass dies kein wirklicher Schutz ist. Verantwortungsdiffusion – Mein Kind ist so verständnisvoll. Wenn die Eltern als Regisseure ihres Familienverbandes nicht (mehr) die Aufgaben und Funktionen ergreifen, für die sie verantwortlich sind, springen Kinder ein und übernehmen, soweit ihnen möglich, die Rolle der Erwachsenen. Wenn sich diese Aufgabenverschiebung festigt, geschieht es

Unterstützung ist Kommunikation Es ist ein bedeutsamer Teil von Beratung oder Familientherapie, die Familienmitglieder anzuregen, das Gespräch (wieder) aufzunehmen und im Kontakt zu bleiben. Indem sie sich gegenseitig die Geschichten ihres jeweiligen Erlebens erzählen und im Prozess des Zuhörens und Erfragens verbunden sind, werden Beziehungsqualitäten und die Empfindungen füreinander spürbar. Allmählich erweitern sich die persönlichen Blickwinkel, neue Aspekte und Elemente können wahrgenommen werden, und andere, neue Optionen entstehen. Statt nach Dysfunktionalität und Fehlern zu forschen, steht die verstärkte Suche nach stützenden, schützenden, stärkenden, heilungsförderlichen und stabilisierende Faktoren im Mittelpunkt systemischer Beratung. All die Ressourcen also, die helfen, Belastung zu meistern und an ihnen zu wachsen, stellt die Resilienzforschung in den

zulasten ihrer eigenen kindlichen Entwicklung. Denn dann entbehren sie Schutz, Fürsorge und notwendige Förderung. Bedrohliche Familiengeschichten – Mir kann niemand helfen, bei mir läuft es genau wie bei meiner Mutter und Großmutter. Familien verfügen über Vorerfahrungen aus früheren Generationen, deren Muster und Botschaften können zu bedeutsamen Vorstellungen werden oder zu prophetischen Geschichten. Schuld- und Schamgefühle – Wenn ich doch nur, hätte ich doch. Manche pflegenden Angehörige oder Hinterbliebene quälen Fragen, ob es einen anderen Verlauf hätte nehmen können, wenn sie selbst oder andere sich noch mehr angestrengt, sich anders verhalten oder etwas unterlassen hätten. Wenn es in der Begleitung hochbelasteter Familien gelingt, gemeinsam Mister Scham und Misses Schuld zu entlassen, dann kann anstelle gegenseitig negativer Zuschreibungen oder Misstrauen das Gute, das miteinander verbindet, wieder zu Tage treten.

Mittelpunkt ihrer Betrachtungen. Als allgemeine förderliche Faktoren bewähren sich für Familiensysteme • transparente Umgangsregeln, die allen eine klare Orientierung geben. • Eigenverantwortung für sich selbst und Achtsamkeit gegenüber den anderen Beteiligten. • individuelle Gestaltungsräume. • Kommunikation als Möglichkeit zu reden, zu klären und Lösungsoptionen auszuhandeln. • Übereinkunft, dass Fehler menschlich und korrigierbar sind. • mit Niederlagen leben können und sie als im Leben unvermeidbar zu erkennen. • Zukunftsträume. • spirituelle Räume, die existenzielle Fragen zulassen. • Hoffnung auf Sinnperspektiven, auch wenn diese vorerst nicht zu erkennen sind.

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Fa m i l i e n d y n a m i k i n Tr a u e r p r o z e s s e n u n d Fa m i l i e n k r i s e n    7

»Wo keine Hoffnung ist, muss man sie erfinden« (Aaron Antonovsky). Dazu möchten die abschließenden Leitfragen aus der systemischen Praxis beitragen: • Was habe ich aktuell durchzustehen? • Gibt es Ausnahmen, in denen es mir (ein wenig) leichter ist? • Woran könnte ich erkennen, dass es mir etwas besser geht? • Wie habe ich frühere Krisen überstanden? • Was könnte ich tun, um die Situation zu verschlimmern, und was könnte ich tun, um sie zu verbessern? • Welche Gedanken gehen durch meinen Kopf und was sagt mein Bauch? • Wenn ich aus der Perspektive eines fliegenden Vogels auf meine Situation schauen könnte, was würde ich neu entdecken und anders empfinden? • Angenommen, ein Wesen aus einer anderen Welt käme, würde mir drei Möglichkeiten zur Verfügung stellen, die zu Erleichterung oder gewünschten Veränderungen führen: Welche wäre die Verrückteste? Welche die Aussichtsreichste? Welche die Angenehmste?

• Wenn ich die aktuelle Situation gemeistert hätte, wenn sich etwas gelöst oder entspannt hätte, wie würde dann mein Leben aussehen? Was würde ich dann fühlen, sehen, schmecken, riechen, hören, wahrnehmen? Wozu hätte ich dann Kraft? Wie würde ich leben? Annette Linné-Genth, Diplom-Sozial­ pädagogin,  Kinder- und Jugendlichen­ psy­­chotherapeutin, ist tätig im Jugend­hilfe- und sozialen Bereich, in ­kleinen und mittelständischen Unternehmen so­wie im kulturellen Bereich für Intendanz und Regie. Sie ist Lehrtherapeutin (DGSF) und Lehrsupervisorin (DGSF/DGSv) im Hamburgischen Institut für Systemische Weiterbildung und Dozentin im Bereich der Gesundheitsförderung an einer privaten Hochschule in Hamburg und Berlin. E-Mail: [email protected] Literatur Antonovsky, A.: Salutogenese: Zur Entmystifizierung der Ge­sundheit. Tübingen 1997. Kopp-Breinlinger, K.; Rechenberg-Winter, P.: In der Mitte der Nacht beginnt ein neuer Tag. Mit Verlust und Trauer leben. München 2004. Rechenberg-Winter, P.; Fischinger, E.: Kursbuch Systemische Trauerbegleitung. Göttingen 2008. Schlippe, A. von, Schweitzer, J.: Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung I. Göttingen 2013. Welter-Enderlin, R.; Hildenbrand, B.: Resilienz. Gedeihen trotz widriger Umstände. Heidelberg 2006.

© Christiane Knoop

Statt nach Dysfunktionalität und Fehlern zu forschen, steht die verstärkte Suche nach stüt­zenden, schützenden, stärkenden, heilungs­ förderlichen und stabilisierende Faktoren im Mittelpunkt systemischer Beratung.

Tr a u e r h a t S y s t e m

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Gesellschaftliche Systeme und ihre Trauernormen am Beispiel der aberkannten Trauer Tanja M. Brinkmann und Chris Paul Was ist Ihre Meinung: Trauern Männer mehr als Frauen? Oder umgekehrt? Sind Ihnen am Sarg oder Totenbett schreiende Angehörige lieber als versteinert wirkende? Trauert der jahrelang betrogene Ehemann weniger als der Geliebte? Und woran merken Sie das? Ist der Tod des erwachsenen Bruders schwerwiegender als der Tod des eigenen Kindes? Macht der Verlust des Arbeitsplatzes trauriger als der Verlust der Heimat? Wonach entscheiden Sie das? Und welche Folgen haben Ihre Bewertungen für den Kontakt mit dem Trauernden und für Ihre Begleitungsangbote? Und noch ein paar Fragen: Präferieren Sie bestimmte Trauerreaktionen? Haben Sie es eher mit den In-sich-Gekehrten, die erst mal viel mit sich ausmachen? Gehören Trauer und Tränen für Sie zusammen oder geht das eine auch ohne das andere? Wie geht es Ihnen mit Trauernden, die sehr expressiv und lautstark reagieren? Sind Ihnen eher emotionale oder rationale Trauernde lieber? Welche Trauerreaktionen versuchen Sie vielleicht unbewusst zu vermeiden oder machen Ihnen Angst? Wir legen in diesem Artikel das Spannungsfeld von anerkannter Trauer auf der einen Seite und aberkannter Trauer auf der anderen Seite dar. Wir zeigen ausgehend von dem Konzept disenfranchised grief und seinen Weiterentwicklungen, dass Verluste, trauernde Menschen und ihre Trauerreaktionen regelmäßig in eine meist unbewusste Rangordnung gebracht werden. Diese Rangordnung wird von verschiedenen Normen bestimmt, die gesellschaftlich und kulturell konstruiert werden, aber auch individuell durch Familiengeschichte oder Persönlichkeitsmerkmale bestimmt sind. Diese internalisierten Trauernormen führen dazu, dass Begleitende ebenso

wie Nachbarn, Angehörige und Trauernde selbst automatische Bewertungen abgeben: Der eine Verlust gilt als weniger schlimm als der andere, eine bestimmte Trauerreaktion wird als adäquater eingeschätzt als die andere etc. Prägnanter ausgedrückt: Verluste, Trauernde und Trauerreaktionen unterliegen einer normativen Hierarchisierung. Diese Hierarchisierung hat zur Folge, dass den als »gravierender« angesehenen Verlusten eine andere Unterstützung gegeben wird als den als »lapidar« eingeschätzten. Es führt dazu, dass manche Trauerreaktionen zum Beispiel durch Medikamente unterdrückt werden, andere durch Ratschläge quasi erzwungen werden sollen. Unsere These ist, dass diese Hierarchisierung Auswirkungen auf die professionelle Trauerbegleitung hat. Mehr noch: Trauerbegleitung und therapeutische Interventionen selbst können dazu beitragen, dass diese normative Hierarchisierung von Verlusten, Trauernden und Trauerreaktionen stabilisiert wird. Oder andersherum: Trauerbegleitung untergräbt die von außen vorgegebenen Trauerhierarchien und gibt Trauerden, denen bisher kein Recht auf Trauer und Unterstützung zugestanden wurde, dieses Recht auf ihren Prozess und auf eine Unterstützung dabei zurück. Dementsprechend fragen wir, welche Wandlungstendenzen und welche Beharrlichkeiten sich im Spannungsfeld von ab- und anerkannter Trauer zeigen, welche Risiken und Chancen diese normative Hierarchisierung für die Trauerbegleitung hat und wie die Trauerbegleitung selbst zu einer solchen Hierarchisierung beiträgt. Die hier aufgeworfenen Fragen sollen dazu anregen, die eigene trauerbegleitende Tätigkeit kritisch in den Blick zu nehmen und gegebenenfalls weiterzuentwickeln.

Leidfaden, Heft 3 / 2015, S. 8–17, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015, ISSN 2192–1202

Ernst Ludwig Kirchner, Ins Meer steigender Mann, 1913 / akg-images

Ist der Tod des erwachsenen Bruders schwerwiegender als der Tod des eigenen Kindes? Macht der Verlust des Arbeitsplatzes trauriger als der Verlust der Heimat? Wonach entscheiden Sie das?

© Monika Wieber

1 0   Ta n j a M . B r i n k m a n n u n d C h r i s Pa u l

Dieser Artikel ist wie folgt aufgebaut: Wir widmen uns zunächst der aberkannten Trauer und stellen das Konzept disenfranchised grief in seinen Grundzügen und Weiterentwicklungen vor. Anschließend wird aufgezeigt, wo es derzeit zu einer normativen Hierarchisierung von Verlusten, trauernden Menschen und Trauerreaktionen kommt. Es werden dann Wandlungstendenzen gezeigt: einerseits, wo aberkannte Trauer mehr anerkannt wird, und andererseits, wo die Modifikation von Diagnoseklassifikationssystemen (zum Beispiel ICD und DSM) zu einer ambivalenten Anerkennung von Trauer führen, die den Preis der Pathologisierung zahlt. Das Konzept der aberkannten, sozial nicht anerkannten und entrechteten Trauer – Annahmen und Weiterentwicklungen Das von Doka 1989 erstmals vorgestellte Konzept disenfranchised grief (vgl. Doka 1989, 1999) ist unter verschiedenen Namen in den deutschsprachigen Raum übersetzt worden: als »aberkannte Trauer« (Paul 2011), »entrechtete Trauer« (Doka 2014) und »sozial nicht anerkannte Trauer« (Willmann und Müller 2014). Wesentlich dabei ist, dass die soziale, gesellschaftsstrukturelle und vor allem normative Seite der Trauer beleuchtet wird. Zentrale Annahme ist, dass Trauerprozesse normativen Verhaltensspielregeln folgen (zum Beispiel wer trauern soll und darf, wo das geschehen kann und vor allem wie lange). Entsprechen die Verluste beziehungsweise die Trauerreaktionen den aktuell gültigen Normen, kann die trauernde Person davon ausgehen, dass ihre Trauer gesellschaftlich anerkannt ist und sie die von der

Menschen mit aberkannter Trauer erhalten kaum oder keine zwischenmenschliche oder professionelle Unter­­stützung, wodurch ihr bereits erschwerter Trauer­prozess noch mühsamer wird.

jeweiligen Kultur und Gesellschaft vorgesehene Unterstützung in ihrer Verlustbewältigung erhält. Doka interessiert sich nun für genau das Gegenteil: Trauernde Menschen, deren Verluste und Trauerreaktionen sich an den gängigen Normen brechen, so seine zentrale These, sind entrechtet, weil sie ihre Trauer nicht nach außen leben können, und wenn sie dies trotzdem tun, werden sie für dieses abweichende Verhalten negativ sanktioniert. Menschen mit aberkannter Trauer erhalten deshalb kaum oder keine zwischenmenschliche oder professionelle Unterstützung, wodurch ihr bereits erschwerter Trauerprozess noch mühsamer wird. Durch die Übersetzung als »entrechtete Trauer« kommt die politische Implikation eines gesellschaftlich vorgegebenen Rechts auf Trauer, die dem Konzept von Doka innewohnt, am stärksten zum Ausdruck. Wir präferieren jedoch den Begriff »aberkannte Trauer«, weil er unseres Erachtens eingängiger und weniger erklärungsbedürftig als »entrechtete« Trauer ist. Doka unterscheidet mehrere Typen von aberkannter Trauer, die sich nicht notwendigerweise ausschließen, sondern auch ergänzen können: • Aberkannte Beziehungen: Nichtverwandtschaftliche Familienbeziehungen werden in der Regel als weniger intensiv angesehen als eine sogenannte Blutsverwandtschaft. Die Trauer von Nachbarn/Nachbarinnen, besten Freundinnen/Freunden, ­Kollegen/Kolleginnen, Geliebten, Bewohnern/­Bewohnerinnen, Betreuungs- und Pflegekräften, Ärzten/Ärztinnen, Pflege- oder Stiefeltern erfährt in der Regel nicht die gleiche Anerkennung wie bei verwandtschaftlichen Beziehungen. Innerhalb verwandtschaftlicher Beziehungen exis-

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tiert darüber hinaus eine weitere Hierarchie: Geschwister und Großeltern werden als weniger intensiv trauernd eingeschätzt als Eltern und Partner/-in. Die als weniger intensiv eingeschätzten Beziehungen führen zu einer Geringschätzung des Verlusterlebens. Diese Geringschätzung führt zu einer Marginalisierung des Trauerprozesses. Menschen, die zum Verstorbenen in einer aberkannten Beziehung standen, werden von der Mitgestaltung der Abschiedsrituale zumeist ausgeschlossen, sie erfahren keinerlei oder kaum Beileidsbekundungen, Trost und Unterstützung. • Aberkannte Verluste: Bestimmte Verluste werden normativ geringgeschätzt oder gar nicht als solche definiert. Beispiele hierfür sind der Tod eines Haustiers (vgl. Toetz 2014), das abgebrochene Studium, der Verlust des Eigentums im Zuge einer Insolvenz, Schwangerschaftsabbrüche, der Kontaktabbruch der Tochter, die sich politisch radikalisiert und von den bürgerlichen Eltern abgewendet hat. Verluste, die nicht als solche wahrgenommen werden, so die Annahme, ziehen auch keine Trauerprozesse nach sich. Dementsprechend unterbleibt jedes Unterstützungsangebot nach einem aberkannten Verlust. • Aberkannte Trauerfähigkeit: Nicht allen Menschen werden normativ gleichermaßen Trauerfähigkeiten oder Trauerbedürfnisse zugeschrieben. So wird häufig davon ausgegangen, dass Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung, sehr junge oder sehr alte Menschen anders, weniger oder gar nicht trauern. Diesen Menschen wird häufig nicht zugetraut, einen Verlust als solchen zu verstehen, weshalb er ihnen nicht selten verschwiegen wird. Von Abschieds­ritualen werden sie tendenziell ausgeschlossen und weitergehende Unterstützung für ihren Prozess erhalten sie zumeist nicht, da er fälschlich als Depression, aufsässiges Verhalten oder allgemeine Unangepasstheit eingeschätzt wird.

• Tabuisierte Todesursachen: Bestimmte Todesumstände (zum Beispiel Selbsttötungen, Tode im Zuge von sexueller Aktivität, Drogenabusus, Schwangerschaftsabbruch) werden tendenziell verschwiegen, weil sie in der Regel weniger anerkannt sind als etwa eine Krebserkrankung oder ein Opferstatus im Straßenverkehr. Solche schamhaft verschwiegenen Verluste zeigen die Wirksamkeit gesellschaftlicher Regeln. Die Abwertung und Stigmatisierung bestimmter Verhaltensweisen wirkt so stark, dass Hinterbliebene lieber auf Trauerunterstützung verzichten, als sich der Ausgrenzung aufgrund der Todesumstände auszusetzen. • Aberkannte Trauerreaktionen: Jede Gesellschaftsform, Religion und Kultur erlaubt und verbietet andere Ausdrucksformen von Trauer. In Westeuropa sind exaltierte, expressive, lautstarke und langwierige Trauerausdrücke weniger anerkannt und werden oft sogar als »falsch« eingeschätzt. Die aberkannten Trauerreaktionen haben für alle, die Trauernden im Rahmen ihrer Berufstätigkeit begegnen, eine entscheidende Bedeutung. Trauerbegleiter/-innen entscheiden mit, welcher Trauerausdruck als »angemessen und normal« gilt und welcher als »ungewöhnlich« oder »risikohaft« oder »nicht mehr normal« angesehen wird. Auch wenn Trauerbegleitende den Begriff der »pathologischen Trauer« nicht mehr verwenden, haben doch alle eine internalisierte Bewertungsskala, die das fachliche Handeln leitet. Während das Konzept disenfranchised grief im englischsprachigen Raum sowohl innerhalb der Trauerforschung wie auch innerhalb der Praxis etabliert ist (vgl. Robson und Walter 2012, S. 97), lässt sich das für den deutschsprachigen Raum nicht konstatieren. Erst in jüngster Zeit gibt es einzelne Veröffentlichungen (vgl. Metz 2011; Paul 2011; Paul 2012 sowie das Leidfaden-Themenheft 3/2014: »Aberkannte Trauer«). Beim Bundes-

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verband Trauerbegleitung e. V. wird aberkannte Trauer seit Kurzem als Risikofaktor für erschwerte Trauer berücksichtigt (vgl. Bundesverband Trauerbegleitung 2013, S. 78). Im englischsprachigen Raum zeigen sich im Fachdiskurs zahlreiche kontroverse Diskussionen und empirische Forschungen zur Weiterentwicklung des Konzepts, die wir an dieser Stelle nicht vollständig darlegen können. Lediglich zwei Aspekte sind für diesen Artikel wichtig. Erstens impliziert der Dualismus von Ab- und Anerkennung in dem Konzept von Doka ein Entweder-oder: Verluste, trauernde Menschen beziehungsweise ihre Trauerreaktionen sind entweder anerkannt oder nicht. Im Anschluss an Robson und Walter gehen wir dagegen von einer normativen Hierarchisierung von Verlusten, trauernden Menschen und Trauerreaktionen aus (vgl. Robson und Walter 2012, S. 110). Mit anderen Worten: Es geht um ein Mehr-oder-Weniger von Trauer, die Menschen zugestanden wird. So wird beispielsweise der trauernden Ehefrau normativ ein höhere Trauerintensität und -dauer zugestanden als dem besten Freund des Verstorbenen. Eine solche Mehr-oder-weniger-Sichtweise ist unseres Erachtens differenzierter und zielführender. Zweitens sind Personen nicht nur einseitig von gesellschaftlichen Normen und Werten beeinflusst,

sondern sie selbst haben im Zuge von Sozialisationsprozessen und Lebenserfahrungen normative Vorgaben verinnerlicht und leben diese in ihrem tagtäglichen Handeln und Sein aus. Dieses kann dazu führen, dass die tatsächlich vorhandenen Trauerprozesse nicht nur gesellschaftlich, sondern auch von den Betreffenden selbst aberkannt werden. Kauffman spricht dementsprechend von »selfdisenfranchisement« (Kauffman 2002, S. 61), also »Selbstaberkennung«. Es findet also eine erlernte Verinnerlichung der normativen Hierarchisierung von Verlusten, Trauernden und Trauerreaktionen statt. Erlernt deshalb, weil wir bei Kindern sehr eindrucksvoll sehen können, dass diese Hierarchisierung (noch) nicht vorhanden ist. Kinder in Trauergruppen treten in der Regel nicht in Wettstreit, ob es schlimmer sei, den Vater, die Schwester oder den Großvater verloren zu haben. Somit stehen Menschen mit tendenziell aberkannter Trauer, wie Abbildung 1 zeigt, in einem Spannungsfeld von verschiedenen Ebenen, die sich wechselseitig beeinflussen. Dieses Spannungsfeld besteht aus gesellschaftlichen Strukturen und Institutionen (etwa wo Friedhöfe sind, wer bestatten darf, welche Unterstützungsstrukturen es für trauernde Menschen gibt) und kulturellen Symbolen (was »sich gehört« und was nicht, Männer- und Frauenaus… kulturellen Symbolen, z. B.

… gesellschaftlichen Strukturen

Normen, Rollenvorstellungen,

und Institutionen

Bräuchen, Traditionen, Regeln, Stereotypen

Menschen mit aberkannter Trauer im Spannungsfeld von … … Vorstellungen von Verlust … eigenen, subjektiven Vorstellungen von Verlust und Trauer

und Trauer, die in Interaktionen und Handlungen von anderen Menschen an sie herangetragen werden

Abbildung 1: Spannungsfeld von Menschen mit aberkannter Trauer

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G e s e l l s c h a f t l i c h e S y s t e m e u n d i h r e Tr a u e r n o r m e n    1 3

druck der Trauer, Butterkuchen nach der Bestattung, Sechswochenamt, Tragen schwarzer Kleidung etc.). Jede Person hat zudem ihre ganz eigenen, subjektiven Vorstellungen von Trauer. Im tagtäglichen Handeln bringen wir diese zum Ausdruck (zum Beispiel ob wir zu einer Beerdigung gehen oder nicht, ob wir dort Schwarz tragen, ob wir uns nach einem Tod krankschreiben lassen oder sofort wieder arbeiten gehen) und übertragen sie auf unser soziales Umfeld. Gibt es zwischen den eigenen, subjektiven Vorstellungen von Trauer und den anderen drei Seiten des Spannungsfelds keine oder nur eine geringe Kongruenz, ist die Gefahr aberkannter Trauer vorhanden. Hierarchisierung von Verlusten, Trauernden und Trauerreaktionen auf der Angebotsseite Welche Wirkungen hat diese normative Hierarchisierung nun auf die Praxis der Trauerbegleitung? Zunächst einmal ist auffällig, wen Trauerbegleitung adressiert und welche Trauernden sie in Anspruch nehmen. Empirisch abgesichertes und gar repräsentatives Wissen hierzu ist in Deutschland nicht vorhanden. Die jüngsten Ergebnisse des Projekts »TraueErLeben« geben aber erste explorative Hinweise, wer Trauerbegleitung nutzt (vgl. Wissert 2013). Es zeigt sich, dass vor allem Personen nach dem Verlust eines Kindes oder einer Partnerin oder eines Partners Trauerbegleitung in Anspruch nehmen (vgl. Wissert 2013, S. 7). Daraus lässt sich schlussfolgern, dass offensichtlich die gesellschaftlich anerkanntesten Verlust- und Beziehungsformen am meisten trauerbegleitende Unterstützung erfahren. Ohne Frage sind für die meisten Menschen die Bindungen zu eigenen Kindern und zu Lebenspartnern die stärksten und bei einem Verlust dementsprechend massiv für den Trauerprozess. Wo aber bleiben die anderen trauernden Zugehörigen, die ebenfalls starke Bindungen zu den gestorbenen Menschen haben? Nimmt man das Konzept der aberkannten Trauer ernst, dann müssten professionelle trauer-

begleitende Angebote gerade für Personen vorhanden sein, deren Trauer sozial nicht anerkannt ist, weil sie in ihrem gewohnten Alltag nicht ausgedrückt werden kann oder sogar sanktioniert wird. Dies scheint aber eher selten der Fall. Mutmaßlich findet hier ein doppelter Selektionsprozess statt: Einerseits erlauben sich trauernde Menschen diese Trauer selbst nicht. Andererseits finden sie möglicherweise keine Angebote für ihre Trauer, die sie selbst als akzeptabel und unterstützend wahrnehmen. Der Blick auf die beiden großen deutschen Selbsthilfevereine für Trauernde zeigt das. Der bundesweite »VEID – Bundesverband Verwaiste Eltern und trauernde Geschwister e. V.« bietet seit 1997 Selbsthilfegruppen, Tagungen, Seminare und umfangreiches Informationsmaterial für Eltern und Geschwister von Verstorbenen an. Ihr Verlust ist zwar anerkannt und gilt als unterstützungsbedürftig, aber ihr Trauerausdruck wird in seiner Intensität und Dauer selten von Außenstehenden und Professionellen akzeptiert (vgl. Klaassen und Gallagher 2014). Trauernde Eltern und Geschwister können so tatsächlich als eine Gruppe von aberkannt Trauernden gelten, die sich selbst organisiert haben, um ohne Widerspruch und therapeutischen Zwang langandauernd, stark und in völliger Verneinung jeder Form des »Loslassens« zu trauern. Der zweite bundesweite Selbsthilfeverein für trauernde Menschen, »AGUS  – Angehörige um Suizid e. V.«, entspricht gleich beim ersten Blick den Kriterien für aberkannte Trauer. Die Todesursache Suizid ist in den letzten zwanzig Jahren stark enttabuisiert worden, die Betroffenen erleben aber nach wie vor, dass die Reaktionen auf ihren Verlust stärker am »Suizid« als Todesart orientiert sind als am eigenen Trauerprozess. Auch ein überlagerndes Thema beziehungsweise Tabu kann so die Trauer aberkennen, weil sie einfach nicht in den Fokus kommt. Aus der Perspektive aberkannter Trauer(nder) fehlen viele weitere Angebote: Ein Gruppenangebot für trauernde Geliebte oder eine spezialisierte Einzeltrauerbegleitung für trauernde bes-

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te Freundinnen/Freunde suchen die Betroffenen wahrscheinlich vergeblich. Auch Angebote für trauernde Großeltern sind fast nirgends zu finden. Für Menschen mit einer fortgeschrittenen Demenz gibt es unseres Wissens zurzeit noch keine Konzepte zur Trauerbegleitung. Spezielle Seminare für Menschen, deren Trauerausdruck negativ sanktioniert wird, als zu exaltiert oder zu kalt, fehlen. Es ist auffällig, dass ohne Tod kaum Trauerbegleitung stattfindet. Sowohl die anfragenden Trauerenden als auch anbietenden Trauerbegleiter/-innen sehen offensichtlich den Tod als Indikation für Trauerbegleitung an. Zwar finden im Verlauf von Trauerbegleitungen häufig auch andere Verluste jenseits des Todes Relevanz und Berücksichtigung, aber überspitzt lässt sich festhalten, dass zumeist der Tod das notwendige Eintrittsticket in die Trauerbegleitung ist. Bei anderen Verlusten werden andere Unterstützungsinstitutionen aufgesucht, die konzeptionell im Bereich der Krisenbewältigung arbeiten, aber von einem spezialisierten Wissen über Trauerprozesse sehr profitieren könnten.

Kinder in Trauergruppen treten in der Regel nicht in Wettstreit, ob es schlimmer sei, den Vater, die Schwester oder den Groß­ vater verloren zu haben.

Wandlungstendenzen Trauerbegleitung und auch der gesellschaftsstrukturelle und normative Umgang mit Trauer sind derzeit dynamisch und wandlungsreich. Mit anderen Worten: Nicht alles muss so bleiben, wie es ist. Hierzu einige Beispiele: • Aberkannte Beziehungen: Der »Bundesverband Verwaiste Eltern in Deutschland« adressierte zunächst vor allem t­rauernde Eltern. 2012 kommt es zur Umbenennung in »Bundesverband Verwaiste Eltern und trauernde Geschwister in Deutschland« als Ausdruck dessen, dass sich im Zeitverlauf die Angebote für trauernde Geschwister erweitert haben. Auch die Trauer von Pflegenden wird zunehmend wahrgenommen und auch respektiert, sie werden häufiger als früher zu Abschiednahme und Beerdigungen eingeladen, erhalten in ei-

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S. Kobold / Fotolia

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nigen Institutionen bereits kleine ritualisierte Zeiträume für ihre Erinnerungen an die Menschen, die in ihrer Obhut gestorben sind, im Rahmen von Dienstbesprechungen oder Jahresfeiern. • Aberkannte Verluste: Bisher aberkannte Verluste im Rahmen von Schwangerschaftsabbrüchen und auch von Fehlgeburten werden zunehmend wahrgenommen und begleitet durch Abschieds- und Bestattungsmöglichkeiten, durch Gedenkstätten und Beratungsangebote in den Entbindungsklinken oder Beratungsstellen für Schwangerschaftskonflikte. Bis vor wenigen Jahren fand die Trauer um Kinder, die während der Schwangerschaft oder bei der Geburt gestorben sind, vergleichsweise wenig Anerkennung. Heute gibt es Unterstützungsleistungen wie etwa die Initiative »Regenbogen« oder »Leere Wiege«, die spezifische Angebote für diese Eltern bereithalten. Zudem hat seit 2014 eine Veränderung des Personenstandsgesetzes dazu geführt, dass Eltern für ihre Kinder, die mit einem Gewicht von weniger als 500 Gramm tot geboren wurden, eine Geburtsurkunde inklusiver offizieller Namensgebung erhalten können. • Aberkannte Trauerfähigkeit: Die Trauer von Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung wurde über viele Jahrzehnte als weniger stark eingestuft. Dementsprechend wurden diese Menschen häufig bei Bestattungen oder von Trauerangeboten ausgeschlossen. Forschungsarbeiten haben aber gezeigt, dass sich die Trauer von Menschen mit oder ohne geistige Behinderung gar nicht so stark unterscheidet (vgl. Luchterhand und Murphy 2010; Franke 2012). Auch hier hat jetzt ein Wandel stattgefunden: Es gibt erste Angebote wie etwa Fachpublikationen in Leichter Sprache (vgl. Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung 2012) oder Trauercafés für Menschen mit geistiger Behinderung, die man noch vor einigen Jahren vergeblich gesucht hat.

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Entrechtete Trauer oder Rechte in der Trauer Wir haben bisher von aberkannter beziehungsweise entrechteter Trauer gesprochen, ohne jedoch genau zu definieren, welche Rechte für trauernde Menschen, deren Verlust und Trauerausdruck in der westeuropäischen, säkularisierten christlichen Gesellschaft des 21.  Jahrhunderts anerkannt werden. Juristisch geregelt sind in Deutschland die Bestattungspflicht, die Erbfolge und die Möglichkeit des Sonderurlaubs nach dem Tod eines Verwandten ersten Grades, je nach tarifpolitischer Flankierung und Arbeitsvertrag zumeist zwei Tage. Mit Vorsorgevollmachten, Betreuungsverfügungen, dem Organspendeausweis, einem Vorsorgevertrag für die eigene Bestattung und einem Testament setzt der Sterbende selbst Regeln fest für sein Sterben, seine Hinterlassenschaft und seinen Abschied. Mehr ist nirgendwo festgehalten. Anteilnahme, tatkräftige Unterstützung, Rücksicht und Geduld liegen im Ermessen der umgebenden Menschen. Und die haben im Lauf der vergangenen Jahrzehnte nur begrenzt gelernt, wie das alles zur Verfügung gestellt wird. Rücksichtslosigkeit, Ungeduld, Forderungen nach flottem »Loslassen« und nach produktiver Wut zur umgehenden Wiederherstellung hundertprozentiger Leistungsfähigkeit sind an der Tagesordnung. Auch bei den »Profis«. Es kommt eine bislang nicht dagewesene Pathologisierung von Trauer hinzu, was sich an der Reformulierung und Neudefinition von medizinischen und psychotherapeutischen Diagnoseklassifikationssystemen zeigen lässt. Im Mai 2013 wurde das »Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders« in seiner fünften Auflage (­DSM-5) für die USA veröffentlicht. Neu ist hier, dass bei Trauernden mit depressiver Symptomatik jetzt schon zwei Wochen nach einem Todesfall bereits eine Depressionsdiagnose gestellt werden kann, statt bisher nach sechs Wochen. Die Empörung über diese Neufassung blieb nicht aus. So warnte beispielsweise die Bundespsychotherapeutenkammer

in der Stellungnahme »Trauer ist keine psychische Krankheit« vor dem Aufweichen diagnostischer Kriterien (vgl. BPtK 2013). Auch der Bundesverband Trauerbegleitung wehrt sich in einer Stellungnahme »Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen« (Bundesverband Trauerbegleitung 2014, S. 94) im Bereich Trauer. Dieser Aufschrei überrascht uns ein wenig, denn bislang wurde und wird unserer Erfahrung nach auch Trauer bereits psychotherapeutisch behandelt und abgerechnet, z. B. über die Diagnoselabels Anpassungsstörung oder Posttraumatische Belastungsstörung im ICD-10 GM (Internationale Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, German Modification). Andere Stimmen weisen zudem darauf hin, dass die Veränderung im DSM-5 überinterpretiert wurde (vgl. Finzen 2013, S. 2). Zudem steht die Adaption des DSM-5 für Deutschland noch aus. Sie erfolgt in der Regel zwei bis drei Jahre nach der US-amerikanischen Version, und es bleibt abzuwarten, inwieweit die für die USA neu ausgerichteten Kriterien zu Trauer in Deutschland Wirklichkeit werden. Entscheidender scheint die ICD-Neufassung, die unseres Erachtens bislang noch nicht hinreichend in den Blick genommen wurde. Für 2017 hat die WHO die Veröffentlichung der 11. Auflage vorgesehen. Hier ist geplant, mit »Störungen, die spezifisch mit Stress assoziiert sind«, ein gänzlich neues Kapitel einzuführen und mit pro­ longed grief disorder beziehungsweise mit anhaltender Trauerstörung eine neuartige Diagnose. Der Vorschlag ist, dass diese Diagnose nach dem Tod eines nahestehenden Menschen gestellt werden darf, wenn die typischen Trauersymptome im Vergleich zur kultur- und religionsspezifischen normativ zu erwartenden Trauerzeit deutlich verlängert auftreten. Ob dieser Vorschlag 2017 Wirklichkeit wird, bleibt abzuwarten. Die bisherige Haltung in der Trauerbegleitung war, dass Merkmale wie Sehnsucht nach dem Verstorbenen, Schwierigkeiten, den Tod zu realisieren, starke Beschuldigungen gegen sich selbst und ein Desinteresse an neuen Aktivitäten und Beziehun-

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gen zu einem normalen, natürlichen Trauerprozess gehören. Trauerbegleitende haben den Menschen Mut zugesprochen, Verständnis und Unterstützung von ihrer Umgebung einzufordern und anzunehmen. Diese Unterstützung mussten die Betroffenen selbst bezahlen oder sie wurde von einem Verein, einem Wohlfahrtsverband oder über Spenden finanziert, niemals regelhaft von einer Krankenkasse. Nun sieht es so aus, dass eine neue Norm entstehen wird, die die verschiedenen Angebote zueinander hierarchisiert. Die neue Norm lässt sich aber auch interpretieren als neues Recht – auf psychotherapeutische Unterstützung, auf Krankschreibung, auf verschreibungspflichtige Psychopharmaka, die von den Krankenkassen bezahlt werden. Diese neuen Trauerrechte sind unseres Erachtens ein zweischneidiges Schwert, und es ist offen, welche Auswirkung sie auf die Einstellung der Gesellschaft zu Trauerprozessen haben werden. Dr. Tanja M. Brinkmann ist selbstständige Trauerberaterin in Bremen, führt bundesweit Trainings, Vorträge, Fortund Weiterbildungen zu Trauer am Arbeitsplatz, Palliative Care und Selbstsorge durch und ist Lehrbeauftragte an verschiedenen Universitäten. Sie ist promovierte Soziologin, Diplom-Sozialpädagogin und Krankenschwester. E-Mail: [email protected] Website: www.tanja-m-brinkmann.de Chris Paul ist Trauerbegleiterin, Fachbuchautorin sowie Referentin u. a. in Palliative-Care-Kursen, an der Mil­dredScheel-Akademie in Köln, bei der Malteser-Akademie in Bonn sowie an der Kardinal-König-Akademie in Wien. Sie arbeitet in ihrer eigenen Bonner Praxis für Trauerbegleitung, ist Gründungsmitglied des Bundesverband Trauerbegleitung e. V. (BVT) und leitet seit 2002 das TrauerInstitut Deutschland. E-Mail: [email protected] Website: www.trauerinstitut.de Literatur Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK): Trauer ist keine psychische Krankheit. BPtK warnt vor dem Aufweichen diagnostischer Kriterien. Pressemitteilung. 2013. Online: http://www.bptk.de/uploads/media/20130517_ pm_bptk_Trauer_ist_keine_psychische_Krankheit.pdf (Zugriff: 27. 10. 2014).

Bundesverband Trauerbegleitung: Risikofaktoren, Ressourcen und Symptome zur Einschätzung erschwerter Trauerprozess. In: Leidfaden, 2013, 2, S. 77–81. Bundesverband Trauerbegleitung: Normale Trauer. Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen. In: Leidfaden, 2014, 3, S. 94. Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung: Bäume wachsen in den Himmel. Sterben und Trauern. Ein Buch für Menschen mit geistiger Behinderung. Stuttgart 2012. Doka, K. J.: Disenfranchised grief. Recognizing hidden sorrow. Lexington, Mass. 1989. Doka, K. J.: Disenfranchised grief. In: Bereavement Care, 1999, 18 (3), S. 37–39. Doka, K. J.: Trauer, die nicht anerkannt wird: Aberkannte Trauer. In: Paul, C. (Hrsg.): Neue Wege in der Trauer- und Sterbebegleitung. Hintergründe und Erfahrungsberichte für die Praxis. Gütersloh, 2011, S. 101–109. Doka, K. J.: Entrechtete Trauer. In: Leidfaden, 2014, 3 (3), S. 4–8. Finzen, A.: DSM-5 in der Kritik. Das Dilemma psychiatrischer Diagnostik. 2013. Online: http://www.eckhard-busch-stiftung.de/fileadmin/daten/Service_Hilfe/Information/EBU_ Artikel_Asmus_Finzen_DSM_5.pdf (Zugriff: 27. 10. 2014). Franke, E.: Anders leben  – anders sterben. Gespräche mit Menschen mit geistiger Behinderung über Sterben, Tod und Trauer. Wien 2012. Kauffman, J.: The psychology of disenfranchised grief: Liberation, shame, and self-disenfranchisement. In: Doka, K. J. (Hrsg.): Disenfranchised grief. New directions, challenges, and strategies for practice. Champaign, Ill. 2002, S. 61–77. Klaassen, D. W.; Gallagher, S.: Haben wir noch ein Recht zu trauern? Der immerwährende Kummer trauernder Eltern. In: Leidfaden, 2014, 3 (3), S. 21–27. Luchterhand, C.; Murphy, N.: Wenn Menschen mit geistiger Behinderung trauern. Vorschläge zur Unterstützung. Weinheim/München 2010. Metz, C.: Die vielen Gesichter der Trauer: Anregungen zum Umgang mit Trauer und Trauernden: In: PsychotherapieWissenschaft, 2011, 1 (3), S. 177–186. Paul, C. (Hrsg.): Neue Wege in der Trauer- und Sterbebegleitung. Hintergründe und Erfahrungsberichte für die Praxis. Gütersloh, 2011. Paul, C.: Aberkannte Trauer. In: Schärer-Santschi, E. (Hrsg.): Trauern. Trauernde Menschen in Palliative Care und Pflege begleiten. Bern 2012, S. 225–231. Robson, P.; Walter, T.: Hierarchies of loss: A critique of disenfranchised grief. In: OMEGA-Journal of Death and Dying, 2012, 66 (2), S. 97–119. Toetz, N.: Der Verlust eines Tieres. In: Leidfaden, 2014, 3 (3), S. 45–49. Willmann, H.; Müller, H.: Eine Kritik am Konzept der »sozial nicht anerkannten Trauer«. In: Leidfaden, 2014, 3 (3), S. 81–83. Wissert, M.: Wirkungen von Trauerbegleitung im Rahmen der emotionalen und sozialen Bewältigung von tiefgehenden und komplizierten Trauerprozessen [TrauErLeben]. Ergebnisse des Forschungsprojekts aus der Befragung von Trauernden und Trauerbegleiterinnen sowie von Mitar­ bei­tern in der stationären Pflege alter Menschen. 2013. ­Online: http://www.projekt-trauerleben.de/Wirkungen_ der_Trauerbegleitung.pdf (Zugriff: 04. 05. 2014).

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Scheidewege – Getrennt neue Wege gehen Susanne Vormbrock-Martini und Sybille Vormbrock Nie brauchen Eltern autonomere, unabhängigere, stabilere, selbstbewusstere, unkompliziertere Kinder als in der Phase ihres eigenen heftigen Schmerzes und ihrer Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Trennung. Und nie brauchen Kinder liebevollere, geduldigere, aufmerksamere, einfühlsamere Eltern als in dieser Trennungszeit. Dass dies weder Kindern noch Eltern möglich ist, ist niemandes Schuld, das ist das Dilemma. (nach Helmuth Figdor 2003/2010) In Deutschland erleben etwa 30 bis 40 Prozent der Ehepartner Trennung und Scheidung. Es sind 150 000 Kinder pro Jahr von der Scheidung ihrer Eltern betroffen beziehungsweise jedes sechste Kind erlebt im Laufe seiner Kindheit die Trennung der Eltern und lebt in Folge überwiegend mit einem Elternteil oder in neuen Zweit- oder Patchworkfamilien (Largo und Czernin 2013, S. 10). Trennung betrifft nicht das Paar allein Getrennte Liebesbeziehungen wirken, außer auf die Paare und ihre Kinder selbst, auch auf weitere wichtige Beziehungen. So reißen manchmal im Zuge von Trennungen die Beziehungsfäden zu Kinderfreundinnen – beispielsweise durch Umzug und Schulwechsel –, zu Verwandten, die sich durch Parteinahme zuordnen, zum Freundeskreis der Erwachsenen, der sich aufspaltet, zu weiteren wichtigen Personen, wie Nachbarn, Trainern, Pastoren etc. Das Leben krempelt sich gehörig um. Enttäuschung, Wut, Angst, Schuldgefühle, Scham und Verzweiflung werden phasenweise zu täglichen Begleitern.

Die Betroffenen kennen das oben nach Helmuth Figdor beschriebene Dilemma nur zu gut. Man kann es nicht »richtig« machen in der akuten Trennungssituation. Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen unterstreichen das Dilemma noch: Eltern fühlen sich hilflos zwischen tiefem Schmerz und Wut einerseits und dem Schuldgefühl, ihren Kindern gegenüber zu versagen, ihnen nicht gerecht zu werden andererseits. Kinder fühlen sich verantwortlich für den Schmerz der Eltern oder gar schuldig für die Trennung der Eltern. Gleichzeitig sind sie allein mit ihrem eigenen Schmerz und der Angst vor dem, was jetzt kommen mag. Gesellschaftliche Prämisse: Trennung bedeutet Auflösung, Versagen, Scheitern Als gesellschaftliche Prämisse findet sich immer noch eine Art Auflösungsmodell, in dem eine Scheidung als etwas Defizitäres beschrieben wird, welches das Ende der Familie und auch den Tod eines Lebensmodells bedeutet, in dem Eltern zu Gegnern werden und Kinder auffällig und in ihrer Entwicklung gestört. Die elterliche Verantwortung bedarf diesem Modell zufolge unbedingt institutioneller Regelung und häufig wird der Kontakt zum nichtsorgeberechtigten Elternteil stark begrenzt. Systemische Prämisse: Neustrukturierungsmodell Alternativ fokussiert das Neustrukturierungsmodell auf die Ressourcen der beteiligten Personen und deren Umwelt. Trennung und Scheidung werden als Lösung einer familiären Krise

Leidfaden, Heft 3 / 2015, S. 18–22, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015, ISSN 2192–1202

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verstanden, mit der eine neue Art des familiären Lebens entsteht. Die Beteiligten schaffen diese konstruktive neue Umwelt durch Resilienz selbst – zum Beispiel auch durch das eigene soziale Netz – oder lassen sich professionell unterstützen, so dass Eltern trotz Trennung kooperieren, wenn es um ihre Kinder geht und der Kontakt der Kinder zu beiden Elternteilen gefördert werden kann. Gleichwohl wird das Ende der Paarbeziehung oft als »das Ende«, »die Katastrophe«, als »Tod jeglicher Beziehung« und vor allem als »Versagen« empfunden und betrauert. Ist bei einem der Partner der »point of no return« erreicht, zieht es sehr häufig dem anderen den Boden weg. Verlassenwerden wirkt wie eine heftige Kränkung, die den eigenen Selbstwert über lange Zeit schwächen kann.

Dann braucht es Geborgenheit in einem stabilen sozialen Netz; Freunde, die einfach da sind, einladen, begleiten, Essen kochen, zuhören – viele Male –, manchmal auch zum Lebendigsein zwingen. Eltern sowie Großeltern brauchen dies gleichermaßen: Auch für Großeltern bricht mit der Trennung der Kinder und Schwiegerkinder oft eine Welt zusammen. Professionelle systemtherapeutische Gespräche, die behutsam Kräfte und Ressourcen aktivieren, tragen zur Stabilisierung bei und stellen oft eine längere gute Begleitung dar. Handfeste Lebensveränderungen müssen bewältigt werden: Umzug, Kita- oder Schulwechsel, die Umgangsregelungen für die Kinder, Wahl des Residenz- oder Wechselmodells (siehe auch Mundzeck und Braack 2013), Vereinbarkeit von Beruf und Kinderbetreuung, finanzielle Engpässe etc. Systemische Mediation kann diesbezüglich sinnvoll sein. Eine professionelle Außensicht trägt hier zu klaren Regelungen bei.

Trennung und Scheidung werden als Lösung einer familiären Krise verstanden, mit der eine neue Art des familiären Lebens entsteht. Tr a u e r h a t S y s t e m

© Lukas Radbruch

Getrennt und doch nicht allein

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Grundbedürfnisse Remo Largo (Largo und Czernin 2013, S. 184 f. und S. 86) beschreibt drei Grundbedürfnisse des erwachsenen Menschen: Geborgenheit, Zuwendung/soziale Kompetenz, Entwicklung/Leistung. Nach Trennungen erleben die Betroffenen oft Verlassenheit, fehlende Unterstützung, Verschlechterung der Wohnbedingungen, soziale Isolation, sozialen Abstieg und finanzielle Sorgen. Grundbedürfnisse bestehen nach Geborgenheit und sozialer Akzeptanz – zum Beispiel in einer neuen Partnerschaft sowie mit guten Freunden. Hilfreich sind auch Akzeptanz und Sicherheit in der eigenen erweiterten Familie, sichere Lebensbedingungen sowie ein sicherer Arbeitsplatz. Oft suchen Betroffene – sind die ersten schweren Wochen bewältigt – nach Bestätigung durch Einsatz der eigenen Fähigkeiten im Beruf oder in Weiterbildungen beziehungsweise Umschulungen (Largo und Czernin 2013, S. 200). Kinder reagieren, ebenso wie die Erwachsenen, verunsichert, ängstlich, wütend, traurig. Dabei entwickeln ganz kleine Kinder häufiger Schuldgefühle, Grundschulkinder Solidaritäts- und Loyalitätskonflikte, Kinder in der Vorpubertät eher Selbstwertprobleme und Jugendliche, außer Zorn, Scham und Trauer, eher Probleme in eigenen engen Beziehungen.

Entsprechend enthält professionelle Unterstützung durch systemische Beratung, Therapie und Mediation diese drei Elemente. Schutzfaktoren (nach Ochs und Orban) Auch die beiden Psychologen und Systemischen Familientherapeuten Matthias Ochs und Rainer Orban (2011) formulieren zwei wesentliche Schutzfaktoren für Kinder aus Trennungsfamilien, die maßgeblich seien für eine gelingende Verarbeitung der Trennung/Scheidung ihrer Eltern: Am wichtigsten sei es, eine gute Beziehung zum »aushäusigen« Elternteil zu entwickeln (häufig immer noch der Vater), zu gestalten und zu pflegen. Dies sollte im Sinne von Kontinuität geschehen, einer emotionalen Sicherung der Beteiligten und der Entwicklung einer Beziehung, auch unabhängig vom Elternteil, in dessen Haushalt das Kind hauptsächlich lebt. Als zweiten wesentlichen Schutzfaktor nennen Ochs und Orban das Aufrechterhalten eines geringen Konfliktniveaus zwischen den Eltern nach der Trennung. Dies zeigt sich im Sinne einer möglichst wiederkehrenden positiven Konsensbildung zwischen den getrennt lebenden Eltern als notwendige Voraussetzung für eine förderliche Kontaktregelung zwischen Kind/Kindern und dem Vater oder der Mutter. Was hilft den Kindern noch?

Viele Kinder bewältigen Trennungen ohne dauerhafte Entwicklungsauffälligkeiten Untersuchungen ergeben, dass die wichtigsten Kriterien zur Bewältigung von Trennung und Scheidung für Kinder folgende sind (nach Fthenakis 1995): • Eine konstruktive Art der Eltern, mit Konflikten umzugehen, • Kontinuität und Aufmerksamkeit in der Beziehung zum außen lebenden Elternteil, • Sicherheit und Erziehungskompetenz des hauptsächlich anwesenden Elternteils.

Den Kindern hilft es, wenn getrennte E ­ ltern die Fähigkeit entwickeln, Perspektivenwechsel zu vollziehen. Es unterstützt die Kinder, wenn es den Eltern gelingt, eine Haltung aus Kindersicht in das eigene Erleben als getrenntes Elternteil aufzunehmen, zu entwickeln und zu integrieren. Einen solchen Blick aus Kindersicht formulierte Lothar Steurer, Pädagoge und Leiter der Psychologischen Beratungsstelle des Deutschen Kinderschutzbundes (Ortsverband Ulm/Neu-Ulm e. V.), in seinen Sätzen an getrennte/geschiedene Eltern (Steurer 2011):

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Edvard Munch, Bathers, 1917 / Private Collection / Photo © Christie’s Images / Bridgeman Images

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Grundbedürfnisse bestehen nach Geborgenheit und sozialer Akzeptanz – zum Beispiel in einer neuen Partnerschaft sowie mit guten Freunden.

»Was braucht ein Scheidungskind? Von seinen Eltern!« • »Wenn Ihr, liebe Mama und lieber Papa, es nicht schafft, zusammenzuleben und Euch gern zu haben, dann wäre die Trennung für mich leichter zu ertragen, wenn ich folgen-

• • • •

de Sätze von jedem von Euch hören und im Alltag spüren könnte: Ich werde immer dein Vater/deine Mutter bleiben und für dich da sein. Du bist nicht schuld, dass wir uns trennen. Du darfst den anderen Elternteil lieb haben. Du bist durch unsere Trennung belastet.

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• Je weniger du mir davon zeigst, desto größere Sorgen muss ich mir machen. • Du bist mein Kind und nicht mein Partner. • Dein Leben wird anders werden. • Trauer, Wut und Verzweiflung gehören dazu. Freude und Lachen aber auch. • Du musst dich nicht für oder gegen mich entscheiden. • Wenn ich jemanden Neuen kennen lerne, heißt das noch lange nicht, dass er oder sie auch für dich wichtig sein muss. • Auch wenn ich nicht derselben Meinung wie der andere Elternteil bin, kann ich ihm mit Respekt begegnen und kann versuchen, ihn zu verstehen. • Du bist nicht unser Zünglein an der Waage. • Ich verliere dich, deine Gefühle, deine Wünsche und Bedürfnisse nicht aus den Augen. Auch wenn nicht alles so eintritt, wie du es gern hättest. • Du darfst es mir sagen, wenn ich schlecht vom anderen Elternteil rede oder unfair mit ihm umgehe. Ich werde es mir anhören, ohne mich zu entschuldigen oder zu rechtfertigen. • Deine Meinung ist mir wichtig und ich werde sie gut bedenken. • Ich werde für mich sorgen, damit ich auch für dich sorgen kann. • Du brauchst mich an deiner Seite. Aber ich werde dich nicht für meine Interessen gebrauchen. • Auch wenn der andere Elternteil nicht mehr mit uns zusammen wohnt, hat er einen gebührenden Platz in unserem Leben. Ohne ihn oder sie gäbe es dich nicht.« Diese Sätze helfen Kindern und Eltern aus Trennungsfamilien gleichermaßen. Sie wirken klärend und entlastend. Und sie geben Zuversicht für einen konstruktiven und wohlwollenden Umgang mit Trennung und Scheidung auf dem eigenen Lebensweg. Die vielleicht wichtigste Unterstützungsmöglichkeit, die die genannten Aspekte aufnimmt

und berücksichtigt, bleibt die professionelle Begleitung von außen, zum Beispiel in Form von systemischer Beratung, Therapie oder Mediation. Und was noch hilft: auf die eigenen Kräfte und Ressourcen für die Bewältigung von Krisenzeiten schauen und vertrauen, sie willkommen heißen und sie neu beleben. So kann mit Helmuth Figdor (2003) festgestellt werden: »Die Scheidung/Trennung ist für alle Beteiligten eine schwere Lebenskrise und zugleich eine große Chance: für die Erwachsenen eine Chance auf mehr Lebenszufriedenheit (alleine oder in neuer Partnerschaft) und für die Kinder die Chance auf bessere psychische Entwicklungsbedingungen (als in einem Konfliktmilieu).« Susanne Vormbrock-Martini ist Lehrerin und Heilpädagogin, Systemische Therapeutin/Familientherapeutin, Systemische Supervisorin, Lehrende für Familientherapie, Leiterin des Hamburgischen Instituts für Systemische Weiterbildung (www.hisw.de). E-Mail: [email protected] Sybille Vormbrock ist Gymnasiallehrerin, Erwachsenenbildnerin, Lehrende (DGSF), Systemische Therapeutin/Familientherapeutin, Systemische Supervisorin und Organisationsberaterin, Coach. E-Mail: s.vormbrock@ hisw.de Literatur Figdor, H.: Scheidungskinder. Wege der Hilfe. Gießen 2003. Figdor, H.: www.familienhandbuch.de/trennungscheidung/ zwischen-trennung-und-gerichtlicher-scheidung/wegeder-hilfe. 2003/2010. Figdor, H.: Kinder aus geschiedenen Ehen. Zwischen Trauma und Hoffnung. Gießen 2004. Fthenakis, W.: Kindliche Reaktionen auf Trennung und Scheidung. In: Familiendynamik, 1995, 2, S. 127–154. Largo, R.; Czernin, M.: Glückliche Scheidungskinder. München 2013. Mundzeck, H.; Braack, H.: Kinder lassen sich nicht scheiden. Film. Deutsche Liga für das Kind. Hamburg. Luzifilm 2013. Ochs, M.; Orban, R.: Familie geht auch anders. Heidelberg 2011. Steurer, L.: Was braucht ein Scheidungskind? Von seinen Eltern! In: Frühe Kindheit Nachrichtenmagazin der Deutschen Liga für das Kind, 2011, 2.

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Systemische Familienrekonstruktion Ursula Wolter-Cornell

Systemwirkung über Generationsgrenzen hinweg Familien und Familiengruppen sind komplexe Gebilde. Ihre Mitglieder leben in enger Verbindung. Sie beeinflussen sich nachhaltig, prägen sich gegenseitig bis in die tiefsten Persönlichkeitsschichten hinein und bestimmen ihre individuellen Verhaltensweisen. Ihren Zusammenhalt gestalten sie über Bindung. Dabei regelt jedes Familiensystem, wie die einzelnen Rollen und damit verbundenen Aufgaben zu verteilen sind. Ihre Nähe und Distanz untereinander loten die einzelnen Mitglieder aus. Die Grenzen nach innen und außerhalb sind abgesteckt. Es ist geklärt, welche Kräfte wirksam sein dürfen, welche Fähigkeiten nicht gewünscht und welche Fertigkeiten erwartet werden. Ob ausgesprochen oder unausgesprochen, dieser Rahmen ist weitgehend festgelegt. Übertretungen sind nur bis zu einem gewissen Maß sanktionsfrei, wer sie überschreitet, bringt sich und/ oder die anderen in Schwierigkeiten. Diese Regelwerke sind in ihrer Struktur generationsübergreifend angelegt und der einzelne Mensch lebt darin fest eingewoben in die Geschichte seiner Herkunftsfamilie. Deren Werte, Beziehungsmuster, Erfahrungen und Anforderungen werden über Erziehung und Verhaltenskodex weitergegeben. Für jedes Familienmitglied heißt das, sich immer wieder neu mit diesem tradierten Selbstverständnis auseinanderzusetzen – in der Eigenverantwortung für sich selbst ebenso wie für die Zukunft all der Bezugssysteme, in die der Einzelne eingebunden lebt. Viele Menschen erkennen, dass sie in bestimmten Situationen, in speziellen Konstellationen oder mit besonderen Personen immer wieder ähnlich

reagieren, allen guten Vorsätzen zum Trotz, sich beim nächsten Mal ganz anders und viel erwachsener zu verhalten. Doch was stattdessen geschieht, ist ein Automatismus, und zum wiederholten Mal schrumpfen sie innerlich auf Kindergröße und sind von der Dynamik ihres alten Familiensystems erfasst. Sie fühlen sich in die geschwisterliche Rangreihe zurückversetzt, erleben unerbittlich fordernde Familienregeln, spüren sich verwickelt in unsichtbare Bindungen und sind von ihrem Selbstwertgefühl abgeschnitten. Die Muster ihrer Herkunftsfamilie haben sie blitzschnell eingeholt. Dass die frühkindlichen Themen und Erfahrungen sich nochmals melden, mag als äußerst lästig oder störend erlebt werden, doch liegt darin ein tiefer weiser Sinn. Es ist der wiederholte Versuch, diese zu befrieden, um unbelastete Entwicklungsräume für die Nachfahren zu eröffnen. Doch müssen sich alte Muster nicht immer wieder und nochmals wiederholen. Die Familienrekonstruktion bietet einen profunden Zugang zu den bis ins Heute wirkenden alten Lebenssituationen, zu einengenden frühkindlichen Erfahrungen, Tabus und Leiden vergangener Generationen ebenso wie zu tragenden Kräften für die eigene Biographie. Im lebendigen Verbinden und in respektvoller Auseinandersetzung mit Ressourcen und Abgewehrtem lassen sich diese transformieren und in einen neuen Wahrnehmungsrahmen setzen. Wachstum und Entwicklung, die den vorherigen Generationen nicht möglich waren, werden nun freigesetzt. »Erst die Akzeptanz, das Annehmen und die Aussöhnung mit der Geschichte und den Vermächtnissen der Familie, macht es möglich, eigene Entscheidungen zu treffen und eigene Wege zu beschreiten« (Marie-Luise Conen).

Leidfaden, Heft 3 / 2015, S. 23–28, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015, ISSN 2192–1202

2 4   U r s u l a Wo l t e r - C o r n e l l

Wie wir wurden, wer wir sind Was hat das Leben meiner Großeltern und Eltern mit meiner Persönlichkeit zu tun? Wirken die Lebenserfahrungen meiner Ahnen in mir weiter und wenn ja, wie? Nerin (1989) geht in seinem »basic rule of survival« davon aus, dass ein Kind im Lauf seiner Entwicklung eine Entscheidung trifft, wie es in der von ihm wahrgenommenen Umwelt am besten überlebt. Wenn wir mit Eltern, Großeltern, Onkeln, Tanten, Sippen (zum Beispiel Sinti und Roma) oder

auch anderen Gemeinschaften (zum Beispiel jüdische Gemeinde) groß geworden sind, die viele traumatische Erlebnisse in ihrer Geschichte, etwa der deutschen und europäischen Geschichte, erlebt haben und keine Möglichkeit hatten, diese Erlebnisse zu verarbeiten und zu integrieren, hat das Auswirkungen auf die eigene Möglichkeit, das Leben zu gestalten. Die schambesetzen oder/und schmerzhaften Erlebnisse mussten häufig verdrängt beziehungsweise abgespalten werden, um die Anforderungen des Weiterlebens zu bestehen.

Frida Kahlo, Mis abuelos, mis padres y yo, 1936 / INTERFOTO / PHOTOAISA/ © Banco di México Diego Rivera Frida Kahlo Museums Trust / VG Bild-Kunst, Bonn 2015

Wir lernten, in unserer Betrachtung das jeweilige System, in dem sich unsere Herkunftsfamilie befand, miteinzubeziehen und die systemischen Wirkungen von damals zu verstehen.

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Unbewältigte Traumata können in gravierendem Ausmaß auf die Folgegeneration übertragen werden bis hin zu Symptomen einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Dies wissen wir spätestens seit den Untersuchungen an Kindern und Enkeln Kriegstraumatisierter und Holocaustüberlebender. Die Übertragung vollzieht sich zum einen über die Interaktion, die unmittelbar geprägt ist von der traumatischen Erfahrung des ursprünglich Traumatisierten, und zum anderen über eine Verinnerlichung von Anteilen dieser traumatisierten Bezugsperson durch den Nachfahren. Diesen Vorgang nennen wir in der Sprache der Psychoanalyse »Introjektion«. Neuere Untersuchungen zeigen, dass die Traumatisierung sich auch in epigenetischen Veränderungen im Gehirn niederschlägt, die vererbbar, aber auch reversibel, also wieder veränderbar sind (Drexler 2013). Wenn wir also in einem System groß werden, das seine Geschichte und die Geschichte seiner Umwelten nicht bewältigt hat, ob Täter- oder Opfernachfahren, wird uns als nächste Generation diese Aufgabe für die Entwicklung eines glücklichen, erfüllten, selbstbestimmten Lebens begegnen. In die Arbeit der Familienrekonstruktion übersetzt heißt das, wieder einen Zugang zu schaffen, der es mir ermöglicht, Leid und Schmerzen zuzulassen. Nach unserer Erfahrung gelingt das eher, wenn die Zeugenschaft anderer genutzt werden kann. Die Annahme und Integration der verdrängten Gefühle werden durch die Anwesenheit eines Kollektivs sehr viel nachhaltiger wirksam, als das eine Einzeltherapie vermag. Die häufig unausgesprochenen Verbote in der Herkunftsfamilie sind sehr mächtig. Da braucht es eine gewichtige neue Erfahrung, um sich eine Erlaubnis für das eigene Empfinden zu erschließen. »Die wahre Entdeckungsreise besteht nicht darin, dass man neue Landschaften aufsucht, sondern darin, mit frischen Augen zu sehen« (Marcel Proust). Diese frischen Augen können von anderen, Nicht-Systemmitgliedern zur Verfügung gestellt werden. Unsere Eltern und Großeltern sind Kinder ihrer Zeit, ohne die ihr individuelles Handeln nicht er-

klärbar ist. Es ist kollektiv entstanden und braucht die Anteilnahme vieler, um sich den Gefühlen von Schuld, Scham, Trauer, Verletzung, Verzweiflung zu stellen. Um auch die Verantwortung für das eigene Leben und Glück zu übernehmen und die Verantwortung für die Not der Eltern zurückzugeben. Dadurch kann wieder Mitmenschlichkeit für mich und den anderen entstehen. Wenn ich für meinen Schmerz zugänglich bin, lässt mich mein Mitmensch mit seinem Schmerz nicht unberührt. Eine häufige Erfahrung ist, dass, wenn in meiner eigenen Familie keine Empathie für das Geschehene zugelassen werden konnte, Anteilnahme anderer in mir die Berührung für das eigene Familienschicksal erst ermöglicht. Familienrekonstruktion – Historie und Konzept Familienrekonstruktion wurde in den Jahren zwischen 1964 und 1970 von der US-amerikanischen Familientherapeutin Virginia Satir als familientherapeutische Methode entwickelt. Als eine Art Expedition in unbekannte Kontinente der eigenen Familiengeschichte möchte dieser Zugang ein tieferes und bewussteres Hineinwachsen ins eigene Leben befördern. Die Teilnehmenden entwickeln dabei ein systemisches Verständnis von sich selbst, ihren Beziehungen zu anderen Menschen und von Familienkonstellationen. Beziehungen und Verhalten von Familienmitgliedern zueinander werden mit Familienskulpturen symbolisch dargestellt. Dabei werden nicht nur unsichtbare Bindungen und festgefahrene Kommunikationsabläufe sichtbar, auch Beziehungskonflikte und krankmachende Bindungen können erkannt und gelöst werden. Stärken, Möglichkeiten und familieneigener Reichtum zeigen sich in neuem Licht, (wieder-) entdeckte Liebesbotschaften helfen, das eigene Potenzial zu entfalten. So bietet die Familienrekonstruktion eine Chance, sich selbst und die anderen Familienmitglieder so zu sehen, dass eigene Überzeugungen,

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Unwissenheit, mangelndes Wahrgenommenwerden und Missverständnisse zum Vorschein kommen. Wenn es dann aufgegeben werden kann, den Eltern unsere in der Kindheit entwickelten Bewältigungsstrategien vorzuwerfen, haben wir bereits damit begonnen, neue Strategien zu finden, die dem jetzigen Leben, den ureigenen Wünschen und erwachsenen Bedürfnissen entsprechen. In der Familienrekonstruktion stellen die Teilnehmenden nacheinander ihre Herkunftsfamilie in Form einer Familienlandkarte, dem Genogramm (siehe Abbildung 1), vor. Anhand einer persönlich aktuell bedeutsamen Familienfrage werden zum Beispiel mittels einer Familienskulptur oder anderer bewährter Methoden bedeutsame Familienzusammenhänge wiederbelebt und mit systemtherapeutischen Angeboten zur Weiterentwicklung gegeben. Im Hamburgischen Institut für Systemische Weiterbildung (HISW) enden wir bei der Familienrekonstruktion nicht bei der einzelnen Familie, sondern sehen Menschen darüber hinaus in ihren gesellschaftspolitischen Bezügen. Familienrekonstruktion – Politische Verantwortung Ein zentrales Anliegen in unserem Ansatz der Familienrekonstruktionsarbeit ist die Entwicklung von Mitgefühl. Mitgefühl für sich selbst und da-

mit das Mitgefühl für den anderen. »Die Frage nach dem Mitgefühl des Menschen ist die Frage nach seinem Menschsein, seiner Identität« (Arno Gruen 2005, S. 9). Wenn ich bei mir Schmerz, Demütigung, Verlust, Scham, Angst wahrnehme und diese erlebten Gefühle zu mir nehme, wird es mir möglich, mich mit ihnen auseinanderzusetzen und sie zu bewältigen. Dann kann ich sehr viel schwerer Schmerz zufügen, Mitmenschen demütigen, Verlust ignorieren, Menschen beschämen, Angst und Schrecken verbreiten. Das ist mitunter unbequem, da die Fähigkeit wahrzunehmen unsere Einmischungspflicht (Johann B. Metz) wachruft, auch wenn es dem Zeitgeist widerspricht. Oder wie Hannah Arendt sagt: »Niemand hat das Recht zu gehorchen.« Gleichgültigkeit gelingt nicht mehr, sobald ich spüre, was dem anderen widerfährt, ihm angetan wird. Das gilt für das unmittelbare Umfeld, aber auch für größere Zusammenhänge. Den Impuls, mich einmischen zu müssen, wenn mir Unmenschlichkeit in Form von Ungerechtigkeit, Aggression, Gewalt oder Beschämung begegnet, macht die Familienrekonstruktionsarbeit zutiefst politisch. Wir begreifen die Anliegen und Nöte unserer Teilnehmer/-innen als Ausdruck der geschichtlichen und gesellschaftlichen Lebensbedingungen. Das macht Familienrekonstruktion zur politischer Friedensarbeit.

Erfahrungsbericht einer Teilnehmerin anonym Der Ort war idyllisch gelegen und weit weg  – von der Stadt, vom Alltagsleben, von der Herkunftsfamilie. Ich war mit meinem Partner gekommen, wir kannten niemanden der anderen 14 Teilnehmer/-innen. Binnen kürzester Zeit bildete die Gruppe der Teilnehmer ein neues System, ich fühlte mich losgelöst von meinem Leben zu

Hause. Mir sagte damals »systemische Familienrekonstruktion« wenig. Gekommen waren wir nur, da unsere Therapeutin, die aufgrund anderer, greifbarerer Umstände unsere Therapeutin war, auch die Familienrekonstruktion leitete, zusammen mit einem männlichen Kollegen. Sie hatte uns die Teilnahme empfohlen und zu ihr hatten

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wir beide ein sehr großes Vertrauen. Auch wurden wir neugierig auf so ein Erlebnis. So hatten wir alles in Gang gesetzt, um uns für die acht Tage, die diese Familienrekonstruktion dauern sollte, zu Hause freizuschaufeln, großelterliche Betreuung für die drei Kinder organisiert, uns beruflich eine Auszeit genommen und all dies, nicht um endlich mal allein in die Ferien zu fahren, sondern um eine Woche uns in die Familienrekonstruktion nach Mecklenburg »zu begeben«. Im Vorfeld hatten wir den Auftrag erhalten, uns mit unseren Eltern zu befassen und so viele Fakten und Erinnerungen wie auch Fotos zu organisieren wie möglich. Da meine Mutter nicht mehr lebte und das Verhältnis zu meinem Vater zu dieser Zeit außerordentlich schlecht war, konnte ich nur den Bruder meiner Mutter fragen. Dieses Gespräch war unerwartet offen, freundlich und informativ und mir fiel wieder auf, dass viele Menschen eigentlich sehr gern gefragt werden nach sich und ihrer Vergangenheit. Auch konnte ich Briefe meiner Mutter an ihre Mutter ergattern, so dass sich ein etwas klareres Bild der Vergangenheit meiner Eltern bot. Ich war sehr nervös vor meiner Familienrekonstruktion und wollte früh an die Reihe kommen – damit ich es schneller hinter mir haben würde. Ich fühlte mich zwar gut aufgehoben durch die Therapeuten und durch die Anwesenheit meines Mannes. Ich mochte die anderen Teilnehmer auch gerne, die Umgebung war schön, das Essen gut und es waren herrliche Sommertage mit lauen Abenden, Feuerchen machen, Volleyball spielen und Schwimmen im See. Gleichfalls kannte ich aber die Macht meiner Eltern über mich und fürchtete mich vor Kontrollverlust und zu viel Gefühl. Dies machte sich auch bemerkbar dadurch, dass ich seit der Ankunft an dem Ort brechende Kopfschmerzen hatte – ein Phänomen, das mich normalerweise nicht quält. Die Kopfschmerzen verschwanden nach meiner »Reko«, die am dritten Tag stattfand. Wir arbeiteten in Dreier-Gruppen unsere Familienhistorien auf. Jeder hatte etwa einen halben Tag Zeit, seine Geschichte den anderen beiden

Abbildung 1: Genogramm (Lisa)

zu erzählen, wobei einer Interviewer und einer Beobachter war. So erzählten wir zum einen vor Zeugen unsere ganze Geschichte. Zum anderen gestalteten wir mit knappen Sätzen, Stichworten, ­Bullet Points, Fotos eine Präsentation auf Pappe, die dann den anderen Teilnehmern und den Therapeuten einen Überblick über die Familienhistorie von jedem von uns geben würde. Dann hatte jeder Teilnehmer einen halben Tag, um im Plenum seine Herkunftsfamilie zu »rekonstruieren«. Es gab für jeden ein Vorgespräch mit beiden Therapeuten in Anwesenheit der Dreier-Kleingruppe und, wenn erwünscht, mit Anwesenheit des Partners. Nach diesem Gespräch überlegten die Therapeuten, welche Intervention sie anwenden würden. Die Therapeuten wählten bei mir als Intervention die klassische Aufstellungsarbeit. Ich wünschte mir mehr Klärung im Verhältnis zu meiner Mutter und im Verhältnis zu meinem Vater. Ich wollte endlich »erwachsen« und innerlich unabhängig werden, etwas, was ich äußerlich schon seit Jahren war. Ich wollte meinen Eltern weniger Raum in meinem Leben geben, ihnen die Macht nehmen, mich herunterziehen zu können. Ich erhoffte mir, die kritische Übermutter, den kritischen Übervater in meinem Kopf beseitigen zu können. Ich wollte endlich meine ganze Konzentration für meinen Partner und meine Kinder haben, ohne auf Abwertungsmuster reagieren zu müssen. Durch die Aufstellung ist mir dann vieles deutlich geworden. Für mich klärte sich, dass meine Mutter auch in der Abwertung gefangen war – sie befand sich in einem System, das ihr keine

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Anerkennung aussprach. Sie war ein Element in einem System, das sie nicht verändern konnte. Der Familienbetrieb, die Familiengeschichte, die Schwiegermutter, der Krieg – dagegen kam meine Mutter, die dort eingeheiratet hatte, nicht an. Die Umgebung war zu wenig wohlwollend, als dass sie hätte Wohlwollen weitergeben können. Mir wurde deutlich, dass sie auch darunter litt und dass sie ihr Bestes gegeben hatte – mehr war einfach nicht drin. Zumal sie als Kriegskind mit erlebtem Bombenterror und Flucht nicht gerade ein Fels in der Brandung war. Ihre Mühe konnte sie in strukturellen Dingen noch zeigen durch gutes Essen, Gute-Nacht-Lieder, Adventstee und Ähnliches, die emotionale Zuneigung war verschüttet durch Erlebtes. Mir wurde deutlich, dass sie eine stabile Bindung nicht geben konnte, wo sie selbst keine erfahren hatte. Ich dekonstruierte also meine bis dahin geltende Familienwirklichkeit »Meine Mutter war kalt und herzlos und hat mich nicht geliebt« und konstruierte mir eine neue Familienwirklichkeit, die in etwa so klang: »Meine Mutter hat mich und meine Geschwister geliebt, die Umstände haben es ihr aber nicht möglich gemacht, das zu zeigen. Dafür hätte sie ihr System mit Familienbetrieb, abwertender Schwiegermutter und kritischem Ehemann verlassen und ihre schwere Vergangenheit therapeutisch aufarbeiten müssen.« Durch diese Erkenntnis ist für mich Verzeihen möglich geworden und mit dem Verzeihen ging der Machtverlust meiner Eltern einher. Ich fand mehr Stabilität und Unabhängigkeit in mir. Auch in den anderen Familienrekonstruktionen war die Hauptbotschaft, dass die Eltern uns geliebt haben und ihr Bestes gegeben haben – und dass mehr nicht zu holen war. Dass sie nun aber wohlwollend auf uns schauen und uns friedlich unserer Wege ziehen lassen. Unabhängig davon, ob die Intervention Aufstellung, Skulptur, Lebensfluss oder konfrontatives Gespräch war: Wir lernten, in unserer Betrachtung das jeweilige System, in dem sich unsere Herkunftsfamilie befand, miteinzubeziehen und die systemischen Wirkun-

gen von damals zu verstehen. Durch dieses Verständnis wurde vielfach ein Verzeihen möglich – unter Anerkennung des erlittenen Leids und ohne zu beschönigen. So konnten alte Wirkungen und Mächte verabschiedet werden. Wir erfuhren ebenfalls viel Stärkung durch unsere Herkunft. Die Generationen wurden symbolisch aufgestellt, unsere Ahnen stärkten uns den Rücken, mit den Händen auf unseren Schultern. Auch wurden die Ahnen und die Angehörigen betrauert und geehrt. Sie bekamen einen Platz, die Toten kamen zu Wort und wurden würdig verabschiedet. Und von Toten waren wir nur so umgeben, gefallene Großväter und Urgroßväter, Kindstote, Kranke, Totgeburten. Der Schmerz und die Allgegenwart unserer deutschen Kriegsgeschichte wie auch die kriegsgeprägte Kindheit unserer Eltern waren deutlich zu spüren. Durch das kluge Handeln unserer Therapeuten wurde ein guter Raum geschaffen, dieses Leid zu betrauern und zu würdigen und uns für die Zukunft zu rüsten. Ursula Wolter-Cornell ist Sozialwissenschaftlerin, Systemische Therapeutin/ Familientherapeutin (DGSF), Systemische Supervisorin (DGSF) und Organisationsberaterin. Sie ist Mitbegründerin, Leiterin und Lehrende des Hamburgischen Instituts für Systemische Weiterbildung, HISW. E-Mail: [email protected] Literatur Conen, M.-L.: Systemische Familienrekonstruktion. In: Zeitschrift für Systemische Therapie, 1993, 11, 2, S. 84–95. Conen, M.-L.: In: http://www.familienrekonstruktion.at/inhalt.html Drexler, K.: Transgenerational weitergegebene Traumata: Hintergründe, Diagnostik, Therapie. In: Breitenbach, G., Requardt, H.: Komplex-systemische Traumatherapie und Traumapädagogik. Kröning 2013, S. 179–188. Gruen, A.: Der Verlust des Mitgefühls. Über die Politik der Gleichgültigkeit. 6. Auflage. München 2005. McGoldrick, M.: Wieder heimkommen. Auf Spurensuche in Familiengeschichten. Heidelberg 2003. Metz, J. B.: Gottesrede. Berlin 1966. Nerin, W. F.: Familienrekonstruktion in Aktion. Virginias Satirs Methode in der Praxis. Paderborn 1989. Schlippe, A. von; Schweitzer, J.: Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung I. Göttingen 2012.

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Trauernd sich finden Trauerprozesse in Adoptionsfamilien

Erich Lehner Die Ankunft eines Kindes ist ein freudiges Ereig- rung« richtet sie den Blick nach vorn in die Zunis, das ein Familiensystem vor neue Herausfor- kunft, um die bleibende Beziehung zum Verlust derungen stellt. Jede Familie muss auf diese neue zu transformieren und in ein zukünftiges Leben Situation mit Veränderung und Anpassung re- zu integrieren. agieren, um ihrem Neuzuwachs ein ausreichend Alle an einer Adoption beteiligten Personen gutes (Winnicott) und entwicklungsförderndes durchleben auf ihre Weise Trauer. Unabhängig Umfeld zu bieten. Dies gilt in gleicher Weise für davon, wie alt das Kind bei der Adoption war, ob eine Adoption. Auch diese Form der Familiener- neugeboren oder reich an Lebenserfahrung, ist weiterung übt unterschiedlichen es in jedem Fall eine Person mit Trennungsund Einfluss auf die Entwicklung des einer ereignisreichen GeschichVerlusterfahrung hat Kindes und seine Familie aus. te. Es hat einen schweren Verlust in jeden Fall Als wirkmächtige Faktoren lashinter sich. Seine Eltern haben Auswirkung auf sen sich das Alter des Kindes bei es hergegeben. Es hat eine Famider Adoption und damit im Zulie verloren. In unterschiedlichen das Bindungsverhalten sammenhang seine Erfahrungen Zeiten, in unterschiedlicher Stärdes Kindes. in der Zeit vor der Adoption, also ke und in unterschiedlicher Ausob es hier gut versorgt oder vernachlässigt bezie- formung werden das Kind Fragen begleiten wie: hungsweise traumatisiert wurde, anführen. Der Wer sind meine Eltern? Sind sie schlecht, weil sie Familiendynamik der Aufnahmefamilie und dem mich weggeben haben? Bin ich so wertlos, dass Umstand, ob es sich um eine Inlands- oder Aus- sie mich weggegeben haben? Haben mich meine landsadoption handelt, ob die ethnische Zugehö- jetzigen Eltern etwa gestohlen? Werden auch sie rigkeit zwischen aufnehmenden Eltern und Kind mich weggeben? (Widmer 2013, S. 7). Diese Trendifferiert oder gleich ist, kommt ebenfalls Bedeu- nungs- und Verlusterfahrung hat in jeden Fall tung zu (Nickman u. a. 2005). Je nach Situation Auswirkung auf das Bindungsverhalten des Kinkönnen diese Faktoren mehr oder weniger oder des. Denn in sein natürliches Bedürfnis, sich zu auch keinerlei Auswirkungen haben. binden, »mischt sich« jetzt, wie Irmela Wiemann Neben den Herausforderungen, die mit der Fa- treffend sagt, »je nach Intensität und Häufigkeit milienerweiterung verbunden sind, kennzeichnet der frühen Verlust- bzw. Ohnmachtserfahrundas Beziehungsgeschehen einer Adoptionsfami- gen eine kleine oder größere Portion Bindungslie eine eigene Dynamik, die intensiv mit Trauer angst oder Bindungsmisstrauen« (Wiemann 2014, in Verbindung steht. Trauer wird hier verstanden S. 14). in der von Margret Stroebe (1998) beschriebenen Auch die abgebenden Eltern erfüllt große doppelten Ausrichtung. Sie wendet sich in der Trauer. Meist sind es besondere Umstände, die »Verlustorientierung« der Trennung zu, um sich sie zu dieser tiefgreifenden Entscheidung fühmit ihr auseinanderzusetzen und den Verlust zu ren. Vor allem Mütter leiden mitunter ein ganzes betrauern. In der »Wiederherstellungsorientie- Leben an dieser Trennung. Die aufnehmenden

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Ernst Ludwig Kirchner, Artistin – Marcella, 1910 / akg-images

Alle an einer Adoption beteiligten Personen durchleben auf ihre Weise Trauer.

Eltern durchleben ebenfalls eine Geschichte der Trauer. In vielen Fällen mussten sie sich von den Hoffnungen, Phantasien und Erfahrungen eines meist gescheiterten Versuches, ein eigenes Kind zu haben, verabschieden. Und bei dem Kind, das sie nun bekommen, wird ihnen ein wesentlicher Teil der Elternschaft, die Geburt und vor allem eine bestimmte Phase des Heranwachsens ihres Kindes, für immer vorenthalten bleiben. Sie werden auch die Elternschaft zu ihrem Kind mit anderen Eltern teilen müssen, selbst wenn es nie zu einer realen Begegnung mit ihnen kommt. Die Familie wird damit auch zu einem Raum der Trauer. Zunächst geht es darum, den Verlust offen anzuerkennen. Eine wesentliche Funktion hat dabei das offene Gespräch über die Herkunft und die Adoption, die in den unterschiedlichen Entwicklungsphasen des Kindes neu erzählt werden muss. Manche Kinder sprechen früh und direkt den Verlust ihrer Eltern an, manche scheinen überhaupt kein Interesse daran zu haben, andere wiederum leben die Trauer indirekt aus, wie dies im Beispiel jenes Mannes deutlich wird, der im Erwachsenenalter seine Partnerin verlässt, ehe sie ihn verlassen könn-

te, um damit Kontrolle über sein Beziehungsleben zu behalten. Für Eltern stellen besonders die »bindungsmisstrauischen Ich-Anteile des Kindes« (Wiemann 2014, S. 5) eine Herausforderung dar. Kinder können hier in extreme Distanz gehen und in ihrer Wut sehr direkt den Satz ihren Eltern entgegenschleudern: »Ihr seid nicht meine Eltern!« Sie treffen ihre Eltern in jedem Fall an einer äußerst verletzlichen Stelle. Es ist für sie nicht immer leicht zu verstehen, dass derartiges Verhalten Ausdruck der Liebe und des Wunsches nach Zugehörigkeit und Bindung ist, dass es aber gleichzeitig auch die Angst enthält, ob die Beziehung wirklich hält. Dieses widersprüchliche Verhalten möchte unbewusst die Belastbarkeit der Beziehung prüfen. Kinder können jedoch ihre Ängste, Zweifel, Wut und Trauer auch weniger offen, auf indirekte Art und Weise, verborgen in den Situationen des familiären Zusammenseins und damit oft schwer eindeutig erkennbar ausdrücken. Es ist daher wichtig, dass Eltern sich in schwierigen Zeiten nicht zurückziehen, sondern in jedem Fall die Bindung aufrechterhalten. All diese widersprüchlichen Gefühle erfüllen auch mich und meine Frau, Eltern eines adoptierten Kindes, immer wieder aufs Neue. Unser Sohn ist derzeit 16 Jahre alt und wuchs die ersten zwei Jahre seines Lebens in einem osteuropäischen Waisenhaus auf. Obwohl sein Heim in Bezug auf materielle Versorgung eher bescheiden ausgestattet war, fehlte es ihm nie an lebensnotwendigen materiellen Gütern oder gesundheitlicher Versorgung. Vor allem aber wurde er in einem Haus groß, in dem von der Leitung Bindung und Beziehung als die wichtigsten Elemente der kindlichen Entwicklung angesehen wurden. Unser Sohn hatte eine frühe Kindheit erlebt, in

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der er bestens umsorgt war. Er war vom ersten Moment an ein sonniges Kind, dessen Freude am Leben und am Zusammensein mit Menschen bis heute seine Persönlichkeit prägt. Die Adoption unseres Sohnes erfolgte gemäß der Rechtslage des Landes inkognito. Wir konnten daher nur aufgrund der Dokumente den Namen seiner Mutter rekonstruieren und inoffiziell in Erfahrung bringen, dass seine Mutter, die aus armen Verhältnissen stammt, ihn zur Adoption freigab, nachdem sie vom Vater verlassen wurde. Immer wieder erzählten wir gemeinsam je nach seinem Entwicklungsstand und mit unterschiedlichen Fragestellungen und Betonungen die Geschichte seiner Herkunft und seiner Ankunft bei uns neu. Zunächst stand sein Leben im Waisenhaus im Vordergrund. Als unser Sohn im Volksschulalter »erkannte«, dass er eigentlich vier Eltern hat, wurde allmählich die Suche nach den Herkunftseltern, besonders nach der Mutter, zu einem drängenden Wunsch. Im Alter von 13 Jahren besuchten wir deshalb seine erste Heimat und das Waisenhaus, wo er ausgiebig mit den Mitarbeiter/-innen sprechen konnte. Seit diesen Begegnungen ist der Wunsch, die Herkunftseltern zu suchen, nicht mehr so präsent. Mit nun 16 Jahren steht unser Sohn mitten in der Adoleszenz und in den für sie kennzeichnenden Konflikten mit uns, seinen Eltern. Aber selbst in den heftigsten Auseinandersetzungen dieser Entwicklungsphase hat er keine Äußerungen getätigt, die unsere Elternschaft in Abrede stellen. Dennoch beschäftigt uns die Frage, ob das für ihn kein Thema ist oder aber ob die Verlustangst so groß ist, dass sie jedes direkte Hinterfragen in den Hintergrund drängt. Ist womöglich allein schon die Heftigkeit der Konflikte als Hinterfragen und Prüfen der Belastbarkeit unserer Bindung anzusehen? Besonders stark trägt unser Sohn die Konflikte mit mir, seinem Vater, aus. Eine Beziehungserfahrung, die vielfältige Ursachen haben kann und die mich sicher mit vielen Vätern verbindet. Aufgrund unserer Beziehungsgeschichte und der Themen der Auseinandersetzung stellt sich aber

unweigerlich auch die Frage, ob in unseren Auseinandersetzungen nicht auch die Trauer über die Herkunftsfamilie ausgelebt wird, in der der Vater die Mutter verlassen hat und so die Adoption verursacht hat. Schließlich stellt sich in jedem Einzelfall bewusst und weit häufiger unbewusst die Frage: Wie sollen wir als Eltern reagieren? Sollen wir dem konkreten Verhalten eine unter Umständen notwendige Grenze setzen oder aber mit Verständnis der Trauer, die noch nicht besprechbar ist, Raum geben? Oder versteckt sich hinter den Reaktionen etwas, das wir noch gar nicht erkannt und bedacht haben? Mit diesen Fragen und diesem Suchen nach der angemessenen Reaktion und dem passenden Verhalten finden wir uns mit allen anderen Eltern vereint, die sich mit ihren (adoleszenten) Kindern um ein ausreichend gutes (Winnicott 1953) Beziehungsgefüge mühen. Unseres hat aufgrund der Adoption und den damit verbundenen Trauerprozessen eine eigene Dynamik. Mag. Dr. Erich Lehner, Psychoanalytiker in eigener Praxis; Männer- und Geschlechterforschung und Palliative Care an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, Wien, Graz, Fakultät für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung (IFF), Abteilung Palliative Care und Organisationsethik. E-Mail: [email protected] Literatur Nickman, S. L. u. a.: Children in adoptive families: Overview and update. In: Journal of the American Acadademy of Child and Adolescent Psychiatry, 2005, 44 (10), S. 987–995. Stroebe, M.: New directions in bereavement research: Exploration of gender differences. In: Palliative Medicine, 1998, 12, S. 5–12. Widmer, R.: Adoption  – ein langfristiges menschliches Abenteuer. In: Themenheft 5, 2014, Schweizerische Fachstelle für Adoption, www.adoption.ch/files/pdf/sfa-broschueren/themenheft-2013-hd.pdf, download 21. 11. 2014 Wiemann, I.: Mit dem Kind in Verbindung bleiben. In: Bindung eingehen  – sich zugehörig fühlen. Themenheft 5, 2014, Schweizerische Fachstelle für Adoption, www.adoption.ch/files/pdf/sfa-broschueren/themenheft2014_vdef. pdf, download 27. 11. 2014. Winnicot, D. W.: Transitional objects and transitional phenomena. In: International Journal of Psychoanalysis, 1953, 34, S. 89–97.

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Kinderlose Menschen trauern – anders Gedanken und Erfahrungen aus der psychotherapeutischen Praxis

Beatrix Weidinger-von der Recke Üblicherweise trauert man um einen Menschen, der gelebt hat und nun nicht mehr da ist. Oder um eine Lebensphase, die man erlebt hat und die nicht mehr besteht. Das Gefühl und der Ausdruck von Trauer sind in diesen Situationen allgemein akzeptiert, angebracht und erwünscht. Es gibt tradierte Rituale, religiöse Symbole und verschiedene durch die jeweilige Gesellschaft und Kultur entwickelte Ausdrucksformen, sowohl für den einzelnen trauernden Menschen als auch für die Gemeinschaft. Wie aber trauern ungewollt kinderlose Menschen, die den üblichen gesellschaftlichen Rollen nicht entsprechen, die eine Minderheit sind und für die keine allgemein gültigen Trauerformen bestehen? Wie leben diese Menschen mit ihren Gefühlen von Trauer und Verzweiflung um etwas, das es nie gab, nie lebendig, nie greifbar, nie berührbar war? Menschen, die ungewollt kinderlos sind, haben meist eine jahrelange Odyssee hinter sich. Häufig suchten sie ärztliche Hilfe, wenn es auf natürlichem Wege nicht zu einer Schwangerschaft kam. Die reproduktionsmedizinischen Behandlungen sind aufwändig und belastend – körperlich, emotional und häufig auch finanziell. »Es ist unmöglich, die seelischen Kosten dieser Prozeduren zu messen, aber sie sind auf jeden Fall erheblich« (Schmidbauer 2014). Und wenn das Paar häufig nach Jahren des Versuchens, Hoffens und Bangens sich der Tatsache stellt, kein eigenes Kind bekommen zu können, dann erleben diese Menschen Gefühle von starker Trauer und tiefer Verzweiflung. Ihre Trauer ist wie jede Trauer komplex, leidvoll, individuell und findet innerhalb des gesellschaftlichen Systems statt.

Frau A., Ende dreißig, und ihr Mann versuchten über Jahre schwanger zu werden, auch mit Hilfe von mehreren erfolglosen reproduktionsmedizinischen Behandlungen. Sie sagt unter Tränen: »Mein ganzer Lebenssinn ist weg.« Sie hatte immer den Wunsch gehabt, eine eigene Familie zu haben. Nach ihrer Ausbildung und Jahren beruflicher Tätigkeit lernte sie ihren Mann kennen und beide wünschten sich Kinder. Es war für sie ein großer Schock festzustellen, dass sie nicht einfach schwanger wurde, so wie andere gleichaltrige Frauen. Weder sie noch ihr Mann waren jemals ernsthaft krank gewesen. Es gab keine eindeutige Diagnose, die behandelnden Ärzte konnten ihnen keine Erklärung geben. Die gesamte Lebensplanung brach in sich zusammen. »Die verstehen mich nicht. Die nehmen keine Rücksicht.« Frau A. beklagt das Unverständnis ihrer Eltern und Schwiegereltern, von Verwandten und Freunden. Sie fühlt sich nicht wahrgenommen, nicht respektiert und fürchtet inzwischen Familienfeiern, weil »es immer nur um den Nachwuchs geht«. Sie empfindet dies als Kränkung und zieht sich enttäuscht zurück. Sie erlebt die anderen als rücksichtslos und sieht sich isoliert. Ungewollt kinderlose Frauen und Männer empfinden ihre Kinderlosigkeit als Mangel, als Scham, als Verlust, als vom Leben aufgezwungene, weil nicht selbst gewählte Lebensform. »Das Gefühl, Opfer des Lebens, des eigenen Körpers oder des Körpers des Partners zu sein, ist subjektiv scheußlich« (Mika 2011).

Leidfaden, Heft 3 / 2015, S. 32–34, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015, ISSN 2192–1202

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Trauer ist die Auseinandersetzung mit erlebtem Verlust und Mangel. Dazu kommen Gefühle von Scham und Schuld, die ein Leiden an sich selbst zur Folge haben, wie dies in einem häufig geäußerten Satz zum Ausdruck kommt: »Ich bin unfähig, ein Kind zu bekommen, ich habe versagt.« Das Leiden ohne begreifbares Subjekt be-

Giuseppe Capogrossi, Weibliches Bildnis, 1932 / akg-images / Cameraphoto / VG Bild-Kunst, Bonn 2015

Ungewollte Kinderlosigkeit ist eine einzig­ artige exis­tenzielle Krise, oftmals eine Tragödie, für die es keine unmittelbare Lösung gibt. Es gibt keinen passenden Plan B.

deutet, dass die Trauergefühle nur wenig nach außen gerichtet werden können. Der trauernde Mensch, so wie die oben zitierte Frau, kreist um sich selbst und sieht sich als Opfer von Umständen, vom Schicksal. Dies vergrößert die Einsamkeit, den Kummer und verstärkt häufig den sozialen Rückzug und das seelische Leid.

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Dennis Klass (in Müller, Brathuhn und Schnegg 2013), ein renommierter Forscher von Trauerprozessen, beschreibt, dass im Umgang mit Trauernden tendenziell eine Optimismusorientierung vorherrsche. Damit, so seine Argumentation, werden Phänomene wie intensive Trauer übersehen oder abgewertet, was langfristig die Integration des Verlustes und der damit verbundenen Trauer ins Leben verhindert. Das tiefe und bleibende Gefühl von Traurigkeit und Leere ist eine normale Erscheinung bei akuter und lang anhaltender Trauer. »Tiefer Kummer ist der definierende Charakterzug von Trauer« (in: Müller u. a. 2013). Diese These der Optimismusorientierung finde ich immer wieder in den Äußerungen von ungewollt kinderlosen Paaren bestätigt, wenn sie von Ratschlägen berichten, die sie von Ärzten, Verwandten, Freunden und anderen bekommen: »Beim nächsten Mal wird das schon, Ihre Eier/ Spermien sehen sehr gut aus.« »Seid doch froh, dass ihr keine Kinder habt, dann könnt ihr in den Urlaub fahren, wann ihr wollt, und habt viel mehr Geld für euch.« »Schafft euch doch einen Hund an.« »Das Leben geht weiter, Kopf hoch, wir müssen alle mal sterben.« »Dann adoptiert doch oder nehmt ein Pflegekind auf.« Mit derartigen Ratschlägen konfrontiert, erleben ungewollt kinderlose Menschen, dass ihnen zusätzlich zu ihrem Verlust auch ihre Trauer, Verzweiflung und Wut weggenommen werden und ihre existenzielle Erfahrung von »endgültigem Vorbei« nicht gewürdigt wird. Dies ist eine Verleugnung von Schmerz und Hilflosigkeit durch diejenigen, die den üblichen Rollenschemata von Elternsein entsprechen. Es gibt viele Arten, Trauer zu fühlen und zu leben, auch wenn es von außen oft unverständlich oder unaufgelöst erscheinen mag. Für die trauernde Frau und den trauernden Mann, die nie Mutter und Vater von leiblichen Kindern werden, bedeutet die Aberkennung ihrer Trauer eine weitere massive Kränkung. Dies kann zu weiterer Isolation und Gefühlen von Einsamkeit und

Verzweiflung führen und damit auch zu lähmender Depression bis hin zu Suizidideen und -versuchen. Ungewollte Kinderlosigkeit ist eine einzigartige existenzielle Krise, oftmals eine Tragödie, für die es keine unmittelbare Lösung gibt. Es gibt keinen passenden Plan B. Dies gilt es anzuerkennen. Die Bewältigung dieser Lebenskrise hängt von individuellen Aspekten ab, die im Einzelfall auch die Inanspruchnahme professioneller Unterstützung nötig machen kann. Aber auch von gesellschaftlicher Akzeptanz: Es geht um die Einsicht, dass ungewollt kinderlose Menschen, so wie andere Minderheiten auch, ein Recht auf Würdigung und Anerkennung besitzen. Das bedeutet, dass wir als Gesellschaft anerkennen müssen, dass wir trotz hervorragender medizintechnischer Methoden letztlich staunend und ehrfürchtig vor dem Wunder des Lebens stehen. Ungewollt kinderlose Menschen halten der Gesellschaft einen Spiegel vor und lösen Hilflosigkeit und Abwehr aus. Dies gilt es auszuhalten. Der traurige Mensch darf sich trauen zu trauern, darin sollte die Unterstützung durch andere, durch uns liegen. Beatrix Weidinger-von der Recke, Diplom-Psychologin, ist tiefenpsychologisch-fundierte Psychotherapeutin in eigener Praxis in München; Ausbildungen unter anderem in »Movement Psychotherapy« (MCAT) und EMDR; langjährige Tätigkeiten vor allem in Kliniken (psychosomatisch und psychiatrisch), bei Refugio (Behandlungszentrum für Flüchtlinge und Folteropfer), in einer JVA. Ihr inhaltlicher Schwerpunkt ist die Verbindung des tiefenpsychologischen Ansatzes mit traumatherapeutischen und nonverbalen Methoden. E-Mail: [email protected] Literatur Mika, B.: Die Feigheit der Frauen. Gütersloh 2011. Müller, M.; Brathuhn, S.; Schnegg, M.: Handbuch Trauerbegegnung und -begleitung. Theorie und Praxis in Hospizarbeit und Palliative Care. Göttingen 2013. Schmidbauer, W.: Auch Retortenbabys sind Kinder. Fertilitätsmedizin belastet Paare  – Kinderlosigkeit aber noch mehr. Die Lewitscharoff-Debatte aus Sicht des Paarthera­peuten. 2014. www.neues-deutschland.de/artikel/9279132014

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Sterben, ohne Bagdad noch einmal zu sehen Flucht und Migration im Kontext der Trauer

Mary Kreutzer Migration ist nicht immer mit Trauer verbunden. Wer freiwillig sein Land verlässt, um die Welt zu erkunden, um reich zu werden, oder einfach weil er oder sie der Enge des Elternhauses entfliehen will, möchte zurücklassen. Sicher stellt sich auch bei solchen Migranten und Migrantinnen dann und wann Heimweh oder eine gewisse Nostalgie ein. Trauer ist allerdings etwas anderes. Trauer kommt auf, wenn man Menschen oder Orte gegen seinen Willen verlassen und verloren hat. Wer von Krieg, Gewalt oder Repression geflohen ist, wer traumatisiert ist, aber auch wer als Kind oder Jugendliche gegen ihren oder seinen Willen von den Eltern in eine andere Welt gestoßen wurde, wer also nicht selbstbestimmt entschieden hat, seinen Ort zu verlassen, erlebt den Verlust der Heimat ganz anders. Wenn selbst der Müll nach Rosen duftet Ich bin im zentralamerikanischen Guatemala aufgewachsen und musste nach dem plötzlichen Tod meines Vaters als Vierzehnjährige »zurück« nach Österreich. Weder ich noch meine Brüder wollten das. Die Umstände entschieden dies jedoch, nachdem unser Vater, wegen dessen Anstellung wir erst nach Guatemala migriert waren, dort verunglückte. Keiner von uns wurde in der »alten Heimat« je wieder wirklich heimisch. Wäre es nach uns gegangen, wären wir in Guatemala geblieben. Ein Bruder wanderte so schnell wie möglich wieder nach Mexiko aus und gründete dort eine Familie. Ein anderer bewegte sich in der Wiener Latino-Community und migrierte später nach Spanien. Und ich landete in einem Kärntner Internat und fühlte mich fremder denn je. Die Su-

che nach einer Latino-Community führte mich an jedem möglichen Wochenende zu meinem Bruder nach Wien. Wie befreiend war es, hier in einer Parallelgesellschaft »unter uns« zu sein, unsere Sprache zu sprechen, unseren Formen des Humors zu frönen. Meine Großmutter sagte einmal im Zorn zu mir: »Du glaubst ja sogar, dass der Abfall in Guatemala besser riecht als in Österreich!« Sie hatte Recht, genau so empfand ich es. Heimat war die politische Arbeit im Guatemala-Solidaritätskomitee in Wien, in den lateinamerikanischen Bars, in unserer WG, bestehend aus Migranten und Flüchtlingen aus Lateinamerika. Ich trauerte nicht nur um meinen Vater und um den verlorenen sozialen Status, sondern auch um mein geliebtes Guatemala, das ich bei jeder Gelegenheit, mindestens einmal im Jahr, besuchte. Es dauerte viele Jahre, bis ich auch in Österreich, zumindest ein Stück weit, Heimat fand. Ich kann es gut nachvollziehen, wie es Migranten geht, die gegen ihren Willen in diesem Land gelandet sind. Man kann alles vermissen: das Essen, die Gerüche, die Klänge. Nicht nur die Menschen, bestimmte Menschen oder auch einfach nur der Umgang miteinander. Österreich schien kalt und seelenlos. Österreicher/-innen schienen distanziert und emotionslos. Der Umgang mit Nähe und Distanz, mit Körperlichkeit, mit Moral, die Lautstärke, mit der wir miteinander sprechen, all das kann befremdlich wirken und nach all dem kann man sich sehnen. Verschwundene Orte Trauer um die Heimat wird umso intensiver, wenn es diese in der Form nicht mehr gibt, wenn

Leidfaden, Heft 3 / 2015, S. 35–37, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015, ISSN 2192–1202

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sie zerstört wurde, wenn geliebte Menschen, Straßenzüge, Orte nicht mehr existieren. Es ist ein anderes Gefühl zu wissen, dass es den geliebten Ort immer noch gibt, dass man immer noch zurück könnte, wenn man wollte, als zu wissen, dass diese Heimat für ewig verloren ist. Flüchtlinge aus Syrien oder Tschetschenien, deren Städte nicht mehr existieren, deren Liebste teilweise gestorben sind, trauern ganz anders um ihre Heimat als jene, deren Heimat noch existiert, die vielleicht gegen ihren Willen dieser entrissen wurden, die aber immer noch wissen, dass es ihren Ort gibt. Und dann gibt es jene, die sogar das Land verloren haben, dem sie entwachsen sind. Die osmanischen Bewohner/-innen von Ada Kaleh, einer Insel in der Donau, die 1971 in den Fluten des Kraftwerks Eisernes Tor 1 versank, können nicht einmal mehr den Boden besuchen, der nun unter den Fluten der Donau liegt. Die kurdischen Bewohner/-innen des oberen Euphrat-Tales, deren Dörfer und Städte in den 1990er Jahren unter dem Atatürk-Staudamm versanken, finden nicht einmal mehr die Landschaft vor, die sie einst bewohnten. Ähnliches droht nun den Bewohner/-innen von Hasankeyf, deren Stadt 2016 vom ­Ilisu-Staudamm versenkt werden soll.

»Alle anderen Menschen haben ihre Heimat noch. Wir können sie nicht einmal mehr sehen. Zu wissen, dass es diesen Ort nicht mehr gibt, ist das wirklich Schreckliche!«, erklärte ein älterer Herr in einer türkischen Fernsehdokumentation über Ada Kaleh, der mittlerweile den Großteil seines Lebens in Istanbul verbracht hat. Ein solcher Abschied ist unwiederbringlich. Die Heimat ist nicht fern, auch nicht entrissen, sondern gestorben. Man trauert um sie wie um eine Tote. Den Traum bewahren Aber auch jene Landschaften, die noch hier sind, verändern sich. Gesellschaften, die noch existieren, werden durch eine andere Geschichte entfremdet. Ein irakischer Freund verließ Bagdad in den frühen 1970er Jahren, nachdem seine von Aziz al-Hajj geführte Splittergruppe der Kommunistischen Partei in ihrem Widerstand gegen das Baath-Regime aufgerieben wurde. Dreißig Jahre träumte er davon, nach Bagdad zurückzukehren, träumte davon, am Tigris Masguf, den berühmten gegrillten irakischen Fisch, zu essen und die Überlebenden von damals wiederzu-

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© m.schröer

Trauer um die Heimat wird umso intensiver, wenn es diese in der Form nicht mehr gibt, wenn sie zerstört wurde, wenn geliebte Menschen, Straßenzüge, Orte nicht mehr existieren.

S t e r b e n , o h n e B a g d a d n o c h e i n m a l z u s e h e n    3 7

treffen. Er schrieb Gedichte über seine Heimat, wurde in der linken Exilopposition in Wien aktiv. Doch als Saddam Hussein 2003 endlich gestürzt wurde, fuhr er nicht ein einziges Mal in den Irak zurück. Er war besessen von der Angst, seine Stadt nicht wiederzufinden. Er wollte sein Bagdad zumindest in seinen Träumen bewahren. Einige Jahre sprach er noch davon, eventuell doch, vielleicht, einmal, zurückzukehren. Mittlerweile spricht er gar nicht mehr davon. Er weiß, dass er sterben wird, ohne Bagdad noch einmal zu sehen. Die Heimat bleibt ein Traumgebilde. Die Trauer und der Schmerz wuchsen sogar noch, als es plötzlich möglich wurde, zurückzukehren. Von seinen Genossinnen und Genossen ist heute kaum noch einer am Leben, seine Partei ist verschwunden, die Gesellschaft ist nach dreißig Jahren Baathismus und zehn Jahren Bürgerkrieg zerstört. Trotzdem haben ihn seine politischen Exilaktivitäten am Leben erhalten. Mein Freund Kasim war Teil einer aktiven linken Diaspora. Er nahm Anteil am politischen Leben im Irak, demonstrierte gegen Saddam Hussein und gegen den Krieg. Dann gegen den Terror. Wirklich entfremdet hat er sich seiner Heimat erst, als es für sie nichts mehr im Exil zu kämpfen gab, als der Kampf im Irak geführt und dort verloren wurde. Trotzdem waren diese Zusammenkünfte wichtig. Nicht nur für ihn. Auch für andere Exiliraker/innen. Dabei ging es wahrscheinlich nicht nur um Politik, sondern einfach auch darum, unter sich zu sein. So wie es mir damals mit meiner Latino-Community gegangen ist. Andere, weniger politische Migranten schließen sich in religiösen Gemeinschaften, Kulturvereinen zusammen oder besuchen dieselben Lokale, um dem Schmerz des Verlustes zu begegnen. Heimkehr gibt es selten Manchmal nach dem Tod. Noch immer lassen sich viele muslimische Migranten aus dem Na-

hen Osten nach ihrem Tod in ihren Heimatländern bestatten. Dabei spielen sicher auch religiöse Überlegungen eine Rolle. Muslimische Friedhöfe sind in Österreich schließlich immer noch Mangelware. In Wien und Vorarlberg gibt es mittlerweile eigene Friedhöfe für Muslime. Überkonfessionelle Kommunalfriedhöfe gibt es noch in einigen anderen größeren Städten. Ansonsten müssten sich die Muslime auf christlichen Friedhöfen bestatten lassen. Aber auch die islamischen Friedhöfe sind nicht Friedhöfe für alle Muslime. Während der Friedhof in Vorarlberg von der Gemeinde betrieben wird, wird jener in Wien von der sunnitisch dominierten Islamischen Glaubensgemeinschaft (IGGiÖ) betrieben. Dabei kam es schon zu Konflikten über die korrekten Riten mit Schiiten. Als vor zwei Jahren eine schiitische Freundin aus dem Irak verstarb, wollten ihre Angehörigen sie zurück in den Irak bringen. Zahra Shubar war im Juli 1968 in Bagdad zur Welt gekommen, hatte ihr Leben aber als Tochter irakischer Flüchtlinge in Deutschland verbracht, ehe sie einen Iraker aus Wien heiratete. Nach ihrem Tod kehrte sie in den Irak heim und wurde in der für Schiiten heiligen Erde von Kerbala bestattet. In Wien, wo ihr Mann und ihre beiden Kinder zurückblieben, gibt es kein Grab. Die Trauer hier muss abstrakt bleiben, hat keinen Ort. Ich hoffe sie bald in Kerbala besuchen zu können. Mary Kreutzer leitet seit 2009 die Abteilung »Missing Link« der Caritas Wien in Niederösterreich (ZusammenReden, Neuland und KOMPA) und Wien (Interkulturelles Mädchenzentrum *peppa). Sie ist Politikwissenschaftlerin und Publizistin mit den Schwerpunkten Flucht und Migration, Integration sowie Frauenhandel. Sie ist Trägerin des Eduard-Ploier-Radiopreises der Österreichischen Volksbildung und des Concordia-Publizistikpreises (Kategorie Menschenrechte). Sie bereist als Obfrau der Hilfsorganisation LeEZA regelmäßig den Irak, die Türkei und Syrien. Seit 2011 ist sie Lehrbeauftragte der FH Dornbirn. E-Mail: [email protected]

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Eine Reise in einem Boot aus Haut Krise und Veränderung im Prozess der Geschlechtsangleichung

Cornelia Kunert »Bitte seid nicht traurig, es ist besser so. Das Leben, das ich gelebt hätte, ist es nicht wert, gelebt zu werden […] weil ich Transgender bin. Ich könnte es genauer erklären, warum ich so fühle, aber diese Mitteilung ist lang genug, so wie sie ist. Um es einfach zu sagen: Ich fühle mich als Mädchen im Körper eines Jungen gefangen und ich habe es so empfunden, seit ich vier war. Ich wusste nie, dass es ein Wort für dieses Gefühl gab, und es war unmöglich für einen Jungen, ein Mädchen zu werden. Also habe ich nie jemandem davon erzählt und einfach weitergemacht, die üblichen Bubendinge zu tun, um dazuzugehören […] Als ich 14 war, erfuhr ich, was Transgender heißt, und musste weinen vor Freude. Nach zehn Jahren der Verwirrung verstand ich endlich, wer ich war« (Fantz 2015, Übers. d. Verf.). Diese Zeilen stammen aus dem Abschiedsbrief einer 17-jährigen Transsexuellen, die sich in einer Nacht kurz nach Neujahr 2015 auf einer Autobahn das Leben nahm. Ein solcher Tod, eine solche Tat erschreckt und macht traurig. Es muss

für die Angehörigen furchtbar sein, einen lieben Menschen aus dem Grund zu verlieren, weil er oder sie das Gefühl hatte, auf dieser Welt keinen Platz zu haben. Auch wenn vieles falsch gelaufen sein mag und nicht das rechte Verständnis für das transsexuelle Mädchen da war – das wollte sicher niemand und damit hat sicher niemand gerechnet. Aber der Grat ist schmal, auf dem sich das Leben manchmal bewegt, und wie die Redewendung richtig sagt: »Man kann in einen Menschen nicht hineinschauen.« Du weißt nie, wie nahe er oder sie schon am Abgrund steht. Die Geschichte von Leelah kenne ich nur aus den Social Media, daher möchte ich dazu an dieser Stelle nicht über sie und ihr tragisches Schicksal und das Leid ihrer Familie schreiben, aber ich kenne diesen Prozess, habe viele Menschen darin begleitet und weiß daher, dass es sich keineswegs um einen Einzelfall handelt, wenn Transgender auf Unverständnis und Ablehnung stoßen. Besonders hart trifft jeden natürlich die Ablehnung der Menschen, von denen man sich am meisten Unterstützung wünscht und braucht. Die Verzweiflung einer Person kann erdrückend groß werden, wenn sie kei-

Leidfaden, Heft 3 / 2015, S. 38–42, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015, ISSN 2192–1202

E i n e R e i s e i n e i n e m B o o t a u s H a u t    3 9

ne Möglichkeit für sich sieht, die eigene Identität, als Junge oder Mädchen, als Frau oder Mann, zu leben, weil Körper und Umwelt dagegensprechen. In uns sind Sterne Ich atme wieder und sehe dass deine Kleider nass geworden sind vom Regen ich wollte fliegen bis ich jenseits bin mich in der Luft verstecken Mir war, als wär’ die Welt ein Schattenreich ein Ort des Sichverbergens und der Lüge Du aber gehst durch Wolken durch den Schauer der Nacht und bist so leicht Die Selbsterkenntnis, transsexuell zu sein, wird nicht frei gewählt und die entsprechenden Gefühle, die dazu führen, können nicht einfach abgestellt oder abgelegt werden. Der Entschluss, den langwierigen transsexuellen Prozess mit dem Ziel medizinischer Maßnahmen zu beginnen, geschieht nicht leichtfertig und im Übermut. Die Geschlechtsidentität, in der sich der transsexuelle Mensch erlebt, ist nicht durch Therapie oder andere Maßnahmen beeinflussbar, sondern dauerhaft und unabweisbar. Oftmals ist der Wunsch, konkrete Schritte zur Veränderung zu unternehmen, nur der letzte Ausweg nach einer Lebensphase tiefer Verzweiflung über die Unmöglichkeit, so zu leben, wie man sich empfindet. Dieses Gefühl der Geschlechtsinkongruenz, das oft schon seit der frühen Kindheit besteht, wird irgendwann im Lebensverlauf so mächtig und so bestimmend, dass alles getan wird, um die Zugehörigkeit zum Identitätsgeschlecht sichtbar zu machen und zu verwirklichen. Eine transsexuelle Frau empfindet sich selbst zuinnerst als weiblich und leidet an den männlichen Ausprägungen ihres Körpers und der damit verbunden sozialen Zuordnung und umgekehrt.

Die Entstehung der Transsexualität in ihrer vielfältigen Erscheinung ist unklar und es gibt verschiedene ätiologische Theorien. Heute geht man davon aus, dass es sich nicht um eine psychische Krankheit handelt, sondern eher um eine »genetische Variation der Geschlechtsentwicklung« – als »eine Variante im Grenzgebiet von Genetik, Biologie und Neurowissenschaft bzw. Neuropsychologie« (Haupt 2012, S. 8). Die Sichtbarmachung und Realisierung dieser Geschlechtszugehörigkeit sind ein existenziell und psychologisch absolut notwendiger Prozess, um in Würde und Selbstbewusstsein weiterleben zu können. Egal, ob es sich um ein Kind handelt, das sein Identitätserleben in Sprache, Spiel oder Kleidung äußert, oder um eine erwachsene Person, die dies ihrer Umwelt eingesteht, immer ist es der Beginn einer langen Reise. Ich gehe verloren Ich gehe verloren langsam gehe ich verloren und dort beim Abfall finde ich mich Ich gehe verloren verloren gehe ich weiter und dort in der Fremde bleibe ich Und dort warte ich auf dich mein Leben mein liebes Leben Zu den schwersten Erfahrungen während dieser Reise gehören Trennungen von geliebten Menschen. Nicht selten sind es langjährige, tiefe Beziehungen, die plötzlich zerbrechen. Das Eingeständnis, transsexuell zu sein, kann einer bestehenden Beziehung eine Grenze setzen, wo vielleicht noch vor kurzem der gemeinsame Weg in die Zukunft offen war. Schuldgefühle und Selbstvorwürfe füh-

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© Christiane Knoop

ren oft dazu, den eingeschlagenen Weg immer wieder in Frage zu stellen oder eine Hormontherapie abzubrechen; was meistens nur so lange gut geht, bis tiefe Verzweiflung über die scheinbare Unmöglichkeit aufkommt, das Leben im Identitätsgeschlecht weiterzuleben. Der folgenden Gesprächsausschnitt (gekürzt und anonymisiert) soll das deutlich machen. Die Transsexuelle (hier: G) ist eine etwa fünfzigjährige Frau, die als Junge geboren wurde und sich seit etwa zwei Jahren in einem Transprozess befindet. Der Ehefrau fällt es sehr schwer, die Veränderung zu akzeptieren, auch wenn sie dies ehrlich versucht. Es ist noch nicht klar, wie es weitergehen kann, auch wenn beide keine Trennung wollen. Die Klientin erzählt von schweren Schuldgefühlen gegenüber der Ehefrau, da sie spürt, wie tief deren Trauer über den Verlust des »Mannes« ist. Auf einer gemeinsamen Wanderung vor einiger Zeit war es zu einer suizidalen Krise gekommen.

G: Es war schrecklich! Wenn wir in Wien gewesen wären, dann hätte sie den psychiatrischen Notruf angerufen. Aber wir waren in den Bergen. Th: Da wart ihr mehrere Tage. G: Ja, wir waren unterwegs in dem Gebiet. Da hat es sich dann ereignet. Th: Das war ein Tiefpunkt. G: Ja, das war der Tiefpunkt. Das hat mich sehr geängstigt, weil ich noch nie in meinem Leben so nahe am Abgrund gestanden bin. Th: Was bedeutet »Abgrund« für dich? G: Abgrund bedeutet für mich das Ende. Die Verzweiflung. Aus  … Dass ich nicht mehr kann; dass ich keine Zukunft mehr sehe … Th: Mhm. Da hast du an Selbstmord gedacht. G: Ja. Direkt an diesem Abend. Th. Und hast du Irene davon erzählt? G: Ja, und sie hat mir geholfen, da herauszukommen. Th: Du warst so verzweifelt, dass du daran gedacht hast, dich dort gleich umzubringen. G: Ja, ich wollte an diesem Abend einfach abschließen mir allem. Ich wollte niemandem mehr wehtun; dann bräuchte außer Irene und ein paar andere Leute niemand von der Transsexualität wissen. Th: Und hat die Beziehung zu Irene in dieser Zeit eine Rolle gespielt? G: Natürlich. Wir haben auch über Scheidung gesprochen. Wie schaut unsere Zukunft aus? Haben wir überhaupt eine Zukunft? Th: Was war das Schlimmste an diesem Abend? Du wusstest ja schon vorher, dass du transsexuell bist. Was war da das besonders Schlimme? G: Das Verletzen – dass ich die Menschen, die ich liebe, verletze. Th: Das war das Schwere. Die Irene auch … G: Irene, Bernhard (ihr Sohn), meine Mutter, meine Schwester … alle Leute, die mir viel bedeuten. Die werde ich durch meine Transsexualität schwer verletzen.

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Eine Beziehung wird in einer solchen Phase wie ein Boot in stürmischem Meer hin und her geworfen. Sie kommt nicht mehr zur Ruhe. Jeder Schritt im Transprozess kann die transsexuelle Person glücklich machen und die andere in Verzweiflung stürzen. Die Hoffnung, den Prozess bremsen oder stoppen zu können, besteht vielleicht kurzfristig, führt aber meist zu einer Zuspitzung der Lage. Ein »Ich oder Du« kann für Liebende immer nur ein unlösbares Dilemma sein. Oft sind es Ehefrauen, die ihren transsexuellen Partnerinnen zur Seite stehen und nicht wahrhaben wollen, wie sie selbst im Aufbringen von Rücksichtnahme über die Grenzen ihrer Kraft gehen. Für ihre Enttäuschung, Trauer oder auch Wut ist oft kein Platz im Familiensystem. Eine eigene professionelle Hilfe ist da manchmal besser als Paartherapie. Besonders tief wird die Krise, wenn in der Familie oder im Umfeld Unwissen über das Phänomen besteht und alle davon ausgehen, dass die transsexuelle Person in einen bisher nicht gekannten Egoismus verfallen sei oder eine perverse Verrücktheit hemmungslos auf Kosten der anderen auslebe. Es kommt auch vor, dass die Geschlechtsidentität des transsexuellen Partners oder Angehörigen einfach geleugnet wird. Dies ist ein Abwehrmechanismus, der meist spätestens durch die erfolgten medizinischen Maßnahmen seine Grenze findet. Wir leben uns voraus Wir leben uns voraus als ob nichts im Weg wäre Wir leben uns voraus als ob der Weg eben wäre Wir leben uns voraus und doch ist da wo wir stehen Kaum ein Raum Zeichnet sich für die transsexuelle Person selbst eine Perspektive und ein konkreter Weg für die

erstrebte Geschlechtsangleichung erst einmal ab, erlebt sie trotz krisenhafter Momente und vieler Verluste den Prozess insgesamt positiv. Es kommt meist zu Aufhellung der Grundstimmung, einer Reduktion bestehender Angstsymptome und einer signifikanten Zunahme an Sinngefühl (Kunert 2013). Eine derartige Entwicklung kann als Kongruenzdynamik verstanden werden, die immer einen psychischen Gesundungsprozess kennzeichnet. Daher bringt die transsexuelle Person in dieser Phase manchmal wenig empathisches Verständnis für die Irritationen bei den anderen auf, weil die Kluft zwischen der neuen Erfahrung innerer Stimmigkeit und deren Unverständnis zu groß ist: Was sich innerlich so richtig anfühlt, das kann doch für andere nicht unverständlich oder gar falsch sein. G: Es ist wurscht, was man macht, es ist eine lose-lose-Situation. Beide verlieren. Th: Gibt es auch Dinge, die du gewinnst? G: Ja – und sie auch! Ich bekomme meine innere Stärke und mein Selbstwertgefühl. Ich kann jetzt mehr eins mit mir sein, meine Gedanken sind klarer, meine Gefühle sind klarer. Ich bin viel offener geworden, habe keine Depressionen mehr. Ich bekomme auch von anderen wunderschöne Gefühle. Auch Wut erlebe ich jetzt in der richtigen Form, dass ich sie identifizieren kann. Auch Freude, dass ich manchmal weinen kann oder lachen. Th: Könnt ihr das jetzt manchmal teilen miteinander? G: Ja. Sie kriegt es mit, wenn ich gut drauf bin. Vorher war ich ein richtig mieselsüchtiger Depressiver. Ich habe mich versteckt. Ich wollte nichts mit der Welt zu tun haben. Ich habe meinen Job gemacht. Ich habe gegessen, geschlafen und mich vor der Welt versteckt. Das ist auch kein Leben, oder? Th: Das klingt nicht sehr interessant. G: Es ist richtig beschissen. Und das hat sie gewonnen.

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Th: Was hat sie gewonnen? Dass du jetzt eine Gabi bist, die lebt? G: Ja. Ich lebe. Es ist kein Blödsinn, es ist meine Person. Es tut mir leid, dass ich mein wahres Ich versteckt habe, und das war sehr unfair von mir, aber jetzt kann ich nur als ich selber weiterleben. Ich kann diese Show nicht mehr abgeben. Sie sieht, wie ich jetzt bin, dass ich viel offener geworden bin, dass ich ich selber bin. Th: Dass du du selber bist. Das hilft dir. G: Jetzt schon. Weil ich mir selber treu bin, das baut meine eigene Würde auf. Natürlich ist das transsexuelle Outing für die Bezugspersonen kein Grund zur Freude und das kann auch nicht erwartet werden. Es ist für alle zunächst eine schwere Erschütterung und es entsteht Ratlosigkeit. Stellt sich aber heraus, dass es sich um eine konstitutionelle Geschlechtsinkongruenz handelt, dann braucht es nicht zu totaler Entfremdung kommen. Nicht zwischen Partnern, nicht zwischen Eltern und Kindern und nicht zwischen Freunden/Freundinnen. Es geht nicht um Sex oder ein ausgeflipptes Ausbrechen aus starren Formen, sondern um den Versuch, in Würde zu leben; ein Leben in Übereinstimmung mit sich selbst. Auch die Angehörigen können nun möglicherweise Erfahrungen machen, die den Blick auf das Leben noch erweitern. Erlebnisse in der Vergangenheit werden im Rückblick aus dieser Perspektive viel verständlicher werden. Der Blick in die Zukunft hingegen wird vielleicht manches Gemeinsame und Sichere nicht mehr zeigen, aber die Landschaft vor uns hat offene Wege und es sind Wege, die nicht im Schatten liegen. Th: Ist das ein Gefühl, das da entsteht? G: Ja, es ist ein Körpergefühl, weil ich aufrecht gehe. Ich bin stolz darauf, wer ich bin, und ich bin glücklich, wer ich bin, und ich bin ausgeglichener und ich kriege keine Rückenschmerzen mehr.

Th: Und das kann Irene auch lernen oder wieder lernen. Vielleicht kann sie auch an deiner Seite aufrecht gehen. G: Mhm …. und sich nicht verstecken. Th: Immer ist das Verstecken das Problem. G: Richtig. Mag a. Cornelia Kunert ist seit 1988 in eigener psychotherapeutischer Praxis in Wien tätig. Sie ist Personzentrierte Psychotherapeutin, Existenzanalytikerin, Supervisorin und hat eine Weiterbildung in Hypnotherapie nach M. Erick­ son. Sie ist Mitglied im Expertenteam für Transidentität des Österreichischen Bundesverbandes für Psychotherapie, hält Vorträge und bietet Workshops an. E-Mail: [email protected] Literatur Fantz, A.: An Ohio transgender teen’s suicide, a mother’s anguish. CNN 2015. http://edition.cnn.com/2014/12/31/us/ ohio-transgender-teen-suicide/index.html [04. 01. 2015] Haupt, H. J.: Transsexualität. Grundlegende neurowissen­ schaftlich-medizinische, menschenrechtskonforme Posi­ tions­ bestimmungen und daraus abzuleitende Empfeh­ lungen für die Begleitung, Betreuung und Therapie trans­ sexueller Menschen. (»Altdorfer Empfehlungen«, Finale Version 10). Sozialpsychiatrischer Dienst Kanton Uri.  2011. http://www.spduri.ch/SPD-Publishing.53. 0.html [26. 01. 2013]. Haupt, H. J.: »Sie sind ihr Gehirn – in einem falschen Körper!« Exemplarische, fachliche Stellungnahme zum Urteil des Landesgerichts Baden-Württemberg vom 25. Januar 2012 aus neuropsychologisch-neurologisch-psychiatrischer Sicht. Gersau 2012. http://www.trans-evidence. com/Sie_sind_Ihr_Gehirn [26. 01. 2013]. Kunert, C.: Werden wollen, wer man wirklich ist. Transsexualität als konstitutionelle Geschlechtsinkongruenz  – ein personzentrierter Standpunkt. In: Person: Zeitschrift für Personzentrierte und Experienzielle Psychotherapie und Beratung, 2013, 17, No.1, S. 34–46. Kunert, C.: »Was soll denn diese Maskerade?« Gedanken und Fakten zum Phänomen der Transphobie. Zeitschrift des Wiener Landesverbandes für Psychotherapie, Themenheft:Transidentitäten und Psychotherapie, 2014, 2, S. 15–20. http://www.psyonline.at/download/kunden/0015135.pdf Rauchfleisch, U.:. Anne wird Tom – Klaus wird Lara. Transsexualität/Transidentität verstehen. Ostfildern 2013. Rauchfleisch, U.: Transsexualität – Transidentität. Begutachtung, Begleitung, Therapie. 4., völlig überarbeitete Auflage. Göttingen 2014.

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Systemwechsel Aus dem Tagebuch einer Veränderung

Radoslaw Celewicz Zwei Gesichter einer Wahrheit Im Sommer 2014 besuchte ich Istanbul. Ein Punkt auf meiner Liste der Sehenswürdigkeiten hieß »Panorama 1453« – eine Darstellung der Eroberung Konstantinopels durch Sultan Mehmed II. Im Museum angekommen, betrachtete ich das Gemälde mit dem Niedergang Konstantinopels. Auf einmal wurde es laut. Mehrere Mädchenklassen stürmten den Raum. Die Kinder gingen herum, schauten sich die Szenen an, und zum Schluss fotografierten sie einander mit den dargestellten Helden. In diesem Moment bekam der Museumsbesuch eine neue Bedeutung für mich. Die türkischen Kinder lernten hier ihre Geschichte. 1453 steht für ein zentrales Ereignis ihrer nationalen Identität. Was ich mit meinen Augen als das »Ende Konstantinopels« sehe, sehen sie als den »Beginn Istanbuls«. In mir ging die Einsicht auf: Das gezeigte Ereignis wird je nach Sichtweise verschieden realisiert und bekommt dadurch ein völlig anderes Gesicht. Oder systemisch gesagt: Die Ereignisse stehen nicht einfach fest. Sie bestehen durch die gegenseitige Beeinflussung. In diesem Artikel möchte ich einige Erfahrungen, Sichtweisen sowie Umgangsmöglichkeiten mit dem Thema »Systemwechsel« schildern. »Das Wort lebt, bevor es auf der Bühne gesagt wird« (Karol Wojtyla) Sieht man das Leben als eine Bühne der Ereignisse, dann passiert da etwas Geheimnisvolles. Es wird uns ein »Willkommen« gesagt, ohne gefragt zu werden. Wie dieses »Willkommen« tatsächlich ausschaut – das wird uns vor-gegeben. Die Welt

hat ein Gesicht von vorgefundenen »Systemen« (Familie, Schule, Staat, Zeitgeist, Sprache und so weiter). Mit unserer Einmaligkeit wachsen wir in den Armen dieser Systeme auf und werden dessen Erben. Die Episode aus dem Panoramamuseum ist ein Beispiel dafür, wie überraschend das Leben unsere Sichtweisen verändern beziehungsweise in Frage stellen kann. Noch zehn Minuten vor der Ankunft der Schulkinder hätte ich nicht gedacht, dass ich den Fall Konstantinopels anders sehen könnte; genauso wie ich noch vor zehn Jahren nicht gedacht hätte, dass ich etwas Vertrautes verlassen und etwas Neues beginnen würde. So gesehen ist das menschliche Leben ein »Antwortgeben« (Längle 2014, S. 44). Uns wird die Freiheit geschenkt im Umgang mit unserem »Erbe«, den Sichtweisen, ja mit dem Leben selbst. Existenzanalytisch formuliert, das heißt fragend, wie ein erfülltes Leben gelingen kann, kommen wir nicht um eine eigene Interpretation (Stellungnahme) der Ereignisse herum. »Stellungnahme meint, finden zu können, was man selbst zu einer Situation oder Sache zu sagen hat« (Längle 2014, S. 25). »Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul.« Oder doch? Bekomme ich ein Geschenk, dann sollte ich nicht meckern. Ich sollte mich bei der Geberin, dem ­Geber bedanken und darf mich auf keinen Fall anders als zufrieden zeigen – so in etwa lautet die Anstandsregel. Doch was soll ich tun, wenn mir das Geschenk nicht gefällt? Wenn ich es gar nicht brauche? Wenn es mich belastet? Eine gängige Praxis nach Weihnachten ist, die Geschenke, die nicht ­gefallen, gegen andere oder gegen Gutscheine zu tauschen.

Leidfaden, Heft 3 / 2015, S. 43–46, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015, ISSN 2192–1202

© Radoslaw Celewicz

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Der Weg lichtete sich. Ich wusste, dass ich ihn weitergehen werde – mit dem Platz für das Lebendige in mir.

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Ein Umtausch, der relativ leicht vonstatten geht. Doch was steht mir zur Verfügung, wenn ich das Geschenk selbst gewählt habe? Oder wenn es um eine Lebensentscheidung geht, bei der mit der Zeit Zweifel aufkommen? Wie gehe ich mit einem gegebenem Ja um, das mit der Zeit zur Frage wird? Wie gehe ich mit der dazugehörenden »Zwiespaltigkeit« (Vanier 2001, S. 60) um? Ich möchte zwei Annäherungen, die ich bei diesem Thema selbst erlebt habe, beschreiben. Ich nenne sie: Zahn-Test und Seh-Test. Zahn-Test »Im subjektiven Erleben des Menschen ist alle lebensrelevante Information enthalten« (Längle 2014, S. 25). Mit den Worten meiner Erfahrung gesagt: In meinem Körper wohnt eine eigene Weisheit. Der Leib verträgt viel, doch er holt mich zurück, wenn ich zu weit über meine Grenzen gehe. Ein Beispiel dafür sind die Zähne. Wir beißen, kauen und genießen – wenn die Zähne gesund sind (und noch uns gehören, dazu weiß ich allerdings noch zu wenig), dann merken wir sie gar nicht. Damit das so bleibt, wird uns angeraten, alle sechs Monate zur Zahnkontrolle zu gehen. Auch das Leben, damit es schmeckt, braucht eine Überprüfung, nämlich: dem Weg und dem Ziel »auf den Zahn zu fühlen«. In meiner Geschichte war das ein wichtiger Faktor, der mich zehn Jahre nach der Wahl meiner Lebensform herausforderte. Ich registrierte es als ein diffuses Gefühl. Daraufhin versuchte ich eine Art »Bilanz« aufzustellen. Ich zeichnete einen Strich, schrieb darunter meine ursprüngliche Wahl und meine Gründe dafür. Über dem Strich schrieb ich meine aktuellen Tätigkeiten und mein Befinden. Anschließend setzte ich ein Ist-Zeichen und fragte mich: Stimmt die Rechnung so? Stimmen das Damals und das Heute überein? Meine damalige Antwort war: Ja, die Rechnung stimmt. Es war allerdings ein Ja, bei dem ein diffuses Gefühl geblieben ist. Erst später erkannte ich, dass dieses damalige Ja einfach stimmen musste. Es würde mich völlig ratlos machen, irgendetwas aus meiner Welt in Frage zu stellen. Und ich hätte den Mut

dafür nicht gehabt, es anzuschauen. Lieber nahm ich das Diffuse in Kauf und versuchte meinen Verpflichtungen noch gewissenhafter nachzugehen. Da ungefähr zur gleichen Zeit ein Angebot kam, eine wichtige Aufgabe zu übernehmen, empfand ich das als eine Fügung. Erleichtert »biss ich an«. Nach einiger Zeit meldete sich mein Körper. Er sprach Klartext und forderte eine Wurzelbehandlung. Meine Antwort darauf war diesmal schlauer: Ich nahm mir Zeit und ging nach Santiago de Compostela. Insgeheim hoffte ich, dass damit mein Teil getan sei, und der »Rest« würde wie durch ein Wunder geregelt. Ein Wunder, das der Hilflosigkeit in meinem Umfeld genauso gut tun würde wie mir. Das erhoffte Wunder trat nicht ein. Ich stand wieder am Ausgangspunkt. Mir wurde klar, dass es um Fragen geht, die niemand an meiner Stelle beantworten kann. Um weiterzukommen, musste ich mich öffnen und Dinge zulassen, die schutzlos machten und als gefährlich galten. Es waren Dinge, die nur in kleinen Dosen verträglich waren – für mich selbst und für Mitbetroffene. Eine Erleichterung kam dank der inneren Klärung. Es war eine neue Sicht des Prozesses, der gerade stattfand: Wenn es wirklich meine Fragen sind, dann bedrohe ich damit weder mich noch andere. Ich darf dem, was in mir ist, Vertrauen schenken. Dem Vertrauen trauen – wurde damit zu meinem Leitsatz für den nächsten Weg nach Santiago und für die klärenden Schritte in meinem Leben. Seh-Test Diese nächsten Schritte brachten mich zu einem Seh-Test. Der Seh-Test überprüft die Übereinstimmung der eigenen Wahrnehmung mit der Außenwelt. Das ist unerlässlich für die Orientierung und bei einer Autofahrt sogar lebenswichtig. Eine entscheidende Wende schenkte mir der Einblick in die Sichtweise der Gewaltfreien Kommunikation: Alles, was ich aus Angst, Schuldgefühl oder Scham tue – das tue ich nicht aus freien Stücken (vgl. Rosenberg 2007, S. 36). Der Seh-Test zeigte mir die Sichtweisen meiner bisherigen Systeme, die ich für

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die Wahrheit hielt. Bisher habe ich gelernt, überwiegend auf die anderen zu schauen und für sie zu sorgen. Dadurch erhoffte ich, gesehen zu werden und angesehen zu sein. Der Seh-Test öffnete mir die Augen für den Unterschied zwischen dem, was geschenkt, und dem, was erzwungen wird. Es schmerzte zu sehen, wie viel meiner Lebenskraft ich aufgewendet hatte, diese Unterschiede entweder auszublenden oder aufzuwiegen. Es schmerzte, dass das Zulassen meiner Fragen mich mehr und mehr zum Fremdling machte, der bei dem Versuch, seine Umwelt zu verändern, in einer Sackgasse gelandet ist. Der Seh-Test zeigte mir dabei auch meine Grenzen und meine blinden Flecke – die Dinge, die ich an mir absolut nicht mochte: mich schwach zu zeigen, die versteckte Angst, mit meinen Fragen nicht ganz normal zu sein, und schließlich die Wahrheit, dass meine anfänglichen Erwartungen an das gemeinsame Leben unerfüllbar waren. Die Inhalte der Gewaltfreien Kommunikation halfen mir, das Beunruhigende zu würdigen und das Lebensbejahende darin zu finden. Wie wohltuend war es, auf diese Weise sehen zu können. Der Weg lichtete sich. Ich wusste, dass ich ihn weitergehen werde – mit dem Platz für das Lebendige in mir. Damit gelangte ich aus der Mitte meines Systems an dessen Rand – eine scheinbar bodenlose Gegend, in der mich weder das Bisherige noch das Neue tragen konnte. Hier war ich allein. Hier war ich frei, mich neu zu entschließen. Ein Satz half mir, das Risiko dieser Entscheidung auf mich zu nehmen: Was will ich am Ende meines Leben zu mir sagen können?

Und ich, der konkrete Mensch dahinter – was würde ich dazu sagen? Ja, es stimmt – die Dankbarkeit für den bisherigen Weg, der Friede über die Entscheidung, das Staunen über das Leben, das Lernen der neuen Sichtweisen und das Vertrauen für die Zukunft. Für meine Arbeit sind es das Würdigen des Lebendigen und die Begleitung beim Finden der eigenen Antwort. Die biographischen Einblenden meines Wandels lassen einige Begriffe der sozialen Systeme durchklingen: »Person«, »subjektive Deutung«, »soziale Regel«, »gegenseitige Beeinflussung«, »Systemgrenze«, »Entwicklung« (König und Volmer 2005, S. 38). Ausdrücke, die man/frau als Sicht- und Herangehensweisen an die Realität verstehen kann. Sie verbinden das Staunen über das Geheimnis des Lebens mit der Möglichkeit eines klugen Umgangs damit. Ob unsere Systeme als eine vorgegebene, fixe Wahrheit oder/und als ein dynamisches lebendiges Gefüge in Erscheinung treten – das ist eine Frage, die uns das Leben selbst stellt. Gibt es dabei die richtige Antwort? Es mag sein. Mir gefällt allerdings eine Antwort, die stimmig ist. Eine Antwort die stimmig ist und auf diese Art und Weise stimmt.

»Dem Vertrauen trauen«

Literatur Celewicz, R.: Nur ein kleines Loch. Ein Märchen für Erwachsene. Norderstedt 2015. König, E.; Volmer, G.: Systemisch denken und handeln. Personale Systemtheorie in Erwachsenenbildung und Organisationsberatung. Weinheim/Basel 2005. Kübler-Ross, E.; Kessler, D.: Geborgen im Leben. Wege zu einem erfüllten Dasein. Freiburg 2010. Längle, A.: Lehrbuch zur Existenzanalyse. Grundlagen. 2. Auf­lage. Wien. 2014. Rosenberg, M. B.: Gewaltfreie Kommunikation. Eine Sprache des Lebens. 7. Auflage. Paderborn 2007. Senge, P. M.: Die fünfte Disziplin. Stuttgart 1996. Vanier, J.: Einfach Mensch sein. Wege zu erfülltem Leben. Freiburg 2001.

Ein Zeitungsbericht könnte meine Erfahrung in wenigen Zeilen zusammenfassen: Radoslaw Celewicz, Jahrgang 1970. Mit 20 Jahren Eintritt in eine Ordensgemeinschaft in Polen. Drei Jahre später Wechsel nach Österreich – Fortsetzung und Studienabschluss in Graz. Verschiedene Aufgaben und Funktionen an mehreren Orten in Österreich. Nach 22 Jahren Austritt aus dem Orden. Heute selbständig. Lebend in einer Beziehung.

Mag. Radoslaw Celewicz ist Unter­ neh­mensberater für Organisationsent­ wick­­ lung, Veränderung und Werte, Coach, Mediator, Trainer für Kommunikation (Schwerpunkt Gewaltfreie Kommunikation), Theologe, Designfotograf. E-Mail: [email protected] Website: www.sinnundzweck.at

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Demenz – Angehörige brauchen Begleitung Systemische Sichtweise als Möglichkeit für Wandel und Wachstum

Helga Müller-Finger Seit über dreißig Jahren betreue ich an Demenz erkrankte Menschen in einer geriatrischen Institution. In meiner täglichen Arbeit erlebe ich, wie die Demenz durch die Einschränkung der kognitiven Fähigkeiten und durch die Beeinträchtigung der Alltagsfertigkeiten dazu führt, dass sich das Wesen des Menschen verändert. Gedächtnis, Sprache, Urteils- und Denkvermögen, Bedeutungserkennung und Handlungssteuerung, die zentral für die Selbstbestimmung des Menschen sind, werden einem fortschreitenden Ab-

bau unterworfen. Das zunehmende Unvermögen, für sich selbst sorgen zu können, sowie die im Verlauf der Erkrankung phasenhaft auftretenden Verhaltensauffälligkeiten erschüttern den Menschen in seinem ganzen Sein. Aber nicht nur der Erkrankte, sondern vor allem auch die ihm nahestehenden Personen, die An- und Zugehörigen, werden durch die Stellung der Diagnose Demenz tief getroffen und verunsichert. Das soziale Gefüge einer Familie wird einschneidend verändert, gewohnte Rollen können

Leidfaden, Heft 3 / 2015, S. 47–50, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015, ISSN 2192–1202

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nicht mehr beibehalten werden, nichts bleibt so, wie es war. Mit demenzkranken Menschen ist weder eine bewusste Aufarbeitung alter Verletzungen und Konflikte möglich noch eine bewusste Beziehungsklärung. All das führt zu einer Trauerreaktion der Angehörigen und Zugehörigen mitten im Leben. Diese Trauer ist ihnen gerade zu Beginn der Erkrankung meist nicht bewusst. Die Trauer wird oft abgewehrt. Die Aufnahme des Erkrankten in eine geriatrische Institution bedeutet eine weitere tiefgreifende Zäsur im Leben der Betroffenen. Erschwerend kommt hinzu, dass die Demenz fast ausschließlich mit Defiziten und Verlusten von Fähigkeiten verbunden wird. Diese Sichtweise führt dazu, dass Betroffene und Angehörige Demenz vielfach als Makel sehen. Demenz ist oft mit Gefühlen von Scham besetzt.

Der Demenzkranke reagiert sehr sensibel auf Stimmungen, auf Haltungen ihm gegenüber und auf Umfeldbedingungen.

misterQM / photocase.de

Systemische Sichtweise Als Stationsärztin einer Demenzstation sehe ich es als eine meiner wesentlichen Aufgaben an, Angehörige von Anfang an zu begleiten und sie bei der Auseinandersetzung mit der Erkrankung des Menschen, der ihnen nahesteht, zu unterstützen. Bei der Bewältigung dieser Aufgabe hilft mir die systemische Sichtweise. Systemisch denken und handeln bedeutet für mich, den Menschen in seinem Bezogensein und Angewiesensein auf andere Menschen zu sehen. Der Angehörige und der demenzkranke Mensch stehen im Schnittpunkt tiefer Bindungen und Loyalitäten. Die systemische Sichtweise richtet die Aufmerksamkeit nicht nur auf die Einzelperson, im konkreten Fall den Demenzkranken, sondern nimmt vor allem die Wechselwirkung zwischen Demenzkrankem, Angehörigem, Betreuungsperson und Umfeld in den Blick. Bei der Aufnahme eines an Demenz erkrankten Menschen auf unsere Station kommen organisatorische Rahmenbedingungen mit ins Spiel sowie der Einfluss der betreuenden Mitarbeiter. Bereits bei der Aufnahme ist eine Grundannahme systemischen Denkens zu berücksichtigen: Der Mensch ist nicht immer gleich,

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vielmehr zeigt er in einem Netz von Beziehungen sehr unterschiedliches Verhalten. Somit beeinflusst das Verhalten des Stationsteams das Verhalten der Betreuten wie auch der Angehörigen. Bei der Aufnahme eines Patienten auf unserer Demenzstation begegnen sich mehrere Systeme: • das System Familie (wobei ich das Wort »Familie« hier immer in einem erweiterten Sinn verstehe), • das System des multiprofessionellen Teams der Station, • das übergeordnete System Pflegeheimorganisation.

• Wir fragen Angehörige nach ihrer eigenen Befindlichkeit und ihren Gefühlen. Wir ermutigen Angehörige, ihre Trauer und die zurückgehaltenen, oft widersprüchlichen Gefühle zuzulassen und diese auszudrücken. • Wir fragen Angehörige nach ihrer Beziehung zum Erkrankten. Wir ermutigen Angehörige, auch negative, schamhaft besetzte Gefühle wie Wut, Zorn und so weiter zuzulassen. • Wir vermitteln Angehörigen, dass wir Verständnis für sie haben, anerkennen, was sie bis jetzt geleistet haben, dass sie für uns wichtig bei der Betreuung sind.

Diese drei Subsysteme sind in verschiedene Umwelten eingebettet, und sie unterliegen kulturellen, moralischen, gesellschaftlichen und politischen Einflüssen. Die drei Systeme stehen untereinander im Austausch, sie treten zueinander in Beziehung. Dies führt oft zu Spannungen, zu konfliktreicher Kommunikation. Die Erfahrung zeigt, dass vor allem der Demenzkranke sehr sensibel auf Stimmungen reagiert, auf Haltungen ihm gegenüber und auf Umfeldbedingungen. Wenn wir uns im Stationsalltag dieser Wechselwirkungen bewusst sind, erkennen wir, wie wichtig es ist, durch Selbstreflexion und Austausch im Team zu versuchen, alle Sichtweisen und die den Menschen innewohnenden Bedürfnisse mitzubedenken. Wir als Team versuchen, Verständnis für die Lebenswelt, für die emotional belastende Situation An- und Zugehöriger aufzubringen, und bieten diesen an, sie zu begleiten.

Von Anfang an biete ich als Stationsärztin den Angehörigen solche Gespräche in einem geschützten Rahmen an. Die Demenz ist eine chronische, fortschreitende, nicht mehr heilbare Erkrankung. Angehörigenbetreuung heißt daher auch, die Angehörigen an das Thema Sterben und Tod in behutsamer, einfühlsamer Weise heranzuführen. Wir müssen den Angehörigen auch bewusst machen, wie bedeutsam sie sind, damit wir mit den Vorstellungen des Erkrankten zu schwierigen ethischen Fragen vertraut werden, wenn der Erkrankte selbst keine Patientenverfügung oder Vorsorgevollmacht verfasst hat. Angehörige können mit ihrer eigenen Betroffenheit und Hilflosigkeit besser umgehen, wenn ihnen bewusst wird, dass ihre Gesprächsbereitschaft dem Erkrankten zu bestmöglicher Autonomie verhilft.

Begleitung Angehöriger

Spiritualität

Worin besteht die Unterstützung und Begleitung der Angehörigen bei der Krankheitsbewältigung? • Die Angehörigen benötigen Wissen über die Demenzerkrankung, Basiswissen zu Validation, Umgang mit Verhaltensauffälligkeiten, Sozialberatung im Hinblick auf gesetzliche, finanzielle und organisatorische Aspekte in Zusammenhang mit der Erkrankung.

Hinzu kommt eine Dimension, die für mich persönlich im Umgang mit Demenzkranken und deren Angehörigen ganz zentral ist: die Spiritualität. Demenz bedeutet nicht nur Abbau und Verfall. Auch ein Mensch, der an Demenz erkrankt ist, kann wachsen und reifen, im Unbewussten kann er vielleicht lang verborgen Gebliebenes aufarbeiten, weil er es endlich ausdrücken darf, ungehin-

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dert von gesellschaftlichen Regeln und Normen. Diesen anderen Blick auf die Erkrankung versuche ich den Angehörigen in vielen Gesprächen nahezubringen. Begegnungen mit dem Demenzkranken können sehr unmittelbar, sehr intensiv sein. Tiefe und Ernsthaftigkeit können entstehen, die vorher oft nicht möglich waren. In diesen Begegnungen leuchtet Martin Bubers Bild vom Menschen auf: ein Wesen, das zwischen Ich und Du existiert. Nachdem ein demenzkranker Mann ein halbes Jahr auf meiner Station war, sagte mir seine Tochter: »Nie hatte ich eine so zärtliche, unmittelbare Beziehung zu meinem Vater, endlich können wir uns berühren, sind uns auf nie gekannte Weise nahe. Ich bin dankbar, dass ich das noch mit ihm erleben darf.« Aus der Begleitung demenzkranker Menschen erwachsen auch für uns selbst tiefer Sinn und Verbundenheit. Angehörige an diese unmittelbare, tiefe Verbundenheit heranzuführen, ist eine lohnende, fruchtbare Aufgabe und gehört zu den beglückendsten Erfahrungen meiner Tätigkeit. Diese Verbundenheit selbst zu erleben und auch dem Stationsteam diese Erfahrung nahezubringen, uns darüber auszutauschen, ist für mich der Schlüssel für eine heilsame Betreuung und schafft im systemischen Sinn einen unterstützenden Kontext. Unser Umgang mit Demenzkranken und deren Angehörigen benötigt einen Paradigmenwechsel. Denn, wie Insa Sparrer einmal sagte, wir leben, als wären wir getrennt. Sie meint aber, wir seien alle verbunden und sollten herausfinden, was diese Verbindung stört. Brücken der Verständigung Damit Brücken der Verständigung zwischen Angehörigen und Betreuenden entstehen, müssen wir die Sichtweisen und Einstellungen des be-

treuenden Teams ernst nehmen. Nur wenn die Sichtweisen aller im System Handelnden berücksichtigt und integriert werden, wird ein heilsames Zusammenwirken aller möglich. Für dieses Zusammenwirken ist die Zuhilfenahme der lösungsfokussierten Sicht von Steve de Shazers lösungsfokussierter Kurzzeittherapie hilfreich: Alle im System Handelnden suchen gemeinsam nach bestmöglichen Lösungen, hinterfragen den eigenen Standpunkt und legen den Schwerpunkt auf mögliche Veränderungen, anstatt im Problem zu verharren. Gemeinsam erfahren wir, wie wir selbst wachsen und reifen können, wenn wir über unser Menschenbild nachdenken, unsere Wahrnehmung des an Demenz erkrankten Menschen überdenken, sein Anderssein in der Welt anerkennen. Wir erkennen durch achtsamen Austausch aller im System Tätigen mit den Angehörigen, dass durch unser sich gemeinsames Einlassen auf Beziehung Leben von an Demenz erkrankten Menschen, aber auch unser und das Leben der Angehörigen, bis zuletzt gelingen kann.

Dr. Helga Müller-Finger, Stationsärztin der Demenzstation und Palliativbeauftragte im Geriatriezentrum Klosterneuburg (GZK), ab 2003 Implementierung von Palliative Care als ganzheitliches Betreuungskonzept für Langzeitstationen im GZK, in Zusammenarbeit mit allen Berufsgruppen des Hauses. Psychotherapeutin, Zusatzausbildung in Dialogisch-Systemischer Aufstellungsarbeit/Familienrekonstruktion (Institut Apsys), Beratung für pflegende Angehörige, Vortragstätigkeit zu Themen von Demenz und Palliative Care. E-Mail: [email protected] Literatur Renoldner, C.; Scala, E.; Rabenstein, R.: Einfach systemisch! Systemische Grundlagen und Methoden für Ihre pädagogische Arbeit. Münster 2012. Sparrer, I.: Wunder, Lösung und System. Lösungsfokussierte Systemische Strukturaufstellungen für Therapie und Organisationsberatung. Heidelberg 2009.

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In der Regel ist es immer möglich, über kreative Ansätze und mit Betei­ ligung des suchenden Umfeldes eine Form des Ausdrucks zu finden, der unabhängig von der Familie stattfinden kann.

Printemps / Fotolia

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Wege zum gelingenden Umgang mit Trauer im Zeitraum vom Tod bis zur Beisetzung Was Bestatter/-innen für Angehörige und das beteiligte Umfeld beitragen können

Evelyn Schmidt Trauer hat System So wie das Leben findet auch die Trauer in einem System unterschiedlichster Bezüge statt. Im Zeitraum vom Tod bis zur Beisetzung werden die Weichen für eine gelingende Trauerverarbeitung gestellt. Daher legen wir als Bestatter/-innen im Hamburger »trostwerk – andere bestattungen« viel Wert auf die Vermittlung von Möglichkeiten, mit denen Angehörige, aber auch das beteiligte Umfeld, sich an einzelnen Schritten im Prozess des Abschiednehmens beteiligen können. Dazu gehört eine von uns vermittelte »Selbstverständlichkeit« in all dem, was wir besprechen und anbieten. Wichtig ist, dass die Angehörigen den Raum und die volle Erlaubnis haben nachzuspüren, was sie brauchen. Nichts muss sofort entschieden werden, alles darf überdacht und stimmig entschieden werden, in Abwägung aller

Bedingungen, die zu diesem Todesfall gehören. Dazu gehört auch die Erfragung eines sozialen Umfeldes (zum Beispiel Freundeskreis, Arbeitskollegen, Nachbarn), das an diesem Todesgeschehen möglicherweise Beteiligung wünscht. Es ist wesentlich, individuellen Ausdruck zu erlauben und vielfältige Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen. Roland Kachler ist der Ansicht, dass das Erleben der ersten Stunden und Tage nach dem Tod entscheidend sei für den gesamten Trauerprozess: »In den ersten Stunden und Tagen der Begegnung mit dem toten Körper geschieht Entscheidendes für die weitere Entwicklung der Trauer. Hier liegt der Keim für die spätere Beziehung zum Verstorbenen« (Kachler 2012). Aus dem Wissen um die wichtige Zeit zwischen Tod und Beisetzung heraus liegen die Schwerpunkte unserer Arbeit auf umfassender Information und der Erlaubnis von Raum und Zeit sowie

Leidfaden, Heft 3 / 2015, S. 51–54, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015, ISSN 2192–1202

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einer Transparenz in all unseren Arbeitsabläufen. Für die gesamte Begleitung der Angehörigen und des Umfeldes ist eine Begleiterin hauptverantwortlich, vom ersten Kontakt bis hin zur Entwicklung der einzelnen Schritte und der Durchführung der Trauerfeier und der Beisetzung. Sprache und körperliche Präsenz In der Begleitung der Angehörigen ist es uns von zentraler Bedeutung, eine wertfreie Sprache zu verwenden, die die Angehörigen nicht von ihren Verstorbenen distanziert. Im »trostwerk« sprechen wir zum Beispiel vom »Verstorbenen« und nicht von »der Leiche«. In den Gesprächen mit den Angehörigen arbeiten wir in alltäglicher Kleidung, die in etwa dem entspricht, wie auch die Angehörigen zu uns kommen. Wir wollen keinesfalls über das Tragen von Anzügen eine vermeintliche »Professionalität« an den Tag legen, die an dieser Stelle ebenfalls zur Distanzierung der Angehörigen zum Todesgeschehen beitragen kann. Arbeitsschwerpunkte Überführung und Totenfürsorge Die Überführung eines Verstorbenen in unser Abschiedshaus ist ein wesentlicher Moment im Abschied. Der geliebte Mensch wird in fremde Hände übergeben. Hier laden wir die Angehörigen ein, mit dabei zu sein, wenn dies möglich ist. Die Einbettung in den Sarg und das Erleben dieses Schrittes ist sehr bedeutsam, entwickelt sich doch hier ein weiteres Gefühl für die Realisierung des Todes. Wir praktizieren bewusst ein entschleunigtes Arbeitstempo, das sich daran orientiert, die Anwesenden Teil unserer Arbeitsschritte und Handreichungen werden zu lassen. Wir lassen uns die Geschichte der Todesumstände erzählen, um in Kontakt mit dem Verstorbenen und den Angehörigen zu kommen. Uns ist auch der achtsame Umgang mit den Verstorbenen in der Totenfürsorge wichtig. Die Angehörigen können dabei sein und zusehen oder hel-

fen, wenn sie möchten. Wir waschen und pflegen, versorgen Wunden und kleiden auf Wunsch ein oder verwenden ein Tuch, um einen Verstorbenen symbolisch wie in einem Kokon zu »umhüllen«. Die Einbeziehung des Umfeldes am Beispiel der Abschiednahme Die sinnliche Erfahrbarkeit des Todes im Rahmen eines Abschiednehmens ist wesentlich, um das Geschehene zu realisieren. Der oft zitierte Satz: »Behalten Sie ihn besser so in Erinnerung, wie Sie ihn kannten«, ist unserer Ansicht nach in dieser Pauschalität nicht richtig. Durch das Sehen, das Anfassen und auch durch die Wahrnehmung eines anderen Geruches werden Sterben und Tod fassbarer und konkret. Gerade hier bietet sich die Einbeziehung des Umfeldes eines Verstorbenen unbedingt an. Hierzu beraten wir so, dass zum Beispiel als Erstes die engere Familie zur Verabschiedung kommt und erst danach Menschen aus dem Umfeld. Das Einbeziehen des Umfeldes in der Begleitung hat sich als sehr hilfreich erwiesen, denn gerade bei Suizid oder plötzlichem Tod ist die Familie bei der Aufbahrung zunächst oft lieber unter sich – die Erschütterung ist groß und es braucht in der Regel eine gewisse Vertrautheit in diesen Stunden, in denen das »Unfassbare« realer wird. Dies ist verständlich und doch muss aus diesem Bedürfnis heraus niemand aus dem sozialen Umfeld ausgeschlossen werden. Auch dieser Kreis braucht eine erste Annäherung an die Wirklichkeit des Todes in Form der Aufbahrung, denn das »Unfassbare« lässt auch sie erschüttert in der Welt zurück. Beteiligung des Umfeldes direkt über die Familie In einer meiner letzten Suizid-Begleitungen hatte zunächst die engste Familie Zeit für sich. Nach einer bewusst gesetzten Pause wurde der Raum für das soziale Umfeld geöffnet. Der Abschied

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bestand aus einem ganzen Tag in unserem Abschiedshaus mit Getränken und Gebäck und unter anderem der Möglichkeit, den Sargdeckel zu bemalen und zu beschriften. Die Erfahrung zeigt, dass nach einer eher angespannten und erschreckten Annäherung im Verlauf eine Entspannung entsteht. Dies ist deutlich an einer veränderten Körperhaltung wahrnehmbar. Wird der Raum betreten, geschieht dies mit einer gewissen Körperspannung, die Schultern sind hochgezogen, der Atem und die Emotionen sind kaum wahrnehmbar. Ist die Annäherung geschehen, sinken die Schultern herab, der Atem und die Emotionen sind spürbarer als zu Beginn. So entstand an diesem Tag ein bunter Ausdruck auf dem Deckel des Sarges in Form von Farben und Grüßen, letzten Wünschen und Gedanken für den Toten. Am Schluss haben die letzten Gäste den Verstorbenen mit seiner Lieblingsdecke zugedeckt und den Sarg gemeinsam geschlossen. Das Schließen des Sarges durch die Angehörigen kann eine heilsame Wirkung haben. Es ist wie ein Schritt hin zur Akzeptanz des Todes. In dieser Begleitung war die Ehefrau meine Hauptansprechperson. Sie hat gewünscht, das Umfeld mit einzubeziehen, und es mit meiner Unterstützung adäquat umsetzen können.

gesa.friederike / photocase.de

Es ist gelungen, für alle eine Form zu finden, die den unterschiedlichen Bedürfnissen nach Verabschiedung entsprach.

einerseits die Eltern zu entlasten und um andererseits das Umfeld zu informieren, so dass eine Beteiligung von deren Seite aus möglich wurde (Gestaltung der Abschiednahme, Redebeiträge und Auswahl von Musik für die Trauerfeier). In dieser Begleitung haben zunächst die Eltern und die engste Familie am offenen Sarg Abschied genommen. Für sie war es eine Überforderung, dem Umfeld der Tochter in diesem Rahmen zu begegnen. So gab es einen weiteren Termin zur Abschiednahme für das Umfeld, der wiederum in einen »engeren« und einen »weiteren« Kreis zeitlich unterteilt war. So ist es gelungen, für alle eine Form zu finden, die den unterschiedlichen Bedürfnissen nach Verabschiedung entsprach. Die Bedeutung der Trauerfeier

Beteiligung des Umfeldes über eine Kontaktperson Verstorben war plötzlich eine junge Frau, die ein großes Umfeld hatte und seit vielen Jahren in Hamburg lebte. Ich war im Gespräch mit den Eltern, denen bewusst war, dass ihre Tochter sozial, politisch und sportlich sehr engagiert war. Ihr Bedürfnis war, im Sinne ihrer Tochter das Umfeld einzubeziehen. Ich hatte vorgeschlagen, ein bis zwei Personen zu benennen, die als Vermittler/-innen agieren. Ich war Moderatorin, um

Auch die Trauerfeier ist von zentraler Bedeutung. Durch die gemeinsame Entwicklung des inhaltlichen Geschehens, möglicherweise verstärkt durch entsprechende Rituale während der Trauerfeier, wirkt sie tröstlich und tragend über diesen Tag hinaus. Gerade hier ist die Beteiligung aller von großer Bedeutung. Wenn es gelingt, schon im Zeitraum bis zur Beisetzung und explizit in der Trauerfeier das Thema »gemeinsame Erinnerung« zu benennen und durch passende Formulierungen in der

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Trauerrede aufzugreifen, ist das eine hilfreiche Voraussetzung für die Entwicklung einer gemeinsamen Erinnerungskultur. Wichtig ist, nicht in der Sprachlosigkeit zu bleiben, sondern zu Worten zu ermutigen, die einander ins Gespräch bringen und die Trauernden nicht isolieren von der Welt. Beteiligung des Umfeldes durch die direkte Anwesenheit in den Beratungsgesprächen In einer anderen Begleitung, in der ein 16-jähriger Junge durch eine Krankheit innerhalb weniger Wochen verstarb, haben die Eltern seine Freundin und den besten Freund zu den Beratungsgesprächen eingeladen. So entstand ein gemeinsames Handeln, in dem der Freund den Sarg gestalten konnte und die Freundin für die Trauerfeier einen musikalischen Beitrag vorbereitete, der auch von der kleinen Schwester des Verstorbenen aufgegriffen wurde, indem sie selbst ein Lied für den toten Bruder sang. Der Abschied fand über mehrere Tage verteilt statt. Hier war die Familie zunächst unter sich. Dann wurde der Raum geöffnet für alle, die das Bedürfnis verspürten, Abschied zu nehmen. Diese Schritte waren hilfreich und tröstlich für die Familie. In der Schule des Jungen fand eine eigene Abschiedsfeier statt. Dies war ein gelungener Rahmen, um das betroffene schulische Umfeld einzubeziehen, aber leider nicht selbstverständlich. Ich war an der Entwicklung eines adäquaten Kontextes zur Verabschiedung beteiligt, indem ich aufgriff und vervollständigen konnte, was die Familie mitbrachte und für ihren Ausdruck suchte. Was tun, wenn keine Beteiligung gewünscht wird? Es gibt immer wieder Familien, in der der Tod einen Rückzug auslöst und in der eine Beteiligung eines (möglicherweise auch abgelehnten) Umfeldes nicht möglich ist. Es gibt eine zu beobachtende Tendenz, gerade die verstorbenen »Kinder« zu sich zurückzubringen, in den rein familiären Rahmen.

Hier sind mir möglicherweise die Hände gebunden. Trotzdem weiß ich, dass es Beteiligung geben könnte. So habe ich der Freundin einer Verstorbenen ermöglicht, im Krematorium dabei zu sein, als die Verstorbene dem Feuer übergeben wurde. Die Familie hatte kein Bedürfnis gehabt, selbst in diesem Moment dabei zu sein, und keinen Einwand gegen die Begleitung durch die Freundin. In einem anderen Fall wurde das Umfeld von der Trauerfeier ausgeschlossen. Hier haben Interventionen dazu beigetragen, dass das Umfeld eine eigene Trauerfeier organisieren konnte. In der Regel ist es immer möglich, über kreative Ansätze und mit Beteiligung des suchenden Umfeldes eine Form des Ausdrucks zu finden, der unabhängig von der Familie stattfinden kann. Die Motive einer Familie für den Ausschluss eines Umfeldes sind manchmal nur schwer oder gar nicht nachzuvollziehen, müssen aber unbedingt respektiert werden, denn wir kennen die Beweggründe nicht, die zu dieser Entscheidung führen. Für alle Beteiligten aber gilt: Es gibt keinen allein richtigen Weg durch die Trauer – es ist nur wichtig, eine wirkliche Wahl zu haben. Evelyn Schmidt, M. A. Soziologin, Sozialtherapeutin – Schwerpunkt Trauer, ist seit inzwischen zwanzig Jahren im Themenbereich Sterben, Tod und Trauern engagiert: Sie ist Sterbebegleiterin, Steinmetzin, Rednerin und Referentin, Bestatterin im Hamburger »trostwerk – andere bestattungen«. Hier hat sie das »Herzstück« in diesem Themenbereich für sich gefunden. E-Mail: [email protected] Website: www.trostwerk.de

Literatur Kachler, R.: Meine Trauer wird dich finden – Ein neuer Ansatz in der Trauerarbeit. Freiburg 2005. Kast, V.: Der schöpferische Sprung – Vom therapeutischen Umgang mit Krisen. München 1996. Lammer, K.: Trauer verstehen – Formen. Erklärungen. Hilfen. Koblenz 2004. Paul, C.: Neue Wege in der Trauer- und Sterbebegleitung. Gütersloh 2011. Trostwerk – andere bestattungen. Handout. Hamburg 2010. Worden, W.: Beratung und Therapie in Trauerfällen. Bern 2004.

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Rechtliche Betreuung von Engeln und Robotern Iris Peymann Als rechtliche Betreuerin arbeite ich mit Menschen, die ihre Angelegenheiten teilweise oder vollständig nicht mehr besorgen können. Also mit Menschen, die aufgrund einer Störung ihrer internen Disposition1 eine Störung mit ihrer Umwelt erfahren und so an der Teilhabe in der Gesellschaft behindert werden. Das Gesetz (BGB) sieht vor, dass Menschen dann ein Recht auf eine Unterstützung bei der Besorgung ihrer Angelegenheiten haben. Sie können auf eigene Anregung, Anregung Dritter oder von Amts wegen eine Betreuung erhalten (§ 1896 BGB). Die Betreuung wird durch ein gerichtliches Verfahren eingesetzt, ist zeitlich begrenzt und der Auftrag wird in sogenannten Aufgabenkreisen (Gesundheitssorge, Vermögenssorge, Behördenangelegenheiten, Wohnungs-/Heimangelegenheiten und anderes mehr) vom Betreuungsgericht festgelegt. Die Betreuerin hat den Auftrag, die Wünsche und das Wohl der Klientin zu beachten und umzusetzen, soweit es nicht gegen Gesetze verstößt, und ist allein der Klientin verpflichtet. Sie hat keinen pädagogischen und/oder therapeutischen Auftrag. Die rechtliche Betreuung ist eine Unterstützung und Zurüstung zum Selbstmanagement und zur Selbstverantwortung2, um Selbstbestimmung und Teilhabe herzustellen, zu sichern und/oder zu entwickeln. Eine Besonderheit der rechtlichen Betreuung besteht darin, dass es die einzige Unterstützungsform ist, die auch eine ersetzende Entscheidung ermöglicht. Ersetzend bedeutet, dass im Notfall der Betreuer für die Klientin rechtswirksame Entscheidungen treffen kann, wenn diese hierzu nicht in der Lage ist (zum Beispiel im Koma liegt) oder sich in einem nicht einwilligungsfähigen Zustand (akuter psychotischer Schub, Demenz) befindet.

Der Betreuerberuf ist noch sehr jung und uralt zugleich. Er hat eine jahrausendalte Vorgeschichte in der Vormundschaft, in der es vor allem um Sicherung des (Familien-)Vermögens infolge von »Trunksucht« oder geistiger Beeinträchtigung (»Schwachsinn«) ging. Erst 1992 wurde das Vormundschaftsrecht zugunsten des Rechtsinstituts der Betreuung abgeschafft. Damit ist auch die Entmündigung Erwachsener obsolet geworden. Das Gesetz zur rechtlichen Betreuung (Betreuungsgesetz – BtG) gilt als ein großer Wurf, da es erstmalig um das Individuum und um seine Wünsche und sein Wohl ging. Die Einzelperson steht im Mittelpunkt, nicht die Sippe oder der Clan. Es geht auch in der Unterstützung nicht darum, den Klienten für die Umwelt »passend« zu machen, sondern ihn in seinen Wünschen zu unterstützen. Sicherlich hat auch die Psychiatrie-Enquete in den 1970er Jahren zu einer Veränderung in der Betrachtungsweise von Menschen vor allem mit psychischen Beeinträchtigungen geführt und damit Einfluss auf die Reform des Vormundschaftsrechts gehabt. In der Regel kommt es zur Einrichtung einer Betreuung, • wenn die eigenen Kompetenzen zur Lösung von Problemlagen nicht ausreichen wie zum Beispiel bei Persönlichkeitsstörungen, Neurosen, Zwangserkrankungen, Sucht und Psychose, PTBS (Posttraumatische Belastungsstörung); • wenn in seelischen Krisen ein Entscheidungsund Handlungsbedarf und/oder Eigengefährdung besteht, wie zum Beispiel bei Suizidalität, Depression, bipolaren Störungen; • wenn der Mensch krankheitsbedingt selbst keinen Willen mehr ausdrücken kann, wie zum Beispiel bei Koma, Locked-in-Syndrom;

Leidfaden, Heft 3 / 2015, S. 55–59, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015, ISSN 2192–1202

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• wenn der Mensch keine rechtswirksamen Entscheidungen treffen kann, wie zum Beispiel bei Demenzen, HOPS (Hirnorganisches Psychosyndrom), kognitive Beeinträchtigungen; • wenn eine Körperbehinderung vorliegt, die einer Zurüstung zum Selbstmanagement bedarf, wie zum Beispiel bei Taub-Blindheit oder dauernder Bewegungsunfähigkeit.

les nicht so schlimm gewesen, wenn ihr Mann nicht dafür gesorgt hätte, dass sie – gegen ihren Willen – in die Klinik gekommen ist. Es kam also zu einer Unterbringung nach dem HmbPsychKG3. Nach den ersten Tagen habe sie sich auf eine Depotspritze und eine orale Medikation eingelassen.

Oft geht es in der Betreuung um Unterstützung in schwierigen und komplexen Problemlagen in Übergangssituationen.

Sie sei dann wieder klarer, aber auch müder geworden, die Engel seien in den Hintergrund getreten. Sie habe sich im Nachhinein furchtbar für ihr Verhalten während der akuten Phase geschämt. Sie hatte große Angst, das Sorgerecht für den Sohn zu verlieren. Dabei sei sie in der Familie doch die Managerin des Alltags. Ihr Mann könne durch seine Sehbehinderung viele Alltagsdinge nicht erledigen. Ihr Sohn benötige Hilfe und Unterstützung bei den Hausaufgaben. Die Wirkung der Depotgabe führte dazu, dass alle Fröhlichkeit und Leichtigkeit von ihr wichen. Nach der Entlassung aus der Klinik war sie zu Hause nur noch am Putzen und Aufräumen, immer in der Sorge, jemand könnte sie kritisieren oder für verrückt halten. Sie wollte die perfekte Hausfrau und Mutter sein. Ihr Mann bemerkte kritisch, dass sie an Gewicht zunahm, dass sie laut und monoton sprach und immer Sätze wiederholen musste. Ihr Sohn lud bald keine Freunde mehr zu sich ein, weil er fürchtete, dass sie über seine Mutter lachen könnten. Sie sprach da bereits wie ein Roboter. Frau T. fühlte nichts und funktionierte nur noch. Es störte sie selbst eigentlich nicht, aber ihre Familie rückte von ihr ab. Als ihr Mann ihr vorschlug, doch einmal mit der Behandlung aufzuhören, hörte sie auf. Sie tat immer, was ihr Mann und ihr Sohn ihr sagten. Eine eigene Meinung hatte sie nicht mehr.

Frau T.: Engel gegen Roboter Die Vorgeschichte Frau T. ist 45 Jahre alt, verheiratet und lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn (14 Jahre alt) zusammen. Ihr Mann ist blind und der Sohn leidet an ADHS. Die Familie erhält eine Hilfe zur Erziehung durch das Jugendamt/ASD (Allgemeiner Sozialer Dienst). Bei Frau T. wurde eine schizophrene Störung diagnostiziert, die bereits seit etwa 15 Jahren besteht. Frau T. stammt aus einer Familie, in der Gewalt und elterliche Konflikte an der Tagesordnung waren. Über diese »alten Geschichten« möchte sie nicht sprechen. Sie erhält eine Erwerbsminderungsrente und ihr Ehemann Leistungen der Grundsicherung. Das Geld ist immer knapp und so bestehen auch Schulden, die mühsam abgestottert werden müssen. Frau T. berichtete mir von mehreren Zwangseinweisungen und traumatischen Erfahrungen in der Psychiatrie in der Vergangenheit. Sie sei dort auch fixiert worden und man habe ihr Medikamente gespritzt, die sie in einen Zustand völliger Desorientierung und Apathie versetzt hätten. Dabei habe sie doch vorher lediglich mit Engeln gesprochen und diese auch beim Namen gekannt. Irgendwann seien ihr die Engel erschienen und hätten sie in ihrem Alltag begleitet. Das sei ein schöner Zustand gewesen. Sie habe sich unangreifbar gefühlt. Nach ihrer Auffassung wäre al-

Roboterphase

Engelphase Kurze Zeit nach dem Absetzen der Medikamente kamen die Engel zurück. Frau T. war sehr glück-

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Betreuung als Unterstützung Da Herr T. drohte, sich scheiden zu lassen, wurde während des erneuten Klinikaufenthaltes die Betreuung angeregt und schließlich eingerichtet. Mir wurden die Aufgabenkreise Gesundheitssorge mit Aufenthaltsbestimmung4 sowie die Behördenangelegenheiten übertragen. Ich habe Frau T. noch in der Klinik kennen gelernt. Sie war da schon wieder in der Metamorphose zum Roboter. Frau T. entschloss sich, in eine Frauenwohnunterkunft zu ziehen. Das mache ihr nichts aus, Hauptsache alles läuft »richtig«. In dieser Zeit hatte sie kaum Zugang zu ihren Gefühlen, auch nur wenig zu ihrer eigenen Biographie. Ihre Perspektive war, nicht wieder »auffällig« zu werden. Neben den roboterhaften Auswirkungen der antipsychotischen Medikation erlebte ich bei Frau T., dass sie an Selbstbewusstsein verlor, unsicher und ängstlich ihrer Familie, aber auch mir gegenüber wurde. Meine Versuche, mit ihr eine Absprache hinsichtlich einer erneuten krisenhaften Zuspitzung zu treffen, versandeten in ängstlicher Abwehr. Apathie und Gewichtszunahme setzten ihr erneut zu. Wir haben dann nach der Zeit des Kennenlernens immer wieder über Sinn und Zweck der medikamentösen Behandlung gesprochen und eines Tages war sie so weit, dass sie nach einem der selten gewordenen Treffen mit ihrem Sohn beschloss, sich gegen den »inneren Roboter« zu entscheiden. Unser Kontakt war mittlerweile so gewachsen, dass sie bereit war, eine Unterstützung anzunehmen. Statt erneut die Medikamente abzusetzen,

konnte ich sie zu einem gemeinsamen Gespräch in der Institutsambulanz der Klinik überzeugen. Das Gespräch ergab, dass es durchaus noch eine Behandlungsalternative für Frau T. gab. Bei einem freiwilligen Klinikaufenthalt über drei Wochen wurde die Medikation umgestellt. Dies führte zu einer Stabilisierung ihrer psychischen Situation – weder der Roboter noch die Engel dominierten jetzt ihre Befindlichkeit. Mit der Familie kam es zu einem erneuten »Versuch des Zusammenlebens«, wobei sie auch noch ein eigenes Zimmer bei einer Freundin hat, in das sie sich zurückziehen kann, wenn ihr »wieder alles über den Kopf wächst«. Frau T. benötigt weiter keine sozialpsychiatrischen Hilfen, aber Unterstützung bei den Behördenangelegenheiten. Sie hat sich gut arrangiert. Ihren Mann hat sie überzeugt, an einer Angehörigengruppe teilzunehmen. Frau T. ist sich im Klaren, dass auch die veränderte Medikation Auswirkungen hat. So ist sie nun entschieden, sich selbst weniger unter Druck

Subspekt / photocase.de

lich. Endlich konnte sie wieder lachen und weinen. Beschwingt ging sie durch den Alltag – nein, eher flog sie. Sie wurde auch wieder rank und schlank wie früher und ihr Mann machte ihr Komplimente. Als sie dann irgendwann auch in der Nacht den Impuls hatte, den Menschen als Engel zu erscheinen, denn schlafen musste sie nicht mehr, kam es auf Intervention des Ehemannes zu einem erneuten Klinikaufenthalt gegen den Willen von Frau T.

Tr a u e r h a t S y s t e m

5 8   I r i s Pe y m a n n

zu setzen, mehr Ruhezeiten einzuhalten, auch Sport zu treiben, damit die Nebenwirkungen (Gewichtszunahme) nicht so zuschlagen können. Ganz klar ist, dass sie nicht mehr in die Roboter­situation kommen will, um keinen Preis – im Zweifel dann lieber wieder die Engelphase. Damit ich weiß, wie ich sie im Krisenfall »richtig« unterstützen kann, haben wir gemeinsam eine Engel-Roboter-Skala entwickelt, die von der Familie, ihr und gegebenenfalls von mir ausgefüllt wird und notfalls zu einer erneuten – aber dann im Vorwege vereinbarten – Unterbringung nach BGB5 durch mich führen kann.

informiert. Ab Skalenwerten von –5 bis +5 wird Frau T. zu ihrem Arzt gehen und mit ihm die Situation erörtern. Einen Unterbringungsantrag werde ich frühestens stellen, wenn die Werte bei –7 oder +7 liegen. In der Klinik werde ich dafür sorgen, dass Frau T. möglichst nur einen Wirkstoff, aber nicht mehr als zwei Wirkstoffe erhält. Der nächste anstehende Schritt ist, zu einer Monotherapie zu kommen. Es ist nicht leicht, die Ärzte von einer Reduktion zu überzeugen, da auch immer ein Rückfallrisiko besteht. Das allerdings wäre Frau T. bereit zu tragen, wenn es ihr damit dauerhaft besser gehen würde und sie ihrem Körper weniger Nebenwirkungen zumuten müsste.

Roboter 0 Engel –10 –5 –3 –1 +1 +3 +5 +10

Lebenslagenmodell

Im Bereich von –3 bis +3 bei der Fremd- und Selbsteinschätzung ist alles okay. Werden Einschätzungen ab –4 oder +4 genannt, werde ich

Diese Fallentwicklung ist beispielhaft für systemische lösungsorientierte Unterstützung, um Teilhabe und Selbstbestimmung zu ermöglichen. Die

Lebenslagenkonzept als Diagnoseverfahren Besorgung: Zurüstung zur internen Disposition Außenwelt: materielle, kulturelle Rahmenbedingungen Biographie: »Rekonstruktion allg. Strukturen und Prozesse«

Perspektive: Ziele / Lebensentwurf Interne Disposition: Vermögen, Lebensentwurf umzusetzen

Abbildung 1: Lebenslagenmodell6

Lebenslage: Raum zur Befriedigung von Interessen Besorgung nur bei Zurüstung zur internen Disposition

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rechtliche Betreuung macht kranke und behinderte Menschen zu aktiven Teilnehmern im Sozialstaat und im Gesundheitswesen und garantiert so ihre Menschenwürde. Es geht also um eine unterstützte Entscheidungsfindung, um gleichberechtigt an der Gesellschaft teilhaben zu können. Bei der Analyse des Unterstützungsbedarfs arbeiten wir mit dem Lebenslagenmodell (Abbildung 1). Es geht von einem Vier-Achsen-Modell aus, auf dem sich die Biographie und die Lebensperspektive auf der Waagerechten gegenüberstehen. Sie wird senkrecht gekreuzt von den äußeren Rahmenbedingungen (Wohnen, Einkommen, Familie, Beruf, Freizeit) und der internen Disposition, also dem Vermögen, den eigenen Lebensentwurf umzusetzen und dafür auch in Selbstverantwortung zu gehen. Bei Frau T. waren die Rahmenbedingungen weitgehend geklärt. Hier hatte sie auch selbst genug Kompetenzen und Fähigkeiten, ihre Angelegenheiten selbst zu besorgen, außer allerdings im akuten Krankheitszustand. Im Bereich der Biographie fehlte ihr der Zugang zur eigenen Herkunft und jetzigen familiären Situation und es ist nur durch die Unterstützung im Rahmen der Betreuung gelungen, den Zugang nach ihren Wünschen wiederherzustellen und Ziele zu entwickeln. Die Betreuung als Be-sorgungsleistung – im Gegensatz zur therapeutischen, medizinischen oder pädagogischen Ver-sorgungsleistung – hat den Auftrag Selbstsorge und Selbstverantwortung zu unterstützen und gegebenenfalls zu ersetzen sowie für notwendige Versorgungsleistungen zu sorgen. Als Arbeitsfeld der systemischen Beratung und Unterstützung wird die rechtliche Betreuung in Anbetracht der Zunahme von Betreuungen durch demographische Entwicklungen, aber auch der Zunahme von psychischen Erkrankungen ganz generell und der Anforderungen durch die auch in der Bundesrepublik seit 2009 gültige UN-Behindertenrechtskonvention sicher noch an Bedeutung gewinnen. Die rechtliche Betreuung ist ein geeignetes Instrument, um Autonomie, Teilhabe und Selbstbestimmung zur garantieren.

Iris Peymann, rechtliche Betreuerin, Mitglied im Bundesvorstand des Bundesverbands der Berufsbetreuer/-innen BdB-e. V., systemische Beraterin und Supervisorin (DGSF), Supervisorin am HISW (Hamburgisches Institut für Systemische Weiterbildung). E-Mail: [email protected] Anmerkungen 1

Das Vorliegen einer psychische Krankheit, einer geistigen, seelischen oder körperlichen Behinderung, aufgrund derer ein Volljähriger seine Angelegenheiten nicht mehr selbst besorgen kann, siehe § 1896 BGB. 2 Selbstmanagement ist die Kompetenz, die eigene persönliche Entwicklung weitgehend unabhängig von äußeren Einflüssen zu gestalten. Selbstverantwortung: Möglichkeit, Fähigkeit und Pflicht, für das eigene Reden, Handeln und Unterlassen Verantwortung (für sich selbst) zu tragen. Klaus Förter-Vondey, PPP Beiratsitzung des BdB-e. V. 15. 12. 2012. 3 HambPsychKG: Hamburgisches Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten. Dieses Gesetz regelt die Voraussetzungen für freiheitsentziehende Unterbringungen, falls eine Gefährdung Dritter oder eine Selbstschädigung aufgrund psychischer Krankheiten zu befürchten ist. Diese Form der Unterbringung wird als öffentlich-rechtliche Unterbringung bezeichnet. 4 Der Aufgabenkreis der Gesundheitssorge mit Aufenthaltsbestimmung bedeutet, dass ich im Fall einer erneuten psychotischen Krise einen Antrag auf Unterbringung zum Zweck der Heilbehandlung nach BGB (§ 1906) stellen kann, der bei gerichtlicher Genehmigung zu einer Zuführung in die Klinik und einen Aufenthalt auch gegen den Willen der Klientin führen kann. 5 § 1906 BGB: Genehmigung des Betreuungsgerichts bei der Unterbringung (1) Eine Unterbringung des Betreuten durch den Betreuer, die mit Freiheitsentziehung verbunden ist, ist nur zulässig, solange sie zum Wohl des Betreuten erforderlich ist, weil 1. auf Grund einer psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung des Betreuten die Gefahr besteht, dass er sich selbst tötet oder erheblichen gesundheitlichen Schaden zufügt, oder 2. zur Abwendung eines drohenden erheblichen gesundheitlichen Schadens eine Untersuchung des Gesundheitszustands, eine Heilbehandlung oder ein ärztlicher Eingriff notwendig ist und ohne die Unterbringung des Betreuten nicht durchgeführt werden kann und der Betreute auf Grund einer psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung die Notwendigkeit der Unterbringung nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln kann. (2) Die Unterbringung ist nur mit Genehmigung des Betreuungsgerichts zulässig (…) 6 Entwickelt von Klaus Förter-Vondey, BdB-e. V. in Anlehnung an Prof. Dr. Wolf Rainer Wendt, Case Management im Sozial- und Gesundheitswesen, Lambertus-Verlag, 5. Auflage, März 2010.

Tr a u e r h a t S y s t e m

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Am selben Strang ziehen? Rollenklärung im multiprofessionellen Team

Sonja Hofmann In der palliativmedizinischen Behandlung soll Durch unterschiedliche Aspekte innerhalb der Mensch in seiner Gesamtheit im Mittelpunkt der Organisationsstruktur können Teamprozesse stehen. So geht es in der Definition von Palliativ- einer heterogenen Gruppe gefördert werden. Um medizin der Weltgesundheitsorganisation neben eine gute Basis für die Kommunikation über die dem Vorbeugen und Behandeln körperlicher Be- Aufgabenverteilung zu schaffen, gilt es als wichtig, schwerden auch darum, den Patienten1 in Be- dass die Rollen der Teammitglieder von allen Bezug auf psychisches, soziales und spirituelles Leid teiligten verstanden und akzeptiert sind und dass Unterstützung anzubieten. Außerdem soll die Fa- sie voneinander unterschieden werden können milie der Patienten so einbezogen werden, dass (Israel 2013). In der Palliativmedizin stellt hier neben der Lebensqualität der Patienten auch die insbesondere die klare Abgrenzung der Rollen der Angehörigen verbessert wird (WHO). Um innerhalb des Teams eine große Herausforderung diesem Ziel angemessen begegnen zu können, dar. Die Rollen der verschiedenen Mitarbeiter/sind Palliative-Care-Teams multiprofessionell -innen in Palliative-Care-Teams überschneiden zusammengesetzt. Neben Ärztinnen und Pfle- sich häufig. Zusätzlich hängt das Gelingen palgekräften sind zum Beispiel auch Sozialarbeiter, liativmedizinischer Unterstützung auch davon ab, Physiotherapeutinnen, Psychologen und Seelsor- wie gut Patienten und Angehörige die Rollen der gerinnen an der Behandlung beteiligt. Auch eh- Behandler auseinanderhalten können und auch renamtlich Tätige sind ein wichtiger Faktor in der welche Rolle sie letztendlich den jeweiligen Teampalliativmedizinischen Behandlung. mitgliedern zuweisen. Zum Beispiel finden PhyIn einer solch bunten Mischung von Kolle- siotherapeuten während der körperorientierten ginnen und Kollegen besteht häufig ein erhöhtes Arbeit vielfach gleichzeitig Zugang zur seelischen Konfliktpotenzial, und je größer das Team wird, oder psychischen Befindlichkeit der Patientin. desto höher wird auch der Koordinationsaufwand. Jedes Teammitglied trägt zur individuellen Bei größeren Gruppen ist außerdem die Wahr- Note des Teamprozesses bei, indem unterschiedlischeinlichkeit hoch, dass sich Mitarbeiter/-in- che Persönlichkeitsanteile je nach Kontext einflienen in Untergruppen zusammentun (Israel 2013). ßen (Israel 2013). Und ähnlich wie Hermann HesDie Zusammensetzung eines Teams aus Mit- se es in seinem Roman »Der Steppenwolf« (1927) arbeiter/-innen unterschiedlicher Berufsgruppen, schreibt, dass jeder »die Stücke jederzeit in beliewie sie typischerweise im palliativmedizinischen biger Ordnung neu zusammenstellen (…) kann«, Kontext zu finden ist, bringt jedoch auch Vortei- so können sich Mitarbeiter/-innen darin üben – le mit sich. Sie birgt ein breites Fachwissen und »Wie der Dichter aus einer Handvoll Figuren ein bietet die Chance für innovatives Denken und Drama schafft« –, ihre unterschiedlichen Persönkreative Problemlösungsprozesse (Israel 2013). lichkeitsanteile, wie Figuren in einem Theater­ Damit sind wichtige Grundlagen geschaffen, um ensemble, entsprechend der Situation auszurichoptimal auf die Bedürfnisse der palliativmedizi- ten (Schulz von Thun 2013). Da »keine Vielheit nischen Patientenklientel einzugehen. ohne Führung, ohne eine gewisse Ordnung und

Leidfaden, Heft 3 / 2015, S. 60–62, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015, ISSN 2192–1202

A m s e l b e n S t r a n g z i e h e n ?    6 1

Tr a u e r h a t S y s t e m

© m.schröer

In einer solch bunten Mischung von Kolleginnen und Kollegen besteht häufig ein erhöhtes Konfliktpotenzial, und je größer das Team wird, desto höher wird auch der Koordinationsaufwand.

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Gruppierung zu bändigen ist« (Hesse, Der Steppenwolf), kann dieser Prozess gefördert werden, indem Mitarbeiter/-innen zum Beispiel mit Hilfe von Supervision darin unterstützt werden, ihre eigene Vielfalt zu erforschen und gemäß der jeweiligen Rollenanforderung möglichst gut zu arrangieren. Dieser kreativen Vielfalt innerhalb eines Palliative-Care-Teams muss mit entsprechenden Organisationsstrukturen begegnet werden, die den multiprofessionellen Austausch fördern, wie zum Beispiel: • täglich mehrfache Übergaben in verschiedenen Subteams, • multiprofessionelle Team-Kurvenvisiten, • multiprofessionelle Patientenvisiten mit Vorund Nachbesprechung, • Teambesprechungen, • ausführliche Dokumentation.

Organisationsstrukturen können für das Team vor und während der Behandlung von Patienten und Angehörigen eine Unterstützung darstellen, um zu klären, an welchem Strang gezogen werden soll, und sicherzustellen, dass dabei auch alle in dieselbe Richtung ziehen. Um jedoch die Vorteile eines multiprofessionellen Teams tatsächlich nutzen zu können, bedarf es zusätzlich einer Atmosphäre der Wertschätzung, in der alle Beteiligten bemüht sind, gemeinsam das Beste aus der Vielfalt des Teams zu kreieren (Israel 2013). Sonja Hofmann ist in der Palliativmedizinischen Abteilung des Universitätsklinikums Erlangen beschäftigt. Neben der Begleitung der Betroffenen arbeitet sie dort als Qualitätsmanagementbeauftragte und Leiterin des Teams »Weitere Berufsgruppen«. Sie hat Weiterbildungen absolviert in Systemischer Therapie und Beratung (IGST), Psychosozialer Onkologie (WPO), Palliative Care (DPG), Achtsamkeit und Akzeptanz in der Psychotherapie (IAS). E-Mail: [email protected]

Es gilt, Ziele und Unterziele in der Begleitung von Patienten und Angehörigen festzulegen und regelmäßig zu überprüfen, Rollenüberschneidungen zu klären und entsprechend Aufgaben an einzelne Mitarbeiter/-innen zu verteilen. Wichtig ist auch, dass die Organisationsstrukturen die Einbindung von Patientinnen und Angehörigen unterstützen. Hier kann beispielsweise Informationsmaterial über das Team und seine unterschiedlichen Berufsgruppen nützlich sein. Auch das Angebot von Familiengesprächen hat sich in der Praxis bewährt (Hudson, Thomas und Quinn 2009).

Literatur Hesse, H.: Der Steppenwolf. Berlin: S. Fischer. 1927. Hudson, P.; Thomas, T.; Quinn, K.: Family meetings in palliative care: are they effective? In: Palliative Medicine, 2009, 23, S. 150-157. Israel, S.: Wie kann aus einem losen Bündel Individualisten ein Dream-Team werden? In: Johann, T.; Möller, T. (Hrsg.), Positive Psychologie im Beruf. Wiesbaden 2013, S. 133–144. Schulz von Thun, F.: Miteinander reden: 3. 22. Auflage. Reinbek 2013. WHO. WHO Definition of Palliative Care, www.who.int/ cancer/palliative/definition/en/ (Stand 25.02.2015). Anmerkung 1

Im Sinne einer geschlechtersensiblen Sprache sind Frauen und Männer wechselseitig gleichermaßen mitgemeint.

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»Wie kann es weitergehen …?« Entlassung aus dem Krankenhaus als Anlass zu systemischer Verständigung

Birgitta Hadatsch-Metz Zum Vorverständnis der Ausgangslage und Perspektive der Autorin: Ich bin Psychotherapeutin (Systemische Therapie) und arbeite seit über 15 Jahren in einem Akutkrankenhaus, blicke somit auf eine langjährige Erfahrung in der Behandlung und Begegnung mit Menschen mit einer (fortgeschrittenen) Krebserkrankung zurück. Zugleich bin ich (Gründungs-)Mitglied des 2005 gegründeten Multiprofessionellen PalliativKonsiliar-Dienstes (MPKD). Die Veröffentlichung meines Arbeits- und Ausbildungskontextes ist mir deshalb wichtig, da dieser die Sichtweise mitbestimmt, die diesem Beitrag zugrunde liegt. Ich maße mir nicht an, die absolute Wahrheit abzubilden, was nach systemischen Gesichtspunkten auch gar nicht möglich ist. Andere Berufsgruppen würden möglicherweise andere Schwerpunkte treffen. Gleichzeitig hoffe ich, dass dieser Beitrag Horizont erweiternde Ideen, hilfreiche Sichtweisen und Vorgehensweisen generiert sowie das Verständnis für andere Systeme und somit förderliche Kommunikationsweisen anregt. Wie kann es weitergehen …? Diese Frage stellt sich bei einer Krankenhausentlassung dann, wenn zumindest bei einigen Beteiligten das Gefühl auftaucht, dass es nicht (mehr) so wie bisher weitergehen kann: wenn das Leben zu Hause unter den gegebenen Bedingungen nicht mehr möglich erscheint, etwa weil die bereits pflegenden Angehörigen zusammenzubrechen drohen, wenn (vielleicht erstmals) die Frage

aufkommt, ob ein selbstständiges Leben des erkrankten Menschen überhaupt noch möglich ist. Dann gilt es, Kommunikationsprozesse in Gang zu setzen, die – wenn es gut geht – am Ende in eine für alle passende Lösung münden. Wie wir wissen – und manche es hautnah auch schon erlebt haben –, ist dies nur selten der Fall. An der Schnittstelle zwischen extra- und intramuralen Bereichen treffen Systeme mit sehr unterschiedlichen Bedürfnissen, (geheimen und offiziellen) Aufträgen, Arbeitsweisen, Kommunikationsweisen, Zeithorizonten und anderem mehr aufeinander: Jedes System kommuniziert vor dem Hintergrund der je eigenen »Kultur« und ist nur von daher zu verstehen. Systemische (Un-)Übersichtlichkeit Wie können wir uns diesen Kulturunterschieden der verschiedenen Systeme annähern? Zunächst wird die Komplexität sogar noch erhöht, indem nicht nur zwischen Krankenhaus- und Patientensystem als kommunikative Umwelten von Krankheit (vgl. Schweitzer und von Schlippe 2007, S. 337) unterschieden wird, sondern auch diese noch weiter aufgefächert werden. Je nach Situation und den in Anspruch genommenen Leistungsträgern umgeben den erkrankten Mensch als »Kommunikationsanlass« dessen Angehörige, das Krankenhaus mit seinen verschiedenen Einheiten wie Entlassungsmanagement, Bettenstationen (Interne, Onkologie, Chirurgie …), Verwaltung, Konsiliardienste der Klinische Psychologie/Psychotherapie, Krankenhausseelsorge, Diätberatung

Leidfaden, Heft 3 / 2015, S. 63–66, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015, ISSN 2192–1202

Ein eindrückliches Bild: Es brauchte Bretter von beiden Seiten, um einander begegnen zu können.

und so weiter. Hinzu kommen die extramuralen Dienste wie Hauskrankenpflege, Hausarzt/Hausärztin, mobiles Palliativteam und Hospizdienst, Heimhilfe, 24-Stunden-Pflege etc. Einige davon sollen hier ausschnitthaft herausgegriffen werden. Schnittstellen sind Orte der »Grenzerfahrung«: Die Grenzen der einzelnen Systeme werden sichtbar und spürbar. Grenzen können abgrenzen im Sinne von »das ist nicht (mehr) meine Angelegenheit« wie auch angrenzen und so ein »In-Berührung-Kommen« eröffnen. Kulturen systemischer Verständigung So lade ich Sie ein zu einer Reise durch die verschiedenen Kulturen der systemischen Verstän-

digung. Beginnen wir im Krankenhaus: Ökonomische Rücksichten und Sicherheitsaspekte bestimmen das Handeln der Beteiligten, vor allem Ärzteschaft und Pflegepersonal sind bewegt vom Drang und Zwang, auf dem neuesten Wissensstand zu sein. Und dies in einem Zeitalter, in dem sich circa alle vierzig Minuten das Wissen auf der Welt verdoppelt. Dokumentation besitzt einen hohen Stellenwert, was die Zeit für direkte Patientenkontakte reduziert. Die Möglichkeiten, Patienten und Patientinnen mit ihrer Geschichte und ihren jeweiligen Bedürfnissen näher kennenzulernen, sind zunehmend eingeschränkt. Die Uhr als Taktgeber bestimmt den Tagesablauf. Leitungsfunktionen sind zudem häufig von Berufsgruppen besetzt, die ihren Beruf ursprüng-

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Alfred Sisley, Sous le pont de Hampton Court (Unter der Brücke von Hampton Court), 1874 / akg-images

»W i e k a n n e s w e i t e r g e h e n   … ? «    6 5

lich aus einer »Helfen-Motivation« heraus angetreten haben; so gibt es bisweilen nur wenig Verständnis für Führungshandeln, Rollen und Funktionen sowie strukturelle Gesetzmäßigkeiten. Daraus resultiert dann ein Personalisieren von Konflikten, was auch durch entsprechende Organisationskulturen bereits programmiert ist. Das ärztliche Personal – schon dieser Begriff ist angesichts der unterschiedlichen ärztlichen Fächer und deren unterschiedlichen Herangehensweisen möglicherweise eine unzulässige Reduktion von Komplexität – steht in der Spannung zwischen Berufsideal und konkret vorgefundener Situation, zwischen Lebenserhaltung um jeden (?) Preis und guter Lebensqualität bis zum Lebensende. Aktionistische Begriffe wie »die Krankheit be-

siegen«, »den Kampf ansagen«, »sich nicht unterkriegen lassen«, »in den Griff bekommen« zeugen vom Versuch, gefühlte Ohnmacht zu vermeiden, was jedoch die Kommunikation mit Patienten und deren Angehörigen (oft unausgesprochen) wie ein Hintergrundgeräusch beherrscht. Verrechnungssysteme, die Kurzaufenthalte finanziell »belohnen«, erzeugen zudem Druck, Patienten möglichst schnell zu entlassen. Somit sind Entlassungen gewissermaßen schon vor einer Krankenhausaufnahme geplant. Auf unvorhergesehene Komplikationen und Zustandsverschlechterungen kann so wenig flexibel reagiert werden, wenn dasselbe Bett aus Auslastungsgründen bereits am Nachmittag mit einem anderen Patienten/einer anderen Patientin zu belegen ist. Der schwerkranke Mensch und dessen Angehörigen sind angesichts der Frage »Wie kann es weitergehen?« mit vielen Entwicklungsaufgaben konfrontiert. Diese lassen sich nicht im Sekunden- und Minutentakt »abarbeiten«. Sie müssen gefühlt, oft auch durchlitten werden. Das braucht Zeit – gefühlte Zeit und nicht durch die Uhr getaktete Zeit (vgl. Rosa 2014). Vor allem wenn kranke Menschen und deren Angehörigen gerade erst mit einer entsprechenden Diagnose konfrontiert worden sind, stellt der Druck, gleichzeitig eine Entscheidung treffen zu müssen, wie es nach dem Krankenhausaufenthalt weitergehen soll, eine massive Überforderung dar. Sind damit doch oft tief greifende existenzielle Veränderungen verbunden, wie zum Beispiel der endgültige Abschied vom bisherigen Wohnort. So darf es nicht verwundern, dass für diese Menschen Entlassung (noch) kein Thema ist. Im institutionellen Kontext der entsprechenden Organisationslogik kann dies rasch bewertet werden wie »die Patientin ist nicht compliant« oder »er will die Situation nicht wahrhaben und verdrängt, wie es um ihn steht«. Angehörige des klinisch-psychologischen beziehungsweise psychotherapeutischen Dienstes und auch der Krankenhausseelsorge bewegen sich in der Spannung zwischen den Zeitvorgaben der

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6 6   B i r g i t t a H a d a t s c h - M e t z

getakteten Organisation und der Notwendigkeit, Zeit-Räume für das vielfältige Veränderungs- und Verlusterleben der betroffenen Menschen herzustellen. Oftmals müssen sie Übersetzungshilfe zwischen Organisation, Patient/-in und dessen/ deren Angehörigen leisten. Das Zusammenspiel zwischen dem kranken Menschen und seinen Angehörigen/Zugehörigen an diesen kritischen Wendepunkten ist wesentlich beeinflusst von der bisherigen wechselseitigen Kommunikation und der gemeinsamen biographischen Geschichte. Inwieweit war es früher möglich, über Freuden, Ängste und Sorgen offen zu reden, Konflikte und unterschiedliche Bedürfnisse wahrzunehmen und fair auszutragen? Welche »unerledigten Geschäfte« machen es den Angehörigen schwer, sich auf die gegebene Situation aktiv einzulassen? Wird deren Verhalten (von außen gesehen) möglicherweise als Quittung für deren bisherige Lebensweise gedeutet? Gelingt es in dieser Situation, auch die Sorgen und Nöte der »überlebenden« Angehörigen in den Blick zu nehmen, wie etwa der Wunsch nach einer finanziellen Regelung nach dem Ableben der kranken Person? All dies überträgt sich in irgendeiner Weise auf die Kommunikation mit Angehörigen des Gesundheitssystems. Das Entlassungsmanagement (Sozialdienst, Brückenschwester, welche Namen auch immer dafür verwendet werden) ist förmlich der Kristallisationspunkt, wo die unterschiedlichen Kulturen und Aufträge aufeinanderstoßen. Jedoch sind diese Dienste keine neutralen Orte, an denen die Unterschiede aus einer Metaperspektive verhandelt werden könnten, sondern sie sind selbst – je nach Verortung in der Organisationsstruktur und der beruflichen Herkunft der handelnden Personen – mit sehr unterschiedlichen Aufträgen und Loyalitäten konfrontiert. Es macht schon vom Selbstverständnis her einen beträchtlichen Unterschied, ob dieser Dienst von einer Pflegeperson oder einer/einem diplomierten Sozialarbeiter/in ausgeübt wird.

Das Entlassungsmanagement stellt meist auch den Kontakt zu den extramuralen Diensten her und »bringt diese ins Spiel«. Alles Weitere wird wesentlich davon abhängen, ob und inwieweit es gelingt, intra- und extramurale Behandlungs- und Betreuungsziele abzuklären und zu vereinbaren, manchmal mühsam zu erringen und anzupassen, insbesondere wenn kranke Menschen immer wieder stationär aufgenommen werden müssen. Die österreichische Stadt Hardegg (im Waldviertel), an der Thaya gelegen, direkt an der Grenze zu Tschechien, verbindet eine Brücke mit dem Nachbarstaat. Diese war bis zur Ost-Öffnung nur von österreichischer Seite aus mit Brettern belegt, damit man zumindest bis zur Mitte der Brücke gehen konnte. Nach 1989 kamen die Bretter auf der anderen Seite hinzu. Erst dann konnten die Menschen der beiden Staaten zueinanderkommen. Ein eindrückliches Bild: Es brauchte Bretter von beiden Seiten, um einander begegnen zu können. Auf unser Thema bezogen: Welche Bretter der Begegnung und Verständigung (zwischen Professionen und Organisationen) bedarf es? Wer macht den Anfang? Inwieweit gelingt es, mich und meine eigene Perspektive zu relativieren, das heißt in Beziehung zu setzen zu den anderen Anliegen und Interessen, Grenzen und Möglichkeiten? Birgitta Hadatsch-Metz, Psychotherapeutin (SF) und Juristin, langjährige Bereichsleiterin für Klinische Psychologie und Psychotherapie im St. Josef Krankenhaus, Wien. Sie ist Psychotherapeutin in eigener Praxis mit den Schwerpunkten Psychoonkologie, Palliative Care, Traumatherapie sowie Supervisorin im Sozial- und Gesundheitswesen. E-Mail: [email protected] Literatur Rosa, H.: Beschleunigung und Entfremdung. Berlin 2014. Schweitzer, J.; Schlippe, A. von: Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung II. Göttingen 2007.

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Besser keine als diese Familie Werner Grafen Geboren wurde ich als drittes Kind und erster Sohn in eine unruhig lebende Familie 1957 in der DDR. Zur Zeit meiner Geburt war mein Vater, Ulrich Meyer, in den Westen gegangen in den Kohlenbergbau. Er war als Landwirt in einer LPG gescheitert. Meine Eltern wurden in Berlin geboren, als Kinder von Wanderarbeitern aus Pommern und Schlesien, auf der Suche nach Arbeit und Wohnraum. Der arbeitslose Vater meines Vaters, Erich Meyer, war Mitglied in der SA. Er habe diese zur Machtergreifung wieder verlassen und sei an Gräueltaten der Jahre davor und danach nicht beteiligt gewesen, wurde erzählt. Die Mutter meines Vaters, Katharina, eine gelernte Wäscherin und Büglerin, hielt mit ihrer Arbeiten die Familie über Wasser, mein Großvater blieb in der frühen Zeit des »Dritten Reichs« arbeitslos. Meine Mutter, Erna Spielvogel, wuchs als einziges Kind, auf sich selbst gestellt, auf, da die Eltern den ganzen Tag der Arbeit nachgingen. Erna erzählte, sie war ein Schlüsselkind. Im Krieg wurde ihr Vater Erich Spielvogel eingezogen und war in Russland verschollen; Erna wurde von ihrer Mutter zu den unfreundlichen Großeltern nach Schlesien gegeben. Die Ehe ihrer Eltern war nie glücklich, das Verschwinden des Vaters erübrigte die Scheidung. Auch der Vater meines Vaters war im Zweiten Weltkrieg Soldat, konnte sich aus Kampfhandlungen heraushalten und auch der Gefangenschaft entkommen. Beide Eltern wuchsen in unglücklichen und rauen Familien auf, ohne präsente Väter, mit wenig liebevollen, strafenden und abwesenden Müttern. Mein Vater litt noch als Erwachsener unter Eifersucht gegenüber seinem jüngeren Bruder. Zur älteren Schwester war das Verhältnis distanziert, nicht unfreundlich. Ich habe meinen Vater

und seine Geschwister nie wie Geschwister erlebt. Meine Beziehung zu meinen Geschwistern war, ausgenommen von der Adoptivschwester, selten herzlich und die zu meiner jüngeren Schwester geprägt von Konkurrenz um das Wenige, was meine Eltern an Achtsamkeit zu geben hatten. Mein Vater, geboren 1931, war in seinen Geschichten, mit seiner Kindheit im kriegsgeprägten Berlin, der tolle Bursche. Sein wirkliches Leben war von extremen Stimmungsschwankungen geprägt. Oft auftretende Aggressivität, die er in recht brutalem Verhalten uns und seiner Frau gegenüber lebte, wurde abgelöst von Phasen des Ein-guterVater-sein-Wollens. In allen Zeiten war er autoaggressiv, sichtbar in der Tablettensucht und exzessivem Trinken zu allen Gelegenheiten. Er wollte ein ganz besonderes Weihnachtsfest feiern, das uns Kinder faszinieren sollte, mit erdachten Ritualen, brennenden Kerzen am Weihnachtsbaum und einem Einlass ins festliche Wohnzimmer unter Glockengeläut von der Weihnachtsplatte, das dann alkoholgeprägt endete. Einen Schluss fand er nie, wenn er einmal angefangen hatte zu trinken. Die Besäufnisse verliefen in einer wiederkehrenden Choreographie: Erst wurde er zusammen mit meiner durch den Alkohol lockerer werdenden Mutter immer fröhlicher, dann kam irgendwann eine Phase des tränenreichen Selbstmitleides, die dann unvermittelt in brutale Aggression gegen meiner Mutter und gegen die jugendlichen Kinder umschlagen konnte. In einer lärmenden Silvesternacht bin ich einmal erschreckt vom Geschrei und Schimpfen im Wohnzimmer erwacht. Meine jüngere Schwester und ich (11 Jahre alt) versteckten uns verängstigt in meinem Bett. Wir hatten schreckliche Angst um unsere Mutter, hörten Möbelrücken, Glas split-

Leidfaden, Heft 3 / 2015, S. 67–69, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015, ISSN 2192–1202

Kasimir Malewitsch, Drei weibliche Figuren, 1928 / 32 / akg-images

Beide Eltern wuchsen in unglücklichen und 6 8   We r n e r G r a f e n rauen Familien auf, ohne prä­sente Väter, mit wenig liebevollen, strafenden und abwesenden Müttern.

tern und trauten uns nicht aus dem Zimmer. Am nächsten Morgen lag der Fernseher auf der Terrasse vor der zerbrochenen Fensterscheibe. Die Mutter schwieg oder beschwichtigte und versorgte ihren verkaterten Mann. Meine älteste Schwester erzählte später, dass sie der Mutter zu entkommen half, nachdem er sie gewürgt hatte. Mein Vater konnte mit uns durch die Wohnung toben, uns kitzeln bis zum Umfallen, die heile Familie bei Sonntagsspaziergängen vorführen und mit mir als Abenteurer mit seinem Gewehr auf die Schwarzjagd gehen. Er brachte mir bei, einen Garten zu bestellen, Kleintiere zu züchten, und ich lernte, was man selbst machen kann; Handwerker konnten wir uns mit fünf Kindern nie leisten. Durch das Leben mit ihm lernte ich mit hoher Sensibilität auf seine schwankenden Stimmungen zu achten. Ganz plötzlich konnten ein Schlag ins Gesicht, ein grobes Rempeln oder ein Tritt erfolgen. Es geschah aus heiterem Himmel, so lernte ich, ausgestattet mit meiner angeborenen Sensibilität, genau zu beobachten, um mich rechtzeitig zu schützen. Dieses Training ist bis heute wirksam, es lässt mich automatisch die menschliche Umgebung beobachten und analysieren, jetzt ohne das lange Zeit wirksame Misstrauen. In meiner Kindheit wurde ich durch die-

sen Mann konditioniert, immer alle Antennen auf meine Mitmenschen zu richten und misstrauisch deren Stimmungen zu erforschen. Mein Vater wollte einen heldenhaften Sohn haben und war von seinem vorsichtigen, ängstlichen und wenig sportlich kleinen Sohn oft enttäuscht. Weinte ich, nannte er mich »Inge«. Der Druck war so stark, dass ich lange Bettnässer war, wofür ich vor allen Geschwistern lächerlich gemacht wurde. In anderen Nächten kam er nachts angetrunken in mein Zimmer setzte sich an mein Bett, umarmte mich und erzählte mir, er sei der große Bär und ich der kleine. Der nächste Tag war voller kindlicher Erwartungen, da war kein großer Bär mehr, sondern ein abweisender Vater. Bei anderer Gelegenheit wurde ich von meinem Vater mit dem Stock so heftig geschlagen, dass ich einnässte. Nach der Bestrafung stand ich bis auf das kurze Unterhemd nackt vor einer Schubladentruhe und nannte meinen Vater im Selbstgespräch Idiot. Der stand unbemerkt in der Nähe und riss mich noch fast nackt an den Armen durch die Wohnung und schubste mich in das Treppenhaus des Mehrfamilienhauses, in dem viele Kinder spielten. Ich stand weinend vor Schmerz, Scham und Wut, bettelnd um Verzeihung vor der versperrten Wohnungstür.

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B e s s e r k e i n e a l s d i e s e Fa m i l i e    6 9

In meiner Jugend wechselten die Ereignisse, Dramen, Geschichten und Entwicklungen, die ich durch meinen Vater erlebte. Es gab ein dauerndes Wechselbad der Interaktion mit prügelnden, demütigenden und ignorierenden Episoden. Die Schule wurde meine Gegenwelt, dort gab es Lehrerinnen und Lehrer, denen ich lernte zu trauen, die gütig, fördernd und anerkennend waren. Mein Interesse am Wissen führte dazu, dass ich die Geschichten meines Vaters anfing zu hinterfragen, und begann ich mit meinem Vater zu diskutieren, schrie er mich nieder. Er unternahm einen Suizidversuch, trat meine Zimmertür ein und ich verbrachte diese Nacht mit 16 Jahren auf der Straße. Während der Krankenpflegeausbildung kam es zum letzten Exzess. Mein betrunkener Vater brach wieder in mein Zimmer ein, während meine Freundin zu Besuch war, weil ich so nicht mit ihm reden wollte. In der Nacht bin ich ausgezogen. Meiner Mutter, sie war in einer Kur, bot ich an, bei der Trennung zu helfen, doch diese meinte, ebenso wie meine Großmutter, wer weiß, welchen Anteil ich an diesem Geschehen selbst hätte. Ich beschloss, den Kontakt zu meinen Eltern für immer zu beenden, und hatte nie einen Anlass, dies zu revidieren. Jahre später kam ich dem Phänomen meiner Familie näher. Ich las von der Idee Bourdieus, vom kulturellen Kapital, das man von den Eltern erbt. Damit sind Kulturtechniken gemeint, die man entsprechend der Erziehung mit ins Leben nimmt. Mir kam die Idee, dass es auch so etwas wie psychisches Kapital geben müsse, das man erbt, und dieses Erbe kann man nicht ausschlagen. Die Geschichte meiner Kindheit, meiner Eltern und Vorfahren ist geprägt von Gewalt, Missachtung, Kälte, Brutalität, Eifersucht unter den Kindern und Eifersucht auf die eigenen Kinder um die Zuwendung der Ehefrauen. Das Unglück ist über Generationen beobachtbar und hat sich bei meinen Geschwistern in die nächste Generation fortgesetzt wie ein Erbe. Es scheint nur den Weg zu geben, in diesem System zu bleiben, selber ignorant, schlagend, kalt für die Bedürfnisse der eigenen Kinder zu sein

und sich in Alkohol oder andere Süchte zu begeben oder aber den mühevollen Weg der leidvollen Auseinandersetzung mit seinem konfusen ererbten Selbstbild zu gehen. Nur die jahrelange Arbeit der inneren Auseinandersetzung, die nie ganz abgeschlossen ist, kann helfen, das über Generationen aufgehäufte negative emotionale Kapital abzuarbeiten, damit das eigene Leben liebevoll und glücklich werden kann. Zu Beginn eines Beratungsgesprächs, als einmal mehr die Gespräche mit sehr guten Freunden nicht mehr reichten, sagte mir ein Therapeut: »Überlegen Sie doch einmal, welche guten Seiten Ihr Vater gehabt hat!« Ich wurde sehr wütend. Aus heutiger Sicht, ich bin mir bewusst, wie krass das Bild ist, klingt für mich dieser Satz so, als würde man fragen, wie groß die positive Wirkung des Autobahnbaus der Nazis für die Arbeitslosen im »Dritten Reich« war. Systemisch was das vielleicht eine paradoxe Intervention, die mir gerade nicht geholfen hat. Wegen der Erlebnisse meiner Kindheit und Jugend habe ich nie eine Beratung aufgesucht, sondern immer wegen der tiefgreifenden Folgen auf mein Beziehungsleben, das auch ein Produkt meiner Wahl von Lebenspartnerinnen war. Im Zuge meiner eigenen systemischen Beraterausbildung bin ich dann in der widerwilligen Beschäftigung mit dem Genogramm und des daraus folgenden Prozesses der Bearbeitung, unterstützt durch meine Ausbildungstherapeuten, an einen für mich neuen Punkt in Bezug auf meine Familie gestoßen. Ich hatte auf einmal die Absolution für das, was ich Jahre zuvor beschlossen hatte: Die Trennung von meiner Ursprungsfamilie war der richtige Weg, um die eigene Seele zu retten und Möglichkeiten einer neuen Familienbildung zu bahnen. Werner Grafen, Kinaesthetics-Trainer für Grund- und Aufbaukurse, Palliative Care, Erziehung, Pflegende Angehörige; trainingstherapeutische Tätigkeit mit Menschen nach schwersten Unfällen; Systemischer Berater; Lehrer für Pflegeberufe. E-Mail: [email protected]

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»Nur durch den Schmerz hindurch …« Anerkennung des Leids von Missbrauchsopfern durch die evangelische Kirche – eine institutionelle und persönliche Lerngeschichte

Kirsten Fehrs Joachim1 war 16 oder 17 Jahre alt. So genau weiß er es nicht mehr. Er weiß nur, dass er es eklig fand, als der Pastor ihn das erste Mal küsste und versuchte, ihm zwischen die Beine zu greifen. Er könne doch ruhig ein bisschen Dankbarkeit zeigen für all das, was er für ihn getan habe – so bedrängt ihn der Pastor. Der Junge ist erschrocken, unsicher, wie gelähmt. Er fühlt sich wehrlos. Denn das Problem dabei: Er mag den Pastor. Vertraut ihm. Er hat ihm schon viel von seinen Problemen zu Hause erzählt. Da stimmt so vieles nicht: mit den Eltern, der Freundin, in der Schule. Drogen hat er auch schon probiert. Der Pastor »kümmert« sich besonders um die Dünnhäutigen, die Empfindsamen und um die, deren Selbstwertgefühl angegriffen ist. Als Joachim, nach Monaten des Missbrauchs, Anstalten macht, sich dieser unerträglichen Ohnmacht zu erwehren und das aufgezwungene Schweigen zu durchbrechen, fährt ihn der Pastor an: »Wem, meinst du, wird man glauben? Dir oder mir?« Starr geworden lässt der Junge es geschehen, immer wieder, tritt sozusagen aus sich heraus und vergisst sich dabei. Jahrzehntelang. Es dauert Jahrzehnte, bis der Mut einer Betroffenen im Jahr 2010 dazu führt, dass alles bekannt wird. Mit mehr als einem Dutzend namentlich bekannten Betroffenen ist es der größte bislang bekannte Missbrauchsskandal in der evangelischen Kirche überhaupt. Geschehen, erlitten – in meiner Kirche. Ich bin geschockt, empört und total be-

schämt. Kann nicht fassen, dass dort, wo in besonderem Maß Jugendlichen ein Schutzraum geboten werden muss, sie perfider und brutaler sexualisierter Gewalt ausgeliefert waren. Das Selbstbild der Institution wird tief erschüttert, nicht nur bei mir. Was Corinna B. mir später persönlich erzählt, als ich 2012 als Bischöfin die Aufarbeitung weiter voranbringen möchte, sprengt meine Vorstellungskraft. Ich merke, ich bin »auf der anderen Seite« – nicht im Sinne von emotional unansprechbar oder etwa zum Schutz der Institution abwehrend; nein, ich glaube ihr jedes Wort. Aber ich weiß nicht, was es heißt, traumatisiert zu sein. Ich habe so etwas nicht erlebt. Und fühle, wie brüchig das Vertrauen ist. Da reicht ein falsches Wort, von mir ganz anders gemeint, als sie es hört und – das leuchtet mir dann schnell ein – als sie es hören muss. Natürlich ist das so. Denn nicht nur sie, etliche haben sich ja mehrfach anvertraut in der Hoffnung, dass etwas passiert. Da war etwa der Pastorenkollege vor Ort, der sich heute auf die Schweigepflicht beruft. Deshalb habe er nichts tun können. Allein – die Jugendlichen wussten das nicht. Oder Jahre später, als Corinna B. sich das erste Mal an kirchenleitende Stellen gewandt hat und das Kirchenamt zwar 1999 die Versetzung des Täters veranlasst, davon aber kein einziges Wort dokumentiert. Weder dass er versetzt wird noch warum noch wohin. Wie sich später herausstellt, wird er ausgerechnet als Seelsorger im Jugendstrafvollzug eingesetzt.

Leidfaden, Heft 3 / 2015, S. 70–76, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015, ISSN 2192–1202

» N u r d u r c h d e n S c h m e r z h i n d u r c h   … «    7 1

Dann 2010. Odenwaldschule, Canisius-Kolleg, die Medien berichten täglich. Corinna B. kann nicht aufhören zu weinen. Sie hat sich mit ihrem Trauma lange schon auseinandergesetzt und es bearbeitet. Doch, das wird ihr immer klarer, es braucht nicht nur die individuelle Auseinandersetzung, sondern auch die institutionelle. Ich kann ihr gar nicht genug dafür danken, dass sie geredet hat. Wie später dann euch etliche andere … Denn Joachim und Corinna waren nicht die Einzigen. Wahrlich nicht. Der Pastor hatte, so scheint es heute, jede sich bietende Gelegenheit ergriffen. Wer sich nicht wehrte, war drin im System sich steigernder Grenzverletzungen bis hin zu massiver sexualisierter Gewalt. Heißt im Klartext: Psychospiele, wie man sie in den 1970er/1980er Jahren gern in kirchlichen Jugendgruppen zwecks »Selbsterfahrung« einsetzte, die dann allerdings bitterer Ernst wurden: Durchkitzeln auf dem Schoß des Pastors, abendliche Feiern der »Auserwählten« bis hin zu Oral- und Geschlechtsverkehr. Alkohol als Stimulans immer dabei. Es braucht viel Alkohol, um sich immer wieder zu vergessen – und den Ekel dazu. Diejenigen, die sich wehrten, wurden ausgeschlossen. Zu Spießern, Unreifen, Hässlichen, Dummen erklärt. Das System funktionierte. Nicht allein durch den Täter, sondern auch durch ein Umfeld, das sich manipulieren ließ. Ein Pastor  – geschützt durch die Würde des Amtes – tut doch nicht, was nicht sein darf! Auch wenn einigen Eltern, Freunden, Kirchenvorstehern und Gemeindemitgliedern unbehaglich war. Instinktiv spürten wohl viele, dass »etwas nicht stimmt«. Schlimm heute für die Eltern, deren Söhne und Töchter sich ihnen anvertraut haben – und die dem Flehen ihrer Kinder nachgegeben haben, bitte nichts zu tun. Weil sie sonst unten durch wären in der Gemeinde, bei den Freunden und in der Schule. Und so blieb das

Leiden der Opfer im Dunkeln einer strahlenden, als progressiv geltenden, allseits bewunderten kirchlichen Jugendarbeit in einer scheinbar intakten Gemeinde nahe Hamburg. Den Opfern zuzuhören war zum Teil schwer auszuhalten, das gebe ich ehrlich zu. Und durch all das, was ich erfahren habe, ist mir klar geworden, was es Betroffene und Opfer gekostet hat und immer wieder kostet, sich zu öffnen. Um ihretwillen und unseretwillen will unsere Kirche hinschauen. Genau hinschauen. Und das ist gar nicht so einfach. Denn erfahrungsgemäß löst das Thema »Missbrauch« erst einmal einen Reflex aus, sich nicht damit befassen zu wollen. Denn es geht um Menschen, die schwer verwundet wurden. In Räumen, in denen man für den Frieden gebetet und von der Liebe gesungen hat. Zudem: Es ist ein so intimes Thema. Scham spielt eine große Rolle. Es geht um jugendliches Liebessehnen und um den Verrat dieser Gefühle. Um die Brüche, die das für eine Biographie bedeuten kann. Und immer geht das Thema an die Grenzen. Zum einen, weil furchtbar konkret wird, was sich hinter solchen Begriffen wie Grenzüberschreitung und Grenzverletzung verbirgt. Und zum anderen, weil unsere inneren Grenzen der Vorstellung durchbrochen werden. Vieles ist seit 2010 passiert, in unserer Kirche, in mir. Für mich persönlich sind es jetzt über drei Jahre, in denen ich mit den Betroffenen im Gespräch bin, mit einigen bis heute. Die Beziehungen sind nicht »bischöflich-hierarchisch« geprägt, auch wenn der Kontakt zum Bischofsamt an sich eine lang ersehnte Würdigung bedeuten kann. Aber sie sind von mir her seelsorgerlich. Seelsorgerin zu sein ist ein unaufgebbarer Teil meiner pastoralen Identität – und das schließt ausdrücklich ein, einfühlsam das Setting zu klären. Heißt: Seelsorge ist ein rollen- und situationsreflektiertes Geschehen auf Augenhöhe. Etwas, was wir in dieser Profession des Pastors und der Pastorin gelernt haben und immer wieder reflektieren sollten, einschließlich eines hochverantwortlichen Umgangs mit der seelsorgerlichen Schweigepflicht.

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Chris Keller / bobsairport.com

Geschehen, erlitten – in meiner Kirche. Ich bin geschockt, empört und total beschämt.

Dabei darf auf keinen Fall die Schweigepflicht beziehungsweise das Seelsorgegeheimnis selbst zur Debatte stehen; im Gegenteil: Es ist unser höchstes Gut und für jedes seelsorgerliche Handeln konstitutiv. Jedoch könnte es in dem Fall, in dem erlittene Gewalt anvertraut wird, angezeigt sein, gemeinsam mit den Klienten behutsam zu klären, ob es sich hier wirklich um ein Seelsorgegespräch handelt oder ob man den/die Seelsorger/-in von der Schweigepflicht entbinden möchte. Dieses Thema seelsorgerlicher Schweigepflicht respektive Seelsorgegeheimnis ist hochkomplex und kann hier nur angedeutet werden. Und obwohl so verkürzt dargestellt schnell Missverständnisse entstehen, ist es mir dennoch wichtig, es in diesem Zusammenhang wenigstens zu nennen. Derzeit erarbeitet die Nordkirche eine Handreichung für Seelsorger/-innen, in der differenziert dargelegt wird, wie zum einen das Seelsorgegeheimnis streng gewahrt bleibt und zum anderen den Gewaltopfern die nötige Unterstützung zukommt, die sich anver­ trauen – und zwar meist aus dem Impuls heraus, weitere Gewalt verhindern zu wollen. Natürlich wollte und will nicht jeder der Betroffenen ein seelsorgerliches Gespräch; man-

che wollen genau das nicht, weil sie darin erneut die »Bemächtigung durch die Kirche« befürchten oder abgebildet sehen. Aber sie wollten alle, dass sie gehört werden. Damit die Nordkirche sich auseinandersetzt und ihren Fehlern stellt. Die Nordkirche hat sich gestellt. Oder besser: Sie ist auf dem Weg. So hat sie im August 2012 zwei Interventionen beschlossen und damit zwei Wegmarken aufgestellt: Zum einen hat sie eine unabhängige Kommission bestehend aus vier juristischen und sozialwissenschaftlichen Experten/Expertinnen eingesetzt, um aufzuarbeiten, wie sexualisierte Gewalt in Gemeinden und Einrichtungen der damaligen Nordelbischen Kirche geschehen konnte. Dabei ist man von den besonders geballt wahrzunehmenden Mechanismen und Strukturen in Ahrensburg ausgegangen. Der Bericht der unabhängigen Kommission liegt seit Oktober 2014 vor und ist von der Kirchenleitung der Nordkirche ungekürzt veröffentlicht worden (https://kirchegegensexualisiertegewalt.nordkirche.de). Aus den 155 Empfehlungen des Berichts haben wir mit einem Zehn-Punkte-Plan unmittelbar Konsequenzen gezogen für unsere – längst intensiv in Arbeit befindliche – Prävention und Krisenintervention. Denn darum geht es ja bei jeder Aufarbeitung: Menschen dafür zu sensibilisieren, was es bedeutet, wenn Grenzen verletzt werden, und wie eine grenzachtende Kultur erlernt und gelebt werden kann. Zum zweiten ist der Kirchenleitung deutlich geworden: Auch wenn man niemals »entschädigen« kann, was Menschen durch das Verschulden auch der Institution erlitten haben, muss man um einer ehrlichen Würdigung der Betroffenen willen ausdrücklich anerkennen, dass ihnen Unrecht geschehen ist. Seit Dezember 2012 arbeitet

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Um ihretwillen und unseretwillen will unsere Kirche hinschauen. Genau hinschauen. Und das ist gar nicht so einfach.

deshalb die Kommission für »Unterstützungsleistungen für Missbrauchsopfer in Anerkennung ihres Leides und in Verantwortung für die Verfehlungen der Institution«. Hinter dieser langen Bezeichnung verbirgt sich ein komplett neues Konzept, das die Nordkirche unter fachlicher Beratung und gemeinsam mit Betroffenen entwickelt hat. Es ist dies ein Konzept, wie man sich individuell – gemeinsam mit Betroffenen beziehungsweise deren Lotsen – auf Anerkennungsleistungen für erlittenes Leid einigen kann. Also: Kein gönnerhaftes Hilfsangebot von oben herab, sondern Anerkennung materieller wie immaterieller Art, die auf die Zukunft, auf das Gelingende im Leben ausgerichtet ist. Würdigung geht nur so, unverstellt, gemeinsam hoffend. Die Gespräche gehen unter die Haut, uns allen. Den Betroffenen gilt unser erster Dank. Dass sie überhaupt mit uns reden. Auch reden wollen. Uns etwas verstehen lassen, was so unfassbar ist. Wichtig dabei: Unseretwegen müssen sie nicht die belastenden Missbrauchssituationen erneut oder gar Details schildern; auch ein Fragebogen muss nicht ausgefüllt werden. Doch in den allermeisten Fällen ist es den Betroffenen wichtig, dass wir aufmerksam hören, was passiert ist. Damit die Institution wach wird und wach bleibt. So kommt es auch dazu, dass es manchmal mehr als ein Gespräch gibt. Um die Belastung der Betroffenen möglichst gering zu halten, besteht das Angebot von Lotsen und Lotsinnen, die von den Betroffenen frei ausgewählt werden können. Wohlgemerkt: Die Betroffenen sind völlig frei, das Angebot anzunehmen. Die Lotsen gehören unterschiedlichen Opferhilfe-Organisationen an, auch eine kirchliche Lotsin ist dabei. Diese Lotsen sind dazu da, die Betroffenen zu beraten, sie als Beistand zu

vertreten, sie auf Wunsch im Gespräch mit der Kommission zu begleiten oder gar in Abwesenheit der Betroffenen für sie zu reden. Das richtet sich ausschließlich nach den Wünschen der Betroffenen. Sie können auch beispielsweise ihre Therapeuten als Lotsen einsetzen, wenn sie es wollen. Seit Dezember 2012 haben wir uns in der Unterstützungsleistungs-Kommission mit fast allen Betroffenen, die seitdem aus der ganzen Nordkirche an uns herangetreten sind, verständigen können. Und das ist unerhört erleichternd. Nicht nur für uns, ganz offenkundig und explizit auch für die Betroffenen. Dabei ist den meisten enorm wichtig, dass es neben der materiellen auch irgendeine immaterielle Anerkennung gibt. Es geht eben um Achtung, Würde, manchen gar um Versöhnung. Die Arbeit in dieser Kommission ist mehr als intensiv; sie rüttelt auf, macht uns traurig: »Wir stehen oft unter Wasser«, sagt dazu eines der ehrenamtlichen Kommissionmitglieder. Die Kommission ist in ihrer unjuristischen, unbürokratischen, auf Vertrauen und Kommunikation basierenden Arbeitsweise immer auch

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ein Wagnis. Ein Wagnis, weil die Begegnungen uns ohne Netz und doppelten Boden mit den Traumata schwer verletzter Menschen konfrontieren. Mit zerstörerischer Macht und zutiefst verschämten und beschämten Menschen. Und mit unserer eigenen Scham und Vergebungsbedürftigkeit. Und so sind alle vor jedem Gespräch aufgeregt: die Betroffenen, weil sie Angst haben, dass diese »Kommission« ihnen nicht glaubt und sie von oben herab behandelt. Und wir sind aufgeregt, weil wir Angst haben, dass sie uns womöglich genauso erleben. Und dass es uns nicht gelingt, Vertrauen aufzubauen. In jedem Fall merken wir, wie sehr wir hier Neuland betreten. Wir machen auch Fehler, nicht alles lässt und ließ sich konzeptionell im Vorwege erfassen. Deshalb ist es unbedingt wichtig, diese Arbeit zu evaluieren; die ersten Schritte dazu sind bereits eingeleitet. Neben einer in Traumatherapie erfahrenen Therapeutin, die uns als kompetente Fachberaterin zur Seite steht und wertvolle Fachexpertise einbringt, besteht die Kommission neben mir aus zwei weiteren Mitgliedern. Sie machen dies ehrenamtlich und voller aufmerksamer Sensibilität. Wir vier sind, je länger wir diese Arbeit tun, überzeugt, dass wir nicht aufhören dürfen, uns auseinanderzusetzen. Weil wir jedes Mal dazulernen. Und weil es so viele versöhnliche, anrührende Momente gegeben hat, in denen die Betroffenen uns die Hand reichen konnten.

Corinna B. hat dies öffentlich getan. In einem Versöhnungsgottesdienst. Sie ist ein tiefgläubiger Mensch mit einer großen Sehnsucht nach Versöhnung. Dieses Ritual vorzubereiten, ja den gesamten Gottesdienst neu zu entwickeln war ein eigener Prozess zwischen ihr, ihrer Lotsin, dem Organisten, einigen Betroffenen und mir. Und so ist er wahrlich individuell geworden, von ihr genau so gewollt und nicht anders. Mit berührenden eigenen Gebeten und Texten, einer Predigt der Bischöfin, Sufimusik, einem Versöhnungsritual, sogar (auf Wunsch der Betroffenen!) mit Abendmahl – als Ausdruck neuer, versöhnter Gemeinschaft, die die Schuld gerade nicht verleugnet, sondern integriert. Einige Synodale und Mitglieder der Kirchenleitung sind in die Katharinenkirche gekommen; vor allem viele Freudinnen und Freunde begleiten Corinna B., darunter auch viele Betroffene. Ihr zuliebe sind sie dabei und haben sich eingelassen. Sie lesen das Gebet und zittern mit und tragen sie mit, auch wenn es nicht »ihr« Ritual ist. Und wenn ich jetzt beim Schreiben all die klaren Botschaften und Gesten der Freundschaft wieder erinnere, wird mir bewusst: Mit diesem gegenseitigen Respekt und der achtsamen Nähe untereinander ist es gerade so, als würde der Verletzungsgeschichte nun eine wohltuende Grenze gesetzt.

Kirsten Fehrs ist Bischöfin der Evange­ lisch-Lutherischen Kirche in Norddeutsch­ land (Sprengel Hamburg und Lübeck).

Anmerkung 1 Zum Schutz der Betroffenen sind die Namen geändert sowie die Erfahrungen so zusammengefasst, dass sie nicht konkreten Personen zuzuordnen sind.

E-Mail: [email protected] © Nordkirche /  Foto: Marcelo Hernandez

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» N u r d u r c h d e n S c h m e r z h i n d u r c h   … «    7 5

Versöhnungsritual Corinna Boller Hintergrund Die folgenden Texte standen im Zentrum eines Versöhnungsgottesdienstes, der am 25. Juni 2014 in der Hauptkirche St. Katharinen in Hamburg stattfand. Mit diesem Versöhnungsritual reichte Corinna Boller, die in den 1970er und 1980er Jahren jahrelang sexuellen Missbrauch durch einen Pastor erlitten hat, Bischöfin Kirsten Fehrs als Vertreterin der Nordkirche die Hand. Der gesamte Gottesdienst war von einer besonderen Stimmung geprägt, weil er mit Hilfe der Lotsin, Pröpstin und Hauptpastorin Dr. Ulrike Mur-

mann, konsequent nach Corinna Bollers Vorstellungen gestaltet wurde – von der Musik angefangen, über ihre selbst geschriebenen Gebete bis hin zum abschließenden Abendmahl. Für sie war es ein grundlegender Meilenstein nach einer jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit den Traumata; und für die Nordkirche war es wie ein Auftrag: Die Aufarbeitung wird andauern, nicht zuletzt auch, um Präventionskonzepte schnell und sinnhaft umzusetzen. Und vor allem eines haben wir auf dem gemeinsamen Weg gelernt: dass es Vergebung oder Versöhnung niemals hinter dem Rücken der Opfer geben kann.

Versöhnungsritual im Zentrum des Gottesdienstes Teil I (geschrieben von Corinna Boller im Oktober 2013; gesprochen in Richtung Altar) Gegenwärtiger und treuer Gott: Das Vergangene ist vorbei. Du hast es mir ins Herz geschrieben und lässt meine Nächte wie den Morgen leuchten Du schaffst in mir Weite für Dein ganzes Wirken Du hast von meinem Herzen ein Band ausgelegt Die zerrissenen Fäden Deiner Liebe neu gewebt Zu meinem Bruder Jesus Zu Menschen Deiner Kirche Zu diesen Räumen des Glaubens Du beschenkst mich reich mit der Erfahrung, dass der Schmerz Sinn hatte Mit Deinen liebenden Händen verwandelst du ihn in das was Deiner Liebe Deinen Werten Deiner wahren Ordnung dient Ich danke Dir dafür und mit der ganzen Bereitschaft meines Seins binde ich mich an die Gnade Deiner Versöhnung.

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7 6   K i r s t e n Fe h r s Teil II: (geschrieben von Kirsten Fehrs im Juni 2014; ebenfalls gesprochen in Richtung Altar) Gegenwärtiger, barmherziger Gott. Dass sie das so sagen kann: »das Vergangene ist vorbei.« Es erleichtert mich so. Die Last löst sich. Durch dein Wort. In ihrem Wort. »Das Vergangene ist vorbei« – hat sie gesagt. Vergeben. Nicht vergessen. Wie sollte das auch gehen? Bei diesem Schmerz. Es ist nun etwas Neues geboren. Heilsames aus der großen Heillosigkeit. Worte, die berührt und Herzen, die verstanden haben. Ja, Gott, du hast ein neues Band gewebt – Auch aus meinen Zerrissenheiten. Erschüttert über meine Kirche, die mich doch trägt! Du hast ein neues Band gewebt Zu ihnen, an denen wir schuldig geworden sind, zu denen, die an uns zweifeln, immer wieder, immer noch und wieder und noch Ich versuche, was ich kann Und lege es in deine Hand. Danke, dass du Corinna Boller diese Kraft gegeben ihr Leben lang schon. Ich sehe mit Demut Und Mut! ihre gereichte Hand. Und mit der ganzen Bereitschaft Meines Seins Empfange ich – still nun – Die Gnade deiner Versöhnung. STILLE – Beide wenden einander zu und reichen sich die Hand.

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Mit der Haltung eines Künstlers – Organisationsberatung in Krisensituationen Hannes Jahn und Carolin Vogt Krisen gehören zum Alltag einer Organisation – eine tröstende oder vielleicht nur realistische Feststellung, die man in Beraterkreisen immer wieder hören kann. Deshalb sei auch entsprechendes Krisenbewusstsein ein wichtiger Aspekt, wenn man Organisationen verstehen und sie in ihren Veränderungsprozessen begleiten will. Und die Erfahrung scheint diese Sicht zu bestätigen: Viele Change-Prozesse in Organisationen werden durch Krisen eingeleitet oder leiten selbst eine Krise ein. Wenn wir Organisationen systemisch betrachten, also sowohl auf das ganze System schauen als auch jeden einzelnen Menschen mit seiner Funktion für das Ganze wahrnehmen, sehen wir zum Beispiel Führungskräfte, die heute zunehmend mit den unterschiedlichsten Herausforderungen konfrontiert werden. Sie müssen einerseits ständig optimale Leistungen und Erfolge im Beruf erbringen, andererseits sollten sie der perfekte Ehepartner und stets präsente Ansprechpartner für die Kinder sein, auf ihre Fitness und Gesundheit achten, den Freundeskreis pflegen, Präsenz und Engagement im Verein oder Ehrenamt zeigen, daneben den Freizeitaktivitäten ausreichend Zeit widmen können. Das alles in einem ausgewogenen Verhältnis zu balancieren, führt nicht selten zu Konflikten und Erschöpfungs- und Demotivationszuständen bis hin zu tiefgehenden Sinnkrisen. Aber nicht nur in der Mitarbeiterführung, auch von den Mitarbeitern selbst werden Themen wie Stressbewältigung oder Life-DomainBalance oft mit einer krisenhaften Verzweiflung angesprochen. Anzeichen wie gereizte Stimmung, wenig Teamfähigkeit, Überlastungen, Krankheit, eine hohe Fehlerquote, erschwerte oder gar keine Kommunikation bis hin zu ansteigender Fluktu-

ation sprechen eine deutliche Sprache. Die Anpassung an immer neue Herausforderungen wird in der Regel reaktiv und nicht proaktiv vollzogen und die Passung zwischen der Organisation und ihrer Umwelt misslingt. Dadurch entstehen Zwischenzeiten, in der die inneren Strukturen noch nicht den neuen äußeren Anforderungen entsprechen. Dann scheitern alte Denkstrukturen und Strategien an der Realität und Unsicherheit breitet sich aus. Nancy J. Adler, Professorin der McGill-University Montreal, international anerkannte Organisationsberaterin und aktive Künstlerin, sieht mögliche Lösungsansätze zur Krisenbewältigung nicht in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft. Es geht in der heutigen Zeit nicht mehr darum, zwischen Option A und Option B zu entscheiden, sondern darum, »eine Option zu schaffen, die es wert ist, gewählt zu werden« (Adler 2006). Um diese neue Option entwickeln zu können, bedarf es jedoch einer Kompetenz, die bisher von Organisationen wenig entwickelt, geschweige denn gefördert wurde – eine »ästhetische Kompetenz« (Jahn 2013). Wir1 verstehen darunter eine Logik der Sinne, eine extrem aufmerksame, sinnliche Wahrnehmung für die Umwelt und den eigenen Willen. Sie ermöglicht uns, die Umwelt nicht nur kognitiv-rational aufzunehmen. Mit dem Rationalen zu hantieren, haben Mensch und Organisation längst gelernt. Effizienzsteigerung und Prozesssteuerung sind Begrifflichkeiten aus der Welt geschlossener Systeme und der dort zweifellos wichtigen rationalen Kompetenz. Aber in Ergänzung dazu geht es für Organisationen heute darum, sich in offenen Systemen zu bewegen, Zweifel und Unsicherheit zuzulas-

Leidfaden, Heft 3 / 2015, S. 77–79, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015, ISSN 2192–1202

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Blick nimmt. Diese ästhetische Kompetenz lässt sich nicht nur an Künstlern im Tanz, in der Musik oder vor der Leinwand beobachten, sondern solche Fähigkeiten können im künstlerischen Handeln nachhaltig erlernt werden. Wenn wir als Systementwickler Menschen in Organisationen bei der Krisenbewältigung und Ausbildung dieser ästhetischen Kompetenz begleiten, durchlaufen wir mit ihnen typischerweise vier Phasen: Problemidentifizierung und Klärung der Anliegen; künstlerische Intervention; Analyse des künstlerischen Prozesses und schließlich Erkenntnistransfer in den Organisationsalltag. Das Herzstück bilden immer künstlerische Aktionen, in denen im Wechselspiel von

Wassily Kandinsky, Komposition IV, 1911 / INTERFOTO / SuperStock / Fine Art Images

sen und sich in den unsicheren und krisenhaften Zwischenzeiten wieder mit dem zu verbinden, was sie ursprünglich ins Handeln brachte, und von dort her sinn-voll zu entscheiden. Führung setzt oft dann ein, wenn Menschen sich mit dem verbinden, was sie wirklich ruft. Wenn eine Antwort auf diesen Ruf nicht im rasanten Wandel des Organisationsalltags, in den Zweifeln und Verzweiflungen, den Zugeständnissen an scheinbar Unabänderliches oder in den Machtstrukturen des eigenen Durchsetzungswillens verloren gehen soll, braucht es eine »Öffnung des Denkens, des Fühlens und des Willens« (Scharmer 2009). Dafür ist eine »sinnliche Aufmerksamkeit« (Jahn 2007) nötig, die das größere Ganze in den

Es geht darum, dem Übergang zwischen alten Strukturen und neuen Strategien – trotz aller Belastung – seinen Schrecken zu nehmen und einen Sinn für den eigenen inneren Raum Lder E I D FA D E N   – FAC H M AG A Zdie I N FNeugier Ü R K R I S E Nauf , L E IFremdes D, T R AU E R   und H e f tNeues  3  /  2 0 1 5zu finden. Inspiration und

M i t d e r H a l t u n g e i n e s K ü n s t l e r s    7 9

Wahrnehmen und Handeln ein tieferes Verständnis für prozesshaftes, antizipatorisches Arbeiten entwickelt wird. Im praktischen künstlerischen Tun erfahren Führungskräfte und Mitarbeiter, wie strategische und operative Strukturen durch kreative Prozesse bereichert werden können. Sie erfahren sich selbst als produktiv und schöpferisch und entwickeln eine höhere Aufmerksamkeit für gegenwärtige Bedürfnisse sowie für zukünftig Not-wendendes. Der künstlerische Schaffensprozess ist gekennzeichnet von Experimentieren, von der Entwicklung von Möglichem und der Gestaltung des Neuen. Der Künstler tritt in eine Art Dialog mit dem zukünftigen Werk, im Wechselspiel zwischen eigenem Willen, eigenem Denken und Fühlen und den Gegebenheiten des Materials, während er zugleich offen bleibt für die Eigenart des neuen Werkes. »Das Herstellen eines Werkes ist ein nicht vorhersehbarer, möglichst aber stummer Dialog zwischen dem Material, dem Verfahren und dem Künstler (…) Das Material hat immer noch mehr Möglichkeiten in sich« (Rauterberg 2008). Der Künstler dekonstruiert Altes und betritt damit den Boden für die Schaffung eines Neuen. Analog dazu müssen sich Organisationen in einem kontinuierlichen Prozess des Improvisierens und Gestaltens (des Steuerns) üben. Es geht darum, Herausforderungen und Schwierigkeiten nicht nur linear auf der Grundlage bisheriger Erfahrungen wahrzunehmen, sondern auch in ihren Potenzialen. Es ist das nonlineare, schöpferische Denken und Handeln, das sich auf ein Navigieren in offenen Systemen mit mehreren Unbekannten versteht. Es geht darum, dem Übergang zwischen alten Strukturen und neuen Strategien – trotz aller Belastung – seinen Schrecken zu nehmen und einen Sinn für den eigenen inneren Raum der Inspiration und die Neugier auf Fremdes und Neues zu finden. Wo immer es gelingt, kurzsichtige, von der Vergangenheit gespeiste Entscheidungen zu vermeiden und in künstlerischen Projekten eine experimentelle, ästhetisch wache, zukunftsgewandte Grundhaltung zu entwickeln, können

neues Denken und Handeln entstehen. Werden diese »Lebens-Mittel« (Bertram 2014) wiederum mit Begeisterung gefüllt, entstehen aus den ursprünglichen organisationalen Deformationen – den besagten Krisenpunkten – neue Formationen. Vielleicht heißt es dann einmal in Beraterkreisen: Ästhetische Kompetenz gehört zum Alltag einer Organisation. Prof. Dr. Hannes Jahn leitet den Masterstudiengang »Coaching & Systementwicklung« am Department Kunst, Gesellschaft und Gesundheit an der MSH Medical School Hamburg. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Integration künstlerisch-ästhetischer Erfahrungskompetenz in die Entwicklung individueller und organisationaler Systeme. E-Mail: [email protected] Carolin Vogt ist Projektassistentin am Department Kunst, Gesellschaft und Gesundheit an der MSH Medical School Hamburg sowie freie Trainerin in den Bereichen Positive Psychologie und Führung in Hochrisikoindustrien. E-Mail: [email protected] Literatur Adler, N.: The art of leadership: Now that we can do anything, what will we do? In: Academy of Management Learning and Education Journal, 2006, 5, 4, S. 486–499. Bertram, U.: Non-lineares Denken und Handeln entwickeln. Improvisationskraft, Erfindungsgabe und Probierbewegungen. In: Praeview – Zeitschrift für innovative Arbeitsgestaltung und Prävention. Dortmund 2014. Eberhart, H.; Knill, P. J.: Lösungskunst. Lehrbuch der kunstund ressourcenorientierten Arbeit. Göttingen 2009. Jahn, H.: Musikorientierte Methoden in den Praxisfeldern Beratung und Coaching. Dissertation, Hochschule für Musik und Theater Hamburg 2007. Jahn, H.: Arts in social transformation. In: Sinapius, P.: »Wie ist es, eine Farbe zu sein?« Über Kunst und Liebe, das Schweigen und die Gegenwart. Berlin 2013. Rauterberg, H.: Ich habe meinen Himmel. Interview mit Robert Rauschenberg. In: Die Zeit, 14. 05. 2008. Scharmer, C. O.: Theorie U. Von der Zukunft her führen. Heidelberg 2009. Wallas, G.: Art of thought. London 1926. Anmerkung 1

Das Department Kunst, Gesellschaft und Gesundheit der MSH Medical School Hamburg stellt sich die Frage, wie eine ästhetische Kompetenz entwickelt und künstlerisches Denken in außerkünstlerische Felder integriert werden kann.

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Unternehmenstheater – Katalysator für Systemveränderungen Gero Mertens Auf einer Bühne in einem Tagungshotel sitzt ein Mann auf einem Stuhl. Neben ihm steht ein Moderator. Es entsteht folgender Austausch: »Hier dürfen Sie sagen, wie es Ihnen wirklich geht, jetzt, nach dem Gespräch mit Ihrem Abteilungsleiter.« Der Mann auf dem Stuhl schaut zögerlich ins Publikum, dann zum Moderator. »Nein, das geht nicht. So etwas spielt hier auch keine Rolle, das will ja eh niemand wissen.« »Aber das hier ist der ›Heiße Stuhl‹, hier haben Sie die Möglichkeit, mal Klartext zu reden.« Der Mann scheint sich nicht sicher zu sein, gibt sich aber einen Ruck. »Also gut. Wenn ich ehrlich sein soll, ich bin total unter Druck, hier weiß doch keiner mehr wo’s langgeht. Ich hab immer alles gegeben für die Firma, aber diese Entwicklung zuletzt, die macht mich einfach nur traurig.« Der Moderator bedankt sich für die Offenheit und wendet sich mit den neuen Informationen an die Zuschauer. Diese Szene ist Teil eines Interaktiven Prozesstheaters des Unternehmenstheaters ART OF CHANGE (AOC). Im Publikum sitzen Führungskräfte eines internationalen Industrieunternehmens, auf der Bühne agieren ein Moderator und mehrere Schauspieler als Manager, Führungskräfte, Abteilungsleiter und Angestellte dieses Unternehmens, das sich in einem krisenreichen Veränderungsprozess befindet. Bei der Interaktion auf dem sogenannten Heißen Stuhl beobachten die Teilnehmer einen Schauspieler, der als einer von ihnen »auspackt« und sich Offenheit traut. Unterstützt von dem Moderator kann das Publikum mit ihm interagie-

ren, sich mit ihm identifizieren. Es können ihm Fragen gestellt und Hilfestellung angeboten werden, die Mitarbeiter selbst bleiben in ihrer normalen Rolle und setzen sich als Beobachter und Berater mit »einem von ihnen« auseinander, mit seinen Widerständen, Haltungen, Enttäuschungen und Hoffnungen. Unternehmenstheater als Intervention und Impuls Theaterarbeit in Organisationen hat viele Erscheinungsformen. Diese reichen von Schauspielern, die als externe Beobachter bei Firmenevents ihre Sicht auf unterhaltsame Art anbieten, bis hin zu partizipatorischen Formaten, in denen die Mitarbeiter selbst Stücke zu firmenrelevanten Themen generieren und aufführen. Das hier in der Folge beschriebene Format Interaktives Prozesstheater von ART OF CHANGE ist besonders geeignet für den Einsatz in komplexen Veränderungsprozessen und konflikthaften Situationen, weil es die Wirkung von Theater mit Trainingskompetenzen verbindet. Interaktives Prozesstheater bietet eine Plattform für Organisationen, Teams und auch Individuen, um Unsichtbares sichtbar zu machen und sich zielgerichtet mit den Reaktionen, Bedürfnissen und Potenzialen von Menschen innerhalb einer Veränderungsdynamik auseinanderzusetzen. Entscheidende Faktoren für den Erfolg einer Theaterintervention sind die Stellvertreter- und Spiegelfunktion der Schauspieler sowie die emotionale Aktivierung der Teilnehmer:

Leidfaden, Heft 3 / 2015, S. 80–84, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015, ISSN 2192–1202

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Schauspieler als Mitarbeiter Die Stellvertreterfunktion der Schauspieler ermöglicht den Teilnehmern, konflikthafte emotionale Aspekte zu beobachten und zu benennen, ohne sich vor Kollegen und Geschäftsleitung offenbaren zu müssen. Spiegeleffekt Die Teilnehmer erkennen sich selbst in der Distanz; Verständnis für die Gesamtsituation und für die Sichtweisen und Emotionen anderer wird geweckt. Selbst-Coaching Indem die Teilnehmer interaktiv die Kommunikations- und Verhaltensweisen der Rollenfiguren bearbeiten und erweitern, öffnen sie Raum für Veränderung bei sich selbst. Kreative Gemeinschaftserfahrung Das gemeinsame Theatererlebnis fördert die Gruppenkohäsion und bietet eine positive Lernatmosphäre. Durch eine teils humorvolle Aufbereitung werden problematisch geprägte Themen zugänglich. Doppelte Wirklichkeit und Veränderbarkeit alltäglichen Handelns Bei einem Unternehmenstheater beobachten die Teilnehmer eine Beobachtung ihrer Alltagsrealität. Der besondere Effekt dieser verdoppelten Wirklichkeit liegt darin, Potenzial für Veränderungen in unübersichtlichen oder belastenden Alltagssituation zu entdecken. Oftmals ist es schwierig, Alltag verändert denken zu können. Die durch Fremdbeobachtung ermöglichte theatrale Version des organisationalen Alltags kann die Zwangsläufigkeit einer Situation aufheben. Dadurch werden eine andere Wahrnehmung, anderes Denken und auch Handeln möglich. Eigene Vorurteile, Muster und Einschränkungen können erkannt werden. »Es ist wohl dieser Abbau von Wahrnehmungsschranken, gepaart mit der Auflösung unbewuss-

ter Zwangsläufigkeitsannahmen, die den Kern der Wirkungsweise des Unternehmenstheaters ausmacht« (Schreyögg und Dabitz 1999, S. 90 f.). Zwischenfrage: System Kunst im System Wirtschaft? Gerade die eigentliche Fremdheit der beiden Welten bedingt ihr wechselseitiges Interesse. Verantwortliche in Unternehmen sehen einen Mehrwert darin, dass Menschen mit künstlerischen Sichtweisen und Kompetenzen sich der Organisation als Fremde nähern, ihre Regeln und Abläufe betrachten und sich diese aneignen, um dann ihren externen Blickwinkel den Organisationsmitgliedern anzubieten. Umgekehrt sind das Sicheinlassen auf eine andere Welt und die schnelle Aneignung ihrer Prozesse ein Reiz für den Schauspieler/Berater, der durch die Möglichkeit, positiv auf Veränderungen einzuwirken, noch verstärkt wird. Das interaktive Spiel und seine Vorbereitung Die eingangs beschriebene Szene auf dem Heißen Stuhl findet in der ersten Phase des Prozesstheaters statt, der Visualisierung des Arbeitsalltags durch die Schauspieler in Szenen und Monologen. Im Vorfeld wurden durch AOC zunächst intensive Rechercheinterviews mit unterschiedlichen Quellen innerhalb des Unternehmens (Führungskräfte, Mitarbeiter unterschiedlicher Hierarchiestufen, Personal- und Organisationsentwicklung) durchgeführt, um ein möglichst kohärentes Bild über die Arbeitsrealität und bestehende Konfliktfelder zu bekommen. Anhand dieser Voranalyse konnten typische Kommunikationsprobleme und neuralgische Schlüsselpositionen identifiziert werden, wie zum Beispiel Defizite in der Führungskultur. Mit diesen Informationen werden szenische Plots und repräsentative Rollenfiguren entworfen, welche sich in dysfunktionalen Dialogen, oder auch allein in Monologen, miteinan-

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der und mit der Firmenrealität auseinandersetzen. Diese Szenen und Rollenfiguren sind das Gerüst für die interaktive Intervention auf der Bühne. Wichtig ist hier zu betonen, dass einzelne Mitarbeiter des Unternehmens zwar zu keiner Zeit »vorgeführt« werden dürfen, dabei jedoch gleichzeitig inhaltlich und emotional ein Identifikationsmoment entstehen muss. Dabei ist die Abbildung der Sachebene, also der spezifischen Inhalte, Arbeitsabläufe und Strukturen des Unternehmens, nur der Rahmen für ein möglichst annehmbares und die Realität widerspiegelndes Szenario. Für die Identifikation der Teilnehmer und die Effektivität der Spielszenen ist die Annäherung an die zugrundeliegenden Bedürfnisse des Einzelnen auf der Beziehungsebene von größerer Bedeutung. Hier ist neben Erfahrung und Fingerspitzengefühl im Spiel ein authentisches, wertschätzendes und respektvolles Einfühlungsvermögen essenziell. Nur so werden Beteiligte des Unternehmens erreicht und Veränderungsprozesse angestoßen. Verhaltensänderung und Transfer in den Alltag – Die Phasen des interaktiven Prozesstheaters In der ersten Phase der Visualisierung haben die Teilnehmer die Rollenfiguren beobachtet und sich

mit Hilfe des Moderators mit ihnen auseinandergesetzt. Durch den Dialog wurde die Passung des Bühnengeschehens mit der Unternehmensrealität gesichert und damit Identifikation hergestellt. In den folgenden Kurz-Workshops arbeiten die Teilnehmer in Kleingruppen zusammen. Jede Rollenfigur bekommt eine Gruppe als Coach zugeteilt. Gemeinsam erarbeiten die Teilnehmer konkrete Tipps für ihre Rollenfigur. Welche Veränderungen in der Einstellung und dem Verhalten sind notwendig, damit zum Beispiel gute Führung gelingt? Zurück im Plenum stellt nun jede Gruppe ihrer Rollenfigur die gesammelten Tipps und Ideen vor. Der Schauspieler wird diese aber nicht sofort akzeptieren, sondern gibt wohldosierten Widerstand, bis die Vorschläge klar und überzeugend sind. Die Szenen werden teilweise wiederholt und laborartig optimiert, können angehalten und zurückgespult werden, zusammen mit dem Moderator wird ausprobiert, gefeilt, analysiert und anerkannt. Innerhalb dieser Phase bringen die Schauspieler die gemeinsam erarbeiteten Optimierungen stellvertretend auf die Bühne und Veränderung wird für die Teilnehmer sichtbar. Für die letzte Phase steigen die Schauspieler von AOC aus ihren Rollen aus und moderieren nun Transfer-Workshops. Hier erfolgen die Ableitung des Erarbeiteten in den Arbeitsalltag der

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Teilnehmer sowie eine Identifizierung, Priorisierung und Initialisierung von konkreten und möglichst zeitnahen Handlungsoptionen. Ergebnisse aus den optimierten Szenen werden festgehalten und dienen als Grundlage für die nächsten Schritte und die weitere Implementierung. Exkurs: Anlass Krise Krise kann definiert werden als »eine schwierige Situation, die den Höhe- und Wendepunkt einer gefährlichen Entwicklung darstellt« (Duden), das heißt, hier liegen Risiken, aber auch Chancen sehr nahe beieinander. Nur der proaktive und transparente Umgang eines Unternehmens mit konflikthaft zugespitzten Themen und Haltungen innerhalb eines Veränderungsprozesses kann das positive Potenzial von Veränderungsdynamik und Veränderungsmotivation der Mitarbeiter nutzbar machen. Transparenz und Lernfähigkeit des Unternehmens zeigen sich vor allem im Umgang mit Konflikten, die ihre Ursache in der Organisationstruktur selbst haben. Im Unternehmenstheater werden nicht nur Kommunikationsprobleme der Mitarbeiter untereinander bearbeitet, sondern auch die Reaktion auf übergeordnete Strukturen, Maßnahmen und typische einheitliche Interaktionsprozesse des

Unternehmens; vorausgesetzt, sie wurden in der vorangegangenen Recherche angesprochen. Für den individuellen Mitarbeiter kann sich die Auseinandersetzung mit Strukturproblemen als »berufliche Krise« offenbaren und sich in Stress, Erschöpfung und schließlich auch Ängsten oder Depressionen manifestieren. Aus der Schematherapie kommt zum Beispiel der Ansatz, dass erst der emotional aktivierte Konflikt das notwendige Veränderungspotenzial erzeugt. Diese emotionale Aktivierung wird durch die interaktive Beteiligung der Mitarbeiter an der Rollengestaltung der Schauspieler erreicht. Der indirekte und spielerische Zugang ermöglicht gleichzeitig eine »tangentiale« Annäherung an den Konflikt und verhindert konfrontative oder direktive Kritikäußerungen unter den Teilnehmern, welche oftmals Abwehrhaltungen oder Passivität hervorrufen. Wirkung von Interaktivem Prozesstheater Im Veränderungskontext Entlang Kurt Lewins zeitlosem Drei-PhasenModell von Veränderung (1963) kann die Wirkung von Unternehmenstheater zusammengefasst werden: 1. Im Spiegel des Theaters werden im Unternehmen verankerte Verhaltensmuster und etablierte Haltungen der Mitarbeiter anhand einer

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Rollenübernahme typischer, kritischer Interaktionsprozesse durch die Schauspieler sichtbar (unfreezing/Auftauen). 2. Im interaktiven Austausch mit dem Publikum werden Handlungsalternativen für die Bühnensituation gefunden und erprobt, wodurch teambasierte Problemlösungsstrategien entwickelt und auch das Gefühl von individueller Selbstwirksamkeit auf diese Konfliktsituationen generiert werden können (changing/ Bewegen). 3. Der anschließende Transfer in die Arbeitsrealität der Teilnehmer in Form von moderierten Workshops markiert den Schritt von der Beobachtung zur Handlung (refreezing/Stabilisieren). Der Abschluss der Intervention stellt aber nur den Anfang der letzten Veränderungsphase dar. Ein nachhaltiger Veränderungsprozess kann nur von den Organisationsteilnehmern selbst getragen und langfristig stabilisiert werden. Hier kann Unternehmenstheater nach der Intervention als begleitender Partner mit kleineren Team-Formaten unterstützen. Von der Intervention zur Prävention – Ausblick »Benefitting from artistic interventions requires leadership follow-up« (Berthoin Antal und Strauß 2013, S. 35). Nach dem Interaktiven Prozesstheater können die Verantwortlichen ihre gewonnenen Einblicke und Informationen für die Mitarbeiter nutzen, um interpersonelle Konflikte in der Kommunikation und unterschiedliche Werteverständnisse ernst zu nehmen. Diese Themen lassen sich aktiv und präventiv in der Organisationstruktur zum Beispiel durch den Aufbau einer Feedbackkultur innerhalb von Teams oder auch zwischen unterschiedlichen Hierarchieebenen aufgreifen. Unternehmenstheater gibt Impulse auf organisationaler Ebene wie auf persönlicher, es bietet

neue Perspektiven und Erfahrungen. Eine langfristige Sicherung dieser Effekte ist aber davon abhängig, welche Form der Implementierung sie erfahren. Zwar wissen wir aus zehn Jahren Erfahrung, dass schon allein die emotionale Tiefe des Erlebten während des Interaktiven Theaters nachhaltig wirken und Anlass zu Veränderung geben kann. Dieses Potenzial gilt es noch weiter zu nutzen und in Organisationen und Teams das Bewusstsein für die Effektivität künstlerischer Interventionen im Unternehmenskontext zu fördern und mit gutem Spiel und wirkungsvoller Beratung zu überzeugen. »Artistic interventions enable participants to ­really do it, rather than just talk about it, and then to work on the insights they gain from the experience. These findings indicate that by seeing differently, participants discover ways to do and be differently« (Berthoin Antal und Strauß 2013, S. 28). Gero Mertens studierte Schauspiel an der Universität Milwaukee, USA. Es folgten Engagements im klassischen Theater sowie Regiearbeit und die Entwicklung neuer Formate in Chicago. Nach seiner Rückkehr war er zunächst als freiberuflicher Schauspieler und Sprecher in Berlin tätig. Seit der Ausbildung zum Mediator und Coach an der FU Berlin setzt er sein Interesse an Konfliktarbeit im Training von Gruppen und der Mediation um und bietet auf Schauspielmethodik basierende Workshops für diverse Berufsgruppen an. Mit dem Unternehmenstheater ART OF CHANGE begleitet er deutschlandweit Organisationen in Change-Prozessen. Er lebt in Hamburg und Berlin. E-Mail: [email protected] Literatur Berthoin Antal, A.; Strauß, A.: Artistic interventions in organisations: Finding evidence of values added. Creative Clash Report. Berlin 2013. Lewin, K.: Gleichgewichte und Veränderungen in der Gruppendynamik. In: Lewin, K.: Feldtheorie in den Sozialwissenschaften. Bern 1963, S. 223–270. Schreyögg, G.; Dabitz, R. (Hrsg.): Unternehmenstheater. Formen  – Erfahrungen  – Erfolgreicher Einsatz. Wiesbaden 1999. Taube, D.: Unternehmenstheater  – Eine Annäherung an eine Liaison zwischen Pädagogik, Wirtschaft und Kunst. Hausarbeit. Kassel 2003.

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AUS DER FORSCHUNG

Wie Chile und Argentinien nach den Militärdiktaturen um die nationale Aufarbeitung der Massenmorde ringen Eine soziokulturelle Anwendung des Dualen Prozessmodells

Hildegard Willmann und Heidi Müller Robben, Antonius C. G. M.: Massive Violent Death and Contested National Mourning in Post-Authoritarian Chile and Argentina: A Sociocultural Application of the Dual Process Model. In: Death Studies, 2014, Vol. 38, Nr. 5, S. 335–345. Staaten müssen ebenso wie Individuen Krisen bewältigen. Doch wie gehen sie damit um, wenn die eigene Regierung oder das Militär in der Vergangenheit systematisch einen Teil der Gesellschaft ermordet hat? Wie Individuen auch gehen sie ganz unterschiedliche Wege. So glaubte zum Beispiel die nigerianische Regierung, dass es hilfreich für eine Versöhnung sei, von offizieller Seite aus einen Deckmantel des Schweigens über den Biafra-Konflikt und seine Opfer zu legen. Die vietnamesische Regierung hingegen verherrlichte nach dem Vietnamkrieg ihre gefallenen Soldaten als Märtyrer, während es Jahrzehnte brauchte, bis auch um die vom »Feind« getöteten Zivilisten offiziell getrauert werden durfte. Und in der Bundesrepublik Deutschland begann erst in den 1970er Jahren, nach Jahrzehnten des Schweigens, eine Auseinandersetzung mit dem Holocaust, die sehr schuldbeladen war. In wissenschaftlichen Analysen zum Thema nationale Verlustbewältigung dominierte das Konzept der »Trauerarbeit« von Freud und der »Trauerphasen« von Bowlby. Sozialwissenschaftler nahmen an, dass Gesellschaften notwendigerweise über Jahrzehnte hinweg die Erinnerung an massive Verluste durch Gewalttaten abspal-

ten müssten, um den Wiederaufbau nicht zu gefährden. In den letzten Jahrzehnten mehrte sich jedoch die Kritik an diesen Konzepten. Außerdem zeigen Länder wie Argentinien und Südafrika, dass es möglich ist, mit der Aufarbeitung der Gräueltaten unmittelbar nach dem Ende eines Regimes zu beginnen. Das Duale Prozessmodell (DPM) von Stroebe und Schut stellt einen Gegenentwurf zu den Konzepten der Trauerarbeit und den Trauerphasen dar. Es postuliert einen Bewältigungsprozess, bei dem Betroffene systematisch hin- und herpendeln. Einerseits beschäftigt sie dabei der Verlust an sich (Verlust-Orientierung, VO). Andererseits sind sie damit beschäftigt, sich in dem neuen, veränderten Leben zurechtzufinden (Wiederherstellungs-Orientierung, WO). Das Duale Prozessmodell am Beispiel von Nationalstaaten Der Autor dieser Arbeit legte das DPM zugrunde, um am Beispiel von Chile und Argentinien nachzuweisen, dass es sich auch zur Erklärung gesamtgesellschaftlicher Prozesse wie der Aufarbeitung einer gewaltgeprägten Vergangenheit eignet. Chile und Argentinien erlebten im Laufe der 1970er und 1980er Jahre linksextreme und rechtsextreme Bewegungen, Arbeiterproteste, Wirtschaftskrisen, Aufstände von Guerilla-Organisationen, Todesschwadronen, Militärdiktaturen und einen staatlichen Terrorismus, der Zehntausende von Menschen verschwinden und ermorden ließ.

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INTERFOTO / Orsolya Haarberg

In beiden Ländern gab es später Wahrheitskommissionen, Amnestiegesetze, Maßnahmen zur Wiedergutmachung, Gedenkveranstaltungen, öffentliche Schuldeingeständnisse des Militärs und Rufe nach Wahrheit und Gerechtigkeit. In beiden Ländern mussten für eine Vergangenheitsbewältigung auf nationaler Ebene die Anliegen der verschiedenen Interessengruppen (zum Beispiel der Regierung, dem Militär, den trauernden Angehörigen, den Menschenrechtsorganisationen) permanent ausbalanciert werden. Die Aufarbeitung schloss auch die Täter mit ein, die sich dem stellen mussten, was sie Einzelpersonen, aber auch der Gesellschaft insgesamt angetan hatten. Die Täter sind also am nationalen Trauerprozess beteiligt und stellen ebenso einen Teil der argentinischen beziehungsweise chilenischen Gesellschaft dar wie die Hinterbliebenen auch. Gemeinsam mussten sie einerseits Wege finden, um ihre Vergangenheit und ihre Toten zu betrauern. Andererseits mussten Täter wie Opfer nach Möglichkeiten suchen, wie sie die Zukunft ihrer Gesellschaft gestalten wollten, auch wenn sie möglicherweise die Vergangenheit immer unterschiedlich bewerten würden. Wie auf nationaler Ebene mit der Vergangenheit umgegangen wird, ist daher immer das Ergebnis intensiver Kämpfe um Macht. Alle Gruppen möchten so umfangreich wie möglich darüber mitbe-

stimmen, wann, wo und wie die Toten gewürdigt beziehungsweise betrauert, aber auch wie die Herausforderungen des gesellschaftlichen Wiederaufbaus angegangen werden. Es versteht sich fast von selbst, dass die Interessengruppen unterschiedliche Schwerpunkte setzen. So sind die trauernden Angehörigen stark verlustorientiert. Sie möchten ihre Toten gewürdigt und die Täter bestraft wissen. Dahingegen möchten die Täter die Vergangenheit gern hinter sich lassen und befassen sich deutlich stärker mit der Gestaltung der Zukunft. Maßnahmen in Chile und Argentinien In Chile und Argentinien würdigten die Regierungen die Anliegen der Opfer, indem sie die Suche nach den Verschwundenen und Ermordeten anordneten, die Exhumierung von Massengräbern veranlassten, sich für die Bestrafung der Täter einsetzten und das aktive Gedenken an die Toten und Verschwundenen förderten. Im Zusammenhang mit dem DPM betrachtet, war das der verlustbezogene Bewältigungsprozess. Im Rahmen des wiederherstellungsorientierten Bewältigungsprozesses standen andere Fragen im Mittelpunkt. Dazu gehörten die Regelung des Zusammenlebens von Tätern und Angehörigen der Opfer, das Einrichten von Gedenkstätten zur Erinnerung an die politische Gewalt der Vergangenheit1, die therapeutische Behandlung von und die Wiedergutmachung gegenüber Zehntausenden von Folteropfern, trauernden Angehörigen und aus dem Exil zurückgekehrten Staatsangehörigen. Um zu verdeutlichen, dass nationale Verlustbewältigung das Ergebnis von Machtkämpfen und ein Pendeln zwischen Verlust- und Wiederherstellungsorientierung ist, zeichnet der Autor wesentliche Entwicklungen beider Länder nach der Diktatur nach. Ein kleiner Ausschnitt sei hier wiedergegeben: VO: Im Dezember 1983 wird in Argentinien Raúl Alfonsín zum Präsidenten gewählt. Dieser gründet umgehend eine Nationale Kom-

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mission, besetzt mit Gegnern der Diktatur, die die Menschenrechtsverletzungen der Diktatur aufklären soll. Gleichzeitig wird das Gesetz, das den Tätern Straferlass zugestand, aufgehoben. WO: Alfonsín befürchtet dann aber, dass durch die Aufhebung des Amnestiegesetzes eine Prozesswelle in Gang gesetzt wird, der die junge Demokratie nicht gewachsen ist, und will nur hochrangige Offiziere unter Anklage stellen. VO: Alfonsíns Plan löst eine große Protestwelle aus. Breite Teile der Bevölkerung sind nicht damit einverstanden, dass viele schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen unbestraft bleiben sollen. VO: Die Wahrheitskommission erklärt ca. 9.000 Verschwundene für tot. Die Menschenrechtsgruppen gehen aber von mehr als 30.000 Verschwundenen aus. Es kommt zu Massendemonstrationen, die an die Verschwundenen erinnern und Aufklärung sowie Gerechtigkeit einfordern.

Auf die staatliche Umgangsweise mit Kriegsoder Diktaturopfern haben viele Einzelpersonen und rivalisierende Interessengruppen Einfluss. Doch auch umgekehrt wirkt sich der staatliche Umgang mit der Vergangenheit auf die individuelle Bewältigung aus. So kann beispielsweise eine unzureichende nationale Verlustorientierung, die sich darin äußert, dass die Täter straffrei bleiben, die individuelle Verarbeitung eines Verlustes beeinträchtigen. Wenn Hinterbliebene wissen, dass die Täter unbehelligt in der Nachbarschaft leben, kann dies die therapeutische Hilfe erschweren und Hinterbliebene möglicherweise sogar retraumatisieren. Psychologen, die in Ländern arbeiten, in denen durch Krieg oder Diktatur viele Menschen getötet wurden, müssen daher die nationalen Trauerprozesse verstehen und berücksichtigen. Dabei kann ihnen das DPM als Modell eine Hilfe sein. Möchten Sie mehr zu diesem oder anderen Themen aus der Trauerforschung erfahren? Melden Sie sich gern beim kostenlosen Newsletter »Trauerforschung im Fokus« unter www.trauerforschung.de an oder schreiben Sie uns einfach eine Mail.

Schlussfolgerungen Robben kommt bei seiner Untersuchung zu der Einschätzung, dass das DPM einen hilfreichen theoretischen Rahmen bietet, um nationale Bewältigungsprozesse besser verstehen zu können. Insbesondere der Aspekt des ständigen Pendelns zwischen verlust- und wiederherstellungsorientiertem Prozess half, die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Argentinien und Chile einzuordnen. Verlustbewältigung auf nationaler Ebene braucht eine ausgewogene Balance zwischen beiden Prozessen. Das Pendeln ist somit unvermeidlich. Bliebe es aus, so würde die zu einseitige Betonung von Versöhnung (WO) das Bedürfnis der Menschen nach Gerechtigkeit verletzen. Und eine zu stark ausgeprägte Betonung von Vergeltung (VO) würde das Zusammenleben von Tätern und Opfern erschweren. Beides wäre hinderlich für eine »erfolgreiche« Vergangenheitsbewältigung.

Heidi Müller, Diplom-Politologin, Herausgeberin des Newsletters »Trauerforschung im Fokus«. E-Mail: heidi.mueller@trauer­ forschung.de Hildegard Willmann, Diplom-Psychologin, Herausgeberin des Newsletters »Trauerforschung im Fokus«. E-Mail: [email protected] Anmerkung 1

Der Autor begründet diese auf den ersten Blick irritierende Zuordnung, indem er sich einer Einschätzung von Young anschließt: »Indem die Erinnerung die Gestalt eines Monumentes bekommt, entledigen wir uns der Verpflichtung des Erinnerns« (Young, J. E.: The texture of memory. Holocaust memorials and meaning. New Haven, CT, 1993, S. 5).

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FORTBILDUNG

Familiensache – Leidvolle Verwandlungen Ein Tagesseminar zur systemischen Filmdeutung

Otto Teischel Die Filmdeutung als Weg zum Selbst

Familiensysteme im Film

Wie bei kaum einer anderen Kunstform verbergen sich gerade im (Spiel-)Film ungeahnte Reichtümer der Erkenntnis: Er spricht uns, mit nahezu allen Sinnen gleichzeitig, im Kopf und im Herzen an und weil – vom Drehbuch bis zum Schnitt – so viele Menschen mit unterschiedlichsten Ausdrucksweisen daran beteiligt sind, gehen auch ebenso vielfältige Botschaften in ihn ein, die zudem noch jeder Betrachter mit »eigenen Augen« entziffert. Die komplexe Filmsprache erfordert eine ganz besondere Art der Aufmerksamkeit, aber wenn wir unter ihrer Oberfläche zu lesen lernen, stoßen wir überall auf Spuren der menschlichen Sehnsucht nach Sinn und Transzendenz und wir erkennen womöglich in den Geschichten und Personen auf der Leinwand das eigene Schicksal wieder. Durch die auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig – körperlich, seelisch und geistig – einsetzenden Identifikations- und Übertragungsprozesse bieten sich vielfältigste Ansätze und Perspektiven für einen existenzerhellenden oder psychotherapeutischen Zugang – je nach Interesse oder Symptomatik eines Menschen. Der Betrachter lernt beiläufig und zugleich durch seine aktiv gelenkte und empathisch beteiligte Aufmerksamkeit gegenüber der Filmgeschichte, die eigene Wirklichkeit bewusst und verändert wahrzunehmen. Dadurch wird er womöglich einen neuen Zugang zur eigenen Biographie und den problematischen Situationen seiner Existenz erhalten, die in der Reflexion und im Gespräch über die Filminszenierung ebenso neue Perspektiven für eine therapeutische Intervention eröffnen können.

Immer wieder erreichen Spielfilme große Aufmerksamkeit, die uns Familiengeschichten erzählen und dem Zuschauer dabei tief berührende, erschütternde, verstörende oder auch ermutigende Beispiele vor Augen führen und ihn so zur Auseinandersetzung mit seiner eigenen Biographie oder seiner persönlichen gegenwärtigen Situation anregen können. Entweder bilden sich Familien erst im Verlauf der Filmhandlung oder sie werden gleich als bestehende Systeme eingeführt. Oft durchleben sie gemeinsam Krisen, wachsen an ihren Schwierigkeiten oder zerbrechen an ihnen. Immer wieder meinen es Eltern gut mit ihren Kindern und tun ihnen trotzdem schreckliche Gewalt an – ganz so wie im »wahren Leben«. Angst und Ohnmachtsgefühle, Eifersucht und Geltungsdrang, Zwänge und Hemmungen, die meist der eigenen Herkunftsfamilie entstammen, wirken sich auf die gegenwärtigen Familienbeziehungen aus und erzeugen eine beklemmende Atmosphäre voller Misstrauen und Sprachlosigkeit, in der keine gedeihliche Entwicklung mehr möglich ist und alle miteinander verstrickt sind – ein jeder ko-abhängig von den Bedürfnissen, Launen und Erwartungen des anderen/ der anderen. Wie es in den Liebesfilmen und Paargeschichten alle Arten und Konstellationen von befreienden und beglückenden oder verhängnisvollen und zerstörerischen Beziehungen gibt, führen uns auch jene Filme, die vom Schicksal einer Familie erzählen, alle Varianten menschlicher Möglichkeiten und Abgründe vor Augen.

Leidfaden, Heft 3 / 2015, S. 88–92, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015, ISSN 2192–1202

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Familiensache (One True Thing, USA, 1998)

Universal / Allstar

Immer wieder gibt es dabei zutiefst wahrhaftige Filmerzählungen, die nicht nur die existenzielle mit der sozialen Ebene verbinden, die Perspektive der Personen mit den Erfordernissen des (Familien-)Systems, in dem sie leben, sondern denen es auch gelingt, eine lebendige Balance zwischen den tragischen und beglückenden Momenten zu halten: zwischen den dunklen, unbewussten Dimensionen, die uns in Verzweiflung stürzen können, und der zutiefst empathischen Kraft gemeinsam getragener Verantwortung, die uns miteinander zu den Menschen reifen lässt, die wir sein können. Dabei handelt es sich sehr häufig um Filmgeschichten, die sich vor dem Hintergrund eines dramatischen Geschehens entfalten – von Leid, Schuld, Krankheit und Sterben erzählen –, das schließlich eine oder mehrere der betroffenen Personen verwandelt und zu neuen Perspektiven finden lässt. Ein solcher Film sei für diesen Fortbildungsimpuls exemplarisch vorgestellt, um daran die Einsatzmöglichkeit des Mediums Film gerade für die gemeinsame Betrachtung und Analyse systemischer Prozesse zu verdeutlichen. Filmanalysen in und mit einer Gruppe sind immer auch ein systemisches Geschehen der Interaktion von unterschiedlichen Erlebniswelten der beteiligten Zuschauer, von denen ein jeder, auch der (film-)theoretisch ganz ungeübte Betrachter, auf seine Weise angemessen auf das persönlich Wahrgenommene reagiert aufgrund seiner Herkunftsgeschichte in seinen jeweiligen (Familien-)Systemen. Das macht jede Diskussion nach einem gemeinsamen Filmerlebnis so lebendig und inspirierend – und, recht verstanden und angeleitet, zu einer (kleinen) Übung in gegenseitiger Wahrnehmung, Wertschätzung und Empathie für die Lebenswelten der anderen Zuschauer, die ihre eigenen Geschichten mitbringen und daher auf ihre Weise dem Filmgeschehen antworten.

USA 1998. Regie: Carl Franklin. Drehbuch: ­Karen Croner nach dem Roman von Anna Quindlen. Kamera: Declan Quinn. Musik: Cliff Eidelman. Schnitt: Carole Kravetz. Produktion: Universal. Darsteller/-innen: Meryl Streep, Renée Zellweger, William Hurt, Tom Everett Scott u. a. 127 Min.

Kurzinhalt (aus: Filmdienst 06, 1999) Eine Harvard-Absolventin und angehende Journalistin verehrt abgöttisch ihren Vater, einen brillanten Literaturprofessor, während sie die Liebe ihrer Mutter als naturgegeben hinnimmt. Als die Mutter an Krebs erkrankt, wird sie mit den wahren Strukturen in ihrer Familie konfrontiert, relativiert die Beziehung zum Vater und nimmt die bescheidene Aufopferung der Mutter als Größe wahr. Ein feinfühliger Film über einen innerfamiliären Heilungsprozess, der geschickt die Balance zwischen Nähe und Distanz zu den Charakteren hält und durch die Idealbesetzung der Hauptfiguren zu einer überzeugenden Einheit findet.

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Deutungsaspekte des Films Die junge Hauptdarstellerin Ellen Gulden (Renée Zellweger) begreift im Verlauf der Geschichte die Bedeutung ihrer Herkunft und den Sinn ihrer Lebenserfahrungen, die sie von Anfang an zu jener Person werden ließen, mit der sie sich durch die plötzlichen, dramatischen Entwicklungen in ihrer Familie unausweichlich konfrontiert sieht. Im Film verkörpert ihr Vater, George Gulden (William Hurt), ein renommierter Literaturprofessor und Schriftsteller, zu dem sie voller Bewunderung aufblickt, zunächst all jene guten Einflüsse und intellektuellen Tugenden, auf die sie stolz ist und denen sie nachzueifern versucht. Auf ihre Mutter, Kate Gulden (Meryl Streep), sieht sie eher mitleidig und milde spöttisch herab, scheint die doch in ihrer Rolle als Hausfrau und Familienglucke genau in jener kleinkarierten Engstirnigkeit und Beschränktheit dahinzuleben, der die Tochter um jeden Preis entfliehen will. Als jedoch, ausgelöst durch die lebensbedrohliche Krebserkrankung ihrer Mutter, die vordergründig stabilen Verhältnisse gehörig ins Wanken geraten, durchlebt Ellen einen entscheidenden

Entwicklungsprozess. Die existenzielle Grenzerfahrung stürzt sie in eine schwere Identitätskrise voller Enttäuschungen und Zweifel und führt sie schließlich auf einen wahrhaftigen Weg zu sich selbst. Sie vermag sich von ihren fremdbestimmten, egozentrischen Leitbildern zu lösen und zu einem verantwortlichen, an inneren Werten orientierten, selbstgenügsamen Dasein zu finden. Dazu verhilft ihr vor allem auch die Erfahrung jener selbstbewussten, persönlichen Größe, die ihre Mutter im Umgang mit dem nahen Tod beweist. Wie Kate ihr Leiden erträgt und, versöhnt mit dem eigenen Schicksal, nicht nur ihrem Ehemann die Untreue und alle anderen Schwächen verzeiht, sondern ihr Leben lang ganz bewusst, aufrichtig und selbstlos um die Harmonie der Familie und das Wohlergehen ihrer Kinder bemüht gewesen ist, offenbart Ellen die oberflächliche Selbstbezogenheit ihres eigenen, fremdbestimmten Daseins. Auch wenn weit zurückreichende Konflikte zwischen den Eltern wieder aufzubrechen drohen und wir miterleben können, wie Kate und George sich der Tatsache, dass ihnen nicht mehr viel gemeinsame Zeit bleibt, zu stellen versuchen,

Szene aus dem Film Familiensache (1998) – Universal / Allstar L E I D FA D E N   – FAC H M AG A Z I N F Ü R K R I S E N , L E I D, T R AU E R   H e f t  3  /  2 0 1 5

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ist die Geschichte vor allem als innerer Entwicklungsprozess der Tochter angelegt. Darauf verweist gleich zu Beginn die Rahmenhandlung des Films, in der Ellen die Ereignisse rückblickend, aus ihrer Sicht, einem Anwalt erzählt, der die genauen Umstände des Todes – die Mutter verstarb schließlich an einer Überdosis Morphium – aufzuklären hat. Dank eines großartigen Schauspielerensembles – das Krankheit und Verzweiflung ebenso anrührend auszudrücken versteht wie die warmherzigen, liebevollen Augenblicke familiärer Nähe und Geborgenheit – und dank der Stimmigkeit von Drehbuch und behutsamer Regie wird der Film zu einer komplexen Studie über die Bedeutung der Familie für die Existenz des Einzelnen: als Ort der eigenen Herkunft. Zur Psychologie der Filmcharaktere Die Mutter Der tapfere Umgang der Mutter mit ihrem nahenden Tod, der Gleichmut, mit dem sie ihr Schicksal erträgt, dankbar für alles, was sie erleben durfte, ihre Güte und Großzügigkeit, mit der sie ihrem Mann seine kleinen Affären verzeiht und ihren Kindern Verständnis entgegenbringt, bieten dem Zuschauer vielfältigen Anlass zur Reflexion – in ethischer Perspektive wie im Hinblick auf die Deutung ihres Verhaltens. Hat Kate sich in eine Opferrolle gefügt oder nimmt sie sich freiwillig zurück aus Liebe zu ihrer Familie? Der Vater Die Selbstbezogenheit des ehrgeizigen Vaters, der ganz für seinen Beruf und das öffentliche Ansehen zu leben scheint und darüber seine Familie vernachlässigt, provoziert kontroverse Deutun-

gen: etwa im Hinblick auf den Stellenwert seiner Arbeit und deren verborgene Motive, die (auch) als Ausprägungen eines typisch männlich-narzisstischen Geltungsdrangs erscheinen können. Aus welchem inneren Mangel heraus muss George sich so wichtig nehmen und welche Rolle glaubt er vielleicht in der Familie spielen zu müssen? Die Tochter Im Zentrum des Films stehen die Verunsicherungen und Wandlungsprozesse, die sich für die Tochter ereignen, weil sich darin nicht nur ihr eigener Identitätskonflikt abbildet, sondern zugleich auch die Erschütterung der Familie (als Einheit) spiegelt. Ellen wirkt noch ehrgeiziger als ihr bewunderter Vater und muss nicht nur mit dem Verlust ihrer Arbeit und dem Zerbrechen ihrer eigenen Beziehung fertig werden, sondern sie lernt mit der Zeit ihre als spießig belächelte Mutter in einem ganz anderen Licht zu sehen, während das väterliche Vorbild zugleich immer mehr Schwächen und Illusionen erkennen lässt. Der Bruder Ellens Bruder Brian spielt im Film wie in der Familie eine eher untergeordnete und zurückhaltende Rolle, steht jedoch der lebensfrohen und humorvollen Mutter deutlich näher als seinem ehrgeizigen Vater. Dessen Ansprüchen verweigert er sich zunächst durch inneren Rückzug und entscheidet sich schließlich bewusst gegen eine akademische Laufbahn. Wesentlich wird für die Zuschauer zuletzt die Frage, ob und auf welche Weise es den Angehörigen gelingt, ermutigt durch die selbstlose Liebe der Verstorbenen, zu sich selbst und einer wahrhaftigen Verbundenheit zu finden.

Tr a u e r h a t S y s t e m

9 2   Fo r t b i l d u n g

Möglicher Ablauf der Fortbildungseinheit 09:00

• • • •

09:30

• Kurze Einführung zur Filmtherapie • Bezug zum konkreten Thema der Einheit • Zur Auswahl des Films mit kurzer Einführung (wichtige Hintergrundinformationen) • Kurze Pause mit Vorbereitung der Projektion

10:30

• Filmvorführung mit kurzer Aufmerksamkeitsschulung vorab: Worauf können bzw. sollten die Teilnehmer achten?

12:45–14:00

Begrüßung der Teilnehmer Vorstellung des/der Referenten Zum Ablauf der Einheit Vorstellungsrunde der Teilnehmer (je nach Gruppengröße) mit ihren Erfahrungen und Erwartungen zum Einsatz des Mediums

Mittagspause

14:00–14:45

• Rundgespräch: Allgemeine Fragen zum Film, um ein atmosphä­ risches Gespür zu erzeugen und die vertiefende Analyse vorzu­ bereiten. • Impulsfragen: Wie hat Ihnen der Film gefallen? Welcher Protagonist hatte Ihre besondere Aufmerksamkeit und warum? Welche Szenen haben Sie besonders berührt? Was beabsichtigt der Film Ihrer Meinung nach? Wie stimmig erscheint Ihnen die Umsetzung des Themas? Was ist für Sie allgemein übertragbar? Wie gelungen erscheint Ihnen die Inszenierung (Stärken/ Schwächen)?

14:45–16:00 (inklusive Pause)

• Vertiefende Filmanalyse in Kleingruppen: Übertragung und Selbsterkenntnis Herausarbeitung eigener Deutungsaspekte

16:00–17:30

• Plenum: Gemeinsame Filmdeutung im Hinblick auf thematisch beziehungsweise systemisch relevante Fragestellungen Dr. Otto Teischel, Philosoph, Psychotherapeut und Schriftsteller, ist in eigener psychotherapeutischer Praxis in Klagenfurt am Wörthersee tätig. Er hat langjährig ambulant und stationär mit Filmtherapie gearbeitet.

Literatur Teischel, O.: Die Filmdeutung als Weg zum Selbst. Einführung in die Filmtherapie. Norderstedt 2007. Teischel, O.: Seelenspiegel Film. When A Man Loves A Woman. Eine exemplarische Deutung. Norderstedt 2011.

E-Mail: [email protected] Website: www.teischel.com

L E I D FA D E N   – FAC H M AG A Z I N F Ü R K R I S E N , L E I D, T R AU E R   H e f t  3  /  2 0 1 5

REZENSION

Ich nannte ihn Krawatte

Milena Michiko Flašar: Ich nannte ihn Krawatte. Berlin: Klaus Wagenbach Verlag, 2012,144 Seiten. Gebunden 16,90 Euro (München: btb, Taschenbuch 8,99 Euro) Ein salaryman und ein junger Mann, ein hikikomori, begegnen sich im Park. Aus der Sicht des hikikomori geschrieben schildert der Roman »Ich nannte ihn Krawatte« von Milena Michiko Flašar die langsame Annäherung der beiden Außenseiter und wie sich ihr Vertrauen zum anderen und in sich selbst behutsam entwickelt. Der salaryman, Ohara Tetsu, 58 Jahre alt, der als Büroangestellter eigentlich eine lebenslange Anstellung hat, hat seine Arbeit verloren, weil er buchstäblich aus dem Tritt gekommen ist. Seine Frau Kyodo bereitet ihm nach wie vor jeden Morgen seine Bento-Box, ein japanisches Mittagessen mit vielen unterschiedlichen Essenshappen, weiß – angeblich – nichts von der Arbeitslosigkeit und ist überrascht, dass ihr Mann keine Überstunden mehr macht. Der hikikomori, Taguchi Hiro, 20 Jahre alt, hat sich vor zwei Jahren von der Welt in sein Kinderzimmer zurückgezogen, spricht nicht mit seinen Eltern und starrt stattdessen auf einen Riss

Ulrike Naschold in der Wand seines Zimmers. Der letzte Satz, den er sprach, war: »Ich kann nicht mehr!«, sein Leitspruch, sein Motto. Danach verweigert er sich der von den Eltern vorgesehenen Zukunft, die sich nur realisiert, wenn er »funktioniert«. Nachdem Taguchi drei Monate lang täglich allein auf einer Bank im Park gesessen hatte, taucht plötzlich Ohara auf, den er zunächst nur beobachtet. Er empfindet Mitgefühl – ein Wort, das ihm lange nicht einfällt. Die Beobachtung bringt ihm etwas Abwechslung in die »zähe Ewigkeit des Tages«. »Die Gewissheit, dass er vergehen würde, war nichts gegen die fade Melancholie, mit der er verging.« Sie brauchen eine lange Zeit, bis sie ins Gespräch kommen. So erfahren wir ihre Geschichten, die sie mit sich herumtragen und lange nicht erzählt haben. Sie beginnen oft wunderbar und entwickeln sich dann zu einem wahren Albtraum. In dem schmalen, aber so gehaltvollen Buch geht es um Erwartungen – eigene, die der Familie und der Gesellschaft –, um Schweigen und Nicht-sprechen-Können, um Scham für eigenes Handeln beziehungsweise Nichthandeln und für Gefühle, um das Erdrücktwerden von der Last der eigenen Schuld und die Erleichterung, die man empfindet, wenn man es geschafft hat, sich den eigenen Themen zu stellen. Wer kennt das nicht? »Hätte ich. Wäre ich. Es gibt nichts Trostloseres als den Konjunktiv der Vergangenheit.« Sätze wie diese bleiben der Leserin lange im Gedächtnis.

Leidfaden, Heft 2 / 2015, S. 93–93, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015, ISSN 2192–1202

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NACHRICHTEN

In neuer Konstellation. Eindrücke von der Jahrestagung 2015 des BVT in Bremen Christine Fleck-Bohaumilitzky In zeitlichem Zusammenhang mit der Bremer Messe »Leben und Tod« fand vom 5. bis 7. Mai 2015 die Jahrestagung des BVT statt. Die Qualifizierenden trafen sich in einem von der Messe Bremen kostenlos zur Verfügung gestellten Raum. Die Tagung hatte diesmal einen anderen Rahmen – bisher hatten die Treffen in Bildungshäusern stattgefunden, wo auch getagt, gewohnt und gegessen wurde. In Bremen ging am Abend jeder in sein Hotel, aber nicht ohne ein gemeinsames Abendessen, wo es viel zu lachen gab.

Bei der Tagung konnte auch die neue hauptamtliche Mitarbeiterin der Geschäftsstelle, Felicitas Karsch, vorgestellt werden. Seit Januar 2015 arbeitet sie – größtenteils vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht finanziert – mit einer halben Stelle in der Geschäftsstelle in Göttingen. Ihre Vorgängerin, Marit Ketelsen, steht nach wie vor unterstützend zur Verfügung. Die Tagung fand erstmals in verschiedenen Teilen statt. So traf sich am Dienstag und Mittwoch die Runde der Qualifizierenden; viele Themen wurden besprochen und auch kontrovers diskutiert. Als spezielles Themenfeld und Aufga-

BVT-Mitgliederversammlung in Bremen 2015

Leidfaden, Heft 2 / 2015, S. 94–98, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015, ISSN 2192–1202

N a c h r i c h t e n   9 5

be der Lehrenden bleibt, für die Strukturen der Qualifizierungen zu sorgen. Nachdem 2014 durch eine Änderung der Satzung neben den Qualifizierenden eine ordentliche Mitgliedschaft von qualifizierten Begleitenden möglich wurde, konnte man diese Veränderung in der Mitgliederstruktur im BVT nun in der Realität erleben: 18 Qualifizierende und 17 Begleitende waren nach Bremen zu einem Treffen und zur Mitgliederversammlung gekommen. Es gibt im BVT – der inzwischen auf eine GesamtMitgliederzahl von ca. 150 angewachsen ist – zwei Sektionen: die der Qualifizierenden und die der Begleitenden. Alle Mitglieder haben in der Mitgliederversammlung gleiches Stimmrecht. Die Begleitenden beginnen sich momentan auf regionaler Ebene selbst zu organisieren. In verschiedenen Regionen haben Regionaltreffen stattgefunden. Die weitere inhaltliche Arbeit im BVT findet in Arbeitsgruppen (AGs) statt, die in Zukunft aus beiden Sektionen besetzt werden, sofern es sich nicht um Standardfragen der Qualifizierung dreht. Vor der Mitgliederversammlung war es den Mitgliedern – die sich in vielen Fällen noch nicht persönlich kannten – möglich, sich in kleinen Gruppen in lebendigen Gesprächen zu begegnen, sich näher zu kommen und aus ihrer Praxis zu berichten. In gemischten Kleingruppen wurden Erwartungen an die Arbeit im BVT zu der Thematik »Kultur – Struktur – Prozess« formuliert, ausgetauscht und schriftlich dokumentiert. Dies hatte seinen Grund: Wenn sich die Struktur einer Organisation verändert, hat das Folgen für die Kultur der Organisation. Auf die Kultur kann (und muss) ebenfalls Einfluss genommen werden, wenn man möchte, dass etwas so bleibt oder sich ändert. All dies geschieht in einem lebendigen Prozess aller Beteiligten. In der kurzen

BVT-Stand auf der Messe »Leben und Tod« in Bremen 2015

Zeit der Tagung konnte dies in den Gruppen, der Mitgliederversammlung und in den vielen persönlichen Gesprächen untereinander live erlebt und gestaltet werden. Auch wenn die Zahl der Teilnehmenden beim Treffen und bei der Mitgliederversammlung mit nur 35 relativ klein erscheint, war es eine sehr konstruktive Tagung, die dem Prozess der Weiterentwicklung des BVT wichtige Impuls gegeben hat. Am Freitag und Samstag (8./9. Mai) war der BVT mit einem Stand auf der Messe »Leben und Tod« in Bremen vertreten. Mitglieder aus beiden Sektionen standen dort als Ansprechpartner zur Verfügung. Der Stand fand reges Interesse, ständig waren Besucher dort im Gespräch zu sehen. Mehrere Mitglieder des BVT beteilig-

Jetzt! Leben mit Krebs

9 6   N a c h r i c h t e n

Trauerlabyrinth auf der Messe »Leben und Tod« in Bremen 2015

ten sich auch am Programm der Messe: Anke Grimm mit einem Vortrag »Kondolieren – aber wie?«, Uta Schmidt mit »Auf der Suche nach Halt – Biblische Gottesbilder und spirituelle Impulse für Trauernde und Begleitende« und Monika Müller mit dem Auftaktvortrag »Aushalten oder Widerstehen?«. Eine Möglichkeit zu kreativem Gestalten wurde den Besuchern der Messe von Christina Gburek, Beate Hinzmann-Klose und Hildegard Kluttig (Sektion der Begleitenden) angeboten. Bremen war also nicht eine Veranstaltung, sondern ein »ganzer Blumenstrauß« von unterschiedlichen Veranstaltungen.

Seit Ende Februar 2015 gibt es auch die Möglichkeit, den Bundes­verband Trauerbegleitung e. V. auf Facebook zu besuchen!

L E I D FA D E N   – FAC H M AG A Z I N F Ü R K R I S E N , L E I D, T R AU E R   H e f t  2  /  2 0 1 5

N a c h r i c h t e n   9 7

Zweites Infotreffen in Nordrhein-Westfalen zur Mitgliedschaft für Trauerbegleiter im BVT Am 24. April 2015 fand das zweite von mehreren geplanten Infotreffen in NRW zur Mitgliedschaft im BVT in der privaten Trauerakademie Fritz Roth in Bergisch Gladbach statt. Neben über 20 interessierten Trauerbegleiterinnen und Trauerbegleitern, die in verschiedenen Instituten in den letzten 15 Jahren die Große Basisqualifikation zum Trauerbegleiter abgeschlossen hatten oder kurz vor dem Abschluss stehen und sich für die Mitgliedschaft in der Sektion Begleitende des BVT interessieren, waren zwei

Mitglieder des BVT aus der Sektion Qualifizierende als Informierende anwesend. Zunächst nahmen das gegenseitige Kennenlernen und die Vernetzung der Teilnehmenden breiten Raum ein. Danach gab es Informationen zu aktuellen Entwicklungen des BVT und zu den Aufnahmevoraussetzungen. Auch Fragen wurden beantwortet und Wünsche der Teilnehmenden an den BVT benannt. David Roth

Abbildungslegende: BVT-Infotreffen in Nordrhein-Westfalen in der Trauerakademie Fritz Roth in Bergisch Gladbach, April 2015

Jetzt! Leben mit Krebs

9 8   N a c h r i c h t e n

BVT-Vorstands­ mitglied Uta Schmidt stellt sich vor

Seit 2011 bin ich als Mitglied des BVT fasziniert von diesem Verband, der so engagiert darin unterwegs ist, Trauernden eine professionelle Begleitung und Beratung sicherstellen zu können. Dabei erlebe ich nicht nur die fachliche Diskussion um Standards in den Fortbildungen, Entwicklungen neuer Konzepte, das Vorstellen neuer Methoden für die Begleitungsarbeit als hilfreich, sondern genieße die Vernetzung mit Menschen aus unterschiedlichen Kontexten mit ihren vielfältigen Sichtweisen und Qualitäten. Bunt. Anregend. Lebendig. Seit 2014 arbeite ich gern im Vorstand eines Verbandes mit, der weiter wächst, sich strukturell findet, dessen Wirkung auch nach außen deutlich zunimmt. Gut so. Nach langer hauptamtlicher Tätigkeit als Koordinatorin eines ambulanten Hospizvereins bin ich nun freiberuflich unterwegs als Dozentin in den Bereichen Sterbe- und Trauerbegleitung sowie Spiritual Care, als Supervisorin (DGSv, SG) vor allem im Gesundheits- und Sozialbereich, als Coach (DGSv). Ich lebe in einem kleinen Dorf, Leubsdorf/ Rhein, im nördlichen Zipfel von Rhein­landPfalz und bin erreichbar unter: [email protected] www.utaschmidt.com

Studie über seelsor­ger­ liche Praxis von Trauerbegleitern Wer hat Interesse teilzunehmen? Trauerbegleitung ist ein neuzeitliches Phänomen, das stark an den kirchlichen Dienst der Trauerseelsorge von Pfarrern erinnert. Inwiefern lässt sich von einer Verschiebung der seelsorgerlichen Funktion reden und welche Konsequenzen folgen daraus? In einer wissenschaftlichen Untersuchung im Rahmen einer Doktorarbeit an der Universität Rostock, gefördert vom Europäischen Sozialfonds, soll die seelsorgerliche Dimension der Arbeit von Trauerbegleitern erforscht werden. Im Fokus stehen vor allem die Erfahrungen von Trauerbegleitern im Umgang mit Menschen, die um einen Verstorbenen trauern: Was passiert aus praktisch-theologischer Sicht zwischen Trauerbegleitern und Trauernden? Eine Vergleichsgruppe bilden Bestatter, die über die reine Totenfürsorge hinaus zunehmend verschiedene Formen der Trauerhilfe anbieten. Es geht auch um berufstheoretische Folgefragen: Wird es in Zukunft den rechtlich anerkannten Beruf des Trauerbegleiters geben, dessen Ausbildung nach standardisierten Regeln abläuft? Sieht die Gesellschaft analog den Regeln medizinischer Berufe die Notwendigkeit zur Gesetzgebung? Gesucht werden Teilnehmer/-innen, die als selbstständige Trauerbegleiter/-innen arbeiten und Interesse an einem ca. 30- bis 45-minütigen Interview haben. Selbstverständlich werden alle Angaben anonymisiert. Wer an der Studie über die seelsorgerliche Praxis von Trauerbegleitern teilnehmen möchte oder Fragen hat, meldet sich bitte bei Simone Ripke (Ev. Dipl.-Theol., BA Min. Psych., Trauerseelsorgerin) unter: 069-798 234 76, E-Mail: [email protected] oder per Post an die Adresse: Senckenberganlage 31 (Fach 80), 60325 Frankfurt. Simone Ripke

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© Thorsten Adelt

»So ist das Gesundheitssystem: Wenn der Chefarzt sagt ›Mit dem Barometer messen‹, dann wird mit dem Barometer gemessen.«

Vorschau Heft 4|2015 Thema: Ehrenamt Nonprofit-Organisationen zwischen Enthusiasmus und Professionalisierung Ehrenamt in Europa: Einfluss von Kultur und Gesellschaft Freiwillige in der palliativmedizinischen Versorgung in Afrika Ehrenamt zurück in die Gemeinde Ehrenamtliche Begleitung bei Patienten mit HIV/AIDS Andere Kulturen – anderes Ehrenamt? Ehrenamtliche Hospizbegleitung in Pflegeeinrichtungen

Impressum Herausgeber/-innen: Monika Müller M. A., KAB-Ring 22, 53359 Rheinbach E-Mail: [email protected] Prof. Dr. med. Lukas Radbruch, Zentrum für Palliativmedizin, Von-Hompesch-Str. 1, 53123 Bonn E-Mail: [email protected] Dr. phil. Sylvia Brathuhn, Frauenselbsthilfe nach Krebs e. V., Landesverband Rheinland-Pfalz/Saarland e. V. Schweidnitzer Str. 17, 56566 Neuwied E-Mail: [email protected] Dipl.-Psych. Thorsten Adelt (Bonn), Dr. Dorothee Bürgi (Zürich), Prof. Dr. Arnold Langenmayr (Ratingen), Markus Melchers M. A. (Bonn), Dipl.-Sozialpäd. Heiner Melching (Berlin), Dr. Christian Metz (Wien), Dipl.-Päd. Petra Rechenberg-Winter M. A. (Eichenau) Bitte senden Sie postalische Anfragen und Rezensionsexemplare an Monika Müller, KAB-Ring 22, 53359 Rheinbach Wissenschaftlicher Beirat: Dr. Colin Murray Parkes (Großbritannien), Dr. Sandra L. Bertman (USA), Dr. Henk Schut (Niederlande), Dr. Phyllis Silverman (USA), Dr. Margret Stroebe (Niederlande) Redaktion: Ulrike Rastin M. A., Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Robert-Bosch-Breite 6, 37079 Göttingen, Tel.: 0551-5084-423, Fax: 0551-5084-477 E-Mail: [email protected] Bezugsbedingungen: Leidfaden erscheint viermal jährlich mit einem Gesamtumfang von ca. 360 Seiten. Bestellung durch jede Buchhandlung oder beim Verlag. Jahresbezugspreis € 68,00 D / € 70,00 A / SFr 85,50. Institutionenpreis € 132,00 D / € 135,80 A / SFr 172,00, Einzelheftpreis € 19,95 D / € 20,60 A / SFr 26,90 (jeweils zzgl. Versandkosten), Online-Abo inklusive für Printabonnenten. Preisänderungen vorbehalten. Die Bezugsdauer verlängert sich jeweils um ein Jahr, wenn nicht eine Abbestellung bis zum 01.10. erfolgt. Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstr. 13, 37073 Göttingen; Tel.: 0551-5084-40, Fax: 0551-5084-454 www.v-r.de ISSN 2192-1202 ISBN 978-3-525-80610-4 ISBN 978-3-647-80610-5 (E-Book) Umschlagabbildung: Birgitta Hadatsch-Metz und Christian Metz (zugleich Titelbild für das Symposium »Wohlordnung: Der schwer­ kranke Mensch als Mittelpunkt von Familien- und Sorgesystemen«, das im Oktober 2014 im Kardinal König Haus Wien stattgefunden hat) Anzeigenverkauf: Ulrike Vockenberg, E-Mail: [email protected] Bestellungen und Abonnementverwaltung: HGV Hanseatische Gesellschaft für Verlagsservice mbH, Servicecenter Fachverlage, Holzwiesenstr. 2, 72127 Kusterdingen; Tel.: 07071-9353-16, Fax: 07071-9353-93, E-Mail: [email protected] Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. © 2015 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen Gestaltung, Satz und Lithografie: SchwabScantechnik, Göttingen Druck: Memminger MedienCentrum, Memmingen Printed in Germany

Trauerbegleitung systemisch – was ist das?

Wie reagiere ich bei Trauerfällen in fremden religiösen Kontexten?

Lebensfreude, Lebensbrüche, Lebensfülle – Wege entstehen beim Gehen

Petra Rechenberg-Winter / Esther Fischinger

Kursbuch systemische Trauerbegleitung

2. Auflage 2010. 237 Seiten, mit 8 Abb. und 1 Tab. sowie 1 CD, gebunden € 39,99 D ISBN 978-3-525-49133-1

Karlo Meyer Glaube, Gott und letztes Geleit

mit CD

Petra Rechenberg-Winter und Esther Fischinger stellen auf der Grundlage systemischen Arbeitens und gängiger Trauermodelle einen ganz neuen Ansatz zur Trauerbegleitung vor. Dieses Lehr- und Lernbuch vermittelt sowohl das theoretische Rüstzeug als auch praxiserprobte Methoden für die systemische Unterstützung von Trauernden. Fallbeispiele aus verschiedenen Berufsfeldern illustrieren die vorgestellten Vorgehensweisen. Umfangreiche Arbeitsmaterialien auf der beiliegenden CD laden zur eigenen Verortung und vertieften Auseinandersetzung mit den Inhalten ein. Pressstimmen »Dieses Kursbuch systemischer Trauerbegleitung stellt für den Bestatter [...] ein unverzichtbares Kompendium der eigenen Fortbildungs- und Ausbildungsverantwortung innerhalb seines Dienstleistungsinstituts dar.« bestattungskultur (Klaus Dirschauer)

Unterrichtsmaterial zu jüdischen, christlichen und muslimischen Bestattungen

2015. 202 Seiten, DVD mit Film und Materialien als PDF € 24,99 D ISBN 978-3-525-70214-7

Verlagsgruppe Vandenhoeck & Ruprecht

2192-1202_2015_02.indd 2

Information und Anmeldung: 0 27 61/ 941 29-33 oder www.kinderhospizforum.de

www.v-r.de

Rainer Schwing / Andreas Fryszer Systemische Beratung und Familientherapie – kurz, bündig, alltagstauglich

4. Auflage 2015. 168 Seiten, mit Illustrationen von Luise Rombach, kartoniert € 14,99 D ISBN 978-3-525-45376-6

»Das ›Kursbuch‹ stellt einen belebenden Lichtblick in der gegenwärtigen Trauerliteratur dar, der in erster Linie an die Adresse von Ausbildern gerichtet ist. Auch bereits in diesem Bereich tätigen Beratern und Therapeuten kann der Beitrag helfen, bisher wenig beachtete Ressourcen aufzuspüren, aber auch blinde Flecken ausfindig zu machen, ohne sich abgewertet zu fühlen.« socialnet.de (Hans Goldbrunner)

www.v-r.de

13. bis 14. November 2015 in Essen

Eine systemische Perspektive ist in allen Lebenslagen hilfreich

»Der wohltuend ›akzeptierende‹ Ansatz der beiden Autorinnen macht dieses Buch besonders lesenswert.« Rundbrief des Bundesverbandes Verwaiste Eltern in Deutschland e.V.

Verlagsgruppe Vandenhoeck & Ruprecht

6. Deutsches Kinderhospizforum

Ein Buch für interessierte Menschenauch ohne fachliche Vorbildung, die wissen möchten, wie systemische Beratung funktioniert und wo sie angewandt wird. Mit vielen Fallbeispielen und wertvollen Tipps für den Alltag! »lnsgesamt ein Buch, das einen sehr gut verständlichen und leicht lesbaren Einblick in systemisches Denken und Handeln gibt und dabei den Fokus auf viele praktische Anregungen legt.« systhema (Andreas Klink)

Verlagsgruppe Vandenhoeck & Ruprecht

www.v-r.de

03.07.15 12:47

Wie reagiere ich bei Trauerfällen in fremden religiösen Kontexten?

Lebensfreude, Lebensbrüche, Lebensfülle – Wege entstehen beim Gehen

Karlo Meyer Glaube, Gott und letztes Geleit Unterrichtsmaterial zu jüdischen, christlichen und muslimischen Bestattungen 2015. 202 Seiten, DVD mit Film und Materialien als PDF € 24,99 D ISBN 978-3-525-70214-7

Verlagsgruppe Vandenhoeck & Ruprecht

6. Deutsches Kinderhospizforum 13. bis 14. November 2015 in Essen Information und Anmeldung: 0 27 61/ 941 29-33 oder www.kinderhospizforum.de

www.v-r.de

Eine systemische Perspektive ist in allen Lebenslagen hilfreich Rainer Schwing / Andreas Fryszer Systemische Beratung und Familientherapie – kurz, bündig, alltagstauglich 4. Auflage 2015. 168 Seiten, mit Illustrationen von Luise Rombach, kartoniert € 14,99 D ISBN 978-3-525-45376-6

Ein Buch für interessierte Menschenauch ohne fachliche Vorbildung, die wissen möchten, wie systemische Beratung funktioniert und wo sie angewandt wird. Mit vielen Fallbeispielen und wertvollen Tipps für den Alltag! »lnsgesamt ein Buch, das einen sehr gut verständlichen und leicht lesbaren Einblick in systemisches Denken und Handeln gibt und dabei den Fokus auf viele praktische Anregungen legt.« systhema (Andreas Klink)

Verlagsgruppe Vandenhoeck & Ruprecht

www.v-r.de

4. Jg. | 3 | 2015

Leidfaden

4. Jahrgang

3 | 2015 | ISSN 2192-1202

faden Leid

FA C H M A G A Z I N F Ü R K R I S E N , L E I D , T R A U E R

Trauer hat System – Veränderungsdynamik in Krisen

Palliative Care – alles, was Sie wissen müssen Steffen Eychmüller (Hrsg.) Palliativmedizin Essentials Das 1x1 der Palliative Care 2015. 144 Seiten, kartoniert € 22.95

Das Autorenteam hat sich von den Zielgruppen intensiv beraten lassen, welche Informationen essenziell sind für mehr Sicherheit und Kompetenz in der Palliative Care. Mut zur Kürze prägt also die Palliativmedizin Essentials. Das Buch bietet deshalb stichwortartige Information für die rasche Orientierung und verweist ansonsten auf den «grossen Bruder», Das Handbuch Palliativmedizin. www.verlag-hanshuber.com/85496

Hans Neuenschwander / Christoph Cina (Hrsg.) Handbuch Palliativmedizin 3., vollständig überarbeitete Auflage 2015. 480 Seiten, gebunden € 34.95 ISBN 978-3-456-85274-4 auch als E-Book erhältlich

Dieses Handbuch hilft, die neuesten Erkenntnisse der Palliativmedizin täglich in die Praxis umzusetzen. Es orientiert sich sowohl an den für die Lebensqualität entscheidenden Symptomen als auch an grundsätzlichen Herangehensweisen an die besonderen Situationen, in denen Palliativmedizin gefordert ist. Als dritte, vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage im Auftrag von Krebsliga Schweiz und palliative.ch stellt das Handbuch die Summe der Erfahrungen der Schweizer Palliativmedizin dar.

Trauer hat System

www.verlag-hanshuber.com/85274

Veränderungsdynamik in Krisen

www.verlag-hanshuber.com

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Annette Linné-Genth Familiendynamik in Trauerprozessen und Familienkrisen

2192-1202_2015_02.indd 1

Ursula Wolter-Cornell Systemische Familienrekonstruktion Beatrix Weidingervon der Recke Kinderlose Menschen trauern – anders Mary Kreutzer Sterben,

ohne Bagdad noch einmal zu sehen 03.07.15 12:47