Transitorisch: Strategien gegen die Vergänglichkeit: Gestaltgebungen des Ephemeren in der Gegenwartskunst von Meret Oppenheim bis Christian Boltanski 9783839437674

TRANSITORINESS finds expression in contemporary art as an essential dynamic of our humanity and our fundamentally transi

186 108 17MB

German Pages 312 Year 2017

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Transitorisch: Strategien gegen die Vergänglichkeit: Gestaltgebungen des Ephemeren in der Gegenwartskunst von Meret Oppenheim bis Christian Boltanski
 9783839437674

Table of contents :
Inhalt
1. Einführung
2. Metamorphosen von Träumen, Monden und Wolken
3. Festhalten des Flüchtigen
4. Zwischen Eros und Thanatos
5. Brüchiger Glamour
6. Luftschlösser und Kartenhäuser
7. Existenzielle Licht- und Schattenspiele
8. Im Schwebezustand
9. Prospektive Nachbilder
10. Vorübergehende Zeichen-Setzung
11. Bruchstücke von Geschichten im Fluss
12. Auf beiden Seiten des Spiegels
13. Abdruck der Abwesenden
14. Liebesbriefe in Lichtblau
15. Gegen das Verschwinden
16. Epilog
Bibliografie
Nachweise
Bildnachweis
Dank

Citation preview

Belinda Grace Gardner Transitorisch: Strategien gegen die Vergänglichkeit

Image | Band 110

Meinen Wegbegleiterinnen und Wegbegleitern mit Dank für ihr Da-sein und So-sein

Belinda Grace Gardner (Dr. phil.), geb. 1960, Literatur- und Kunstwissenschaftlerin, ist in Hamburg als Kritikerin, Autorin und Kuratorin im Feld der Gegenwartskunst tätig. Sie lehrt an der Hochschule für bildende Künste Hamburg im Studienschwerpunkt Theorie und Geschichte. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Bildkonzepte der romantischen Liebe und des Ephemeren sowie (Re-)Konstruktionen von Wirklichkeit, Identität, Erinnerung, Ort und Raum in der aktuellen Kunst.



Belinda Grace Gardner



TRANSITORISCH: S T R AT E G I E N GEGEN DIE VERGÄNGLICHKEIT

Gestaltgebungen des Ephemeren in der Gegenwartskunst von Meret Oppenheim bis Christian Boltanski

Publiziert mit freundlicher Unterstützung der ALE-Stiftung

[Dissertation, Hochschule für Bildende Künste Braunschweig, Institut für Kunst­wissenschaft, 2016]

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elek­ tro­nischen Systemen. Umschlaggestaltung und Satz: Dodo Schielein, Hamburg Umschlagabbildung: Sergey Fesenko (http://de.123rf.com) Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3767-0 PDF-ISBN 978-3-8394-3767-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

I N H A LT

1 | Einführung 

9

2 | Metamorphosen von Träumen, Monden und Wolken Meret Oppenheims Formgebungen des Wandelbaren 

45

3 | Festhalten des Flüchtigen Daniel Spoerris Fallen des Augenblicks 

61

4 | Zwischen Eros und Thanatos Maria Fisahns Kreisläufe des Werdens und Vergehens 

75

5 | Brüchiger Glamour Marilyn Minters Störbilder des schönen Scheins 

89

6 | Luftschlösser und Kartenhäuser Catherine Bolducs anfällige (Des-)Illusionskunst 

105

7 | Existenzielle Licht- und Schattenspiele Naho Kawabes Sichtbarmachungen des Unsichtbaren 

117

8 | Im Schwebezustand Ena Swanseas verschleierte Zwielichtzonen 

129

9 | Prospektive Nachbilder Lorenz Estermanns nomadisierende (Un-)Möglichkeitsräume 

149

10 | Vorübergehende Zeichen-Setzung Mirko Reissers Signatur als temporäres Daseinssignet 

161

11 | Bruchstücke von Geschichten im Fluss Volker Langs Texträume und Erinnerungsgebäude 

173

12 | Auf beiden Seiten des Spiegels Luis Camnitzers multivalente Trugbilder 

189

13 | Abdruck der Abwesenden Teresa Margolles’ feinstoffliche Elegien 

207

14 | Liebesbriefe in Lichtblau Felix Gonzalez-Torres’ ephemere Botschaften des Begehrens 

227

15 | Gegen das Verschwinden Christian Boltanskis Spurensicherung zwischen den Zeiten 

247

16 | Epilog (Ver-) Rauschende Wirklichkeit 

275



289 305 307 309

Bibliografie Nachweise Bildnachweis Dank

Sit od etur re poritam res aborepe ribus, qu iandit etusant et volorerum faccae

Solorior atenda volorro dis aliquibus eium volendi gendae voluptibus veli

1 |

EINFÜHRUNG Die Zeit ist was / und nichts. Der Mensch in gleichem Falle. Paul Fleming1 Zusehends beginnt alles sich zu bewegen, das Sehen löst sich allmählich auf und bald auch die Materie und die Körper. Paul Virilio2

D

as Konzept des Ephemeren entfaltet sich im Spannungsfeld zwischen der Endlichkeit und der Transzendenz des menschlichen Daseins. Als ein dem Leben innewohnendes Urbild setzt es sich in der Erfahrung einer transitorischen Welt fort, deren Erscheinungen so flüchtig sind wie die vorüberziehenden Phantasmagorien in Platons Höhle der Schatten. Der Terminus des Transitorischen meint hier spezifisch einen Zwischenzustand, in dem die Idee der Bewegung, des Übergangs und des Vorübergehenden – im Sinne des Vergänglichen, Flüchtigen und Zwischenzeitlichen, aber auch im Sinne einer Passage von einem Ort zum anderen oder von einem Zustand in einen anderen – implizit mitschwingt. Während das Ephemere eine Verfassung inhärenter Flüchtigkeit, gewissermaßen eine flüchtige Prädisposition impliziert, weist das Transitorische auf einen Auflösungsprozess in der Schwebe, der anhaltend und dessen Ausgang ungewiss ist. Dem Transitorischen ist das Ephemere immanent. Doch aktiviert sich letzteres gleichsam darin und wird in diesem Zuge zu einer Bild stiftenden Kraft, einem Form gebenden Verfahren, einem Ausgangspunkt der Gestaltung, Transformation und Neuformulierung. Die in der vorliegenden Betrachtung versammelten kontemporären Künstlerinnen und Künstler machen das Vergängliche, Flüchtige, Verstreute, sich Auflösende, Ungreifbare, Diffuse und Nebulöse auf unterschiedliche Weise produktiv. Gemeinsam ist ihnen die Beschäftigung mit Grundfragen 1 2

Paul Fleming, Gedancken / über der Zeit (1642), in: Gerhard Hay; Sibylle von Steinsdorff (Hrsg.), Deutsche Lyrik vom Barock bis zur Gegenwart, München 1986 [1980], S. 16. Paul Virilio, Ästhetik des Verschwindens [Orig.: Esthétique de la disparition, Paris 1980], Berlin 1986, S. 56.

9

1 |   T R A N S I T O R I S C H : S T R AT E G I E N G E G E N D I E V E R G Ä N G L I C H K E I T

der Conditio humana und die Fokussierung auf eine Verbildlichung des Ephemeren und Transitorischen. Beginnend mit Meret Oppenheims zyklisch angelegten, naturreflexiven Metamorphosen des Flüchtigen in Bildern von Wolken, Monden und Träumen und mit Christian Boltanskis Sicherung von Erinnerungsspuren gegen das restlose Verschwinden des Menschen im medialen Bilderrauschen heute auf einer explizit offenen Note endend, machen die vereinten künstlerischen Ansätze zentrale Motive und das kaleidoskopische Spektrum des Ephemeren sichtbar, das in vielfältiger Weise ästhetisch angezapft, wirksam gemacht und zum Tragen gebracht wird. Das Transitorische zeigt sich darin als zutiefst existenziell – so leicht und vergänglich wie Schnee und so fragil wie das Leben und die Liebe. Als essen­ziell grenzüberschreitende, transzendente, Raum und Hoffnung gebende Energie gewinnt es in den künstlerischen Manifestationen haptische Gestalt. Die Untersuchung folgt den Motivlinien des Prozesshaften und Transformativen, das dem Transitorischen innewohnt. Weitere Themen sind das Spannungsverhältnis zwischen Vergänglichkeit und Dauer, Werden und Vergehen in Neudeutungen des barocken Vanitas-Motivkomplexes, die Verknüpfung multipler Realitätsebenen, das Enigmatische, die Sichtbarmachung des Unsichtbaren, der Umgang mit dem Fragmentarischen, Nichtkohärenten, Labilen sowie das helldunkle Spiel mit Licht und Schatten, Eros und Thanatos, Leben und Tod. Die Patterns des Ephemeren werden in ihrer materiellen, strategischen, gesellschaftlichen, temporalen und ästhetischen Dimension ausgelotet und in ihrer historischen Verankerung ebenso wie in ihrer Aktualität sichtbar. Unter spezifischem Rückgriff auf die barocke Stillleben- und Vanitas-Symbolik spannt sich der zeitliche Bogen von (post-) surrealen und prozesshaften künstlerischen Methoden ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis hin zu transmedialen Positionen der ersten Dekaden des 21. Jahrhunderts. Die in Berlin geborene, in Basel gestorbene Deutschschweizerin Meret Oppenheim (1913–1985), die 1936 als junge Künstlerin in Paris im Kreis der Surrealisten mit ihrer »Pelztasse«3 Furore machte, wird vornehmlich mit spä3

10

Meret Oppenheims berühmt gewordene »Pelztasse« von 1936 mit dem vieldeutigen Titel Dejeuner en fourrure (Frühstück im Pelz) wurde im selben Jahr im Rahmen der von André Breton organisierten ersten Ausstellung surrealistischer Objekte in der Pariser Galerie Charles Ratton ausgestellt. Dort von dem Gründungsdirektor des New Yorker Museum of Modern Art, Alfred H. Barr, entdeckt und für die Sammlung des MoMA erworben, avancierte die »Pelztasse« übernacht »zu einem der populärsten Kunstwerke des Surrealismus«. Der Erfolg, den die »Pelztasse« der jungen Künstlerin bescherte, reduzierte zugleich die Rezeption ihres Werks lange

EINFÜHRUNG

teren Werkabschnitten der 1960er und 1970er Jahre beleuchtet, in denen der surreale Geist noch spürbar ist, die sich aber deutlich in einem autarken transitorischen und transformatorischen Feld bewegen. Zusammen mit dem Schweizer Fallenbildner Daniel Spoerri (geb. 1930 in Galati, Rumänien) verleiht Oppenheim den versammelten Ausführungen eine historische Rahmung. Weitere klassische Vertreterinnen und Vertreter des Transitorischen und Ephemeren wie die Künstlerin der (Schreib-/Lebens-)Zeiterfassung Hanne Darboven (1941–2009) oder der Prozess- und Verfallskünstler Dieter Roth (1930–1998) treten durch die Seitentür ihrer Nachfolgerschaft auf. Der uruguayische Inszenator von Spiegelungen und Halluzinationen Luis Camnitzer (geb. 1937 in Lübeck) und der französische Erinnerungs- und Vergänglichkeitskünstler Christian Boltanski (geb. 1944 in Paris) stehen mit ihrem Werk für markante Perspektiven des Flüchtigen zwischen post-surrealer politisch aufgeladener Konzeptkunst (Camnitzer) und humanistisch unterfütterter Medienkunst (Boltanski). Die Zusammenschau fußt in der These, dass das Transitorische nicht nur ein grundlegendes Thema unserer menschlichen Existenz, sondern ein Kernphänomen unserer medial überfluteten, grundsätzlich flüchtigen Zeit ist, das sich in der Kunst der Gegenwart entsprechend als wesentliche ästhetische Strategie, als Material, als inhaltlicher Stoff und als Problemfeld akut niederschlägt. Die Künstlerinnen und Künstler, die hier beispielhaft in Einzeluntersuchungen vorgestellt und analysiert werden, repräsentieren signifikante Ausdrucksformen einer gegenwärtigen »Ästhetik des Ephemeren«. Rückblickend auf die Blütezeit des niederländischen Stilllebens im Barock als Zeit der Zerrissenheit, in der existenzielle Ängste und extremer Wohlstand aufeinanderprallen, wird die Vanitas als nachhaltige dialektische Bildfigur des Ephemeren zugrunde gelegt, die im aktuellen Paralleluniversum des ausgehenden 20. und frühen 21. Jahrhunderts neue Brisanz erhält. In der transformativen, zyklischen Dynamik, die darin als Aktivposten fruchtbar wird, gibt sich eine Variante der bewegungsimmanenten Auffassung des Transitorischen zu erkennen, die leitmotivisch diese Betrachtung durchzieht. Das bild- und wahrnehmungsstiftende Lebensgefühl der Verflüchtigung, das sich in der heutigen künstlerischen Praxis des Transitorischen weiterhin niederschlägt, kündigt sich am Vorabend der Moderne in Charles Baudelaires tempogeladenem Paris des 19. Jahrhunderts an. Die »Ästhetik Zeit auf dieses eine Objekt. (Vgl. dazu Josef Helfenstein, Meret Oppenheim und der Surrealismus, Stuttgart 1993, S. 73).

11

1 |   T R A N S I T O R I S C H : S T R AT E G I E N G E G E N D I E V E R G Ä N G L I C H K E I T

des Verschwindens«,4 die Paul Virilio als Symptom der automobilen, lokomotorischen5 Beschleunigungen im beginnenden Informationszeitalter des 20. Jahrhunderts diagnostizierte und die im (post-)digitalen (Ver-)Rauschen der Bilder heute ihre explosive Steigerung erfahren hat, setzt die fotografische Verflüchtigung der visuellen Welt in eine »Spur des Lichts«6 und die filmisch ausgelöste Wahrnehmungsdispersion als »Rezeption in der Zerstreuung«7 fort. Platons Schattenspiele kehren derweil als ephemere (Trug-)Bilder wieder, die wie ein Schleier über der Wirklichkeit liegen. Das Transitorische und Ephemere, das sich nach der tiefen Zäsur des Zweiten Weltkriegs und dem Desaster des Holocaust in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ver(sinn)bildlicht, gewinnt Gestalt vor dem Hintergrund einer weit reichenden Auflösung ethischer, metaphysischer, sozialer, ideologischer und territorialer Gewissheiten, die durch massive geopolitische Umwälzungen und Verschiebungen, Entwurzelung und Instabilität gekennzeichnet ist. Wir leben heute im 21. Jahrhundert in einer Zeit, in der die Faszination der Impressionisten und der frühen Fotografen, die ephemeren Erscheinungen des Lichts und der Wirklichkeit im Bild festzuhalten, der Frage gewichen ist, ob sich »Welt« und »Wirklichkeit« überhaupt noch fassen lassen oder ob sie endgültig im flirrenden Kosmos der Bilder aufgegangen sind. Es ist eine Zeit, in der »Identität« im zerbrochenen Spiegel einer fragmentarischen, instabilen Welterfahrung in ebensolchen Ästhetiken des Bruchstückhaften und Instabilen gedacht und dargestellt wird. Es ist eine Zeit, in der die Zeit selbst zunehmend dem Zugriff entgleitet, und in der sich der tief greifende Zeitverlust in einer frenetischen kollektiven Selbstvergewisserung über immer mehr »Bildbeweise« äußert. Es ist eine Zeit, in der aus dem Schwinden der Gewissheiten neue ästhetische Gestaltungen entstehen, die aus dem Wissen darum, das nichts von Dauer oder gar verbindlich ist, Spannung beziehen, und die im Einfangen, Festhalten, Dingfestmachen des Flüchtigen zwischen Ernst und Spiel ihr oszillierendes (Un-)Wesen treiben. 4

5 6 7

12

So der deutsche Titel von Paul Virilios maßgeblicher Abhandlung über die Auswirkungen zunehmender Geschwindigkeit auf die Gesellschaft des 20. Jahrhunderts, erschienen 1986 in Berlin. Ebd., S. 57. Hans Belting, Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2011 [2001], S. 25. Walter Benjamin, Das Kunstwerk in Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit [1939], Frankfurt/Main 2012 [2007], S. 47 [Herv. im Orig.].

EINFÜHRUNG

Vanitas – barock Als Bildkonzept verdichtet sich die Idee des Ephemeren motivisch erstmals in der holländischen Stilllebenmalerei des Barock, die im 17. Jahrhundert als gattungs- und zeitimmanenter Ausdruck einer »Epoche größter Verun­ sicherung«8 ihren Höhepunkt hat. In Holland, produktionsstarker Mittelpunkt des barocken Stilllebens und um 1670 die bedeutendste Handelsmacht der Welt, bündelt die barocke Weltsicht divergierende Befindlichkeiten: Das Gefühl physischer Bedrohung und weltanschaulich-territorialer Destabilisierung durch die Auswirkungen des Dreißigjährigen Kriegs und weiterer Konflikte9 wird von dem lustvollen Zelebrieren materiellen und wissenschaftlich-geistigen Reichtums im Zeichen der neuen bürgerlichen Wohlstands- und Bildungselite konterkariert.10 Vor dieser Kontrastfolie entwickelt sich im Stillleben das dialektische ikonografische Programm des Temporären zwischen protestantischem Bildersturm und Gegenreformation11 im Rückgriff auf die antike »Carpe diem«12-Maßgabe als Feier des 8

9

10 11

12

Peter Wegmann, Sublimste Vanitas in jeder Zitrone. Zu Pieter Claesz’ monochrome banketijes – Ephemere Präsenz der Dinge im Wechsel des Lichts, in: Martina Sitt; Hubertus Gaßner (Hrsg.), Spiegel geheimer Wünsche. Stillleben aus fünf Jahrhunderten, Ausst.-Kat. (Hamburger Kunsthalle: 2008), München 2008, S. 22. Vgl. ebd. Wegmann definiert die Barockära in Holland als »fast gespaltene Zeit […], geprägt zum einen von einer pessimistischen Grundstimmung dem Leben gegenüber«, begründet unter anderem in den Auswirkungen des Dreißigjährigen Krieges, der Gegenreformation und der erbitterten Glaubenskämpfe. Vgl. zu der dunklen Seite der Barockzeit in Europa ferner: Bärbel Reiche (B. R.), Tod, in: Hans-Werner Schmidt (Hrsg.), Phantasien des Barock. Italienische Grafik des 17. und 18. Jahrhunderts aus dem Besitz der Kunsthalle zu Kiel, Ausst.-Kat. (Kunsthalle zu Kiel; Museum der bildenden Künste Leipzig, u. a.: 1994–1997), Kiel 1994, S. 68-70, hier S. 70: »Das Europa des 17. Jahrhunderts war geprägt von den Schrecken des Dreißigjährigen Krieges. Die Menschen starben in der Schlacht, waren den Plünderungen durch umherziehende Soldaten ausgesetzt, oder wurden dahingerafft durch Seuchen und Krankheiten.« Vgl. Wegmann in: Sitt; Gaßner 2008, S. 22. Vgl. zu der widersprüchlichen, protestantisch-katholischen Gemengelage zwischen dem 16. und 17. Jahrhundert in den Niederlanden, aus der das barocke Bildprogramm erwächst, auch Katharina Sykora, Zeitflächen. Cornelis de Vos’ Allegorie der Vergänglichkeit und die Seifenblasen der Moderne, in: Victoria von Flemming; Alma-Elisa Kittner (Hrsg.), Barock – modern?, Köln 2010, S. 34f. Der lateinische Ausdruck »carpe diem« (dt.: »genieße« oder »ergreife« den Tag) aus der Schlusszeile der 23 v. Chr. entstandenen Ode An Leukonoë des römischen Dichters Horaz als Verweis auf das bewusste Genießen der kurzen menschlichen Lebenszeit beinhaltet im Ursprungskontext die Warnung, die in jedem Moment verfliegende Zeit zu nutzen, da auf das Eintreten des nächsten Tages kein Verlass sei. Vgl. dazu auch Reiche 1994, S. 68. In ihrer Diskussion von barocken Bildmotiven des Todes nimmt Reiche auf ebenjene »Hingabe an die Genüsse des kurzen Lebens«

13

1 |   T R A N S I T O R I S C H : S T R AT E G I E N G E G E N D I E V E R G Ä N G L I C H K E I T

Daseins im Angesicht eines stets möglichen, ultimativ unvermeidlichen Todes. An die Vergänglichkeit allen irdischen Seins gemahnend – »Denn alles Fleisch, es ist wie Gras, und alle Herrlichkeit des Menschen wie des Grases Blumen« (Petrus 1, 24) – entspannt sich das Transitorische im Stillleben zwischen den Dichotomien der Fülle und der Leere, des Sommers und des Winters, dem Aufblühen und dem Vergehen. Es manifestiert sich in Symbolen des Verfalls und der Auflösung, aber auch in opulenter Schönheit und trügerischem Glanz, die letztendlich ebenso wenig festzuhalten sind wie der sich selbst verzehrende Fluss der Zeit oder des Grases Blumen im Wind. Das barocke Motivrepertoire des Flüchtigen ist eng verknüpft mit der religiös unterfütterten Warnung der Vanitas13 vor der Vergeblichkeit, Nichtigkeit und Scheinhaftigkeit menschlichen Strebens nach weltlichen Gütern und ewigem Leben. Überreife, von Fäulnis befallene Früchte und prachtvolle Blumen, die kurz vor dem Verfall in praller Blüte stehen, spiegeln im Gewand der Natur die Hinfälligkeit der diesseitigen Welt und ihrer Bewohner. Die materiellen Errungenschaften der niederländischen Oberschicht, die kostbaren Gefäße, funkelnden Gläser und Kleinode, die übervollen Tische mit delikaten Speisen und Importen aus fernen Ländern, die Insignien der Macht, des Wissens, der Lust und des Spiels: All dies ist Schall und Rauch, das dem sicheren Vergehen ebenso zusteuert wie der von den Gezeiten des Lebens fortgerissene Mensch. In der Verbildlichung und Konkretisierung des Flüchtigen mittels der Kunst liegt das Paradox der Vanitasdarstellung, verleiht sie der Illusion doch genau jene Dauer und Schönheit, deren ephemere Scheinhaftigkeit sie angetreten ist zu entlarven. Das Vergängliche und Flüchtige erhält in dem in

13

14

angesichts des Umgangs mit dem Thema der Vergänglichkeit in der Antike Bezug, einen Entwurf, der aus ihrer Sicht freilich mit der christlichen Erlösungserwartung in der Barockzeit kontrastiert. Als Formel für die Vergänglichkeit alles Irdischen eröffnete die Vanitas (lat. vanitas: Leere, leerer Schein, eitle Prätention, Nichtigkeit, nichtiges Handeln) im barocken Stillleben des 16. und 17. Jahrhunderts ein vielgestaltiges allegorisches Motivrepertoire, das zwischen Lebensfülle und Todesnähe, Materialisierung und Immaterialisierung, Feier und Abgesang der sinnlichen Welt und deren spiritueller Transzendenz oszilliert. Katharina Sykora hat auf den alt- und neutestamentarischen Ursprung des Vanitas-Begriffs, spezifisch auf den Bezug zu der Nichtigkeit materieller Güter bei Salomon und Hiob im Alten Testament und zur Vergänglichkeit aller diesseitigen Besitztümer, inklusive »Glück und Jugend« im Buch der Prediger hingewiesen. Auch hebt Sykora den Einfluss des Humanisten Erasmus von Rotterdam hervor, der die antike Idee »einer existenziellen Vergänglichkeit, der alle Menschen als conditio humana unterworfen sind« um die Dimension der »selbstverschuldeten Vergänglichkeit« durch die Klammerung des Menschen an Glanz und Besitz erweiterte. (Vgl. dazu Sykora in: Flemming; Kittner 2010, S. 35f.).

EINFÜHRUNG

medias res zwischen Werden und Vergehen kunstvoll angehaltenen Moment des still gelegten Lebens zudem eine spirituelle Rahmung und Perspektive durch Andeutung des Bleibenden in der christlichen Heilserwartung himmlischer Ewigkeit. In religiös aufgeladenen Bildsymbolen, in denen die Sedimente antiker Mythologie aufblitzen, eröffnet sich prospektiv die Aussicht auf eine Überwindung des Todes im Raum der himmlischen Erlösung. Die in der Barockzeit kurante christlich-religiöse, ethisch-moralische, erzieherische und symbolische Dimension der künstlerischen Darstellung des Ephemeren weicht mit dem Aufkommen des Industriellen Zeitalters Ende des 18. Jahrhunderts zunehmend dem realitätsbezogenen Studium der Wandelbarkeit der Natur14 als Themenfeld des Flüchtigen. Während im romantischen Gegenentwurf zur allumfassenden Industrialisierung und Mechanisierung der Welt die religiöse Komponente im Erhabenen der Natur weiterhin Bestand hat, schlägt sich die Beschleunigung und Technisierung des Lebens in einer weiträumigen Säkularisierung des Ephemeren nieder. Das protoimpressionistische, rauschhafte Herannahen einer Eisenbahn in dem Gemälde Rain, Steam and Speed – The Great Western Railway (Regen, Dampf und Geschwindigkeit – die Great Western Railway),15 1844, des englischen Romantikers an der Schwelle zur Moderne, Joseph Mallord William Turner (1775–1851), in dem sich der Dampf der Lokomotive mit vorbeifliegenden Wolken und dem Sprühen des Regens vereint, fasst ikonisch die Verklammerung der Sphären von Natur und Kultur (im Sinne technischen Fortschritts nach Erfindung der Dampfmaschine) im Festhalten einer sich sukzessive verflüchtigenden Welt-in-Bewegung.

Flüchtigkeit als Konzept des »modernen Lebens« Mit dem Impressionismus und der Erfindung der Fotografie gewinnt die »wirklichkeitsgetreue« und erlebnishafte Visualisierung des Momentanen und Flüchtigen im 19. Jahrhundert an Relevanz. In dem Zuge, in dem sich das mutable Licht als dominantes Thema künstlerischer Untersuchung in der impressionistischen Malerei und als Medium der Bildgebung in der Fotografie durchsetzt,16 wird das Ephemere zu einem Vehikel ästhetischer 14

15 16

Unter anderem angeregt durch die populäre Wolkenklassifikation On the Modification of Clouds des Londoner Pharmakologen und Wetterforschers Luke Howard (1772–1864), die nach erstem Erscheinen 1803 eine Vielzahl von Malern, von William Turner bis Caspar David Friedrich, beeinflusste. Öl auf Leinwand, National Gallery, London. Susan Sontag hat den starken Einfluss der Fotografie auf die Impressionisten

15

1 |   T R A N S I T O R I S C H : S T R AT E G I E N G E G E N D I E V E R G Ä N G L I C H K E I T

Erweiterung und Befreiung. Zugleich schwindet die Ausrichtung auf ein übergreifendes, Halt gebendes Ganzes. Wie Susan Sontag anmerkt, restituierte die Fotografie »just in dem Augenblick in der langen, zunehmend profanen Geschichte der Malerei, da der Säkularismus auf der ganzen Linie triumphierte, etwas wie den primitiven Status der Bilder – auf eine ganz und gar profane Weise«, indem sie auf magische Art die abgebildete Wirklichkeit gleichsam inkorporierte und als »Surrogat« selbiger wahrgenommen wurde: Niemand hat angesichts eines Bildes von der Staffelei das Gefühl, dieses Bild sei von der gleichen Substanz wie sein Gegenstand. Es stellt etwas dar oder verweist auf etwas. Eine Fotografie aber ist nicht nur ›wie‹ ihr Gegenstand, eine Huldigung an den Gegenstand. Sie ist Teil, ist Erweiterung dieses Gegenstands; und sie ist ein wirksames Mittel, ihn in Besitz zu nehmen, ihn unter Kontrolle zu bringen.17

Der Möglichkeit, das Leben, die Zeit, die flüchtigen Erscheinungen der Welt im fotografischen Bildmoment festzuhalten und damit zu sichern, steht die parallele »Fragmentierung des Blickes«18 mit Anbruch der Moderne angesichts einer zersplitterten, immer rasanteren Wirklichkeit gegenüber. Im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit, aus dem unsere mittlerweile globale Mediengesellschaft erwachsen ist, beschleunigt sich noch einmal die Lebensrealität samt ihrer Bilder, die in den rapiden Umdrehungen der Reproduktionsmaschinerie – und somit, wie Walter Benjamin dargelegt hat, ihrer Einmaligkeit und ihres Traditionszusammenhangs (ihrer Geschicht­ lichkeit insgesamt) enthoben – proportional zu ihrer Entauratisierung an »Flüchtigkeit und Wiederholbarkeit« zunehmen.19 Die »lokomotorisch« angekurbelte Auflösung des Sehens, der Materie und der Körper,20 die Paul Virilio als Triebfeder einer »Ästhetik des Ver-

17 18

19 20

16

betont, insbesondere die »Übersetzung der Wirklichkeit durch die Kamera in streng polarisierte Bereiche von Licht und Dunkel, das freie und eigenwillige Zurechtstutzen des Bildes in der Fotografie, das fehlende Interesse des Fotografen an der Sichtbarmachung des Raumes«. (Vgl. dazu Susan Sontag, Über Fotografie [Orig.: On Photography, New York 1977], München 1989 [1978], S. 88, Fußnote). Ebd., S. 143. Manfred Russo, Geschichte der Urbanität (Teil 24) – Moderne 1, Baudelaire. Die Ermächtigung des Künstlers zum Interpreten des urbanen Raums, in: dérive. Zeitschrift für Stadtforschung, hrsg. v. Christoph  Laimer, Nr. 33, Okt. 2008, unter: (http://www.derive.at/index.php?p_case=2&id_cont=775&issue_No=34) (5. Okt. 2016). Vgl. Benjamin 2012, S. 17. Vgl. Virilio 1986, S. 56f.

EINFÜHRUNG

schwindens« im 20. Jahrhundert beschrieben hat, setzt bereits im beschleunigten urbanen Szenario des 19. Jahrhunderts ein. Im pulsierenden Tempo der Großstadt entdeckt Charles Baudelaire »die vergängliche, lebendige Schönheit des gegenwärtigen Lebens«, die seiner Auffassung von »Modernität« entspricht.21 »Die Modernität«, schreibt Baudelaire in seinem programmatischen Essay Der Maler des modernen Lebens (1863)22 »ist das Vergängliche, das Flüchtige, das Zufällige, die eine Hälfte der Kunst, deren andere Hälfte das Ewige und Unwandelbare ist.«23 Den Kern der von Baudelaire umrissenen »Ästhetik der Moderne« sieht Manfred Russo in einer »Verbindung des Ephemeren und Fließenden des aktuellen Lebens mit dem Ewigen und Unveränderlichen« im Sinne eines »zwischen entgegengesetzten zeitlichen Polen eingespannten« Entwurfs:24 Der moderne Künstler ist jemand, der den Fluss des Alltagslebens mit dem Allgemeinen und Ewigen in Verbindung bringt und damit entsprechend aufwertet. Mit der Moderne wird erstmals das Alltagsleben künstlerisch veredelt, indem man seine Profanität, seine Ephemerität mit den gegensätzlichen Elementen einer unvergänglichen Zeit, die eigentlich der Sphäre der Metaphysik entstammen, vereinigt. Diese Kombination des Profanen mit dem Unvergänglichen, das bei Baudelaire gelegentlich auch die Züge eines deus absconditus, eines abwesenden Gottes trägt, macht die eigentliche Wirkung der ästhetischen Moderne aus […].25

Russo weist auf Baudelaires Gedanken zu einer modernen Ästhetik des Ephe­meren rekurrierend auf die aus der »Fixierung des schnell Vorübergehenden« in den Bildern der Großstadt erwachsenen »Verräumlichung der Zeit«, die sich über das Medium der Bilder hinaus in den gebauten Raum der 21

22

23 24 25

Charles Baudelaire, Der Maler des modernen Lebens, in: Aufsätze zur Literatur und Kunst 1857–1860, Bd. 5, in: Sämtliche Werke/Briefe in acht Bänden, hrsg. v. Friedhelm Kemp und Claude Pichois, München 1989, S. 258 [Herv. im Orig.]. Der Aufsatz wurde zuerst in drei Teilen im Figaro am 26. und 29. Nov. und 3. Dez. 1863 veröffentlicht. Den in Paris als autodidaktischer Zeichner und Maler aktiven gebürtigen Holländer Constant Guys (1805–1892), den Baudelaire in seinem Essay würdigt, zeichnet u. a. aus Baudelaires Sicht aus, dass er in seinen Aquarell- und Tuschzeichnungen das Pariser Großstadtleben unmittelbar und in seiner flüchtigen Gegenwärtigkeit einfängt. Baudelaire 1989, S. 226. Russo 2008. Ebd.

17

1 |   T R A N S I T O R I S C H : S T R AT E G I E N G E G E N D I E V E R G Ä N G L I C H K E I T

Architektur erweitert habe. Das »Ewige« lasse sich in der Moderne »nur durch ein Einfrieren der Zeit und ihrer fließenden Eigenschaften« bewerkstelligen. In den intertemporalen und ortsübergreifenden Prinzipien der Collage und der Montage findet die barocke Zusammenschaltung des Flüchtigen und des Bleibenden eine moderne Entsprechung: »Simultaneität wird überhaupt zu einem zentralen Thema der Moderne, da durch diese Produktion simultaner Elemente das Ephemere und Transitorische einen Ort erhält, wo es gewissermaßen gebannt wird, wo die Zeit angehalten wird.«26

Beschleunigung und Auflösung des Sehens Mit der medialen Revolution filmischer Bewegtbilder Ende des 19. Jahrhunderts, die in Benjamins Diktion »mit dem Dynamit der Zehntelsekunden«27 jede räumliche Beengung und Begrenzung aufsprengen, wird Zeit simultan im Fluss vorgeführt und das Bild aus seiner Fixierung gelöst. Die Filmaufnahme lässt die Bilder der Wirklichkeit am Auge des Rezipienten vorbeiziehen: «Kaum hat er sie [die Filmaufnahme] ins Auge gefasst, so hat sie sich schon verändert.«28 Das Transitorische als Auslöser und Ausdruck einer Krise des Sehens und des Seins, die sich in der »audiovisuellen Augenblicklichkeit«29 des Medienzeitalters vollendet, ist nach Paul Virilio zunächst ein Resultat der rasanten Flugbahn automobiler Geschwindigkeit, die »das Sehen zum Rohstoff« gemacht habe: »[…] mit zunehmender Beschleunigung wird das Reisen zum Filmen: es erzeugt nicht so sehr Bilder als vielmehr unglaubliche und übernatürliche neue Erinnerungsspuren.«30 Die Ankurbelung des Blicks und die Verflüchtigung der Bilder in ephemere Spuren der Erinnerung in einem automobil und lokomotorisch beschleunigten, ständigen Unterwegssein in der Welt, das Annette Tietenberg in der unentwegten (protoglobalökonomischen) »Bewegung, physisch, sozial wie mental« der »den Kapitalflüssen folgenden« Händlern des 17. Jahrhunderts vorgeprägt sieht,31 steigert sich aus Virilios Sicht noch durch das Aufkommen der Bewegtbilder des Films: 26 27 28 29 30 31

18

Ebd. Benjamin 2012, S. 40. Ebd., S. 44. Paul Virilio, Der Futurismus des Augenblicks [Orig.: Le Futurisme de l’instant, Paris 2009], hrsg. v. Peter Engelmann, Wien 2010, S. 62. Virilio 1989, S. 67. Annette Tietenberg, Visite ma tente. Das Bildnis des Orientreisenden Jean-Baptiste Tavernier (1678) von Nicolas de Largillière, in: Flemming; Kittner 2010, S. 156.

EINFÜHRUNG

Mit dem Auftauchen des Motors ist eine neue Sonne aufgegangen, die das Sehen radikal verändert hat. Ihr Licht wird bald auch das Leben verändern: dank eines doppelten Projektors, der Geschwindigkeit erzeugt und zugleich (kinematische und kinematographische) Bilder verbreitet. Zusehends beginnt alles sich zu bewegen, das Sehen löst sich allmählich auf und bald auch die Materie und die Körper. […] Obwohl wir das Licht der Geschwindigkeit ebenso wenig verbergen können wie die Sonne mit unserer Hand verdecken, wird die Transmission bewegter Bilder und die Transmission bewegter Körper doch so schnell auseinandertreten, daß sich bald niemand mehr über die durch die Schnelligkeit hervorgerufenen Sehstörungen wundern wird: die lokomotorische Täuschung wird als Wahrheit des Sehens gelten, genauso wie die optische Täuschung als Wahrheit des Lebens gilt.32

Die »sehgestörte« Wahrnehmung der Welt, die durch die Schnelligkeit des Transits durch selbige ausgelöst wird, trifft demzufolge auf die »optische Täuschung« einer von (Film-)Bildern überblendeten Wirklichkeit mit dem Ergebnis einer Immaterialisierung der Realität durch die zweifache Rotation der Räder und der Projektoren. Während die durch Fotografie und Film in Gang gesetzte »Dynamisierung des Blicks«33 die Wahrnehmung in Aufruhr versetzt, verflüchtigt sich in den nächtlichen Städten, »wo das Licht der (audiovisuellen und automobilen) Fahrgeschwindigkeit das Sonnenlicht ersetzt«, derweil »die Architektur als Skulptur« zu einem kinematografischen Spektakel: »Nicht mehr das Theater (Agora, Forum) ist Stadtkern, sondern das Lichtspiel der Stadtbeleuchtung.«34 Der flüchtige, bewegliche Illusionsraum ersetzt den fest umrissenen Ort der (Ver-)Sammlung. An die Stelle der Bündelung tritt die Verstreuung, und an die Stelle greifbarer Materialität tritt die ungreifbare Erscheinung des Lichts. Das flirrende Chiaroscuro der dämmerigen Stadt bildet auch die ephemere Bühne, auf der Max Ernst, René Magritte, Salvador Dalí und weitere Künstler des Pariser Surrealistenkreises ihre phantasmagorischen Gegenwirklichkeiten hervorbringen, die »enigmatisch, dunkel und mit rationalen Erklärungsmustern nicht zu begreifen« sind.35 Aus der Sphäre des Ungreifbaren auf der Nachtseite der Erscheinungen schöpfend, kreieren sie entlang 32 33 34 35

Virilio 1989, S. 56f. Tietenberg in: Flemming; Kittner 2010, S. 136. Ebd., S. 72 [Herv. im Orig.]. Vgl. Helfenstein 1993, S. 175f.

19

1 |   T R A N S I T O R I S C H : S T R AT E G I E N G E G E N D I E V E R G Ä N G L I C H K E I T

der Parameter von Tod und Begehren, dem Verborgenen und Geheimen ihre doppelbödige Kunst, in der »sich das Sichtbare und das Imaginäre, Wirklichkeit und Traum zu einer Überrealität verschränken«.36 Die Gestaltgebung des Ephemeren, Undurchsichtigen, Ungreifbaren ist eine der Hauptachsen surrealistischer Ästhetik. Deren Protagonisten folgen dabei der von Surrealisten-Wortführer André Breton nach dem französischen Dichter Lautréamont postulierten »Kombinatorik« unvereinbarer Elemente – der »unvermuteten Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch«.37 Auf ihren Traumreisen, auf denen sie die ungreifbaren Bilder des Unbewussten »an den Tag zu bringen« suchen,38 bilden die Künstler des Surre­ alismus aber nicht nur innere Welten ab. Wie Uwe M. Schneede feststellt, wirken die Lichtspiele im wirklichen Raum der Stadt als Inspiration für die surrealistische Erschaffung alternativer Weltsichten: Es sind die überraschenden Begegnungen verschiedener Realitäten in den Warenauslagen, unter dem elektrischen Licht, durch die Leuchtreklame, überhaupt durch die Werbung. Da bedarf es nicht der Phantasie und des Spintisierens: In der Wirklichkeit selbst sind die überraschenden Begegnungen angelegt, sie wollen nur gesehen und erlebt werden, und zwar ›im surrealistischen Licht‹ erlebt werden. Insofern ist die Surrealität auch eine Frage der Wahrnehmung einer erweiterten Realität.39

In der erweiterten Wahrnehmung der Surrealisten verfließen die ephemeren Sphären des Traums mit den flüchtigen Erscheinungen der Wirklichkeit. Während die irisierenden Reflexe der urbanen Außenwelt eine traumartige, transitorische Qualität erhalten, nehmen die Traumwelten den Charakter des Realen an, wobei die Grenzen zwischen den zuvor gängigen »Antinomien« des Wachens und des Träumens aufgehoben werden.40 Hier eröffnet sich die surrealistische Kategorie des »Wunderbaren« als Trigger einer per-

36 37

38 39 40

20

Uwe M. Schneede, Die Kunst des Surrealismus. Malerei, Skulptur, Dichtung, Fotografie, Film, München 2006, S. 143. Lautréamont (Isidore-Lucien Ducasse), Sechster Gesang, in: ders., Die Gesänge des Maldoror, Reinbek bei Hamburg 1990 [1963] (Orig.: Les Chants de Maldoror, Paris/ Brüssel 1874), S. 223. Vgl. Schneede 2006, S. 142. Ebd., S. 53. Vgl. ebd.

EINFÜHRUNG

zeptiven Expansion »des unzulänglichen Wirklichen um das Imaginäre, Überraschende, Fremde«.41 Die Überblendung äußerer und innerer Wirklichkeiten mittels der surrealistischen Technik der »Kombinatorik« ist der »anderen Wahrnehmungsart« des Films als »radikale Verzeitlichung des Bildes« vergleichbar, dessen Rezeption Hans Belting als ein Ineinanderfließen des Gesehenen und Imaginierten beschreibt: Der Betrachter identifiziert sich mit einer imaginären Situation, als sei er selbst ins Bild geraten. Die mentalen Bilder des Zuschauers lassen sich nicht so eindeutig von den Bildern der technischen Fiktion unterscheiden. Selbst die Projektion durch den Vorführapparat, in welcher die filmische Illusion entsteht, verwischt die Grenzen zwischen Medium und Wahrnehmung. Das Medium Film besitzt passiv keine Existenzform, sondern muß durch die technische Animation aktiviert werden. Sie erzeugt im Betrachter den Eindruck, die flüchtigen und fließenden Bilder vor seinen Augen seien nichts anderes als seine eigenen Bilder, die er in der Vorstellung und im Traum erlebt.42

Die Wahrnehmungsverwischung, die aus der Vermengung der technisch produzierten Bilder des Films und der Eigenprojektionen des Betrachters resultiert, schafft »eine Art von Halluzination oder Traum, in dem die übliche Erfahrung von Zeit und Raum aufgehoben ist«.43 Wie Benjamin feststellt, erfüllt der Film als Kunstform die Rolle, einem Massenpublikum »neue Aufgaben der Apperzeption« nahezubringen: »Die Rezeption in der Zerstreuung, die sich mit wachsendem Nachdruck auf allen Gebieten der Kunst bemerkbar macht und das Symptom von tiefgreifenden Ver­än­de­rungen der Apperzeption ist, hat am Film ihr eigentliches Übungs­ instrument.«44 In der rasant durchquerten und beschleunigten Alltagsrealität fliegen die zerstreuten Bilder der Wirklichkeit nicht minder cinematisch am Auge des Reisenden/Rasenden vorbei: »[…] Eisenbahn, Auto, Jet, Flugzeug, Telefon, Fernsehen…durch die Prothesen des Reisens verläuft unser ganzes Leben im Zeitraffer, doch wir merken es gar nicht mehr […].«45 41 42 43 44 45

Ebd., S. 48. Belting 2011, S. 75. Ebd., S. 76. Benjamin 2012, S. 47 [Herv. im Orig.]. Virilio 1986, S. 68.

21

1 |   T R A N S I T O R I S C H : S T R AT E G I E N G E G E N D I E V E R G Ä N G L I C H K E I T

Schattenbilder einer schwindenden Wirklichkeit In Platons Höhle wirft die Außenwelt im flackernden Schein unsichtbarer Flammen trügerische Schatten an die Wand. Die flüchtigen Schemen ersetzen die festen Ordnungen, die die Sonne mit ihrem Erkenntnis stiftenden Licht im »sichtbaren Raume«46 der Wirklichkeit schafft. Schattenbilder übernehmen die Funktion des Bild stiftenden Ursächlichen, das dem Blick der Höhleninsassen entzogen an seinem originär realen Schauplatz, seiner »eigenen Stelle« wirkt.47 Platons Gleichnis thematisiert die immanent flüchtige Eigenschaft des Bildes und enttarnt dieses gleich mehrfach als illusorischer Mittler von Welt und Wirklichkeit: Wie auf einer Bühne treten «Bildsäulen und andere steinerne und hölzerne Bilder«48 als Substitute der Realität auf. Von wirklich Vorbeiziehenden im Verborgenen wie von Gauklern hinter einer Schranke empor gehalten, gaukeln die Bildnisse vor, selbst jene Passanten zu sein. Als Bild eines Bildes gibt sich der Schatten im Schein eines Feuers zu erkennen, das wiederum das Licht der Sonne redupliziert. Das Schattenbild übernimmt in dieser Abfolge der Verdopplungen die Rolle einer dritten Wirklichkeit, die der ersten Realität und ihres Abbildes im Kunstwerk – den hinterrücks an den Höhlenbewohnern vorbeigetragenen Bildnissen – nachgeschaltet ist. Die Paradoxie des platonischen Dualismus besteht darin, dass die Ideenwelt, die die Sinnenwelt stiftet, nur in Analogie zu Abbildungsverhältnissen in der Sinnenwelt dargestellt werden kann. Die Analogiebildung setzt Doppelgänger frei, die wiederum nur in der Analogie von Sein und Schein, in ein Verhältnis zueinander gesetzt werden können. Der Schatten als Abbild eines Abbildes spielt in diesem Paarlauf von Idee und Ding die Rolle des zu vernachlässigenden Dritten. Gleichwohl ist der Schatten auch als optisches Trugbild unverzichtbar, um ein Licht auf die Relation von Sinnenwelt und Ideenwelt zu werfen. Mit gutem Recht kann man nämlich die Trias aus Schatten-Objekt-Idee als eine Paradoxie der Wiederholung betrachten. […] Die Pointe der Wiederholung liegt gerade in der Funktion der Abweichung, dem Nichtidentischen. Nicht der wiederholte Gegenstand tritt in dieser Überlegung in 46 47 48

22

Platon, Das Höhlengleichnis. Sämtliche Mythen und Gleichnisse, Berlin 2014 [2009], S. 186. Vgl. ebd. Ebd., S. 184.

EINFÜHRUNG

den Vordergrund, sondern die relationale Verbindung zwischen den nichtidentischen Elementen der Wiederholung.49

Wie Thorsten Sadowsky herausstellt, liegt der erfinderische, gar bildstiftende Impuls in Platons »Dualismus« (der eigentlich eine Trias konstituiert) gerade in der Differenz zwischen Schatten und Abbild, beziehungsweise dem Abbild eines Abbildes, wobei hier aus Sadowskys Sicht entscheidend ist, dass die Wiederholung stets »zusammen mit ihrem Gegen- und Komplementärbegriff der Variation« auftritt.50 Erst in der Übersetzung vom Gegenstand ins Medium konstituiert sich das Gesehene als »Bild«, wobei, wie Gottfried Boehm anmerkt, wiederum erst »durch das Bild […] das Dargestellte Sichtbarkeit, Auszeichnung, Präsenz« erhält.51 Auf der Ebene des Transitorischen erweisen sich Platons (Schatten-)Bilder, wenn sie auch nicht identisch mit den von ihnen abgebildeten Phänomenen der Realität sind, als außerordentlich wirklichkeitsgetreu. Denn in ihrer Flüchtigkeit geben sie die originär ephemere Machart der Wirklichkeit authentisch wieder. Die existenzielle Erfahrung des Flüchtigen wird wesentlich von der Frage nach dem Charakter der Bilder und ihrer Rolle in der Repräsentation der transitorischen Realität berührt, durch die sich der selbst in ständiger De- und Rekonstruktion befindliche Mensch »in der Zeit«52 bewegt. Platons Versinnbildlichung einer präkognitiven, irreführenden Wahrnehmung der Wirklichkeit über »vorübergehende Schatten«53 aktualisiert sich im Zuge der Beschleunigung und Medialisierung der Wirklichkeit auf ihrem Transit ins digitale Zeitalter. Hier verwandelt sich der Schatten als Fortsetzung einer über Artefakte (Kunstwerke/Medien) vermittelten Welt in deren eigentliche Wahrheit. Belting zeigt am Beispiel der griechischen Legende vom Ursprung der Malerei – die Geschichte der jungen Korintherin, die vor dem Abschied des Geliebten dessen Schattenriss an der Wand nachzeichnend verewigt54 –, 49

50 51

52 53 54

Thorsten Sadowsky, Von Schatten, Doppelgängern und Höhlen, in: Schattenspiel. Schatten und Licht in der zeitgenössischen Kunst. Eine Hommage an Hans Christian Andersen, Ausst.-Kat., dt./engl./dän. (Kunsthallen Brandts Klædefabrik, Odense; Kunsthalle zu Kiel, Kiel; Landesgalerie am Oberösterreichischen Landesmuseum, Linz: 2005–2006), hrsg. v. Kunsthallen Brandts Klædefabrik, Heidelberg 2005, S.‑22. Ebd. [Herv. im Orig.]. Vgl. dazu Boehms Diskussion über die »ikonische Differenz« und den »ikonischen Kontrast« in: Gottfried Boehm, Die Wiederkehr der Bilder, in: ders. (Hrsg.), Was ist ein Bild?, München 2006 [1994], S. 29-36, hier: S. 35. Fleming in: Hay; von Steinsdorff 1986, S. 16. Platon 2014, S. 184. Vgl. dazu Belting 2011, S. 181ff. Der Legende zufolge, die der römische Schriftsteller und Gelehrte Plinius der Ältere im 1. Jahrhundert n. Chr. in seiner Naturkunde

23

1 |   T R A N S I T O R I S C H : S T R AT E G I E N G E G E N D I E V E R G Ä N G L I C H K E I T

dass auf dem Medium der Wand der Schatten als »indexikalisches Bild im Sinne der Photographie« die Spur des Körpers festhält.55 Der wandelbare Schatten als flüchtige Spur einer vorübergehenden Wirklichkeit wird so zum Mittler zwischen dem Ephemeren und dem Bleibenden: dem Bild an der Wand. Anders als das gemalte Bild, das lediglich »eine Interpretation des Wirklichen« liefert, ist die Fotografie in der Lage, »eine Spur, etwas wie eine Schablone des Wirklichen, wie ein Fußabdruck oder eine Totenmaske«56 einzufangen: Das fotografische Bild, betont Sontag, sei »nie weniger als die Aufzeichnung einer Emanation (Lichtwellen, die von Gegenständen reflektiert werden) – eine materielle Spur ihres Gegenstands wie es ein Gemälde nie sein kann.«57 Die Beweiskraft,58 die der Fotografie in der Vermittlung realer Geschehnisse und Sachverhalte zugeschrieben wird, ist entscheidend in der Wirklichkeitshaltigkeit und physischen Durchdringung dieses Mediums begründet, das, so Belting, »den Körper auf ähnliche Weise in der Spur des Lichts« erbeute, »wie es die antike Umrisszeichnung in der Spur des Schattens« getan habe.59 Der Schatten, der »als ein natürliches Bild des Körpers […] sowohl Vergewisserung wie Beraubung des Körpers, sowohl Index wie auch, als flüchtige und wandelbare Erscheinung, Negation des Körpers, dessen feste Konturen und dessen Substanz er auflöst«,60 in sich vereint, teilt mit der Spiegelung die Eigenschaft, kurzfristig aufscheinende Reflexe einer physischen Präsenz oder Entität, die außerhalb von ihm liegt, flüchtig abzubilden. In dieser Hinsicht fungieren Schatten und Spiegel auch als ephemere Doppelgänger oder Stellvertreter eines Körpers im Realraum, wobei der Spiegel – ähnlich dem fotografischen Portrait – »uns ein Bild […], das wir uns vom eigenen Körper machen« zurückschickt.61 Beide, Schatten und Spiegelungen, sind ein »körperloses Bild,«62 zugleich aber unabdingbar »mit

55 56 57 58 59 60 61 62

24

überlieferte, hat sich die Malerei aus ebenjener Fixierung des Schattenbildes an der Wand durch die junge Korintherin entwickelt. Wie Belting schreibt, hat Plinius in einer zweiten Version der Geschichte die Herstellung einer weiteren Fassung des Bildes als Tonplastik, die der Vater der jungen Frau, ein Töpfer, hergestellt hatte, erwähnt. (Vgl. dazu ebd., S. 181). Vgl. ebd., S. 24. Sontag 1989, S. 142. Ebd. Ebd., S. 11. Belting 2011, S. 25. Ebd., S. 194. Ebd., S. 23. Ebd.

EINFÜHRUNG

etwas Gegenständlich-Körperlichem verbunden«,63 und verschwinden in dem Augenblick, da selbiges abwesend ist. Symbolisch verbinden sich mit Schatten und Spiegel neben dem Motiv des Alter egos, des zweiten »Ich«, das sich vom Körper abspaltet und ein Eigenleben führt, die Dimensionen der Illusion und des Traums.64 Die antike Vorstellung des Totenreichs als nächtliche Unterwelt, in der die Verstorbenen »als Schatten oder stofflose Bilder« ihrer »verlorenen Körper« verharren,65 ist dem Bild des Schattens ebenfalls eingeschrieben. Der Augenschein, in dem wir uns der Welt versichern, läßt sich nicht von dem Schein erlösen, der schon in unserem Blick wohnt. Auch die Schatten lösen sich, sobald sie in unseren Blick treten, von den Körpern, zu denen sie gehören. Selbst die Körper erscheinen uns nicht so, wie sie sind, sondern so, wie wir sie sehen, also in einem Fremdblick, den wir gläubig zur Tatsache erklären. Die Distanz zum Bild entsteht nicht erst in der Betrachtung, sondern schon in der Erzeugung des Bildes.66

Als »Emanation des vergangenen Wirklichen«, das »Zeugenschaft« über das Gewesene gibt,67 changiert die Fotografie zwischen Spiegelung, Trug- und Erinnerungsbild der Wirklichkeit, in dem das immaterielle Double der transitären physischen Erscheinungen als Lichtspur aufscheint und geborgen ist. Das Fotografieren ist eine Methode zum Einfangen einer als widerspenstig und unzugänglich empfundenen Realität. Oder sie ist ein Mittel zur Vergrößerung einer Realität, die geschrumpft ausgehöhlt, vergänglich, weit weg wirkt. Realität kann man nicht besitzen, aber Bilder kann man besitzen (und von ihnen besessen sein) […].68

Das Licht- und Schattenspiel der Fotografie wirkt nicht nur bewahrend, sondern blickerweiternd und -verändernd, insofern »die Wirklichkeit mehr und 63 64 65 66 67

68

Jørgen Dines Johansen, Ein Zerrbild. Der Schatten – ein Anti-Märchen, in: Andersen 2005, S. 63. Vgl. ebd., S. 62. Vgl. Belting 2011, S. 181. Ebd., S. 210f. [Herv. im Orig.]. Vgl. Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie [Orig.: La chambre clair. Note sur la photographie, Paris: 1980], Frankfurt/Main 1989 [1985], S. 99 [Herv. im Orig.]. Sontag 1989, S. 150f.

25

1 |   T R A N S I T O R I S C H : S T R AT E G I E N G E G E N D I E V E R G Ä N G L I C H K E I T

mehr so, wie das, was uns die Kameras zeigen«, erscheint.69 Einerseits hält die Fotografie Ausschnitte der Welt als Momentaufnahme einer bereits weitergezogenen Wirklichkeit fest. Andererseits eröffnet sie in intertemporaler Verschränkung »eine neue Weise des Umgangs mit der Gegenwart«, wie Sontag bemerkt: »Während alte Fotos unser geistiges Bild der Vergangenheit vervollständigen, verwandeln Fotografien, die heute gemacht werden, das, was gegenwärtig ist – wie die Vergangenheit – in ein geistiges Bild.«70 Die »telematische« Erweiterung hat noch vor der umfassenden Digitalisierung der (Bild-)Welten eine »Virtualisierung bzw. Derealisierung des Wirklichen bzw. unseres Verständnisses von Wirklichkeit« herbeigeführt, befindet Wolfgang Welsch.71 Im Zuge ihrer »medialen Präsentation wird die Alltagswirklichkeit zunehmend nach Mediengesetzen modelliert. […] Dadurch ergeben sich zumindest in den Fällen, wo wir Wirklichkeiten nur durch ihre mediale Präsentation kennen, Verschleifungen zwischen der medialen und der alltäglichen Realitätslogik«.72 Das Kollabieren der »raum-zeitlichen Differenzierung« in der »telematischen Kommunikationswelt« offenbart nicht nur, so Welsch, »dass in unserer Wirklichkeit mehrere Wirklichkeitsversionen koexistieren«. Die »medieninduzierten Veränderungen der Wirklichkeit« münden in der Erkenntnis, »dass es Wirklichkeit schlechthin gar nicht gibt, dass sie es vielmehr immer nur so oder anders gibt, da Wirklichkeit eine Konstruktion ist«.73 Die Zersplitterung und Zerstreuung des einen Welt-Bildes in viele Bilder und der einen Wirklichkeit in potenziell viele mögliche Wirklichkeiten geht in der digitalen Ära des 21. Jahrhunderts einher mit einer Aufhebung der Kausalverbindung zwischen Gegenstand und Abbild, dem Zusammenbruch der »MimesisTheorie […] in eine Bildfolge, die allein selbstreferenzielle Züge trägt«, vergleichbar, die Horst Bredekamp als symptomatisch für die virtuelle »Erzeugung einer künstlichen Welt, in der man die farbigen Schatten lebendiger Personen zu treffen vermag«, beschreibt.74

69 70 71 72 73 74

26

Ebd., S. 148. Ebd., S. 153. Vgl. Wolfgang Welsch, Grenzgänge der Ästhetik, Stuttgart 1996, S. 308 [Herv. im Orig.]. Ebd., S. 308f. Ebd., S. 311. Horst Bredekamp, Der Mensch als ›zweiter Gott‹ (1992), in: ders., Bilder bewegen. Von der Kunstkammer bis zum Endspiel, Aufsätze und Reden, hrsg. v. Jörg Probst, Berlin 2007, S. 118, 116f.

EINFÜHRUNG

In dieser Schattenwelt der Lebenden, in die hinein sich die Wirklichkeit zusehends verflüchtigt, ist die Unterscheidung zwischen Gegenstand und Abbild nicht mehr sicher feststellbar: »Jedes vermeintliche Urbild kann das Abbild eines Urbildes sein, das seinerseits nicht sicher ist, ob es Ur- oder Abbild ist.«75 Im »künstlichen Kosmos« der virtuellen Welt/en, der selbst wiederum nach dem Abbild einer »äußeren Natur« kreiert sein mag, so Bredekamp, könne sich der Mensch nicht mehr sicher sein, »ob er aus Fleisch oder Blut ist oder vielmehr ein virtuelles Gebilde eines gigantischen Cyberspace-Raumes darstellt, dem langsam der Strom ausgeht«.76 In einer nicht mehr greifbaren, auf multiple Weise sich entziehenden Wirklichkeit wird der Mensch selbst zum Akteur, zur Aktrice eines grenzenlosen Schattenspiels, in dem die Schatten an die Stelle der Wirklichkeit getreten sind, die sie vorgeben zu sein.

Vanitas – heute Das existenzielle Drama geht in der »Gesellschaft des Spektakels«77 in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in sein Endspiel, wo »unterm ausgeräumten Himmel allein das traumlose Funktionieren übrig bleibt, das Fressen und Gefressenwerden«78 – zumindest in den absurden post-metaphysischen, post-apokalyptischen Daseinsentwürfen des Dramatikers und Dichters Samuel Beckett (1906–1989). Parallel dazu gewinnt Albert Camus’ Sisyphos als Ausdruck gegenwärtiger Krisenerfahrung einer trotz ständigen Informationstransfers immer diffuser werdenden Wirklichkeit an Bedeutung. »Dieses unfassbare Gefühl der Absurdität, vielleicht können wir es in den verschiedenartigen und doch verwandten Welten des Geistes, der Lebenskunst oder der Kunst überhaupt einholen«,79 prognostiziert Camus (1913–1960) in seinem Essay Der Mythos des Sisyphos. Der tragische Anti75 76 77

78

79

Ebd., S.118 Ebd. Der französische Theoretiker, Autor, Filmmacher, Künstler und radikale Antikapitalist Guy Debord (1931–1994), Mitbegründer und treibende Kraft der »Situationistischen Internationale«, hat in seinem gleichnamigen, 1967 in Paris unter dem Titel La Société du Spectacle erstmals erschienenen Hauptwerk die kapitalorientierte Konsum- und Entertainmentgesellschaft des Westens scharf kritisiert. Thomas Assheuer, Alles ist nichts. Warum Becketts Horrorvision von der verwalteten Welt heute niemanden mehr schreckt, in: DIE ZEIT, Nr. 16, 12. April 2006, unter: http://www.zeit.de/2006/16/berholt (5. Okt. 2016). Albert Camus, Der Mythos des Sisyphos [Orig.: Le Mythe de Sisyphe, Paris 1942; 1948; 1965], Reinbek bei Hamburg 2012 [2000], S. 24.

27

1  Adriaen van Utrecht, Stillleben mit Blumenvase und Totenkopf, ca. 1642, Öl auf Leinwand, 67 x 86 cm

2  Abraham Hendricksz. van Beyeren, Stillleben, ca. 1640 – ca. 1680, Öl auf Leinwand, 126 x 106 cm

3  Joseph Mallord William Turner, Rain, Steam and Speed – The Great Western Railway, 1844, Öl auf Leinwand, 91 x 121,8 cm

4  Claude Monet, Boulevard des Capucines, 1873 –74, Öl auf Leinwand, 80,3 x 60,3 cm

1 |   T R A N S I T O R I S C H : S T R AT E G I E N G E G E N D I E V E R G Ä N G L I C H K E I T

Held der griechischen Mythologie, der versucht, den Tod (Thanatos) zu besiegen und dafür im Circulus vitiosus ewiger Wiederholung obsoleter Gipfelstürme samt unaufhaltsamer Abstürze gefangen ist, gibt den Prototyp des Gescheiterten vor, der – wenn schon nicht auf seinem wüsten Berggipfel – auf dem Terrain der kontemporären Kunst Fuß gefasst hat. Hier wird die Vanitas an der Marge zwischen nachexistenzialistischer Neuorientierung und fortschreitender Verflüchtigung der Gewissheiten als entmoralisierte Bildfigur der Konsum- und Medienwelt wiedergeboren. Im flüchtigen Streulicht unserer Eventkultur, die ihre flirrenden, selbstreferentiellen Reflexe wie eine kreisende Discokugel an die Wände der Wahrnehmung wirft, richtet sich die Aufmerksamkeit auf die »souveräne Freiheit der Ware«,80 wie Guy Debord die Bildmacht des Kapitals definiert, die sich aus seiner Sicht im Spektakel verdichtet: »Das Spektakel ist der Moment, worin die Ware zur völligen Besetzung des gesellschaftlichen Lebens gelangt ist. Das Verhältnis zur Ware ist nicht nur sichtbar geworden, man sieht sogar nichts anderes mehr: die Welt, die man sieht, ist seine Welt.«81 In dem Moment, da »sich die wirkliche Welt in bloße Bilder verwandelt, werden die bloßen Bilder zu wirklichen Wesen und zu den wirkenden Motivierungen eines hypnotischen Verhaltens«. Im Spektakel stelle sich »die nicht mehr unmittelbar greifbare Welt zur Schau«.82 Die Überblendung der Wirklichkeit durch die »Bewegung der Banalisierung, die hinter den schillernden Ablenkungen des Spektakels die moderne Gesellschaft weltweit beherrscht«, führt zur »mystischen Selbsthingabe an die Transzendenz der Ware«.83 Der »Gesellschaft des Spektakels« ist nichts heilig außer ihrer eigenen Scheinhaftigkeit, in der »der materielle Wiederaufbau der religiösen Illusion« gewinnbringend vonstatten geht: Die spektakuläre Technik hat die religiösen Wolken nicht aufgelöst, worin die Menschen ihre von ihnen losgerissenen, eigenen Kräfte gesetzt hatten: sie hat sie nur mit einer weltlichen Grundlage verbunden. So ist es das irdischste Leben, welches undurchsichtig und erstickend wird. Es verweist nicht mehr in den Himmel, sondern beherbergt bei sich seine absolute Verwerfung, sein trügerisches Paradies. Das 80 81 82 83

30

Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels [Orig.: La Société du Spectacle, Paris 1967], Berlin 1996, S. 54. Ebd., S. 35 [Herv. im Orig.]. Ebd., S. 19 [Herv. im Orig.]. Ebd., S. 47, 54 [Herv. im Orig.].

EINFÜHRUNG

Spektakel ist die technische Verwirklichung der Verbannung der menschlichen Kräfte in ein Jenseits; die vollendete Entzweiung im Innern des Menschen.84

Im Double-Bind säkularer Heilshoffnung, die dem Warenfetischismus huldigt,85 verspricht das Spektakel (vorübergehende) Erlösung im weltlichen Framework des Konsums, hält aber das Erlangen des Paradieses auf Erden dauerhaft auf Abstand, indem es ständig neue Begehrlichkeiten weckt und die Erlösungsphantasie in Richtung einer unerreichbaren Zukunft verschiebt.86 Im Zuge einer »Desubstantialisierung der großen Figuren der Alterität und des Imaginären«, die in den angetäuschten, ephemeren Wirklichkeitsszenarios der Postmoderne und der digitalen Nachfolge-Ära einem systemimmanenten »Akkumulations- und Beschleunigungsprozeß« folgend, »mit einer Desubstantialisierung des Realen« korrelieren, ist jede religiöse Emphase laut Gilles Lipovetsky ohnehin »von der narzisstischen Desubstanzialisierung nicht zu trennen, vom flexiblen Individuum auf der Suche nach sich selbst, das frei ist von jeglichem Ballast und jeglicher Gewißheit«.87 Entsprechend findet diese im Trendwechsel »der flüchtigen und doch so heftigen Begeisterung für irgendeine Diät, eine Sportart oder Beziehungstechnik« Ausdruck – einer Gläubigkeit »à la carte«.88 In der grundsätzlich profanen, den spirituellen Mangel durch Ereignisfülle kompensierenden »Gesellschaft des Spektakels« öffnet das Schweben über den Dingen den Blick auf das schillernde Konsumgetriebe. Aus der Distanz verliert der Schein an Strahlkraft und hinter dessen flüchtigem Glanz offenbart sich das Gerippe der Vergänglichkeit, die keine Warengarantie, aber auch kein metaphysisches Heilsprogramm zu überwinden vermag. Hier zeigt die Vanitas ihr heutiges Gesicht: Sowohl die Vanitas als auch die Konsumgesellschaft machen die Kürze des Lebens zu ihrem Hauptanliegen; erstere, indem sie uns daran erinnert, dass die Gegenwart eine Illusion ist, die uns nicht von dem wahrhaften, noch bevorstehenden Glück abhalten sollte; letztere, indem sie 84 85 86 87

88

Ebd., S. 20. Vgl. ebd., S. 54. Vgl. ebd., S. 55. Gilles Lipovetsky, Narziß oder Die Leere: sechs Kapitel über die unaufhörliche Gegenwart [Orig.: L’ère du vide. Essais sur l’individualisme contemporain, Paris 1983], Hamburg 1995, S. 105. Ebd., S. 168 [Herv. im Orig.].

31

1 |   T R A N S I T O R I S C H : S T R AT E G I E N G E G E N D I E V E R G Ä N G L I C H K E I T

die Lebenszeit des Menschen zu steigern sucht, der weiß, dass ihn nichts über den immanenten Horizont der menschlichen Erfahrung hinaus erwartet.89

Kam das barocke Vanitas-Genre im »Kontext starker moralischer und spiritueller Vorgaben« zur Anwendung, so sind nach der Auffassung von AnneMarie St-Jean Aubre die Vanitas-Bilder der Gegenwart »die Frucht einer säkularen Welt«, in der sich das Glücksversprechen »hier unten« auf der Erde zu erfüllen habe.90 Damit seien die Bemühungen der Konsumgesellschaft verbunden, »ein besonders schwer realisierbares Modell des Erfolgs durch Werbung« herzustellen: »Die Gewalt der ›Glücksgesellschaft‹ liegt in der Kluft, die das Reale von dem, was als Ideal ›spektakularisiert‹ wird, trennt.«91 Die Säkularisierung der Vanitas setzt laut Cornelia von Berswordt-Wallrabe bereits in der niederländischen Wohlstandsgesellschaft des 17. Jahrhunderts ein, in der »das Phänomen Zeit […] erstmals zum Wirtschaftsfaktor« wird. Das barocke Stillleben erweist sich in seiner »Zeitsouveränität« als resistent gegen das ökonomische Diktat, da es eine Verlangsamung des Sehens fordert und eine Dauer des Dargestellten in Aussicht stellt. Die Aktualität des Stilllebens sieht Berswordt-Wallrabe »im Zeitalter grenzenloser Entmaterialisierung in virtuellen Welten, in der Ausdehnung menschlicher Aktivitäten auf den Eingriff in die Evolution durch Genmanipulation oder in der Reizdichte des rasenden Stillstandes, als übergroße Reizmenge« genau in dessen Entschleunigungswirkung, die eine »erkennende Wahrnehmung« durch »die erforderliche Zeitdehnung« im Bild ermöglicht.92 Wenn Künstlerinnen und Künstler heute auf die Bildmotive der Vanitas zurückgreifen und diese in einer sich zunehmend verflüchtigenden »Gesellschaft des Spektakels« und in einer von Reizüberflutung vernebelten Wirklichkeit mit neuem Gehalt aufladen, adressieren sie nicht nur das »schwin89

90 91 92

32

Anne-Marie St-Jean Aubre, At the Heart of Catherine Bolduc’s Work: A Sublimated Disappointment, in: Catherine Bolduc, Mes château d’air et autres fabulations / My Air Castles and Other Fabulations 1996 – 2012, Ausst.-Kat., franz./engl., konzipiert als 3. Teil einer Ausstellung mit zwei Stationen ( EXPRESSION , Centre d’exposition de Saint-Hyacinthe; La Salle Alfred-Pellan de la Maison des arts de Laval, Québec, Kanada: 2009/2010), hrsg. v. Geneviève Goyer-Ouimette, EXPRESSION , Saint-Hyacinthe / Maison des arts de Laval, Saint-Hyacinthe 2012, S. 240 [Übers. d. Autorin]. Vgl. ebd., S. 239 [Übers. d. Autorin]. Ebd., S. 239f. Vgl. Kornelia von Berswordt-Wallrabe, Vanitas oder die Immanenz des Faktischen, in: dies. (Hrsg.), Stillleben des Goldenen Zeitalters. Die Schweriner Sammlung, Ausst.Kat. (Staatliches Museum Schwerin: 2000), Hamburg 2000, S. 9.

EINFÜHRUNG

delerregende Streben nach einer ständig wachsenden Intensivierung des gegenwärtigen Augenblicks«,93 das gegen die Endlichkeit des menschlichen Daseins gesetzt und ausgespielt wird. Angesichts der Medialisierung und Virtualisierung der visuellen Welt heute und der fortschreitenden Entleerung der sie spiegelnden und generierenden Bilder kommt die Vanitas auch als eine Schlüsselfigur der »Ästhetik des Ephemeren« zum Tragen, die die damit verbundenen Auflösungstendenzen visualisiert und diesen zugleich Einhalt gebietet. Im (post-)digitalen Zeitalter beziehen sich letztere auch auf das Verfließen der Grenzen zwischen Körper und Bild, Diesseits und Jenseits: »Die Grenze zwischen Leben und Tod«, schreibt Belting, »ist im Paradox von Körper und Bild zu einer Erfahrung der Lebenswelt geworden. […] Je mehr die Bilder unsere Körper simulieren, um so mehr rauben sie ihnen die Differenz, in welcher sie sich der eigenen Realität versichern.«94 Die Phänomene des Transitorischen und des Ephemeren, die den Realitätsverschiebungen und -verflüchtigungen der Gegenwart eigen sind, finden sich historisch vorgeprägt im instabilen Zeitgeist des Barock, deren ästhetische Ausdrucksformen Debord als »Kunst einer Welt, die ihr Zentrum verloren hat« beschreibt: »Die Kunst der Veränderung muß in sich das ephemere Prinzip tragen, das sie in der Welt vorfindet.«95 Diese sieht Debord im temporären barocken Format theatraler und festlicher Inszenierungen erfüllt, die um ein konstruiertes »Vereinigungszentrum« – »das Vergehen, das in der dynamischen Unordnung aller Dinge als bedrohtes Gleichgewicht eingeschrieben ist« – rotieren.96 Übertragen auf die transitorische Kunstproduktion unserer nicht minder zentrumslosen und entmaterialisierten Epoche lässt sich genau dieses inhärente Umbrechen feststellen, jenes »ephemere Prinzip«, das dieser aktuellen »Kunst der Veränderung« eingeschrieben ist. Wie Horst Bredekamp argumentiert hat, ist der »Mangel an Gewißheit«, den die Postmoderne als spezifisches stilistisches Siegel für sich reklamiert hat, in der Kunstproduktion aller Zeiten angelegt. Die in der Antike wurzelnde Losung »Nihil firmum« (Nichts ist fest),97 die »als Zeichen 93 94 95 96 97

St-Jean Aubre in: Bolduc 2012, S. 239 [Übers. d. Autorin]. Belting 2011, S. 211. Debord 1996, S. 161f. [Herv. im Orig.]. Vgl. ebd. 1996, S. 162. Vgl. Bredekamp 2007, S. 23. Bredekamp verweist hier im Rahmen seiner Abhandlung über die Stabilität des Instabilen in der Hypnerotomachia Poliphili spezifisch auf den achtundneunzigsten Brief, Vers 10, der Epistulae morales ad Lucilium des römischen Schriftstellers und Philosophen Lucius Annaeus Seneca, in dem es heißt: »[…] nihil firmum infirmo […].« (»Nichts ist fest für den hinfälligen Menschen«).

33

1 |   T R A N S I T O R I S C H : S T R AT E G I E N G E G E N D I E V E R G Ä N G L I C H K E I T

permanenter Wandelbarkeit« die Befindlichkeit der Renaissance fasste, verweist auf den fließenden, ephemeren Charakter des menschlichen Daseins grundsätzlich, lässt sich aber auch auf die flirrenden Bildwelten unserer Ära ausdehnen, und auf das Wesen der Kunst selbst, denn, so Bredekamp: »Die Kunst hat das Gebot der Unbestimmtheit seit jeher verkörpert.«98 In ihren gegenwärtigen künstlerischen Auffächerungen thematisiert die Vanitas jenseits der barocken Projektionen metaphysischer Transzendenz menschlicher Flüchtigkeit durch himmlische Erlösung das prekäre diesseitige Terrain einer sich entziehenden, von ihren eigenen Bildern usurpierten und verblendeten Welt. Sie richtet sich gegen das restlose Aufgehen dieser Welt in der »Behauptung des Scheins« einer »wirklich« erzeugten verkehrten Wirklichkeit.99 »Es darf sicher als ein Maß unserer gegenwärtigen Entfremdung gelten«, hat Roland Barthes bereits 1956 erkannt, »daß es uns nicht gelingt, über ein unstabiles Erfassen des Realen hinauszugelangen: wir gleiten unaufhörlich zwischen dem Objekt und seiner Entmystifizierung hin und her, unfähig, seine Totalität wiederzugeben.«100 Die Künstlerinnen und Künstler, die sich der Vanitas heute annehmen, wehren sich gegen das vollständige Zersplittern und Verpuffen dieser Wirklichkeit. Dem Transitorischen und Ephemeren unserer informationsbeschleunigten Zeit begegnen sie mit einer Stabilisierung des Flüchtigen in der ästhetischen Rahmung und Erdung ihrer Kunst und dessen Rettung vor dem Vergehen durch Einbindung in die großen Kreisläufe der Natur, des menschlichen Seins, der gesellschaftlichen Verteilung, der Geschichte und der Zukunft. Darin liegt eine mögliche Erlösungsvision angesichts der Flüchtigkeit und Endlichkeit des Seins: in der Wandlung, Erweiterung, Ingangsetzung und Dynamisierung der Wahrnehmung, des Blicks und der Gedanken, die über die Bilder der Kunst in Umlauf gebracht werden.

Gestaltgebungen des Ephemeren von Meret Oppenheim bis Christian Boltanski Mit M E R E T O P P E N H E I M , die in ihrem Werk das Flüchtige, Wandelbare auf vielfältige Weise inkorporiert hat, beginnt die vorliegende Untersuchung des Transitorischen. In Oppenheims Bildwelten tritt das Ephemere in der 98 Ebd. 99 Vgl. Debord 1996, S. 16 [Herv. im Orig.]. 100 Roland Barthes, Mythen des Alltags [Orig.: Mythologies, Paris 1957], Frankfurt/Main

1964, S. 151.

34

EINFÜHRUNG

Verknüpfung multipler Realitätsebenen auf, in denen Traum und Alltag, das Magische und Enigmatische surrealistischer »Kombinatorik« und die metamorphe Dynamik der natürlichen Erscheinungen verfließen. Die deutschschweizerische Künstlerin, die 1936 in Paris mit ihrer »Pelztasse« im männlich dominierten Kreis der Surrealisten Furore machte, führte zeitlebens ein Traumtagebuch, das als immaterielle Basis für ihre ästhetischen Gestaltgebungen diente. Damit folgte Oppenheim zugleich ihrer persönlichen Leitidee intuitiver künstlerischer Eingebung und der kollektiven antirationalen Maxime der Surrealisten, die aus den Untiefen des Unbewussten und der Träume neue Ausdrucksformen zu generieren suchten. Das Transitorische, das ihr Werk grundsätzlich durchzieht, verdichtet sich nach einer lang anhaltenden Schaffenskrise, die 1937 nach ihrem ersten großen Erfolg im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs beginnt. Oppenheim empfindet die »jahrtausendealte Diskriminierung der Frau« als schwer belastendes »Gefühl der Minderwertigkeit«.101 Nach dem jähen Ende ihrer Krise 1954 entfaltet sich die befreiende Metamorphose aus der kreativen Starre im ephemeren, wandelbaren Motiv der Wolken und anderer Himmelsphänomene – ein Hauptstrang in Oppenheims Œuvre der 1960er und 1970er Jahre. Die Überwindung der Endlichkeit und perzeptiven Begrenzungen des menschlichen Daseins wird mittels der transformativen Kraft der Natur in Aussicht gestellt: als ein »Eingebundensein in grössere Zonen ausgedehnter räumlicher, zeitlicher und mythischer Dimension«.102 Während das Transitorische bei Oppenheim in der Übersetzung von flüchtigen Traumbildern und wandelbaren Naturphänomenen in die greifbare Wirklichkeit von Malerei und Objekten als ein Akt (weiblich-künstlerischer) Selbstbehauptung manifest wird, bewahrt D A N I E L S P O E R R I die Wirklichkeit selbst in seinen »Fallenbildern« vor der Verflüchtigung. Spoerri (ursprünglich Daniel Isaac Feinstein), Sohn eines von den Nationalsozialisten deportierten und ermordeten jüdischen Vaters, wuchs nach der Flucht der Familie in der Schweiz auf, und lebte lange in Paris und in anderen Städten Europas. Das prozesshafte Werk des Mitbegründers der Nouveaux Réalistes ist durchzogen von der Idee, das Flüchtige festzuhalten und vor dem Verschwinden zu bewahren. In seinen buchstäblichen Tafelbildern – Tafeln, an denen gespeist oder gearbeitet wurde und die in medias res mit Geschirr 101 Meret Oppenheim, zit. nach: Bice Curiger, Meret Oppenheim. Spuren durchstandener

Freiheit, mit vollständigem Werkverzeichnis, bearbeitet von Dominique Bürgi, 3. erweiterte Aufl., Zürich 1989 [1982], S. 43. 102 Ebd., S. 75.

35

1 |   T R A N S I T O R I S C H : S T R AT E G I E N G E G E N D I E V E R G Ä N G L I C H K E I T

und Essensresten beziehungsweise Utensilien der kreativen Tätigkeit fixiert und von der Horizontale in eine waagerechte Position an der Wand platziert werden – überträgt der Künstler eine Schlüsselszene des barocken Stilllebens, den gedeckten Tisch, in eine kontemporäre Stilllegung des Alltagsgeschehens bei gleichzeitiger Aufladung des Kunstwerks durch unmittelbare Lebens(mittel)haltigkeit. Als Regisseur eines »ständig wiederholten Überlebensstücks« gibt er einem Grundantrieb unserer ephemeren Existenz ein Stück weit Dauer: »Wir alle sitzen am selben Tisch …«103 Im Erdbeermuseum der Hamburger Künstlerin M A R I A F I S A H N (geb. 1949 in Geldern) tragen die destruktiven Energien der Vergänglichkeit im Spannungsbogen zwischen Eros und Thanatos ästhetische Früchte. Die Künstlerin erschließt darin in geistiger Verwandtschaft zu ihrem Lehrer an der Düsseldorfer Akademie, Joseph Beuys, und zu der Verfallskunst von Dieter Roth auf ihre eigene Weise die Energien der Transformation als ein zentrales ästhetisches Prinzip. In ihrem prozessualen Gesamtkunstwerk rund um die Erdbeere, das Zeichnungen und Malerei nach organischen Versuchsanordnungen ebenso umfasst wie performative Aktionen und ein wunderkammerartiges Archiv, in dem Hoch- und Populärkultur spielerisch vereint sind, deutet sie das kunsthistorische Vanitas-Motiv mit feministisch aktualisierter Unterfütterung neu. Das Vergehen des Gegenstands, der Erdbeere, wird darin zum Ausgangspunkt der Gestaltgebung auf mehreren Ebenen: Im zeichnerischen und malerischen Festhalten der allmählichen Zersetzung ihres Sujets arbeitet Fisahn dessen anthropomorphe Eigenschaften heraus und offenbart eine der Vergänglichkeit innewohnende kreatürlich-kreative Vitalität, eine im Tod verborgene Lebenskraft. In ihren Bildern schlägt der organische Prozess des Verfalls um in eine erotische Feier der sexuellen Vereinigung und der Sinnlichkeit des weiblichen Körpers. Hier wird die transformative Kraft des Transitorischen in der Wechselwirkung zwischen Werden und Vergehen als Bild stiftendes Medium wirksam. Die New Yorker Künstlerin M A R I LY N M I N T E R (geb. 1948 in Shreveport, Louisiana) transponiert die flüchtigen Reflexe glanzvollen Scheins aus der Sphäre des barocken Stilllebens in die Welt des Glamours unserer aktuellen »Gesellschaft des Spektakels«. In ihrer fotorealistischen Malerei und malerischen Fotografie adaptiert sie die verkaufsfördernden, erotisch aufgeladenen Inszenierungen der Hochglanz-Werbung und der Modemagazine, die 103 Zit. nach: Daniel Spoerri, Text der Menukarte des »eaten by …« Restaurant, in:

Daniel Spoerri. Werke 1960 –2001, Ausst.-Kat. (Kunsthalle – Villa Kobe, Halle/Saale, u. a.: 2001–2003), hrsg. v. Thomas Levy, Bielefeld 2001a, S. 38.

36

EINFÜHRUNG

sie simultan in ihrer Anfälligkeit und Vergänglichkeit sichtbar werden lässt. Das Spektakel des Glamours birgt in ihren Repräsentationen von Fetischen und irisierenden Oberflächen-Effekten der heutigen Lifestyle-Industrie Blessuren und Porositäten: Das Make-up ist verlaufen, der Glanz verblichen, abgeblättert und ruiniert und entpuppt sich als bröckelnde Fassade, hinter der sich die Vanitas als Hinfälligkeit des Strebens nach äußerer Perfektion verbirgt. Bei ihrer Neufassung des Stillleben-Genres greift die Künstlerin wiederum zu den visuellen Ready-mades von Food-Anzeigen und erklärt die typisierten, anonymisierten Gesten der Essenszubereitung zu einer Pornografie des Alltags. Dabei verleiht sie dem ephemeren Flirren des schönen Scheins unseres Konsumzeitalters und dessen weniger glanzvollen Kehrseiten eine existenzielle Tiefendimension, die der Leere des Glamours entgegentritt. Denn im Verrutschen und Scheitern des glanzvollen Auftritts und der Vergeblichkeit, dem Alltäglichen in seiner Profanität zu entgehen, gibt sich der Windmühlenkampf gegen das Verglimmen von Jugend und Schönheit und ultimativ gegen das Vergehen des Lebens selbst zu erkennen, das jedem Versuch, die Zeit anzuhalten, einen Strich durch die Rechnung macht. In den prekären Konstruktionen der kanadischen Künstlerin C AT H E R I N E B O L D U C (geb. 1970 in Quebec) kippen Illusion und Wirklichkeit ständig ineinander. Ihre Installationen, Skulpturen und Zeichnungen sind wie Vexierspiele, die jederzeit wie Kartenhäuser in sich zusammenklappen oder sich wie Luftschlösser verflüchtigen könnten. In ihren labyrinthischen, organisch-anthropomorphen Landschaften verbindet sie Traumvisionen und reale Topografien zu unsicheren, mutablen Reflexionsflächen des Körpers und der Seele. Bolducs fragile, märchenhafte Aufbauten und Objekte, deren illusionäre Doppelbödigkeit durch Spiegelungen und Schattenwürfe noch betont wird, bestehen aus banalen Gegenständen des Alltags. In ihren Kompositionen bringt die Künstlerin den ephemeren Charakter der Vanitas auf der Ebene des flüchtigen Charakters menschlicher Illusionen, Hoffnungen und Projektionen zum Vorschein. Dabei führt sie die Waren der Konsumgesellschaft als Attrappen vor, die Glück verheißen, in »Wirklichkeit« aber nichts weiter sind als bunter Tand, der je nach Beleuchtung magisch erscheint oder seine Banalität offenbart wie die Gaukelbilder in Platons Höhle. In ihrer ineinander greifenden dialektischen Generierung und simultanen Zerstörung von Illusionen und Traumbildern deutet die Künstlerin auch an, dass diese in ihrer transitorischen Eigenschaft der Wirklichkeit

37

1 |   T R A N S I T O R I S C H : S T R AT E G I E N G E G E N D I E V E R G Ä N G L I C H K E I T

selbst entsprechen, in den Worten Paul Virilios: »Die Welt ist Illusion – und die Kunst die Darstellung der Illusion der Welt.«104 In ihren filigranen Licht- und Schattenspielen fängt die in Hamburg lebende japanische Künstlerin N A H O K A W A B E (geb. 1976 in Fukuoka) das Ephemere in feinstofflicher Materialität ein und führt die Fragilität des Menschen und seiner Behausungen subtil vor Augen. Kawabe zeichnet das flüchtige Muster, das einfallendes Sonnenlicht durch das zarte Gewebe eines Vorhangs auf den Boden oder an die Wand wirft, mit Kohlenstaub nach. Schwebende Konglomerate aus schimmernden Schmuckkugeln werfen existenzielle Worte an die Wand, wenn der Schein einer Leuchte sie von bestimmter Warte aus erfasst. Ein Haus aus Zucker wird in heller Umgebung erst in dem Moment sichtbar, als es von roter Flüssigkeit erfasst wird, doch verursacht die Sichtbarmachung auch dessen Zerstörung. Territoriale Grenzen und gebaute Strukturen lösen sich auf und werden in ihrer Verbindlichkeit und Stabilität von der Künstlerin in Frage gestellt. Verweise auf die potenzielle Zerstörung von Schutzräumen und Machtzentren, von Häusern und Siedlungen durch eine unbezähmbare Natur, wie in der ständig von Erdbeben bedrohten japanischen Heimat der Künstlerin durch die TsunamiKatastrophe 2011 auf besonders massive Weise geschehen, erweitern sich in ihrem Werk zu einer umfassenden Evokation der Zerbrechlichkeit unserer Existenz und zivilisatorischen Errungenschaften. Kawabes Arbeiten, deren schwebende Leichtigkeit auch Abgründe bergen, kreisen zentral um den transitorischen und illusionsanfälligen Charakter der Wahrnehmung, der Interdependenz zwischen der Gefährdung und der wirklichkeitsverzehrenden und -verzerrenden Gefährlichkeit des Blicks. Die Frage nach der Wahrnehmung einer ungreifbaren Wirklichkeit steht auch im Mittelpunkt der wie in Zwielicht gehüllten Bilder der New Yorker Malerin E N A S W A N S E A (geb. 1966 in Charlotte, North Carolina). Aus Sicht der Künstlerin liegt ein Schleier über der Realität – in ihrer nach fotografischen Vorlagen geschaffenen Malerei ist sie diesem Schleier auf der Spur. Ihre post-impressionistischen, zwischen Auflösung und Verdichtung oszillierenden Bilder kreisen um die Flüchtigkeit der Erscheinungen und der Unmöglichkeit, die Welt in ihrer Wandelbarkeit in den Blick und den Griff zu bekommen. Die ephemeren Phänomene des Schnees, der die Großstadt temporär verhüllt und stilllegt, oder des Lichts, das auf post-Monet’schen Heuschobern oder auf dem Wasser Reflexe erzeugt, die Bewegung von Tan104 Virilio 1986, S. 40.

38

EINFÜHRUNG

zenden und Paradierenden in Nachtlokalen und auf urbanen Boulevards: Im Dämmerlicht von Swanseas Szenen wird eine ständig auf dem Sprung befindliche Welt evoziert. In ihrer Malerei erforscht die Künstlerin die mehrstufige, transmediale Vermittlung von Wirklichkeit als Wechselspiel zwischen Fotografie und Malerei, dem Anhalten und in Bewegung setzen eines Geschehens. Eingewoben in die schwebende Malerei der Künstlerin sind die transitorischen Phänomene der Zeit, der persönlichen und kollektiven Ge­schichte. Die verschiedenen medialen Dimensionen und Interferenzen, die Swanseas ephemere Repräsentationen von Wirklichkeit konstituieren, rücken die Frage nach der Beschaffenheit der Bilder ebenso in den Blick wie die nach der Substanz der Realität, die in ihnen flüchtige Gestalt annimmt. Die labilen Konstruktionen von L O R E N Z E S T E R M A N N (geb. 1968 in Linz), die zwischen Häusern und Fahrzeugen, Stabilität, Mobilität und Stilllegung changieren, verschränken Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, wirken zugleich altertümlich und futuristisch, verlassen, abgelegt und kurz vor der Wiederbelebung. Fotografische Aufzeichnungen von im Umbruch befindlichen Landstrichen in Osteuropa dienen dem Künstler als Vorlagen für Skulpturen und Installationen, die auf zwecklos gewordene Zweckbauten ebenso verweisen wie auf den Kontrast zwischen Stillstand und turbokapitalistischer Beschleunigung, die die von ihm bereisten Gebiete seit dem Ende des Sozialismus und dem Fall des Eisernen Vorhangs erfasst hat. Seine hybriden, automobilen und nomadisierenden Gebäude vermitteln die Auflösungserscheinungen, die mit der geopolitischen Zeitenwende in Europa einhergegangen sind, verweisen zugleich auf das ständige Unterwegssein der westlichen Freizeitgesellschaft, die jenseits der globalen Flüchtlingsströme ihre touristische Reise- und Bewegungsfreiheit zelebriert. Die Anmutung des Provisoriums, des Unfertigen und des Gescheiterten, die Estermanns transitorische Bauten durchzieht, konterkariert jegliche Fortschrittseuphorie: In seinem düsteren Modell einer dystopischen, im Aufbauprozess verlassenen oder bereits zur Ruinenstadt zersetzten schattenhaften Metropole treffen Entstehen und Vergehen aufeinander. Die flüchtige Spur des Graffiti-Tags dient dem in Hamburg lebenden Künstler M I R K O R E I S S E R (geb. 1971 in Lüneburg) seit 1989 als anhaltendes Signet der Selbstreflexion und der Selbstbehauptung. Unter dem Pseudonym DAIM (oder DEIM) hinterlässt er sein Selbstportrait-im-Wandel längst nicht mehr im Verborgenen auf Großstadtmauern, sondern schreibt es auf die Wände von musealen Ausstellungsräumen. Gleichwohl ist der zunehmend in die Abstraktion aufgelösten, an die formalen Prinzipien der konkre-

39

1 |   T R A N S I T O R I S C H : S T R AT E G I E N G E G E N D I E V E R G Ä N G L I C H K E I T

ten Dichtung erinnernden Signatur der transitorische Charakter der StreetArt eingeschrieben und erfasst zugleich das im Fluss befindliche Dasein des Künstlers im Wandel. Reisser hält mit seiner repetierten Zeichensetzung in Gestalt seines illusorisch mit Sprühlack bildlich umgesetzten sowie mittlerweile auch plastisch gebauten dreidimensionalen Namenszugs der Flüchtigkeit und Vergänglichkeit der eigenen Existenz die Zeitzeugenschaft des fortwährenden Lebensbeweises entgegen. In ähnlich konsequenter Weise wie der polnisch-französische Künstler Roman Opalka (1931–2011), der über Jahrzehnte an seinem vielteiligen numerischen Lebensbild gemalt hat, materialisiert Reisser seine Signatur als persönliche Bestandsaufnahme und als Fortbestand der Zeit im Bild – eine Art »Schreibzeit« (Hanne Darboven) in Echtzeit. Der in Hamburg lebende Künstler V O L K E R L A N G (geb. 1964 in Augsburg) gibt den ephemeren Stoffen literarischer, lyrischer und filmischer Vorlagen sowie der kollektiven und individuellen Geschichte(n) buchstäblich Raum. Seine filigranen, angedeuteten Architekturen rahmen und erden das Ungreifbare wie Schutzzonen, in denen Gedanken vor der Verflüchtigung bewahrt und innere Bilder in den Köpfen der Betrachterinnen und Betrachter über fragmentarische Hinweise, oft auch über akustische Soundtracks hervorgerufen werden. Langs Bühnen des Transitorischen kreisen um das Festhalten, Wiederherstellen und Bewahren von Erinnerung. Sie rangieren von traumartigen Evokationen im Rahmen gebauter Strukturen, die den Rezipienten ermöglichen, in die immateriellen Sphären der Dichtung und des Films physisch einzutauchen, bis hin zu politisch-historisch aufgeladenen Mahnmalen, die die Erinnerung an Kriegszerstörung und an Menschen, die während des nationalsozialistischen Regimes ermordet wurden, auf poetisch-brisante Weise wachhalten und fortschreiben. Die gebauten Strukturen und visuellen Partituren des Daseins, die der Künstler als zartgliedrige Bollwerke gegen das Vergessen kreiert, führen die Resistenz und Stärke der mentalen Bilder vor Augen, die aus dem Fluss der Zeit herausgelöst in der äußeren Wirklichkeit Gestalt annehmen und über ihre konkrete Vergegenwärtigung in der Vorstellungswelt der Betrachter wirksam werden. Der in Lübeck geborene, in New York lebende uruguayische Konzeptund Installationskünstler L U I S C A M N I T Z E R wuchs nach der Flucht vor den Nationalsozialisten als Kind jüdischer Eltern in Montevideo auf. In seinen zunächst auf Texten basierenden Arbeiten war bereits die für sein gesamtes Werk programmatische Bereitstellung bruchstückhafter Hinweise als Auslöser für die Hervorrufung eigener innerer Bilder des Publikums angelegt.

40

EINFÜHRUNG

Camnitzers konzeptuelle, post-surreale, politisch-kritische Kunst beleuchtet die Überschneidungen und Ineinanderfließungen von Wirklichkeit und Halluzination, Traum und Trauma, Freiheit und Gefangensein. Ein zentrales Motiv ist der Spiegel, der sich in unterschiedlichen Gestaltgebungen durch die abgründigen Szenarien des Künstlers hindurchzieht. Der Spiegel steht in vielfach variierten Konstruktionen als schillernder Mittler zwischen den Wirklichkeiten für die Aufhebung der Sicherheiten auf ganzer Linie: Die Frage nach Identität und nach der Austauschbarkeit von Täter- und Opferrolle, Realität und Illusion kristallisiert sich im trügerischen, ephemeren Medium des Spiegelbilds, in dem sich das Gespiegelte verdoppelt und in sein Gegenteil umkehrt. Camnitzers transitorischer Ansatz kreist um die Leitfrage, auf welche Weise sich Realität und die Wahrnehmung der Welt konstituieren. Die Halluzination wird dabei als Fluchtweg in den verrückten Zustand des Außer-sich-Seins ebenso wie als lebenserhaltendes, Grenzen überschreitendes, subversives Prinzip der Bild- und Sinnstiftung greifbar: eine Strategie der Transzendenz aller Barrieren durch die transitorischen Fähigkeiten der Phantasie. Die Transzendenz der Grenzen zwischen Leben und Tod und das Bewahren des vergangenen Daseins anonymer Verstorbener vor dem restlosen Verschwinden steht im Mittelpunkt des ephemeren Werks von T E R E S A M A R G O L L E S (geb. 1963 in Culiacán, Sinaloa). Die mexikanische Künstlerin, die zunächst im Kollektiv SEMEFO performative Arbeiten realisierte und selbst auch als forensische Assistentin tätig war, hat die Vanitas in den Hades der gerichtsmedizinischen Abteilungen von Mexico City verlegt. Die grundsätzliche Zartheit des menschlichen Daseins ist ein Leitthema ihrer Installationen und Skulpturen, die sich als feinstoffliche Memento mori dem Gedenken der namenlosen Toten widmen, die in Mexikos Hauptstadt und in anderen Metropolen des Landes in großer Zahl gewaltsam ums Leben kommen. In ihrer todeshaltigen, dabei aber auch lebensbejahenden Kunst setzt Margolles symbolisch das Wasser ein, das bei der Waschung der Toten im Obduktionssaal Verwendung findet. Dunst und Seifenblasen werden dabei zu immateriellen Medien der »Transsubstantiation«,105 mittels derer die Körper der Verstorbenen in die Welt der Lebenden hineingetragen und von diesen gleichsam inkorporiert und wiedererweckt werden. Margolles’ Bilder jenseits der Bilder machen die Fragilität der menschlichen Existenz in ebenso ephemeren wie atemberaubend nahegehenden und profund poli105 Vgl. dazu Sykora in: Flemming; Kittner, 2010, S. 53.

41

1 |   T R A N S I T O R I S C H : S T R AT E G I E N G E G E N D I E V E R G Ä N G L I C H K E I T

tischen Spuren der Abwesenheit präsent und lassen den existenziellen Kreis­lauf des Werdens und Vergehens greifbar werden. Das immanent flüchtige Werk des in Guáimaro, Kuba, geborenen, in Miami, Florida, an den Folgen von Aids gestorbenen US-amerikanischen Künstlers  F E L I X G O N Z A L E Z - T O R R E S (1957–1996) nimmt als Ausdruck persönlicher Empfindung in der weiten Sphäre kollektiver Empathie und Teilhabe Gestalt an. Ein durchgängiges Thema im vielsträngigen Werk des Künstlers ist das Gedenken an den toten Geliebten, ebenfalls ein Opfer von Aids, vor dem Horizont der prinzipiellen Vergänglichkeit des Seins. In seinen fotografischen und skulpturalen Vanitas-Motiven stehen von Vögeln durchflogene Wolkenhimmel, Schattenwürfe, der flüchtige Abdruck, den Füße auf Sand oder Köpfe auf Kissen hinterlassen haben, Spiegel, Uhren und Lichterketten für das transitorische Wesen des Lebens. Doch bleiben die von Zartheit und schimmernder Opulenz erfüllten Installationen des Künstlers in viele Richtungen lesbar und im Fluss: So steht es den Rezipienten frei, sich die in potenziell endloser Vervielfältigung konzipierten Plakatstapel und Haufen glitzernder Bonbons des Künstlers durch Mitnahme stückweise anzueignen und in Umlauf zu bringen. Zwischen unbeschränkter Reproduzierbarkeit und unkontrollierbarem Davongetragenwerden oszillierend, führen diese Werkgruppen einerseits das Verschwinden vor Augen, das ihnen gleichsam inhärent ist, und negieren es, da sich erst in der Zerstreuung und Weitergabe an den Betrachter, die Betrachterin das Kunstwerk vollendet. Diese dialektische Verbindung zwischen Präsenz und Absenz zieht sich leitmotivisch durch Gonzalez-Torres’ Arbeiten hindurch, die in ihrer Wandelbarkeit ein weites Panorama eröffnen. Auch die Liebe wird darin als Medium der Transzendenz lesbar, das die Grenzen menschlicher Endlichkeit zu überwinden vermag. Der französische Künstler C H R I S T I A N B O LTA N S K I , der als Sohn einer korsisch-katholischen Mutter und eines zum Katholizismus konvertierten jüdischen Vaters ukrainischer Herkunft in Paris aufwuchs, befasst sich als »Spurensicherer« mit dem, was vom Menschen durch temporale Wandlungen hinweg und nach Ablauf des individuellen Lebens übrig bleibt. Seine oft auf fotografischen Fundstücken basierenden archiv- und altarartigen Installationen reflektieren die problematische Funktion der Fotografie als Medium der Erinnerung und der Weltaneignung ebenso wie die Flüchtigkeit der menschlichen Existenz im Vergehen der Zeit. Boltanskis Konglomerate von Textilien und herrenlosen Gegenständen evozieren die horrenden Anhäufungen von Habseligkeiten der Ermordeten des Holocaust, der als

42

EINFÜHRUNG

einschneidendes Desaster des 20. Jahrhunderts seine Arbeiten durchwirkt. Die fundusartigen Anordnungen gezielt verschwommener, sich zunehmend auflösender Bilder des Künstlers stehen für das Schicksal aller Menschen, die sich dem Tod und dem Vergessen stellen müssen. In seinen »Vanitasdarstellungen, gleichsam barocke Stillleben unter den Bedingungen ihrer radikalen, postmodernen Neubestimmung« wird das »verdrängte, tragische Bild der Conditio humana«106 vor dem endgültigen Verschwinden gerettet. Der Künstler lädt die übermächtigen und dabei machtlos gewordenen bildlichen Repräsentationen einer sich verflüchtigenden Wirklichkeit wieder auf, indem er das abstrakte Menschenbild persönlich, das persönliche Bild universell werden lässt. Die Transzendenz der Endlichkeit mag physisch unmöglich sein, doch in der Wiederherstellung der Liebe und des Lebens durch immer wieder andere Menschen an immer wieder anderen Orten, in anderen Zeiten und anderen Bildern, setzt sich das transitorische humane Daseinsprojekt im Strom der Zeit beständig fort.

106 Gabriel Ramin Schor, Paradoxe Nachträglichkeit. Zu Geschichte, Autobiografie und

Fiktion bei Christian Boltanski, in: Christian Boltanski. Zeit, Ausst.-Kat. (Institut Mathildenhöhe Darmstadt: 2006/2007), hrsg. v. Ralf Beil; Ostfildern 2006, S. 112.

43

2 |

M E TA M O R P H O S E N V O N T R Ä U M E N , MONDEN UND WOLKEN



Meret Oppenheims Formgebungen des Wandelbaren […] kein Geräusch ist hörbar nur die Mondsichel steht am Himmel das Feuerwerk knallt und die Nacht ist paillettenübersät. Meret Oppenheim1

V

or hellblauem Himmel drei weisse, fast durchsichtige Monde«, notiert Meret Oppenheim in ihren Traum-Aufzeichnungen vom 14. Oktober 1980. »Die zwei untern steigen langsam zum obern. Dann verwandeln sie sich etwa so. […] Tief schwarze, untereinander unzusammenhängende Flecke, bilden rechts einen Schmetterling.«2 Oppenheim, die 1936 in Paris im Kreis der Surrealisten mit ihrer Déjeuner en fourrure3 betitelten »Pelztasse« (seit ihrem Entstehungsjahr in der Sammlung des Museum of Modern Art, New York) Furore machte, führte ab ihrem 14. Lebensjahr ein Traumtagebuch.4 Die flüchtige Materie der Träume diente ihr zeitlebens als wesentlicher schöpferischer Impuls ihrer Gestaltungsformen. Oder, wie es Christiane Meyer-Thoss formuliert hat, als »das dokumentarische Material, das Storyboard zum Film der Bilder, zu dem von Meret Oppenheim realisierten Bildkosmos«:5 eine gattungsübergreifende künstlerische Produktion, die

1

2

3

4 5

Meret Oppenheim, Am Anfang ist das Ende (1970), in: Christiane Meyer-Thoss (Hrsg.), Meret Oppenheim, Husch, husch, der schönste Vokal entleert sich. Gedichte, Prosa, Frankfurt/Main 2002, S. 83. Meret Oppenheim, Traum von ca. 14. Okt. 1980 (Skizze), in: Christiane Meyer-Thoss (Hrsg.), Meret Oppenheim, Träume, Aufzeichnungen 1928–1985 [veränderte und erweiterte Ausgabe der Aufzeichnungen 1929-1985, Träume: Bern/Berlin 1986], Berlin 2010, S. 71. Zu der vermutlich von André Breton stammenden suggestiven Titelgebung der »Pelztasse«, die Edouard Manets Skandal-Gemälde Le déjeuner sur l’herbe / Frühstück im Grünen (1863, Musée d’Orsay, Paris) ebenso evoziert wie Leopold SacherMasochs nicht minder skandalöse Novelle Venus im Pelz (1870), vgl. Helfenstein 1993, S. 69 und S. 185, Anm. 3. Vgl. Meyer-Thoss 2010, S. 87. Ebd.

45

2 |   M E TA M O R P H O S E N V O N T R Ä U M E N , M O N D E N U N D W O L K E N

neben Malerei, Skulpturen, Objekten und Gedichten Entwürfe für Schmuck, Accessoires, Mode, Mobiliar und Brunnen umfasst. Oppenheims Leitidee spielerisch-intuitiver künstlerischer Inspiration – die Künstlerin realisierte ihre »Einfälle« nach ihrem eigenen Bekunden, wie sie ihr »in den Kopf«6 kamen – speiste sich aus den Schriften des Schweizer Psychoanalytikers und Verfechters einer Zeiten und Kulturen übergreifenden Archetypenlehre, Carl Gustav Jung (1875–1961), mit denen sie bereits in ihrer Jugend durch ihren als Arzt tätigen, wissenschaftlich interessierten Vater bekannt wurde7 und sich ab 1937 verstärkt beschäftigte.8 Wie Oppenheim versicherte, half ihr die Lektüre von Jungs Ausführungen, ihre »Träume zu verstehen« und ihre »Situation zu analysieren«.9 Insbesondere interessierte sich die Künstlerin, wie Isabel Schulz in ihrer Abhandlung zur Gegenwart der Träume in deren Werk hervorgehoben hat, für »Jungs Individuations- und Kreativitätstheorie und seine These des kollektiven Unbe­ wussten.«10 Die von ihren (fast durchweg männlichen) Surrealisten-Kollegen favorisierten Theorien Sigmund Freuds erschienen Oppenheim in ihrer Betonung auf verdrängte, unerlöste Sexualität anachronistisch und im Licht der aus ihrer Sicht gesellschaftlich bedingten Unfreiheit der Frau als nicht mehr relevant. Für sie war Freud diesbezüglich ein »Mann des 19. Jahrhunderts, sehr patriarchal.«11 Mit ihrem Ansatz erweiterte sie die antirationale Maxime der Surrealisten, die aus den Abgründen des Unbewussten eine resistente enigmatische Symbolsprache als radikalen Gegenentwurf zum kollektiven Konsens der 6

7

8 9

10

11

46

Oppenheim zit. nach: Christiane Meyer-Thoss, Meret Oppenheim. Buch der Ideen. Frühe Zeichnungen, Skizzen und Entwürfe für Mode, Schmuck und Design (mit Fotografien von Heinrich Helfenstein), Bern 1996, S. 17. Meret Oppenheims Vater Erich Alphonse Oppenheim, der zunächst als Arzt in Berlin, später in der Schweiz praktizierte, gehörte zum erweiterten Freundeskreis von C. G. Jung und besuchte auch dessen Seminare in Zürich. (Vgl. Meyer-Thoss 2010, S. 87f.). Vgl. Oppenheim im Interview mit Suzanne Pagé (Kat. zur Ausstellung Meret Oppenheim, ARC, Musée d’art moderne de la ville de Paris, 1984, S. 16), zit. in: ebd., S. 88. Ebd. Bereits 1935 suchte Meret Oppenheim C. G. Jung zu einer persönlichen Konsultation auf. Jung konstatierte daraufhin, dass »die Unkonventionalität des Standpunkts« Oppenheims nicht als »neurotische Komplikation« zu werten, sondern vielmehr auf das »künstlerische Temperament« der Ratsuchenden und »die jugendliche Desorientiertheit« der Zeit zurückzuführen sei. (C. G. Jung in einem Brief an Erich A. Oppenheim, 16. Sept. 1935, zit. in: ebd., S. 88 f.). Isabel Schulz, Die Gegenwart der Träume, in: Meret Oppenheim. Retrospektive, Ausst.Kat. (Bank Austria Kunstforum, Wien; Martin-Gropius-Bau Berlin: 2013), hrsg. v. Heike Eipeldauer; Ingrid Brugger; Gereon Sievernich, Ostfildern 2013a, S. 106. Oppenheim im Interview mit Suzanne Pagé, zit. nach: Meyer-Thoss 2010, S. 88.

M E R E T O P P E N H E I M S F O R M G E B U N G E N D E S WA N D E L B A R E N

Bilder und Gedanken ihrer Zeit hervorzubringen suchten, um eine gleichermaßen poetische wie emanzipatorische Dimension mit universeller Botschaft: »Es sind die Künstler«, so Oppenheim über die vorausblickende Rolle ihrer Zunft, »die träumen für die Gesellschaft.«12 Für sie persönlich waren Träume nicht nur ein Fundus, aus dem sie Motive für ihre Bildkompositionen schöpfte und deren Inhalte sie teils buchstäblich umsetzte,13 so etwa in Traum von der weissen Marmorschildkröte mit Hufeisen an den Füssen (1975). Ihre Träume boten ihr auch einen feinstofflichen Seelenraum, in dem sie mentalen Halt, eine innere Heimat und Orientierung fand: Meret Oppenheim schätzte die Gegenwart ihrer Träume, bewohnte behutsam dieses geistige Kartenhaus. […] Es ging Meret Oppenheim bei der Beschäftigung mit den Trauminhalten auch um die Arbeit an der eigenen Person, das seismographische Ausloten der eigenen Persönlichkeit, um die Präzision des Wie-stehe-ich-in-der-Welt. […] Sie wurden zu einem empfindlichen Instrument, verlässlich und unbestechlich wie ein Kompass, ein Logbuch für das Wagnis eines Lebens als Künstlerin.14

Die ungreifbare Sphäre der Träume erweiterte den Radius ihres Erlebens und aktivierte die verborgenen Kammern der Seele, in denen Jung zufolge das kollektive Unbewusste ebenso schlummert wie die individuellen Narrativen assoziativer Logik. Einerseits begab sich Oppenheim in das unwägbare Terrain der Träume, um mittels ästhetischer Übersetzung jener archetypi12

13

14

Oppenheim zit. nach Schulz [aus: Annemarie Monteil, »Träume zeigen an, wo man steht«, in: National-Zeitung Basel, Nr. 325 vom 18.10.1974, s. p.] in: Oppenheim 2013a, S. 106. Vgl. Oppenheim 2010, S. 96. In einem Gespräch mit Alain Jouffroy 1973 behauptet Oppenheim zwar, dass »der Traum keine große Rolle« für ihre Arbeit spiele. Andererseits nennt sie in ebenjenem Gespräch etliche Werke, die auf Träumen beruhen. Ferner räumt sie ein, dass ihr Träume kompositorische Lösungen aufzeigten und ihr wiederholt wesentliche Orientierung boten: »In den schwierigsten Jahren und Momenten meines Lebens waren es die Träume, die mir den Weg wiesen.« (Vgl. dazu: Gespräch zwischen Meret Oppenheim und Alain Jouffroy (1973), ursprünglich nicht zur Publikation intendiert, sondern als Arbeitsmaterial für Alain Jouffroys Texte über die Künstlerin aufgezeichnet [Auszug aus: Meret Oppenheim – Worte nicht in giftige Buchstaben einwickeln: Das autobiografische Album ›Von der Kindheit bis 1973‹ und unveröffentlichte Briefwechsel, hrsg. v. Lisa Wenger, Zürich 2013, S. 351–353], in: Meret Oppenheim. Gedankenspiegel, dt./engl., hrsg. v. Thomas Levy, Bielefeld 2013b, S. 9). Meyer-Thoss 2010, S. 90.

47

2 |   M E TA M O R P H O S E N V O N T R Ä U M E N , M O N D E N U N D W O L K E N

schen mythologischen Bilder, die Jung als »Mythologeme«15 bezeichnet hat, »Verschüttetes aus dem Erfahrungsschatz der Menschheit in Kunstwerken für sich und die Gesellschaft wieder sichtbar zu machen«.16 Andererseits schöpfte sie aus dem in ihrer »Traumseele« geborgenen »Reichtum an Inhalts- und Lebensmöglichkeiten«,17 um ihren persönlichen Visionen einer ganzheitlichen Verbindung innerer und äußerer Wirklichkeiten Gestalt zu geben. Oppenheim behandelte den Traum als »Naturereignis«,18 dessen Eigengesetzlichkeit und inhärente Wandelbarkeit sich in Bildmotiven niederschlugen, die das Flüchtige des Traums und die Veränderlichkeit der Natur vereinten.

Kosmische Mutationen Diese Synthese zeigt sich auch im eingangs erwähnten Traum der Künstlerin aus dem Herbst 1980, in dem sich gleich mehrere Schlüsselmotive ihres Werks bündeln: der Mond in seiner wandelbaren Form, die kreative Kraft der Fusion scheinbar disparater Elemente und die vielfältig aufgeladene Symbolfigur des Schmetterlings, ebenso wie ersterer Verkörperung der magischen Dynamik der Transformation. Der Mond mit seinen zyklischen Phasen und die metamorphen Wesen der Schmetterlinge und Falter (gerade auch die der nächtlichen Art), tauchen in den Kompositionen der Künstlerin immer wieder auf. In den frühen 1960er Jahren tritt darin auch zunehmend die wechselvolle Gattung der Wolken in Erscheinung,19 neben kosmischen Sternen- und Planetenkonstellationen ein weiteres zentrales Sujet ihres Schaffens. Diese immanent inkonstanten, ephemeren Bildmotive begleiten Oppenheim über Jahrzehnte hinweg, durchlaufen – ebenso wie ihre Werke selbst, die im Laufe der Dekaden wiederholt in verschiedenen technischen und materiellen Inkarnationen auftreten – Mutationen, verschwinden vor15

16 17

18

19

48

Vgl. zu Jungs Definition »mythologischer Motive« oder »Mythologeme«, C. G. Jung, Traum und Traumdeutung, hrsg. v. Lorenz Jung auf der Grundlage der Ausgabe Gesammelte Werke, Stuttgart 2010 [2001], darin speziell das Kapitel: Vom Wesen der Träume (1945), S. 142–144. Schulz in: Oppenheim 2013a, S. 106. Jung definierte die »Traumseele« wie folgt: »Wie die Seele eine Tagesseite, das Bewusstsein, hat, so hat sie auch eine Nachtseite, das unbewusste psychische Funktionieren, das man als traumhaftes Phantasieren auffassen könnte.« (Vgl. Jung 2010, S. 157). Jung definierte den Traum als »ein Naturereignis« und stellte fest, »dass die Natur keinerlei Neigung bekundet, ihre Früchte gewissermaßen gratis und der menschlichen Erwartung entsprechend zur Verfügung zu stellen.« (Vgl. ebd., S. 145). Vgl. Curiger 1989, S. 75.

M E R E T O P P E N H E I M S F O R M G E B U N G E N D E S WA N D E L B A R E N

übergehend, um sich zu anderen Zeiten wieder zu verdichten. Im surrealen Gemälde Sonne, Mond und Sterne von 1942 sind die Himmelskörper noch als quasi-menschliche Figuren personifiziert, wie insgesamt Oppenheims Malerei der frühen 1940er Jahre noch stark von märchenhaft-narrativen, mythischen Themen geprägt ist.20 Doch schon 1944 entstehen erste geometrisch reduzierte Werke in Oppenheims unerschöpflichem Fundus der kosmischen Erscheinungen, darunter Sanfter Stern oder Rundes Gestirn und helle Rautenform in Nachthimmel, die die »Himmelsbilder mit flächigen Gestirnen und stilisierten ›kristallinen‹ Wolken«,21 wie Bice Curiger diesen inhaltlichen Schwerpunkt der Künstlerin ab Beginn der 1960er Jahre in ihrer bahnbrechenden, 1982 erstmals erschienenen Monografie beschrieben hat, vorwegnehmen. Die Scharfkantigkeit der »›kristallinen‹ Wolken« und der ihnen ästhetisch verwandten »flächigen Gestirnen«, die 1962/63 vermehrt auftreten, wirken wie Rahmungen, die dem Unsubstanziellen Form verleihen und sie gleichsam am Davonfliegen hindern. Hier werden, so Ingried Brugger in ihrem Essay über das »Unsichtbare« in Oppenheims Werk, »die Möglichkeiten der geometrischen Abstraktion« eingesetzt, »um das Unfassbare wie zum Beispiel Naturerscheinungen und Himmelskörper einzufangen«.22 Folgt man der mäandernden dramaturgischen Linie, die sich durch Oppenheims vielfältige Bildwelten hindurchzieht, so führt diese Ende der 1930er Jahre nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und der langfristigen Rückkehr der Künstlerin aus Paris in die Schweiz vom verwunschenen Dickicht des Waldes (Die Waldfrau, 1939 nach einem Märchen entstanden)23 auf die Gipfel der Berge empor und in den 1940er Jahren eine Ebene weiter hinauf in den »paillettenübersäten« Nachthimmel. Während der Blick der Künstlerin einerseits zu den Sternen greift, setzt sich der Himmel in Das Paradies ist unter der Erde (1940)24 auf dem Grund eines Brunnens, wo sich 20

21 22 23 24

In den 1940er Jahren befand sich Oppenheim noch inmitten ihrer langjährigen Schaffenskrise. Dennoch sind in dieser Zeit etliche Gemälde und Arbeiten auf Papier u. a. mit traumartigen, mythischen und surreal-märchenhaften Szenen entstanden, darunter Die Erlkönigin (1940), Einige der ungezählten Gesichter der Schönheit (1942), Sonnenuntergang (1942), Krieg und Frieden, (1942) Daphne und Apoll (1943) und Hornisse und Hummel (1945), denen oft ein dunkler Unterton eigen ist. Curiger 1989, S. 75. Ingried Brugger, Das Unsichtbare im Werk von Meret Oppenheim, in: Oppenheim 2013a, S. 151. Vgl. Curiger 1989, Werkverzeichnis, S. 149. (Das Werkverzeichnis wird hier fortan mit WVZ abgekürzt). Als Collage/Gouache verwirklicht, vgl. ebd., S. 150.

49

2 |   M E TA M O R P H O S E N V O N T R Ä U M E N , M O N D E N U N D W O L K E N

die Wurzeln der Bäume in deren Äste verwandeln und die Grenzen zwischen oben und unten aufgehoben sind, in spiegelbildlicher Umkehrung fort. Die Tiefen der Erde fungieren zeitweilig als metaphorisches Refugium, in dem die Künstlerin während ihrer von 1937 bis 1954 andauernden Schaffenskrise25 geborgen ist. Doch regen sich auch am symbolischen Ort des Rückzugs implizit bereits die transformativen, erlösenden Kräfte des Frühlings. Später wird der Meerstern zum Erdstern (beide 1958) dann wieder, wie in einer Lithografie der Künstlerin von 1968,26 zu einem Kometen, dessen ockergoldener Schweif in tiefblauem nächtlichen Himmel wie die gebogene Kufe eines Schlittschuhs durch den sprühenden Funkenflug der Milchstraße gleitet. Raupen mutieren – fast zeitgleich zum Ende der Krise Oppenheims – zunehmend wie in einem persönlichen Befreiungs- und Wiederauferstehungsakt zu Faltern und Schmetterlingen. Bildmotivisch scheinen letztere die im Anschluss an die Pariser Jahre von der Künstlerin als ungeheure Schwere und Ohnmacht empfundene »jahrtausendealte Diskriminierung der Frau«27 mit spielerischer Leichtigkeit zu überwinden. Vorübergehend verwandeln sich die Falter wiederum in Baumgeäst,28 während Wolken zu einem Gesicht,29 zu abstrakten Formen oder gar zu architektonisch-plastischen Gebilden werden, die wie Passanten auf einer Brücke stehen (Sechs Wolken auf einer Brücke, Skizze und Skulptur: 1963, abgewandelt nochmals in der Skulptur Wolke auf Brücke 1977).30 Wolken in unterschiedlichsten 25

26 27

28

29 30

50

Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, Geldnot und ein Gefühl kreativer Ohnmacht haben gewiss zusammengenommen Anteil am Ausbruch der künstlerischen Krise von Oppenheim gehabt, wobei auch ihre Vereinnahmung durch den von männlichen Mitgliedern dominierten Pariser Surrealisten-Kreis als »Muse« und die Reduktion ihres Werks auf die »Pelztasse« noch dazu beigetragen haben könnten, wie Josef Helfenstein vermutet (vgl. dazu Helfenstein 1993, S. 73). Komet, 1968. Die erste Auflage der Lithographie erschien in 12 Expl., Atelier Toni Grieb, Montet, vgl. Curiger 1989, WVZ, S. 199. Oppenheim betrieb während ihrer Krisenjahre eine intensive Selbstbefragung als Künstlerin und resümierte nach den frühen Erfolgen in Paris: »Es war mir […], als würde die jahrtausendealte Diskriminierung der Frau auf meinen Schultern lasten, als ein in mir steckendes Gefühl der Minderwertigkeit.« (Zit. nach Curiger 1989, S. 43). So lautet der Titel von zwei Papierarbeiten von 1960, einer Ölkreide- und einer Bleistiftzeichnung, die aus der Gouache Hellblauer Schmetterling aus demselben Jahr hervorgegangen zu sein scheinen (vgl. Curiger 1989, WVZ, S. 180). Konkret in der Bleistiftzeichnung Wolkenförmiges Gesicht von 1960. (Vgl. ebd., S. 179). Die Bleistiftskizze von 1963 trägt auf der Rückseite eine Skizze für das Relief Zwei Vögel, ebenfalls von 1963. (Vgl. ebd., S. 187 f.). Die Skulptur von 1963 besteht aus einem von plastischem Material überzogenen Holzkern und wurde 1975 zusätzlich als Bronzeguss in einer Auflage von sechs Expl. bei Pastori, Genf, realisiert. (Vgl. ebd., S. 188, 224).

M E R E T O P P E N H E I M S F O R M G E B U N G E N D E S WA N D E L B A R E N

Gestalten (inklusive des Entwurfs für einen Strandhut 1960,31 der sich bei Wind zu einer »wandernden weißen Wolke«32 blähen sollte), die ab 1963 neben Monden, Sonnen und anderen Gestirnen einen besonderen Fokus im Werk der Künstlerin bilden, bleiben bis zu ihrem Tod 1985 ein fluktuierendes Kernthema.

Zwischen Konkretisierung und Auflösung Wiederholt fasst Oppenheim das Motiv der Wolke in widersinniger, scharfkantig-organischer Zweidimensionalität auf. 1963 entsteht eine ganze Gruppe von Wolken-Arbeiten in Ölkreide oder Öl auf Leinwand, in der konturierte Formen, die an vieleckige Scherenschnitte oder an Papier-Ausrisse denken lassen, mit schraffierten Schichtungen oder Überlappungen variieren. Die flache Kantigkeit steht in profundem Widerspruch zur eigentlichen Körperlosigkeit des Gegenstands und korrespondiert mit den trapezartigen Stern-Elementen in Neue Sterne.33 Die Künstlerin realisiert ihre Wolken oftmals sogar in einer Art rudimentärer Sternform, wobei in den Zeichnungen Gestirn in Wolken (1964 und 1965 unter diesem Titel auf unterschiedliche Weise umgesetzt),34 Dunkles Gestirn und blaue Wolken (1964) oder Bewegte Wolken vor Gestirn (1965), beispielsweise, beide Motive miteinander verwoben sind. Zwar visualisiert Oppenheim, wie Brugger hervorgehoben hat, »das optisch Unbestimmbare« ihrer kosmischen und metamorphen Sujets einerseits in einer Malerei, die entsprechend »unfassbar und traumhaft«

31

32 33

34

Der Entwurf knüpft an Oppenheims surreale Aquarell- und Bleistiftzeichnung Mädchen, auf dem Kopf einen Hasen tragend von 1941 an. (Vgl. ebd., S. 150). Er wurde 2003 postum im Auftrag des Hamburger Galeristen Thomas Levy, der große Teile des Nachlasses von Meret Oppenheim verwaltet, von Theaterkunst, Hamburg, für die Ausstellung: Meret Oppenheim Zum 90sten. Objekte der angewandten Kunst im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg (2003), erstmals realisiert. (Vgl. Meret Oppenheim. From Breakfast in Fur and Back Again / Die Pelztasse war nur der Anfang, Ausst.-Kat. dt./engl., hrsg. v. Thomas Levy, Bielefeld 2003, S. 101, 250). Meyer-Thoss 1996, S. 42. Zweifach ausgeführt: In der Variante in Öl auf Holz von September 1977 (Privatsammlung Zürich) schweben drei trapezförmige Gebilde über einer Stadtsilhouette; in der Fassung in Öl auf Leinwand von 1977–82 (Kunstmuseum Bern) befinden sich im Himmel unterhalb der drei Trapezgebilde drei weitere etwas kleinere Trapezformen sowie ein ganz kleines Trapez unterhalb der zweiten Gruppe (vgl. Curiger 1989, WVZ, S. 232). Während die Farbstift-Version von 1964 (vgl. ebd., S. 192) noch geometrische mit diffuseren Formen kombiniert, wurde die spätere Version von 1965 (vgl. ebd., S. 195) insgesamt grafischer und scharfkantiger aufgefasst.

51

5  Meret Oppenheim, Röntgenaufnahme des Schädels M. O., 1964, Fotografie, 25,5 x 20,5 cm

6  Meret Oppenheim, Graue Wolke bekleidet, 1965, Öl auf Holz mit Holzrahmen, 43 x 58 cm

7  Meret Oppenheim, Nebelkopf, 1973, Kugelschreiber, 19 x 22,5 cm

8  Meret Oppenheim, Die Raupe träumt, 1976, Farbkreide, 39 x 51 cm

9  Meret Oppenheim, Wolken im Gewitter, 1979, Farbstift, 66 x 48 cm

2 |   M E TA M O R P H O S E N V O N T R Ä U M E N , M O N D E N U N D W O L K E N

ist.35 Andererseits setzt die Künstlerin auch die entgegengesetzte Methode ein, um dem eigentlich Gestaltlosen Kontur zu geben: Oppenheims Beschäftigung mit dem Unsichtbaren und dem Ephemeren und ihre Suche nach dafür geeigneten künstlerischen Ausdrucksmitteln schlägt mitunter auch Kapriolen. Das flüchtige, wandelbare, amorphe Gebilde schlechthin – die Wolke – wird zum festen, scharf umrissenen Körper, ein Paradox, den die Künstlerin nicht auf der Leinwand, sondern auch in Bronze verwirklicht.36

In der Lithografie Denkmal für eine Mondphase (1966) hält Oppenheim den Zyklus des Mondes in ineinandergreifenden geometrischen Figuren als ab­strahiertes himmlisches Uhrwerk fest. 1973 kommt mit den 1974 in Öl auf Leinwand realisierten Zeichnungen Verborgenes im Nebel, Nebelkopf oder Gebilde aus Nebel eine skizzenartig gestrichelte Darstellungsweise hinzu, die »in ständiger Bewegung zwischen Verdichtung und Auflösung, zwischen Formenfindung und Entmaterialisierung«37 ist und so wiederum der diffusen Schemenhaftigkeit von Nebel und Wolken adäquaten Ausdruck verleiht.38 Curiger hat auf die Verwandtschaft zwischen den »Nebelbildern« und weiteren Arbeiten der Künstlerin, darunter deren Gruppe von Monotypien Fünf Abdrucke meiner Hand von 195939 sowie dem einzigen expliziten, dabei aber auch doppelbödigen Vanitas-Bildnis Röntgenaufnahme des Schädels M. O. aus dem Jahr 1964,40 einem besonders wolkenreichen Jahr in 35 36 37 38

39 40

54

Brugger in: Oppenheim 2013a, S. 151. Ebd. Ebd. Zur Gruppe der genannten 1973 entstandenen schraffierten Arbeiten gehört auch die Zeichnung Nebelblume, die Oppenheim 1974 ebenfalls in Öl auf Leinwand realisierte, Mann im Nebel, verwirklicht 1975 als Ölkreidezeichnung und als Serigrafie, sowie, in etwas anderer Technik, die Gouache-Arbeiten von 1976, Planetenbahn sowie Gestirn, von zwölf Planeten umkreist. Letztere wurde im selben Jahr zusätzlich in Öl auf Leinwand ausgeführt (vgl. Curiger 1989, WVZ, S. 214, 219, 220, 228). Entstanden für die Einladung einer Ausstellung der Künstlerin in der Galerie Riehentor, Basel, 1959. Vgl., ebd., S. 175, Anm. 1. Wie Helfenstein feststellt, wird hier der »im Profil durchleuchtete Kopf der Künstlerin […] zum Totenschädel, wobei die Vanitas-Attribute, die Ohr- und Fingerringe, wie der Halsschmuck […] besonders auffällig und vielfältig in Erscheinung treten.« (Vgl. dazu Helfenstein 1993, S. 125). Die Röntgenaufnahme, die Oppenheim von ihrem Kopf und ihrer Schulter im Seitenprofil samt erhobener Hand »mit Ohrringen, Kettchen und Fingerringen machen« ließ, diente zunächst als Plakatmotiv für ihre Ausstellung 1969 bei Claude Givaudan in Paris und wurde anschließend auf dem Umschlag des Katalogs zu der genannten Ausstellung 1974 in Solothurn

M E R E T O P P E N H E I M S F O R M G E B U N G E N D E S WA N D E L B A R E N

Oppenheims Schaffen, hingewiesen. Die letztgenannten Werke sieht Curiger ebenso wie die optisch entkörperlichten, in Auflösung befindlichen »Nebelbilder« als Manifestationen existenzieller (Selbst-)Behauptung und -Vergewisserung: In Schraffuren entsteht ein ›Etwas‹ aus einem ›Fast-Nichts‹, wie in ›Nebelkopf‹ oder ›Im Nebel verborgen‹ […]. Ein weiteres Beispiel solcher ›Kippbilder‹ ist die Gestaltung des Katalogumschlages zur grossen Meret-Oppenheim-Wanderausstellung 1974/75 in den Museen von Solothurn, Winterthur und Duisburg, wo die Künstlerin ihren Namenszug in nebligen Wolken ausgespart hat. In all diesen Äusserungen wird die eigene Existenz gespiegelt in Realitätserscheinungen, die von Auftauchen und Verschwinden, von Entfaltung und Bedrohung, aber auch von Verwandlung und Weiterleben in anderer Gestalt künden.41

In der gleichsam existenzialphilosophisch anmutenden Leinwandarbeit La condition humaine (Da stehen wir) aus dem Jahr 197342 hat Oppenheim eine stilisierte menschliche Gestalt zwischen zwei wolkenartige Figuren inmitten einer durchbrochenen Linie platziert. Der Mensch, so scheint es, verharrt von einem großen Nichts umgeben auf einer Schwelle, über ihm nur Wolken und die Weite des Himmels. Doch gibt es noch andere Lesarten: Wie bei einem Rorschachbild werden die Wolken beim Blickwechsel zum hellen Hintergrund, vor dem sich ein riesiger Baum erhebt, oder aber zu zwei Erhebungen, zwischen denen ein Pfad zum Meeressaum führt: der menschliche Zustand als Multioptionsspiel, das mehrere Richtungen des Voranschreitens eröffnet.

Verkehrung von Himmel und Erde Die Künstlerin holt die Sterne vom Himmel und setzt die Wolken auf stabiles Terrain. »Immer wieder«, so Brugger über deren Umgang mit jenen ephemeren Gestalten, »›erdet‹ sie die Wolken, befestigt sie am Boden oder auf einem Sockel und erzeugt damit eine reizvolle Spannung zwischen Schwe-

41 42

abgedruckt. Ihr Hamburger Galerist Thomas Levy verlegte 1981 eine Auflage von 20 Expl. (Vgl. ebd., S. 192, Anm. 1). Curiger 1989, S. 66-68. Das Bild in Öl auf Leinwand korrespondiert zeitlich mit dem Entstehen der »Nebelbilder« in ihrer ersten Fassung als Kugelschreiberzeichnungen (vgl. ebd., WVZ, S. 214).

55

2 |   M E TA M O R P H O S E N V O N T R Ä U M E N , M O N D E N U N D W O L K E N

ben und Verankerung, Weichheit und Härte, Unbestimmtheit und Konkretisierung.«43 Dies zeigt sich auch in den 1964 von Oppenheim mehrfach modifizierten, teils zeichnerisch, teils malerisch dargestellten Bildmotiven Wolken über Kontinent und Zweimal Sommerwolken – flache, amorphgeometrische Formen, die auf der Spitze filigraner Stelen schweben, die ersteren als Stütze oder Verankerung dienen. Gleichzeitig evoziert die Künstlerin in ihren Kompositionen losgelöste Schwebezustände, die dem Flug der Vögel, der Wolken und der Falter folgen. Diese Balance zwischen Himmel und Erde inklusive deren Umkehrung, angedeutet in Das Geheimnis der Vegetation (1972),44 einer Weiterführung von Das Paradies ist unter der Erde aus dem Jahr 1940, durchzieht ihre Arbeiten wie die schwingende Schnur einer Seiltänzerin. Ihre aus der flüchtigen Sphäre der Träume und Eingebungen geschöpften Kompositionen kreisen auf mannigfaltige Weise um oszillierende Phänomene der Manifestation und der Auflösung. So auch in einer Gruppe von Ölkreidearbeiten aus dem Jahr 1978, die das ephemere Motiv des Spiegels aufgreifen – monochrome runde Flächen vor wechselndem Grund, vom »roten Tuch« bis zur »Wüste«, darunter Dunkler Spiegel auf Blau mit Wolken. Die statische Anmutung der frontalen Position des leeren dunklen Spiegels unterstreicht noch die Flüchtigkeit der Reflexionen, die potenziell darin aufblitzen könnten, ebenso wie der transitorische Charakter der Wolkenfetzen, die wie vom Wind erfasst um diesen herumwirbeln. Als Akrobatin der Lüfte bewegt sich Meret Oppenheim bei der Gestaltgebung des Ungreifbaren einerseits auf einer der Hauptachsen surrealistischer Ästhetik. Doch wird in ihren Bildsphären das Ephemere und Wandelbare nicht eingefroren wie in den tendenziell unheimlichen, von vakuumartiger Entleerung erfassten »Endzeit«-Szenarios von Vertretern des Surrealismus wie Salvador Dalí oder Yves Tanguy, wo die »Landschaft als Bühne für ein erstarrtes, entfremdetes, mutiertes Leben« dient und »die Welt als Wüstenei« vor Augen geführt wird.45 Vielmehr zielt die Künstlerin darauf, die Prozesse des Lebens im Spannungsfeld zwischen den Polen von Vergänglichkeit und Dauer, Werden und Vergehen in ihrer ganzen Fülle und zyklischen Wiederkehr sichtbar zu machen. Dass sie dafür, wie Josef Helfenstein hervorgehoben hat, im Zuge 43 44

45

56

Brugger in: Oppenheim 2013a, S. 151. In Das Geheimnis der Vegetation, Öl auf Leinwand (Kunstmuseum Bern), ist die Umkehrung von Himmel und Erde in einem brunnenartigen Schacht stärker abstrahiert, wobei zwei Schlangenfiguren mit »Köpfen« aus geometrischen Formen hinzugekommen sind. (Vgl. Curiger 1989, WVZ, S. 211). Schneede 2006, S. 146 f.

M E R E T O P P E N H E I M S F O R M G E B U N G E N D E S WA N D E L B A R E N

ihrer künstlerischen Laufbahn zusehends eine »spröde, unterkühlte Ab­strak­ tion«46 einsetzt, unterstreicht eher noch die Paradoxie des Unterfangens, physisch substanzlosen Gegenständen wie Träumen oder Wolken mittels der Kunst Kontinuität und Präsenz zu verleihen und sie zugleich in ihrer Flüchtigkeit und Wandelbarkeit greifbar werden zu lassen.

Erweiterung ins Grenzenlose Gewiss offenbart sich Oppenheims Leitprinzip der Metamorphose idealtypisch in der wiederkehrenden Figuration von Raupen und Schmetterlingen, dem Mutationsmotiv schlechthin und nach Wanda Kupper »ein die Künstlerin beschäftigendes Gleichnis für die Verwandlungen bei allen Lebewesen und insbesondere für die Entwicklungen der menschlichen Seele und Psyche«.47 Hier wirkt die Mehrdeutigkeit weiter, die dem Sinnbild des Schmetterlings seit der Antike und dem Mittelalter innewohnt: von der damit verbundenen Vorstellung der Genese der menschlichen Seele, samt Erlösung durch die Liebe Gottes und deren ewigem Bestand im himmlischen Reich, bis hin zum barocken Vanitas-Konzept von der Kurzlebigkeit irdischer Existenz, Liebe und Schönheit, die darin ebenfalls zum Tragen kommt.48 Auch Oppenheim hat die »Vergänglichkeitsthematik«49 verschiedentlich aufgegriffen – aus Helfensteins Sicht »Kehrseite der idealisierenden Glorifizierung«50 der Künstlerin zur geheimnisvoll-verführerischen Erotiquevoilée51 (»verschleierten Erotik«) Anfang der 1930er Jahre im Pariser Surrealisten-Kreis, eine Form des Widerstands, die in der Bleistiftzeichnung Zukunfts-Selbstporträt als Greisin von 1938 erkennbar ist.52 In ihrem Selbst46 47

48 49 50 51

52

Helfenstein 1993, S. 178. Wanda Kupper, Raupen, Puppen, Schmetterlinge. Metamorphosen im Werk von Meret Oppenheim, in: Meret Oppenheim. Retrospektive. »Mit ganz enorm wenig viel«, Ausst.-Kat. (u. a. Kunstmuseum Bern: 2006; Henie Onstad Art Center, Oslo: 2007; Städtische Galerie Ravensburg: 2007/2008), hrsg. v. Therese Bhattacharya-Stettler und Matthias Frehner, Ostfildern 2006, S. 65. Vgl. Christoph Wetzel: Das große Lexikon der Symbole, Darmstadt 2008, S. 272. Helfenstein 1993, S. 125. Ebd. So lautete der vermutlich von André Breton erfundene Titel von Man Rays Aktaufnahme aus einer 1933 aufgenommenen Serie, in der die junge Meret Oppenheim mit erhobenem, von Tinte geschwärztem Arm hinter einer Druckerpresse posiert, publiziert im Mai 1934 in der Zeitschrift Minotaure, Paris. (Vgl. dazu Helfenstein 1993, S. 52-62, hier S. 54). Vgl. ebd., S. 124f. Helfenstein sieht »Meret Oppenheims pessimistisches Selbstporträt« als »Umkehrung der stereotypen Vorstellung, dass die Frau jung und begehrenswert« zu sein habe. Es sei »gleichsam die Kehrseite der idealisieren-

57

2 |   M E TA M O R P H O S E N V O N T R Ä U M E N , M O N D E N U N D W O L K E N

portrait Röntgenaufnahme des Schädels M. O. von 1964, in der sich, konträr zur Vanitas-Warnung, die die Hinfälligkeit irdischer Güter beschwört, Ohrringe, Kette und Ringe als womöglich einzig Bleibendes nach Wandlung des sterblichen Körpers zum Skelett abzeichnen, invertiert die Künstlerin die Idee von der Eitelkeit und Kurzlebigkeit des schönen Scheins und bereichert diese um eine hintergründige, subtil ironische Nuance. Dabei bleibt, wie bereits angesprochen, das Motiv der sich stets erneuernden Transfiguration im Zeichen kosmischer Wandlung in Gestalt des Mondes mit seinen alternierenden Phasen und der Wolken mit ihren wechselnden Formationen ein zentraler Impuls in ihrem Werk. Semantisch knüpft Oppenheim dabei indirekt an den romantischen Meister Johan Christian Dahl an, der anhand seiner Wolkenstudien, wie Kornelia Röder erläutert hat, »das Moment der Bewegung als ausdrucksintensivierende Kategorie«53 in seine Malerei einführte. Die Dahls »Naturverständnis prägende Metamorphose« im Sinne »einer sich permanent verändernden Natur« kam im Bildmotiv der Wolke prägnant zum Ausdruck und schlug sich in einer »abstrahierenden zeichnerischen Umsetzung« nieder.54 In Oppenheims Wolkenformationen verbinden sich letztlich abstrakte Konzepte der Avantgarde, in denen zusehends »das Wolkenmotiv aus dem Landschaftsfach freigesetzt«55 wurde, mit der von Dahl (und anderen Künstlern der Romantik56) praktizierten Darstellung des Sujets als »Naturphänomen in seiner flüchtigen Gestalthaftigkeit,«57 durch das Dahl nach Röders Ansicht überhaupt erst zur

53

54 55

56

57

58

den Glorifizierung«, die die Künstlerin im Pariser Surrealistenkreis erfahren habe. Um die Entstehungszeit des Zukunfts-Selbstporträts, nur zwei Jahre nach ihrem großen Erfolg mit der »Pelztasse«, begann die langjährige Schaffenskrise der damals 25-jährigen Künstlerin. Vgl. Kornelia Röder, Caspar David Friedrich und Johan Christian Dahl. Aspekte künstlerischer Positionen im Zeitalter der Romantik, in: Caspar David Friedrich, Johan Christian Dahl. Zeichnungen der Romantik, Ausst.-Kat. (Staatliches Museum Schwerin; Musée des Beaux-Arts, Rouen: 2001), hrsg. v. Kornelia von BerswordtWallrabe, Hamburg 2001, S. 26. Ebd., S. 27. Ortrud Westheider, Wolken und Abstraktion. Ein Motiv verändert die Malerei. Von Blechen zu Mondrian, in: dies.; Heinz Spielmann (Hrsg.), Wolkenbilder. Die Entdeckung des Himmels, Ausst.-Kat. (Bucerius Kunst Forum, Hamburg, und Jenisch Haus, Hamburg, Außenstelle des Altonaer Museums/Norddeutschen Landesmuseums u. a.: 2004/2005), München 2004, S. 224. Brugger zieht in ihrer Abhandlung über das »Unsichtbare« in Oppenheims Werk Verbindungen von den »Darstellungen von Naturphänomenen« zu Caspar David Friedrichs »Manifestation des Unsichtbaren, das hinter dem Naturabbild liegt«. (Vgl. dazu: Brugger in: Oppenheim 2013a, S. 151). Röder in: Friedrich; Dahl 2001, S. 27.

M E R E T O P P E N H E I M S F O R M G E B U N G E N D E S WA N D E L B A R E N

Abstraktion gekommen ist. Dieser im Motiv selbst begründete Impuls zur Befreiung aus den Begrenzungen der Gegenständlichkeit und dessen »Potenzial zur Metamorphose, von Walter Benjamin als ›Wolkenwandelbarkeit der Dinge‹ beschrieben«, sieht Ortrud Westheider als entscheidend ursächlich für die Bild expandierende und sprengende Faszinationskraft der Wolke in den verschiedenen Ausprägungen von der Romantik über die klassische Moderne bis in die »prozessuale und immateriale Kunst« hinein – samt Verlagerung des Interesses auf »das Unsichtbare und seine Materie« – in der jüngeren Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts.58 Auch Oppenheim spielt verschiedene Möglichkeiten des Themas durch, bis hin zur äußersten Reduktion auf wenige geschwungene Linien in der Zeichnung Vier Wolken und dem Entwurf eines nicht mehr verwirklichten Modells für eine hängende Skulptur – der Himmel mit Wolken im schwebenden Kasten vereint – in ihrem Todesjahr 1985. Gerade hinsichtlich der Figur der Wolke lässt sich bei aller Eigenständigkeit und Vielfältigkeit ihres verzweigten ästhetischen Ansatzes indes immer wieder eine große Nähe zu den amorphen Konstellationen von Hans Arp erkennen, in denen, wie Walburga Krupp betont hat, dessen Auffassung »der Metamorphose, des immerwährenden Wandels«59 quintessenziell ausgeformt ist. Oppenheims Auffassung der Alten Schlange Natur (wie ihr gleichnamiges Objekt von 1970 betitelt ist, bestehend aus einem Kohlensack, aus dem eine Schlange mit weißem Kopf hervorlugt), ist »von einem Eingebundensein in größere Zonen ausgedehnter räumlicher, zeitlicher und mythischer Dimension«60 getragen. In ihren Landschaften und Himmelsansichten, ihren Traumbildern und Bild(t)räumen bringt die Künstlerin – bei aller Abstraktion – letztlich das von Zyklen und Zufällen, Wandlungen und Unwägbarkeiten angetriebene »spielerische Prinzip der Natur«61 selbst zur Anschauung. Die flüchtige Wolke oder das körperlose Licht der Sterne, die selbst noch als Nachbilder längst erloschener Quellen wie ein Feuerwerk am Firmament im nächtlichen Dunkel erstrahlen, sind feinstoffliche Manifestationen dieses ungebändigten Natur-Schauspiels, das bei Oppenheim stets auch die Nachtseiten des Daseins umfasst. 58 59

60 61

Westheider 2004, S. 224. Walburga Krupp, Konstellation / Constellation / Constellation, in: Hans Arp. Die Natur der Dinge, Ausst.-Kat. (Arp Museum Bahnhof Rolandseck: 2007/2008), hrsg. v. Klaus Gallwitz, Düsseldorf 2007, S. 158. Curiger 1989, S. 75. Vgl. Bredekamp 2007, S. 126.

59

2 |   M E TA M O R P H O S E N V O N T R Ä U M E N , M O N D E N U N D W O L K E N

In dieser Hinsicht ist »Natur« für die Künstlerin nicht lediglich »Zeichen oder Repräsentation«,62 wie es nach Rosalind Krauss André Bretons surrealistischem Axiom »konvulsivischer Schönheit« entspricht. Im Werk Oppenheims ist die Natur mal Spielerin, mal stoischer Grüner Zuschauer (so der Titel einer Skulptur, die nach Skizzen aus dem Jahr 1933 in zwei Fassungen 1959 und 1976 entstanden ist), der in den Worten der Künstlerin »gleichgültig ist, wenn Leben stirbt«.63 Ein anderes Mal ist Natur eine archaisch anmutende Urzeit-Venus (1962) oder jene sich selbst verschlingende Schlange, die im Ouroboros-Symbol »dem abstrakten Zeichen der Spirale verwandt […] ewige Wiederkehr und Erneuerung«64 inkorporiert, und damit dem immer wieder neu am Himmel aufsteigenden Mond vergleichbar ist. Zwischen Varianten gezielter Diffusität und »Entmaterialisierung« und den »Möglichkeiten der geometrischen Abstraktion« changierend, drückt sich in Oppenheims »Darstellungen des Unbestimmbaren«, so Brugger, grundsätzlich der »Glauben an die Möglichkeit einer anderen Sichtbarkeit […], an einen geistigen Raum jenseits des Rationalen und des Bewusstseins« aus.65 In ihrem lyrischen Prosastück Selbstportrait seit 50 000 v. Chr. bis X aus dem Jahr 198066 überwindet die Künstlerin die Grenzen zwischen Sein und Nichtsein, Individuum und Menschheit, Zeit und Raum: »Alle Gedanken, die je gedacht wurden, rollen um die Erde in der grossen Geistkugel. Die Erde zerspringt, die Geistkugel platzt, die Gedanken zerstreuen sich im Universum, wo sie auf andern Sternen weiterleben.«67 Die Metamorphosen des Seins und der Traum vom Fliegen über alle Hindernisse hinweg, die Oppenheim in ihrem Werk in vielfältiger Gestalt durchspielt, setzen sich in der endlosen Sphäre des Alls fort, wo aus jedem erloschenen Stern wieder ein neuer entsteht.

62

63 64 65 66

67

60

Vgl. Rosalind Krauss: Photography in the Service of Surrealism, in: dies.; Jane Livingston (Hrsg.), L’Amour fou. Photography and Surrealism, Ausst.-Kat. (Corcoran Gallery of Art, Washington, D.C.: 1985), New York 1985, S. 35. Oppenheim zit. nach Curiger 1989, S. 12. Schulz in: Oppenheim 2013a, S. 125. Brugger in: ebd., S. 151. Vgl. Oppenheim 2013b, S. 183. Der Titel ist in der Monografie von Bice Curiger in Korrespondenz mit einer gleichnamigen Tuschezeichnung Oppenheims aus dem Jahr 1966 (Kunstmuseum Bern) abweichend als Selbstportrait seit 60 000 v. Chr. bis X angegeben. (Vgl. Curiger 1989, S. 7, 196). Oppenheim, in: Meyer-Thoss 2002, S. 85.

3 |

F E S T H A LT E N D E S F L Ü C H T I G E N



Daniel Spoerris Fallen des Augenblicks Der Zuschauer und Mitspieler dieses ständig wiederholten Überlebensstücks bist du und ich […] Wir alle sitzen am selben Tisch … Daniel Spoerri1

L

aut einer Anekdote aus Kindertagen verbarg Daniel Spoerri seine Schätze als Junge in einem Erdloch im heimischen Garten. Groß war die Enttäuschung des Knaben bei seiner Entdeckung, dass der Schnee, den er dort für den Sommer hatte aufbewahren wollen, auf rätselhafte Weise verschwunden war. Lange glaubte er, der Schnee sei ihm aus dem Versteck gestohlen worden.2 In der Geschichte über den gestohlenen Schnee kristallisieren sich Leitmotive des vielfältigen Werks des 1930 in Galati, Rumänien, als Daniel Isaac Feinstein geborenen, in der Schweiz aufgewachsenen Erfinders des »Fallenbildes«, Eat-Artisten und Weltbürgers Daniel Spoerri, der angetreten ist, dem Ephemeren Dauer zu geben, das Flüchtige vor dem Verfall zu bewahren, den Winter in den Sommer, den Stillstand in die Bewegung und den Tod in die Fülle des Lebens zu integrieren. Der Schnee, den Spoerri einst über den Winter zu retten suchte, versinnbildlicht als Material bereits das paradoxe Ineinandergreifen von Gestaltgebung und Vergänglichkeit, Einfrieren und Auflösung, das in den Assemblagen, Installationen, Skulpturen und Collagen des Künstlers durchweg zum Tragen kommt. Vielleicht hat deshalb auch die Künstlerfreundin Meret Oppenheim, die mit Spoerri den surrealen Geist und den Hang zu hintersinnigem Humor teilte, als feinstoffliche Intervention für dessen Topographie anecdotée du hasard (Anekdoten zu einer Topographie des Zufalls) eine Schneedecke ersonnen. Die entsprechende Publikation, die 1962 zu Spoerris erster Pariser Einzelausstellung3 in der Galerie Lawrence erschien,

1 2

3

Zit. nach: Spoerri in: ders. 2001a, S. 38. Vgl. Daniel Spoerri, II. Poetisches und verpasste Gelegenheiten. Den Winter konservieren, in: ders., Anekdotomania. Daniel Spoerri über Daniel Spoerri, hrsg. v. Museum Jean Tinguely Basel, Ostfildern-Ruit 2001b, S. 37. Die allererste Soloausstellung des Künstlers fand 1961 in der Galleria d’arte von Arturo Schwarz in Mailand statt.

61

3 |   F E S T H A LT E N D E S F L Ü C H T I G E N

verzeichnete alle Gegenstände, die sich am 17. Oktober 1961 um 15:45 Uhr auf dem Arbeitstisch im Zimmer befanden, das der Künstler im Hotel Carcassonne in der Pariser Rue Mouffetard 24 bewohnte. Mit seiner Topographie des Zufalls – später unter Mitwirkung von Robert Filliou (1926–1987), Emmett Williams (1925–2007), Dieter Roth (1930–1998) und Roland Topor (1938–1997) stark erweitert4 – gab Spoerri dem in seinen »Fallenbildern« konkret werdenden Gedanken eines plötzlichen Anhaltens beziehungsweise Festhaltens von Zeit samt der in einem gegebenen Augenblick an einem spezifischen Ort versammelten Dinge auch verbal Gestalt. Meret Oppenheims Beitrag zu seiner Publikation beschreibt der Künstler wie folgt: Ich schickte ihr im Winter 1962 die Urfassung meiner ›Topographie anecdotée du hasard‹, ein kleines graues Büchlein. Sie bat mich um ein weiteres Exemplar sowie um die Höhe sämtlicher Objekte, die auf dem Tisch standen. Die listete ich ihr dann auf, worauf sie mir das zweite Exemplar zurückschickte mit einer Watteschicht, wo nur einige Objekte ausgeschnitten waren, die höher als fünfzehn Zentimeter waren. Und dazu stand dann: Daniels Tisch unter einer Decke von fünfzehn Zentimetern Schnee. Die Vorstellung von Schneefall in einem Pariser HotelZimmer – das ist natürlich wunderbar als Einfall. Solche genialischen Ideen hatte Meret eben.5

Das Pariser Hotelzimmer, Chambre No. 13, wo Spoerri von 1959 bis 1965 lebte und arbeitete, ist Ausgangspunkt und »Geburtsort«6 seiner Strategie, das Leben in der Kunst einzufangen. Auf knappen zwölf Quadratmetern 4

5

6

62

Eine Neuauflage der Anekdoten zu einer Topographie des Zufalls (mit Kommentaren von Emmett Williams, Robert Filliou und Dieter Roth sowie Zeichnungen von Roland Topor) ist 1998 in der Edition Nautilus, Hamburg, hrsg. v. Andreas Schäfler, erschienen. Die limitierte Sonderausgabe (Aufl. 250 Expl.) enthält ein stoffgedrucktes Fallenbild (Tischdecke), Hommage à Meret Oppenheim – »La table avec 15 cm neige« (Foto: Paul F. Talman), signiert und nummeriert. Daniel Spoerri zit. nach Belinda Grace Gardner: »Sie war wahnsinnig offen für alles«. Erinnerungen des Fallenbild-Erfinders Daniel Spoerri an die Schweizer Freundin Meret Oppenheim, in: Meret Oppenheim. From Breakfast in Fur and Back Again: The Conflation of Images, Language, and Objects in Meret Oppenheim’s Applied Poetry/Die Pelztasse war nur der Anfang: Verschmelzung von Bildern, Sprachen, Gegenständen in Meret Oppenheims angewandter Poesie, Ausst.-Kat., engl./dt. (Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg; Thomas Levy Galerie, Hamburg: 2003), hrsg. v. Thomas Levy, Bielefeld 2003, S. 64. Vgl. Spoerri 2001a, S. 94f.

D A N I E L S P O E R R I S FA L L E N D E S A U G E N B L I C K S

Fläche, die – so in seiner Rekonstruktion des Raums von 1998 zu sehen – mit Küchenzeile, Bett, Tisch und diversen Arbeiten vollends belegt war,7 entwickelte der Künstler seine Tableaux pièges oder »Fallenbilder«. Diese stellte er erstmals 1960, dem Gründungsjahr der von Spoerri mitinitiierten Künstlergruppe der Nouveaux Réalistes,8 im Rahmen des Festival d’Art d’Avantgarde in Paris aus. Das Grundprinzip der »Fallenbilder« hat er selbst mehrfach erläutert: In unordentlichen oder ordentlichen Situationen zufällig gefundene Gegenstände werden genau dort, wo sie sich befinden, auf ihrer Unterlage (je nach Zufall – Tisch, Stuhl, Schachtel und anderes mehr) befestigt. Verändert wird nur ihre Lage im Verhältnis zum Betrachter: Das Resultat wird zum Bild erklärt, Horizontales wird Vertikales.9

Insbesondere Tische, die der Künstler samt Essensresten, Geschirr und anderen Spuren des Speisens in medias res fixiert hat, werden derart ganz buchstäblich zu Tafelbildern erhoben. Entscheidend ist, dass er den Zeitpunkt bestimmt, in dem die jeweilige Situation festgehalten wird: »Wenn ich sage: Jetzt! Dann ist die Falle zugeschnappt. Es wird nichts mehr weggenommen. Man hat eine Ganzheit, die in diesem einen Moment entschieden worden ist«, so Spoerri 2001 in einem Gespräch mit der Autorin: Bei meinen ›Fallenbildern‹ habe ich das Komponieren aufgegeben und eine Situation so genommen, wie ich sie vorfand. Das kam aus der konkreten Poesie, wo man nicht mehr seine eigenen Stimmungen darbietet, sondern etwas zum Schauen oder Lesen gibt, das der Leser sich selbst interpretieren kann. Und das habe ich dann umgesetzt ins Visuelle.10 7 8

9 10

Vgl. ebd. Eine Bronze-Fassung des Chambre No. 13 fertigte Daniel Spoerri 1998 für seinen Skulpturengarten Il Giardino im italienischen Seggiano an. Zu den Initiatoren der Künstlergruppe gehörten neben dem französischen Kritiker Pierre Restany, der am 16. April 1960 im Katalog zu deren erster Ausstellung in der Mailänder Galerie Apollinaire das erste Manifest der Nouveaux Réalistes veröffentlichte, u.a. Arman, Raymond Hains, Yves Klein und Jean Tinguely. Das Manifest wurde am 27. Oktober 1960 in Kleins Pariser Atelier von den Gruppenmitgliedern unterzeichnet. (Vgl. zum Ersten Manifest des Nouveau Réalisme Laszlo Glozer: Westkunst: Zeitgenössische Kunst seit 1939, Ausst.-Kat. (Museen der Stadt Köln/Museum Ludwig Köln: 1981), Ausw. und Zusammenst. d. Dokumente: Marcel Baumgartner, Kasper König, Laszlo Glozer, Köln 1981, S. 242f.). Vgl. Spoerri in: ders. 2001a, S. 18. Vgl. Belinda Grace Gardner, Wie sind Sie dort ausgebüchst, Herr Spoerri? Ein Gespräch mit dem berühmten Erfinder der »Fallenbilder« über seine Flucht aus

63

3 |   F E S T H A LT E N D E S F L Ü C H T I G E N

Der Künstler als «Fallensteller«,11 wie Wieland Schmied in seiner Eröffnungsrede am 19. Februar 2003 im KunstHausWien bemerkte, erfasst das Leben und überführt es ins Gehege der Kunst. Diese bestehe für Spoerri darin: […] Ein Stück Wirklichkeit einzufangen und vor dem Tod zu bewahren, es lebendig zu erhalten. Spoerri ist ein Sammler von Wirklichkeiten. Er sammelt sie nicht wie der Schmetterlingssammler, der die Schmetterlinge nur tot und aufgespießt in seinen Schmetterlingskästen bewahren kann, sondern eher wie der Besitzer eines Zoos, in dessen Tierpark die Affen frei in ihren geräumigen Käfigen herumturnen können.12

Die Vorstellung von Spoerri als ein künstlerischer Dompteur, der den Realitäten zugleich Form gibt und freien Auslauf lässt, knüpft an die frühen Tätigkeiten des Künstlers in den Feldern Tanz und Theater an, beginnend mit seinem Engagement als Erster Tänzer am Berner Stadttheater 1954 bis 1957 über seine Inszenierungen für das Berner Kleintheater in der Kramgasse 195613 bis hin zu einer zweijährigen, experimentierfreudigen Regieassistenz am Theater Darmstadt 1957 bis 1959. In seinen »Fallenbildern«, zu denen sich nach 1960 unter anderem die so genannten Détrompe-l’oeil-Bilder (»Ent-Täuschungs«-Bilder) und Pièges à mots (»Wortfallen«) gesellten, führte – neben dem Zufall – »der große Geschichtenerzähler«14 und »Magier«15 des arretierten Moments mit dadaistischer Verve die Regie.

11

12 13

14 15

64

der Gewohnheit, in: Die Welt, 2. April 2001, unter: http://www.welt.de/print-welt/ article443156/Wie-sind-Sie-dort-ausgebuechst-Herr-Spoerri.html (9. Okt. 2016). Wieland Schmied, Der Zufall als Meister, Eröffnungsrede im KunstHausWien, 19. Februar 2003, veröffentlicht in: Daniel Spoerri, Coincidence as Master/Le Hasard comme maître/Der Zufall als Meister/Il caso come maestro, Ausst.-Kat., engl./franz./ dt./ital., (u.a. Kunsthalle – Villa Kobe, Halle/Saale: 2001, abschließend Musée des Jacobins, Morlaix: 2004) hrsg. v. Thomas Levy, Bielefeld 2003, S. 28. Ebd. Spoerri inszenierte dort unter anderem die deutschen Erstaufführungen von Eugène Ionescos absurdem Drama Die kahle Sängerin (Franz. Uraufführung: 1950, Théâtre des Noctambules, Paris) und von Picassos groteskem Stück Wie man Wünsche am Schwanz packt (Uraufführung als Lesung: 1944, Privatwohnung von Michel Leiris) unter Mitwirkung von Meret Oppenheim. (Siehe zu Daniel Spoerris Zeit als Theatermacher in Bern und Oppenheims Mitwirkung im dort in dt. Fassung uraufgeführten Picasso-Stück: Spoerri im Gespräch mit Gardner in: Oppenheim 2003, S. 53 f.). Vgl. Schmied in: Spoerri 2003, S. 29. Vgl. Otto Hahn, Die Anatomie als eine der schönen Künste, in: Daniel Spoerri, Ausst.-Kat. (Jüdisches Museum Rendsburg: 2005), hrsg. v. Herwig Guratzsch; Stiftung SchleswigHolsteinische Landesmuseen Schloss Gottorf, Schleswig 2005, S. 15. (Hier wird Spoerri auch mit einem Alchimisten gleichgesetzt, siehe Fußnote 39).

D A N I E L S P O E R R I S FA L L E N D E S A U G E N B L I C K S

Bühnen des Lebens In ihrem Essay Über die Choreographie der Kunst von Spoerri beschreibt Beate Reifenscheid die Verbindung zwischen Spoerris Tanz- und Theatererfahrungen und dessen künstlerischem Schaffen: Gerade die Summe dessen, was auf der Bühne passiert, scheint damit synchron zu gehen, was der Künstler Spoerri benötigt: die Inszenierung seiner Kunst als Gesamtkunstwerk, das wiederum nicht auf eine kurze Zeit, sondern auf sein Leben als solches angelegt ist.16

Einen entscheidenden Faktor sieht Reifenscheid darin, dass sich dabei »auch der Zuschauer selbst […] zum Beteiligten, zum Mitakteur innerhalb der Dramaturgie geriert«.17 »Fallensteller« Spoerri macht die Betrachter zu Komplizen seiner Schau-Spiele mit offenem Ausgang, in denen sich Kunst und Leben gegenseitig durchdringen und ineinander übergehen. Als Beitrag zum Programm der Nouveaux Réalistes, die simultan zu den Protagonisten der Fluxus-Bewegung (mit denen Spoerri gleich zu Beginn der Bewegung Anfang der 1960er Jahre ebenfalls assoziiert war) für ebenjene Durchdringung der Kunst durch die Lebensrealität einstanden, definiert Spoerri Jahre später anlässlich seiner Serie von Tisch-Arbeiten für den Schweizer Pavillon zur Expo in Sevilla 1992 das »Fallenbild« noch einmal »als ausgestellter […] Ausschnitt einer fixierten, für immer festgehaltenen Bewegung, auf einem Territorium und sei es auch nur ein Quadratmeter und nur ein Minitheaterstück, dessen Handlung Frühstück oder Abendessen heißt«.18 Als natürliche Kehrseite zur Lebenshaltigkeit seiner Kunst schwingt darin stets die Vergänglichkeit des Seins, die Fragilität menschlicher Existenz mit. Wenn Spoerri die Überbleibsel eines beendeten Mahls oder die Zusammenkunft von Gegenständen an einem Ort in einem bestimmten Augenblick im Bild zur Ruhe kommen lässt und anschaulich macht, dann verhandelt er damit immer auch die Dimension der Zeit, wobei hier – parallel zum Zusammenfallen von Leben und Kunst – die zuwiderlaufenden 16

17 18

Beate Reifenscheid, Über die Choreographie der Kunst von Spoerri, in: Daniel Spoerri. Eaten by …, Ausst.-Kat., dt./engl., (Ludwig Museum im Deutschherrenhaus, Koblenz: 2009), hrsg. v. ders., Bielefeld 2009, S. 7. Ebd. Spoerri in: ders. 2001a, S. 38.

65

3 |   F E S T H A LT E N D E S F L Ü C H T I G E N

Dynamiken des Werdens und Vergehens in einer Gleichzeitigkeit der Ereignisse aufeinandertreffen. Mit Blick auf die als »Fallenbilder« an der Wand fixierten, spurenreichen Esstische schreibt Christiane Morsbach: Daniel Spoerris Werke dieser Art führen die Vergänglichkeit des Da­seins vor, sie sind gleichsam ›Vanitas‹-Bilder, das heißt eine besondere Form der Gattung Stillleben, in die der Gedanke an Tod und Vergänglichkeit explizit – durch Essensreste, Zigarettenstummel, eine verlöschte Kerze, einen Totenschädel etwa – regelrecht eingearbeitet wurde.19

Wie Spoerri im oben erwähnten Gespräch von 2001 bestätigt, lassen sich seine »Fallenbilder« durchaus »als Stillleben begreifen, die in die Dreidimensionalität hinausgestülpt wurden. Zugleich geht es dabei um Geschichte, um ein im wahrsten Sinne geschichtetes Geschehen.«20 Als »Relikte von gelebtem Leben« verkörpern die »Fallenbilder«, laut Spoerris eigener Aussage, »unsere ständige Konfrontation mit dem Tod: dem endgültigen Stillstand.«21 Sie sind aber eben auch »Memento Moris, Vanitasbilder unseres ständigen Überlebenswillens, selbst noch in unserer mechanisierten, aseptischen, hygienischen und rationalisierten Konsumwelt«,22 und damit in ihrer anhaltenden Gegenwärtigkeit aus der Vergangenheit in die Zukunft reichende Hoffnungsträger.

Spurensicherung Das »geschichtete Geschehen«, das die Tableaux pièges ausmacht, findet sich generell in den Arbeiten des Künstlers, der durch »Sammeln und NeuZusammenstellen«, wie Pavel Liska bemerkt hat, eine »Methode der Spurensicherung« entwickelt hat.23 Es ist ein nachhaltiges Charakteristikum der im dadaistischen Metier der Collage24 wurzelnden und aus den geheimnisvollen Sammelsurien der Trödel- und Flohmärkte sowie aus Alltagsfund­stücken am Wegesrand schöpfenden Assemblagen, Skulpturen und Installationen 19 20 21 22 23 24

66

Christiane Morsbach, Eat & Stop: Dem Betrachter ein Stillleben vorsetzen, in: Spoerri 2009, S. 55. Spoerri in: Gardner 2001. Spoerri in: ders. 2001a, S. 38. Ebd. Vgl. Pavel Liska, Vorwort. Die verschiedenen cross overs des Daniel Spoerri, in: Spoerri 2001a, S. 8. Vgl. Schmied in: Spoerri 2003, S. 28.

D A N I E L S P O E R R I S FA L L E N D E S A U G E N B L I C K S

des als reger »Archäologe der Gegenwart«25 unentwegt aktiven Daniel Spoerri. In seinen frühen Détrompe-l’œil- oder »Ent-Täuschungs«-Bildern und »Wortfallen« ab 1963/64 finden sich, auf der einen Seite, wirklichkeitsgetreu repräsentierte Bildgehalte, die in assoziative, haptische Realitäten überführt werden, und, auf der anderen Seite, buchstäblich genommene, wiederum in die greifbare Wirklichkeit übersetzte Redewendungen. In ersteren bildet eine realitätsgemäß dargestellte Szene die Basis für eine Subversion malerischer Augenwischerei mittels realer Beigaben: »Wenn ein Bild etwas nach perspektivischen Regeln darstellte und so die Augen täuschte, konnte man diesen Vorgang auch umkehren, ein veristisch gemaltes Bild in die Realität zurückholen und daraus ein ›Détrompe-l’oeil‹ (Augen-Ent-Täuschungsbild) machen.«26 Otto Hahn hebt hervor, dass sich dieses Prinzip einer umgekehrten Augentäuschung bereits zuvor im Werk des Künstlers zeigt. So setzte Spoerri etwa in einer Collage von 1962 auf ein Portrait des französischen Schriftstellers Alexandre Dumas umgekippte Tintenfässer, Schreibzeug und ein Exemplar von dessen Abenteuerroman Vicomte de Bragelonne.27 Die »Wortfallen« wiederum, entstanden in Zusammenarbeit mit Robert Filliou, einem der Haupt-Aktivisten der Fluxus-Bewegung, hat Spoerri als »Versuch, Sprichwörter und Redensarten sichtbar zu machen«,28 definiert. So wurde beispielsweise die Wendung »Etwas auf die hohe Kante legen und immer flüssig sein« 1968 in einem mit Geldstücken und -scheinen gefüllten, mit Wasserhahn ausgestatteten Plexiglasobjekt regelrecht dingfest gemacht.29 Die Verbindung von zwei- und dreidimensionalen Bildebenen zu einer spannungsreichen Gesamtaussage bleibt eine bevorzugte Vorgehensweise im wirklichkeits- und phantasiegeladenen Panoptikum von Spoerris Werk. Ebenso wie die Beschäftigung mit dem Wortsinn der Dinge, die auch in der konkreten Poesie zum Tragen kommt, der Spoerri 1957 in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift für konkrete Dichtung, material, ein Forum gegeben hat.30 25 26 27 28 29 30

Vgl. Hahn in: Spoerri 2005, S. 8. Ebd., S. 9. Vgl. ebd. Spoerri, Wortfallen (Piège à mots), in: ders. 2001a, S. 24. Vgl. ebd. Vgl. Biografie und wichtige Ausstellungen, in: ebd., S. 112. Die erste Ausgabe der Zeitschrift material, die Spoerri während seiner Darmstädter Zeit im Umfeld von Künstler-Dichter-Freunden wie Emmett Williams entwickelte, war eine Anthologie der konkreten Poesie; die zweite war Dieter Roth und die dritte Emmett Williams gewidmet. Die fünfte Ausgabe hatte Gerashim Luca und Pol Bury zum Thema.

67

10  Daniel Spoerri, Eaten by Dick Higgins (Variations on a meal by Dick Higgins), 1964,

Assemblage eines Fallenbildes eines gemeinsamen Essens auf Holzplatte, 53,5 x 63 x ca. 16 cm

11  Daniel Spoerri, Reconstruction Chambre No. 13 de l'hôtel Carcassonne, 1998, Installation,

259,5 x 424,5 x 288,5 cm

12  Daniel Spoerri, Die herausgefallene Zeit, 1989, Assemblage, 105 x 20 x 40 cm

13  Daniel Spoerri, Brotteigobjekt (Schreibmaschine),

1980, Assemblage, 27 x 49 x 39 cm

14  Daniel Spoerri, Denn wo Gefahr

ist, wächst das Rettende auch, 2010, Assemblage, 57 x 24 x 35 cm

3 |   F E S T H A LT E N D E S F L Ü C H T I G E N

Parallel hat sich der Künstler über die Jahre hinweg den vielfältigen Erscheinungsformen des Essens gewidmet – nicht nur in stillgelegter Spielart seiner »Fallenbilder«. Von der ägäischen Insel Symi, wohin er sich 1966 bis 1967 zurückzog, brachte er neben der Serie Magie à la Noix (»Zimtzauberobjekte«) das Gastronomische Tagebuch31 mit. Am 18. Juni 1968 eröffnete er das Restaurant Spoerri in Düsseldorf, woraus sich sein vielfältiges Konzept der Eat Art entfaltete. Den Begriff hatte er, so will es die Legende, »in New York geträumt«.32 Die Hamburger Kunstkritikerin Anna Brenken hat das Lokal in den 1970er Jahren besucht. Sie erinnert sich an Kellner, die hoch über den Köpfen der zahlreichen Gäste (darunter viele Kunstschaffende und Sammler) ihre mit schmalen Biergläsern dicht gefüllten Tabletts elegant zu balancieren wussten, ohne je ein Getränk zu verschütten, und an die gebratenen Ameisen, die zu den exotischeren Speisen auf der ansonsten eher bodenständigen Karte gehörten.33 In Räumen oberhalb des Restaurants eröffnete der Künstler 1970 seine Eat Art Galerie, wo neben Arbeiten von Joseph Beuys, Robert Filliou, George Brecht und anderen maßgeblichen Verfechtern der Gleichung »Kunst = Leben«34 allerlei aberwitzige Essbarkeiten wie etwa Damenbeine aus rosafarbenem Marzipan im kleinformatigen Schneewittchensarg aus Plexiglas geboten wurden.35 Zu den in der Eat Art Galerie ausgestellten Exponaten gehörten auch Spoerris so genannte »Brotteigobjekte«: mit Teig gefüllte und gebackene Alltagsgegenstände, vom Schuh bis zum Bügeleisen, aus deren Öffnungen durch den Backvorgang der Teig herausquoll wie ein heller, zähflüssiger Lavastrom und zu amorph-organischen Skulpturen mutierte. Spoerri hat die bizarren Objekte später, wie andere Metamorphosen seiner früheren Arbeiten, in Bronze gegossen und somit den surrealen Zufallsprodukten Dauer verliehen. Das Restaurant Spoerri war zudem Entstehungsort etlicher »Fallenbilder«: Aus den von den Gästen verlassenen Tischen werden einzelne Still­ leben, indem jeglicher auf dem Tisch zurückgebliebener Gegenstand 31 32

33 34 35

70

Das Gastronomische Tagebuch ist 1995 in der Edition Nautilus, Hamburg, erschienen. Spoerri zit. nach Daniel Spoerri. Eat Art: Daniel Spoerris Gastronoptikum, mit Illustrationen von Heribert Schulmeyer und einem Vorwort von Barbara Räderscheidt, Hamburg 2006, S. 8, Fußnote 4. Anna Brenken in einem Telefongespräch mit der Autorin, 6. Dezember 2009. Vgl. Enrico Pedrini, Daniel Spoerri zwischen Eat Art und »Il Giardino«, in: Spoerri 2009, S. 75. Anna Brenken in einem Telefongespräch mit der Autorin, 6. Dezember 2009.

D A N I E L S P O E R R I S FA L L E N D E S A U G E N B L I C K S

und Essenrest mit Leim fixiert wird – genau an der Stelle, wo er zum Zeitpunkt des bewusst von Spoerri durch ein ausgerufenes ›Stopp‹ herbeigeführten Mahlzeitendes vorgefunden wurde. […] Der erlebte Moment ist vorbei, das Essen beendet, der Rest unverrückbar bewahrt.36

Vexierspiele, Vervielfältigungen, Spiegelungen, Verwandlungen und Um­keh­rungen sind zentrale Strategien des Künstlers, die in dessen berühmten Banketten und Diners Travestie ab 1970 ebenso zum Ausdruck kommen wie in den aus den frühen »Fallenbildern« hervorgegangenen Weiterentwicklungen auf plastischem Terrain. Unvergessen das Erlebnis eines von Spoerri anlässlich seines 75. Geburtstags inszenierten, dem befreundeten Künstler und Palindrom-Verfasser André Thomkins gewidmeten »Palindromischen Diners« in den Räumen seines Hamburger Galeristen Thomas Levy 2005. Das verdrehte Mahl begann mit dem Dessert (herzhaft gefüllte Petits fours) und endete mit Spaghetti und Tomatensauce (in Wirklichkeit eine raffinierte Eiskomposition). Kredenzt wurde es von der prominenten Berliner Fernsehköchin Sarah Wiener, Tochter des österreichischen Schriftstellers, Jazzmusikers und Berliner Künstlerlokalbetreibers Oswald Wiener und der in Wien lebenden Künstlerin Lore Heuermann, und Torten-Kreateur Wolfgang Philipp aus Graz.37 Das auf »Essverwirrung« zielende (in dem Fall auf Kartoffelbrei-Eis mit Fleischpralinen basierende) »Menu Travesti«, das Spoerri bereits 1970 in einer kurzlebigen Kolumne für die damals führende bundesdeutsche Lifestyle- und Jugendzeitschrift der 1960er Jahre Twen38 erläuterte, »soll nur eine Anregung sein, wie man Geschmacksempfindungen umleiten kann. In diesem Bereich, den ich Eat Art nenne, sind natürlich noch ganz andere Entdeckungen möglich.«39 Morsbach in: Spoerri 2009, S. 55. Vgl. Belinda Grace Gardner, Regisseur von Kunstereignissen – Von Fallenbildern bis zur Marilyn: Der Hamburger Galerist Thomas Levy ist seit mehr als 35 Jahren erfolgreich, in: Die Welt, 22. Juli 2006, http://www.welt.de/print-welt/article231069/ Regisseur-von-Kunstereignissen.html (10. Okt. 2016). 38 Die von Adolf Theobald und Stefan Wolf gegründete, legendär gewordene Zeitschrift (mit Layout von Willy Fleckhaus) erschien von 1959 bis 1971. 39 Zit. nach Daniel Spoerri, Menu Travesti: Kartoffelbrei-Eis mit Fleischpralinen, in: Twen, Nr. 9, September 1970, S. 100, wiederabgedruckt in: Spoerri 2006, S. 27. (Vgl. auch zu zentralen Banketten im Werk des Künstlers Renate Buschmann, Evokationen von Genuss und Ekel. Daniel Spoerri und die Etablierung der Eat Art, in: Eating the Universe – Vom Essen in der Kunst, Ausst.-Kat., dt./engl. (Kunsthalle Düsseldorf, u.a.: 2009/2010), hrsg. v. Kunsthalle Düsseldorf; Galerie im Taxispalais Innsbruck; Kunstmuseum Stuttgart, Köln 2009, S. 43ff.). 36 37

71

3 |   F E S T H A LT E N D E S F L Ü C H T I G E N

In Bezug auf Spoerris Tableaux pièges wiederum »entstehen in pataphysischer Vermehrung«, wie Harald Szeemann im Katalog zu seiner Ausstellung Visionäre Schweiz (Zürich/Düsseldorf 1991/92) prägnant geschrieben hat, eine Fülle unterschiedlicher Variationen, darunter: […] das Fallenbild im Quadrat als Fallenbild eines Fallenbildes (›Das Werkzeug, mit dem man am einfachen Fallenbild gearbeitet hat, wird in der Lage, in der es zufällig liegengeblieben ist, mit befestigt‹) […], das falsche Fallenbild (›Gegenständliche Situationen werden aufgebaut, die den zufälligen und unbewussten Arrangements der alltäglichen Wirklichkeit zum Verwechseln ähnlich sehen‹) […], die Verwischung des Unterschieds zwischen echtem und falschem Fallenbild (›Wenn man ein echtes Fallenbild neben ein falsches stellt oder es mit einem falschen vervielfältigt‹), das Delegieren der Auswahl und der Fixierung der Situation für Fallenbilder an andere, die Übertragung des Fallenbild-Prinzips auf andere Gebiete der Kunst (z. B. Literatur, Theater, Ausstellung, Photographie).40

In seinen ebenfalls vielfach variierten Faux Tableaux pièges oder »Falschen Fallenbildern« rekonstruiert Spoerri das Zufallsprinzip, auf dem die Ausgangskonfigurationen basieren, und unterstreicht den Aspekt der Inszenierung: Mit der Einführung der ›Falschen Fallenbilder‹, den von Daniel Spoerri jetzt eigens arrangierten Werken, entstehen – vergleichbar der inszenierten Fotografie eines Jeff Wall – tatsächlich dreidimensionale, inszenierte Stillleben beziehungsweise ›Objektfotografien‹, wie Spoerri schon früher seine Werke selbst bezeichnet hat.41

Die Bögen, die der Künstler in seinen Werken zwischen gestern und heute gespannt hat, sind vielfältig: So kehrte er in den 1970er Jahren zeitweilig in die Sphäre des Theaters zurück und gestaltete die Bühnenbilder für einige Stücke des Regisseurs und Theatererneuerers Peter Zadek (1926–2009), so etwa auch für dessen Sehgewohnheiten sprengende Umsetzung von Shakespeares Wintermärchen 1978 im Hamburger Schauspielhaus. Über 40 41

72

Harald Szeemann, Daniel Spoerri, in: ders. (Hrsg.), Visionäre Schweiz, Ausst.-Kat. (Kunsthaus Zürich u.a.: 1991/1992), Aarau 1991, S. 203f. Morsbach in: Spoerri 2009, S. 58.

D A N I E L S P O E R R I S FA L L E N D E S A U G E N B L I C K S

eine mit leuchtend grünem Kunststoff-Slime bedeckten Bühne kippelten gefährlich Ulrich Wildgruber und die anderen Akteure in Schuhen mit hohen Absätzen. Und vor einer Kulisse, die das Anarchische der Aufführung auf die Spitze trieb, blökten reale Schafe. Im Zeitmagazin heißt es in einem Text über die Probenarbeiten: »›Eat Art‹-Künstler Daniel Spoerri hat Zadek eine Bühne gebaut mit Portalen und Gassen. Im Hintergrund thront eine gewaltige Statue, halb Buddha, halb Sphinx. Prächtige Masken und Kostüme tummeln sich auf der Szene.«42 Spoerris aufwendiges Szenario entspreche Zadeks Wunsch, aus der Shakespeare-Vorlage »ein großes Märchen«43 zu machen.

Dauer des Ephemeren In den vergangenen Jahrzehnten hat Daniel Spoerri sein Repertoire unter vielem anderen um die so genannten Künstlerpaletten, Morduntersuchungen (dem Künstler zufolge »die extremsten ›Détrompe-L’œils‹«44), der aus mehreren Werkserien bestehenden Gruppe Anatomisches Kabinett, den Assemblage-Serien Karneval der Tiere, Background Landscapes und L’Histoire des boîtes à lettres (die letzteren auf Setzkästen von Flohmärkten beruhend) sowie in Bronze gegossenen hybriden Skulpturen erweitert. Jene erstrecken sich von Objekt-Assemblagen wie Santo Grappa aus dem Jahr 1970 bis hin zum Abguss Reconstruction Chambre No. 13 de l’hôtel Carcassonne von 1998 und zu der auf historischen Vorlagen von 1770/71 basierenden Gruppe der Prillwitzer Idole (seit 2005), wozu neben surrealen Bronze-Figuren auch Objekt-Collagen gehören.45 Das »geschichtete Geschehen«, das sein multidimensionales Schaffen ausmacht, schreibt eine vielseitige Geschichte, die 42

43 44 45

Zit. nach Holger Schnitgerhans, Zurückgeblättert: Zadek probt ein Märchen – Die anstrengendste Art, Theater zu machen: In der Ausgabe vom 8. September 1978 beobachtet das ZEITmagazin die Proben zum »Wintermärchen«, unter Zeit.de: www.zeit.de/online/2008/37/zeitmagazin-30-zadek (10. Okt. 2016). Vgl. ebd. Spoerri, Morduntersuchungen – Investigations criminelles, in: ders. 2001a, S. 26. Eine zusätzliche, gleichsam magische Wendung erhält die Werkgruppe der Prillwitzer Idole dadurch, dass es sich bei der Vorlage, auf der sie basiert, um eine im 19.  Jahrhundert enttarnte Fälschung handelt, die aus dem »Wunsch […], den im Mecklenburgischen beheimateten Altslawen (und im Besonderen dem Stamm der Obotriten) Götterfiguren zuzuschreiben, die sich mit denen der Römer und Griechen vergleichen ließen«, hervorging. Für Spoerri wiederum, so Wieland Schmied, lag in dieser kreativen Form traditionserfinderischer Wunscherfüllung »ein höherer Gehalt an Wahrheit als an allen Zeugnissen der reinen Vernunft«. (Vgl. dazu: Wieland Schmied, Darwin hätte nicht unbedingt seine Freude an ihm, in: Spoerri 2009, S. 30).

73

3 |   F E S T H A LT E N D E S F L Ü C H T I G E N

in Spiralen verläuft, aber im Kern vom »Fallenbild« und von der Eat Art ausgeht und dahin auch kontinuierlich zurückkehrt. Der Weg des notorisch »Heimatlosen«46 führt dabei von Rumänien (von wo er als Kind während des nationalsozialistischen Terrorregimes aufgrund seiner jüdischen Herkunft fliehen musste) über die Schweiz (wo er bei dem Bruder der Mutter ein neues Zuhause fand) und längere Aufenthalte in Paris, Darmstadt, Düsseldorf, Köln, München, der Insel Symi, Seggiano (der Sitz von Spoerris Skulpturenpark Il Giardino mit Werken vieler seiner Künstlerfreunde) und etliche weitere Orte bis ins österreichische Hadersdorf am Kamp, nahe Krems an der Donau. Auf dem dortigen Hauptplatz hat Spoerri 2009 sein (Doppel-)Projekt EAT.ART & AB.ART verwirklicht: zwei Stätten, von denen die eine sein »Kunst-Staulager« (gesammelte Werke aus den verschiedenen Phasen seiner Laufbahn als Künstler) beherbergt und die andere sich der »Ess-Kunst« widmet. »Natürlich«, schreibt Spoerri im Juli 2009, »klingt da auch das Wort ›abartig‹ mit – was mir passt – als Erinnerung an unselige Bezeichnungen für Kunst, die zuerst aber immer abartig ist, weil sie neu ist und dem alten gegenüber noch nicht lesbar, noch nicht schmeckbar, vielleicht sogar noch unverdaulich.«47 In dieser Hinsicht umfasst die »Lebensarbeit« von Daniel Spoerri, wie es Wieland Schmied mit Blick auf dessen Kindheitsgeschichte vom verlorenen Schnee formuliert hat, einerseits das Festhalten der Dinge mittels des Grundunterfangens »dem Schnee von gestern Dauer zu verleihen.«48 Andererseits ist darin stets eine in die Zukunft gerichtete Dynamik enthalten, dem Unerhörten, Unerprobten, noch nie Gesehenen oder Geschmeckten Gestalt zu geben. Auf filigranem Grat zwischen An- und Abwesenheit der Ereignisse, dem Ephemeren und dem Bleibenden, Vergangenheit und Vision balancierend, entwirft der Künstler seine Bilder, Figuren, Geschichten und Gerichte immer wieder neu. Dass die Kunst des Essens darin als treibende Kraft zum Zuge kommt, entspricht der profunden Bedeutung, die Spoerri der Ernährung als »ursprünglichste Form sämtlicher Tätigkeit«49 des Menschen beimisst. »Die Begriffe Gut & Böse – den Ursprung der Moral im bekömmlichen oder unbekömmlichen zu vermuten«, so bemerkt er 2009 zu seiner Kunst und Leben verbindenden Unternehmung EAT.ART & AB.ART, »diese Spekulation gefällt mir.«50 46 47 48 49 50

74

Vgl. ebd., S. 27f. Schmied geht hier ausführlich auf die von Spoerri selbst konstatierte »Heimatlosigkeit« und deren Bedeutung im Werk des Künstlers ein. Daniel Spoerri, EAT.ART & AB.ART, in: ders. 2009, S. 21. Vgl. Schmied in: Spoerri, 2003, S. 30. Spoerri in: Gardner 2001. Spoerri in: ders. 2009, S. 21.

4 |

Z W I S C H E N E R O S U N D T H A N AT O S



Maria Fisahns Kreisläufe des Werdens und Vergehens […] Alle Früchte stellen hier Blumen dar, Blumen in der Nacht […]. Max Ernst1 […] daß nämlich eine Pflanze die Kraft hat, sich durch bloße Fortsetzung völlig ähnlicher Teile ins Unendliche zu vermehren […]. Johann Wolfgang Goethe2

D

ie holländische Stilllebenmalerei des 17. Jahrhunderts führt die paradoxe Gleichzeitigkeit von Beständigkeit und Verfall als programmatisches Motiv mit sublimierender Intention und ästhetischer Wirkung ein. Kreisend um die barocke Gedankenfigur der Vanitas, in der sich die Dualität zwischen der Eitelkeit und Vergänglichkeit allen irdischen Seins und der nicht zu bändigenden Energie und Fülle des Lebens kristallisiert, verweist das Stillleben auf die Endlichkeit des Menschen und seiner Artefakte ebenso wie auf die der natürlichen Phänomene, die ihn umgeben. Und doch steht jedes sorgfältig vollendete Einzelwerk dieser Gattung für die potenzielle Nachhaltigkeit künstlerischer Gestaltungskraft, die vor dem Auge eines Publikums der Gegenwart noch immer die »Dauerhaftigkeit des Vergänglichen« wachzurufen vermag und mittels visueller Opulenz die Sehnsucht »nach dem gleichzeitigen Erblühen aller Blumen, nach Seltenem, das nie staubig, nach Essbarem, das nie mangelt, und Schönem, das nie altern wird« zu erfüllen verspricht.3 1

2

3

Aus Max Ernst, Abwesenheiten, in: Capitale de la douleur, 1926, in: Surrealismus in Paris 1919-1939. Ein Lesebuch, hrsg. und mit einem Essay v. Karlheinz Barck, Leipzig 1990, S. 334. Johann Wolfgang Goethe, Metamorphose der Pflanzen. Zweiter Versuch, 9 [Handschriftl. Fragment: 1790; Erstdruck: Weimarer Ausgabe, Abt. 2, Bd. 6, 1891], in: ders., Schriften zur Naturwissenschaft/ Auswahl, hrsg. v. Michael Böhler, Stuttgart 1982, S. 118. Martina Sitt, Spiegel geheimer Wünsche, in: dies.; Gaßner 2008, S. 40.

75

4 |   Z W I S C H E N E R O S U N D T H A N AT O S

Die Simultanität von Tod und Leben, die dem Stillleben – oder in der suggestiveren französischen Bezeichnung Nature morte (tote Natur) – eigen ist, drückt sich in einer zutiefst dialektischen Bildlichkeit aus. Wie Thomas Ketelsen in seinen Bemerkungen Zu einem ästhetischen Kalkül der Stilllebenmalerei hervorgehoben hat, zielt deren Fokus einerseits auf den »zerschnittenen, zerstückelten, aufgespaltenen Körper« (die geteilte Frucht, das gebrochene Brot, die geöffnete Austernschale) und damit »ex negativo« auf »Veranschaulichung der Dichte, der Geschlossenheit, der Unversehrtheit oder des Volumens der Dinge«.4 Das Fragment wird dieser »Phänomenologie des Schnitts« folgend zum Platzhalter für die »geschlossene Form«,5 das Ideal einer von den Spuren der Zeit und der Zerstörung unbeeinträchtigten kohärenten Einheit. Andererseits ist der Symbolgehalt der Stillleben wesentlich von Wandlungen, Wachstumsvorgängen und metamorphischen Kreisläufen geprägt. Wir finden hier die dafür charakteristischen, inhärent anfälligen Früchte und Blüten, die in prallster Üppigkeit den Augenblick ihres Vergehens antizipieren, der sich bereits als Fäulnis auf Obststücken, floralen Knospen und Blättern niederschlägt. Wir entdecken Raupen, die als Falter in einen anderen Zustand übergehen, in der allegorischen Sprache religiöser Heilserwartung eine Versinnbildlichung von Jesus’ Auferstehung in himmlischer Sphäre. Im Zyklus der Natur folgt jedem Welken wieder ein Aufblühen, ist der Untergang Voraussetzung steter Erneuerung: »Denn alles muss in Nichts zerfallen, / Wenn es im Sein beharren will.«6

Zyklische Gezeitenwechsel Das Zyklische, das dem Stillleben eingeschrieben ist, macht es zu einer originär zeithaltigen Ausdrucksform. Dabei geht es um mehr als um eine Erfüllung der künstlerischen Maxime, das »Ephemere festzuhalten.«7 Vielmehr rückt die darin transportierte Vanitas-Idee alle Ebenen des Temporalen in 4 5 6

7

76

Thomas Ketelsen, Auf Messers Schneide. Zu einem ästhetischen Kalkül der Still­ lebenmalerei, in: von Berswordt-Wallrabe 2000, S. 11f. Ebd. Goethe, Eins und alles [6. Okt. 1821; Erstdruck: Morgenblatt, 24. Sept. 1823 und Zur Naturwissenschaft überhaupt, Bd. 2, H. 1, 1823], Gedichte zur Morphologie, in: ders. 1982, S. 62. Sabine Schulze, Gärten: Ordnung – Inspiration – Glück, in: dies. (Hrsg.), Gärten: Ordnung – Inspiration – Glück, Ausst.-Kat. (Städel Museum, Frankfurt; Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau, München: 2007), Ostfildern 2006, S. 16.

MARIA FISAHNS KREISLÄUFE DES WERDENS UND VERGEHENS

den Blick und adressiert so ein immanent existenzielles Thema, das dem menschlichen Schicksal seine spezifische Dramatik und der damit verbundenen Erlösungshoffnung ihre Dynamik verleiht. Im Bildkosmos des Stilllebens halten das Leben und somit auch der Tod bis auf Weiteres inne, herrscht Tag- und Nachtgleiche, auch wenn diese im wirklichen Leben nicht währt. In seinem Katalogbeitrag zur Epochen und Gattungen überschreitenden Ausstellung Artempo 2007 in Venedig hat Heinz-Norbert Jocks die Zeit mit einer unaufhaltbaren, alles durchdringenden und auf alles einwirkenden Welle verglichen, die Dinge entstehen und vergehen lasse. Demnach sei Zerstörung die Kehrseite von Schöpfung, das Nicht-Sein das zwingende Gegenstück zum Sein.8 In diesem Spannungsfeld der zyklischen Gezeitenwechsel, zwischen den ineinander übergehenden Polen des Werdens und Vergehens, des temporalen Flusses und des Stillstands, des Aufblühens und des Welkens, Eros und Thanatos, Leben und Tod entspannt sich das Erdbeermuseum von Maria Fisahn. Als offenes Work-in-Progress reicht das multimediale Projekt der 1949 geborenen Hamburger Künstlerin, das sich leitmotivisch auf die Erdbeere bezieht, zurück in das Jahr 1969. Als Studentin der Kunstakademie Düsseldorf (wo sie die Klassen von Joseph Beuys und Gerhard Richter besuchte) hielt sie in Aquarellen, Zeichnungen und Farbstudien zunächst Beobachtungen der Verfallsprozesse von Erdbeeren fest. Im nächsten Schritt brachte sie letztere mit Feder und Tusche auf Millimeter-Papier buchstäblich zum Tanzen, wobei sich das punktförmige Muster der Erdbeerkerne zu flirrenden pointillistischen Konglomeraten verselbstständigte. Die inszenierten Bewegungsabläufe und Interaktionen der Erdbeerfiguren setzte Fisahn in der handlungsbezogenen, seriellen Form von Leporellos um: eine Weiterführung ihrer Beschäftigung mit den Metamorphosen ihres Gegenstands vom Reifen bis zum Verfallen, von »Auflösung und Tod bis zur Neubildung«9 organischer Materie in Gestalt filigraner Schimmelkulturen, die sich in moosigen Grüntönen, leuchtenden Blau- und Orangefärbungen oder in zarten weißen Geflechten wie frisch gefallener Schnee manifestierten. Bereits in diesen ersten Arbeiten, die sich in den vergangenen Jahrzehnten mit Unterbrechungen zum Gesamtkunstwerk Erdbeermuseum verdichtet haben, sind zentrale Aspekte enthalten, die bis heute die Fortentwicklung des Vorha8

9

Vgl. Heinz-Norbert Jocks, On the Shores of Time, in: Artempo. Where Time Becomes Art, Ausst.-Kat., engl. (Palazzo Fortuny, Venedig: 2007), hrsg. v. Axel Vervoordt und Mattijs Visser, MER/Düsseldorf 2007, S. 61. Gespräch der Autorin mit der Künstlerin, Hamburg, 26. Januar 2009.

77

4 |   Z W I S C H E N E R O S U N D T H A N AT O S

bens bestimmen. So beruht es weiterhin auf einer mehrspurigen Praxis des wissenschaftlich-künstlerischen Naturstudiums sowie auf einer Beschäftigung mit metamorphen und alchemischen Prozessen im weiteren Sinne.

Gesamtkunstwerk Erdbeermuseum Das Erdbeermuseum von Maria Fisahn entfaltet sich in einem vielschichtigen Referenzsystem, das von der Dimension des biologischen Phänomens »Erdbeere« bis hin zu den verzweigten Assoziationsräumen kunsthistorisch tradierter Symbolik und biografischer Erlebniswelten, vom kollektiven Bildrepertoire unserer Kultur bis zur Reflexion persönlicher und überindividueller weiblicher Identitätsentwürfe reicht. Dass an dessen Ausgangspunkt ein Nachtschattengewächs aus der Familie der Rosengewächse steht, das als Sammelnussfrucht eine Scheinbeere darstellt (die eigentlichen Früchte sind die kleinen Nüsschen, die ihrerseits auf der Oberfläche des fleischigen Auswuchses des Blütenbodens sitzen; ferner haben die meisten Sorten zwittrige Blüten und können sich selbst befruchten, sind also in gewisser Weise au­tark), verleiht dem mehrdimensionalen Projekt der Künstlerin eine zusätzliche magische Note. Denn der Erdbeere sind in dieser Hinsicht von vornherein die Eigenschaften der Fiktionalität oder Sinnestäuschung und der Autonomie eingeschrieben, die weitere Bedeutungsspielräume eröffnen. Auch wenn Walderdbeeren bereits im Mittelalter kultiviert wurden und die Erdbeere offenbar schon in der Steinzeit bekannt war,10 ist die uns vertraute Gartenerdbeere (Fragaria ananassa) eine relativ junge Erscheinung und erst durch Kreuzungen diverser Wildformen Mitte des 18. Jahrhunderts entstanden. In der Kunstgeschichte ist die Erdbeere, wie andere Bildmotive auch, doppelt kodiert: Einerseits wird in christlichen Darstellungen des Mittelalters die zu dem Zeitpunkt noch geläufige wilde Ausprägung »aufgrund ihres niedrigen Wuchses und ihrer noch kleinen […] Früchte« als »Symbol der Bescheidenheit und Demut« gedeutet, wobei die Fähigkeit der Erdbeere, »gleichzeitig zu blühen und zu fruchten« zudem auf die Jungfräulichkeit und unbefleckte Empfängnis der Gottesmutter Maria verweist.11 Andererseits repräsentiert sie in ihrer prallroten Stofflichkeit und ihrer Eigenheit als Nachtschattengewächs auch die Wollust, also das Gegenteil ersterer Zuschreibung in Verbindung mit der immaculata conceptio. Diese gefährli10 11

78

Aus Notizen der Künstlerin zur Entstehungsgeschichte der Erdbeere kompiliert, der Autorin anlässlich des Gesprächs am 26. Januar 2009 zur Verfügung gestellt. Wetzel 2008, S. 76.

MARIA FISAHNS KREISLÄUFE DES WERDENS UND VERGEHENS

chere Seite der Erdbeere kommt etwa bei der Interpretation der Mitteltafel – auch »Erdbeerbild« genannt – von Hieronymus Boschs Triptychon Der Garten der Lüste (1503/04, Prado, Madrid) zum Tragen, wo die Frucht unter anderem als Gehäuse für eine Szene menschlicher Ausschweifung mit einer Gruppe hüllenloser Akteure fungiert.12 Innerhalb ihres über vier Dekaden angewachsenen Erdbeermuseums, das neben Zeichnungen, Malereien, Fotografien und so genanntem Erdbeergeld (letzteres ist die Untergruppe eines separaten Werkkomplexes, der die aktionsbasierten Arbeitsfelder Geld(aus)Tausch, Geldbegriffe, Geldscheinobjekte und eine Geldbiografie umfasst) einen wunderkammerähnlichen Fundus von zusammengetragenen Objekten, Artefakten und Materialen rund um die Erdbeere beinhaltet, beschäftigt sich Fisahn insbesondere mit den exzessiveren Aspekten ihres Sujets: dem freien Verlauf organischer Prozesse und den Analogien zwischen pflanzlicher und humaner Kreatur, Frucht- und menschlichem Körper, inklusive der Komponente der fleischlichen Liebe, die in Erweiterung Bosch’scher Ikonografie auf die im Wandel begriffenen Gegenstände ihrer künstlerischen Beobachtung übertragen wird. Dieser leiblich-erotische Faktor wird besonders deutlich in den oft großformatigen Erdbeer-Malereien der Künstlerin, die ab 1972 entstehen. Grundlage ist hier ebenfalls das Studium der natürlichen Vorgänge, die nach der Wirklichkeit malerisch festgehalten worden sind. Und doch haben diese weitgehend als Makro-Ansichten angelegten Gemälde saftig-opulenter oder vergehender Erdbeeren, in denen der Gegenstand ins Monströs-Surreale gesteigert wird, nicht nur dokumentierenden, sondern auch portraitierenden, transformierenden und suggestiven Charakter. Die Perspektive auf eine halbierte Frucht im Längsschnitt lässt an die Anatomie weiblicher Genitalien denken. Und die sinnliche Ausformung zweier ineinander übergehender Erdbeeren, die sich im Verwesungsverlauf wie Küssende vereinen, rufen die Assoziation an ein eng verschlungenes, amorphes Liebespaar hervor: Eros und Thanatos begegnen sich hier in einer letzen Umarmung.

Vehikel der Temporalität Die Verbindung zu Prozessen, Tanz, Handlung, die das per se statische Tafelbild mit Bewegung erfüllen, ist für Fisahns künstlerischen Ansatz zentral. Das Performative ist ein durchgängiger Strang in ihrer von Aktionen und 12

Vgl. Mathilde Battistini, Symbole und Allegorien. Bildlexikon der Kunst, Bd. 3, hrsg. v. Stefano Zuffi, Berlin 2003, S. 256f.

79

15  Maria Fisahn, Erdbeeren, 1972, Öl auf Baumwollstoff, 110 x 190 cm

16  Maria Fisahn, Polarität I, 1996, Pastellkreide auf Japanpapier, 53 x 75 cm

17  Maria Fisahn, Die Schönheit der Sch(l)immlinge, 1995, Unikat aus einer Reihe von 20 Farbfotografien, je 30 x 44 cm

18  Maria Fisahn, Die Schönheit der Sch(l)immlinge, 1995, Unikat aus einer Reihe von 20 Farbfotografien, je 30 x 44 cm

4 |   Z W I S C H E N E R O S U N D T H A N AT O S

den Bildströmen des Films unterfütterten Arbeit, die in dieser Hinsicht eine Nähe zu den durchlässig zwischen Kunst und Leben fließenden Konzepten ihres Lehrers Joseph Beuys (1921–1986) zeigt. Auch Beuys hat sich in unterschiedlicher Weise mit dem Studium pflanzlichen Lebens befasst; vorrangig in dessen Frühwerk findet man das historische Forschungsverfahren des Herbariums, nach dem der Künstler, wie dies etwa auch Paul Klee (1879– 1940) praktizierte, gepresste Gräser und florale Gewächse verzeichnet hat.13 Fisahn subsumiert die verschiedenen prozessorientierten Gebiete ihrer Arbeit unter dem multivalent besetzten Begriff »Kernwelten«, wobei für ihre Beschäftigung mit der Erdbeere deren »besondere Struktur«, beruhend auf dem Kontrast zwischen »weichem Fleisch und harten Kernen«, auch im Wortsinne maßgeblich gewesen ist.14 Entscheidend getragen wird das Ineinandergreifen botanischer und anatomischer Gestaltgebungen sowie wissenschaftlicher und ästhetischer Fragestellungen im Projekt der Künstlerin durch den Faktor der Zeitlichkeit, der den gezeichneten, gemalten und seit 1995 auch fotografisch erfassten Bestandteilen des Erdbeermuseums ebenso innewohnt wie den dazugehörigen Überresten der einstigen Studienobjekte: Im Laufe der Jahre zu kleinen, schwarzen, steinartigen Gebilden mutiert, haben die organischen Modelle als Relikte der Temporalität im Gesamtkomplex ihrer Erdbeer-Bilder überdauert. Das gedankliche Konstrukt des »Museums«, das als ideelles Dach die verschiedenen Komponenten von Fisahns Thematik umspannt, steht in der Tradition des als experimentelle, gesamtkunstwerkliche Präsentationsform konzipierten »Künstlermuseums«. Im vielsträngig realisierten Konzept des Erdbeermuseums der Künstlerin treffen verschiedene ästhetische Entwürfe zusammen. Auf der Ebene der Fundstücke in Erdbeergestalt ihrer Sammlung-im-Aufbau (worunter sich zahlreiche Gegenstände befinden, die als Geschenke in ihren Besitz gekommen sind) lassen sich Parallelen zu Daniel

13

14

82

Vgl. Svenja Kriebel, Joseph Beuys. Ombelico di venere, 1985, in: Schulze 2006, S. 344, und Dennis Conrad, Paul Klee. Herbarium, zwischen 1920 und 1930, in: ebd., S. 342-343. Zitiert nach einem unveröffentlichten Konzeptpapier Maria Fisahns zu ihrer Arbeit 1. Kernwelt – Naturbeobachtung am Beispiel Erdbeeren von 2003. Maria Fisahn hat ihre »Kernwelten« in der Werkgruppe Energetische Resonanz weitergeführt, in der sich von Kernen, losen Pigmenten, Klang und Bewegung erzeugte Spuren zu Malerei verdichten.

MARIA FISAHNS KREISLÄUFE DES WERDENS UND VERGEHENS

Spoerris Musée Sentimental,15 dem Mouse Museum (1965/77)16 von Claes Oldenburg (geb. 1929) oder dem transportablen Miniaturmuseum des Ready-made-Erfinders Marcel Duchamp (1887–1968) feststellen, der in seiner Schachtel im Koffer (Boîte-en-valise, 1936–41)17 69 kleine, faltbare FarbRepliken seines Werks ab 1910, von seinem berühmten Gemälde Akt, eine Treppe hinabsteigend Nr. 2 (Nu descendant un escalier no. 2 / Nude Descending a Staircase No. 2, 1912, Philadelphia Museum of Art) bis zu seinem Ur-Readymade Fahrrad-Rad (Roue de Bicyclette / Bicycle Wheel, 1913),18 zur Mitnahme auf seinen transitären Wegen zwischen Europa und den Vereinigten Staaten zusammenstellte. Das »nomadische« Moment, das in Duchamps tragbarem Museum zum Ausdruck kommt, kennzeichnet auch den habituell zwischen den Orten herumreisenden deutsch-schweizerisch-isländischen Künstler Dieter Roth (1930–1998).19 Inhaltlich, bis zu einem gewissen Grad auch formal, ergeben sich wiederum interessante Bezüge zwischen Roths vor einigen Jahren partiell in sich zusammengefallenen Hamburger Schimmelmuseum und Fisahns Fokussierung auf Verfallsprozesse innerhalb des Erdbeermuseums. 15

16

17

18 19

Daniel Spoerri präsentierte sein Ausstellungsformat Musée Sentimental, in dessen Kontext »unscheinbare Objekte […] (kunst-)geschichtliche Ereignisse« dokumentiert wurden, erstmals 1977 anlässlich der Eröffnung des Centre Pompidou in Paris und realisierte es in der Folge wiederholt an verschiedenen Orten und in verschiedenen Versionen, u. a. als: Musée Sentimental de Cologne (Köln 1978), Musée Sentimental de Prusse (Berlin 1981) und Musée Sentimentale de Bâle (Basel 1989). (Vgl.: http://www.danielspoerri.org/web_daniel/deutsch_ds/werk_einzel/23_sentimental.htm (11. Okt. 2016)). Claes Oldenburgs Mouse Museum, bestehend aus einem begehbaren Raum in Gestalt eines stilisierten Mickey Mouse Kopfes mit Vitrinen als Präsentationsfläche für rund 400 Konsum- und Kitschgegenstände, Spielzeug sowie eigene Kunstobjekte und -modelle des Künstlers, befindet sich heute in der Sammlung des Museums Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien. Duchamp realisierte sein »tragbares Museum«, unterzeichnet: »de ou par Marcel Duchamp ou Rrose Sélavy« (von oder durch Marcel Duchamp oder Rrose Sélavy), in insgesamt sieben Fassungen (vgl. dazu Sandro Zanetti, Handschrift, Typographie, Faksimile. Marcel Duchamps frühe Notizen – »Possible« (1913), in: Bilder der Handschrift. Die graphische Dimension der Literatur, hrsg. v. Davide Giuriato; Stephan Kammer, Basel/Frankfurt am Main 2006, S. 203-238, hier: S. 215, sowie Fußnote 41 auf der Seite). Sie befinden sich u. a. in der Sammlung des Museum of Modern Art, New York, und in den Beständen des Staatlichen Museums Schwerin (DuchampForschungszentrum). Die älteste Nachbildung des verschollenen Originals von 1913, die 3. Fassung von 1951, befindet sich in der Sammlung des Museum of Modern Art, New York. Vgl. zu Dieter Roths leitmotivischem Nomadentum: Laszlo Glozer, Ankommend abreisen. Dieter Roth: Der Nomade in seiner Zeit, in: Dieter Roth. Originale, hrsg. v. Dieter Roth Foundation/Dirk Dobke, London 2002, S. 9-32.

83

4 |   Z W I S C H E N E R O S U N D T H A N AT O S

Verfall als konstruktives Prinzip Wie Laszlo Glozer in seinem Essay über Roth als Nomade in seiner Zeit feststellt, sind die im Schimmelmuseum zugespitzt zusammengeführten »plastisch-objekthaften Arbeiten […] in ihrem Kern ›Zeit-Stücke‹«, schwingt »der Vanitas-Gedanke […] in Roths Werk stets immanent mit«.20 In einer mittlerweile nicht mehr bestehenden historischen Remise im Hamburger Stadtteil Harvestehude, in der ab 1991 das Schimmelmuseum samt entsprechender Schimmelobjekte und Zuckerwerkstatt in Roths Sinne leise vor sich hin wucherte und sich zersetzte, spitzte sich »der Kreisverlauf einer raumgreifenden ›Zeitmaschine‹« noch zu – bis die »als monumentales Tableau der Vergänglichkeit« gewachsene Installation kurz vor dem Kollabieren 2003 abgetragen werden musste.21 Teile davon zogen in die Hamburger Dieter Roth Foundation um.22 Mit der Hinwendung zu organischen Materialien als »Baustoffe« für seine Kunst ab Mitte der 1960er Jahre hat Roth – wie dies Daniel Spoerri auf andere Weise in seinen um 1960 erstmals realisierten »Fallenbildern« praktiziert hat – die Unberechenbarkeit des Zufalls als Kraft für die Gestaltung von Kunst produktiv werden lassen.23 Dirk Dobke bemerkt zu der originär revolutionierenden Qualität von Werken, in denen Roth gezielt Prozessen der Vergänglichkeit freien Lauf gibt: Mit dem intendierten zumindest teilweisen Verfall dieser Kunstwerke eröffnet Roth dem traditionellen Kunstbegriff eine neue Dimension. Seine Kunst darf altern und verfallen, zwei eigentlich dem Kunstbegriff diametral entgegenstehende Eigenschaften. Indem er dem Zufall und dem Faktor Zeit eine konstituierende Rolle bei der Werkentstehung zukommen lässt, stellt er mal abstoßend eklig, mal ironisch gebrochen 20 21 22

23

84

Ebd., S. 19. Ebd., S. 29f. Unter der Ägide von Dieter Roth und der Dieter Roth Foundation ist in den Räumen einer Villa mit angeschlossener Anwaltskanzlei in Hamburg-Eppendorf das in Kooperation mit dem Hamburger Sammler des Künstlers Philipp Buse aufgebaute private Dieter Roth Museum entstanden, zu dessen Beständen auch das Schimmelmuseum gehörte. (Zur Geschichte der Dieter Roth Foundation/Dieter Roth Museum, Schimmelmuseum und Werkarchiv vgl.: http://www.dieter-roth-museum. de/foundation (11. Okt. 2016)). Roth begann 1964 im Rahmen eines Lehrauftrags an der Rhode Island School of Design in Providence, USA, in seiner Kunst mit Lebensmitteln zu experimentieren. (Vgl. dazu: Dirk Dobke, Die Dieter Roth Foundation. Ein Künstlermuseum, in: Roth 2002, S. 203).

MARIA FISAHNS KREISLÄUFE DES WERDENS UND VERGEHENS

die vorherrschende Meinung darüber auf den Kopf, dass Kunst etwas Ewiges, Überzeitliches zu sein habe.24

Wesentlich für Roths Ansatz, und hier besteht auch eine Parallele zu den aus Zersetzungsvorgängen entstehenden Arbeiten des Erdbeermuseums von Maria Fisahn, ist die gezielte Einbeziehung von Vorgängen der Vergänglichkeit und Auflösung, in den Worten von Glozer eines »ästhetisch instrumentalisierten Verfalls«,25 als scheinbar paradoxes konstruktives Verfahren zur Herstellung von Kunst. Es geht also nicht nur um eine Überwindung des Ewigkeitsanspruchs der Kunst durch die Inkorporation der »organischen Veränderungsprozesse«26 und somit potenzieller (und auch realer) Zerstörung. Vielmehr wird der Verfall selbst als Kunst stiftendes Verfahren fruchtbar gemacht und dessen Auswüchse, die sich buchstäblich in der Bildung von Schimmel manifestieren, zu einem inhärenten Bestandteil des Werks. Die Vorgänge des Verfalls dienen zudem, wie in Fisahns malerischen Visualisierungen der vergehenden Früchte im Kontext ihres Erdbeermuseums, als veränderliche Vorlagen, in denen sich eine simultan lebens- und todeshaltige Dynamik offenbart. Die Imitation der Natur durch »menschliche Kunstfertigkeit«,27 vorgeführt in Form des Theatrum mundi der barocken Kunst- und Wunderkammern des 16. und 17. Jahrhunderts, enthält von jeher implizit beides: Entstehen und Vergehen.

Wunderkammer des Seins Die eingangs thematisierte Gattung des Stilllebens, die in ihrer simultanen Feier des Kreatürlichen und ihrem Abgesang auf die Vergänglichkeit allen irdischen Seins bereits das genannte zyklische Prinzip des Daseins maßgeblich vorwegnimmt, findet nicht nur ein Echo in den Verfallsarbeiten von Dieter Roth. Wir erkennen es auch in den »Zeit-Stücken« aus Maria Fisahns Erdbeermuseum. »Die Vergangenheit«, schreibt Heinz-Norbert Jocks in seinem Exkurs über Zeit, Existenz und Kunst, Ernst Blochs Konzept der »Jetztzeit«28 24 25 26 27 28

Ebd. Glozer in: ebd., S. 30. Ebd. Horst Bredekamp: Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte, Berlin 1993, S. 69. Vgl. Heinz-Norbert Jocks, Im Angesicht der Zeit. Ein Exkurs über Zeit, Existenz und Kunst, in: Zeit – Existenz – Kunst: Kunstforum International, hrsg. v. Dieter Bechtloff, Bd. 150, April – Juni 2000, S. 59. Laut Jocks, der in seinem Essay unter anderem

85

4 |   Z W I S C H E N E R O S U N D T H A N AT O S

erläuternd, »ist kein schier Abgeschlossenes, sondern nur scheinbar abgegoltene Zeit. Denn in ihr selbst lungern noch Heerscharen utopischer Reste wie explodierbare Atome, die nach vorne preschen, statt sich für immer zur Ruhe zu setzen.«29 Fisahn hat ihre Untersuchung der Erdbeerthematik durch die Zeit hindurch vorangetrieben und in ihrer allmählichen, spiralförmigen Erweiterung des Projekts von den 1970er Jahren bis heute einen Bogen zwischen Vergangenheit und Gegenwart mit Blick auf die Zukunft gespannt. Die Vergangenheit lädt die aktuelle Auseinandersetzung der Künstlerin auf, dient als Grundlage für Veränderungen und Aktualisierungen, die unter anderem als Weiterführung bereits vorhandener Malereien zur Wirkung kommen. Seit 2008/2009 taucht nun das Erdbeer-Motiv auch in Selbstportraits der Künstlerin auf, die sich in von rätselhaft-surrealer Traumlogik erfüllten Kompositionen als kindhaftes Wesen mit begleitenden Früchten und Tieren zur Darstellung bringt. Das Zauberisch-Doppelsinnige, das die Bildlichkeit des Erdbeermuseums grundsätzlich durchströmt, findet sich auch in der damit verbundenen Sammlung mit Erdbeerobjekten unterschiedlichster Provenienz, die von Schmuckstücken und anderen glitzernden Kleinoden über Gefäße, textile Applikationen und Keramikfiguren bis hin zu Abbildungen aus den Image-Pools der Kunstgeschichte, Wissenschaft und Werbung reichen. Hier findet die barocke Wunderkammer eine zeitgenössische Form. Fisahns umfangreiche Kollektion von kunstgewerblichen Objekten, Kitschgegenständen und »melancholischem Nippes« (Dieter Roth) jeglicher Art in Erdbeergestalt vermittelt – wie schon in der historischen Wunderkammer – die Vorstellung einer Synthese von Natur und Kultur, eröffnet die Möglichkeit, »die Grenze von Natur- und Menschenform illusionär zu überspielen«30 und lässt dabei die Sphären des Natürlichen und des Artefakts spannungsreich aufeinanderprallen. Das »freie Spiel der Natur«, wie es sich auch in Fisahns Studien des vegetabilen Werdens und Vergehens manifestiert, wird gegen »die Zwangsmittel der Kunst […], den unendlichen Metamorphosen eine Richtung zu geben«31 austariert, wenn nicht gar in

29 30 31

86

zentrale Thesen in Ernst Blochs Werk Prinzip Hoffnung (3 Bde., 1954–1959) diskutiert, fordere Bloch, dass der Mensch »ein bewusster Zeiterleber seiner gelebten Zeit« werde, der »über das Woher ebenso gut Bescheid« wisse »wie über das Wohin und das Wo. Denn alle drei Zeitzonen zusammengenommen machen die Dynamik der Jetztzeit aus.« Ebd., S. 60. Bredekamp 1993, S. 38. Ebd., S. 71.

MARIA FISAHNS KREISLÄUFE DES WERDENS UND VERGEHENS

Stellung gebracht. Doch der Bruch zwischen organisch gewachsenen und artifiziell gefertigten Phänomenen der Wirklichkeit hebt sich in der hybriden Sphäre des Erdbeermuseums ebenso auf wie in den Kunstkammern der Spätrenaissance und des Barock, die in nuce die vielfältigen Erscheinungen des Lebens als »eigene Welt im kleinen« fassen sollten und deren Aufgabe es war, »die Gegenstände und Kräfte der Welt zu analysieren und wirken zu lassen«.32 Wurden im barocken Vorbild den »kunstvollen Gebilden der Natur« die »kostbaren Artificialia« des Menschen gegenübergestellt,33 so verschränkt die Künstlerin im kombinierten Labor, Experimentierfeld, Produktionsort und Wunderkabinett ihres Erdbeermuseums die wechselhaften Erscheinungsformen und Auswüchse der »Spielerin Natur«34 in Gestalt ihres organischen Sujets mit den alltäglich-profanen bis kunstvollen Natur-Mimesen aus dem Reservoir unserer Populär- und Hochkultur, und bringt das Gewachsene mit dem Gemachten in Zusammenklang. Im Kreislauf des Werdens und Vergehens, den Maria Fisahn mittels der botanisch-ästhetischen (Symbol-)Figur der Erdbeere konkret und sinnbildlich durchläuft und vor Augen führt, geht nichts verloren, bleibt alles im Fluss, sind die Bilder und ihr Gegenstand in ständigem Wandel begriffen.

32 33 34

Ebd., S. 70 und 45. Ebd., S. 45 Ebd. S. 68.

87

5 | BRÜCHIGER GLAMOUR

Marilyn Minters Störbilder des schönen Scheins All the images that we see in the culture are really ten seconds of fantasy. Marilyn Minter1

G

litzersteine funkeln auf silbern glänzenden High-Heels. Der Blick fällt auf nackte Füße, geriemte Fesseln, lackierte Nägel. 2006 erweitert Marilyn Minter vier Fotos von verführerisch beschuhten weiblichen Füßen auf spektakuläre Billboard-Größe. In die Dimensionen sprengenden Manifestationen weiblicher Eleganz und Erotik, die vorübergehend im New Yorker Stadtviertel Chelsea plakative Zeichen setzten, hat Minter diverse Störungen eingebaut. Die gigantischen Ausmaße, die das Schuhwerk samt Füßen zu einer überlebensgroßen Traumvision werden ließen, sind nur der Anfang eines mehrstufigen Irritations- und Umdeutungsprozesses. Die fetischisierten Accessoires stehen über ihren durch mediale Aufbereitung vorgeprägten Sex-Appeal hinaus unter Hochspannung. Minter unterwandert mit ihrer Installation im öffentlichen Raum die polierten Inszenierungen der Modeund Werbeindustrie und lädt sie dadurch zusätzlich auf. In Minters fotografischer Serie für das Creative Time Projekt 20062 in Chelsea zeigen Füße, Fesseln und die strassbesetzten, metallisch schimmernden Schuhe heftige Spuren von Pfützen und Straßendreck. Der Glamour ist gekippt, die Prinzessin ist auf den Hund gekommen, der Zauber ist brüchig geworden. In die Illusion der Vollkommenheit mischt sich das sandige Knirschen verdreckter Ledersohlen auf feuchtem Asphalt, der fast greifbare Eindruck von schlammigem Wasser, das auf der Haut haften bleibt oder dickflüssig herabperlt, weil zwischen Bar- und Discothekenbesuch über­ raschend ein nächtlicher Regenschauer niederging. Dieses Erlebnis ist der 1 2

Marilyn Minter zit. nach: How Did We Meet? Marilyn Minter in Conversation with Mary Heilmann, in: Marilyn Minter, hrsg. v. Gregory R. Miller & Co, New York 2010, S. 24. Minters Billboard-Projekt, unterstützt durch die New Yorker Organisation für Kunst im öffentlichen Raum Creative Time, fand im März 2006 im New Yorker Distrikt Chelsea statt. Als Basis für die Großplakate dienten Aufnahmen, die die Künstlerin für Modemagazine aufgenommen hatte. Die Serie bestand aus den Fotoarbeiten: Shit-Kicker, Splish Splash, Runs und Mudbath. (Vgl. dazu: NYC Billboards, in: Minter 2010, S. 46).

89

5 |  BRÜCHIGER GLAMOUR

1948 in Schreveport, Louisiana geborenen, seit 1978 in New York lebenden Malerin, Foto- und Video-Künstlerin Marilyn Minter offenbar vertraut. In einem Gespräch mit der befreundeten New Yorker abstrakten Malerin Mary Heilmann (geb. 1940) hat sie lakonisch bemerkt, dass man sich die Füße eben schmutzig macht, wenn man die ganze Nacht in einer Discothek durchtanzt – selbst wenn man dabei die teuersten Schuhe trägt.3 Das Motiv glamouröser Fußbekleidung, die von oberhalb der Knöchel unsichtbar bleibenden Protagonistinnen buchstäblich durch den Schmutz gezogen wird, taucht wiederholt in Minters Werk auf. Die Künstlerin hat es in Fotografien ebenso umgesetzt wie in ihrer opulenten, nach Fotovorlagen entstehenden (teils eine Kombination aus mehreren Motiven, die zusätzlich digital am Computer bearbeitet werden),4 mit den Fingern in vielen Schichten aufgetragenen E-Maillelack-Malerei auf Metall: Stepping Up (2005) oder Spiked (2008) zeigen jeweils Nahansichten verschmutzter Fersen in glitzernden Sandaletten, die somit aus der anonymen Sphäre des makellosen Wunsch-Objekts herausgelöst und in die schonungslos alltagstaugliche, persönliche des Gebrauchsgegenstands katapultiert werden. Das gilt auch für eine vierteilige C-Print-Sequenz von 2010/11, bestehend aus den Arbeiten Blade Runner, Liquid Sky, Streak und Swell, in der die Einzelbilder zur dynamischen, filmischen Bewegung eines hochhackigen, nächtlichen Tanzes durch sprühende Pfützen verfließen und auch optisch verschwimmen. Minters Glamour hat Blessuren, die aber dessen Reiz paradoxerweise noch erhöhen. In den zunächst auf vorgefundenen Images aus Magazinen und Zeitungen basierenden, mittlerweile aus eigenen Aufnahmen generierten Bildern der Künstlerin trieft Dreckwasser, perlt Schweiß, verrutscht Make-up, wird eine brüchige Erotik in Auflösung zelebriert, die rigoros aus dem Leben gegriffen ist und dabei aus der Fülle widersprüchlicher semantischer Botschaften und Kodifizierungen schöpft, über die sich »die Sprache des Glamours«5 artikuliert. Mittels der von ihr parallel eingesetzten Medien der Malerei und der Fotografie spielt sie das Thema der Desintegration von Glätte, Glanz und Perfektion zugunsten einer verstärkten Tiefenwirkung und Intensität ihrer Bilder durch. »Selbst wenn der Glamour, den wir in der Populärkultur sehen, so perfekt und so flach ist«, sagt Minter, »wird er vielleicht 3 4 5

90

Vgl. Minter im Gespräch mit Heilmann, in: Minter 2010. S. 27. Vgl. Minters Erklärung zu ihrer Technik in ihrer Antwort auf die Frage von Laurie Simmons, in: Twenty Questions. A Project by Matthew Higgs, in: ebd., S. 41 Johanna Burton, Hard-Soft Core: The Work of Marilyn Minter, in: ebd., S. 71 [Übers. d. Autorin].

M A R I LY N M I N T E R S S T Ö R B I L D E R D E S S C H Ö N E N S C H E I N S

noch anziehender, wenn er beginnt auseinanderzufallen.«6 Auf die Frage, wie sie im Rahmen ihrer künstlerischen Produktion zum Thema »Schweiß« stehe, bringt sie ihr ästhetisches Programm auf den Punkt: »Ich denke, dass es in meiner gesamten Arbeit darum geht, das Saubere, Glatte und Trockene loszuwerden und mit dem Verschwitzten, Unordentlichen, Schlampigen zu arbeiten.«7 Durch extreme Nahsicht auf die von ihr in den Blick genommenen physischen Phänomene, die die Illusion von Perfektion unterläuft und spezifisch ihre gemalten Bilder, wie Heilmann bemerkt, fast abstrakt wirken lässt,8 sucht Minter ihren Sujets eine »universalere« Qualität zu geben. Es sei eine Art zu sehen, eine Methode, dichter an die Dinge heranzukommen, an sie heranzuzoomen, Realität zu erzeugen.9 Das gilt auch für ihre Beschäftigung mit den Glamour stiftenden und perpetuierenden Images der Modefotografie, aus denen sie Anregung bezieht: Mir bereitet es viel Vergnügen, mir diese Bilder anzuschauen. Ich kenne eigentlich niemand, dem es nicht so geht. Es ist eine Hass-Liebe, weil man niemals so gut aussehen wird; keiner wird jemals so aussehen. Aber das Schauen selbst macht mir einfach ungeheuer viel Spaß. Ich glaube, ich versuche von diesem ständigen Scheitern ein Bild zu machen: Achseln, aus denen Haare sprießen, Schweiß, der in Augen hineinläuft, Wimpern, die verklumpt sind, weil zu viel Mascara aufgetragen wurde…10

Minters Visualisierung dieses Scheiterns funktioniert wie ein Kippbild, das zwischen der Unmöglichkeit, dem omnipräsenten gesellschaftlichen Ideal perfekten Stylings zu entsprechen, und der Enttarnung des äußerlichen Glanzes als kurzlebige Fassade, hinter der sich die Wahrheit des Körpers und dessen Unzulänglichkeiten verbergen, changiert.

Anfällige Schönheit Die Idee eines in die Wirklichkeit zurückgeholten, von der Realität durchdrungenen und subvertierten schönen Scheins, die den der barocken Vani6 7 8 9 10

Minters Antwort auf die Frage von Knight Landesman, in: ebd., S. 42 [Übers. d. Autorin]. Minters Antwort auf die Frage von Mika Rottenberg, in: ebd. [Übers. d. Autorin]. Vgl. Minter im Gespräch mit Heilmann, in: ebd., S. 24. Ebd. Ebd., S. 27 [Übers. d. Autorin].

91

5 |  BRÜCHIGER GLAMOUR

tas-Vorstellung innewohnenden »Moment des Umschlagens«11 von der Feier hin zur Destruktion sinnlicher Pracht und Fülle evoziert, schließt für Marilyn Minter die Faszination mit der »desire machine«,12 der »Maschine des Begehrens« nicht aus, die die Welt des Glamours antreibt und erhöht. Die Künstlerin zieht diese Welt zwar auf den Boden der Tatsachen herab, erdet sie dabei jedoch, ohne ihr letztlich die Magie zu nehmen. Einerseits folgt sie damit der traditionellen Eros-Thanatos-Polarität der Vanitas-Bildlichkeit, während sie dieser andererseits heutige, von moralischen Intentionen befreite Impulse verleiht. Im kontemporären »Spiel mit der Illusion«13 tritt der trügerische Schimmer des Glamours an die Stelle der immanent flüchtigen Reflexe, die in den barocken Vanitas-Repräsentationen auf den Oberflächen von Ge­fäßen und Geschirren aufleuchten und der weltlichen Reichtümer »ephemere Präsenz […] im Wandel des Lichts«14 vor Augen führen. Die Doppelbödigkeit des Glamours in Minters Arbeiten entspricht in dieser Hinsicht auch der existenziell unterfütterten Vanitas-Motivik eher als einer kommentarlosen oder gar affirmativen Spiegelung der aktuellen Werbeästhetik, wie sie in der gleißenden Finish-Fetish-Glätte15 der Arbeiten von Jeff Koons (geb. 1955) oder in den malerischen Reduplikationen medialer Inszenierung von Vertretern der Pop-Art der 1960er und 1970er Jahre wie Andy Warhol (1928–1987) oder Mel Ramos (geb. 1935) zu finden ist. Aurora Garcia, die das Werk der Künstlerin im Spannungsfeld zwischen der Thematisierung des Begehrens in der Kunst des Surrealismus, der Pop-Art und unserer heutigen, von der zweiten Realität der Medien und einem allgegenwärtigen Körperkult durchdrungenen Wirklichkeit betrachtet, unterscheidet Minters Ansatz entlang genau der Demarkationslinie, an der die VanitasIdee verläuft, von den Eigenschaften der Pop-Art als Zeitdokument der Konsumära. Garcia zufolge verspüre man angesichts von Minters Arbeiten »hinter jener Apotheose des Make-ups und der Simulation die hilflose Seite des Menschseins« und nehme zumindest andeutungsweise »das Drama von 11 12 13 14 15

92

Wegmann in: Sitt; Gaßner 2008, S. 15. Minter in einem Telefongespräch mit der Autorin, 9. April 2011 [Übers. d. Autorin]. Wegmann in: Sitt; Gaßner 2008, S. 22. Ebd., S. 20. Der Begriff »Finish Fetish«, der bezüglich der auf die polierten Oberflächenbeschaffenheiten und strahlenden Lackfarben von Surfbrettern, Automobilen und Motorrädern verweisenden Arbeiten der 1960er und 1970er Jahre von WestküstenKünstlern wie Billy Al Bengston, John McCracken oder Craig Kauffman Verwendung findet, wurde hier metaphorisch auf die von Jeff Koons ab den 1980er Jahren praktizierte Hochglanz-Ästhetik übertragen.

M A R I LY N M I N T E R S S T Ö R B I L D E R D E S S C H Ö N E N S C H E I N S

Eros und dessen letztlich untrennbare Verbindung mit Thanatos« wahr.16 Zugleich rückt die Künstlerin in ihren Arbeiten nach eigener Auskunft den Fokus auf das Übersehene, Beiläufige, nicht Beachtete, das für sie ein integraler Bestandteil glamouröser Schönheit ist, mehr noch, eine eigene Form der Schönheit verkörpert: Ich versuche etwas ins Bild zu setzen, das existiert, aber von niemandem beachtet wird. Oft sieht man etwas nicht, weil man sich daran gewöhnt hat. Ich interessiere mich für den Haaransatz und weniger für die Haare selbst, oder dafür, wie es ist, am Fingernagel zu kauen. Ich dokumentiere das nicht eigentlich, sondern mache eher ein Bild dieser Dichotomie, dieses Dualismus.17

Die Dichotomie zwischen dem großen, glanzvollen Auftritt des Glamours und dessen inhärenter Anfälligkeit, Porosität und potenzieller, zutiefst menschlicher Unzulänglichkeit schlägt in ihrem Werk immer wieder durch. Unverblümt splittert an Fingern und Zehen der Nagellack, werden auf Hautpartien Druckstellen, Hautunreinheiten, Sommersprossen, Flecken unterschiedlichster Art sichtbar. Auf Zähnen haftet Lippenstift, aus dick geschminkten Lippen quellen Perlenketten und Strasssteine wie Erbrochenes hervor. Kaugummi-Blasen verzerren Mund und Gesichtszüge. Schillernde kaviarartige Kügelchen und schaumige Flüssigkeiten, die an Champagner-Bläschen denken lassen, farbkräftige gel-, creme- oder schneeartige Substanzen strömen über Zunge, Gaumen und Kinn wie schmelzendes Eis oder klumpig verlaufende Kosmetik, klebrig wie Speichel oder Schleimabsonderungen, dabei kostbar funkelnd wie Kristalle. Diese Close-up-Motive hat Minter in Gestalt von Malerei, Fotografie und Videos realisiert, darunter in ihrer Videoarbeit, Green Pink Caviar18 aus dem Jahr 2009, die auf Billboards im New Yorker Times Square sowie in Los Ange16

17 18

Vgl. Aurora García, Behind the Curtain, in: Marilyn Minter, Ausst.-Kat., span./engl. (La Conservera, Centro de Arte Contemporáneo, Ceutí/Murcia: 2009), hrsg. v. La Conservera, Ceutí/Murcia 2009, s. p. [Übers. d. Autorin]. Minter in einem Telefongespräch mit der Autorin, 9. April 2011 [Übers. d. Autorin]. Als »opulente und sinnliche voyeuristische Halluzination«, wie es im englischen Begleittext zu der Arbeit auf der Webpage der Künstlerin heißt, zeigt dieses Video (Trailer, 60 sek., Film in voller Länge: 7:45 min.) Münder und Zungen, die sich an Süßigkeiten und Tortenguss laben. Auch hier setzte Minter »ihr Interesse am Verschwimmen der Grenzen zwischen künstlerischer und kommerzieller Bildlichkeit« fort, vgl. dazu: http://www.marilynminter.net/video/greenpinkcaviar/ (12. Okt. 2016) [Übers. d. Autorin].

93

5 |  BRÜCHIGER GLAMOUR

les gezeigt und in einer speziellen Version für die Europa-Tournee Sticky and Sweet der US-amerikanischen Pop-Ikone Madonna im selben Jahr zu deren Song Candy Shop präsentiert wurde. Die Idee, »mit der Zunge zu malen«,19 die in dieser losen Gruppe von Arbeiten ebenfalls mitschwingt, mündet in der Vergoldung von Mund, Zähnen und Zunge in der von nahezu monströsem metallischem Glanz erfüllten Serie Wangechi Gold (ebenfalls 2009). Noch etwas abstrakter und dabei humorvoll auf die buchstäblich selbstverzehrende Existenz als Künstlerin anspielend hat Minter dieses Thema in der Videoarbeit I’m Not Much But I’m All I Think About von 2011 variiert. Hier verschwinden die aus Schokoladenlinsen bestehenden Initialen ihres Namens und ein Kettenanhänger, der das Wort »ME « (»ICH «) konstituiert, in einem »erotischen Gebräu narzisstischer Lust«20 aus Wodka und Kuchenglasur. Das zwischen gezielt frivolem Vanitas-Verweis und (auto-) erotischer Auflösungsphantasie oszillierende Selbstbildnis aus der vergänglichen Substanz von Süßigkeiten, samt Attribut flüchtigen profanen Glanzes in Gestalt des Schmuckanhängers, wirkt wie eine popkulturelle GlamourVariante der aus Schokolade kreierten Selbstbildnisse des sämtliche Materialgrenzen überschreitenden Prozess-Künstlers Dieter Roth. Spezifisch lässt es an Roths autodestruktive schokoladene, mit Vogelfutter versetzte »Selbstportraitbüste als alter Mann« P.O.TH.A.A.VFB. (»Portrait Of The Artist As Vogelfutterbüste«) von 1968 denken, die im Garten postiert »allmählich von Vögeln aufgefressen werden« sollte:21 ein ebenso profunder wie ironischer Kommentar auf die eigene Vergänglichkeit Roths als Künstler und als Mensch.

Pornografische Stillleben In Minters Kompositionen verschmelzen Coolness und Sinnlichkeit, wobei jede Entgleisung aus der »perfekten« Form wie eine Befreiung aus ästheti19 20

21

94

Minter in einem Telefongespräch mit der Autorin, 9. April 2011 [Übers. d. Autorin]. Vgl. Linda Yablonsky, Marilyn Minter’s Oozing Desire, zuerst erschienen anlässlich einer Ausstellung des Videos 2011 als Endlos-Loop im Schaufenster von Salon 94 Bowery unter der Rubrik Artfacts, www.nytimes.com, 28.  Okt. 2011, zitiert unter: http://www.marilynminter.net/video/im-not-much-but-im-all-i-think-about/ (12.  Okt. 2016) [Übers. d. Autorin]. Vgl. Dirk Dobke (DD), Schokolade, in: Roth-Zeit. Eine Dieter Roth Retrospektive, Ausst.-Kat. (Schaulager Basel, u.a.: 2003), hrsg. v. Theodora Fischer; Bernadette Walter, Basel 2003, S. 116. Dobke erläutert in dem Zusammenhang, dass diese Arbeit auch eine ironische Reaktion auf den Roman Portrait of the Artist as a Young Man von James Joyce gewesen sei, »den Roth als verkitscht empfand«.

M A R I LY N M I N T E R S S T Ö R B I L D E R D E S S C H Ö N E N S C H E I N S

schen, gesellschaftlichen und erotischen Korsetten und Reglements wirkt. Im Zentrum steht bis heute die Suche nach dem »fesselnden« Bildmotiv, mit dem die Künstlerin die eigenen Grenzen ebenso zu erweitern sucht wie den Blick ihres Publikums. Das führte sie 1989/90 dazu, Hardcore-Porno-Hefte als Quelle für ihre Malerei heranzuziehen. Ihrer eigenen Auskunft zufolge hat sie dabei nie Vorlagen verwendet, die sie selbst als erregend empfunden hat, weil sie befürchtete, dass dadurch diese ihre autonome ästhetische Kraft verlieren würden. »Ich hatte ohnehin nie das Anliegen, irgendjemanden anzutörnen. Mich interessierten hauptsächlich Images, die ich auf irgendeine Weise spannend fand.«22 Minters Bilder mit pornografischen Motiven – oft eingebunden in gezielt absurde Szenen – wirkten bei ihrer Entstehung zunächst provozierend und eckten als weibliche Aneignung des männlich dominierten Blicks auf den weiblichen Körper auf verschiedenen Ebenen an. Der Künstlerin gemäß echauffierten sich gerade auch Männer über ihre Sujetwahl.23 Hier findet bereits das Doppelspiel statt, das die Künstlerin in ihren späteren Glamour-Motiven in noch extremerer Manifestation weitergeführt hat. Denn das Feld der Pornografie, inklusive der darin verwurzelten Zurschaustellung und – über den optischen Kick ausgelösten – Schürung sexuellen Verlangens, wird bei Minter zu einer Bühne und Plattform für die Umsetzung einer ureigenen Agenda. Dieser folgend erhalten die erotischen Reiz-Images aus dem Kontext der Pornografie durch Fragmentierung, Verwischung, humorvoll-übertriebener oder gegenläufiger Betitelung und Fokussierung scheinbar nebensächlicher Details jene Brechung, die den Ursprungsstoff implodieren lässt – wobei aber simultan dessen ostentative Botschaft, der unmittelbare Appell an libidinöse Grundtriebe, nicht verleugnet wird. So auch in der Werkgruppe 100 Food Porn von 1989/1990, bestehend aus 30-Sekunden-Werbespots, die im Spätabendprogramm zwischen den Shows von David Letterman oder Arsenio Hall und der NachrichtenSendung Nightline ausgestrahlt wurden und auf eine Ausstellung von Minters Malerei-Serie desselben Namens 1990 in der New Yorker Simon Watson Gallery hinwiesen. Die hundert Gemälde aus dem Werkkomplex 100 Food Porn, die Johanna Burton in ihrem Essay Hard-Soft Core zu erotischen und pornografischen 22 23

Vgl. Minter im Gespräch mit Heilmann in: Minter 2010, S. 19 [Übers. d. Autorin]. Vgl. Minter in ihrer Antwort auf die Frage von Bill Miller, in: ebd., S. 39. Hier beschreibt sie, dass alle ihre männlichen Freunde von diesen Bildern entsetzt waren und sie inständig baten, aufzuhören Bilder mit pornografischen Motiven zu malen.

95

19  Marilyn Minter,

Satiated, 2003, C-Print, 218 x 152 cm

20  Marilyn Minter, 100 Food Porn #85, 1990, Emaillelack auf Metall, 61 x 76 cm

21  Marilyn Minter, Veils, 2013, Emaillelack auf Metall, 133 x 150 cm

22  Marilyn Minter,

Strut, 2005, Emaillelack auf Metall, 244 x 152 cm

5 |  BRÜCHIGER GLAMOUR

Motiven in Minters Werk treffend als »X-rated still life paintings«,24 als »nichtjugendfreie Stillleben« bezeichnet hat, kreisen in »brutaler Lackfarbe auf Metallpaneelen«25 samt medialer Rasterpunkte und malerischer Tropfspuren um betont »handgreifliche« Methoden der Essenszubereitung wie das Trennen von Eiern, das Schälen von Gemüse oder das Pulen von Schrimps, verrichtet von weiblichen Händen mit rotlackierten Nägeln. Die alltägliche Handlung verwandelt sich in einen sexuell aufgeladenen Akt, der Essen und Kopulieren auf einen Nenner bringe.26 Wie Burton ausführt, werden in Minters spezifischer Ausprägung des Stillleben-Genres im Sinne der französischen »nature morte« Gegenstände der Natur soweit in die Sphäre der Kultur übertragen, dass sie menschliche Züge annehmen und als Projektionsfläche unterdrückter Begierden dienen, die sonst kein Ventil haben.27 Sie sieht die Gemälde aus der genannten Serie der Künstlerin nicht so sehr in der traditionellen Vanitas-Motivik und der Vorstellung von der Flüchtigkeit des menschlichen Seins und der Anfälligkeit irdischer Güter verankert, sondern vielmehr als einen Kommentar auf ein lustfernes System, das unser Begehren »usurpiert« habe, um dieses in entsprechender Verpackung als opulente Ware anzupreisen.28 Auch wenn es auf Anhieb nicht so erscheinen mag, ist ihr Werk weniger mit der phantasmatischen Spaltung oder der physischen Fragilität des Körpers befasst und mehr damit, auf welche Weise solche erratischen Körper selbst in kulturelle Signifikationen – ästhetische Schutzbandagen – gekleidet sind. Doch gerät eine solche Rüstung, unabhängig davon, wie sehr sie von einer Narrative der Kohärenz abhängt – oder eine solche sogar produziert – stets aus den Fugen. […] In M.M.s Händen offenbart sich der Körper als erbärmlich – sabbernd, schwitzend, behaart (an all den falschen Stellen), stinkend – und lediglich als Requisit, mittels dem die Kultur ihre Geschäfte abwickelt. Wenn es hier um Auflösung geht, ist diese nicht per se auf den Körper, sondern vielmehr auf die ambivalente Beziehung zwischen dem Körper und all dem, 24

25 26 27 28

98

Burton in: Minter 2010, S. 62. Burton verweist in ihrem Essay auch auf das historische Stillleben und beispielhaft auf den niederländischen Barock-Meister Willem Claesz Heda, wobei sie einen Vergleich zwischen diesem und Minter als »provokative Aufgabe« bezeichnet, aber nicht näher ausführt. (Vgl. dazu ebd., S. 64). Ebd., S. 63 [Übers. d. Autorin]. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 64. Vgl. ebd.

M A R I LY N M I N T E R S S T Ö R B I L D E R D E S S C H Ö N E N S C H E I N S

was für seine komplexe Inszenierung in Anspruch genommen wird, gerichtet.29

Daraus lässt sich der Gedanke ableiten, dass in unserer Konsumära die in der historischen Stillleben-Malerei des 16. und 17. Jahrhunderts vielfach beschworene Vanitas-Warnung vor der unvermeidlichen Vergänglichkeit aller sinnlichen Freuden (inklusive der damit einhergehenden Aufforderung, die Zeit auf Erden auszuschöpfen, solange dies möglich ist) in ein Geschäft mit der Lust umgeschlagen ist, das indes nicht minder trügerisch ist als die ephemeren Evokationen praller Lebensfülle in der Malerei des barocken Zeitalters. Die optischen Blessuren, die die Künstlerin mit malerischen Mitteln in die Gruppe 100 Food Porn sowie in Werke mit expliziterem pornografischen Gehalt eingebaut hat, verleihen den Verweisen auf fleischliche und vegetabile Begierden die Anmutung beginnender oder auch fortgeschrittener Korrosion. Insofern werden hier doch Auflösungstendenzen auf verschiedenen Ebenen sichtbar. Dem haptischen, sinnlichen »Zugriff« stehen inhaltlich und stilistisch Verfall und Zersetzung entgegen. Vor dem Hintergrund der Arbeiten Minters seit Ende der 1990er Jahre, mit verstärkter Tendenz ab Mitte der 2000er Jahre, in denen die antisterile Unterwanderung des Glamours durch die Tücken des schmuddelanfälligen Daseins und idiosynkratischen So-Seins menschlicher Eigenart zunehmend vor Augen geführt wird, lassen sich die Bilder der Künstlerin mit pornografischem Gehalt retrospektiv in Korrespondenz zu den Thesen der polarisierenden US-amerikanischen Kunst- und Kulturtheoretikerin Camille Paglia30 lesen, die unter anderem mit ihrer pornofreundlichen Variante des Feminismus gegen sämtliche politischen Korrektheiten der 1990er Jahre verstieß. Paglia zufolge offenbart die Pornografie «die profundeste Wahrheit über Sexualität, bar jeglicher romantischen Fassade«,31 die sonst als sublimierende zivilisatorische Überblendung der archaischen, animalischen Kräfte des Begehrens diene. Pornografie träumt vom ewigen Feuer der Lust, ohne Erschöpfung, Ausfallerscheinungen, Altern oder Tod. […] ›Schmutz‹ ist für den Chris29 30 31

Ebd., S. 71f. [Übers. d. Autorin]. Autorin des 1990 erschienenen Bestsellers Sexual Personae: Art and Decadence from Nefertiti to Emily Dickinson [dt. Fassung: Die Masken der Sexualität, Berlin 1992]. Camille Pagila: Vamps & Tramps. New Essays, London 1995 [New York 1994], S. 66 [Übers. d. Autorin].

99

5 |  BRÜCHIGER GLAMOUR

ten eine Besudelung, aber fruchtbarer Humus für den Heiden. Die verkommensten Bilder der Pornografie sind Schockmittel, um die bourgeoisen Normen des Anstands, der Zurückhaltung und der Reinlichkeit niederzureißen. […] In den Höhlenräumen der Pornografie sind die Kameralichter Fackeln der eleusinischen Mysterien, in denen die Geheimnisse der Natur aufblitzen. Pornografie ist Kunst, manchmal harmonisch, bisweilen dissonant. Ihre Überfülle und ihr Glitzern ist ein babylonischer Exzess.32

Paglias Betonung der subversiven, befreienden Eigenschaften von »Schmutz« und Pornografie, die bei ihr um eine gleichsam transzendente, Tod überwindende Eigenschaft erweitert ist, birgt eine deutliche Parallele zu Minters von Körperflüssigkeiten, Dreckspuren und unverfälschter erotischer Energie durchwirkten Arbeiten. In Minters Fall ist freilich das Zelebrieren der mehrfach gebrochenen Oberflächenreize, jenes exzessive »babylonische« Glitzern, das Paglia der Pornografie zuschreibt, aus dem flüchtigen Dreck des Alltäglichen – aus Flecken auf dem Küchenboden und Speiseresten im Spülbecken – erwachsen.

Staub des Daseins Minters Beschäftigung mit Übersehenem und Abseitigem ebenso wie mit den lebensnahen, abgetragenen Aspekten des Glamours, die bereits in den Darstellungen pornografischer Sujets der Künstlerin angelegt sind, hat einen längeren Vorlauf. So setzte sie in ihrer frühen Malerei der 1970er Jahre Flecken von verschütteter Flüssigkeit, zerknautschte Alufolie, Sperrholz oder Papierkringel auf grauen Linoleumfliesen ins Bild und richtete ihr Augenmerk auf Staubflocken auf dem Boden oder Abfälle in der Küchenspüle. »Ich male Dinge, auf die keiner achtet, die aber dennoch zur Realität gehören«,33 so Minter. Der Beginn des anderen zentralen Pfades ihrer Arbeit ist in der schwarz-weißen Fotoserie Coral Ridge Towers von Portraits ihrer Mutter Honora Elizabeth Laskey Minter verankert, entstanden 1969, als die Künstlerin an der University of Florida ihre ersten Studienjahre absolvierte. Benannt nach dem Appartement-Komplex in Fort Lauderdale, Florida, in dem Minters Mutter zu der Zeit lebte, zeigen die Aufnahmen eine Frau, die offenbar in einer parallelen, auf Innenräume beschränkten Wirklichkeit resi32 33

100

Ebd., S. 66f. [Übers. d. Autorin]. Vgl. Zitat von Minter, M & M I, in: Minter 2010, S. 109 [Übers. d. Autorin].

M A R I LY N M I N T E R S S T Ö R B I L D E R D E S S C H Ö N E N S C H E I N S

diert: In Räumen mit zugezogenen Gardinen liegt sie im Morgenmantel rauchend, mit und ohne Lockenwickler, auf dem Sofa oder auf dem Bett, umringt von Zeitungen, Kosmetikdosen und Medikamenten. Sie steht vor diversen Spiegeln, oder schminkt sich im verhaltenen Schein von elektrischem Licht. Die tablettenabhängige Mutter wird als Personifikation eines verblichenen, fragilen, mühevoll aufrecht erhaltenen (Ab-)Glanzes fassbar, der als ephemerer Schutzschild dem physischen Verfall entgegengehalten wird. Coral Ridge Towers evoziert die Schattensphäre einer in die Jahre gekommenen Hollywood-Diva, die von der Welt vergessen in einem abgedunkelten Boudoir ihren zerbrechlichen Träumen nachhängt. Trotz dieser höchst intensiven, auch sehr persönlichen Serie ist es Minter laut eigener Aussage nie darum gegangen, »ein Abbild oder das innere Wesen einer Person einzufangen«,34 wie überhaupt die menschliche Figur in Gänze höchst selten bei ihr zu sehen ist. Vielmehr versteht sie ihr duales, zwischen malerischer Fotografie und fotorealistischer Malerei changierendes künstlerisches Verfahren als konzeptuell und interessiert sich spezifisch für Oberflächenstrukturen, was deutlich erkennbar ist, wenn man sich die Fülle an Texturen vor Augen führt, die in ihrem Werk grundsätzlich zum Tragen kommen. Tatsächlich bleiben ihre Arbeiten letztlich, trotz der ab den 1990er Jahren zunehmend haptischer werdenden Präsenz ihrer regelrecht hyperphysisch umgesetzten, von sinnlicher Wucht erfüllten Inhalte, bis zu einem gewissen Grad abstrakt. Das unterscheidet Minters eigenwillige Darstellungen von Körperlichkeit, Sex und Glamour auf verschiedenen Seiten des Spektrums auch von den fluxusnahen körperintensiven Aktionen, beispielsweise, der 1939 geborenen US-amerikanischen Performance- und Body-Artistin Carolee Schneemann, die ebenfalls des Öfteren Nahrungsmittel, Schlamm und andere schmierträchtige Stoffe in ihre Aktionen einbezogen hat. Minters heißkalte Bildsprache steht diesbezüglich auch in starkem Kontrast zu den notorischen (auto-)erotischen »Post-Porn«-Auftritten der »feministischen Porno-Aktivistin«35 Annie Sprinkle, die in ihren expliziten Performances vehement zur sexuellen Befreiung aufgerufen hat, auch wenn sich Minter zwischen Ende der 1980er und Mitte der 1990er Jahre in ihrer Phase der pornografischen Bilder einer Lesegruppe von Anhängerinnen eines »Pro-Sex«-Feminismus anschloss und sich darin mit dem subversiv-lustvol34 35

Minter in einem Telefongespräch mit der Autorin, 9. April 2011 [Übers. d. Autorin]. Vgl. Art and Feminism, hrsg. v. Helena Reckitt, mit einem einführenden Essay von Peggy Phelan, Berlin 2001, S. 149.

101

5 |  BRÜCHIGER GLAMOUR

len Potenzial der Pornografie auseinandersetzte.36 Letztlich folgt sie anderen Obsessionen als denen, das Publikum aufzustacheln oder in ihrer Kunst einen Wertekanon zu propagieren. Die zunehmend abstrakte Qualität ihrer Bilder ab Mitte der ersten Dekade der 2000er Jahre – und das gilt für ihre Malerei ebenso wie für ihre Fotografie – setzt an der Stelle ein, an der die Inhalte kippen und die Erwartungen des Betrachters, der Betrachterin en passant ausgehebelt werden. Selbst Minters Ansichten der Sex-Ikone der 1990er Jahre, Pamela Anderson, von 2007 sind im Gegensatz zu den Bildnissen der frühen Serie Coral Ridge Towers keine Portraits im engeren Sinne – in manchen ist die Protagonistin kaum zu erkennen. In ihnen artikuliert sich ein spezifisch eigener Blick auf eine endlos in Szene gesetzte und reproduzierte Kunstfigur, die kraft erdender Rückverwandlung an Facettenreichtum und Authentizität gewinnt, auch wenn sich Andersons Konturen simultan in Unschärfen verlieren wie in einem Dunstschleier. Das Prinzip der Auflösung, das Minters Auffassung des Glamours auf verschiedenen Ebenen innewohnt, ist auch ein kompositorisches, formales, das das Dargestellte ebenso erfasst wie die Darstellungsweise. Bei näherem Hinsehen, so die Künstlerin, falle ihre Malerei, im Gegensatz zu dem oft damit in Beziehung gesetzten Fotorealismus, auseinander.37 Dieses Auseinanderfallen der Bilder, die sich zusehends vom Überkonkreten in ein fast schon gegenstandsloses Spiel der Farben und Formen erweitert haben, eröffnet vielfältige Interpretationen. »Ich nehme gern weitgehend das Erzählerische heraus, damit man eigene Schlüsse ziehen kann«,38 erläutert sie ihr ästhetisches Prinzip. Mir geht es nicht darum, die Verwerfungen der Glamour-Industrie aufzuzeigen. Glamour und Schönheit vermitteln jedem von uns Freude. Aber für mich liegt der Fehler im Vorgaukeln von Perfektion. Ich versuche, etwas Reales zu zeigen und Bilder darüber zu machen, wie sich das Schauen selbst anfühlt.39

Die Verführung des Blicks ist bei Minter Ausgangspunkt und Ziel. Doch basiert bei ihr dessen Betörung nicht auf der Illusion von Vollkommenheit, sondern speist sich, im Gegenteil, aus den Unzulänglichkeiten, den Schön36 37 38 39

102

Vgl. Minter im Gespräch mit Heilmann, in: Minter 2010, S. 20-22. Minter in einem Telefongespräch mit der Autorin, 9. April 2011 [Übers. d. Autorin]. Ebd. Ebd.

M A R I LY N M I N T E R S S T Ö R B I L D E R D E S S C H Ö N E N S C H E I N S

heits- und Schweißflecken, die den Moment des Erotischen aus der Kunst ins Leben zurückwerfen. Die ephemere Eigenschaft des Glamours und der äußeren Schönheit werden dabei immer wieder implizit beschworen. In fotografischen Arbeiten wie Twilight und Breaking Dawn (beide 2011), Honeydew (2012) oder Siren (2014), aber auch in Gemälden wie Veils (2013), Spectral (2014) und Edwina (2015) verschwimmen geschminkte Augen und Münder, der Schimmer von Perlen, Kristallen und lackierten Nägeln fast gänzlich in Unschärfen, die durch Wasserströme, Lichtreflexe, Bewegung oder andere Faktoren optischer Diffusität erzeugt werden. Allein die Titel – »Zwielicht« oder »Sonnenaufgang«, »Honigtau«, »Schleier« oder »Spektral« – deuten auf eine Visualisierung des Flüchtigen, das nicht nur der Schnelllebigkeit unserer kosmetisch aufgerüsteten, glatt polierten, auf dauerhafte Jugend und Schönheit zielenden (Selbst-)Inszenierungen eigen ist, sondern unsere wechselhafte Wahrnehmung der Wirklichkeit und ihrer Phänomene prinzipiell bestimmt. In Minters Bildern des ephemeren Scheins, der ebenso wie der trügerisch opulente Glanz der barocken Stillleben stets »zum Greifen nah und doch wieder so fern«40 bleibt und wie letzterer höchst störanfällig ist, artikuliert sich die Tücke des Glamours, aber auch die unverminderte Verführungskraft, die dieser in all seiner Illusions- und Momenthaftigkeit, seiner Künstlichkeit und Zerbrechlichkeit bewahrt.

40

Wegmann in: Sitt; Gaßner 2008, S. 22.

103

6 | LUFTSCHLÖSSER UND KARTENHÄUSER Catherine Bolducs anfällige (Des-)Illusionskunst As if faced with a house of cards just about to collapse. Catherine Bolduc1

D

er Sternenhimmel offenbart uns die Spuren längst verglommenen Daseins. Die Zeit trägt diese visuellen Erinnerungen des Vergangenen durch unermessliche Weiten und lässt sie als glitzernde Nachbilder aus dem bodenlosen Dunkel des Alls hervortreten. Was wir sehen, ist eine Illusion – Verweis auf etwas, das nicht mehr ist. Und doch bewahrt der Glanz der Sterne eine dem illusionären Charakter der Erscheinung resistente Magie. Im feinkörnigen Treibsand des Magischen, auf der oszillierenden Marge zwischen dem Fantastischen und dem Alltäglichen, Illusion und Realität, manifestieren sich Catherine Bolducs Rauminstallationen, skulpturale Arrangements und Zeichnungen. Mit tendenziell einfachen Mitteln und Fund­stücken aus der Trashkultur, dem Hobby-, Dekorations- und Bastelbedarf setzt die 1970 geborene, in Montreal lebende kanadische Künstlerin das Wundersame in den Gegenständen, die uns umgeben, frei. Oder erweckt es neu durch surreale Gegenüberstellungen, überraschende Verkehrungen und an Zauberei grenzende Inszenierungen, deren schillernder Grundtenor zwischen Versprechen und Desillusionierung changiert. Meine Arbeit lädt dazu ein, phantasmagorische Räume zu erleben, die sich beispielsweise auf ein ideales Phantasieleben, exotische Abenteuer, utopische Liebesvisionen, Traumwanderungen beziehen, wo aber die Magie auch ihre dunklere Seite offenbart. Meine ästhetische Intention geht in zwei Richtungen: Sie oszilliert zwischen der Evokation menschlicher Verletzlichkeit angesichts der Diskrepanz zwischen

1

Catherine Bolduc, The Story of a Non-Existent Work, in: dies. 2012, S. 37.

105

6 |  LUFTSCHLÖSSER UND K ARTENHÄUSER

Wunsch und Wirklichkeit und einer Versöhnung dieses Zwiespalts durch die Feier der poetischen Kraft des Banalen.2

Das ephemere Spiel von Licht und Schatten, Spiegelungen und Dopplungen sowie die Wandelbarkeit der Erinnerungen und der Projektionen der Phantasie sind durchgängige ästhetische Faktoren in Bolducs Arbeit. »Ein zentraler Punkt meines Ansatzes ist die Idee, dass Realität nicht in erster Linie etwas ist, was man anfassen kann, sondern etwas, das man im Kopf konstruiert und das auftauchen oder wieder verschwinden kann.«3 Die Vorstellungskraft des Publikums wird durch die Künstlerin auf unterschiedlichste Weise angeregt und aus den gewohnten Bahnen katapultiert. Im Sinne eines Gedankens des französischen Geschwindigkeitstheoretikers Paul Virilio – »Die Welt ist Illusion – und die Kunst die Darstellung der Illusion der Welt«4 – kreiert sie kraft ihrer Kunst schillernde, verführerische Schaustücke und enttarnt sie sogleich wieder als solche, führt also vor Augen, dass es sich dabei (auch durchaus buchstäblich) um Schall und Rauch handelt. Übertragen auf das größere Bild unserer Conditio humana deutet Bolduc in ihren Arbeiten darauf, dass wir grundsätzlich »in einer Welt der Illusionen leben«.5 In ihren Zeichnungen entwirft die Künstlerin Traumlandschaften, die – gefiltert durch ihre persönlichen Erwartungen und den »hinfälligen Stoff«6 der Erinnerungen – auf von ihr bereiste reale Topografien der Welt Bezug nehmen und dabei naturhafte und anthropomorphe (weibliche) Attribute gleichsetzen. Aus Vulkanen quellen Perlenstränge, lange gewellte Haare überwuchern gleichsam ineinander verwachsene, von schwarzen Schlünden punktierte Bergkämme, aus denen sich filigrane wurzel- oder nervenartige Fortsätze winden, die in winzigen Händen oder korallenartigen Ausstülpungen münden. Die Berge mutieren zu Türmen, die sich ihrerseits zu burg- oder inselartigen Konglomeraten verdichten. Die Bilder tauchen in plastischer, teils raumgreifender Form wieder auf: Schnörkelreiche Schlös2 3 4 5 6

106

Catherine Bolduc, Artist Statement auf der Website der Künstlerin, unter: http:// www.catherinebolduc.com/english.html (12. Okt. 2016) [Übers. d. Autorin]. Bolduc in einem Telefongespräch mit der Autorin, 1. Mai 2008 [Übers. d. Autorin]. Virilio 1986, S. 40. Vgl. Marcel Blouin, Preface, in: Bolduc 2012, S. 26 [Übers. d. Autorin]. Jorge Luis Borges, zit. in: Geneviève Goyer-Ouimette, Pandora’s Memories, in: ebd., S. 68. (Vgl. auch Jorge Luis Borges, Shakespeares Gedächtnis, in: Spiegel und Maske. Erzählungen 1970–1983, Bd. 13 in: Jorge Luis Borges Werke in 20 Bänden [Orig.: Obras Completas, Buenos Aries 1974], hrsg. v. Gisbert Haefs; Fritz Arnold, Frankfurt/Main 2000 [1993], S. 224).

C AT H E R I N E B O L D U C S A N FÄ L L I G E ( D E S - ) I L L U S I O N S K U N S T

ser und Burganlagen erhalten in unterschiedlichen Materialen und Formen Gestalt. Etliche Arbeiten, wie etwa der »Brunnen der ewigen Jugend« (Fontaine d’éternelle jeunesse / Fountain of Eternal Youth, 1999), bestehend unter anderem aus Gips, Gummi, Synthetikblumen, Pappelpollen, Holz, elektrischem Licht und Kohlblättern, existieren als Zeichnung und als Skulptur. Bolduc hat die Traumtopografien ihrer Zeichnungen mehrfach zu dreidimensionalen vulkanartigen Gebilden aus opulenten Anhäufungen schimmernder Kunststoffperlen und Metallketten ausgeformt, in denen Lichter blinken und von denen geschmolzene Schokolade herabfließt wie dickflüssige Lava. Paysage miniature mobile, eine Anrichte, auf der sich ein Hügel bunter Bonbons und ein Fluss aus Kunststoffperlen befinden, Paysage gâteau, von Schmuck und Schokoladenguss überzogen, und Chroniques des merveilles annoncées, eine bulimische Akkumulation aus Früchten und künstlichen Blumen, gelingt es, den Geist, der die Vanitas antreibt, mit dem der Konsumgesellschaft in Einklang zu bringen. Dekoriert mit einer Girlande aus Lichtern, die erstere in einen Weihnachtsbaum verwandeln, wird die Pyramide aus Plastiknippes nicht von einem himmlischen Engel, sondern von einem Totenkopf gekrönt.7

Mit ihrer Doppelstrategie simultaner Illusionsstiftung und Desillusionierung knüpft die Künstlerin, wie Anne-Marie St-Jean Aubre in ihrer Abhandlung über die »sublimierte Enttäuschung«8 in deren Arbeiten hervorhebt, an die barocke Vanitas-Tradition an und überführt sie in die heutige Konsumära. Die ökonomisch-materiellen Warenwerte der westlichen Globalkultur wecken St-Jean Aubres Thesen zufolge nicht weniger Begehrlichkeiten als die in den Stillleben des 17. Jahrhunderts lustvoll zelebrierten, gleichwohl als moralisch verwerflich angeprangerten materiellen Luxusgüter, und sind ebenso flüchtig wie diese. Allerdings durchbricht Bolducs Interrelation von (Augen-)Täuschung und Enttäuschung immer wieder die Erwartungen – in beide Richtungen. Die »schimärischen Waren«, die die Künstlerin in ihren räumlichen Konstruktionen zusammenträgt, verhalten sich aus Sicht St-Jean Aubres auf ironische Weise wie Vanitas-Repräsentationen, »während sie sich über die ungezügelten Erwartungen der Konsumenten lustig machen«.9 7 8 9

St-Jean Aubre in: Bolduc 2012, S. 241. [Alle Zitate St-Jean Aubres: Übers. d. Autorin]. Ebd., S. 235. Ebd., S. 241.

107

6 |  LUFTSCHLÖSSER UND K ARTENHÄUSER

Indem sie eine rein pessimistische Haltung gegenüber der Dimension menschlicher Erfahrung verweigert, nimmt Catherine Bolduc in ihrer künstlerischen Praxis eine Position des Widerstands ein, in der Lust und Enttäuschung einen dialektischen Schulterschluss eingehen und so die Möglichkeit der Sublimation eröffnen.10

Tagträume und Schattenwürfe Jener »dialektische Schulterschluss« ebnet den Weg für die Synthese eines Helldunkels divergierender Stimmungen, Sphären und Wirklichkeiten, in denen Profanität und Magie, Banalität und Poesie, Alltag und Traum ineinander übergehen. Diese Ambivalenz prägt auch Bolducs Großskulptur Carrousel (Alice’s revolutions) / Carousel (Les révolutions d’Alice) von 2001. Das zwei Meter hohe, schmale Karussell dreht wie ein überdimensioniertes Spielzeug aus Alice im Wunderland (1865)11 seine Runden und wirft als »Jahrmarktsattraktion, die einen Käfig ebenso suggeriert wie den Karneval«,12 mysteriöse Schatten an die Wand. Die surreale Struktur aus angemalten Kupferrohren, Aluminiumblech und einem Kunststoffspiegel ist von Kettensägen- und Plastikperlenketten umwickelt. In mehreren Installationen Bolducs treten schlichte IKEA-Schränke mit geheimnisvollem Innenleben in Erscheinung: Hinter Türritzen und perforierten Wänden offenbaren sich labile Konstruktionen aus Kartenhäusern oder dichte Gespinste aus Perlenschnüren. Der Glanz von Sternen schimmert aus winzigen Luken der Möbelstücke hervor, als verberge sich darin der ganze Kosmos. Als ephemeres Sinnbild des Illusionären zieht sich die Vorstellung des Luftschlosses durch die Produktion der Künstlerin hindurch, auch in Gestalt jener fragilen Kartenhaus-Ensembles, die von vornherein nicht auf Dauer angelegt sind. So setzte Bolduc 2002 im schrankartigen Raum der Pariser Galerie Glassbox wie auf einer Miniaturbühne Kartenhäuser, Vasen und andere vor Ort in Asia-Läden erworbene Objekte unter dem Titel A Castle in Spain (Un château en Espagne) – in englischer und französischer Sprache die metaphorische Umschreibung für »Tagtraum« oder »Luftschloss« – in Szene. In geheimnisvolles blaues Licht getaucht, suggerierte die Installation eine 10 11

12

108

Ebd., S. 237f. Erstmals 1865 in englischer Sprache unter dem Titel Alice’s Adventures in Wonderland publiziert, erschien die erste deutsche Fassung in einer Übertragung von Antonie Zimmermann 1869 unter dem Titel Alice’s Abenteuer im Wunderland. St-Jean Aubre in: Bolduc 2012, S. 242.

C AT H E R I N E B O L D U C S A N FÄ L L I G E ( D E S - ) I L L U S I O N S K U N S T

Fata Morgana, die schon im nächsten Augenblick wieder verschwinden könnte. Bolduc hat dieses Thema mehrfach aufgegriffen: Das Spektrum umfasst neben ineinander verschränkten Kartenhäusern Konglomerate von wie bei einem Mikado-Spiel prekär aufeinander gestapelten Essstäbchen und eine ausufernde Verflechtung aus Strohhalmen – durch Licht und Spiegel mannigfaltig gebrochen und ins Endlose vervielfältigt. Im märchenhaften Jahrmarktszauber, der Bolducs Arbeiten insgesamt durchzieht, klingen zentrale Ansätze des Surrealismus nach. Die für die Kompositionstechnik der Surrealisten Anfang der 1930er Jahre charakteristischen Methoden der Kombinatorik, Metamorphose und Entfremdung,13 die dem Ausdruck des »Wunderbaren« und einer Erweiterung der Wirklichkeit durch »das Imaginäre, Überraschende, Fremde, Abgründige« dienten,14 finden sich bei Bolduc in eigener, abgewandelter Form wieder. Parallel zu diesen gängige Seherwartungen unterlaufenden Verfahren ist in den Arbeiten der Künstlerin eine weitere treibende Energie der Surrealisten akut: die des Begehrens, das Bolduc in ihren affirmativ/subversiven Manifestationen des Magischen simultan hervorruft und aushebelt. War für die Surrealisten eine »wesentliche Triebfeder für die Wahrnehmung des Wunderbaren […] le désir (die Begierde), das unstillbare Verlangen nach dem Anderen, dem Verborgenen, dem Verschwiegenen, dem Verbotenen, dem Verhüllten, den Tabus«,15 so übernimmt nach Bolducs Auffassung das Begehren (»desire«) – hier weniger als erotisches Verlangen denn als Wunschvorstellung oder Sehnsucht verstanden – eine Schlüsselrolle bei der eigentlichen Hervorbringung von Realität und dessen Erweiterung im Raum der Phantasie. Die Künstlerin interessiert sich nach ihrem eigenen Bekunden dafür, »wie die menschliche Psyche Wirklichkeit wahrnimmt und konstruiert, indem sie diese durch die eigenen Sehnsüchte [desires] auflädt und durch die Erfindung von Phantasiebildern und Fiktionen überschreitet.«16 Bolducs ästhetische Strategie basiert auf einer Auseinandersetzung mit der Art und Weise, wie subjektive Erinnerung, Phantasie- und Wunschvorstellungen Realität erzeugen und verzerren oder aber untergraben, wenn »Illusion 13

14 15 16

Vgl. Uwe. M. Schneede, Das surrealistische Bild, in: Begierde im Blick. Surrealistische Photographie, Ausst.-Kat. (Hamburger Kunsthalle: 2005), hrsg. v. dems., OstfildernRuit 2005, S. 45. Schneede nennt die drei Verfahren als dem »surrealistischen Bild« grundsätzlich wesentlich. Ebd., S. 43. Ebd. Vgl. Catherine Bolduc, Artist Statement, unter: http://www.catherinebolduc.com/ english.html (12. Okt. 2016) [Übers. d. Autorin].

109

23  Catherine Bolduc,

Carrousel (Alice's revolutions), 2001, Installation, versch. Materialien, 220 x 120 x 120 cm

24  Catherine Bolduc, Affectionland, 2000, Installation, versch. Materialien, 150 x 120 x 120 cm

25  Catherine Bolduc,

Chimères et sérotonine, 2009, Wasserfarbe, Aquarellstift und Acryl auf Papier, 188,5 x 140 cm

26  Catherine Bolduc, Chroniques des merveilles annoncées, 2002, Skulptur (Detail), versch. Materialien, 270 x 120 x 120 cm

6 |  LUFTSCHLÖSSER UND K ARTENHÄUSER

unmittelbar auf Desillusionierung und Verfälschung stößt«.17 Dieser dialektische Impetus verweist wiederum auf die existenzielle Dimension ihrer Arbeiten, deren Hauptsujet in den Worten des kanadischen Künstlers und Dichters Marc-Antoine K. Phaneuf »die menschliche Erfahrung grundsätzlich«18 ist.

Ephemeres Lichttheater Im Jahr 2007 realisierte die Künstlerin Le bout du monde / The Other Side of the World (Die andere Seite der Welt) im Rahmen des Projekts Artefact Montréal 2007 – sculptures urbaines / Urban Sculptures »Petits pavillons et autres folies« / »Small Pavilions and Other Folies« zum vierzigjährigen Jubiläum der Weltausstellung 1967 in Montreal. Die Arbeit bestand aus einer weißen Haustür, die auf dem ehemaligen Expo-Gelände im Parc Jean-Drapeau, île Sainte-Hélène, in den Boden eingelassen war. Von jenseits der verschlossenen Tür war eine Klangcollage aus klimpernder Spieluhrversion der populären Leitmelodie des Films Love Story (1970), Donner und Feuerwerksknallen zu hören. Ein Guckloch in der Tür bot einen Ausschnitt des Sternenhimmels dar, als hätte sich der Kosmos – wie in Meret Oppenheims Bildvision Das Paradies ist unter der Erde (1940)19 – aus der Höhe in die Tiefe umgekehrt und sei hinter der Pforte unterirdisch verwahrt. Für ihre Installation My Life Without Gravity (Mein Leben ohne Schwerkraft) 2008 im Künstlerhaus Bethanien, Berlin, übertrug Bolduc die Ansicht des potenziell grenzenlosen Sternenhimmels auf die Außenwände eines minimalistischen Kubus. Im parallel präsentierten Video klettert die Künstlerin scheinbar schwerelos durch Nebelschwaden hindurch, um dann durch selbige ins Nichts zu fallen. »Ein wenig wie Ikarus«, so die Künstlerin: »Man versucht den Himmel zu berühren und stürzt dabei ab.«20 Die begleitende Soundspur mit Feuerwerksgetöse ließ zugleich an Krieg und an die ephemeren, vom Menschen geschaffenen Lichtspiele am Firmament denken, die die kosmische, ebenso flüchtige (wenn auch in weitaus größeren zeitlichen Maßstäben vergehende) Illumination der Sterne nachbildet. Im Endlos17 18

19

20

112

Ebd. [Übers. d. Autorin]. Vgl. Marc-Antoine K. Phaneuf, Catherine Bolduc. Monopoly Deluxe Edition or Seventy-Four Truths About Catherine Bolduc, in: Bolduc 2012, S. 271 [Übers. d. Autorin]. Meret Oppenheim hat das Thema der Umkehrung von Himmel und Erde ihrer Papierarbeit von 1940 (Collage, Gouache) 1972 in Das Geheimnis der Vegetation (Öl auf Leinwand, Kunstmuseum Bern) noch einmal variiert. Bolduc in einem Telefongespräch mit der Autorin, 1. Mai 2008 [Übers. d. Autorin].

C AT H E R I N E B O L D U C S A N FÄ L L I G E ( D E S - ) I L L U S I O N S K U N S T

Loop des Aufstiegs und Fallens, in dem sich die »Mythen von Sisyphus und Ikarus treffen«,21 wie St-John Aubre die von Bolduc hier visualisierten Kreisläufe des (existenziellen) Scheiterns und Neubeginns fasst, liegt jener – allen Widrigkeiten zum Trotz – immer wieder hoffnungsfroh in Angriff genommene »Kampf gegen Gipfel«,22 der die Bergaufstiege von Camus’ Sisyphos mit Don Quijotes Gefechten gegen Windmühlen und Hammelherden verbindet. Dass letztlich Illusionen das menschliche Hoffen und Handeln beflügeln, bleibt als essenzielles Drehmoment auch dieser Arbeit der Künstlerin bestehen.

Doppelt kodierte Trugbilder Speziell in Bolducs Rauminstallationen und skulpturalen Objekten, in denen bevorzugt Objekte und Werkstoffe aus Nippesläden und Baumärkten sowie ephemere Licht-, Rauch- und Geräuscheffekte zum Einsatz kommen, werden Schönheit, Glanz und Kostbarkeit als potenziell anfällige, flüchtige Trugbilder enttarnt: »Eine Wolke der Desillusionierung umhüllt einen Teil des Werks der Künstlerin, das a priori spielerisch und fabulös wirkt.«23 Die optische Verlockung des Zauberhaften kippt ins Dunkle, Abgründige oder wird in ihrer Hinfälligkeit, Unberechenbarkeit und Banalität sichtbar.24 Doch auch wenn Bolduc die Illusion als Fiktion enttarnt und die Kunst selbst mit literarischen Erfindungen gleichsetzt,25 entzieht sie ersterer dabei nicht den Boden, sondern setzt deren verführerisches Potenzial immer wieder bewusst und mit voller Wirkung ein. In einer ihrer früheren Arbeiten, Affectionland (Land der Zuneigung) aus dem Jahr 2000, hat die Künstlerin Artikel aus dem Schnäppchenladen zu einem magischen Stillleben in der Anmutung einer von Neuschwanstein nach Disneyland exportierten Schlossanlage drapiert. Durch gezielte Lichtführung wird deren latent ominöse Schattensilhouette an die Wand geworfen, die an die dramatischen Schatteneffekte in Stummfilmklassikern wie Nosferatu (1922) von Friedrich Wilhelm Murnau (1881-1931) ebenso denken 21 22

23 24 25

Vgl. St-Jean Aubre in: Bolduc 2012, S. 243. Albert Camus: Der Mythos des Sisyphos, Dt. und mit einem Nachwort von Vincent von Wroblewsky [Neuübers. n. d. 1965 in der ›Bibliothèque de la Pléiade‹ erschienenen Fassung von Le Mythe de Sisyphe, Paris 1942], Reinbek bei Hamburg 2012 [2000], S. 145. Vgl. St-Jean Aubre in: Bolduc 2012, S. 238. Vgl. ebd. Vgl. Bolduc, zit. in: Goyer-Ouimette, in: ebd., S. 63.

113

6 |  LUFTSCHLÖSSER UND K ARTENHÄUSER

lässt wie an die von Murnau und anderen Vorbildern der Film-, Kunst- und Literaturgeschichte geprägte Comic-Ästhetik Walt Disneys.26 Das auf den ersten Blick kunstvoll-elegante Arrangement, das zudem noch auf mobiler Fläche wie ein »Traum zum Mitnehmen«27 platziert ist, trügt. Auf den zweiten Blick ist zu erkennen, dass die Assemblage tatsächlich aus KunststoffPerlensträngen, dekorativen Glasgefäßen und weiteren Haushaltsgegenständen besteht. Der Behälter eines Reinigungsmittels namens Fantastik wurde als ironisches Attribut in das Ensemble integriert. Anhand von profanen Stoffen wie Plastik, das Roland Barthes als »die erste magische Materie« beschrieben hat, »die zur Alltäglichkeit bereit« sei,28 schuf Bolduc hier eine durch ästhetische Alchemie zur poetischen Phantasmagorie transfigurierte Zauberwelt. Gleichwohl geht es dabei ebenfalls wieder um Sichtbarmachung der Kehrseite des schönen, flüchtigen Scheins. Wie Geneviève Goyer-Ouimette in der von ihr zusammengestellten Bolduc-Monografie von 201229 erläutert, kommt gerade in Affectionland das von der Künstlerin vielfach aufgegriffene Motiv der »romantischen Enttäuschung« zum Tragen: Durch Liebesschmerz inspiriert, enthält diese Installation sowohl ›Idealisierung‹ (die Silhouette des Schlosses) und ›das Wirkliche‹ (die Ansammlung diverser Gegenstände), die sich gegenseitig konfrontieren und ›Entzauberung‹ heraufbeschwören. Man sieht hier kein in Tränen aufgelöstes Paar, noch einen direkten Verweis auf eine Beziehung zwischen Liebenden, doch gelingt es der skulpturalen Projektion, uns vor Augen zu führen, was hinter den Kulissen liegt, und uns in jenes Gebiet jenseits der Grenze mitzunehmen, von dem aus es kein Zurück mehr gibt und in dem die Träume zerfallen.30

26

27 28 29 30

114

Vgl. zum »Motiv des übergroßen Schattens« bei Walt Disney nach Vorbildern wie Murnau, Robert Wiene, Fritz Lang und anderen: Bruno Girveau, Jenseits des Spiegels: Literatur und Film bei Walt Disney, in: Walt Disneys wunderbare Welt und ihre Wurzeln in der europäischen Kunst, Ausst.-Kat. (Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung, München; Helsinki City Art Museum, Helsinki: 2008/2009), hrsg. v. Bruno Girveau; Roger Diederen, München 2008, S. 59. Bolduc in einem Telefongespräch mit der Autorin, 1. Mai 2008 [Übers. d. Autorin]. Barthes 1964, S. 81. Die als dritter Teil einer mehrteiligen Ausstellung der Künstlerin konzipierte Publikation wurde von Goyer-Ouimette kuratiert (vgl. Crédit / Credits in: Bolduc 2012, s. p.). Vgl. Goyer-Ouimette in: Bolduc 2012, S. 63 [Übers. d. Autorin].

C AT H E R I N E B O L D U C S A N FÄ L L I G E ( D E S - ) I L L U S I O N S K U N S T

In diesem Raum der Enttäuschung und Entzauberung, die stets hinter dem Sehnsuchtsbild aus »Erscheinungen und gescheitertem Verlangen«31 lauern, liegt der Kern von Bolducs aktualisierter, in unserer heutigen Welt umspannenden Konsumkultur verankerten Thematisierung der Vanitas. Diese spielt sich an der Marge zwischen potenzieller Erfüllung und potenziellem Scheitern ab, an der sich »Gefährlichkeit und Verführung«32 die Waage halten: dort, wo die Träume Gestalt annehmen und sich zugleich wieder auflösen, an einem heterotopischen Ort »außerhalb aller Orte«,33 der einer eigenen Zeitrechnung folgt und somit zu einer »Heterochronie«34 wird. In jener Eigen- oder Außerzeitlichkeit aber sieht St-Jean Aubre das spezifische Spannungsmoment von Bolducs Umgang mit Vergänglichkeit: Während die symbolische Humanisierung von Konsumgütern die Strategien der traditionellen Vanitas bedient – und die Betrachter an ihre Vergänglichkeit erinnert –, ist das eigentlich Beunruhigende an Bolducs Arbeiten, inwieweit die ständige Präsenz von Süßigkeiten, Blumen und anderen einstmals organischen Motiven, aus denen sie bestehen, der Zeit enthoben zu sein scheint. Dem Betrachter wird seine Fragilität nicht mehr durch Identifikation mit den Gegenständen bewusst, sondern durch einen Vergleich mit ihnen, da sie nicht altern. Eigenartigerweise bringen die Konsumgesellschaft und ihre fortwährenden Produkte gerade in ihrer Eigenschaft als dehumanisiertes Syst­em den Menschen dazu, die Gefährdetheit seiner oder ihrer Existenz zu begreifen.35

Die Endlosschleifen der Konsummaschinerie bringen immer neue Produkte und Begehrlichkeiten hervor, die im alters- und zeitlosen Wiedergängermodus zwischen Sein und Schein kreisen. Bolducs Arbeiten fungieren auf dieser Ebene wie heutige Vanitas-Spiegel, die beides offenbaren: jenes »Prinzip des Warenfetischismus«, das sich laut Guy Debord in Gestalt einer »Beherrschung der Gesellschaft durch ›sinnlich übersinnliche Dinge‹ […] absolut im Spektakel vollendet, wo die sinnliche Welt durch eine über ihr schwebende 31 32 33

34 35

Vgl. Dies., Foreword, in: ebd., S. 16 [Übers. d. Autorin]. Ebd., S. 15. Michel Foucault, Andere Räume [Typoskript eines Vortrages am Cercle d’Etudes Architecturales, Paris, 14. März 1967; dt. in: Idee Prozeß Ergebnis, Berlin 1987], in: Barck u. a., Leipzig 1992, S. 39. Ebd., S. 43. St-Jean Aubre in: Bolduc 2012, S. 241f.

115

6 |  LUFTSCHLÖSSER UND K ARTENHÄUSER

Auswahl von Bildern ersetzt wird«.36 Und die Zartheit des menschlichen Daseins samt der damit einhergehenden Wünsche und Träume, die angesichts des durch die Scheinhaftigkeit des Spektakels verursachten »getäuschten Blicks«37 verfliegen wie Blütenblätter im Wind. Dennoch macht die Künstlerin auch die Resistenz dieser Träume greifbar, der feinstoffliche Impetus, der dem Leben Sinn gibt, Richtung und Ziel. In ihrer gesamten Arbeit demonstriert Bolduc, dass Magie, Traum, Illusion und Phantasiebilder die Realität prinzipiell bevölkern. Sie sind nicht lediglich deren andere Seite, deren Unterfütterung: Sie infiltrieren unsere wachen Momente ebenso wie unseren Schlaf, weil sie auf unsere Wahrnehmung und unsere Auffassung von der Welt einwirken.38

Insofern ist der Blick der Künstlerin auf das Magische, Unbegreifliche untrennbar mit einer ebenso intensiven Betrachtung der Wirklichkeit und der Bedingungen unseres Seins verbunden. »Betrachten, was man nicht betrachten würde, hören, was man nicht hören würde, auf das Banale achten, auf das Gewöhnliche, auf das Infra-Gewöhnliche.«39 Das von Virilio beschriebene künstlerische Vorgehen des belgischen Surrealisten René Magritte (18981967) gleicht der Praxis Bolducs, die Mysterien im Alltäglichen aufzuspüren und unserer schwer fassbaren Sehnsucht nach dem Wundersamen mit der poetischen Kraft einfacher und auch banaler Mittel Gestalt zu geben. »Wir konstruieren uns unsere Illusionen selbst«,40 sagt die Künstlerin. Das, was sie sichtbar macht, ist von daher immer simultan Utopie und antiillusionistisches Gegenstück, eine Evokation des Magischen, die in sich bereits die Auflösung birgt. In ihren Worten: ein Ausdruck »der Verletzlichkeit des Menschen angesichts der unvermeidlichen Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit.«41 Das Scheitern ist in ihren Arbeiten deshalb stets mit eingebaut.

36 37 38 39 40 41

116

Debord 1996, S. 31. Ebd., S. 14. St-Jean Aubre in: Bolduc 2012, S. 243. Virilio 1986, S. 41. Bolduc in einem Telefongespräch mit der Autorin, 1. Mai 2008 [Übers. d. Autorin]. Statement Bolducs, der Autorin am 30. April 2008 per E-Mail zugeschickt [Übers. d. Autorin].

7 |

EXISTENZIELLE L I C H T - U N D S C H AT T E N S P I E L E



Naho Kawabes Sichtbarmachungen des Unsichtbaren […] einmalig und vergänglich wie der Himmel, wie der Morgen […]. Jean Paul Sartre1

W

enn Sonnenstrahlen seitlich durch das Muster einer Spitzengardine fallen, verdichten sich die Lücken im Gewebe für einen Moment zu einem anmutigen Schattenbild. Die filigrane Struktur gewinnt darin an visueller Substanz. Stilisierte Blüten zeichnen sich als dunkle Negativumkehrungen auf Flächen, Wänden, dem Boden ab: ein flirrender Reflex des Lichts, der sich zwischen Anwesenheit und Abwesenheit, Konkretisierung und Auflösung manifestiert. Diese Situation hat die 1976 in Fukuoka, Japan, geborene, seit 2001 in Hamburg lebende Künstlerin Naho Kawabe zu einer offenen, weiterhin im Entstehen befindlichen Serie von fragilen Bodenarbeiten inspiriert. Bei ihren materiellen Umdeutungen flüchtiger Schattenspiele werden die ornamentalen Strukturen von Vorhängen in nicht minder ephemerer Wiedergabe mittels Kohlenstaub nachgezeichnet. Durchlässige florale Draperien aus Second-Hand-Läden, die Kawabe über Jahre hinweg gesammelt hat, fungieren dabei als Schablonen. Durch diese lässt sie den Kohlenstaub sachte hindurchrieseln. Wie schwarzer Schnee oder Blütenstaub setzt sich der puderige Werkstoff in den Leerstellen des Materials ab und hinterlässt auf dem Untergrund schnörkelreiche Umrisse. Ein Windhauch könnte das Bild sogleich verwischen und verfliegen lassen. Doch hat es für die Laufzeit einer Ausstellung oder im fotografischen Dokument, in dem es darüber hinaus eingefangen wird, Bestand. Mittlerweile hat die Künstlerin auch ein Verfahren zur langfristigen Fixierung der Kohlenstaubschatten auf Glas entwickelt. So erhält die in dop1

Jean-Paul Sartre, Die ›Mobiles‹ von Calder. Für den Katalog der Ausstellung Alexander Calder: Mobiles Stabiles Constellations [Paris 1964], in: ders.: Die Suche nach dem Absoluten. Texte zur bildenden Kunst, Schriften zur bildenden Kunst und Musik, Bd. 1, Reinbek bei Hamburg 1999, S. 60.

117

7 |   E X I S T E N Z I E L L E L I C H T - U N D S C H AT T E N S P I E L E

pelter Hinsicht – motivisch ebenso wie materiell – temporelle Manifestation des Spiels von Licht und Schatten Konstanz. In ihrer Arbeit Flüchtiger (2013) erweitert Kawabe dieses Spiel noch zusätzlich durch die Brechung und Vervielfältigung fragmentarischer Kohlenstaub-Motive im schillernden, körperlosen Raum der Spiegelung – Blumenmuster in Rautenform, die sich aus den Flächen eines Würfels ergeben, überlagern und verflüchtigen sich dort zu einer schwebenden geometrisch-kristallinen Wolke-in-Auflösung. Grundsätzlich verwendet Kawabe als Vorlagen für die zarten Kohleabdrucke textile Massenware, die »eher hässlich, kitschig und von minderer Qualität«,2 aber mittels ästhetischer Übersetzung, Verwandlung und Sublimierung – die Künstlerin spricht treffend von einem »Stoff-Wechsel«3 – zu geheimnisvollen (Traum-)Visionen mutiert: ein Effekt, den die spezifische Beleuchtung der Arbeiten durch natürliches oder indirektes Kunst-Licht noch unterstreicht, das die Motive teils wie selbsttätig von innen heraus zum Strahlen bringt. Das immaterielle Phänomen des Lichts, durch das überhaupt erst Sehen und das Erkennen der sichtbaren, objekthaften Wirklichkeit möglich ist, wird in den aus Kohlenstaub generierten Schattenbildern gleichsam dingfest gemacht und simultan in seiner Ungreifbarkeit thematisiert. Mit ihren Kohlearbeiten wollte Kawabe dezidiert auch ein »Gegengewicht« zu ihrem ersten künstlerischen Medium Videofilm setzen: Video arbeitet immer mit dem Medium Licht – Kohle dagegen ist lichtlos, stumpf, stockdunkel, saugt Licht und hat keinerlei Reflexion. Die Dialektik der ›Materialien‹ Video und Kohle beruht darauf, dass Kohle, als ehemaliger organischer Stoff, durch Licht entstanden ist und zugleich die Potenz hat, wieder zu Licht zu werden. Für beide ›Materialien‹ gilt das Stichwort: Energie.4

Das material- oder medienbedingte Spannungsverhältnis zwischen Licht und Dunkel zeigt sich in den Arbeiten der Künstlerin als ein durchgängiges Chiaroscuro-Prinzip, das formal ebenso wie inhaltlich zur Anwendung kommt. Das Dunkle, die Abwesenheit visueller Erscheinungen, wird nicht nur als Kehrseite des Hellen, Lichten, Sichtbaren, sondern als Grundvor-

2 3 4

118

Kawabe in einem Telefongespräch mit der Autorin, 30. Dezember 2012. Vgl. Naho Kawabe im Gespräch mit Elena Winkel, in: Index 11, Ausst.-Kat. (Kunsthaus Hamburg: 2011), hrsg. v. Elena Winkel, Hamburg 2011, S. 48. Ebd.

N A H O K AWA B E S S I C H T B A R M AC H U N G E N D E S U N S I C H T B A R E N

aussetzung für die Entstehung und Wahrnehmung von Bildern in den Fokus gerückt.

Spuren der Begegnung mit dem Licht Die ätherischen, schwarz-weißen Negativbilder der Kohlearbeiten weisen auch wesentliche optische Parallelen zum Medium Film, oder genauer: zum Medium der Fotografie auf. Naho Kawabes feinstoffliche Adaptionen des beiläufigen Schattenspiels eines Vorhangmusters auf einer Wand sind wie Momentaufnahmen kurzzeitig in Erscheinung tretender »Spuren der Begegnung mit dem Licht«,5 wie Thorsten Sadowsky die schwer fassbare Beschaffenheit der Schatten beschrieben hat. Kawabes nachempfundene Lichtspuren entsprechen in dieser Hinsicht auch Roland Barthes’ Definition der Fotografie als ein »durch die Wirkung des Lichts enthülltes, ›hervorgetretenes‹, ›aufgegangenes‹, (wie der Saft einer Zitrone) ›ausgedrücktes‹ Bild«, das als »Emanation des vergangenen Wirklichen« dem Flüchtigen, längst Abwesenden Dauer verleihe. Das Ephemere ist der Fotografie als, in Barthes’ Diktion, »ein vom Wirklichen abgeriebenes Bild« auf essenzielle Weise eingeschrieben.6 Dieser Idee eines »vom Wirklichen abgeriebenen« Bildes gibt die Künstlerin in ihren von Licht kündenden Schattenbildern aus Kohlenstaub subtile haptische Gestalt. Sie stellt darin aber auch immer implizit die Frage nach der Beständigkeit und Verbindlichkeit dieser Realität. In ihren potenziell flüchtigen Kohleabdrucken, in denen die Lücken – also die Leerstellen – in der Textur des ornamentalen Gewebes zur Abbildung kommen, geht es nicht zuletzt um die »Sichtbarmachung des Unsichtbaren«:7 ein ästhetisches Leitmotiv, das sich durch ihr zwischen Licht und Schatten changierendes Werk hindurchzieht. Die »Grauzone, das Dazwischen, wo das eine ins andere umschlägt«,8 ist auch Austragungsort ihrer Videoinstallation fall, float evenly von 2010. Hier geht es erneut um eine Visualisierung des Ephemeren: in diesem Fall verkörpert durch die Erscheinung wirbelnder Schneeflocken, die Kawabe gegen einen nächtlichen Himmel mit einer Dreifarbenkamera aufgenommen hat. Das ursprüngliche Bild von weißen Schneeflocken vor schwarzem Grund wurde in die drei Grundfarben des Lichts – Rot, Grün und Blau – 5 6 7 8

Sadowsky in: Andersen 2005, S. 19. Vgl. Barthes 1989, S. 91, 99 und 126. Kawabe in einem Telefongespräch mit der Autorin, 30. Dezember 2012. Ebd.

119

7 |   E X I S T E N Z I E L L E L I C H T - U N D S C H AT T E N S P I E L E

getrennt. Die fallenden Schneeflocken treten in der Installation auf nebeneinander montierten Videofeldern in verschobener, abstrahierter, farblich variierender Bewegungsfolge auf. Die Künstlerin evoziert anhand eines Naturereignisses das technische Störbild des »snow noise« aus der instabilen Ära des analogen Fernsehens. Damit wirft sie nicht nur einen Fokus auf das oszillierende Terrain der Wahrnehmung – auf dessen Tücken ebenso wie auf Möglichkeiten von dessen Erweiterung. Ähnlich wie bei den Kohlearbeiten verbindet sie in fall, float evenly ein natürliches Phänomen und dessen künstlerische Nachempfindung zu einer Auseinandersetzung mit dem Wesen des Flüchtigen per se, das sich im schillernden Wechselspiel von Licht und Schatten, Gegenstand und Abbild für Augenblicke offenbart.

Zwischen Werden und Vergehen Um die existenzielle Dimension des Schattenspiels kreist buchstäblich die Installation cosmic but unfair # 2 von 2011. Rund 80 Kugeln in unterschiedlichen Größen, Farben und Materialien ballen sich in scheinbar zufälliger Konstellation zu einem planeten- oder atomartigen Konglomerat, das an unsichtbaren Fäden von der Decke hängt und vom Luftzug leicht in Bewegung versetzt wird. Eine Lichtquelle leuchtet die Kugeln von hinten an, wodurch ihr Schattenbild an die Wand geworfen wird: Aus der vermeintlich chaotischen Ansammlung bildet sich das Wort »HELP!« Hier hat Kawabe die prinzipielle Unbehaustheit des Menschen, der gleichsam im freien Fall durchs Universum fliegt, poetisch zum Ausdruck gebracht: »Wo sind wir letztlich in Raum und Zeit – oder: transportiert das Thema der Ortlosigkeit nicht über alle Gegenwart hinweg die Frage nach Existenz?«9 Diese Arbeit war auch Bestandteil einer Ausstellung der Künstlerin 2011 in Tokio, die gerade in Japan weilte, als die Tsunami-Katastrophe ihr Heimatland erschütterte. In den Nachrichten sah sie zu ihrer Bestürzung festsitzende Flutopfer, die versuchten, durch einen mit ebenjenem Begriff »HELP!« beschrifteten Banner Rettungskräfte auf sich aufmerksam zu machen: ein Bild, das im Nachhinein ihre Installation mit einer zusätzlichen, höchst akuten Deutungsebene auflud.10 In diesem Licht gesehen, verweist der körper9 10

120

Naho Kawabe im Gespräch mit Elena Winkel, in: Winkel 2011, S. 49. Kawabe in einem Telefongespräch mit der Autorin, 30. Dezember 2012. Vgl. dazu auch: Aomi Okabe im Gespräch mit Naho Kawabe, in: Naho Kawabe. Observer Effect, Ausst.Kat., dt./jap./engl. (Trittauer Wassermühle, Trittau: 2013), hrsg. v. d. Kulturstiftung Stormarn der Sparkasse Holstein, Berlin 2013, S. 104-120, hier: S. 110.

N A H O K AWA B E S S I C H T B A R M AC H U N G E N D E S U N S I C H T B A R E N

lose und zugleich von kollektiven Körpern erzeugte Hilferuf auf das Drama des Überlebenskampfs schlechthin, dem sich Menschen auf der ganzen Welt tagtäglich stellen müssen. Doch kommt darin auch die Energie zum Ausdruck, die aus kollektivem Zusammenwirken zu erwachsen vermag. Die Strukturen des Daseins, in denen wir uns bewegen, sind, so zeigt die Künstlerin, ebenso fragil wie die Häuser, die wir bewohnen und in denen wir uns heimisch zu machen suchen – letzteres prägnant in Kawabes frühem Video Sugarhouse von 2004 vor Augen geführt, in dem ein weißes Zuckerhaus von der roten Flüssigkeit, die es im hellen Umraum erst sichtbar werden lässt, zerstört wird. Vor dem Hintergrund der Tsunami-Katastrophe in Japan befasste sich die Künstlerin während ihres Aufenthalts dort im März 2012 noch einmal konkret mit der Fragilität menschlicher Behausungen in einem ständig durch Naturgewalten bedrohten Environment, in dem Erdbebengefahr zum Alltag gehört. Sie fotografierte Häuser in der Präfektur Miyagi, die durch die Auswirkungen des Tsunami stark beschädigt worden waren und fasste sie in der Serie Blaues Terrain (Miyagi 2012) zusammen. Gebäude unterschiedlicher Größe und Machart sind darin abgebildet, die allesamt schwere Spuren der Verwüstung zeigen. Im September desselben Jahres entstanden zusätzlich Videoaufnahmen einer mit der Kamera aus dem Auto erfassten, fast restlos zerstörten kleinen Hafenstadt in Miyagi. In seiner Betrachtung der Ruine als Sujet in Kawabes Arbeiten zeigt Ludwig Seyfarth auf, dass die Künstlerin die von Menschen erbauten, potenziell gefährdeten Strukturen einerseits sichert. Und andererseits den Fokus auf die zyklischen Prozesse einer sich immer wieder regenerierenden Natur richtet, die »sich das freigewordene Terrain zurück« erobert:11 Naho Kawabe interessiert sich für die teilweise unscheinbaren Prozesse, langsamen Veränderungen, die in einem sowohl physischen wie auch zeitlichen Kontrast zur massiven Wucht der Katastrophe stehen. Und Kawabe fängt ein, was in wenigen Jahren vielleicht völlig verschwunden sein wird.12

Die Bilder des Vergehens und der zeitgenössischen Ruinenlandschaften, in denen auch Zeichen natürlicher Neubelebung sichtbar werden, wie Seyfarth mit Bezug auf Kawabes filmischer Bestandsaufnahme vom Herbst 11 12

Ludwig Seyfarth, Wie Blätter im Wind. Die Ruinen im Werk von Naho Kawabe, in: ebd., S. 67. Ebd.

121

27  Naho Kawabe, Sealed!,

2011, Boden-Installation (Detail), Kohlestaub, Spotlight, 200 x 350 cm

28  Restrict, 2014, Boden-

Installation (Detail), Kohlestaub, 350 x 1000 cm Linien: Grenzlinien, 2011 und 2014, der Evakuierungszone in Fukushima

29  Naho Kawabe, cosmic but unfair #2, 2011, Video-Installation (Detail), versch. Materialien, Dimensionen variabel

30  Naho Kawabe, Blaues Terrain, Miyagi, 2012, C-Print, 30 x 40 cm

7 |   E X I S T E N Z I E L L E L I C H T - U N D S C H AT T E N S P I E L E

2012 hervorhebt, sind damit nicht nur Zeugnisse des Vergangenen, nicht mehr Vorhandenen, sondern auch Dokumente des Entstehens und der organischen Erneuerung, wobei die materiellen Rahmungen und Refugien des Menschen keinen Ewigkeitsanspruch haben, vielmehr – wie dieser selbst – temporär sind. Die Ruine ist nicht nur Anlass für die Meditation über die Vergangenheit oder die Vergänglichkeit schlechthin, sondern Ausdruck des Transitorischen, des Überganges von einem Zustand in einen anderen. Sie ist nicht das Bleibende im ewigen Kreislauf des Vergehens, sondern selbst etwas Flüchtiges, das verschwinden wird.13

Die prekäre Instabilität des Seins, die in unseren labilen, von einer unberechenbaren (Außen-)Welt gefährdeten menschlichen Gehäusen zum Tragen kommt, setzt sich als Thema in weiteren Licht- und Schattenspielen der Künstlerin sowie in ihrer Beschäftigung mit territorialen und anderen Formen der Grenzziehung fort.

»Der Blick ist die Neige des Menschen« Mit besonderer lyrischer Intensität hat sich Kawabe mit dem ephemeren Wesen unserer irdischen Präsenz in der Installation Optiker von 2014 befasst, die nach dem gleichnamigen Aphorismus von Walter Benjamin benannt ist und ein Fragment aus dessen Schlusssatz zitiert: »DIE NEIGE DES MEN­ SCHEN «.14 Diese in ihrer Bruchstückhaftigkeit noch vielfältiger lesbaren Worte, die auf den profunden Kern des Menschen zu deuten scheinen und die Frage aufwerfen, was von diesem am Ende übrig bleibt, tauchen nacheinander als Schattenrisse an der Wand auf. Stück für Stück von einem beweglichen Licht angestrahlt, setzen sich die Worte nach dem Prinzip der Raumarbeiten cosmic but unfair # 2 von 2011 und Why (hier wird das Wort »Why« in Großbuchstaben an die Wand geworfen) desselben Jahrs erneut aus einem filigranen Konglomerat von Kugeln in verschiedenen Größen und Farben zusammen, die an feinen Fäden von der Decke hängen und von einer weiteren, anders positionierten Lichtquelle zusätzlich erhellt werden. Die in graziler Bewegung befindlichen Kugeln vermitteln jene dispersive, 13 14

124

Ebd., S. 68. Der vollständige Satz lautet: »Der Blick ist die Neige des Menschen.« (Vgl. Walter Benjamin, Optiker, in: ders., Einbahnstraße, Frankfurt/Main 1962 [1928], S. 83).

N A H O K AWA B E S S I C H T B A R M AC H U N G E N D E S U N S I C H T B A R E N

fragile Eigenschaft, die Jean-Paul Sartre in seiner Beschreibung der Mobiles von Alexander Calder mit »den Blütenblättern der Mimose […], dem Altweibersommer, der vom Wind getragen wird«15 verglich. Die Installation Optiker nimmt implizit aber auch Bezug auf Kawabes frühere Auseinandersetzung mit dem Philosophen und Kulturkritiker Walter Benjamin, dessen Route auf der Flucht vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten von Frankreich über die Pyrenäen nach Spanien im Jahr 1940 die Künstlerin in ihrer Videoarbeit Der Weg (2008/2009) nachgegangen ist.16 Die vorwiegend auf den steinigen Pfad, punktuell auf die Umgebung gerichtete Kamera evoziert mit explizit unruhigen, verrutschten Bildern und Kawabes stoßartigen Atemgeräuschen den beschwerlichen Gang Benjamins durch das Gebirge. Neben einleitenden schriftlichen Erinnerungen der Fluchthelferin Lisa Fittko von 1940/41, unterfüttern Texte Benjamins den Film, der jäh an einem Felsvorsprung endet, unter dem in der Tiefe die Fluten des Mittelmeers brodeln: Standort von Dani Karawans Gedenkstätte Passagen (1994), die an Benjamin erinnert, der sich am 26. September 1940 nach missglückter Flucht verzweifelt im spanischen Portbou das Leben nahm. Wie Waltraud Brodersen in ihrer Analyse von Kawabes Der Weg und den darin verhandelten Motiven der »Grenzen, Wege und Wasser« bemerkt: Die Metapher des in steter Bewegung obsiegenden Wassers am Ende des Lebenswegs verweist sowohl in verästelte Denkbahnen der deutschen Exilliteratur als auch in historisch, philosophisch und geografisch weit verbreitete Modelle von Gesellschaft, Natur und Geschichte.17

Brodersen sieht indes in Der Weg nicht nur eine Verbindung zum weiter gefassten Sinnbild von Heimatverlust, das hier wieder in eine größere existenzielle Thematik mündet. Sie macht auch auf den »Zusammenhang zwischen Wasser und Grenze« und der durch die japanischen Wurzeln der Künstlerin geprägten »Erfahrung ihrer Herkunft aus einem von Weltmeeren umgebenen Inselstaat« aufmerksam, wo »die Horizonte jenseits des Wassers« liegen.18 Kawabe selbst hat insbesondere die Grenze als biografisch 15 16

17 18

Sartre 1999, S. 62. Der rund fünfstündige Weg durch die Berge vom französischen Banyuls ins spanische Portbou, den Walter Benjamin am 25./26. September auf der Flucht vor den Nationalsozialisten nahm, ist in Kawabes Videoarbeit auf eine 30-minütige Zeitspanne reduziert. Waltraud Brodersen, Naho Kawabe – Grenzen, Wege und Wasser, in: Kawabe 2013, S. 51. Ebd.

125

7 |   E X I S T E N Z I E L L E L I C H T - U N D S C H AT T E N S P I E L E

verankertes zentrales Thema in ihrem Werk akzentuiert: »In Japan haben wir keine Grenzlinie, weil das Land eine Insel ist.«19 In vielen ihrer Arbeiten erforscht sie Grenzziehungen, denen sie in Deutschland mit der ehemaligen Berliner Mauer in Form eines einstmals konkret gebauten gesellschaftspolitischen Vehikels der Teilung und Trennung begegnete, als Demarkationen zwischen Zuständen, Perspektiven und Wahrnehmungen, die auch unsichtbar verlaufen können.

Entgrenzte Grenzziehungen Um die Frage nach der Materialisierung des Immateriellen kreist auch die Videoarbeit Pendule des Pyrénées (Pendel der Pyrenäen) von 2013, die noch einmal Benjamins Fluchtweg durch das französisch-spanische Grenzgebiet in den Bergen aufgreift und im Verlauf des zweiten Gangs der Künstlerin über die Pyrenäen neben einer Serie von Fotografien entstanden ist. Hier nun ist die Kamera von einem festen Standort aus auf den optisch nicht wahrnehmbaren Übergang in der Landschaft zwischen Frankreich und Spanien gerichtet, der für Benjamin den überlebenswichtigen Unterschied zwischen akuter Gefahr und Hoffnung auf Rettung markierte: »Obwohl es keine sichtbare Trennung oder Veränderung in der Landschaft zwischen den beiden Ländern gibt«, schreibt Sachiko Shoji zu dieser Arbeit, »hatte die Linie die Macht, sich Menschen in den Weg zu stellen und deren Leben völlig zu verändern.«20 Kawabe hat mit der Hand die Kamera wie ein Pendel von einer Seite dieser unsichtbaren Linie auf die andere hin und her geschwenkt: »Zur einen Seite sieht man Frankreich, zur anderen Spanien, also genau den Ort, an dem der Übergang über die unsichtbare (›grüne‹) Grenze stattgefunden hat und heute noch stattfindet.«21 Grenzlinien, die auf andere Weise Symbolcharakter besitzen, stehen im Mittelpunkt der Bodenarbeiten Borders and Flowers (Evacuation zone in Fukushima 2011) und Restrict von 2014. Kawabe variiert darin das ephemere Medium des Kohlenstaubabdrucks, der als dunkles florales Feld von halben konzentrischen Bögen aus gestrichelten Linien durchschnitten wird. Die trügerisch anmutige ornamentale Fläche symbolisiert das Areal im Umkreis 19 20

21

126

Kawabe im Gespräch mit der Autorin, Hamburg 12. März 2015. Sachiko Shoji, Kawabe Naho, in: In Search of Critical Imagination, Ausst.-Kat. (Fukuoka Art Museum: 2014), jap./engl., hrsg. v. Fukuoka Art Museum, Fukuoka 2014, S. 7 [Übers. d. Autorin]. Kawabe in einer E-Mail an die Autorin, 21. April 2015.

N A H O K AWA B E S S I C H T B A R M AC H U N G E N D E S U N S I C H T B A R E N

von Fukushima, wo 2011 der verheerende Reaktorunfall eine Atomkatastrophe auslöste. Die gestrichelten Linien stehen für die problematische Grenzziehung zwischen mehr oder weniger atomar verseuchten Zonen im Umfeld des Atomkraftwerks. »Wie lässt sich eine Gefahrenzone definieren?«, fragt die Künstlerin. »Eine Grenze kann Strahlung nicht stoppen. Wenn ich mit einem flüchtigen Material wie Kohlenstaub eine Grenze ziehe, stelle ich damit auch die Frage, was eine Grenze überhaupt ist.«22 Das von Blumenmustern durchzogene Kohlenstaubfeld, das die Evakuierungszone in Fukushima repräsentiert, signalisiert wiederum die Natur, die sich durch menschliche Grenzziehungen weder zähmen noch reglementieren lässt. »Natur versus die industrielle Welt«:23 Kawabe stellt implizit das eine dem anderen gegenüber. Pflanzliches Wachstum bricht sich immer wieder Bahn, wie auch in ihren Bildern von zerstörten Häusern 2012 in Miyagi: »Blumen und Pflanzen überschreiten jede Grenze.«24 Auf der anderen Seite bleibt die Horizontlinie, die virtuelle Grenze zwischen Himmel und Erde, wie die in sprunghaft versetzter Rahmung präsentierten floralen Kohlenstaubansichten der Arbeit Horizon never lurches # 2 (2014) belegen, selbst bei Wechsel des Standpunkts als fester Parameter der Orientierung bestehen. Übereinandergelegte Scherenschnitte von Umrissen der einst beziehungsweise noch immer geteilten Länder West- und Ostdeutschland sowie Nord- und Südkorea (Zwei zweigeteilte Länder, 2015) erweitern sich zu den Kontinente überspannenden Konturen von Migrationsrouten der Vögel auf ihren Langstreckenflügen Richtung Süden (Routes of migratory, 2015). Die unregelmäßigen, kringelig-eigengesetzlichen Kreisverläufe der Migra­ tionsrouten, die sich in der künstlerischen Umsetzung in Form schmaler bunter Papierbänder überlappen, vereinen wesentliche Themen Kawabes und führen in analogischer Sinndeklination vom Flüchtigen zum Fliehenden und von der Flucht zum Flug, dem das Flüchtige wiederum inhärent ist. Kawabe sieht sich als Fremde zwischen den Orten und Kulturen selbst in einer »flüchtigen, sehr instabilen Situation«,25 die nicht zuletzt in ihren Arbeiten immer wieder Niederschlag findet. Die persönliche Perspektive öffnet sich dabei stets hin zum größeren Bild der Conditio humana, demzufolge – wie im Titel ihrer auf Albert Camus’ L’étranger (1942) beruhenden 22 23 24 25

Kawabe im Gespräch mit der Autorin, Hamburg 12. März 2015. Ebd. Ebd. Ebd.

127

7 |   E X I S T E N Z I E L L E L I C H T - U N D S C H AT T E N S P I E L E

Wandarbeit We are Strangers! (2012) – wir alle Fremde sind. Kawabe hat aus einer englischsprachigen Fassung von Camus’ Klassiker alle »I«-, also »Ich«Pronomen herausgefiltert und in ein feines Gespinst aus Leinenfäden verwoben: Das isolierte »Ich« ist per se fremd in der Welt. Doch in der Familie der Fremden findet es vorübergehend Halt. In ihren Arbeiten führt Kawabe auf multiplen Ebenen vor Augen, dass das Flüchtige – Prozess und Wandlung, die Wechselwirkung zwischen Anund Abwesenheit, Grenzziehung und Entgrenzung – die quintessenziellen Energien unseres Daseins sind. Die Künstlerin »zeigt uns die Welt gleichsam in einem anderen Aggregatzustand: nicht in ihrer physischen Festigkeit, sondern im Transitorischen, Flüchtigen.«26 Dass diese Selbst- und Welterfahrung etwas zutiefst Prekäres in sich birgt, steht außer Zweifel. Doch auch der Blick selbst ist nicht frei von Risiko, wie Kawabe bezugnehmend auf den für ihren künstlerischen Ansatz zentralen »observer effect«27 ausgeführt hat: »Die Transformation von etwas Unsichtbarem in etwas Sichtbares ist eine Art Vandalismus, und unserem Blick wohnt die Gefährlichkeit inne, Gegenstände zu verändern.«28 Diese transformierende Kraft des Blicks findet ihr Gegenstück in ihrer Interpretation von Benjamins Aussage, dass der Blick »die Neige des Menschen« sei: »Wenn ich etwas aktiv sehe, dann lasse ich einen kleinen Teil von mir zurück.«29 Die vielfältige Dialektik, die den Arbeiten der Künstlerin innewohnt, ist insofern keineswegs nur materialspezifisch, sondern auch im Sinne einer ästhetischen Strategie zu verstehen. In ihrer Synthese von Positiv- und Negativ-Ansichten, wird der Schatten, »Sinnbild für alles, was flüchtig ist«,30 als Kehrseite, ständiger Begleiter und »Negativform des Lichts«31 zur Vermittlungsinstanz zwischen den Polen des Werdens und Vergehens. Dabei zieht Naho Kawabe unseren Blick auf die Zeichen, die sich momenthaft im Zwischenraum niederschlagen wie eine Spur im Schnee, eine Blütenranke im Kohlenstaub oder die Silhouette eines Wortes an der Wand. 26 27

28 29 30 31

128

Seyfarth in: Kawabe 2013, S. 68. Das Phänomen, das in den Feldern der Physik sowie den Informations- und Sozialwissenschaften bekannt ist, beschreibt die Dynamik, dass ein Gegenstand durch den Prozess der Betrachtung verändert wird. Kawabe hat den von ihr ästhetisch interpretierten Begriff als Titel ihrer Ausstellung 2013 in der Trittauer Wassermühle, Trittau, und der begleitenden Publikation verwendet. (Vgl. Kawabe 2013). Vgl. Kawabe, zit. nach Shoji in: Critical Imagination 2014, S. 77. [Übers. d. Autorin]. Kawabe im Gespräch mit der Autorin, Hamburg, 12. März 2015. William Henry Fox Talbot zit. nach Belting 2011, S. 185. Kawabe in einem Telefongespräch mit der Autorin, 30. Dezember 2012.

8 | I M S C H W E B E Z U S TA N D

Ena Swanseas verschleierte Zwielichtzonen … There is a veil covering reality which we cannot see – then one might as well paint the veil. Ena Swansea1

N

ach dem Schneefall legt sich fahles Winterlicht über Wege, Bäume, urbanes Gelände. Die Erscheinungen verkehren sich wie in einem Negativbild: Das, was sonst dunkel ist, wird hell, scharfe Konturen werden weich, Farbkontraste fächern sich in feinste Weißschattierungen auf. In dieser invertierten Parallelwelt, die zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, An- und Abwesenheit oszilliert, kommt der Strom des Alltäglichen vorübergehend zum Erliegen. Die 1966 in Charlotte, North Carolina, geborene, seit Mitte der 1980er Jahre in New York lebende Künstlerin Ena Swansea hat in ihrer Malerei wiederholt verschneite Stadt- und Parklandschaften dargestellt. Zu ihren teils mehrfach variierten winterlichen Szenen gehören vereiste Kai- und Pfostenanlagen am Meeressaum und am Hudson River (u. a. frozen ocean, 2006; 14th St pile field, 2013; 2014; pile field, 2015), von Bäumen flankierte Wege mit schemenhaften Personen (E 73rd, 2006; 2015; snow at night 2, 2014), Straßen mit parkenden oder sich nähernden Autos unter schneeumhülltem Astgeflecht (4 seasons – 4, 2007; snow on 5th Avenue, 2011, snow on 16th St, 2011; 2014), ortlose Skipisten mit solitären Figuren (snow at night, 2013; he wrote the lyrics while skiing, 2013) und die Ansicht eines seltenen Wintereinbruchs in ihrer südlichen Heimatstadt Charlotte (snow in Charlotte, 2011).2 Die rege Beschäftigung mit Schnee und Eis entspringt dem ursprünglichen Interesse der Künstlerin, »Wasser zu malen«, das im nächsten Schritt 1

2

Ena Swansea in einem Telefongespräch mit der Autorin, 31. Oktober 2011, zit. in: Belinda Grace Gardner, Ena Swansea – Trojan Horses: Reflections of the Ephemeral, in: Psycho. Ena Swansea / Robert Lucander, Ausst.-Kat., dt./engl. (Deichtorhallen/ Sammlung Falckenberg, Hamburg: 2011/2012), hrsg. v. Dirk Luckow, Köln 2011, S. 30 [Übers. d. Autorin]. Die Arbeiten sind stellvertretend genannt, da die Künstlerin, wie erwähnt, durchgängige Themen ihres Werks teils seriell in verschiedenen Fassungen realisiert und auch nach längeren zeitlichen Abständen wiederaufgreift.

129

8 |   I M S C H W E B E Z U S TA N D

zur Visualisierung von »gefrorenem Wasser« führte.3 Das Phänomen Schnee ist der gebürtigen Südstaatlerin trotz ihres mittlerweile langen Aufenthalts in New York nicht ganz geheuer: »Schnee ist sehr ephemer. Er ist gefährlich und Furcht einflößend. Für mich hat die Vorstellung von Schnee nichts Friedliches, sondern etwas Bedrohliches und birgt Schrecken.«4 Dieser Wahrnehmung entsprechend steht Schnee in seiner anfälligen, vergänglichen Materialität nicht nur für physische Unberechenbarkeit und Fragilität, sondern auch für eine optische Täuschung – eine Hülle oder Maskierung, die die Tatsachen verdeckt und hinter dessen blendender Helligkeit potenziell dunkle Abgründe lauern. Die zarten Grisaille-Nuancen winterlicher Lichtbrechung setzen sich in sommerlichen Ansichten fort. Im Doppelbild fifth avenue von 2005 ist eine weibliche Figur als Rückenansicht nebst entgegenschreitendem Passanten mal in irisierend-farbkräftiger Kleidung auf weiß getönter Straße, mal in Gestalt einer winterlich anmutenden Doppelgängerin in hellgrauer Negativ-Spiegelung zu sehen. In ausschnitthaften Hochzeits- und Gartenfestszenen wiederum strahlen lichte Schleier und Gewänder in dämmriger Sphäre wie Schnee in der Nacht. Swansea, deren Werke auf selbst aufgenommenen Fotografien beruhen, ist eine Malerin der Schwebezustände und der Ambivalenzen. Im Halbdunkel ihrer Bilder, in denen die »Spuren […] des Pinsels oft eher auf die Leinwand gehaucht als geschoben zu sein scheinen«,5 lösen sich die Gewissheiten wie in verschneiter Landschaft auf. Ihre Szenarien gleichen Traum- oder Nachbildern, die sich an den Rändern der Wahrnehmung flüchtig manifestieren. Wie in Zwielicht getaucht wirken ihre dunklen Darstellungen, die beinahe ohne Farbe auszukommen scheinen. Diese Wirkung entsteht durch Ena Swanseas spezielle Malweise, deren Basis ein spezielles Graphitgemisch bildet, mit dem die Leinwand zunächst in mehreren Schichten grundiert wird. Auf diesem Malgrund lässt die Künstlerin dann in hochlöslichen Ölfarben ihre Sujets entstehen. Diese Vorgehensweise begründet die transparent-durchscheinende und unwirkliche Atmosphäre der Werke […].6 3 4 5 6

130

Ena Swansea in einem Telefongespräch mit der Autorin, 31. Oktober 2011 [Übers. d. Autorin]. Ebd. Vincent Katz, Ena Swansea at Robert Miller, in: Art in America, New York, Juni 1999, s. p. [Übers. d. Autorin]. Julia Haußmann, Ena Swansea, in: Zurück zur Figur – Malerei der Gegenwart, Ausst.-

E N A S WA N S E A S V E R S C H L E I E R T E Z W I E L I C H T ZO N E N

Der Aspekt des Trügerischen, des Schleiers, der sich über die Wirklichkeit legt und die klare Sicht auf die Welt stört oder überlagert, zieht sich durch Swanseas Arbeiten hindurch, in denen, wie der Kunstkritiker Adrian Dannatt her­vor­gehoben hat, auch verschiedene »Zeitlichkeiten«7 zum Tragen kommen.

Flüchtige Lichtspiele Dieser temporale Aspekt zeigt sich spezifisch in den seriell angelegten, mehrfach aufgegriffenen Motiven der »pile fields« (Konglomerate von Holzpfosten im Hudson River, die als Stützen einstiger Bootsanlegestellen dienten, heute Teil des Hudson River Parks in Manhattan) und der »haystacks« (Heuballen) sowie in der Gruppe der »backlit waves« von 2012 (Wellen im Gegenlicht, laut einiger der Bildtitel am Strand von Los Angeles). In der Gruppe 21st century haystack 1– 4 von 2008, der weitere Heuballen-Bilder folgen, türmen sich wandartig aufgeschichtete Strohbündel mal unter schweren Wolken, mal unter sommerlich blauem Himmel, mal im Morgengrauen. Sonnenlicht zeichnet deren Silhouetten nach, strahlt durch sie hindurch, verliert sich im Schattenwurf. Die Serie 14 St pile field (das Bildmotiv tritt nach 2010 insbesondere 2013 und 2014 mehrfach in verschiedenen Fassungen auf ) zeigt das Gewässer des Hudson Flusses bei Mondschein, in eisiger Erstarrung im Winter oder sich sachte, von hellen Nuancen durchwirkt, an den Holzpfählen der früheren Landestege brechend. Swansea dekliniert diese Sujets im Stil der impressionistischen Serien von Claude Monet (1840–1926) im Wechsel der Tages- oder Jahreszeiten durch. In ihrem Artikel über die historische Dimension in Swanseas Werk bescheinigt Ute Thon der Künstlerin »augenzwinkernde Verweise auf die Kunstgeschichte«8 und hebt zugleich deren Aktualisierung durch eine gleichsam filmische Umsetzung der Zitate hervor:

7

8

Kat. (Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung: 2006; museum franz gertsch, Burgdorf: 2006/2007), hrsg. v. Christiane Lange; Florian Matzner, München/Berlin/London/ New York 2006, S. 184. Vgl. Adrian Dannatt, Image Alchemy, in: artnet Magazine, 3. Februar 2007, unter: http://www.artnet.com/magazineus/reviews/dannatt/dannatt3-2-07.asp. (12. Okt. 2016) [Übers. d. Autorin]. Ute Thon, Schatten der Vergangenheit, in: Art – Das Kunstmagazin, Ausg. 4, Hamburg 2012, S. 78. In ihrem Artikel befasst sich Thon unter anderem mit der von Swansea selbst betonten unterschwelligen Auseinandersetzung mit ihrer »Erblast« als gebürtige Südstaatlerin in ihren Werken.

131

8 |   I M S C H W E B E Z U S TA N D

[…] etwa wenn sie mit ihren Bildern von aufgepeitschten Meeresbrandungen Motive von Gustave Courbet zitiert – allerdings im zeitgemäßen Cinemascope-Format. Oder wenn sie einen modernen Heuhafen malt (›21st century haystack‹, 2008), der mit seiner industriellen Kantigkeit nicht nur an das Ende ländlicher Handarbeit erinnert, sondern auch an die Anfänge der Moderne, als Claude Monet mit Dutzenden von Heuhaufen-Bildern das Serielle in die Kunst einführte.9

Nicht nur die bevorzugte Verwendung der Großleinwand seitens der Künstlerin, die vor Beginn ihrer malerischen Laufbahn ein Filmstudium an der University of South Florida, Tampa, absolvierte, evoziert die bewegten Bilder des Kinos. Die flirrende, zwischen Auflösung und Verdichtung changierende Eigenschaft ihrer Malerei hat selbst eine filmische Qualität, die zugleich an Monets Verbildlichungen der Wandelbarkeit des Lichts in der Werkgruppe der Meules (Getreideschober) und anderer Sujets anknüpft.10 So deutet gerade die Verfeinstofflichung der cinematografisch-malerischen Licht- und Farbspiele bei Swansea – ebenso wie die Motivwahl – auf Monets serielle Variation landschaftlicher Sujets als »Projektionsfläche für das Licht« und als »Aufzeichnung verstreichender Zeit«:11 Das Arbeiten in der Serie könnte […] für Monet gleichermaßen ein bewusst vollzogenes Arbeiten in der verstreichenden Zeit wie ein Vorführen von Zeit bedeutet haben. Ein einzelnes Bild – das Meisterwerk – hält die Zeit in einem Moment an; eine Reihe von angehaltenen Momenten am selben Motiv fügt sich zu einer Bewegung, macht Zeit und ihren Verlauf sichtbar.12

9 10

11 12

132

Ebd. Vgl. Christoph Heinrich, Une série d’effets différents. Monets ›Getreideschober‹ als Hülle für das Licht, die Zeit, das Universum und ›die märchenhafte Kraft und Pracht der Malerei‹, in: Monets Vermächtnis. Serie – Ordnung und Obsession, Ausst.Kat. (Hamburger Kunsthalle: 2001/2002), hrsg. v. Uwe M. Schneede, Ostfildern-Ruit 2001, S. 13–22. In seinem Text hat Heinrich nachgezeichnet, dass Monet bereits ab 1864 den Wandel visueller Phänomene im Wechsel der Lichtverhältnisse anhand einzelner Bildmotive erprobt hat. Dieses Verfahren, das in der im Spätsommer 1890 begonnenen Werkserie der Meules kulminierte, wurde unter anderem in Monets Werkgruppen der Pappeln (1891) Kathedralen (1894) und Ansichten der Waterloo Bridge (1902-04) weitergeführt. Ebd., S. 16, 18. Ebd., S. 18

E N A S WA N S E A S V E R S C H L E I E R T E Z W I E L I C H T ZO N E N

Neben einer Erweiterung der malerischen Momentaufnahme in eine zeitliche Ausdehnung, die Swansea in ihren von teils größeren Intervallen unterbrochenen Serien der »pile fields« und »haystacks« oder auch der urbanen Schneeszenen und anderen Bildreihen unternimmt, ist der Faktor des Lichtund Stimmungswandels für sie ebenfalls wesentlich. Monets Begriff der »enveloppe«, jene immaterielle »Sphäre um den Gegenstand, eine Umhüllung aus sich in der Luft brechendem Licht«,13 die der Maler systematisch einzufangen suchte, findet einen Widerhall in Swanseas Ästhetik der diffusen Zwischentöne, die die Phänomene der sichtbaren Wirklichkeit im Schwebezustand vor Augen führen – als würde sich die Realität in diesem Augenblick konstituieren oder gerade im Begriff sein, die Gestalt zu verändern oder gar zu verlieren. Während allerdings Monet darauf zielte, »die flüchtigen Erscheinungen der Atmosphäre zu untersuchen und zu dokumentieren« und »die Darstellung des visuell Wahrnehmbaren«14 an der Schwelle der technischen und urbanen Beschleunigungen der Moderne auszuschöpfen, ist Swanseas Ansatz nicht zuletzt ein Ausdruck der zunehmenden Verflüchtigung der Realität im Strudel der Bilder- und Datenfluten des 21. Jahrhunderts.

Muster der Geschichte Im Rahmen ihrer Erforschung der Muster des menschlichen Lebens in unserer Gegenwart, nimmt Swansea ihre Sujets des Öfteren aus der Ferne oder großer Höhe ins Visier. Im Modus der distanzierten Beobachterin hat sie beispielsweise in frozen ocean von 2006 eine winzige dunkle Gestalt festgehalten, die sich in der partiell ummauerten Peripherie eines vereisten Gewässers beinahe verliert. In der ein Jahr zuvor geschaffenen Sommervariante, shadow and reflection (2005) wirft eine singuläre Gestalt am Saum einer im Schein unsichtbarer Sonnenstrahlen funkelnden See lange Schatten. Der Blick aus dem Flugzeugfenster auf die Lichter einer nächtlichen Stadt (airplane wing, 2004) oder auf ein Mosaik spätsommerlicher Felder (yellow fields, 2010) rückt die zivilisatorischen Patterns der Urbanisierung und Kultivierung von Natur in den Fokus. Aus erhöhter Perspektive wirken die Majoretten und anderen Protagonisten von Straßenparaden – Letztere sind ein weiteres wiederkehrendes Motiv der Künstlerin – wie aufgereihte 13 Ebd., S. 16. 14 Ebd., S. 19.

133

31  Ena Swansea, gay wedding 2, 2005,  Öl auf Grafit auf Leinwand, 183 x 213 cm

32  Ena Swansea, 21st century haystack 3, 2008, Öl auf Grafit auf Leinwand, 183 x 137 cm

33  Ena Swansea, frozen ocean, 2006, Öl auf Grafit auf Leinwand, 213 x 152 cm

34  Ena Swansea, 14th St pile field, 2013,  Öl auf Grafit auf Leinwand, 46 x 61 cm

8 |   I M S C H W E B E Z U S TA N D

oder mechanisch marschierende Spielfiguren (66 majorettes, 2005; identity, 2006; demands, 2008). Durch die distanzierte Darstellung entindividualisiert und anonymisiert, werden die Paradenteilnehmer zudem zu Chiffren der darin laut eigener Aussage der Künstlerin stets präsenten Auseinandersetzung mit der problematischen Rolle der Südstaaten in der US-amerikanischen Historie. »Sind die marschierenden Majoretten in ihren Uniformröckchen nicht auch verniedlichte Stellvertreter der Nord- und Südstaatenarmeen, die sich vor 150 Jahren in Amerika blutig bekriegt haben?«15 Swansea zitierend, stellt Ute Thon fest, dass deren Werke »immer auch ›den schmutzigen Teil der amerikanischen Geschichte, den Bürgerkrieg, Rassismus und das Trauma dieses Krieges‹ in sich tragen« würden.16 Die Künstlerin hat die Reflexion der historischen Untiefen der Vereinigten Staaten aus der Perspektive ihrer Südstaaten-Verwurzelung verschiedentlich als eine ihrer Arbeit wesentliche, wenn auch verdeckte Komponente herausgestellt. Laut ihrer Auskunft bergen ihre Bilder »ein Stück der turbulentesten Phase der amerikanischen Geschichte«, die sie als ihre »Erblast« bezeichnet:17 Der Stoff ist unsympathisch, aber es geht mir eigentlich um die Aussagekraft der Bilder. Meine Gemälde unterscheiden sich in ihrer Atmosphäre völlig von den Arbeiten anderer Künstler, die sich mit demselben Stoff befassen. Das zugrunde liegende Gefühl mag verborgen bleiben, ist aber keinesfalls von schlechter Stimmung geprägt. Für mich haben die Bilder keine Botschaft, sie dringen an die Oberfläche und blinken da auf, wo das Licht nicht stark genug ist.18

Eine weitere Variante der Auf- oder Fernsicht zeigt sich in Swanseas Inte­ rieurs von The Box, einem mehrstöckigen New Yorker Varieté mit einer von offenen Rängen umgebenen Arena im Erdgeschoss samt Restaurant-, Barund Theaterbetrieb. Verschiedene Versionen von the box (2009; 2014) umfassen eine von leicht erhöhter Warte aus dargestellte Tänzerin in schummrigen Blautönen vor rötlichen Draperien sowie aus größerer Höhe eingefangene 15 16 17 18

136

Thon 2012, S. 78. Ebd., S. 77f. Ena Swansea, Persönliche Anmerkungen, in: Swansea/Lucander 2011, S. 9 [Übers. aus d. Engl. v. Brigitte Jakobeit]. Ebd.

E N A S WA N S E A S V E R S C H L E I E R T E Z W I E L I C H T ZO N E N

Ansichten des bevölkerten Lokals im Untergeschoss. Die Arbeiten aus dieser Gruppe lassen an die partiell von einer Logenperspektive aus wiedergegebenen Bühnenszenen Edgar Degas’ (1834–1917) denken, dem Werner Hofmann einen »Doppelblick« bescheinigte, »das Paradoxon der fernen Nähe, das seine Beziehungen zu den Menschen, zu den Traditionen der Kunstgeschichte und zum Clair-obscur seiner Gegenwart prägte«.19 Swanseas kontemporäres »Clair-obscur« aus dem New Yorker Nachtleben (Teil eines größeren Werkkomplexes zum Thema Tanzshows, Variétes und Maskerade) hat eine Verwandtschaft zu Degas’ Blick auf die »zwielichtigen Randzonen«, auf »das Zufällige, den Ausschnitt, das Fragment« und die Verwendung weiterer bildstruktureller Elemente, die »die Seh­ge­wohnheiten verunsichern und von ihren gewohnten Bahnen ablen­ken«.20

Verschleierte Realität Die eigentümliche Resistenz von Swanseas Bildern, deren bruchstückhaften, angerissenen Narrativen sich einer vollständigen Entschlüsselung entziehen, drückt sich in einem weiteren signifikanten Motiv der Künstlerin aus: aufblasbare Figuren, wie sie anlässlich der erwähnten, gerade in New York City häufig stattfindenden Straßenparaden an Leinen in die Luft emporgelassen werden. Die Ballon-Geschöpfe, die wiederholt in Swanseas Werk auftreten, sind paradigmatische Gaukelbilder, zwischen grotesk und melancholisch changierende Hohlkörper, hinter deren bunter, fröhlicher Fassade das Nichts harrt. Getreu des von Sigmund Freud in seinem Kanon des Unheimlichen angeführten Animismus21 sind sie wandelbar und in der Lage, vom unbelebten zum scheinbar belebten Gegenstand zu mutieren – und umgekehrt. Der Freud’sche Doppelgänger,22 eine weitere Spielart des Unheimlichen, nimmt wiederum im Negativbild Gestalt an, das die Künstlerin ebenfalls mehrfach in Form von Positiv-Negativ-Pendants (x-rays p und x-rays n; the letter und unexpected letter, alle 2004) oder als Einzelmotiv aufgegriffen hat. Letzteres findet sich beispielsweise im (Anti-)Portrait Psycho (2011), das wie Swanseas Malerei grundsätzlich auf einer selbst erstellten fotografischen Vorlage beruht. Für die Künstlerin ist die Fotografie ein »Werkzeug der 19 20 21 22

Werner Hofmann, Ein Mann im Abseits, in: Degas. Intimität und Pose, Ausst.-Kat. (Hamburger Kunsthalle: 2009), hrsg. v. Hubertus Gaßner, München 2009, S. 31. Ebd., S. 13. Vgl. Sigmund Freud, Das Unheimliche [1919], in: Psychologische Schriften, Studienausgabe, Bd. IV, hrsg. v. Alexander Mitscherlich, Frankfurt/Main 1982, S. 263ff. Vgl. ebd., S. 257ff.

137

8 |   I M S C H W E B E Z U S TA N D

Wahrnehmung,«23 das unsere Auffassung von Bildern prinzipiell bestimmt. Ausgangspunkt war hier das Negativ einer Farbfotografie ihres Sohns. Die Augen im gemalten Negativ-Antlitz sind unterschiedlich ausgerichtet, als würde das eine nach vorn, das andere hinter sich selbst schauen. Der monströse Effekt – durch die »Umkehrung von Licht und Schatten«24 noch verstärkt – wird von Holger Birkholz mit Verweis auf die historische Technik der Daguerreotypie als ursächlich für ein geisterhaft »changierendes Hell­ dunkel«25 benannt, das für das Werk der Künstlerin prägend ist. Das Gesicht der abgebildeten Person, deren geschlechtliche Zuschreibung ebenfalls diffus bleibt, erhält etwas Maskenhaftes, das Birkholz auf Swanseas Einsatz pastellener »Farbspuren« zurückführt, die »wie Irrlichter« auf der Bildfläche flirren: »Bei den Gesichtern werden diese Farbspuren zu Masken, die allerdings von niemandem getragen zu werden scheinen.«26 Auf diese Weise wirken die Antlitze von Swanseas Figuren selbst im Close-up seltsam freischwebend, als würden sie sich im nächsten Moment von ihrem Träger, ihrer Trägerin lösen. In anderen Fällen, wie bei den Feiernden in big incident oder gay wedding (beide 2004), der hinter großer Sonnenbrille verborgenen Frau am Strand in don’t bother me with that ocean (2012) oder der zur Seite geneigten Tänzerin in Guston hands (2014), sind die Protagonisten verdeckt, abgewandt oder verschleiert und bleiben auf diese Weise ebenfalls gesichtslos. Das gilt in anderer Hinsicht auch für ein Portrait, das einen mit weißem, durchscheinendem Tuch gänzlich verhüllten Kopf als Emblem tiefsten Schmerzes zeigt. Entstanden 2007, dem Todesjahr von Swanseas erstem Mann, dem Filmkritiker Joel Siegel, gehört es zu den persönlichsten Werken der Künstlerin. Hier wird der einstige Braut- zum Trauerschleier: ein Totentuch, das die Überlebende mit dem Verstorbenen eint, und zugleich wie ein immaterieller Vorhang die Welten der Lebenden und des Abwesenden trennt. Die feinstofflichen Barrieren, Masken, Verhüllungen, Verschiebungen, die Swansea dem Blick auf ihre essenziell flüchtigen Kompositionen entgegenstellt, folgen einer Logik der sich entziehenden Gewissheiten: »Ein 23 24 25 26

138

Swansea in einem Telefongespräch mit der Autorin am 31. Oktober 2011 [Übers. d. Autorin]. Holger Birkholz, Matte Spiegel – Über Ena Swansea, in: Checkpoint, Nr. 6, September-Dezember, hrsg. v. Arndt & Partner, Berlin 2008, S. 52. Ebd., S. 53. Ebd. Swansea hat die Verwendung intensiver Farbakzente, die aus dem Halbdunkel ihrer Bilder hervorleuchten, zunehmend hin zu einer farblichen Durchwirkung von Gesamtkompositionen mit starker, irisierender Leuchtkraft erweitert.

E N A S WA N S E A S V E R S C H L E I E R T E Z W I E L I C H T ZO N E N

Schleier liegt über der Realität, den wir nicht sehen können«, so die Künstlerin. »Dann kann man auch gleich den Schleier malen.«27 Das latent Unheimliche, das ihren Arbeiten tendenziell eigen ist, hat unter anderem mit der Diskrepanz zwischen der gleichzeitigen Offenbarung und Verweigerung von Information zu tun. Das, was wir sehen, deutet nur an, erzählt nicht die ganze Geschichte, verfängt sich in besagtem Schleier oder wird von selbigem verhüllt. Dahinter tut sich als »eine Art abstrakter Leere, ein ungutes Gefühl«,28 ein Vakuum auf. Swansea, die in ihren Arbeiten bisweilen auch Momente der Komik aufblitzen lässt, bezeichnet diese Leere als Dreh- und Angelpunkt ihrer Bilder: »Sie kreisen um ein hohles Zentrum, ein trojanisches Pferd – und man weiß nicht, was darin enthalten ist.«29 Die von Vilém Flusser beschriebene Grundproblematik von Bildern, die ihre eigentliche Funktion als »Vermittlungen zwischen der Welt und dem Menschen« ad absurdum führen, indem sie sich »zwischen die Welt und den Menschen stellen«,30 ist Swanseas primäres Thema. In ihrer Malerei versucht die Künstlerin, den Bild generierenden, ephemeren Eigenschaften des Lichts und damit den Erscheinungen der Wirklichkeit selbst auf die Spur zu kommen: »Es ist schwer zu verstehen, wie die Dinge tatsächlich aussehen, aber genau das ist für mich ausgesprochen interessant.«31 Nicht das Herz der Finsternis, sondern das weiße Rauschen des Ungreifbaren steht dabei im Fokus der Künstlerin, jene Leerstelle, um die in unserem menschlichen Existenzraum alles rotiert. »Etwas zu sehen«, schreibt Wolfgang Welsch, »heißt stets, etwas anderes zu übersehen. Es gibt kein Sehen ohne blinden Fleck.«32 In Ena Swanseas Malerei, in der »das Rätsel der wahrnehmbaren Welt«33 immer wieder zur Anschauung gebracht und verhandelt wird, fließen beide Formen der Perzeption zusammen: das Bild stiftende und das Bild negierende Sehen. Dass das Zwielicht im Werk der Künstlerin gelegentlich auch strahlende Farbigkeit annehmen kann, ist kein Widerspruch. Ebenso wenig wie die Tatsache, dass das Ephemere in ihrer Malerei aufgefangen wird und die Leere Substanz erhält. 27 28 29 30 31 32

33

Swansea in einem Telefongespräch mit der Autorin am 31. Okt. 2011 [Über. d. Autorin]. Birkholz 2008, S. 53. Swansea in einem Telefongespräch mit der Autorin am 31. Okt. 2011 [Übers. d. Autorin]. Vgl. Vilém Flusser: Für eine Philosophie der Fotografie, Göttingen 1994 [1983], S. 9. Swansea in einem Telefongespräch mit der Autorin am 31. Okt. 2011 [Übers. d. Autorin]. Wolfgang Welsch, Das Ästhetische – eine Schlüsselkategorie unserer Zeit?, in: Die Aktualität des Ästhetischen [Publikation zum gleichnamigen Kongress, 2.-5. September 1992], hrsg. v. dems.; Ivo Frenzel, München 1993, S. 46. Vgl. Katz 1999, s. p. [Übers. d. Autorin].

139

35  Meret Oppenheim, Kleiner Komet, 1970, Farbserigrafie, 23 x 16 cm, Aufl.: 150, für einen Gedichtband (nicht realisiert) der Galerie Der Spiegel, Köln, druckmonogrammiert

36  Daniel Spoerri, Das Bistro der Heiligen Marta, 2013, Assemblage, 100 x 93 x 30 cm

37  Maria Fisahn, Vibration 1, 1972-2008, Öl auf Anzugstoff, 21 x 30 cm

38  Marilyn Minter,

Spectral, 2014, Emaillelack auf Metall, 76 x 61 cm

39  Catherine Bolduc,

Un château en Espagne / A Castle in Spain, 2002, Installation (Detail), versch. Materialien, 300 x 100 x 200 cm

40  Naho Kawabe, Optiker, Installation (Detail), versch. Materialien, 2014

41  Ena Swansea, demands, 2008, Öl und Grafit auf Leinwand, 213 x 427 cm

42  Lorenz Estermann, Harry's Home I, 2012, Pigmentprint auf Hahnemühle, 120 x 150 cm, Auflage: 5+3 A.P.

43  Mirko Reisser (DAIM), DAIM – cold explosion, 2005, Sprühlack auf Leinwand, 150 x 100 cm

44  Volker Lang, Das Wellenhaus – Doch Indien liegt außerhalb, 2001, Außeninstallation (Innenraum, Detail), Lärchenholz, Toninstallation, 8,5 x 4,5 x 4,0 m, Cuxhaven / Cuxhavener Kunstverein

45 Luis Camnitzer, They Found

Reality Had Intruded upon the Image, 1986, Teil der Installation auf der 43. Biennale von Venedig, 1988, Holz, Poster, 76 x 56 x 2,5 cm

46  Teresa Margolles, En el aire / In the Air / In der Luft, 2003, Installation

(Ausstellungsansicht: »Muerte sin Fin«, Museum für Moderne Kunst, Frankfurt am Main, 2004), Seifenblasen mit Wasser aus dem Leichenschauhaus, mit dem die Leichen vor der Autopsie gewaschen wurden, Dimensionen variabel, Aufl.: 1/4 + 1 AP + 1 EP

47  Felix Gonzalez-Torres, »Untitled«, 1991, Billboard, Dimensionen je nach Installation variabel, Installationsansicht aus der Ausstellung: Felix Gonzalez-Torres: »Untitled«, Princeton University Art Museum, Princeton, New Jersey, 21 Okt. – 16. Dez. 2013

48  Christian Boltanski, Animitas,

2014, Film-Still, gefilmt bei Talabre, San Pedro de Atacama, Chile, aus: HD-Video, Farbe, Sound, 24 Stunden

9 | PROSPEKTIVE NACHBILDER Lorenz Estermanns nomadisierende (Un-)Möglichkeitsräume Sowohl die traditionelle als auch die moderne Stadt sind nicht ewig, sondern ewig unterwegs – in die Zukunft. Boris Groys1

L

orenz Estermann ist ein Produzent von Modellen bereits gebauter Wirklichkeiten, die als Relikte einer anderen Ära aus der Zeit gesprungen oder in der eigenen Vergangenheit eingefrorenen zu sein scheinen: vergessen, verloren, aufgegeben, gescheitert – wie Erinnerungen oder Nachbilder, die zwischen Manifestation und Auflösung Gestalt annehmen. Das skulpturale Werk des 1968 in Linz geborenen, dort und in Wien arbeitenden Künstlers, der in den 1990er Jahren zunächst als gegenstandsloser Maler hervortrat, lässt sich nicht fixieren. Estermanns hybride dreidimensionale Gebilde, die Bauten unterschiedlichster Art vereinen und »das Plastische mit dem Malerischen zusammenschließen«,2 werden von den oszillierenden Prinzipien der Paradoxie und der inhärenten Brüche bestimmt. Die grundsätzlich labilen Strukturen des Künstlers haben oft eine futuristische Anmutung, wirken zugleich visionär und in die Jahre gekommen wie utopische Entwürfe von einst, die ausgemustert wurden und Patina angesetzt haben. Seine Gehäuse verkörpern simultan die widerstrebenden Aspekte des Vergangenen und des Zukünftigen, des Stillstands und der Fortbewegung, sind halb Haus, halb Schiff, Zug oder Flugzeug, im Aufbruch befindlich oder bis auf Weiteres in den Ruhezustand versetzt. Aus einfachen Materialien wie Wellpappe und Holzleisten gefertigt und mit lässigem Pinselstrich betont kursorisch bemalt, sind sie rudimentär und 1

2

Boris Groys, 05) die weltstadtbürger, in: Gereon Sievernich; Thomas Medicus (Hrsg.), 7 hügel – Bilder und Zeichen des 21. jahrhunderts, IV) Zivilisation – Städte – Bürger – Cybercities: Die Zukunft unserer Lebenswelten, 7 Bde., Ausst.-Kat. (Martin-GropiusBau Berlin: 2000), Berlin 2000, S. 64 – 69, hier S. 65. Dieter Buchhart, Lorenz Estermann – Die Erweiterung des Malerischen im Spiegel utopischer Architektur, in: EIKON – Internationale Zeitschrift für Photographie und Medienkunst, Ausg. 68, dt./engl., hrsg. v. Österreichisches Institut für Photographie und Medienkunst – EIKON, Wien 2009, S. 24.

149

9 |  PROSPEKTIVE NACHBILDER

komplex, filigran und robust, heiter und melancholisch, plakativ und poetisch. Ihre Anwesenheit verweist stets auf etwas Abwesendes: auf eine Beobachtung an fernem Ort, die als vorübergehende Impression wiederum im flüchtigen Medium der Fotografie eingefangen wurde, oder auf eine Phantasmagorie, die in der ephemeren Sphäre zwischen Manifestation und Auflösung Kreise zieht. Hans-Peter Wipplinger stellt in Bezug auf die Modelle des Künstlers fest: Sie wirken in Bezug auf ihre Attitüde fragil und kaum repräsentativ, der Aspekt von gebauten Monumenten wird ersetzt durch Vergänglichkeit und Instabilität, was wesentlich an der Beschaffenheit der Gebäude liegt. Auslöschung, Leere und das Nichts in Form formaler Reduktionen sind jene Metaphern, mit denen der Künstler offene Zonen schafft und damit gerade das Differente durch Freilassungen und die Kreation von Leerräumen, fokussiert. Dergestalt definiert Estermann Gebäude und Räume neu und generiert damit Möglichkeitsräume.3

Die Vorlagen für Estermanns »Möglichkeitsräume«, die parallel auch Räume der Unmöglichkeit sind, entspringen ausführlichen Recherchen, die der Künstler mittels seiner Kamera vorzugsweise in osteuropäischen Ländern wie Tschechien, Ungarn, der Slowakischen Republik und Serbien mit besonderem Augenmerk auf nachmodernistische (Zweck-)Bauten der 1960er und 1970er Jahre unternommen hat. Bei dieser »Spurensuche« betreibt Estermann nach Wipplingers Einschätzung »eine sehr persönliche Art von Feldforschung: Forschung im eigenen Denken, Forschung auch in einem weltvergessenen Gebiet eines Niemandslandes, das einem steten Wandel unterzogen ist.«4 Die Ausbeute dieser »Feldforschung« sind Aufnahmen von verlassenen, eigenartig autarken Bauten, darunter vakante Haltestellen, die den Eindruck erwecken, als habe dort schon lange keiner mehr gewartet, kein Bus mehr Station gemacht, Unterführungen aus unwirtlichem Beton, einsame, verbretterte Häuschen ungewisser Bestimmung, gehäuseartige Stromkästen, Stellwände von unbestimmter Funktion am Straßenrand und anderes mehr 3

4

150

Hans-Peter Wipplinger, Ergonomie der Architektur – Wahrnehmungen und Kommentare zu gebauter Umwelt im Werk von Lorenz Estermann, in: Lorenz Estermann – instant city, Ausst.-Kat., dt./engl./franz. (Levy Galerie Hamburg; Galerie Vidal Saint Phalle, Paris: 2008), hrsg. v. Levy Galerie, Hamburg, und lukasfeichtner galerie Wien, Bielefeld 2008, S. 19. Ebd., S. 20.

LORENZ ESTERMANNS NOMADISIERENDE (UN-)MÖGLICHKEITSRÄUME

in »abgelegenen Orten an der Peripherie, Passagen und Leerstellen gleich Nicht-Orten«.5 Allesamt sind diese »anonymen Architekturen«, wie sie Estermann selbst definiert, »Überbleibsel von Zuständen der Moderne aus vierzig Jahren«.6 Die fotografischen Dokumente dieser durch Funktionsverlust und die Folgen einer gesellschaftlichen, politischen, ästhetischen Zeitenwende obsolet und in dem Zuge fast abstrakt gewordenen Architekturen dienen dem Künstler einerseits als lose, visuell-atmosphärische Inspirationsquellen für jene modellhaften Formgebungen, die spezifisch sind für sein skulpturales Werk. Andererseits fungieren sie als piktorale Grundlage für zeichnerisch-malerische Interventionen, die das jeweilige Abbild subversiv-humorvoll unterwandern und transformieren. Die so entstehenden Papierarbeiten in Mischtechnik, denen Dieter Buchhart treffend bescheinigt, dass sie »in ihrem collagehaften Stil unter anderem an die Collagen von Franz West«7 denken lassen, komplementieren die modellhaften Objekte. Zudem verleihen sie diesen eine scheinbare Rückanbindung an eine objektive Realität, die allerdings durch die räumlich-zeitliche Dekontextualisierung des Dargestellten sowie durch Estermanns Eingriffe und Umdeutungen längst ausgehebelt worden ist.

In die Skulptur geflüchtete Architektur Estermann sucht in seinen Arbeiten generell Uneindeutigkeit, die Verwischung von Gewissheiten, eine Polyvalenz der Erscheinungen herzustellen. Seine plastischen Konstruktionen haben als Modelle, die auf Nicht-Realisierung zielen, fiktiven Charakter und sind dennoch welt- und realitätshaltig. In den Worten des Künstlers: Die Modelle sind das Ergebnis aus einer Summe von flüchtigen Überlegungen, die sich dann im Gestaltungsprozess ein Stück weit konkretisieren. Das Ungreifbare ist dabei immer vorhanden, da es nie zu einer ganz realistischen Ausprägung kommt. Das Virtuelle/Gedankliche steht im Vordergrund. Spannend ist für mich, dass es eine unkonkrete Architektur eigentlich nicht wirklich gibt – nur im skulpturalen Feld ist

5 6 7

Buchhart 2009, S. 20. Estermann in einem Telefongespräch mit der Autorin, 26. Januar 2010. Buchhart 2009, S. 20.

151

9 |  PROSPEKTIVE NACHBILDER

das möglich. Es handelt sich also um eine in die Skulptur geflüchtete Architektur …8

Er selbst verwendet für deren Beschreibung Begriffe für ätherische Phänomene wie die der »Chiffre«, des »Traums« oder der »Skizze«, spricht von »psychischer Architektur« und von »geträumten Häusern«.9 Letzteres bezieht Estermann, unter anderem, auf die ironisch-animistische Idee eines sprechenden Hauses, die in der ausgreifenden Rauminstallation Fat House (2003) samt Video Am I a House? (2005) des Wiener Künstlers Erwin Wurm (geb. 1954) grotesk übersteigerte Präsenz erhalten hat.10 In der darin dargebotenen Selbstreflexion des cartoonartig-voluminösen Hauses samt einer Diskussion seiner konstitutiven Eigenschaften schwingt auch die profunde Frage nach der Behausung des Menschen in der Welt als solcher mit: eine Frage, der implizit auch Estermann in seinen Arbeiten nachgeht. Markante Parallelen bestehen darüber hinaus zu der Beschäftigung des portugiesischen Künstlers Pedro Cabrita Reis (geb. 1956 in Lissabon) mit den Bauten und Territorien, in denen wir uns heimisch machen. Die grundsätzliche Anfälligkeit und Labilität der skulpturalen Architekturen von Cabrita Reis verweist »auf die ›Unbehaustheit‹ des Menschen als Grundkonstante der Conditio humana«.11 Es kommt darin aber auch jenes Moment des schwer Greifbaren, Ephemeren in Form und Material zum Ausdruck, das Estermanns gleichermaßen nachmoderne, epochenlose, beziehungsweise Epochen überschreitende Bauten prägt. Dieter Schwarz’ Überlegungen, denen zufolge Cabrita Reis auf der Basis operiere, »dass das Kunstwerk ein fiktives Gebäude über der Realität errichtet und dass die Wahrheit eines Werks deshalb im Schein liegen kann«,12 lassen sich auch auf den Ansatz von Estermann übertragen. Dieser lässt ebenfalls ein »fiktives Gebäude über der Realität« entstehen, das sich zwar aus der Realität speist, aber durch künstlerische Umwandlung vom hart konturierten Aggregatzustand der Wirklichkeit in den unfassbaren des Traums übergeht. 8 9 10 11

12

152

Estermann in einer E-Mail an die Autorin, 31. März 2015. Estermann in einem Telefongespräch mit der Autorin, 26. Januar 2010. Ebd. Sabrina van der Ley; Françoise Cohen; Jean-François Chougnet, Vorwort, in: Deutsches Textheft zu: Pedro Cabrita Reis – One after another, a few silent steps, Ausst.Kat. (Hamburger Kunsthalle; Carré d’Art – Musée d’art contemporain de Nîmes; Museu Colecção Berardo: 2009–2011), dt./engl., hrsg. v. Hamburger Kunsthalle; Carré d’Art – Musée d’art contemporain de Nîmes; Museu Colecção Berardo, Ostfildern 2010, S. 3. Dieter Schwarz, Favorite Places: Arbeiten von Pedro Cabrita Reis, in: ebd., S. 8.

LORENZ ESTERMANNS NOMADISIERENDE (UN-)MÖGLICHKEITSRÄUME

Die Idee des »geträumten Hauses«, die der Künstler im Sinne eines »im Vordergrund stehenden Unkonkreten« anspricht,13 erhält auf verschiedenen Ebenen in seinen Arbeiten Gestalt. Bei seinen skulpturalen Bauten schlägt sich der Gedanke nicht zuletzt in nahezu traumlogischen, von irritierenden inhärenten Maßstabswechseln bestimmten Konstruktionsweisen nieder, die an die magischen Größenverschiebungen in Lewis Carrolls Alice in Wonderland erinnern. Estermanns Architekturen selbst treten ebenfalls in unterschiedlichen Größen auf: vom kleinformatigen Modell bis zur begehbaren Rauminstallation. Dabei wirken die oft in generischen Serien als Infokiosk, Strand-, Pool- Stelzen-, Bade- oder Fischerhaus, als »Rampe« oder »Plattform« betitelten, nummerierten Skulpturen des Künstlers wie Bestandteile einer nicht näher lokalisierbaren, spielerisch maroden, deutlich provisorischen Freizeitkultur. Diese Kultur, die nach Estermanns Auffassung per se einer »nomadisierenden Form von Architektur«14 entspricht, kann in unserer globalisierten Welt theoretisch überall verortet sein. »Virtualisierung, Cyber Space oder Informatisierung und Internet lauten die Stichworte für die Mediatisierung und die globale Entgrenzung städtischer Kulturen«,15 so die These des Stadtsoziologen Walter Prigge, die von Jean Baudrillards Vorstellung der Stadt als »ein Vieleck aus Zeichen, Medien und Codes«16 vorweggenommen wird. In ihrer Mehrfachcodierung und räumlich-temporalen Losgelöstheit entsprechen die modellhaften, gezielt zweckentfremdeten Architekturen des Künstlers jener globalen Entgrenzung, deuten zudem auf die zunehmende Kraft der Zeichen und Bilder in der Konstitution (und Konstruktion) von Welt und Wirklichkeit heute.

In einem transitorischen Da-Zwischen Die von Baudrillard am Beispiel der Graffiti-Woge Mitte der 1970er Jahre in New York thematisierte Deutungsresistenz der Zeichen, die »als leere Signifikanten« in die »erfüllten Zeichen der Stadt« eingebrochen seien,17 zeigt 13 14 15 16

17

Estermann in einer E-Mail an die Autorin, 31. März 2015. Estermann in einem Telefongespräch mit der Autorin, 26. Januar 2010. Walter Prigge, 02) metropolisierung. zum strukturwandel der europäischen stadt, in: Sievernich; Medicus 2000, S. 33-36, hier S. 35. Jean Baudrillard, Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen [zuerst erschienen unter dem Titel: Kool Killer ou l’insurrection par les signes, in: Interférences Nr. 3/1975, dt. in J. Baudrillard: Kool Killer oder der Aufstand der Zeichen, Berlin 1978], in: Barck u. a. 1992, S. 215. Ebd., S. 219.

153

49  Lorenz Estermann, FLASH, 2009, Gouache auf Pigmentprint/Büttenpapier, 60 x 80 cm

50  Lorenz Estermann,

Labyrinthhouse, 2008, Sperrholz/ Pappe/Gouache, Höhe: ca. 25 cm

51  Lorenz Estermann,

Plattform XI, 2008, Sperrholz/ Pappe/Gouache, Höhe: ca. 25 cm

52  Lorenz Estermann, Fischerhaus I, 2009/2010, Pigmentprint auf Hahnemühle, 120 x 160 cm, Aufl.: 3 + 2 A.P.

53  Lorenz Estermann, METROPOLAR – exit city, 2013, Video-Still, 60 x 90 cm, aus: HD-Video, 13 min

9 |  PROSPEKTIVE NACHBILDER

sich in Estermanns Einsatz von sprachlichen Elementen insbesondere in seinen früheren Arbeiten von 2004 bis 2009. Diese verbalen Fragmente sind teils wie Graffiti-Codes, teils wie Beschriftungen oder Labels den dreidimensionalen Modellen und zweidimensionalen, durch Übermalungen und zeichnerische Eingriffe veränderten fotografischen Abbildungen gefundener architektonischer Konstruktionen beigegeben. Die Wahl der Begriffe erfolgt assoziativ, nach Gesetzen, die ebenso in der Schwebe bleiben wie die genaue Bestimmung der von Estermann präsentierten Hausgebilde. Durch die Diskrepanzen zwischen scheinbarer Benennung und dem jeweils damit in Verbindung gebrachten Gegenstand entstehen unentschlüsselbare Bezugssysteme, die Transparenz vortäuschen, sich jedoch als hermetisch erweisen. In seinen Papierarbeiten wiederum verwendet der Künstler nach eigener Aussage die bei seinen Recherchen mit der Kamera eingesammelten baulichen Versatzstücke wie »Ready-Mades visueller Art« im Sinne eines »Sampling«-Verfahrens. Diese visuellen »Ready-Mades« werden dann mittels der verbalen und zeichnerischen Interventionen ganz buchstäblich »überschrieben«.18 In den Zwischenräumen, die die bewusst absurden, ironischen, auch dialektischen Gegenüberstellungen von Wort und Bild, Fotografie und Malerei oder Zeichnung erzeugen, eröffnen sich neue Bedeutungen, an deren Entstehung das Publikum selbst Anteil hat. Anlässlich der von ihm kuratierten Ausstellung Archisculptures 2001/2002 im Kunstverein Hannover nannte Stephan Berg als gemeinsamen Nenner »architektonisch motivierter künstlerischer« Positionen der Gegenwart eine »spezifische Form des Modells«, das sich in »einem transitorischen Da-Zwischen« behaupte.19 Damit zeigen Modellstrukturen im künstlerischen Bereich ein parallel zur architektonischen Realität laufendes künstlerisches Denken, das sowohl zur realen (städtebaulichen) Architektur wie auch zur klassischen skulpturalen Praxis ein Meta-Verhältnis einnimmt. Das heißt, diese ›Modelle‹ liefern nicht das Vorbild, nach dem das eigentliche

18 19

156

Estermann in einem Telefongespräch mit der Autorin, 26. Januar 2010. Stephan Berg, Vorwort, in: Stephan Berg (Hrsg.), Archisculptures. Über die Beziehungen zwischen Architektur, Skulptur und Modell, Ausst.-Kat. (Kunstverein Hannover: 2001/2002), Hannover 2001, S. 2.

LORENZ ESTERMANNS NOMADISIERENDE (UN-)MÖGLICHKEITSRÄUME

Werk geschaffen werden kann; sie sind vielmehr Nachbilder ihrer selbst und damit als Meta-Modelle zu bezeichnen.20

Berg zufolge bündelt sich darin eine »Ambivalenz, die sich in keine Richtung eindeutig auflösen« lasse.21 Die von ihm so benannten »Meta-Modelle« oder künstlerischen Übertragungen gebauter Wirklichkeit »balancieren auf dem schmalen Grat zwischen funktionaler Konstruktion und ästhetischer Dekonstruktion, nicht ganz von dieser Welt, aber auch kein reines Bild.«22 Diese Beschreibung trifft auch auf Estermanns als beständige Provisorien konzipierten Arbeiten zu, die in genau dieser Ambivalenz zwischen Abbild und Neusetzung, Wirklichkeit und Fiktion, Funktionalität und Funktionslosigkeit, Flüchtigkeit und Dauerhaftigkeit operieren. Das für unsere Zeit so charakteristische Moment der Mobilität und die Vorliebe für eine »ephemere Behausung«, die das »moderne Nomadentum, die anhaltende Beweglichkeit« zum Ausdruck bringen,23 ist den Bauten und Bildern des Künstlers eingeschrieben. Während erstere oftmals Vehikel der Vorwärtsbewegung assoziieren lassen, wirken die architektonischen Szenarien in den Papierarbeiten ihrerseits wie Orte des Transits, die von Boris Groys’ ständig unterwegs befindlichen »Weltstadtbürgern«24 durchreist werden: Heute merken wir, dass am Ende der linearen Zeit des geschichtlichen Fortschritts eine Zirkulation entsteht, in die Wirtschaft, Information und Weltbevölkerung gleichermaßen involviert sind. Diese zirkuläre Bewegung um die urbanisierte Erde herum verlagert den Ort der Utopie von der Zeit in den Raum. Der urbanisierte Globus wird zum Ort der Utopie – und die Utopie besteht darin, die Oberfläche dieses Globus zu bereisen.25

Der Weg wird dabei zum Ziel: Während sich Flüchtlingsströme aus existenzieller Not weltweit im Transitzustand befinden, bewegen sich die aufstrebend mobilen Teilnehmer des globalen touristischen und wirtschaftlichen 20 21 22 23 24 25

Ebd. Berg, Architektur als Denkmodell, in: ders. 2001, S. 10 Ebd. Simon Baur: Leerschläge zwischen den Worten. Lorenz Estermanns Modellbegriff, in: Estermann 2008, S. 8. Vgl. Boris Groys’ Terminus der »Weltstadtbürger« im gleichnamigen Essay, in: Sievernich; Medicus 2000, S. 64ff. Ebd., S. 65.

157

9 |  PROSPEKTIVE NACHBILDER

Kreisverkehrs in einer Endlosschleife der Progression, die weder Ausgangspunkt noch Ankunftsort hat. Nach den mit Wasserfarbe durchlässig bemalten, von verhaltenen, pastell-bunten Tönen bestimmten »Möglichkeitsräumen«, die der transitären oder freizeitlichen Kultur des Unterwegsseins entsprungen zu sein scheinen und von Estermann gelegentlich auch in größerem Maßstab im Ausstellungs- oder Außenraum verwirklicht worden sind (etwa instant house I, Space Invasion, Seilerstätte Off-Projekt, Wien, 2007, oder Riverstation I, Fischerhaus und Open Office, letztere: Lackfarbe auf Karton und Holz, Linz 2009), umfasst seit 2012 das Spektrum seiner Bauten zunehmend Turmformen (unter dem Oberbegriff »Tower« zusammengefasst) in verwitterten Grauschattierungen und verschiedenen Stadien der Korrosion. Estermann umschreibt die scheinbar in medias res aufgegebenen Towers als »fiktive zurückgelassene Baustellen, unvollendet und von ›unbekannter Hand‹ begonnen, und plötzlich von einer Minute auf die andere stehengelassen«.26

Baustellen einer vergangenen Zukunft Diese zwischen Werden und Vergehen arretierten Turmstrukturen hat der Künstler 2012 zu einem zwielichtigen, latent unheimlichen urbanen Gefüge zusammengestellt, das in seinem 2013 fertiggestellten 13-minütigen Videofilm METROPOLAR – exit city27 mit den Augen durchschritten werden kann. Die »düstere Note«,28 die den einzelnen Turmbauten anhaftet, ist in der Verdichtung zum geisterstadtartigen Ensemble noch potenziert. In der Gestaltung dieser von einer vergangenen Zukunft oder gescheiterten künftigen Zivilisation kündenden Stadt auf dem Absprung, exit city, hat Estermann nach seiner eigenen Auskunft von Fritz Langs expressionistischem ScienceFiction-Opus Metropolis (1927), Ridley Scotts dystopischem Endzeit-Szenario Bladerunner (1982) nach der Romanvorlage von Philip K. Dick29 und der Verfallsvision Dark Star (1974), John Carpenters parodistischer Hommage an 26 27

28 29

158

Estermann in einer E-Mail an die Autorin, 31. März 2015. Der Film ist über dorf.tv abrufbar unter: https://www.dorftv.at/video/7620 (12. Okt. 2016). Bereits 2009 hat Estermann in dem Filmprojekt Collection-Explorer einen mit einer Kamera ausgestatteten Spielzeugpanzer auf Erkundungsfahrt durch ein mit seinen Miniaturmodellen bestücktes Areal im Außenraum geschickt. Estermann in einer E-Mail an die Autorin, 31. März 2015. Der Film Bladerunner basiert auf dem Roman des US-amerikanischen Schriftstellers Philip K. Dick Do Androids Dream of Electric Sheep? aus dem Jahr 1968 [dt. Ausgabe: Träumen Androiden von elektrischen Schafen? erstmals 1969 erschienen].

LORENZ ESTERMANNS NOMADISIERENDE (UN-)MÖGLICHKEITSRÄUME

Stanley Kubricks 2001: Odyssee im Weltraum (Originaltitel: 2001: A Space Odyssey, 1968) Anregung bezogen. Ausgangspunkt war für Estermann die Überlegung: Was ginge in uns vor, wenn wir eine gänzlich verlassene Stadt vorfinden würden, auf einem fernen und dunklen Planeten? Denken wir an Zivilisation und Menschen, oder könnte sie auch von anderen Bewohnern gebaut worden sein…? Was bleibt übrig: Wände, Decken, Böden, Öffnungen, Brüstungen, Vorsprünge, Pfeiler und Stützen, Häuserschluchten und eine Patina des Vergänglichen. Abwanderung und Ausstieg des Urbanen als möglicher Blick in eine ferne Zukunft.30

Die Kamerafahrt durch den von Estermann 2012 modellhaft in seinem Linzer Atelier errichteten Stadtraum, dessen Titel METROPOLAR die eisige Leblosigkeit eines ewigen Winters auf einem Permafrost-Planeten heraufbeschwört, offenbart eine nächtliche urbane Landschaft, in der jegliche Aktivität – möglicherweise für immer – zum Erliegen gekommen ist. Die fin­ste­ren, von gähnenden schwarzen Fensteröffnungen durchsetzten Turmhäuser wirken wie die Überbleibsel eines gescheiterten Masterplans zur Errichtung einer Megalopolis, die nun, wie es Susanne Neubauer formuliert, einem »apokalyptischen szenario«, einer fiktionalen posthumanen Wirklichkeit »nach dem menschlichem leben« gewichen ist.31 Das Bild eines untergegangenen, jeglicher Lebewesen entleerten Schauplatzes, das Estermanns dämmrige urbane (De-)Konstruktionen vermitteln, ruft die mythischen, ab Anfang der 1970er Jahre entstandenen rußgeschwärzten Ruinenstätten des französischen Künstlerpaars Anne und Patrick Poirier (beide 1942 geboren) ins Gedächtnis: von archäologischen Ausgrabungen inspirierte, zeitübergreifende Modelle fiktiver verfallener Städte, die wie von Feuersbrunst und anderen Spuren der Verwüstung gezeichnet »Erinnerungen einer verschütteten Vergangenheit, die in ihren Ruinen bewahrt ist« im »Wechselspiel zwischen Gegenwart und früherer Zivilisation« evozieren.32 30

31

32

Estermann in einem Statement zu seinem Film vom 2. August 2013, der Autorin in einer E-Mail vom 31. März 2015 zugeschickt und als Informationstext auf der Homepage von dorf tv veröffentlicht unter: https://www.dorftv.at/video/7620 (12. Okt. 2016). Susanne Neubauer: Lorenz Estermann. Das Projekt »Metropolar – dark city«, s. p., 2013, unveröffentlichter Text, der Autorin von Estermann am 31. März 2015 zugeschickt (Originaltext in Kleinschreibung). Zit. nach Pressemitteilung (S. 1-2) von August 1978 zur Ausstellung Projects: Anne

159

9 |  PROSPEKTIVE NACHBILDER

Estermanns filmisch festgehaltene und durchstreifte exit city, eine Stadt auf Abruf, deren Abgang und endgültiger Untergang ihrer Formgebung eingebaut ist, verschränkt ihrerseits Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einer einzigen Zeitzone, in der das Morgen im Gestern aufgegangen ist, während im Jetzt die Auflösung bis auf Weiteres angehalten ist. Die einstigen Bewohner sind längst weitergezogen oder schicken sich womöglich erst noch an, aus den Ruinen das Neue zu schöpfen, die stillgelegte Baustelle wieder in Betrieb zu nehmen. Nicht ganz von dieser Welt und doch aus ihr hervorgegangen: In Estermanns überzeitlichen, potenziell vom Unterwegssein kündenden »Meta-Modellen« und Entwürfen einer gleichermaßen transitären wie momenthaft zwischen Werden und Vergehen eingefangenen Realität, fallen die Utopien von gestern, heute und morgen im enigmatischen Modus des »Ungreifbaren«,33 der Überschreibung und des Traums zusammen. Aus den De- und Rekodierungen einer Geschichte im Fluss, die im Übersetzungsprozess immer wieder neu erfunden wird,34 baut der Künstler seine ephemeren, retrospektiv-prospektiven Konstruktionen. Der Untergang ist in ihnen ebenso angelegt wie der Aufbruch in eine ferne, womöglich bessere Zukunft.

33 34

160

and Patrick Poirier und deren Installation Ausée, gezeigt vom 15. Sept. bis 29. Okt. 1978 im Rahmen der sechsteiligen Reihe Projects, Museum of Modern Art, New York, unter MoMA, Press Archives, 1970–79: https://www.moma.org/learn/ resources/press_archives/1970s/1978/3 / https://www.moma.org/momaorg/ shared/pdfs/docs/press_archives/5651/releases/MOMA_1978_0087_80.pdf?2010 (12. Okt. 2016) [Übers. d. Autorin]. Estermann in einem Telefongespräch mit der Autorin, 26. Januar 2010. Ebd.

10 | VORÜBERGEHENDE ZEICHEN-SETZUNG Mirko Reissers Signatur als temporäres Daseinssignet worte sind schatten schatten werden worte worte sind spiele spiele werden worte sind schatten worte werden worte spiele sind spiele worte werden worte schatten […] Eugen Gomringer1

D

er hastige Blick auf die originär flüchtigen (Bild-)Zeichen, die als Urban Art, Street Art oder Graffiti Writing seit den 1960er Jahren zunehmend in Städten und Vororten, auf öden Brachflächen und in stark frequentierten urbanen Arealen weltweit in Erscheinung treten, übersieht die Tatsache, dass jeder noch so kleine tag eine höchst individuelle Äußerung ist und dabei zugleich einer globalen Sprache angehört. »Glocalization« nennt der Street-Art-Spezialist Cedar Lewisohn das Phänomen eines von nomadischen Künstlern, die die Welt bereisen und an verschiedenen Orten ihre Arbeiten realisieren, praktizierten globalen style.2 Lewisohn zufolge entwickelt sich die aus verschiedenen lokalen Kontexten exportierte Urban Art »regionaler« Machart über wechselseitige Inspiration der Street-Künstler zu eben jener »globalisierten« Form der Street-Art-Produktion, die heute allseits über nationale Unterschiede hinweg zu finden ist.3 Und die längst von einem mehr oder minder kunstvollen, heimlich im Dunkel der Großstadt 1 2 3

Eugen Gomringer, worte sind schatten [1956], in: Poetische Sprachspiele. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, hrsg. v. Klaus Peter Dencker, Stuttgart 2002, S. 193. Vgl. Cedar Lewisohn, Abstract Graffiti, London 2011, S. 9. Vgl. ebd.

161

10 |  VORÜBERGEHENDE ZEICHEN-SETZUNG

hinterlassenen Undercover-Kürzel zum viel beachteten Gegenstand von Museumsausstellungen avanciert ist. Dem Verfließen lokaler und individueller Ansätze zu der kollektiven internationalen Ausdrucksform einer grenzüberschreitend vernetzten Street-Art-Szene steht die Kultivierung einer persönlichen künstlerischen Handschrift seitens ihrer Protagonisten gegenüber. Sind für Uneingeweihte die oft bis zur Unkenntlichkeit verfremdeten Signaturen der urbanen Artisten kaum lesbar, schon gar nicht identifizier- oder voneinander unterscheidbar, lassen sie sich von Insidern meist einem bestimmten Autoren und na­tionalen Stil zuordnen. Ihm gefalle tagging, weil die Handschrift des Künstlers darin sichtbar werde, stellt der US-amerikanische Vorreiter abstrakter Graffiti-Kunst Futura 2000 entsprechend in einem Interview mit Lewisohn fest. Der tag sei wie ein gemeinsamer Nenner, der aussage, wer diese Person ist.4 In seinem Katalogessay Der Lärm der Straße dringt ins Haus anlässlich der Urban Art-Ausstellung im Weserburg Museum für moderne Kunst Bremen 2009 geht Ingo Clauß sogar noch einen Schritt weiter. Er ist der Ansicht, dass sich trotz weitläufiger Vernetzung und Umtriebigkeit der Street-Art-Künstler »keine einheitliche Sprache der Urban Art ausformuliert« habe: Ihre Werke leben von den kulturellen Eigenarten, die ganz wesentlich mit der Biografie und der Herkunft der einzelnen Akteure verbunden sind. Während die Welt im Zeitalter von Neoliberalisierung und Globalisierung eine tiefgreifende Homogenisierung urbaner Lebenswelten erlebt, rebellieren sie mit ihren höchst unterschiedlichen Arbeiten gegen die fortschreitende Vereinheitlichung der Sprachen und Denkweisen, und sie tun es eben mit den Mitteln der Kunst.5

Signatur als Inhalt In der Kunst der Straße, die ihren Wirkungsradius in den vergangenen Jahren vom Störfaktor im Sinne von »Stolperfallen« im »visuellen Fluss der Stadt«6 zum straßenhaltigen und somit per se subversiven Museumsexpo4 5

6

162

Vgl. The Never-Ending Story, Cedar Lewisohn im Gespräch mit Futura 2000, in: Lewisohn 2011, S. 64. Ingo Clauß, Der Lärm der Straße dringt ins Haus. Urban Art im Museum, in: Urban Art. Werke aus der Sammlung Reinking, Ausst.-Kat. (Weserburg Museum für moderne Kunst Bremen: 2009), hrsg. v. Ingo Clauß, Ostfildern 2009, S. 20. Ebd., S. 10.

M I R K O R E I S S E R S S I G N AT U R A L S T E M P O R Ä R E S D A S E I N S S I G N E T

nat erweitert hat, greift beides ineinander: der Kulturen umspannende Impetus und die Eigengesetzlichkeit, die der »Abstraktion als Weltsprache«7 bereits seit den Avantgarden der Moderne innewohnen. Die Unverwechselbarkeit des individuellen Ausdrucks wiederum hat eher Affinität zu den expressiven, postdadaistischen und konzeptuellen Ansätzen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die mit der interdisziplinären, Länder übergreifenden, originär performativen Fluxus-Bewegung ab 1962 die Barrieren zwischen Kunst und Leben aufheben. Die mit dem Charakteristikum »international, gleichsam heimatlos«8 belegte abstrakte Kunst ist überall und nirgends zu Hause, während die Protagonisten der Urban Art darüber hinaus das Setzen von Zeichen in der Anonymität der Städte – das, was Jean Baudrillard als Territorialisierung des urbanen Raums bezeichnet hat9 – als Strategie der vorübergehenden Inbesitznahme betreiben: »Das Fremde, der öffentliche, eventuell schutzlose Raum wird zu einem Stück des Eigenen, zur Heimat.«10 Zudem, und das verbindet die »Weltsprache der Abstraktion« ebenfalls mit vielen Äußerungen der Urban Art, verweist sie tendenziell in erster Linie auf sich selbst und erst in zweiter Linie auf ihre Urheber. Wie Lewisohn in seinem Gespräch mit Futura 2000 feststellt, sei der Graffiti-Tag die Essenz einer Signatur, die als Inhalt fungiere.11 So könnte auch eine Definition der abstrakten Kunst der klassischen Moderne lauten, die die Form zu ihrem Inhalt erklärt hat. Als multidimensionale Disziplin, die »glücklich zwischen Figuration und Abstraktion sitzt«,12 mutiert in der Street Art indes das verbale Zeichen, die linguistische Einheit zum Image: »Zu Lesendes« wird »zu Bildhaftem.«13

7

8 9 10

11 12 13

Vgl. Glozer 1981, S. 172 –175. Hier wird das Phänomen der Abstraktion mit Blick auf die Kontinuität der Moderne in der internationalen Kunst bis Ende der 1950er Jahre als »Epochenstil« beleuchtet, der freilich ab den 1960er Jahren ins Wanken gerät. Michel Seuphor, Ein halbes Jahrhundert Abstrakte Malerei. Von Kandinsky bis zur Gegenwart, München/Zürich 1962, S. 261. Vgl. Baudrillard in: Barck u. a. 1992, S. 220. Asko Lehmuskallio, Bist Du die Person des Jahres, in: Rik Reinking (Hrsg.), Still On and Non the Wiser. An exhibition with selected urban artists, Ausst.-Kat., dt./engl. (Von-der-Heydt Museum, Kunsthalle Barmen, Wuppertal: 2007), Mainaschaff 2008, S. 42. Vgl. Lewisohn 2011, S. 64. Vgl. ebd., S. 8. Toke Lykkeberg, Graffiti & Street Art – Zeitgenossen zeitgenössischer Kunst, in: Reinking 2008, S. 32.

163

10 |  VORÜBERGEHENDE ZEICHEN-SETZUNG

Bei dem 1971 in Lüneburg geborenen Hamburger Künstler Mirko Reisser, der 1989 als 17-jähriger seine ersten »Graffiti Pieces« sprühte und seit 1992 unter dem Pseudonym DAIM arbeitet, sind Wort und Bild identisch, ist der Name anhaltendes ästhetisches Programm. In der Hip-Hop-Kultur der 1980er Jahre wurzelnd, die in seinen Augen »so erfolgreich war und um den Globus gegangen ist, weil sie offen war für alle Schichten«,14 produziert Reisser aka DAIM (oder auch DEIM , wie er sein Pseudonym mittlerweile variiert) seit mehr als zwanzig Jahren mittels seines spezifischen 3-D-Styles und eines dynamischen Pseudonyms-in-Progress ein künstlerisches Werk, das sich im Verlauf eines transformativen Prozesses ständig weiterentwickelt hat. Der Namenszug kommt hier als existenzielles Vehikel der »Selbst­ behauptung«15 und Selbstreflexion zum Zuge, mit dem sich der Künstler als Individuum in der Außenwelt des urbanen Raums oder auch im Interieur des Ausstellungsraums visuell manifestiert, ohne sich jedoch sogleich zu erkennen zu geben. »Jeder Style, jeder Schriftzug ist ganz klar ein Selbstportrait«,16 sagt Reisser. Und zwar ein (Selbst-)Bildnis im Wandel, das inhärent temporär und ephemer ist und gezielt in der Schwebe bleibt. In der Wiederholung des immer Gleichen, immer wieder Anderen, hat der Künstler eine ästhetische Nähe zu der seriellen Praxis von Protagonisten der Conceptual Art wie On Kawara (1933–2014), der ab 1965 auf Reisen durch verschiedene Städte seine offene Serie von Date Paintings – mit dem tagesaktuellen schriftlichen oder numerischen Datum versehene Acrylbilder, flankiert von einem Ausschnitt aus der jeweiligen örtlichen Tageszeitung – verfasste und »Zeit – die man als die größte organisierende Kraft hinter menschlicher Erfahrung und Bewußtsein betrachten kann – in greifbare, gegenständliche Sicht«17 brachte. Diese Methode, die eigene Existenz oder auch kurzzeitige Präsenz an einem bestimmten Ort im Fluss festzuhalten und zu bestätigen, kommt auch in On Kawaras von unterwegs an Freunde verschickten Telegramme mit der Botschaft »I’m still alive« aus den 1970er Jahren zum Ausdruck. Wie der japanische Dichter und Direktor des Nationalmuseums für Kunst in Osaka, Akira Tatehata, feststellte, habe On Kawara die Verifizierung seiner eigenen Exis14 15 16 17

164

Mirko Reisser im Gespräch mit der Autorin, Hamburg, 9. August 2011. Ebd. Ebd. Anne Rorimer, Die Date Paintings von On Kawara, in: On Kawara. Date Paintings in 89 cities, Ausst.-Kat., niederl./dt./engl. (Museum Boymans-van Beuningen, Rotterdam; Deichtorhallen Hamburg u. a.: 1992/1993), hrsg. v. Museum Boymans-van Beuningen, Rotterdam 1992, S. 237.

M I R K O R E I S S E R S S I G N AT U R A L S T E M P O R Ä R E S D A S E I N S S I G N E T

tenz in einem Medium praktiziert, dessen Abstraktheit seinem Werk paradoxerweise einen spannungsreichen Realitätsgehalt verliehen habe.18

Die Abenteuerlichkeit der Zeichen Den vier Buchstaben seines Pseudonyms, das Mirko Reisser zunächst als nom de guerre für seine anfänglich noch illegale Graffiti-Produktion erfand, hat er in den vergangenen zwei Jahrzehnten mit der Sprühdose auf Mauern und Leinwänden, in grafischen Arbeiten, in Skulpturen und seit neuerem auch mit Klebeband optisch sowie auch konkret greifbare plastische Gestalt gegeben. Sie sind nicht nur Signets des eigenen Daseins, Momentaufnahmen im Lebens(ver-)lauf. Im »Bild«, das sie konstituieren, »drückt sich die Persönlichkeit aus«,19 befindet Reisser. Und diese entfaltet sich naturgemäß weiter, wird immer facettenreicher: »In zwanzig Jahren haben sich die Bilder verändert, sind immer komplexer geworden.«20 Mit seiner fortwährenden Namensschreibung »DAIM « oder auch »DEIM « gibt er Auskunft über sein Hier-Sein und So-Sein, doch bleiben die Lettern in gewisser Weise ebenso abstrakt wie die Botschaften On Kawaras oder die von der Hamburger Konzept-Künstlerin Hanne Darboven (1941–2009) in unermüdlicher »Schreibzeit«21 in einer »Zeichensprache, die sich zunächst selbst spricht«22 festgehaltene Lebenszeit. Darbovens Credo eines nichtbeschreibenden Schreibens23 lässt sich auch lose auf das Vorgehen von Reis18

19 20 21

22 23

Akira Tatehata über On Kawara, Quelle: Grove Art Online, Oxford University Press 2009, zit. nach: https://artusiast.com/en/one-million-years-past-future (12. Okt. 2016). Mirko Reisser im Gespräch mit der Autorin, Hamburg, 9. August 2011. Ebd. Darboven arbeitete von 1975 bis zu dessen Veröffentlichung 1999 an ihrem mehrbändigen Hauptwerk Schreibzeit, doch lässt sich ihr gesamtes Lebensprojekt als »Schreibzeit« bezeichnen. Ernst A. Busche hat Darbovens Werk Schreibzeit treffend als ein Schreiben »an der Zeit entlang« sowie als ein »Schreiben in der Zeit« beschrieben. (Vgl. dazu: ders., Hanne Darboven – Themen und Struktur der »Schreibzeit«, in: Hanne Darboven. Ein Reader. Texte zum Werk, Ausst.-Publ. (Deichtorhallen Hamburg: 1999/2000), hrsg. v. Zdenek Felix, Köln 1999, S. 147, 154). Ingrid Burgbacher-Krupka, Konstruiert literarisch musikalisch. Zum Schreibsystem, in: ebd. 1999, S. 103. Vgl. dazu ebd., S. 104. Aus Burgbacher-Krupkas Sicht zeigen sich in dem von Darboven praktizierten »Auf- und Abschreiben von Literatur, wissenschaftlichen Texten, Interviews sowie lexikalischen Angaben« im Sinne einer Transformation von »inhaltlicher« in »durchlebte« Form und spezifisch in deren Verfahren, in Zahlen »zu ›schreiben‹, ohne zu ›beschreiben‹, das heißt, ohne eine andere als die dem Zeichen entsprechende Bedeutung mitzuteilen« eine Nähe zu »konkreten« Ansätzen.

165

54  Mirko Reisser (DAIM), DAIM - all directions, 02.2007, Sprühlack auf Leinwand, 450 x 1350 cm, Ausst.: »still on and non the wiser«, Kunsthalle Barmen, Wuppertal

55  Mirko Reisser (DAIM), Shadow DAIM, 08.2013, Sprühlack auf Leinwand, 130 x 220 x 4,5 cm

56  Mirko Reisser (DAIM) | D/-\IM – up and around Marta Herford, 06.2013, Sprühlack auf Wand,

8,8 x 21,5 m, Museum Marta, Herford

57  Mirko Reisser (DAIM), DAIM - exploration Gastein, Sprühlack auf Betonmauer, 2011, 8 x 15 m, sommer.frische.kunst – Kunstresidenz, Bad Gastein, Österreich

10 |  VORÜBERGEHENDE ZEICHEN-SETZUNG

ser und weiteren Vertretern des Graffiti Writing übertragen. Deren Ansatz birgt darüber hinaus eine Verwandtschaft zu dem Verfahren der Protagonisten der Konkreten Poesie, die für die Erzeugung einer prägnanten, allgemeinverständlichen, Form und Inhalt gleichsetzenden Lyrik eintraten, die »visuell behandelt und nach grafischen Gesichtspunkten gesetzt werden«24 sollte. Wie Eugen Gomringer, Initiator, Dichter und Theoretiker der Konkreten Poesie (geboren 1925 in Cachuela Esperanza, Bolivien, lebt in der Schweiz) bereits 1954 in einem Essay in der unter den »Konkreten« programmatischen Kleinschreibung bemerkte: unsere sprachen befinden sich auf dem weg der formalen vereinfachung. es bilden sich reduzierte, knappe formen, oft geht der inhalt eines satzes in einen einwort-begriff über, oft werden längere ausführungen in form kleiner buchstabengruppen dargestellt, es zeigt sich auch die tendenz, viele sprachen durch einige wenige, allgemeingültige zu ersetzen.25

Die »Weltsprache« der Abstraktion schlägt sich auch in der Konkreten Poesie nieder, die ihrerseits zwischen Dada und Proto-Konzeptualismus oszilliert und mit den Aktionsanweisungen und Partituren der Fluxus-Bewegung den Fokus auf serielle bis mathematisch-permutative verbale Kompositionen teilt: allesamt Ideen und Praktiken, die der transitorischen Gattung des Graffiti Writing ästhetisch vorausgehen. Gomringer, Mitte der 1950er Jahre »überzeugt, dass die konkrete dichtung die idee einer universalen gemeinschaftsdichtung zu verwirklichen beginnt«,26 propagiert eine Lyrik der »konstellationen«, die »eine ordnung und zugleich ein spielraum mit festen größen« ist.27 Für ihn, wie für die Verfechter der Konkreten Poesie grundsätzlich, ist das Wort für sich genommen eine eigenständige Entität: das wort: es ist eine größe. es ist – wo immer es fällt und geschrieben wird. es ist weder gut noch böse, weder wahr noch falsch. es besteht aus lauten, aus buchstaben, von denen einzelne einen individuellen, 24 25 26 27

168

Eugen Gomringer, vom vers zur konstellation. zweck und form einer neuen dichtung, in: ders. (Hrsg.), konkrete poesie, Stuttgart 2009, S. 155. Ebd. Gomringer, konkrete dichtung, in: ders. 2009, S. 162. Gomringer, vom vers zur konstellation, in: ebd., S. 159.

M I R K O R E I S S E R S S I G N AT U R A L S T E M P O R Ä R E S D A S E I N S S I G N E T

markanten ausdruck besitzen. es eignet dem wort die schönheit des materials und die abenteuerlichkeit des zeichens.28

Buchstaben, Worte werden vor diesem Hintergrund zur feinstofflichen Baumasse einer Dichtung, die häufig fast architektonisch konstruiert ist und oft Bilder konstituiert, wobei Bezeichnung (beziehungsweise Inhalt) und Form des lyrischen Gebildes miteinander korrespondieren. Die optische Poesie ist sich ihrer langen Geschichte durchaus bewusst und hat prächtige Zeugnisse der Vergangenheit präsent. Wir beziehen in unsere Darstellungen zum Beispiel immer wieder die figürlichen und symbolträchtigen Gestaltungen der Barocklyrik mit ein. Das Bezugsfeld der optischen Konkreten Poesie ist so weit wie und wo es Schrift gibt, wo Buchstabenformen, Wortbilder ins Auge fallen. Sie fördert und fordert die Wahrnehmung sichtbarer Formen.29

Dabei spielt nicht nur die optische Präsenz, sondern ebenso die Absenz, die Lücke im verbal-visuellen Geschehen eine Rolle, die durch die Rezipienten ergänzt werden soll, so wie Gomringer grundsätzlich »Konkrete Poesie als einen Dialog« versteht, »der durch Begegnung entsteht und vom Dichter mit seinem Gedicht in bestimmter Weise gefördert wird«.30 Für ihn ist »Sprache als Nullpunkt anzunehmen«, die in (visuellen) »Konstellationen« zur Entfaltung kommt.31 Beispielhaft dafür ist Gomringers Bild-Poem »schweigen« (erschienen 1953 in der Gedichtsammlung 33 Konstellationen), das aus einer »Konstellation« des mehrfach wiederholten Worts »Schweigen« in einer kantig-abstrakten Mund-Form besteht, die eine Leerstelle umfasst: Das Wort ist 14 mal so gesetzt, dass es eine Lücke umschließt. Dadurch ist offensichtlich, dass das ausgelassene Wort wirklich schweigen bedeutet. Es fordert auf, dieses Schweigen zu achten, es an sich zu bemerken und zu befolgen. Dabei soll schweigen nicht einseitig verschweigen oder total verstummen bedeuten. Meine Auslegung ist, 28 29

30 31

Ebd. Aus einem Vortrag von Eugen Gomringer, gehalten am 2. Mai 2013 anlässlich seiner Ausstellung Aircube Project – Eugen Gomringer. Konkrete Poesie in der galerie wuensch aircube, Linz, unter: http://www.aircube.at/eugen-gomringer (12. Okt. 2016). Ebd. Ebd.

169

10 |  VORÜBERGEHENDE ZEICHEN-SETZUNG

dem Schweigen Raum zu gewähren, um sich im Schweigen zu erholen, neu auszurichten.32

Wie in Gomringers auf die in der Figur des Schattenspiels angelegte wechselseitige Durchdringung von Zeichen und Abbild, Sinn und Bedeutung rekurrierende Gedicht »worte sind schatten« von 1969 ist die Dialektik zwischen Gestalt und Gegenüber, aber auch Gestalt und Abwesenheit ein Wesensmerkmal der Konkreten Poesie, die gezielt »in sprachliche interkulturelle Prozesse« eingreift, »indem sie mit Gedichten neue Formen« herstellt: »Sie arbeitet an der Identität von Bewusstsein und Zeichengestalt.«33 Gomringers Postulat erhält Aktualität angesichts von Reissers plastisch gestalteten Wortsegmenten und seiner Begründung für den spezifischen Einsatz der von ihm seit zwei Dekaden konsequent verwendeten Lettern D, A, I, M (inklusive des abweichenden »E«). Auch Reisser spricht von der spezifischen »Form«, dem charakteristischen »Ausdruck« und »Aussehen« seiner »Lieblingsbuchstaben«, die er »bewusst ausgewählt« habe und ganz haptisch wie skulpturale Elemente beschreibt, wobei seiner Aussage zufolge »das ›D‹, das dazu neigt, nach vorn wegzurollen, durch das ›A‹ gestützt« wird, während der »kippelige« Buchstabe »I« vom »sehr standhaften« Buchstaben »M« aufgefangen wird: eine aus dem Zusammenspiel gegensätzlicher Prinzipien generiertes Spannungsverhältnis eigentlich körperloser Elemente. Das »E« wiederum, das im Gefüge der Buchstaben gelegentlich das »A« ersetzt, fasst der Künstler als ein gedrehtes »M« auf.34 Diesen Beschreibungen lässt sich entnehmen, dass seine Arbeiten, unabhängig davon, ob sie auf der Fläche oder als dreidimensionaler Körper realisiert werden, auf einer prinzipiell skulpturalen, räumlichen Auffassung beruhen. Reisser selbst stellt einen Vergleich seiner Buchstabenkonstella­ tionen zu gebauten Konstruktionen her, die aus seiner Sicht »etwas von Architektur, von Großstadt« haben. Sie dienen ihm wiederum als Medium der »Raumeroberung«, wobei nach Bekunden des Künstlers »der Raum draußen auf einer riesigen Hochhauswand oder im Museum sein kann«. Der konstruktiven steht dabei eine dekonstruktive Dynamik gegenüber: »Ein gelungenes Bild«, so Reisser, »ist für mich ein Bild, das kurz vor dem Sprung, der Explosion, der Auflösung steht.« Flüchtigkeit und Nachhaltigkeit wer32 33 34

170

Ebd. Ebd. Mirko Reisser im Gespräch mit der Autorin, Hamburg, 9. August 2011. Ebenso die folgenden Zitate.

M I R K O R E I S S E R S S I G N AT U R A L S T E M P O R Ä R E S D A S E I N S S I G N E T

den hier als scheinbar paradoxe, aber gleichermaßen untrennbar miteinander verbundene Dynamiken wirksam. Im Laufe der Zeit hat Reisser den Namenszug, den er als »eine Art Modell« begreift, an dem er sich »immer wieder ausprobieren kann«, sukzessive weiter abstrahiert. Die einzelnen Buchstaben lassen sich kaum mehr entziffern, verweisen nur noch wie ein optischer Nachhall auf ein Gesamtbild, dessen Konturen für das Ganze stehen. Auf der Suche nach DAIM, dem sich stets entziehenden, sich stets erneuernden, zwischen Figuration und Abstraktion, Auftauchen und Verschwinden, Gewissheit und Ahnung changierenden, sich simultan formierenden und auflösenden Selbstportrait als Einwort-Gedicht wird der Namenszug irgendwann obsolet, reicht das Fragment des Kürzels aus, um den Kosmos des Künstlers, zumindest für den Augenblick, in nuce zu fassen. In diesem Schattenspiel der Worte gewinnt er transitorische Gestalt.

171

11 | BRUCHSTÜCKE VON GESCHICHTEN IM FLUSS

Volker Langs Texträume und Erinnerungsgebäude Die Utopie wird immer besser, während wir auf sie warten. Leni Peickert 1

A

m Meeressaum bei Cuxhaven im Frühsommer 2001. Gemächlicher Gang unter funkelnder Sonne über den Strandweg. Keine Wolken, kaum Wind, das Wasser noch fern, der sandige Boden unter den Füßen fester als erwartet, die Stille vom Ruf vereinzelter Möwen unterbrochen. Tiefblauer Himmel spannt sich leuchtend über einem hölzernen Bauwerk, das sich als heller Solitär aus der vom Wechsel der Gezeiten gezeichneten Fläche erhebt. Es ist ein klar umrissener Bau, frei von formalem Überfluss und Ballast, in seiner Einfachheit wie eine dreidimensionale Skizze beinah, die man betreten, in der man verweilen, aus der man herausschauen kann. Durch einen unversperrten Zugang gelangt man in einen von Licht erfüllten, ansonsten leeren Innenraum: Sechs hohe, offene Fenster sind der sich langsam nähernden Flut zugewandt. Der Blick geht hinaus in die Weite von Blau, Horizont und Himmel, taucht dann ein in andere, innere Landschaften, die jetzt von ruhigen körperlosen Stimmen evoziert werden. Jedem Fenster gehört eine Stimme, jede Stimme steht für eine Figur. Wir hören die sechs Kindheitsfreunde Susan, Rhoda, Neville, Jinny, Louis und Bernard von Gefühlen, Erinnerungen, Gesehenem, Gedachtem, Befürchtetem, Ersehntem sprechen. Die drei weiblichen und drei männlichen Stimmen verflechten sich zu einem Erzählstrom, einem mehrsträngigen inneren Monolog in verteilten Rollen, der um das Leben, um Vergeblichkeit, Verlust und Hoffnung kreist.

1

Zirkusartistin Leni Peickert in Alexander Kluges Film: Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos, 1968, vgl. akustische Kurzbeschreibung 212 zu Volker Langs Installation 8 1/2 Circus space im Rahmen der temporären Skulpturprojekte sculpture@CityNord 2006 (Kurator: Rik Reinking), unter: http://www.sculpture-citynord.de/kue_volker_lang. htm (aufgerufen am 14. Okt. 2016).

173

11 |  BRUCHSTÜCKE VON GESCHICHTEN IM FLUSS

Die Worte breiten sich als schwebendes Klanggewebe zwischen Innenund Außenraum aus, schreiben sich in die Köpfe der Betrachtenden, Lauschenden, im Geiste Mitreisenden als Bilder ein, eine eigene Zeit kreierend, in der die Welten und Wellen der Poesie, des Wattenmeers, der Kunst und des Lebens miteinander verfließen. In der Installation Wellenhaus des 1964 in Augsburg geborenen, in Hamburg lebenden Künstlers Volker Lang kommt das im Stil des Bewusstseinsstroms verfasste experimentelle Prosawerk Die Wellen (die englische Originalausgabe The Waves erschien 1931) der britischen Literaturinnovatorin Virginia Woolf (1882–1941) ausschnitthaft zur Wirkung. Sie ist poetische (Selbst-)Begegnungsstätte und skulpturales Gehäuse für die dispergierenden Energien des Ephemeren, die darin wie auf einer Bühne momentlang greifbar werden. Das Wellenhaus nahm 2001 in Cuxhaven erstmals Gestalt an. 2 Im selben Jahr machte es auch an der Hamburger Außenalster nahe des örtlichen Literaturhauses Station, in dem begleitend zweidimensionale Arbeiten des Künstlers präsentiert wurden. Unter dem Titel Ich sehe Indien gastierte es dann 2004 in Verbindung mit einer in der Lübecker Overbeck-Gesellschaft gezeigten Ausstellung von Partituren, Zeichnungen und weiteren künstlerischen Auseinandersetzungen mit der literarischen Vorlage Virginia Woolfs am Rand der Ostsee in Travemünde. »Ich sehe Indien« ist ein Ausspruch der Wellen-Figur Bernard: »Ich sehe Indien, ich sehe das flache, lang gestreckte Ufer.«3 »Indien« ist der Ort, an dem die abwesende, sich allein in den Äußerungen der anderen sechs Charaktere manifestierenden siebten Figur Percival vom Pferd stürzt und dabei ums Leben kommt. Aber »Indien« ist auch, so wird es in Langs Hör-Seh-Stück ebenfalls in Aussicht gestellt, jener ortlose Ort der Träume und des Verlangens, der sich als Utopie Woolfs Sinnierenden ebenso entzieht wie den Rezipienten an jenem Frühsommertag 2001 in Cuxhaven: Indien liegt außerhalb. 2

3

174

Es war Teil von Langs Projekt: Ein Haus für Virginia Woolf in Kooperation mit dem Cuxhavener Kunstverein, begleitet von der Publikation: Volker Lang – Doch Indien liegt außerhalb, But India lies outside. Ein Haus für Virginia Woolfs »Die Wellen«, Ausst.Kat., dt./engl. (Cuxhavener Kunstverein: Juni 2001; Kunst im Öffentlichen Raum – ein Projekt der Kulturbehörde der Hansestadt Hamburg in Kooperation mit dem Literaturhaus Hamburg: September 2001), hrsg. v. Cuxhavener Kunstverein/Kulturbehörde der Hansestadt Hamburg, Hamburg 2001. Zit. nach Volker Langs Auszügen aus der deutschen Fassung von Virginia Woolf: Die Wellen, hrsg. und kommentiert v. Klaus Reichert, Frankfurt/Main 1994, die im Kontext der Wellenhaus-Installation in Travemünde 2003 Verwendung fand.

VOLKER LANGS TEXTRÄUME UND ERINNERUNGSGEBÄUDE

Wartesaal des Lebens Das Wellenhaus entspringt dem von Volker Lang entwickelten und mehrfach von ihm variierten Genre der »Räume für Texte«: ein offenes, lyrisch-künstlerisches Format, das Architektur, Skulptur, Literatur, Ton, Bild, Malerei, Zeichnung und Zeichen verknüpft. Der Künstler betreibt darin komplexe Übersetzungs- und Vernetzungsprozesse auf mehreren Ebenen. Er greift Passagen literarischer Texte von Autorinnen und Autoren wie Woolf (neben The Waves befasste er sich auch intensiv mit deren letztem zu Lebzeiten veröffentlichten Roman The Years, 1937), Jorge Luis Borges oder Franz Kafka, die in sich bereits sehr vielschichtig und nicht eindeutig zu entschlüsseln sind, als gedanklich-atmosphärische Kristallisationsmomente auf. Diesen gibt er buchstäblich Raum zur neuen Entfaltung. Die gebauten Strukturen eines Hauses, einer Tribüne (Südwärts, 2005), oder das fragmentarische Konstrukt eines Zirkuszelts (8 1/2 Circus space, 2006)4 fungieren dabei als Plattformen der Wahrnehmung, sind Bild- und Tonträger, Aktions- und Refle­ xionsfläche in einem. Den literarischen Quellen, mit denen sich der Künstler beschäftigt, ist gemeinsam, dass sie das Ungreifbare, Rätselhafte, Wundersame, die verborgenen Untiefen im Alltäglichen zum Thema machen. Oft geht es dabei um das Spannungsverhältnis zwischen Gestrandet-Sein und Aufbrechen-Wollen, der Polarität zwischen Beckett’schen Kreisbewegungen im Sinne eines Nicht-vom-Fleck-Kommens und dem Drang, zum großen zukunftsträchtigen Sprung in den »Noch-nicht-Raum, in welchem Noch-nicht-Wirklichkeiten ihre Noch-nicht-Zeit verbringen«, anzusetzen, wie Vilém Flusser den »virtuellen Raum« definiert.5 Diesem »Noch-nicht-Raum« steht in Langs filigranen Sehnsuchtsorten grundsätzlich auch der Wehmutsraum des »NichtMehr« gegenüber.

4

5

Langs Installation für den Außenraum 8 1/2 Circus space gastierte nach ihrer ersten Station im Rahmen des Skulpturenprojekts sculpture@CityNord in Hamburg ferner 2013 auf Einladung der Overbeck-Gesellschaft Lübeck, der Gemeinnützigen und des Wissenschaftsmanagements Lübeck in den Bürgergärten Lübeck und 2014 im Auftrag der Urbanen Künste Ruhr (über MAP Markus Ambach Projekte, Düsseldorf ) im Kontext von B1|A40. Die Schönheit der großen Straße – eine Ausstellung im Stadtraum der A40 von Duisburg bis Dortmund in Mülheim a. d. R. Vgl. Vilém Flusser, Räume, in: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, hrsg. v. Jörg Dünne; Stephan Günzel, Frankfurt/Main 2006, S. 277.

175

11 |  BRUCHSTÜCKE VON GESCHICHTEN IM FLUSS

Für seine Installation Südwärts, die im Herbst 2005 in dem seit 2003 neu entstehenden Hamburger Stadtquartier an der Elbe, HafenCity,6 als temporäre Installation realisiert wurde, schuf der Künstler mit Auszügen aus Briefen von Auswanderern und um Emigration kreisenden Texten eine akustische Collage. Eingebaut war die »Textkomposition für drei Stimmen und Geräusche« in eine von ihm symbolhaltig angelegte, zwischen Tribüne, Bootssteg und Wartesaal changierende räumliche Konstruktion, die für (elegische) Blicke zurück ebenso wie für »Projektionen auf das Zukünftige«7 einen multivalent aufgeladenen, dabei formal auf das Wesentliche reduzierten physischen Rahmen bot. Dabei ließ der Künstler bewusst im Ungewissen, aus welcher historischen Situation und aus welchem Kontext die Textpassagen stammten. Wieder ließ er mittels Ton und dem mehrdimensionalen, begehbaren Bild seiner Architektur eine Zeit übergreifende, von gestern bis heute und darüber hinaus reichende Geschichte-im-Fluss vor dem geistigen Auge des Publikums entstehen. Ähnlich wie der Begriff »Indien« in Zusammenhang mit den verschiedenen Fassungen des Wellenhauses deutet der Titel Südwärts hier auf ein Ziel ohne festen Ort, auf einen Nicht-Ort, eine Utopie, die »Amerika«, »Indien«, »Deutschland« oder auch ganz anders heißen könnte: eine Destination, auf die Wünsche nach Neuanfang und anders gestaltbarem Leben gerichtet sind, freilich um den Preis von Abschiedsschmerz und möglichem Heimatverlust. Die Idee eines »Wartesaals des Lebens«, die auch schon in Volker Langs Wellenhaus mitschwingt und sich vom Chor der Stimmen als implizite Empfindungslage auf das Publikum überträgt, taucht in der dreiteiligen Installation Spiritlovers von 2008 in anderer Weise wieder auf. Diesmal hat der Künstler eine hölzerne Figur und Schwarz-Weiß-Fotografien, die Mitte der 1990er Jahre und im Produktionsjahr der Arbeit in Neapel und Umgebung entstanden sind, mit einer neunminütigen Montage von Dialog-Ausschnitten aus der englischen Fassung von Roberto Rossellinis Film Viaggio in Italia (Journey to Italy) um Ehekrise und Selbstsuche aus dem Jahr 1953 zusam6

7

176

2003 wurden nach entsprechenden Infrastrukturmaßnahmen die Hochbauarbeiten auf Basis des 2000 vom Hamburger Senat verabschiedeten Masterplans (der überarbeitete Masterplan für die östliche HafenCity wurde 2010 abgeschlossen) zum Stadterweiterungsprojekt HafenCity im Hamburger Hafengebiet aufgenommen. Das neue Hamburger Stadtquartier soll zwischen 2025 und 2030 fertig gestellt sein. Vgl. zur Zeitschiene der HafenCity-Stadterweiterung: http://www.hafencity. com/de/ueberblick/daten-fakten.html (14. Okt. 2016). Zit. nach einer Kurzbeschreibung des Künstlers zu Südwärts (2005), der Autorin in einem Brief vom 26. Oktober zur Verfügung gestellt.

VOLKER LANGS TEXTRÄUME UND ERINNERUNGSGEBÄUDE

mengeführt. Psychologische Abgründe hinter dem Beiläufigen auslotend, durchbricht Rossellinis Film (er bildet nach den Werken Stromboli und Eu­ropa ’51 den Abschluss einer Filmtrilogie mit der damaligen Frau des italienischen Regisseurs, Ingrid Bergman, in der Hauptrolle) ebenfalls traditionelle Erzählstrukturen und entspricht auf der Ebene des Dekonstruktiven und Assoziativen dem ästhetischen Ansatz Virginia Woolfs in Die Wellen. In seiner Kompilation von Bruchstücken aus der englischsprachigen Fassung des Films, Journey to Italy, hat Volker Lang die Äußerung einer namenlosen Gräfin gegenüber der Hauptfigur Katherine herausgefiltert, die in einem Nebensatz kundtut: »In a certain sense, we are all ›shipwrecked‹. You have to fight so hard, just to keep afloat.«8 Ein Schiffbrüchiger treibt auf dem Meer oder ist ein Gestrandeter: In beiden Fällen versucht er sich in der einen oder anderen Hinsicht »über Wasser zu halten« und harrt in seinem jeweiligen persönlichen »Wartesaal des Lebens« auf Rettung, einem Weg aus dem Endlos-Loop des Unerlöstseins, dem Limbus des »Nicht-Mehr« oder »Noch-Nicht«.

Der Text formt das Bild »Früher einmal gab es etwas anderes, herrliches, als wir darauf warteten, dass die Tür aufginge und Percival hereinkäme. Als wir uns auf den harten Rand einer Bank in einem öffentlichen Warteraum fallen ließen.«9 In Langs Text-Collage für die Wellenhaus-Fassung in Lübeck-Travemünde 2004 beschwört Neville aus Woolfs Die Wellen den Glanz vergangener Tage mit dem gemeinsamen, verstorbenen Freund Percival. Die mit Wehmut und Trauer konstatierte Abwesenheit der immer wieder in den inneren Monologen der sechs Sprechenden thematisierten Figur – denn Dialoge im eigentlichen Sinne sind ihre elliptisch verlaufenden, assoziativen Gedankenströme tatsächlich nicht – weist auf eine Absenz im weiteren Sinne, vom Verlust alter Kindheitsträume und dem Scheitern von Lebensentwürfen bis hin zum Vakuum ewigen Ausharrens auf den nie eintretenden kathartischen Wendepunkt: Bei Samuel Beckett wird derart auf Godot gewartet. Die ineinandergreifenden, dennoch parallel bleibenden (Lebens-)Bilanzen, die in Woolfs 8

9

Zit. nach einer Kurzbeschreibung des Künstlers zu Spiritlovers (2008), der Autorin in einem Brief vom 26. Oktober zu Verfügung gestellt. (Dt.: In gewisser Hinsicht sind wir alle ›Schiffbrüchige‹. Man muss so schwer kämpfen, nur um nicht unterzugehen. Übers. d. Autorin). Zit. nach Langs Auszügen aus der deutschen Fassung von Virginia Woolf 1994.

177

58  Volker Lang, Drei Figuren aus: The ball, 2011, Installation (Detail): Drei Figuren auf einer Bühne, eine Stimme im Dunkeln, ein Text zu The Years (1937) von Virginia Woolf, Figuren: Lindenholz, Eichenholz, 119 cm, 102 cm und 129 cm; Bühne: Kistensperrholz, Fichtenkantholz, Kreidegrund, Farbe, Durchmesser: 400 cm, Höhe: 40 cm

59  Volker Lang, Gedenkort für Deserteure und andere Opfer der NS-Militärjustiz, 2015, Beton, Stahl, Bronze, Dolomit, Akustische Installation, Licht, 10 x 10 x 10 m (im Dreieck), Gesamthöhe: 3,4 m, Stephansplatz, Hamburg

60  Volker Lang, Das Wellenhaus – Doch Indien liegt außerhalb, 2001, Außeninstallation, Lärchenholz, Toninstallation, 8,5 x 4,5 x 3,4 m, Cuxhaven / Cuxhavener Kunstverein

61  Volker Lang, 8 1/2 Circus space, 2014, Außeninstallation, Baumwollstoff rot und blau, Stahlseile, Beschläge , Fichtenholz, Lackfarbe, 11,6 x 7 x 8 m, Mühlheim/Ruhr

62  Volker Lang, 8 1/2 Circus space, 2006, Grafit, Bleistift und Tusche auf Papier, ca. 43 x 32 cm

11 |  BRUCHSTÜCKE VON GESCHICHTEN IM FLUSS

Buch mit einem Statement des Bernard auf offener Note schließen, folgen den Titel gebenden Wellenlinien, wie die »Welle« als solche das existenzielle Auf und Ab und den Zyklus der Tages- und Jahreszeiten symbolisiert. Ein Tagesablauf am Meer erstreckt sich in Die Wellen von Dämmerung zu Dämmerung und vom Frühlingserwachen bis zur winterlichen Neige. Der Text wird selbst zu einem gleichsam skulpturalen Medium, in dem Form und Inhalt korrespondieren und über die Metapher der Welle miteinander verschränkt sind. Beim Transponieren literarischer Motive in den dreidimensionalen Austragungsort seiner Installationen geht Lang sowohl dekonstruktiv als auch konstruktiv vor. Textfragmente, die er den eigenen Erkenntnis leitenden Prinzipien folgend aus dem gegebenen Werk herausgelöst und zu einem neuen Bedeutungssegment verdichtet hat, werden in Partituren für Leserinnen und Leser beziehungsweise Sprecherinnen und Sprecher transponiert und zudem nach bestimmten Systemen kartiert. So ordnet der Künstler den einzelnen Figuren aus Woolfs Die Wellen gewisse Farben zu und abstrahiert deren verbale Reflexionen zu Zeichenverläufen, gezeichneten und gemalten Diagrammen oder haptischen Relief-Strukturen. Aus Text wird Klang, aus dem per se flüchtigen gesprochenen Wort wird eine plastische Form: Die literarische Passage tritt von der Fläche in die Tiefe, Sprachbilder verwandeln sich in Raumbilder und die Betrachterin, der Betrachter befindet sich »im Bild und vor dem Bild«,10 ist simultan Rezipient und Akteur – ein Sachverhalt, den Lang mit der Erfahrung des Helden Lev Ganin aus Vladimir Nabokovs Erstlingsroman Maschenka (1926) verglichen hat.11 Gemeinsam mit anderen Russen in einem Berliner Hotel lebend (das für alle Protagonisten auf unterschiedliche Weise wieder als ein Ort des Wartens fungiert), findet sich Ganin eines Tages im Kino als Mitwirkender im gezeigten Film wieder. Das ist auch eines der zentralen Anliegen von Volker Lang: das Publikum über das Zusammenwirken von gesprochenem Wort und gebautem Raum in die Räume der Poesie hineinzuführen, indem er der ephemeren Gestalt des ersteren eine Behausung gibt, in der sich die Betrachter/Zuhörer ebenfalls selbst wiederfinden können. Die Tatsache, dass er diese Erlebnisfülle mittels ästhetischer Reduktion und Konzentration zu erzielen sucht, verbindet ihn mit Vertretern der (Post-)Minimal Art.

10 11

180

So Lang in Erläuterungen zu seiner Installation 8 1/2 Circus space (2006), der Autorin in einer E-Mail vom 24. Oktober 2010 zur Verfügung gestellt. Ebd.

VOLKER LANGS TEXTRÄUME UND ERINNERUNGSGEBÄUDE

Und doch kann man in seinem Fall mit allen damit verknüpften Implikationen von einem poetisch aufgeladenen Minimalismus sprechen. Um Markus Brüderlins erhellende Bemerkung zu Bruce Naumans Floating Room: Lit from Inside von 1972 auf Langs Verräumlichungen des Ephemeren zu übertragen: »Die Minimal Art ist hier ganz zur psychophysischen Versuchsanordnung für die Selbstkonfrontation des Individuums geworden.«12 In seiner Installation 8 1/2 Circus space, präsentiert erstmals 2006 im Kontext des Skulpturenprojekts sculpture@CityNord auf einer Grünfläche des in den 1970er Jahren als letztlich gescheiterte Utopie einer lebendigen Einheit von Wohnen und Arbeiten errichteten Hamburger Bürobezirks City Nord, erweiterte Lang seine Strategie. Er machte den (selbst-)reflexiven Erlebnisraum fragmentarischer Sprachbilder zu einer fragmentarischen Bühne konkreter Aktionen, die ihrerseits wieder auf eine literarische Inspirationsquelle, in diesem Fall auf den Exponenten absurder Ausweglosigkeit, Franz Kafka (1883–1924), verwies. In der Konzeption von 8 1/2 Circus space, ein blau-rotes, nach vorn hin offenes, halbiertes Zirkuszelt mit Holztribüne, kreisförmiger Bühne und Trapezstange, bezog der Künstler von vornherein die Aktivitäten des Publikums bei der Bespielung der Stätte mit ein. Feste Programmpunkte waren bei dessen erster Station in Hamburg zudem die Auftritte der Berliner Artisten-Gruppe Orbiscularum Oculis, deren Repertoire Performances Beckett’scher Machart umfasste. Lang konzipierte die halbseitig eingefasste Manege als »Tableau«, bei dem die Betrachter von Weitem »Musiker, Artisten und Publikum zusammen in einen dichten Raum gedrängt« wahrnehmen konnten, »einem Bild von Max Beckmann vergleichbar«.13 Diese Open-AirBühne der anderen Art sollte aber auch den zufälligen Blick auf sich lenken, gleich »einer surrealen Erscheinung«,14 von der Passanten überraschend erfasst werden. Die Ansicht eines Zirkuszelts inmitten eines sich zwischen brutalistischen Hochhausbauten und hoch gewachsenen Bäumen erstreckenden, jenseits des Skulpturenprojekts vor allem als Durchgangsgebiet genutzten Rasengeländes hatte etwas Magisches. Die bruchstückhafte Gestalt oszil12

13 14

Vgl. Markus Brüderlin, 8. Minimal Architecture und die Liebe zur Box 1970-2000, in: ArchiSkulptur. Dialoge zwischen Architektur und Plastik vom 18. Jahrhundert bis heute, Ausst.-Kat. (Fondation Beyeler: 2004/2005; Kunstmuseum Wolfsburg: 2006), hrsg. v. ders., Ostfildern-Ruit 2004, S. 166-177, hier S. 172. Zit. nach Langs Erläuterungen zu seiner Installation 8 1/2 Circus space (2006), der Autorin in einer E-Mail vom 24. Oktober 2010 zur Verfügung gestellt. Ebd.

181

11 |  BRUCHSTÜCKE VON GESCHICHTEN IM FLUSS

lierte zwischen Zitat, Vision und Kulisse. Damit deutete sie auf die Inszenierung–in–der–Inszenierung, die der italienische Regisseur Federico Fellini (1920–1993) in seinen Phantasmagorien rund um die schillernde Sphäre des Zirkus oft auf die Leinwand gebracht hat – nicht zuletzt in seiner als Workin-Progress entstandenen, surreal-absurden Bestandsaufnahme einer künstlerischen Schaffenskrise 8 1/2 (Originaltitel: Otto e mezzo) von 1963, in der »Vergangenheit, Gegenwart und Phantasie sich überlagern«15 sollten. Fellinis tiefgründiges, selbstreflexives Seelenschau-Spektakel16 endet nicht mit der ernüchternden Kehrseite hinter der glanzvollen Gaukelfassade, wie sie Kafkas bekannte Parabel Auf der Galerie (1919) um eine Dressurreiterin vor Augen führt. Sondern das schlussendliche Scheitern von Fellinis Regisseur-Antiheld Guido Anselmi in der Filmrealität wird mit einem ausgelassenen Tanz von Clowns, Akrobaten und den zentralen Menschen aus Guidos Leben gefeiert. Volker Lang befreit seinerseits das Bild des Wanderzirkus als »romantisches Reservoire«17 aus dem Zustand nostalgischer Versenkung und macht dessen heterotopische Eigenheit (im Sinne der in der Gesellschaft gleichzeitig verankerten und aus dieser herausfallenden Heterotopien oder »Anderen Räume« Michel Foucaults18) als ästhetisches Prinzip produktiv. Damit unterfüttert er seine Vorstellung, dass sich »Circus als Metapher für künstlerisches Wirken im öffentlichen Raum« eigne.19

Angehalten für einen Moment Hier schwingt auch das stets in Langs Arbeiten (wie in den Text- und BildQuellen, aus denen er schöpft) inhärente Potenzial des Fehlschlags mit, der aber im nächsten Augenblick in einen Triumph kippen kann: die Sorte Wendung, die im Tragischen noch das Komische zu sichten vermag. So wird in der akustischen Kurzeinführung zur Installation 8 1/2 Circus space – nach 15 16

17 18 19

182

Federico Fellini, zit. nach Deena Boyer, in: Francesco Tornabene, Federico Fellini. Realist des Phantastischen, Berlin 1990, S. 47 (Vgl. dazu Fußnoten 14 und 85, S. 132). Tornabene verweist in seinen Ausführungen zur Entstehungsgeschichte von Fellinis Film 8 1/2 im Zusammenhang mit dessen Fokus auf die seelische Befindlichkeit eines in einer Schaffenskrise befindlichen Regisseurs auf die inspirierende Wirkung, die die Schriften des Psychologen Carl Gustav Jung auf Fellini hatten, was sich auch in dem ursprünglichen wortspielerisch aufgeladenen Titel des Films, Asa Nisi Masa (eine Anspielung auf »Anima« oder »Seele«), manifestiere. (Vgl. ebd., S. 48). Zit. nach Langs Erläuterungen zu seiner Installation 8 1/2 Circus space (2006), der Autorin in einer E-Mail vom 24. Oktober 2010 zur Verfügung gestellt. Vgl. dazu Foucault, Andere Räume, Barck u.a. 1992, S. 39. Zit. nach Langs Erläuterungen zu seiner Installation 8 1/2 Circus space (2006), der Autorin in einer E-Mail vom 24. Oktober 2010 zur Verfügung gestellt.

VOLKER LANGS TEXTRÄUME UND ERINNERUNGSGEBÄUDE

einem Ausspruch der letztlich scheiternden Planerin eines »Zukunftszirkus«20 Leni Peickert aus Alexander Kluges Film-Collage Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos von 1968 – die Hoffnungsformel laut: »Die Utopie wird immer besser, während wir auf sie warten.«21 Das Warten, Zeit anhalten und wieder in Fluss bringen, die Fokussierung eines Moments, in dem sich in nuce ein ganzes Leben abzuspielen vermag: Darin besteht eine quintessenzielle Dynamik von Langs Möglichkeitsräumen, unabhängig davon, ob sich diese am Meer, in einem Park, an anderer öffentlicher Stelle oder aber im musealen Umfeld manifestieren. Wir finden die existenzielle Momentaufnahme als ästhetische Strategie bei Virginia Woolf ebenso wie bei Fellini, der laut eigener Auskunft spezifisch im Kontext von 8 1/2 die Idee hatte, »einen ganz bestimmten Punkt im Leben eines Menschen […] – einen Tag, eine Stunde, eigentlich nur einen Augenblick« zu erfassen, um anschließend zu »zeigen, wie diese Sekunde auf drei verschiedenen Ebenen gelebt wird«.22 Auch Virginia Woolf konzentriert den Blick auf den Verlauf eines Tages, im Fall von Die Wellen, wie bereits erwähnt, verquickt mit dem Zyklus der Jahreszeiten. Letzterer Ansatz findet sich ebenfalls etwas abgewandelt im Spätwerk der Autorin, The Years (Die Jahre, deutsche Erstausgabe 1954), in dem sich die Geschichte um die Geschicke der Pargiter-Familie über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten erstreckt, wobei alle Jahreskapitel jeweils durch einzelne Tage repräsentiert sind, die wiederum im Wechsel der Jahreszeiten durchdekliniert werden. Volker Langs Konzept zu einer Installation für die Ausstellung Konstruierte Empfindung 2011 in Hamburg anlässlich des 200. Todestages von Philipp Otto Runge (1877–1910) basiert lose auf dem Kapitel 1907 aus The Years. Lang verwandelt die ausgewählte literarische Sequenz in ein Standbild mit drei grau grundierten Holzfiguren: »[…] eine Szene […], die für einen Moment angehalten wurde«.23 Diese eingefrorene Szene wird durch eine von Licht- und Schattenspiel bestimmte 20

21 22 23

Vgl. Fritz Rumler, Ratlose Artisten in der Pulvermühle. Fritz Rumler über Alexander Kluges neuen Film, in: Der Spiegel, Ausg. 37 / 9.9.1968, unter: http://www.spiegel. de/spiegel/print/d-46477783.html (14. Okt. 2016). Unter: http://www.sculpture-citynord.de/kue_volker_lang.htm (14. Okt. 2016). Zit. nach Tornabene 1990, S. 47. Zit. nach einem Brief von Volker Lang zu seiner Arbeit für die Gruppenausstellung Konstruierte Empfindung - beobachtbare Zeit. Time and Emotion under Construction 2011 im Kunsthaus Hamburg (das vorgeschaltete Symposion Romanticism Revisited fand vom 7.-8. Mai 2010 statt), veranstaltet zum 200. Todestag von Philipp Otto Runge im Rahmen der Hamburger Veranstaltungsreihe querdurch – zum Verhältnis von Kunst und Wissenschaft, an die Autorin vom 23. September 2010.

183

11 |  BRUCHSTÜCKE VON GESCHICHTEN IM FLUSS

Kamerafahrt um die Figuren herum aktiviert, zum Fließen gebracht. Der Künstler, der in Virginia Woolfs »Verräumlichung von Zeit« ein »wesentliches Motiv ihrer Romane« erkennt,24 schlägt damit eine Brücke zu den Tageszeiten des Romantikers Runge. Der Strom der Zeit als »das beständige Fließen […], vom dem die Seele getragen wird«,25 wie Lang einen Gedanken des französischen Philosophen und Literaten Henri Bergson fasst, zieht sich als zentrale Gestalt gebende Kraft durch seine Arbeiten hindurch. In den vergangenen Jahren haben sich diese vom Außen- in den Innenraum hinein und wieder zurück in den Außenraum bewegt. Aus den »Räumen für Texte« sind zunächst Bühnen geworden, »auf denen Akteure die Worte in den Raum tragen«.26 Schrittweise wurden »reale Landschaften durch symbolische Reliefs [….], Häuser und Räume durch Scheinfassaden, schließlich die Akteure durch selbst geschaffene Figuren« ersetzt.27 Doch kam die »Suche nach einer Geste, dem angehaltenen Moment und ihrer zeitgenössischen Darstellung« in der figürlichen (Portrait-)Plastik weiterhin aus der Beschäftigung mit Texten.28 Die Sprache der Poesie, die Lang aus den Feldern der Literatur, des Films, des Theaters oder auch der Philosophie bezieht, bleibt ein unerschöpflicher Fundus, aus dem heraus die immateriellen Stoffe – wobei es hier weniger auf deren wortgenaue Wiedergabe oder unmittelbare Erkennbarkeit29 und mehr um das Vermitteln von deren geistigem Gestus oder Duktus geht – für seine Bild-Räume und Raum-Bilder erwachsen. Dass Langs literarisch-textlich aufgeladene Strukturen auch politische Sprengkraft erzeugen, zeigt sich mit leiser Intensität in seinen Architekturen des Gedenkens. Anlässlich des 60. Jahrestags der verheerenden Luftangriffe auf Hamburg in der Nacht zum 28. Juli 1943 realisierte der Künstler 2004 sein begehbares Mahnmal Der Engel schwieg in Rothenburgsort – einer der im Zuge des »Hamburger Feuersturms« durch Bomben weitgehend zerstörten Bezirke der Hansestadt. Betitelt nach dem 1949/50 geschriebenen, 1992 24 25 26

27 28 29

184

Ebd. Ebd. Zit. nach Langs Projekt-Beschreibung für Konstruierte Empfindung - beobachtbare Zeit. Time and Emotion under Construction 2011im Kunsthaus Hamburg, der Autorin per E-Mail am 20. Oktober 2010 zugeschickt. Ebd. Ebd. In seinem Brief vom 23. September 2010 schreibt Lang in Bezug auf das Konzept für seine Runge-Installation: »Der Besucher / Betrachter der Arbeit muss nicht unbedingt wissen, um welchen Text bzw. um welches Buch es sich handelt.« Diese Erläuterung lässt sich auch allgemein auf die Arbeiten des Künstlers übertragen.

VOLKER LANGS TEXTRÄUME UND ERINNERUNGSGEBÄUDE

postum erschienenen Roman von Heinrich Böll (1917–1985), bezieht sich die minimalistische, rußschwarze Konstruktion in verkleinertem Maßstab formal auf die einstmals für die Arbeiterquartiere im Osten Hamburgs charakteristischen Terrassenhäuser. An den Fensterinnenseiten des Erinnerungshauses befinden sich Texte von überlebenden Zeitzeugen und Zitate aus literarischen Quellen. Geschichte und Geschichten als poetische Auslöser des Nach- und Mitempfindens: Über die verbale Ansprache wird das Mahnmal zu einem optisch, räumlich, und mental erlebbaren, Zeiten übergreifenden Ort der Kontemplation und Kommunikation.30 Diesem Prinzip folgt auch Langs 2013 eingeweihtes, nach einer Zeile des Gedichts Sprachgitter (1967) von Paul Celan (1920–1970) benanntes Mahnmal für die jüdischen Opfer nationalsozialistischer Verfolgung aus dem Steubenweg 36 (heute Grotiusweg 36) in Hamburg-Blankenese: Himmel, herzgrau, muss nah sein. Es erinnert an 17 jüdische Bürgerinnen und Bürger aus Blankenese, die während des nationalsozialistischen Regimes bis zu ihrer Deportation nach Lodz und Riga und der späteren Ermordung in den Konzentrationslagern Theresienstadt und Auschwitz im so genannten »Judenhaus« an dieser Stelle interniert waren. Langs von Bäumen umringtes, sechseckiges,31 gitterartiges Gehäuse des Gedenkens, errichtet auf dem Nachbargrundstück des einstigen Standortes des »Judenhauses«, wurde in den Worten des Künstlers »von der Vorstellung der stummen Zeugenschaft des Waldes, der das Gebäude umgibt«, inspiriert und soll die »Schutzlosigkeit seiner Bewohner« greifbar machen: »Der Innenraum wird von der Umgebung durchdrungen, ebenso ist das Dach sechseckig zu den Wipfeln der Bäume und zum Himmel geöffnet.«32 Die Namen und Lebensdaten der einstigen Bewohner sind auf beweglichen Bohlen des Pavillons angegeben. Auf einer weiteren steht die Gedichtzeile von Paul Celan, die Langs offener Struktur gestalterisch eingeschrieben ist. 30

31

32

Vgl. die ausführliche Beschreibung des Mahnmals und seines historischen Kontexts unter der Rubrik »Kunst am Bau« auf der Website des Deutschen Künstlerbundes, dem auch Volker Lang angehört. Es wird hier darauf hingewiesen, dass die in einer Schreibwerkstatt entstandenen Texte der Zeitzeugen ferner zur Eröffnung des Mahnmals am 21. November 2004 in einer Broschüre veröffentlicht worden sind: http://www.kuenstlerbund.de/kab/index.php?viewid=299 (14. Okt. 2016). Die sechseckige Form nimmt Bezug auf das Hexagramm-Symbol des Davidsterns, das auf das Volk Israels und auf das Judentum verweist. Aus zwei ineinander verwobenen gleichseitigen Dreiecken bestehend, bildet das Symbol in seiner Mitte eine sechseckige Binnenform. Zit. nach: http://www.hamburg.de/kulturbehoerde/kunst/4107310/mahnmaldeportation-blankenese/ (14. Okt. 2016).

185

11 |  BRUCHSTÜCKE VON GESCHICHTEN IM FLUSS

Den Deserteuren und weiteren Opfern der NS-Militärjustiz ist Langs jüngster Entwurf eines Denkmals gewidmet, konzipiert, um auf dem Hamburger Stephansplatz zwischen dem brachialen Kriegerdenkmal des Bildhauers Richard Emil Kuöhl (1880–1961) von 1936 und dem fragmentarisch gebliebenen, von 1983 bis 1986 errichteten Gegendenkmal des Wiener Künstlers Alfred Hrdlicka (1928–2009) Zeichen zu setzen.33 Lang hat als Grundform ein gleichschenkliges Dreieck gewählt, bei dem zwei Seiten aus bronzenen Wortgittern bestehen, die, verbunden durch eine geschlossene Wand mit vorhangartigen Faltungen, als Öffnung in ein inneres, begehbares Feld fungieren. Das filigrane sprachliche Flechtwerk der beiden durchlässigen Wände greift Passagen aus der von Helmut Heißenbüttel (1921–1996) verfassten, 1967 erschienenen und 1979 als Hörspiel veröffentlichten Textcollage Deutschland 1944 auf. Lang hat in seinen Ort des Gedenkens Tonaufnahmen aus Heißenbüttels semidokumentarischem »Sprachfilm«34 inte­ griert, der die Schrecken des Krieges und der NS-Zeit in multiperspektivischen Splittern ins Bewusstsein ruft. Damit knüpft Lang an seine Evokation innerer Bilder im Sprach-KlangKörper seines Wellenhauses von 2001 an. Rainer Unruh sieht darin auch die anhaltende Auseinandersetzung des Künstlers »mit der Frage […], wie kollektives Gedächtnis entsteht und mit welchen Formen die Kunst Räume eröffnen kann, in denen sich unser Leben im Hier und Jetzt um die Echos der Vergangenheit bereichert«, fortgesetzt.35 In seiner feingliedrigen, zwischen Verdichtung und Auflösung, gestern und heute oszillierenden Stätte des Gedenkens verleiht Lang den ungreifbaren Verbindungen zwischen den Zeiten und Sphären, Menschen und Handlungen erneut eine Rahmung und somit Gestalt. 33

34

35

186

Der Entwurf des Künstlers (realisiert 2015) wurde im Rahmen eines Wettbewerbs der Stadt Hamburg von der elfköpfigen Fachjury insbesondere für sein »zurückhaltendes und zugleich klares Auftreten zwischen den beiden vorhandenen Denkmälern« gelobt. (Vgl.: http://www.ndr.de/nachrichten/hamburg/So-soll-Deserteurdenkmal-aussehen,deserteurdenkmal102.html, 14. Okt. 2016). So Karl Krolow anlässlich der Laudatio zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises 1969 an Helmut Heißenbüttel mit Blick auf das »Segment Zeit- und SprachPhänomenologie« Deutschland 1944. (Vgl.: http://www.deutscheakademie.de/de/ auszeichnungen/georg-buechner-preis/helmut-heissenbuettel/laudatio, 14. Okt. 2016). Rainer Unruh, zit. nach der Ankündigung zum Künstlergespräch zwischen dem Hamburger Kritiker und Volker Lang im Rahmen von Langs Ausstellung Montello (1. Nov. 2014 –15. Feb. 2015) in der Hamburger Galerie Osterwalder’s Art Office (unter: Onlineportal Kulturport.de /Kunst-Kultur-Events) am 1. Februar 2015 (Archiv d. Autorin).

VOLKER LANGS TEXTRÄUME UND ERINNERUNGSGEBÄUDE

Im Zusammentreffen von Kreation und Auflösung, »auf dem schmalen Grat zwischen funktionaler Konstruktion und ästhetischer Dekonstruktion«,36 erhalten die Skulpturen, Strukturen und Orte des Künstlers ihre subtile Spannung, aus dem Hervorrufen des Großen im Kleinen, das im Fragment aufblitzt wie das Funkeln der Sonne in der Brandung am Meeressaum. Diesen Augenblick im Zyklus des Daseins einfangen, die Verlangsamung suchen, um das Erkennen des Eigenen im Anderen nicht zu versäumen, denn: »Je schleuniger die Bewegung, umso schneller vergeht die Zeit und umso mehr verliert die Umgebung an Bedeutung.«37 Im Innehalten gibt Volker Lang dem Weiterdenken aber auch die Weite, sich in Richtung Vergangenheit und Gegenwart zu öffnen, und sich auf der Achse der Utopie zu entfalten. In diesem künstlerisch eröffneten mentalen Raum erhält das Warten, in dessen Kreisverläufe wir alle eingesponnen sind, eine Form, die Sehnsucht ein Ziel und der Moment im ephemeren Wellenspiel unserer Gezeiten Beständigkeit.

36 37

Berg 2001, S. 10. Paul Virilio, Metempsychose des Passagiers, in: Barck u.a. 1990, S. 89.

187

12 | AUF BEIDEN SEITEN DES SPIEGELS

Luis Camnitzers multivalente Trugbilder This is a mirror. You are a written sentence. Luis Camnitzer1

A

ls seine erste konzeptuelle Arbeit bezeichnet der 1937 in Lübeck geborene, uruguayische Künstler mit New Yorker Wohnsitz, Luis Camnitzer, den Satz: »This is a mirror, you are a written sentence.« Er wurde unter anderem Teil einer Serie von Klebeetiketten, die Camnitzer 1967 für eine Ausstellung des New York Graphic Workshop produzierte und an verschiedenen öffentlichen Orten hinterließ.2 Schwarze Worte auf weißem Grund, präzise Koordinaten für die Aktivierung einer erweiterten Wahrnehmung: »A perfect circular horizon.« / »A surrounded space that expands in the direction you walk.« / »A straight thick line that runs from here through you to the end of the room.« Und: »This is a mirror, you are a written sentence« – Dies ist ein Spiegel, du bist ein geschriebener Satz. Diese Doppelaussage, die an philosophische Syllogismen denken lässt, markiert den Beginn einer durchgehenden ästhetischen Strategie. Auf seine textorientierte künstlerische Phase in den 1960er Jahren zurückblickend schrieb Camnitzer 1977, er habe damals gedacht, dass »die verbale Beschrei1

2

Bis 1965 produzierte Luis Camnitzer großformatige »expressionistische« Holzschnitte. Als er begann, sich mit Worten und Beschreibungen zu beschäftigen, war »This is a mirror, you are a written sentence« 1966 nach eigener Aussage des Künstlers »der erste Satz«, der ihm »in den Kopf kam«. Zit. nach einem Telefongespräch der Autorin mit Luis Camnitzer am 20. September 2003. Dieser Satz war auch Bestandteil der parallel entstandenen Arbeiten des Künstlers: This a Mirror, You Are a Written Sentence (1966–1968), wo er auf einer schildartigen Kunststofftafel in erhabenen Lettern auftritt, sowie Esto es un espejo. Usted es una frase escrita [This Is a Mirror. You Are A Written Sentence] (1966–1973), bestehend aus einer Aluminiumplakette mit dem eingraviertem Text und einem Spiegel, der diesen reflektiert. (Vgl. zu diesen Arbeiten sowie den Klebeetiketten, in denen der Text Verwendung findet, auch das kommentierte Werkverzeichnis von Maren Welsch in: Luis Camnitzer, Ausst.-Kat., engl./span. (Daros Museum, Zürich; El Museo del Barrio, New York: 2010/2011), hrsg. v. Daros Latinamerica AG, Hans-Michael Herzog; Katrin Steffen, Ostfildern 2010, S. 53-163, hier S. 54-58).

189

12 |  AUF BEIDEN SEITEN DES SPIEGELS

bung einer visuellen Situation die Kreativität der Betrachterinnen und Betrachter stärker anzuregen vermag als die visuelle Situation selbst.«3 Von Anfang an setzte er auf die aktive Teilnahme des Publikums an seiner Kunst: ein zentrales Anliegen, das seine gesamte Arbeit bestimmt. Durch die Evokation von Bildern und Ereignissen sucht er Denkprozesse in den Köpfen der Rezipienten auszulösen, »Einsichten zu schaffen«.4 Deshalb erzählt er nie die ganze Geschichte, sondern gibt »Hinweise oder Stimuli, so dass sich das Publikum selbst an die Arbeit macht, die Idee, das Bild, oder was auch immer es ist, zusammenzusetzen.«5 Mit der rätselhaften Formel »This is a mirror, you are a written sentence« bringt Camnitzer ferner ein Motiv ins Spiel, das in Variationen immer wieder in seinem Werk auftaucht: den Spiegel. Dieser durchläuft in seinen späteren Objekten und Installationen eine Metamorphose vom Begriff zum konkreten Gegenstand bis hin zur abgeleiteten Figur oder räumlichen Konstellation, wo die schillernden Mechanismen des multidimensionalen, essenziell flüchtigen Sinnbilds »Spiegel« in anderer Form zum Vorschein kommen. Angel Kalenberg hebt die zentrale Bedeutung des Verhältnisses zwischen »matrix« und »imprint«, also Matrix und Auf- oder Abdruck, im Schaffen des Künstlers hervor. Auch das häufige Auftreten des Spiegels wird von ihm in diesem Licht interpretiert. Dieser funktioniere, so Kalenberg, genauso wie der Abdruck, da er das Bild invertiere. Allerdings verwischen dabei aus seiner Sicht die Gewissheiten, lässt sich kaum noch unterscheiden, was links oder rechts, was Wirklichkeit und was Abdruck oder Spiegelung sei.6 Camnitzer hat behauptet, »im Grunde ein Surrealist« zu sein und den nachhaltigen Einfluss der hintergründigen Schriften des argentinischen Dichters und Erzählers Jorge Luis Borges (1899–1986) auf sein Denken hervorgehoben.7 Dass er in Text/Bild-Arbeiten wie Dictionary (1969) oder Arbitrary Objects and Their Titles (1979) ferner bewusst auf René Magrittes Aus3

4

5 6

7

190

Vgl. Luis Camnitzer, Wonder Bread und Spanglische Kunst, in: vivências / Lebenserfahrung / life experience, hrsg. v. Sabine Breitwieser, Ausst.-Kat., dt./engl. (Generali Foundation, Wien: 2000), Wien 2000, S. 119, Anm. 9. Zit. aus einem unveröffentlichten Gespräch der Autorin mit Luis Camnitzer anlässlich seiner Beteiligung an der Documenta 11 (2002) und der Ausstellung Dialogue (unter Beteiligung der Installationen von Luis Camnitzer: Homeless, 2002, und Al­f redo Jaar: Epilogue, 1998) in der Galerie Basta, Hamburg, am 6. März 2002. Ebd. Vgl. Angel Kalenberg, Latin American Conceptual, in: Luis Camnitzer. Uruguay, Ausst.-Kat., engl./span. (28. Biennale Venedig, Länderpavillon Uruguay: 1988), hrsg. v. dems., Museo Nacional de Artes Visuales, Montevideo, Montevideo 1988, s. p. Camnitzer im Gespräch mit der Autorin, 6. März 2002.

L U I S C A M N I T Z E R S M U LT I V A L E N T E T R U G B I L D E R

hebelung der Interdependenz zwischen Gegenstand und Abbild, Signifikant und Bezeichnetem Bezug nimmt, hat Mari Carmen Ramírez ausführlich erörtert. Allerdings begreift Camnitzer Magritte, wie sie betont, nicht als Surrealist, sondern als »Proto-Konzeptualist«.8 Camnitzer, dessen Werk Michael Glasmeier in einem aus der Politik der Entschlüsselung und der Lust am Phantastischen und Parodistischen gespeisten »Gracián-CervantesImpuls« verortet,9 verknüpft die poetische Vielschichtigkeit surrealistischer Gegenlogik mit der analytischen Schärfe (vor-)konzeptueller Ansätze und generiert daraus eine subtile künstlerische Methode: die Agitation des Publikums zur Empfindung von Empathie. Durch Borges’ phantasmagorischen Kosmos geistert »der Mann, der sich für ein Abbild, der Spiegel, der sich für wirklich hält.«10 Dieser Umkehrschluss schwingt in Camnitzers mehrfach variierten Sprachbild This is a Mirror. You are a Written Sentence ebenfalls mit – und gewinnt an Brisanz in den späteren Auseinandersetzungen des Künstlers mit Wahnsinn und Halluzination als kreative Mittel existenzieller Krisenbewältigung. Die Lakonie und Undurchdringlichkeit von Camnitzers Äußerung birgt darüber hinaus Parallelen zu Magrittes Gemälde L’usage de la parole VI (Der Sprachgebrauch VI) von 1928, in dem zwei gleichartige amorphe, schattenwerfende Gebilde scheinbar willkürlich mit den Begriffen »miroir« (Spiegel) und »corps de femme« (Frauenkörper) belegt sind.11 8

9

10

11

Vgl. Mari Carmen Ramírez, Moral Imperatives. Politics as Art, in: Luis Camnitzer. Retrospective Exhibition 1966–1990, Ausst.-Kat. (Lehmann College Art Gallery, Bronx, New York, mit weiteren Stationen, u. a. in Cleveland, Ohio, Montevideo, Uruguay, und Florenz: 1991/1992), New York 1991, S. 9 f. In seiner Abhandlung über das »pädagogische Paradigma« bei Camnitzer führt Michael Glasmeier den spanischen Barockautoren, Aphoristiker und Philosophen Baltasar Gracián (1601–1658) und dessen Schrift Agudeza y arte de ingenio (1648) über die Kunst der Geistesschärfe als Ausgangspunkt eines Konzeptualismus an, den er wiederum auf einer Achse mit Duchamp, Jorge Luis Borges, Marcel Broodthaers, den Fluxus-Künstlern, den Dichtern der Konkreten Poesie und den Situationisten sieht. Zusammen mit Cervantes’ (1547–1616) Geist des Phantastischen und Parodistischen bilde dies eine treibende Kraft lateinamerikanischer Kunst grundsätzlich und spezifisch des Schaffens von Camitzer. (Vgl. Michael Glasmeier, The Gracián–Cervantes Impulse. Luis Camnitzer’s Pedagogical Paradigm, in: Camnitzer 2010, S. 165–175, hier: S. 168). Jorge Luis Borges, Shakespeares Gedächtnis, 25. August 1983, in: Spiegel und Maske. Erzählungen 1970-1983 (Werke, Bd. 13), hrsg. v. Gisbert Haefs und Fritz Arnold, Frankfurt/Main 1993, S. 196. Borges hat das Motiv des Spiegels in seinen Erzählungen wiederholt aufgegriffen. Eine weitere Parallele zu René Magrittes L’usage de la parole VI ist in Luis Camnitzers Arbeit Two Identical Objects von 1981 zu entdecken. Ein Stück Zeitungspapier und eine Dollar-Note wurden hier jeweils auf gleiche Weise geknickt und werfen

191

12 |  AUF BEIDEN SEITEN DES SPIEGELS

In seiner Gegenüberstellung von »mirror« und »you« verwendet Camnitzer Sprache allein als Katalysator einer intellektuellen Pingpong-Dynamik, in deren Verlauf Sinn und Bedeutung von einem Feld ins andere überspringen. Zum einen ist »This is a mirror« buchstäblich ein geschriebener Satz. Zugleich eröffnet die Anrede »you« die irritierende Frage nach dem Adressaten. Handelt es sich dabei womöglich um das betrachtende Subjekt, das sich zum Objekt gewendet (»ein geschriebener Satz«) in Camnitzers verschlungener Endlosschleife wiederfindet? Oder gar im Spiegel selbst: dort, wo das Subjekt zum Beobachter seiner selbst wird, zum Abbild, zur Illusion, die den paradoxen Beweis für die eigene Wirklichkeit liefern soll? Im Spiegel kehren sich die Bilder und Sätze um: Dies bist du. Der Spiegel ist ein geschriebener Satz, ein Konstrukt, das vorgibt, Realität zu sein. Taucht man darin ein, verschieben sich flüchtig die Gewissheiten, fallen Subjekt und Objekt, Gegenstand und Abbild zusammen, ohne sich je von ihrem ursprünglichen Platz entfernt zu haben. Du bist ein Spiegel. Dies ist ein geschriebener Satz.

Grenzgänger im Spiegelbild In seinem Essay Andere Räume beschreibt Michel Foucault den Spiegel als »eine Art Misch- oder Mittelerfahrung« zwischen den Utopien und den »Heterotopien« einer Gesellschaft. Letztere repräsentieren seiner Definition zufolge »tatsächlich realisierte Utopien« und operieren als »Gegenplatzierungen« oder »Orte außerhalb aller Orte« nach eigenen Regeln, gleichwohl sie in der Kultur, der sie entspringen, verankert sind:12 Der Spiegel funktioniert als eine Heterotopie in dem Sinn, dass er den Platz, den ich einnehme, während ich mich im Glas erblicke, ganz wirklich macht und mit dem ganzen Umraum verbindet, und dass er ihn zugleich ganz unwirklich macht, da er nur über den virtuellen Punkt dort wahrzunehmen ist.13

Im Grenzgebiet, wo wirklich und unwirklich, hier und dort verfließen, befinden sich auch Betrachter von Luis Camnitzers Arbeit Execution. Entstanden

12 13

192

entsprechend gleiche Schatten. In diesem »Spiegel-Bild« spielt der Künstler die Gleichheit der Form subtil gegen die semantische Differenz der Gegenstände aus. Foucault in: Barck u.a. 1992, S. 39. Ebd.

L U I S C A M N I T Z E R S M U LT I V A L E N T E T R U G B I L D E R

1970 parallel zu der Rauminstallation Leftover, reflektiert sie die Auseinandersetzung des Künstlers mit Terror und Diktatur in Lateinamerika. Ein runder Spiegel ist strahlenförmig zersprungen, als sei ein Gewehr darauf abgefeuert worden. Aus dem »Einschussloch« quillt wie aus einer Wunde eine dickflüssige, blutrote Substanz. Darunter ist das Wort »Execution« schablonenhaft eingraviert. Jede Person, die in den Spiegel schaut, wird automatisch zum potenziellen Hinrichtungsopfer. Denn die fatale »Schusswunde« zeichnet sich im Gesicht der Hineinblickenden ab. Während sie durch den Spiegel ins Bild hineingeholt werden, laden sie beide Illusionsräume ihrerseits mit Wirklichkeit auf. Im Spiegel der Betrachter wiederum manifestiert sich die Kunst. Camnitzer verwendet hier zum ersten Mal einen konkreten Spiegel als Vehikel für die direkte Integration des Publikums in sein Werk14 und knüpft damit ästhetisch an einen zentralen Gedanken Foucaults in erwähnter Abhandlung an: Im Spiegel sehe ich mich da, wo ich nicht bin: in einem unwirklichen Raum, der sich virtuell hinter der Oberfläche auftut; ich bin dort, wo ich nicht bin, eine Art Schatten, der mir meine eigene Sichtbarkeit gibt, der mich mich erblicken lässt, wo ich abwesend bin: Utopie des Spiegels. Aber der Spiegel ist auch eine Heterotopie, insofern er wirklich existiert und insofern er mich auf den Platz zurückschickt, den ich wirklich einnehme; vom Spiegel aus entdecke ich mich als abwesend auf dem Platz, wo ich bin, da ich mich dort sehe; von diesem Blick aus, der sich auf mich richtet, und aus der Tiefe dieses virtuellen Raumes hinter dem Glas kehre ich zu mir zurück und beginne meine Augen wieder auf mich zu richten und mich da wieder einzufinden, wo ich bin.15

Die Betrachter tauchen mittels des Spiegels in die Welt des Anderen – des Opfers von Gewalt – ein und erkennen sich selbst an dessen statt. An den sicheren Ort diesseits des Spiegels zurückgekehrt, wirkt die Begegnung mit dem Anderen im Eigenen nach. Aber Camnitzers äquivokes Spiegel-Bild beherbergt tückische Untiefen: Beim Außenblick auf das hingerichtete Gegenüber, das der zerstörte, »blutende« Spiegel suggeriert, nehmen die 14

15

Die etwas später realisierte Arbeit Esto es un espejo. Usted es una frase escrita [This Is a Mirror. You Are A Written Sentence] (1966–1973) integriert zwar ebenfalls einen Spiegel, doch zielt dieser in erster Linie auf Reflexion der davor platzierten Texttafel und erst im zweiten Schritt auf die (Selbst-) Reflexion des Rezipienten (vgl. Anm. 2). Foucault in: Barck u.a. 1992, S. 39.

193

12 |  AUF BEIDEN SEITEN DES SPIEGELS

Betrachter auch den Standpunkt des Täters ein. Eine Ambiguität, die Camnitzer in seinem brisanten Fotoradierungszyklus From the Uruguayan Torture Series (Aus der uruguayischen Folter-Serie, 1983-1984) noch steigert.16 Eine etwas anders gelagerte Problematik führt Camnitzer in der Mehrfachspiegelung The Threat of the Mirror (Bedrohung des Spiegels) von 1978 vor Augen. Auf zwei identischen, parallel angeordneten Messingplatten sind jeweils Bruchstücke eines Spiegels beziehungsweise eines fotografischen Selbstportraits des Künstlers fixiert. Die Splitter, die das Foto konstituieren, wiederholen in spiegelbildlicher Umkehrung die zerborstenen Spiegelfragmente auf der anderen Platte sowie den nunmehr handschriftlich formulierten Titel der Arbeit.17 Die »Bedrohung des Spiegels« manifestiert sich in einer Desintegration des einstmals »intakten« (Selbst-)Bildnisses, das – so ist anzunehmen – stellvertretend für die Kohärenz des Individuums steht. Im Kontext von Camnitzers eindringlicher Thematisierung politisch sanktionierter Gewalt deutet das in Scherben liegende Abbild ebenso wie der zerbrochene Spiegel auf die Auslöschung des Individuums durch repressive Machtausübung und auf das fragile Wesen des Menschen schlechthin. Mit seiner Reflexion der Reflexion greift der Künstler indes noch einen weiteren Gedanken auf. Denn das fotografische Image ist selbst schon eine Spiegelung, eine Illusion, die nur vorgaukelt, Dokument der Realität zu sein. Über die Allgegenwart technischer Bilder heute, in deren Ersatzwirklichkeit wir unser Dasein zu verorten suchen, bemerkt Vilém Flusser: »Der Mensch vergisst, dass er es war, der die Bilder erzeugte, um sich an ihnen in der Welt zu orientieren. Er kann sie nicht mehr entziffern und lebt von nun ab in Funktion seiner eigenen Bilder: Imagination ist in Halluzination umge­ schlagen.«18

16

17

18

194

In der 35teiligen Arbeit (gezeigt, u. a., im Rahmen der Documenta 11, 2002) changiert durch die bewusst in der Schwebe gehaltene Mehrfachcodierung von Bild und Text der Standpunkt der Betrachter zwischen Opfer- und Täterperspektive, Innen- und Außenblick. Mari Carmen Ramírez hat Luis Camnitzers Verwendung handschriftlicher Texte in Form von integrierten oder kommentierenden Titeln ab Ende der 1970er Jahre als bewusste Hinweise auf die aktive Präsenz des Künstlers im Werk gedeutet. (Vgl. Ramírez in: Camnitzer 1991, S. 10.) Der persönliche Impetus der Handschrift erweckt seitens des Publikums aber auch die Vorstellung, in eine subjektive Sphäre einzutauchen, an einer »privaten« Situation teilzuhaben. Mit diesem Kunstgriff verstärkt Camnitzer die Nähe der Betrachterin, des Betrachters zum Werk. Flusser 1994, S. 10.

L U I S C A M N I T Z E R S M U LT I V A L E N T E T R U G B I L D E R

In The Threat of the Mirror macht Camnitzer, der in seinem Werk durchgängig auch die Interrelationen zwischen Imagination und Halluzination als Kunst und Sinn bildende Kräfte, aber auch als Orte des Rückzugs, der Autonomie und der Projektionserzeugung in Situationen der Krise und der Freiheitsberaubung untersucht hat, anschaulich, dass die Spiegelung das Subjekt immer wieder auf sich selbst zurück wirft. Zerbricht das Bild, ist die eigene Identität nicht mehr ablesbar, erkennt man sich selbst nicht im Spiegel, der einem die Welt erklären soll.

Bruchstücke einer möglichen Geschichte Um 1980 erweiterte Luis Camnitzer sein ästhetisches Verfahren. Die Wechselwirkung zwischen Text und Bild oder Text und Objekt bleibt zwar eine zentrale Komponente seiner Kunst, doch bindet er diese in zunehmend komplexere narrative Verflechtungen ein, die allerdings nur angerissen werden. Er vergleicht sich selbst mit einem »Theaterregisseur«, der bestimmte Parameter als Handlungsrahmen vorgibt und die einzelnen Elemente eines Werks in eine »minimale Ordnung« bringt, um dem Publikum maximale Spielräume zu gewähren.19 Bei seinen fragmentarischen Inszenierungen legt er Fährten aus, stellt Indizien in den Raum, deren Entschlüsselung den Betrachterinnen und Betrachtern überlassen wird. Wie Ramírez hervorhebt, seien die Rezipienten wie in einem Hitchcock-Film aufgefordert, die verborgene Geschichte aus Bruchstücken zusammenzufügen. Da die Geschichte nie in Gänze offenbart werde, eröffne sich die Möglichkeit vieler denkbarer narrativer Konstruktionen, die sich aus immer wieder neuen Kombinationen von Texten und Bildern ergeben.20 Mit seiner Aushebelung und Verunmöglichung eindeutiger Zuschreibungen durch eine Dramaturgie der Bedeutungssplitter und Leerstellen macht Camnitzer auch ein gesellschaftliches Phänomen greifbar, das Paul Virilio 1991 in einem Gespräch mit Hans Ulrich Obrist prägnant umschrieben hat: Demzufolge ist »alles, was davor dazu diente, sich ein Bild zu machen, der gesamte öffentliche Blick der Vergangenheit, im Moment ausgehöhlt, ausgeleert. […] Der Blick ist zerbrochen wie ein Glas. Man ist sich dessen, was man sieht, nicht mehr sicher.«21 19 20 21

Camnitzer im Gespräch mit der Autorin, 6. März 2002. Vgl. Ramírez in: Camnitzer 1991, S. 10. Paul Virilio im Gespräch mit Hans Ulrich Obrist [1991], zit. nach: Kasper König; Hans Ulrich Obrist, Einführung, in: dies. (Hrsg.), Der zerbrochene Spiegel. Positionen zur

195

63  Luis Camnitzer, The Discovery of Geometry, 1978/2008, Silbergelatine Print, 28 x 36 cm

64  Luis Camnitzer, He Worked with

Forbidden Symbols (1983-84), aus: From the Uruguayan Torture Series (1983-84), Fotoradierung, 35-teilig, je 75 x 55 cm, Aufl.: 15 und 1 AP

65  Luis Camnitzer, Execution, 1970, Spiegel,

Expoxid, Gravur, Durchmesser: 35,6 cm, Aufl.: 5 Expl.

66  Luis Camnitzer, This is a Mirror, You Are a Written Sentence, 1966-1968, Kunststoff, 48,4 x 62,5 x 1,5 cm

12 |  AUF BEIDEN SEITEN DES SPIEGELS

Die Ausstellung Der zerbrochene Spiegel (Wien und Hamburg, 1993/94), kuratiert von Kasper König und Hans Ulrich Obrist, befasste sich vor dieser Folie mit der Reaktion der zeitgenössischen Malerei auf die »Krise der Repräsentation«.22 Camnitzers Umsetzung des »zerbrochenen Spiegels« als formales Prinzip bei der Konzeption seiner prekären, gezielt lückenhaften Versuchsanordnungen gibt jener »Krise« Raum übergreifende Gestalt und visualisiert adäquat die Auffassung des Künstlers von Geschichte als ein von Machtinteressen geprägtes Trugbild mit vielen Brüchen und Inkonsistenzen. Zwischen Camnitzers spezifischem Umgang mit der elliptischen, mehrdeutigen Narrative/Geschichte sowie seiner Fokussierung von Themen, die aus der kollektiven Wahrnehmung gern ausgeblendet werden – von Folter und Freiheitsentzug in restriktiven Herrschaftssystemen bis hin zu Obdachlosigkeit in den Städten des Westens – bestehen Verbindungen zu dem belgischen Maler Luc Tuymans (geboren 1958), der sich mit dem Problem des Zugriffs auf die Realität sowie mit den diffizilen Konstruktionen des kulturellen Gedächtnisses und gesellschaftlicher Verdrängung befasst.23 Ebenso wie Camnitzers evokative Bild-Text-Objekt-»Stimuli« funktionieren Tuymans’ Gemälde akkumulativ in dem Sinne, dass sich deren Bedeutung erst allmählich, im Zusammenspiel der einzelnen Bilder aufbaut. Auch Tuymans fixiert Bruchstücke eines größeren Geschehens, das die Betrachterinnen und Betrachter in sich selbst aktivieren müssen. In seinem aus mehreren Szenen bestehenden Zyklus Die Zeit (1988) beschwört er das Grauen des Genozids an den europäischen Juden im Dritten Reich mittels historisch aufgeladenen, in der charakteristisch fahlen Farbgebung verblichener Zeitungsfotos wiedergegebenen Details herauf, die sich Stück für Stück zu einem beklemmenden Gesamtbild verdichten. So sieht man in einer Ansicht einen verlassenen Dorfplatz, im nächsten Bild Tabletten in vergrößerter Nahansicht, daneben das Gemälde eines leeren Regals, zuletzt ein Portrait des SS-Offiziers Reinhard Heydrich. Eine schwarze Sonnenbrille verdeckt dessen Gesicht. Das Unausgesprochene lastet schwer im Vakuum des Dargestellten und wird zur Projektionsfläche innerer Bilder.

22 23

198

Malerei, Ausst.-Kat. (Museumsquartier Messepalast und Kunsthalle Wien; Deichtorhallen Hamburg: 1993/1994), Wien 1993, S. 9. Vgl. Thomas Wagner, Archimedes in der Stadt. Sechs Blicke auf die Bilder von Michael Bach, in: König; Obrist 1993, S. 152. Der belgische Maler Luc Tuymans nahm an der Ausstellung Der zerbrochene Spiegel teil, repräsentierte Belgien bei der Venedig-Biennale 2001 und war auch bei der Documenta 11, 2002, in Kassel vertreten.

L U I S C A M N I T Z E R S M U LT I V A L E N T E T R U G B I L D E R

Der chilenische Künstler Alfredo Jaar (geboren 1956), mit dem Luis Camnitzer mehrfach gemeinsam international ausgestellt hat, ist der »Krise der Repräsentation« wiederholt mit einer strategischen Ausklammerung von Bildern zugunsten der Bild stiftenden Kraft von Worten begegnet. »Wir werden von Bildern förmlich bombardiert, haben aber die Fähigkeit verloren sie zu sehen«,24 so Jaar, der weltweit Orte aufgesucht hat, an denen sich politische Macht in Repression und sozialer Not niederschlägt. Ähnlich wie Camnitzer (und Tuymans), betreibt er eine Mobilisierung der »Sehfähigkeit« des Publikums durch Evokation. So traten in Jaars Documenta 11-Installation Lament of the Image von 2002 sparsam platzierte Texte und eine gleißende Lichtfläche an die Stelle von Abbildern der beschriebenen Realität, um die mediale Reizüberflutung unserer Zeit zu konterkarieren und die Betrachter zu bewegen, genau hin und in sich hineinzuschauen. Dieses Anliegen teilt Camnitzer ebenso wie die Skepsis gegenüber der Vermittelbarkeit von Wirklichkeit durch die heutige Informationsmaschinerie: »Sie können in einer Zeitung lesen, dass Millionen Menschen gestorben sind, und vergießen keine Träne. Das Publikum konsumiert diese Information, nimmt sie aber nicht auf. Ich versuche, die Information im Publikum selbst entstehen zu lassen.«25 Zu diesem Zweck hält er den Betrachterinnen und Betrachtern den mehrfach gebrochenen Spiegel künstlerisch erzeugter Bilder vor, deren Magie darin besteht, die Barriere zwischen innen und außen aufzuheben, und Phänomene sicht- und spürbar zu machen, die über die Einweg-Repräsentation des »wirklichkeitsgetreuen«, aber wirkungslos gewordenen Abbilds hinausreichen.

Spiegelung als Gegenentwurf Zur 43. Venedig-Biennale 1988 verwandelte Luis Camnitzer den uru­guay­ ischen Pavillon in einen atmosphärisch dichten Installationsparcours mit neunzehn Stationen. Erstmals beschäftigte er sich hier in umfassender Form 24

25

Zit. nach einem unveröffentlichten Gespräch der Autorin mit Alfredo Jaar anlässlich der Documenta 11 am 6. Juni 2002 in Kassel [Übers. d. Autorin]. Der in Santiago de Chile geborene, in New York lebende Künstler hat seine Documenta 11-Installation Lament of the Image (2002) als einen »philosophischen Essay zur Krise der Repräsentation« bezeichnet. 2013 präsentierte er im chilenischen Pavillon im Rahmen der 55. Biennale in Venedig seine historisch-kritische Installation Venezia, Venezia, in der ein verkleinertes Modell der Giardini samt Länderpavillons, eingelassen in einen riesigen Wassertank, in regelmäßigen Abständen in einer Morastflut versank und wieder empor tauchte. Camnitzer im Gespräch mit der Autorin, 6. März 2002.

199

12 |  AUF BEIDEN SEITEN DES SPIEGELS

mit der Halluzination als Existenz sicherndes Schwellenphänomen, oszillierend zwischen Wahnsinn und geistiger Freiheit.26 In Reflections Occurred Selectively (Reflexionen fanden selektiv statt, 1987), Teil des Ensembles in Venedig, kam das Spiegel-Motiv in einer neuen Variante zum Tragen: Ein Trinkglas befand sich auf einem schmalen Wandbrett scheinbar halb vor, halb in einem Spiegel. Faktisch war das Glas mittig durchgeschnitten, in einen leeren Rahmen gesetzt und mit zwei symmetrisch arrangierten Löffeln ausgestattet. Das Spiegelbild war eine konstruierte Reflexion, beziehungsweise eine als Illusion getarnte Realität – abhängig von der selektiven Wahrnehmung, wie der Titel nahe legt. Auch andere Arbeiten der VenedigInstallation kreisten um die Verwischung dieser Grenzen. Fabrication Sustained Memory (Das Phantasiegespinst hielt die Erinnerung aufrecht, 19851986) und They found that reality had intruded upon the image (Sie stellten fest, dass die Wirklichkeit in das Bild eingedrungen war, 1986) behandeln beide – auf unterschiedliche und höchst ambivalente Weise – die Fragilität der Erfindungen, aus denen wir unsere Versionen der Wirklichkeit schöpfen: sei es die Fabrikation, welche die Erinnerung aufrecht erhält, sei es das (künstlerisch erschaffene/illusionäre) Abbild, das durch das Eindringen der Realität wie ein gläserner Spiegel in Stücke zerbricht. In der Folge machte Camnitzer die (Gefängnis-)Zelle zum wiederkehrenden Schauplatz virtueller Ausbrüche in den »verrückten« Raum der Illusion: Halluzination als Überlebensstrategie. »Es hat mich fasziniert, dass das Wort ›verrückt‹ eine räumliche Verlagerung impliziert, dass damit im medizinischen Sinne ein Mensch beschrieben wird, der ›nicht am richtigen Ort‹ ist. Dinge zu verrücken – das empfinde ich als eine passende Metapher für die Kunst, so wie ich sie verstehe.«27 Seine politische Aufgabe als Künstler sieht Camnitzer im Bewusstmachen und »Geraderücken« der aus seiner Sicht profund verschobenen und aus dem Lot geratenen Machtverhältnisse in der Welt: »Auch wenn sich nichts daran ändern lässt, ist die einzige Form des Widerstands, die ich leisten kann, es trotzdem zu versuchen.«28 Hinsicht26

27 28

200

Das Thema der Halluzination oder fabrizierten Gegenwirklichkeit als Überlebensstrategie klingt bereits in Camnitzers From the Uruguayan Torture Series, 1983-1984, und Agent Orange Series, 1985, an. In seiner Venedig-Biennale-Installation 1988 entwickelt der Künstler erstmals das ambivalente Bild der »Zelle« (»cell«), die sich auf unterschiedliche Weise lesen lässt, als Gefängnis oder Verwahranstalt ebenso wie als Refugium, als Sinnbild eines Ausnahmezustandes ebenso wie als eigengesetzlicher Gedankenraum. Camnitzer im Gespräch mit der Autorin, 6. März 2002. Ebd.

L U I S C A M N I T Z E R S M U LT I V A L E N T E T R U G B I L D E R

lich der Erfindung von Gegenentwürfen zur bestehenden Realität erkennt er eine Parallele zwischen dem politischen Gefangenen und der Rolle des Künstlers. »Beide benutzen Wahnsinn, um Freiheit zu schaffen. Und letztlich versagen sie beide.«29 In der mentalen Luftspiegelung kehrt sich Unfreiheit in Freiheit, das Negative ins Positive um, wie in einer Bildergeschichte aus Camnitzers Kindheit, wo der Held in die verdrehte Welt des Spiegels eintaucht, um die dunklen Kehrseiten der Wirklichkeit dort richtig zu stellen.30 Allerdings ist in den Arbeiten des Künstlers das Scheitern bereits eingebaut. So auch in der mehrteiligen Installation Zanoobia (1988-1995), die um »obsessive Wirklichkeitsverzerrung«31 kreist. Ausgangspunkt ist die reale monatelange Irrfahrt des Schiffs »Zanoobia«.32 Es hat Giftmüllfässer an Bord, die kein Hafen bereit ist aufzunehmen. Die Besatzungsmitglieder drehen auf hoher See, der letalen Fracht ausgeliefert und zusehends hoffnungslos, ihre unaufhörlichen Runden. Camnitzer hat das skandalöse Ereignis, das sich 1987/88 zutrug, zum Anlass genommen, sich mit der generellen Frage nach Realitätsverschiebung und -umdeutung in einer ausweglosen Situation zu befassen. Hier wird das, was für den Künstler »ein Ausdruck von Freiheit« sei, »zu einem Ausdruck unbewusster Verzweiflung.«33 Die wahnhaften Gebilde, die in Zanoobia ein düsteres Kaleidoskop der Hoffnungslosigkeit konstituieren, frieren die Zeit, die Bilder ein. In eine Spiegelscherbe ist die Silhouette eines Schiffs geätzt, Nachbild eines nicht mehr vorhandenen Gegenstücks diesseits des Spiegels. Doch wo endet die Realität und wo beginnt die Illusion? Das Schiff ist im Spiegelbild ebenso gefangen wie die Matrosen an ihrem verloren dahin treibenden »Ort außerhalb aller Orte«, von wo aus es kein Zurück mehr zu geben scheint. 29 30

31

32

33

Ebd. In dem Telefongespräch mit der Autorin am 20. September 2003 berichtete Luis Camnitzer von einer Comic-Geschichte mit dem Helden Mandrake the Magician, die er als Kind gelesen und nie vergessen hat. Darin ist der Magier Mandrake, der über Wundergaben auf den Gebieten des Illusionismus und der Hypnose verfügt, mit dem Problem konfrontiert, dass sich im Spiegel die Wirklichkeit in ihr Gegenteil verkehrt hat und das Gute ins Böse umgeschlagen ist. Um die Welt zu retten, begibt sich Mandrake in den Spiegel hinein und wendet die Dinge auf der anderen Seite des Spiegels zum Guten. Luis Camnitzer, zit. in: Belinda Grace Gardner, No Exit – »Zanoobia«. Eine Installation des New Yorker Künstlers Luis Camnitzer in der Galerie Basta, Hamburger Rundschau, Ausg. 7, 9. Februar 1995, S. 43. Vgl. dazu Erich Wiedemann, Die schlimmste Fracht meines Lebens. SPIEGEL-Reporter Erich Wiedemann auf dem Giftmüll-Schiff »Zanoobia« vor der toskanischen Küste, in: Der Spiegel, Ausg. 22, 30. Mai 1988, unter: http://www.spiegel.de/spiegel/ print/d-13530582.html (15. Okt. 2016). Ebd.

201

12 |  AUF BEIDEN SEITEN DES SPIEGELS

Als variable Konstante in Camnitzers Werk changiert das Bild des Spiegels weiterhin zwischen struktureller, konkreter und symbolischer Manifestation. Der Künstler hat die Idee der konstruierten Spiegelung von Reflections Occurred Selectively auf einen ganzen Raum (Hall of Mirrors, 1997-2000) ausgedehnt, in dem alle Gegenstände spiegelbildlich ineinandergreifen. In der »Zellen«-Installation The Waiting Room (1999) klingt die frühe Arbeit The Threat of the Mirror noch einmal an: Im beklemmenden, karg ausgestatteten Ambiente des »Warteraums« reflektieren zwei zerbrochene Spiegel in jeweiliger Umkehrung die Form der Bruchstücke. Gegenstand und Abbild sind in gegenseitiger Endlos-Spiegelung untrennbar verbunden, ohne Ausgang, wie im türgroßen Kippbild in Camnitzers zellenartiger Documenta 11Installation von 2001/2002. Darin mutierte die von lichten Wolken durchsetzte blaue Weite des Himmels bei leichter Perspektivänderung zur geschlossenen Wand, bevor sich im nächsten Moment die Mauer wieder in einen scheinbar unbegrenzten Himmelsraum öffnete: eine schillernde dialektische Endlosschleife der Illusionen, bei der weder auf das eine noch auf das andere Trugbild Verlass ist.34 Die schwer fassbaren Grenzen, die unser Sehen bestimmen und lenken, die Wechselwirkungen von Identitätssuche, -verlust und Desorientierung sowie die Tücken der Symmetrie als metaphorisches Gefängnis der Wahrnehmung sind wiederum Themen von Arbeiten aus der jüngeren Zeit.35 So hat der Künstler in dem Video-Komposit-Portrait Jane Doe (2012/2015) 50 weibliche Antlitze aus unterschiedlichen medialen Quellen (von Polizeiberichten bis hin zu Zeitungsabbildungen) mittels digitalem Morphing zu einem trügerisch ebenmäßigen »Durchschnittsgesicht«36 zusammengesetzt 34

35

36

202

Camnitzers Documenta Projekt (2002) im Kulturbahnhof Kassel im Rahmen der Documenta 11, 2002, wo auch die frühere Arbeit From the Uruguayan Torture Series (1983/1984) gezeigt wurde, bestand aus zwei zellenartigen Rauminstallationen. Das beschriebene Kippbild befand sich in einem fast leeren Raum, durch den sich eine Wäscheleine quer erstreckte, an der ein mit Zement überzogenes Handtuch erstarrt herabhing. Ein kleiner Ventilator stand auf dem Boden. Ein Geräusch wie von flatternden Tüchern oder Fahnen im Wind bildete eine widersinnige Klangkulisse, die den Innenraum ebenfalls virtuell in den Außenraum öffnete. So bildet der Künstler beispielweise in der Installation The Optics Lesson (1981/2010) auf Grundlage eines präzisen Versuchsaufbaus mit Kerze, Glühbirne und Linse die Funktionsweise des Auges bei der visuellen Wahrnehmung nach, während er in der Raumarbeit Die Falle (1994/2010) durch ein straff gespanntes Gummiband und dessen Schattenumriss, der ein auf dem Bogen liegendes Blatt Papier durchschneidet, die Augentäuschung einer Spiegelung erzeugt. Im US-amerikanischen Sprachgebrauch steht »Jane Doe« unter anderem für die Durchschnittsfrau; der Durchschnittsmann wird entsprechend mit »John Doe« bezeichnet. Zudem wird die Benennung in rechtlichen Kontexten für fiktive oder

L U I S C A M N I T Z E R S M U LT I V A L E N T E T R U G B I L D E R

und mit einer ebenfalls aus Angaben zu den diversen Bildquellen montierten kollektiven Biografie ausgestattet. Die von allen individuellen Eigenschaften befreite diffuse »Schönheit«37 der Kunstfigur, aus der alle Differenzen und Abweichungen herausredigiert wurden, bleibt ungreifbar und wirkt in ihrer Nivellierung beinah monströs. Camnitzer thematisiert visuelle Desorientierung auf andere Weise in der Wandarbeit Bricks (1974/2012). Installiert 2012 in der New Yorker Galerie Alexander Gray Associates, verwandelten dort schwarz-weiße, wandfüllende Fotomotive von Mauern, aufgenommen aus verschiedenen Perspektiven, den Ausstellungsraum in ein optisch verwirrendes immaterielles Gefängnis. Ähnlich wie angesichts des Kippbilds der Documenta-11-Arbeit von 2002 suggeriert es die Aufhebung der Grenzen zwischen innen und außen. Doch ist die Überwindung der Mauern nicht minder eine Illusion wie deren Repräsentation im Bild. Ebenso wie das Motiv des Spiegels durchziehen Gestaltgebungen der »Zelle« oder des Gefängnisses das Werk des Künstlers in vielfältigen Manifestationen. In einer Variante des Themas von 2014/2015 nimmt er nochmals Rückbezug auf seine früheren Wortarbeiten als Auslöser für eine veränderte Wahrnehmung. In der Installation Please Look Away (2015)38 bilden repetierende Textfragmente (darunter Fundstücke aus Zeitungsartikeln über die Folterung von Gefangenen durch US-Militärangehörige in Abu Ghraib39) in weißer Schrift auf dunklen schmalen Streifen, die an analoge

37

38 39

reale, nicht identifizierte Prozessbeteiligte sowie als Platzhalter für Personen mit unbekannter oder von selbigen geheim gehaltener Identität verwendet. Camnitzer hat sich in seinem Essay The Mediocrity of Beauty (erstmals 2010 in Spanisch erschienen), abgedruckt in aktualisierter Fassung im Ausstellungskatalog 2015 zu seiner gleichnamigen Ausstellung in der Galerie Alexander Gray Associates, New York, mit dem trügerischen Charakter der Schönheit und deren Bedeutung als Kategorie in der Kunstproduktion befasst. In diesem Zusammenhang betont er auch deren Funktion als Katalysator von Seh- und Denkerfahrungen des Publikums. (Vgl. dazu Luis Camnitzer, The Mediocrity of Beauty, in: Luis Camnitzer: The Mediocrity of Beauty, engl./span., Ausst.-Kat (Alexander Gray Gallery, New York: 2015), hrsg. v. Alexander Gray Associates, New York 2015, S. 4, 44, online abrufbar unter: http://prod-images.exhibit-e.com/www_alexandergray_com/Camnitzer_ Exhibition_Catalogue_2015.pdf, 15. Okt. 2016). Erstmals präsentiert im Rahmen der Ausstellung Luis Camnitzer: The Mediocrity of Beauty in der Galerie Alexander Gray Associates, New York, 2015. Nach der Militärinvasion in den Irak am 20. März 2003 (der Zweite Irakkrieg wurde vom damaligen US-Präsidenten George Bush am 1. Mai 2003 für beendet erklärt, doch verließen erst 2011 die letzten US-Truppen den Irak) diente Abu Ghraib von 2003 bis 2006 als US-Militärgefängnis. Die ersten Berichte von dort durch Militärangehörige verübte Menschenrechtsverletzungen wurden im Juni 2003 von Amnesty International veröffentlicht. Im April 2004 löste der Folterskandal von Abu Ghraib nach einem ersten Bericht der US-amerikanischen CBS-Nachrichtensendung 60

203

12 |  AUF BEIDEN SEITEN DES SPIEGELS

LED-Bänder denken lassen, ein gitterartiges Raumkonstrukt. Genaues Hinsehen, die vertiefende Reflexion von verbalen Bruchstücken wie »all lines are prisons« (alle Linien sind Gefängnisse), »my emotions are invisible« (meine Emotionen sind unsichtbar) oder »enhanced questioning« (intensivierte Befragung, der euphemistische Begriff für die stark umstrittenen Foltermethoden von Angehörigen der CIA und der US-Armee gegenüber Terrorverdächtigen) ist erforderlich, um sich einen Weg durch das Dickicht der Bedeutungssplitter zu bahnen. Nur wenn sich der Betrachter, die Betrachterin ein eigenes Bild macht, so lautet die implizite Botschaft, lässt sich die persönliche und gesellschaftliche Enge durchbrechen, die die passive Haltung des im Titel der Arbeit ironisch erbetenen Wegschauens mit sich bringt. Zugleich fordern die Satzfragmente im Sinne des evokativen Ansatzes des Künstlers, der auf subtilen Wegen Schockwirkung erzeugt, die Rezipienten dazu auf, die Leerstellen selbst mit Inhalten zu füllen. Die aus sieben Einzelblättern bestehende Radierfolge Symmetrical Jails (2014) schließlich verbindet die Kritik an der alle Unterschiede nivellierende Symmetrie mit dem Motiv der Gefängniszelle und der von Camnitzer vielseitig eingesetzten Bildgebungsmethode der Spiegelung, die hier eine neue Drehung erhält. Der Künstler hat in diesem Zyklus die Buchstaben des jeweiligen Wortes für »Symmetrie« in den sechs Sprachen der Vereinten Nationen – Arabisch, Chinesisch, Englisch, Französisch, Russisch und Spanisch sowie der Sprache seiner Kindheit und einflussreichsten Wirtschaftsmacht Europas, Deutsch – übereinandergelegt und gespiegelt, und auf diese Weise sieben distinktive neue Zeichen geschaffen. Die politisch aufgeladenen Wortornamente, deren ursprüngliche Bedeutung in der Verdichtung ihrer Bestandteile unlesbar und wie hinter Gitterstäben verschlossen bleibt, deuten als »symmetrische Gefängnisse« auf die Gefahr einer Gleichschaltung und Verzerrung von Bedeutung durch genau das Medium, dessen wir uns zur Verständigung bedienen: »Worte sind nie in der Lage vollends zu vermitteln, was man wahrhaftig denkt: Gedanken und Gefühle werden in ein fremdes Format gepresst, Gedichten vergleichbar, die versuchen, Poesie in Gestelztheit einzuschließen. Symmetrie verschlimmert dies noch, indem sie die Informationsfreiheit beschneidet.«40

40

204

Minutes II weltweit Empörung aus. (Vgl. http://www.cbsnews.com/news/abuseat-abu-ghraib/; http://edition.cnn.com/2004/WORLD/meast/04/30/iraq.photos. reaction/index.html, 15. Okt. 2016). Camnitzer, zit. nach dem Pressetext zur Ausstellung: Luis Camnitzer: The Mediocrity of Beauty (Alexander Gray Associates, New York, 19. Feb. bis 28. März, 2015), unter:

L U I S C A M N I T Z E R S M U LT I V A L E N T E T R U G B I L D E R

Die künstlerische Verwandlung von Begriffen in visuelle Ereignisse im Sinne dessen, was Michael Glasmeier als jene erleuchtende und damit auch befreiende Poetik bezeichnet hat, die die Wahrnehmung und den kognitiven Raum mittels ihrer transformierenden Kraft zu alphabetisieren vermag,41 sowie die Dekonstruktion von spiegelbildlicher Gleichförmigkeit zugunsten der Kreation vielschichtiger Vexierbilder sprengt die kulturell verankerten und gesellschaftspolitisch reglementierten Gefängnisse des Denkens und Sehens leise, aber wirkungsvoll auf. Ausgehend von der »Komplizität der Vorstellungskraft«,42 balanciert Luis Camnitzer zwischen »den vielen gefährlichen Spielen der Freiheit, in denen die Vernunft wie von selbst in den Wahnsinn zu stürzen droht«,43 an der Grenze, an der Wirklichkeit jederzeit in Illusion oder Halluzination umschlagen kann, und umgekehrt. Im erweiterten Horizont des Spiegels seiner Kunst stellt er die Transzendenz dieser Grenze von beiden Seiten vorübergehend in Aussicht. In welcher Sphäre man sich am Ende wiederfindet, ist vielleicht nur eine Frage der Blickrichtung, des Standpunkts, der Interpretation.

41 42 43

http://www.alexandergray.com/exhibitions/2015-02-19_luis-camnitzer/ (15. Okt. 2016) [Übers. d. Autorin]. Vgl. Glasmeier in: Camnitzer 2010, S. 173f. Michel Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt/Main 1981 [1969], S. 540. Ebd.

205

13 | ABDRUCK DER ABWESENDEN

Teresa Margolles’ feinstoffliche Elegien Ich dachte, dass mein eigener Schmerz am wichtigsten sei, doch dann entdeckte ich, dass es einen kollektiven Schmerz gibt. Teresa Margolles1

Z

arte Spuren des menschlichen Körpers in verdunstendem Wasser, in der Luft, auf Tüchern, an der Wand und auf dem Boden evozieren die Fragilität des Daseins. Spuren des Gewesenen: Teresa Margolles’ immaterielle Gedenkstätten und plastisch gewordene Elegien sind Hommagen an die mittel- und namenlosen Opfer von Verbrechen an Orten extremer Gewalt. In den Erinnerungsräumen und Memento mori der 1963 in Culiacán, Sinaloa, einem Epizentrum der Drogenkriege in Mexiko, geborenen Künstlerin verfließen die Realitäten und Seinszustände. Der Sicherheitsabstand, den die Kontemplation von Kunst üblicherweise gewährleistet, wird in ihren todeshaltigen Installationen, Skulpturen, Performances, Foto- und Videoarbeiten aufgesprengt. An dessen Stelle setzt eine nahezu viszerale, fast unerträgliche Unmittelbarkeit des physischen (Mit-)Erlebens ein. Auf besonders intensive Weise geschieht dies in Margolles’ interaktiver Installation Vaporización (Verdunstung, erstmals 2001 in der ACE Gallery, Mexico City, realisiert): einem von dichtem Nebel erfüllten, ansonsten leeren Raum. Ein Schild informiert darüber, dass sich der Dunst aus (desinfiziertem) Wasser speist, mit dem Leichen gewaschen wurden. Implizit sind darin die Körper von Menschen eingeschrieben, die in einem Leichenschauhaus in Mexico City einer letzten Reinigung unterzogen wurden. Margolles überführt »archaische Riten zur Ehrung der Toten«2 in die anonyme, klinische 1

2

Teresa Margolles im Gespräch mit Santiago Sierra, in: BOMB – Artists in Conversation. Santiago Sierra by Teresa Margolles, in: BOMB 86, Winter 2004, unter: http://bombmagazine.org/article/2606/santiago-sierra (5. August 2015) [Übers. d. Autorin]. Klaus Biesenbach, Mexico City: Eine Ausstellung über die Wechselkurse von Körpern und Werten, in: ders. (Hrsg.): Mexico City: An Exhibition about the Exchange Rates of Bodies and Values. A thematic exhibition of international artists based in Mexico City, Ausst.-Kat. (P.S.1 Contemporary Art Center (heute: MoMA PS1), New York; KunstWerke Berlin (heute: KW Institute for Contemporary Art): 2002/2003; Museu de Arte Carillo Gil, Mexico City: 2003), engl./dt./span., New York 2002, S. 151.

207

13 |  ABDRUCK DER ABWESENDEN

Sphäre der forensischen Bestandsaufnahme – ein Akt der Sublimation, der aus Empathie gegenüber den unbeachteten Opfern in einer von Gewalt durchdrungenen, abgestumpften Gesellschaft erwächst. Klaus Biesenbach zufolge erzeuge die Künstlerin in Vaporización »mit dem vernebelten Wasser, das benutzt wurde, um Leichen im Leichenschauhaus zu waschen eine Art ›übernatürliche‹ Aura«, die das Untergehen des Einzelnen im Daseinsstrom ebenso impliziere wie das Verlorengehen in der Masse: Ihre Performance visualisiert nicht nur die physische Erinnerung an eine letzte Waschung. Sie spielt darüber hinaus auch auf die Idee des Verschwindens und des Sich-Auflösens an – das Verschwinden eines Individuums in einen dichten Nebel einer Stadt mit mehr als 20 Millionen Einwohnern. Trotz der Tatsache, dass Margolles das verdunstete Wasser für die Installation desinfiziert hat, vermittelt die Arbeit dennoch eine bedrohliche Ahnung von Gefahr, eine mächtige Erinnerung an die Kreisläufe des Lebens.3

Beim Durchschreiten des Nebels werden bei jedem Luftholen die fremden Körper – wird der Tod selbst – gleichsam eingeatmet. Die Rezeption führt im Zuge eines intrinsischen Stoffwechsels zu einem »Zusammenbruch der Distanz schlechthin«, ein Punkt, an dem »die Unterschiede von Kunst und Wirklichkeit kollabieren«.4 Die passive Rolle des Betrachters, der Betrachterin ist hier nicht mehr möglich. Der eigene Körper gerät im Raum der Kunst in prekäre Nähe zu dem – toten – Leib des Anderen und verschmilzt gleichsam mit diesem in einer Amalgamierung von Leben und Tod. Die Künstlerin wirft die Vergänglichkeit des Seins auf die Lebenden zurück: »[…] die Spuren der Leiche in ihrer Arbeit konfrontieren uns gleichzeitig mit den Spuren der Leiche in uns selbst.«5 Margolles’ zwischen An- und Abwesenheit oszillierenden Werke, die sich »auf der Grenze des Darstellbaren und auf der Grenze der Kunst«6 bewegen, loten die elementare existenzielle Fährnis der Conditio humana 3 4

5 6

208

Ebd. Klaus Görner; Udo Kittelmann, Muerte sin fin, in: Teresa Margolles, Muerte sin fin, Ausst.-Kat. (Museum für Moderne Kunst, Frankfurt: 2004), dt./span./engl., hrsg. v. Udo Kittelmann; Klaus Görner Ostfildern-Ruit 2004, S. 22. (Die Frankfurter Ausstellung war die erste institutionelle Einzelschau der Künstlerin in Deutschland.) Gabriela Jauregui, Nekropolis: Die Exhumierung der Arbeiten von Teresa Margolles, in: Margolles 2004, S. 138. Görner; Kittelmann in: ebd. 2004, S. 17.

TERESA MARGOLLES’ FEINSTOFFLICHE ELEGIEN

mit besonderem Blick auf den »hässlichen«, »heimlichen« Tod aus, der »ohne Zeugen oder Zeremonien«7 vonstatten geht. Dennoch sind diese auch spezifisch im Krisengebiet Mexikos verwurzelt, wo sich Drogenkartelle erbitterte Schlachten liefern – mit einer Bilanz von Zehntausenden Toten und Vermissten allein im Zeitraum zwischen 2006 und 2015.8 Margolles studierte zunächst in ihrer Geburtsstadt Culiacán Kunst, bevor sie sich in Mexico City niederließ. Mit rund 22 Millionen Einwohnern9 ist die explosive, von »alles durchdringenden Spannungen zwischen Wohlstand und Armut, zwischen Fortschritt, Stagnation und Improvisation sowie auch zwischen Gewalt und kurzer Ruhe«10 bestimmte Kapitale Mexikos nicht nur eine der größten, sondern auch gefährlichsten »Mega-Städte« der Welt. Hier herrschen Verkehrschaos und Umweltverschmutzung, soziale Not, politische Korruption und Brutalität11 parallel zu einem pulsierenden kreativen Klima, das auch Kunstschaffende aus Europa wie Francis Alÿs (geboren 1959 in Antwerpen, lebt seit 1987 in der Stadt) und Santiago Sierra (geboren 1966 in Madrid, hielt sich von 1995 bis etwa 2009 dort auf ) angezogen hat. 1990 war Margolles Mitbegründerin des Künstler-Kollektivs SEMEFO12 (Abkürzung für Servicio Médico Forense, dem gerichtsmedizinischen Dienst 7

8

9

10 11

12

Vgl. Philippe Ariès: Geschichte des Todes [Orig.: L’homme devant la mort, Paris: 1978], München 2005 [1982], S. 20. Ariès spricht hier von der mittelalterlichen Vorstellung der »mors repentina«, des als »hässlich« und »gemein« geltenden »plötzlichen Todes«, der den derart Verstorbenen mit einem »Fluch« belegte und neben dem »Tod ohne Zeugen und Zeremonien« unter anderem den »Tod des Reisenden unterwegs, des im Fluß ertrunkenen, des Ungekannten, dessen Leichnam am Feldrain aufgefunden wird« umfasste. Laut ZEIT-Bericht »Mexikos Drogenkartelle schlagen zurück« vom 2. Mai 2015 (Quelle: ZEIT online, AFP, AP, dpa, suk) wurden im Zuge der Drogenkriege in Mexiko seit »dem Jahr 2006 […] in Mexiko mehr als 80.000 Menschen im Zusammenhang mit der Drogenkriminalität getötet, weitere 22.000 gelten als vermisst.« (http:// www.zeit.de/politik/2015-05/mexiko-gewalt-jalisco, 16. Okt. 2016). Die Einwohnerzahl von Mexico City ist den Länderinformationen des Auswärtigen Amtes über Mexiko entnommen, Stand: Mai 2016 (http://www.auswaertiges-amt. de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/01-Nodes_Uebersichtsseiten/Mexiko_ node.html, 16. Okt. 2016). Biesenbach 2002, S. 148. Vgl. Klaus Ehringfeld, Armut, Gewalt, Chaos: Die unheimlichen Mega-Städte, in: Handelsblatt, Rubrik: Politik/International, Online-Ausg., 9. Aug. 2010 (http:// www.handelsblatt.com/politik/international/armut-gewalt-chaos-die-unheimlichen-mega-staedte/3511136.html, 16. Okt. 2016). Weitere Gründungsmitglieder waren Arturo Angulo Gallardo, Juan Luis García Zavaleta und Carlos López Orozco. Zunächst war SEMEFO vor allem als DeathMetal-Band und subversive Performance-Gruppe aktiv. Die künstlerische Arbeit des Kollektivs bezog sich von Anfang an zentral auf den Körper im Leichenschauhaus. (Vgl. Webseite der Gruppe: http://arteypoliticateresamargolles.blogspot. de/2013/01/grupo-semefo.html, 16. Okt. 2016).

209

13 |  ABDRUCK DER ABWESENDEN

von Mexico City). SEMEFO widmete sich der »Geschichte des Todes«13 in Mexikos Hauptstadt, wo die Künstlerin 1995 ein Diplom in Kommunika­ tionswissenschaften und ein weiteres als gerichtsmedizinische Assistentin erwarb. Bis 1998 kooperierte sie in erster Linie mit den Mitgliedern von SEMEFO. Ab 1997 trat sie zunehmend als Einzelkünstlerin mit einer ihren stark emotiven und auch drastischen Inhalten scheinbar zuwiderlaufenden reduzierten formalen Sprache in Erscheinung, die auf die minimalistischen Skulpturen von Donald Judd (1928–1994) ebenso Bezug nimmt wie auf die körperbezogenen organischen Materialverwandlungen von Joseph Beuys.14 Die Begegnung mit Beuys’ Werk wirkte nach Margolles’ Bekunden als Initialzündung für die Entwicklung ihres künstlerischen Ansatzes: Ich nähere mich dem Tod, wie jeder dies tut, als Verlust. Ich wollte Künstlerin werden, wusste aber nicht, welche Richtung ich einschlagen sollte, also versuchte ich ein Gedicht zu schreiben. Doch kamen Gedichte einfach nicht aus mir heraus. So kam ich dazu, Kunst zu machen. In den 80ern verkauften einige von uns Bücher draußen vor der Universität, um Geld zu verdienen, und wir lernten uns kennen. Wir waren Musiker, Theaterleute, Künstler. Wir beschlossen, Performances über Tod und Gewalt zu machen und uns SEMEFO zu nennen […]. Die Performances waren sehr theatral, und es gab keine sprachliche Kodifizierung. Alle redeten durcheinander. Es war eine Explosion für Ohren, Augen, den Geist, den Bauch. Aber wir wussten nicht so recht, was wir taten. Dann fuhr ich nach England und stieß zufällig auf das Werk von Beuys, und als ich das sah, bin ich fast in Ohnmacht gefallen. Ich hatte das Gefühl, mich übergeben und umgehend davon entfernen zu müssen. Ich fragte mich, würde ich es wagen, so etwas zu machen? Hätte ich dazu den Mut? Die Macht der Kunst macht mir große Angst. Mir 13 14

210

Biesenbach 2002, S. 151. Vgl. dazu Santiago Sierra, Ein kurzer Anhang (verfasst am 28. Februar 2004 in Paris), in: Margolles 2004, S. 198, sowie Jauregui, in: ebd., S. 139 und 144. Sierra praktiziert eine ähnliche Aufladung minimalistischer Formgebungen, ebenso wie die Hamburger Künstlerin Almut Linde, geb. 1965, die dafür den Begriff des »Dirty Minimal« geprägt hat (vgl. Martin Eisenmann, Radical Beauty: Eine kurze Geschichte über das Werk von Almut Linde, in: Almut Linde. Radical Beauty, Ausst.-Kat., Galerie der Stadt Remscheid; Overbeck Gesellschaft, Kunstverein Lübeck; Kunstverein Braunschweig u. a.: 2012–2014, dt./engl., hrsg. v. Oliver Zybok, Ostfildern 2013, S. 10f.). Sierra, der wie Linde an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg bei Franz Erhard Walther studiert hat, gehörte von 1988 bis 1994 gemeinsam mit Linde und dem spanischen Künstler Manuel Ludeña der Künstlergruppe Linde Ludeña Sierra an und freundete sich in Mexico City mit Margolles an.

TERESA MARGOLLES’ FEINSTOFFLICHE ELEGIEN

wurde klar, dass ich nicht wusste, wie man über menschlichen Verlust, über menschlichen Schmerz spricht. Ich dachte, dass mein eigener Schmerz am wichtigsten sei, doch dann entdeckte ich, dass es einen kollektiven Schmerz gibt.15

Seit den Anfängen ihrer künstlerischen Laufbahn hat Margolles an zahlreichen internationalen Ausstellungen und Biennalen teilgenommen.16 2009 vertrat sie Mexiko im Rahmen der 53. Venedig-Biennale mit der mehrteiligen Performance/Installation ¿De qué otra cosa podríamos hablar? (What Else Could We Talk About?). Ausgangspunkt von Margolles’ besonderer Form des »Liebesdienstes« an den gewaltsam Verstorbenen, den Gabriela Jauregui auch als »eine Art Nekrophilie im weitesten Sinne, nicht als Krankheit, sondern als tief empfundene Anteilnahme«17 bezeichnet hat, war Mexikos Hauptstadt: ein Ort, an dem in Biesenbachs Worten »der Tod in beunruhigende Nähe rückt« und der menschliche Körper als »Ware« gilt, »die beschützt werden muss, mit der gehandelt werden muss, oder die für andere Werte eingetauscht werden muss«.18

Ätherische Mahnmale Der Kurator Klaus Biesenbach organisierte die für die Rezeption kontemporärer Kunst aus Mexiko in den USA und in Deutschland maßgebliche Ausstellung Mexico City: Eine Ausstellung über die Wechselkurse von Körpern und Waren, die nach ihrem Auftakt im New Yorker P.S.1 2002 in den Berliner Kunst-Werken ihre zweite Station hatte. Gleichzeitig fand in Berlin die Schau ZEBRA CROSSING – Zeitgenössische Kunst aus Mexiko19 im Haus der Kulturen der Welt statt, Ausrichter des Festivals MEXartes-berlin.de, das beide Ausstel15 16

17 18 19

Teresa Margolles im Gespräch mit Santiago Sierra, in: BOMB 86, Winter 2004 [Übers. d. Autorin]. Unter anderem nahm sie an den Biennalen in Lyon und Havanna (beide 2000), Brasilien (2003) und Gwangju (2004), an der Manifesta 7 in Trentino – Alto Adige/ Südtirol 2008 und der 7. Berlin-Biennale 2010 teil. Einzelausstellungen ihrer Arbeiten fanden unter anderem in Madrid (ab 1997 wiederholt), Mexico City (ab 1998 mehrfach), Paris und Barcelona (2001), Wien (2003), Zürich (ab 2003 mehrfach), Frankfurt (2004), Beijing (2008), Santiago de Chile (2009), Los Angeles und Kassel (beide 2010), Glasgow und Amsterdam (beide 2012) und New York (2015) statt. Jauregui in: Margolles 2004, S. 135. Biesenbach 2002, S. 151 und 148. ZEBRA CROSSING (Kuratoren: Magalí Arriola, Patricia Sloane und Georg von Saenger) wurde 2002 als Koproduktion des Hauses der Kulturen der Welt und des Museo de Arte Carrillo Gil in Mexico City im Rahmen des Festivals MEXartes-berlin realisiert.

211

13 |  ABDRUCK DER ABWESENDEN

lungen verklammerte. Margolles’ ätherische Mahnmale für die vergessenen Toten und Ermordeten waren in diesen Kontexten – ebenso wie ein weites Spektrum aktueller Kunst aus Mexiko – erstmals in Deutschland zu sehen.20 Margolles’ Nebelraum Vaporización ließ im Haus der Kulturen der Welt den Atem des Publikums buchstäblich stocken. In den Kunst-Werken entfaltete parallel dazu ein subtil glänzendes, Wand füllendes monochromes Bild der Künstlerin mit Mal- und Tropfspuren, Secreciones en el muro (Absonderung auf der Mauer, 2002) bei näherem Hinsehen seine schockierende Wirkung. Das dafür verwendete malerische Mittel stellte sich zum Entsetzen der Betrachterin, des Betrachters als menschliches Fett heraus, das Margolles »von den bestechlichen Angestellten eines Krankenhauses erworben hatte«.21 Letztere Arbeit ist als kritischer kontemporärer (Vanitas-)Kommentar zu den Praktiken der Fettabsaugung und anderer Eingriffe zum Erhalt dauerhafter Schönheit gelesen worden, die ausgiebig von weiblichen Angehörigen aus Mexikos kleiner wohlhabender Oberschicht genutzt werden.22 In der Berliner Ausstellung unterstützte die Nähe von Margolles’ Wandbild zu großformatigen Portraits von jungen Vertreterinnen ebenjener Elite, die die mexikanische Fotokünstlerin Daniela Rossell (geboren 1973) in deren überbordend luxuriösen Privatgemächern aufgenommen hat,23 diese Interpretation. Doch richtet sich Margolles’ Gesellschaftskritik nicht auf die Reichen und Schönen der mexikanischen Hauptstadt. Ihr Thema sind die Namen- und Mittellosen, deren Körper auf den Obduktionstischen der forensischen Abteilungen landen oder die als Unpersonen entsorgt werden, nicht nur in Mexiko City. Diese auf oft grausame Weise ums Leben gekommenen oder erst gar nicht ins Leben aufgebrochenen Menschen versucht die Künstlerin, der Vergessenheit zu entrei20

21 22 23

212

Parallel zu Okwui Enwezors nationale Grenzen überschreitender Weltkunst-Documenta 11 im selben Jahr trugen die Berliner Ausstellungen zu einer Blickerweiterung hin zu der künstlerischen Produktion außerhalb der westlichen Zentren bei, die sich um die Jahrtausendwende in Europa und den USA – vorbereitet durch Jean-Hubert Martins bahnbrechender Schau Magiciens de la Terre 1989 im Pariser Centre Georges Pompidou, der Documenta-X-Ausgabe von Catherine David 1997 und Harald Szeemanns Venedig-Biennale-Ausstellungen 1999 und 2001 – zunehmend durchsetzte. Biesenbach 2002, S. 151. Vgl. ebd. Biesenbach stellt fest, dass Rossell in ihrer Foto-Serie (2002 unter dem Titel Ricas y Famosas: Mexico 1994-2001 als Bildband in englischer Sprache erschienen) »ein Bild von der Karikatur eines verwöhnten, reichen, blonden Mädchens, einem Objekt der Begierde, das einer unheimlichen Inkarnation einer Barbie-Puppe gefährlich nahe kommt« erzeuge. (Vgl. ebd., S. 149).

TERESA MARGOLLES’ FEINSTOFFLICHE ELEGIEN

ßen, ihnen implizit eine Stimme zu geben, Identität und Dauer zu verleihen. Ihre Arbeiten sind in dieser Hinsicht wie zarte, bisweilen auch harte – wie die Beisetzung des Leichnams eines totgeborenen Kindes, dessen Mutter keine Mittel für ein Begräbnis hatte, in einem Kubus aus Beton (Entierro / Begräbnis, 1999)24 – Bollwerke gegen das endgültige, wortlose Vergehen, und enthalten eine profunde ethische Aussage. Dass diese weit über die Grenzen Mexikos hinausweist, hat der mit Margolles befreundete spanische Künstler und Protagonist einer angewandten Kapitalismus-Kritik, Santiago Sierra, hervorgehoben, der nach langem Aufenthalt in Mexico City in seine Heimatstadt Madrid zurückgekehrt ist: Margolles’ Werk ist eine Daueranklage der Mörder durch das schlagkräftige Mittel, der Gesellschaft die Leichen ihrer Opfer auf den Tisch zu legen, und steht im krassen Gegensatz zur verbreiteten Gleichgültigkeit gegenüber einem Verbrechen, das stets an der Haut Unbekannter, in einer unbekannten Gesellschaft, auf der anderen Seite des Atlantiks oder im globalen Fernsehen begangen wird, und ruft uns zu erkennen, dass jeder von uns dieser ermordete Mexikaner sein könnte.25

Gerade die Feinstofflichkeit eines Großteils der künstlerischen Medien, mit denen Margolles der Flüchtigkeit und Fragilität des menschlichen Daseins Gestalt gibt, unterstreicht die inhärente, in unserer dem Tod fernen westlichen Kultur oft verdrängte Botschaft ihres Werks: dass wir uns alle eines Tages auflösen und zu Nichts zerfallen werden. Indem sie einerseits mit Leerstellen, andererseits mit der direkten Begegnung – nicht nur im geistigkonzeptuellen, sondern auch im haptisch spürbaren Sinne – zwischen den physischen Sphären des Lebens und des Todes vermittelnd operiert, umkreist sie die Betrachter von allen Seiten wie der Dunst in Vaporización oder aber die Luft selbst in Aire (Luft, 2003). In Aire wird über zwei Luftbefeuchter Wasser, das wiederum bei der Waschung von Toten im Leichenschauhaus von der Künstlerin aufgefangen wurde, in einem leeren Raum verteilt: eine Fortführung der erstgenannten Arbeit bis hin zur gänzlichen Unsichtbarkeit. Die »Verkörperung« der Ver24

25

Das im Kollektiv mit SEMEFO realisierte »Begräbnis« des Fötus muss vor dem Hintergrund gesehen werden, dass »Totgeburten […] nicht als Leiche, sondern als medizinische ›Reste‹ behandelt« werden: »Der Schmerz und die Trauer über den Tod des Fötus, seine Ort- und Rechtlosigkeit finden in dem kleinen, rohen Block ihren Ausdruck.« (Siehe Görner; Kittelmann in: Margolles 2004, S. 19). Sierra in: ebd., S. 199.

213

67  Teresa Margolles, Aire / Air, 2003,

Installation (Ausstellungsansicht: »Muerte sin Fin«, Museum für Moderne Kunst, Frankfurt am Main, 2004), 2 Kühlsysteme und 1 Container mit 20 Litern Wasser aus dem Leichenschauhaus, mit dem die Leichen vor der Autopsie gewaschen wurden, Dimen­ sionen variabel, Aufl: 1/3 + 1 AP + 1 EP

68  Teresa Margolles, Plancha, 2010, Installation (Ausstellungsansicht: »Art Basel Unlimited«, Basel,

2013), 10 beheizte Stahlplatten, 1 Tropfsystem und Leichenwaschwasser aus dem Leichenschauhaus, Variation 1:10 Platten: 20 x 60 x 60 cm, 1 Tropfsystem: 10 x 2 x 600 cm

69  Teresa Margolles, Catafalco (Katafalk), 1997, Adhäsion von organischem Material (Flüssigkeiten, Haare, Haut) auf Gips, Unikat, (Detail) 182 x 48 x 42 cm

70  Teresa Margolles, Vaporización / Vaporization, 2002, Video-Still aus Einzel-Kanal-Video-Projektion,

Farbe, Ton, 9:10 min, Aufl.: 1/4 + 1 AP + 1 EP

13 |  ABDRUCK DER ABWESENDEN

storbenen, deren Präsenz als Bestandteil der Atmosphäre ausschließlich über den Begleittext heraufbeschworen wird, verläuft »in der Person des Besuchers selbst«.26 Bei jedem Atemzug gehen die Toten inwendig in den Organismus der Rezipienten über und werden ein Teil von diesen – eine Verbindung, die enger kaum sein könnte, und die das große Vakuum des Nicht-Seins in Geist und Leib der Betrachter inkorporiert. »Mit diesem Stück«, so Jauregui, die den Ansatz der Künstlerin als »elementares Werk des Trauerns« und als quasi spirituellen Auslöser eines kathartischen (gesellschaftlichen) Heilungsprozesses beleuchtet hat, »zwingt uns Margolles zu einer noch dichteren Kommunion mit der Leiche als einer Kommunion mit dem Nichts.«27

Vanitas als Wandlung zum Leben In ihrer Arbeit En el aire (In der Luft, 2003) manifestiert sich diese von Margolles leitmotivisch herbeigeführte »Kommunion« zwischen den Lebenden und den Toten im schillernden Spiel nie versiegender Seifenblasen, die zweckentfremdeten Maschinen des Vergnügungsbedarfs entströmen und sich als schwebende, funkelnde Gebilde im Raum verteilen. Die Seifenlauge ist erneut mit Wasser versetzt, das bei der Reinigung von Leichen vor der Obduktion in Berührung kam. In ihrer trügerisch heiteren Installation lädt die Künstlerin das barocke Vanitas-Motiv des »homo bulla« (›Der Mensch ist wie eine Seifenblase‹), das traditionell für die Vergänglichkeit des menschlichen Seins und aller irdischen Lustbarkeiten steht, zusätzlich auf. Denn bei ihr sind die Seifenblasen als immaterielle Träger des toten menschlichen Körpers nicht nur fragile Erinnerungen an »die Kürze des Lebens«, sondern werden als »Ereignis eines Übergangs«28 wahrnehmbar, wie Katharina Sykora in ihrer Betrachtung von Margolles’ En el aire im Rahmen ihrer Analyse von Cornelis de Vos’ Allegorie der Vergänglichkeit (um 1630, Herzog Anton Ulrich Museum, Braunschweig) feststellt: Damit arbeitet Margolles der christlichen Symbolik der Transsubstantiation zu, die den Wandel von der diesseitigen Materialität zur jenseitigen Immaterialität des Menschen beschreibt. Dem unterlegt sie jedoch eine moderne Lesweise, insofern sie klar macht, dass der Leich26 27 28

216

Görner; Kittelmann in: ebd., S. 21. Jauregui in: ebd., S. 143 und 145. Sykora in: Flemming; Kittner 2010, S. 53.

TERESA MARGOLLES’ FEINSTOFFLICHE ELEGIEN

nam hier keineswegs entmaterialisiert wird, sondern von einem physischen Aggregatzustand, dem Körpersaft des Toten, in einen anderen, nämlich das Kunstobjekt der Seifenblase, verwandelt wird.29

Die alchemistische Formgebung des Ephemeren in der ästhetischen Rahmung des Kunstwerks spiegelt, so gesehen, nicht nur die Auflösung des leiblichen Seins durch den Tod. Sie führt das physische Da-Sein des Verstorbenen, wie dies bereits die barocken Meister des Stilllebens in der bleibenden Darstellung längst vergangener Blütenpracht an der Kippe zwischen Fülle und Vergehen versuchten, im Medium der Kunst weiter. Dabei greift die transformative Dynamik, die Margolles ins Werk setzt, sogar noch darüber hinaus. Klaus Görner und Udo Kittelmann haben aufgezeigt, dass sich die Vergänglichkeitsmahnung der Vanitas für die Rezipienten letztlich in eine – wenn auch durchaus beunruhigende – Bestätigung des Lebens umkehrt: Das Leben der gewaschenen Toten ist bereits ›zerplatzt‹ und zwar unter gewalttätigen Umständen. Aus dem Wasser bilden sich mit Hilfe der Maschinen neue Formen, untereinander sehr ähnliche, schillernde Kugeln, die für einen kurzen Augenblick eine vollkommene Gestalt erhalten und dann auf dem Boden, möglicherweise auch auf der Haut eines Besuchers erneut zerplatzen. Wie eine erschreckende Wiederkehr der Toten, rufen die Blasen das bereits zerstörte Leben in Erinnerung und geben im Moment des Zerplatzens auf der Haut die Gewissheit unserer eigenen Lebendigkeit. Wenn traditionelle Vanitasmotive an unsere Sterblichkeit erinnern, erinnert die Arbeit von Teresa Margolles daran, dass wir leben.30

Doch gilt dieses ›Memento vivere‹ in beide Richtungen. Die sanfte Berührung der zerspringenden Seifenblasen auf der Haut des Betrachters ist wie ein flüchtiger Kuss der für diesen Moment zum Leben wiedererweckten Toten. Margolles, die En el aire zuerst in der in ein Museum konvertierten Barockkirche X-Teresa in Mexico City zeigte, setzt die Energien der wundersamen Verwandlung vom Vergehen zum Werden und wieder zurück in beide Richtungen frei: einmal, um die Toten aus dem mit ihnen affizierten Wasser phoenixgleich aufsteigen zu lassen, einmal um den Lebenden mit 29 30

Ebd., S. 53f. Görner; Kittelmann in: Margolles 2004, S. 18.

217

13 |  ABDRUCK DER ABWESENDEN

ihrer eigenen Sterblichkeit konfrontierend das eigene Dasein als Kontinuum in einem größeren Zyklus zu erkennen zu geben. In diesem Prozess wird jener ›Styx‹ der Totenkammern, in dessen Fluten die vielen anonymen Leichen gereinigt und davon getragen werden, zu einem Fluss des Lebens.

Vom Tod abgeriebene Bilder des Daseins Margolles’ Konzept eines »Kreislaufs«, der sich in ihren Arbeiten in Form einer »Abfolge von Verdunstung und Niederschlag«31 artikuliert, ist in der systematischen Wiederaufbereitung, die im Windschatten der Verdrängung des Todes in unseren (westlichen) Gesellschaften heute vonstatten geht, bereits angelegt: Die Leichen werden – und nicht nur in Mexico City – durch ein ausgeklügeltes System bürokratischer ›Entsorgung‹ möglichst reibungslos zum Verschwinden gebracht, der Skandal, den jeder Tod bedeutet, so gut es eben geht bereinigt. Aber der Tod bleibt in der Luft und findet überall seinen Niederschlag. Die Spuren mögen noch so sorgfältig verwischt werden, durch alle Ritzen dringt er in unser Leben wieder ein. So gesehen ist jedes Wasser, mit dem wir uns waschen, das wir trinken, von der gleichen Qualität, wie das aus der Gerichtsmedizin in Mexico City.32

Die Gruppe von Installationen der Künstlerin, in denen Wasser als Medium der Transformation und der »Transsubstantiation« dient, umfasst auch solche Arbeiten, in denen das Blut von Menschen, die an verschiedenen Orten Mexikos auf der Straße ermordet wurden, als »Lebensspuren«33 enthalten ist. Dazu gehören auch einige der Beiträge, die die Künstlerin zur VenedigBiennale 2009 im mexikanischen Pavillon34 präsentierte. Margolles ließ hier unter anderem eine Reinigungszeremonie stattfinden, in deren Verlauf die Angehörigen von mexikanischen Gewaltopfern die Böden der Ausstellungsräume mit einer Synthese aus Wasser und dem Blut ihrer toten Verwandten wischten. Darüber hinaus waren Tücher mit Schlamm und Blut von Orten in Mexiko als Wandarbeiten ausgestellt, an denen Menschen ermordet wur31 32 33 34

218

Ebd., S. 21. Ebd. Ebd. Der mexikanische Pavillon war im Palazzo Rota Ivancich aus dem 16. Jahrhundert im Bezirk Castello situiert.

TERESA MARGOLLES’ FEINSTOFFLICHE ELEGIEN

den. Auch die mexikanische Flagge am Eingang des Pavillons wurde durch ein solches mit Schmutz und Blut getränktes Tuch ersetzt. In Venedig wurde Margolles’ zunehmende Verlagerung der Spurensicherung im Dienst der Vergessenen und Verlorenen seit der zweiten Hälfte der 2000er Jahre von der verborgenen Heterotopie der Leichenschauhäuser in Mexico City ins öffentliche Terrain urbaner Räume, spezifisch in die von Drogenkriegen zerrüttete mexikanische Grenzstadt Ciudad Juárez, sichtbar. Cuauhtémoc Medina, Kurator von Margolles’ Ausstellung im mexikanischen Pavillon 2009, zeichnet die Entwicklung der Künstlerin von »flüchtigen und abstrakten Methoden, die post-minimalistische Ästhetik der aktuellen globalen Kunst mit Körpersubstanzen zu durchdringen«, zu einer konkreteren Arbeit »mit den materiellen Spuren von Straßenmorden und den damit verbundenen, aus Bekennerschreiben zu Hinrichtungen, Polizeiberichten und Pressemitteilungen über Gewalttaten entnommenen verbalen Erzeugnissen« nach.35 Diese Erweiterung ihrer Erinnerungs- und Mahnarbeit mit Blick auf die auf »Kriegsgebiet-Niveau« angestiegene Gewalt in vielen Teilen Mexikos sieht Medina als »Erforschung der zeitgenössischen Nekropolis« durch eine »Transmogrifikation der Strategien urbaner Recherche des modernen Flaneurs«: Mittels verschiedener Methoden (das Tränken von Textilien mit Dreck und Blut am Schauplatz einer Exekution, das Aufsammeln der winzigen Glasfragmente einer Windschutzscheibe nach einer Schießerei, oder die visuelle und akustische Aufzeichnung einer Landschaft, die symbolisch und emotional mit Erinnerungen an den Tod aufgeladen ist) fängt Margolles die formlosen Reste Tausender von Leben ein, und kartiert ein Territorium, das von einer Akkumulation von Leichen gekennzeichnet ist.36

In jenen Strategien der »Kartierung« vergangenen Lebens setzen sich frühere Ansätze der Künstlerin fort, die physische Aura von Verstorbenen als Abdruck in verschiedenen Medien und Materialien zu fixieren. Dazu gehören unter anderem Tuch- oder Gipsabdrücke von obduzierten Leichen, dar35

36

Vgl. Cuauhtémoc Medina, Teresa Margolles: What Else Could We Talk About? (Pressemitteilung, die zur Ausstellung im mexikanischen Pavillon im Rahmen der 53. Venedig-Biennale veröffentlicht wurde, unter: http://universes-in-universe.org/ deu/bien/biennale_venedig/2009/tour/mexico/cuauhtemoc_medina, 16. Okt. 2016) [Übers. d. Autorin]. Ebd.

219

13 |  ABDRUCK DER ABWESENDEN

unter die Arbeiten Dermis (Haut), 1996, und Catafalco (Katafalk), 1997 (beide zusammen mit SEMEFO realisiert), die Papeles (Papiere), 2003, Aquarellblätter, die durch Wasser von der Obduktion individueller Leichen gezogen und somit zu abstrakten Bildnissen wurden, oder die spektakuläre Außenarbeit Frontera (2010) – vierzig in Erde und Körperflüssigkeiten aus verschiedenen, von hoher Kriminalität betroffenen mexikanischen Städten getränkte Tücher, die anlässlich von Margolles’ gleichnamiger Ausstellung in der Kunsthalle Fridericianum in Kassel 2010/2011 alle Fenster im Obergeschoss des Gebäudes verdeckten. Die Sedimente einstigen Seins, die sich in Margolles’ Lamentos für die Ungehörten und Ungesehenen, die Verstorbenen und Verschwundenen ihres Landes im Wasser, in den Fasern von Tüchern, auf Papieren oder in anderen Materialien absetzen, lassen an Roland Barthes’ Vorstellung von der Fotografie als »ein vom Wirklichen abgeriebenes Bild«37 denken. Margolles’ Extrakte der Gewesenen sind von der Wirklichkeit des Todes abgeriebene Bilder, die auf die Lebenden zurückverweisen: Beweise von deren einstiger Existenz, über den Tod hinaus.

Zwischen Leere, Materialisierung und Transzendenz In ihrer Präsentmachung der ultimativen Abwesenheit angesichts des Todes bedient sich Margolles in ihrer dialektischen Rolle »als Künstler-Heilige« und »todbringende Künstlerin«38 essenziell dem tradierten Repertoire christlicher Ikonografie. Ihr Spektrum erstreckt sich von Motiven der Transsubstantiation, wie Sykora dies am Beispiel der Seifenblasen in En el air dargelegt hat, bis hin zu Ableitungen des »wahren Bildnisses« (die ›Vera Icon‹ des Schweißtuchs der Heiligen Veronika oder des Turiner Grabtuchs)39 in der Sicherung von Körperabdrucken oder -spuren mittels verschiedener Medien und Materialien. Reliquien finden sich in Gestalt sterblicher Überreste wie der präparierten gepiercten Zunge eines getöteten drogensüchtigen Jugendlichen in der Arbeit Lengua (Zunge),40 von der die Künstlerin gesagt hat, dass sie »nach dem Tod weiterspricht, sogar in vielen verschiedenen Sprachen« und daran erinnere, dass »der Tod nicht schön« sei.41 Und sie 37 38 39 40 41

220

Barthes 1989, S. 126. Jauregui in: Margolles 2004, S. 145. Vgl. Görner; Kittelmann in: ebd., S. 19, und Jauregui in: ebd., S. 137. Margolles zeigte die Arbeit erstmals 2000 in Mexico City, und ermöglichte im Gegenzug der mittellosen Mutter die Beerdigung ihres Sohns. Vgl. Teresa Margolles im Gespräch mit Santiago Sierra, in: BOMB 86, Winter 2004 [Übers. d. Autorin].

TERESA MARGOLLES’ FEINSTOFFLICHE ELEGIEN

lassen sich in Kleidungsstücken und Habseligkeiten Ermordeter (Estudio de la ropa de cadáver (Studie der Kleidung einer Leiche), 1997, und Memoria Fosilizada (Versteinerte Erinnerung), 1998, beide mit SEMEFO realisiert) ebenso erkennen wie in Glassplittern, die die Künstlerin nach einer Schießerei vom Tatort aufsammelte. Letztere ließ Margolles für die Vitrineninstallation Joyas (2007) von einem Juwelier ihres Geburtsorts Culiacán zu Schmuckstücken verarbeiten. Sie präsentierte diese wie Heiligtümer in beleuchteten Glaskästen: die Vergeblichkeit des Lebens in Gold gefasst, Memento mori und Schreine für die Toten in einem. Die Analogien zu Verbildlichungen der christlichen Heilslehre, die in Margolles’ Werk zum Tragen kommen, erstrecken sich auch auf die Wiederauferstehung des toten Körpers in immaterieller, gleichwohl physisch aufgeladener Inkarnation, die horrende Intimität und eine Transzendenz des Physischen verbindet. In den Worten Medinas, transponiert die Künstlerin in Arbeiten wie Vaporizatión gar »obszöne körperliche Berührung in reine Spiritualität.«42 Eine symbolische Resurrektion der Verstorbenen macht auch die Installation Plancha (Platte) aus dem Jahr 2010 sichtbar, in der Tropfen von Leichenwaschwasser auf eine heiße Stahlplatte fallen und dort verdampfen. Während quasi die Seelen der Toten in die Atmosphäre aufsteigen, bleiben als Zeichen einstigen Lebens auraartige Rückstände auf der Platte zurück. Hier wird erneut die Stellvertreterfunktion deutlich, die Margolles’ fragmentarischen Lebens- und Todesspuren in ihrer flüchtigen Eigenschaft als »zwischenräumlich, schwellenüberschreitend«43 eignet. Die disparaten Indizien der aus dem Leben gewaltsam Entrissenen verweisen selbst als Pars pro toto noch auf ein Ganzes, das die Künstlerin aus den Bruchstücken zu rekonstruieren und der ultimativen Bildstörung und -verwischung des Todes entgegenzusetzen sucht. Margolles hat ihr Anliegen einer Zeugenschaft der Toten und einer Präsenzmachung der individuell erfahrenen, gesellschaftlich verankerten Katastrophe der Gewalt nicht nur auf dem Terrain der Wandlung, Sublimation und Transzendenz verfolgt. Fotografische und filmische Dokumente waren von Anfang an Teil ihres Werks. Selbstportraits der Künstlerin im Leichenschauhaus im Beisein von Toten, die sie partiell wie in einer säkularen Pietà in den Armen trägt (Autorretratos, 1998), gehören ebenso dazu wie Arbeiten, in denen die Waschung oder Obduktion von Leichen aufgezeichnet wurde, darunter das Video El agua en la ciudad (Das Wasser in der Stadt), 42 43

Cuauhtémoc Medina, Gegenseitiger Missbrauch, in: Biesenbach 2002, S. 163. Jauregui in: Margolles 2004, S. 149.

221

13 |  ABDRUCK DER ABWESENDEN

2004, und der Audiomitschnitt einer Schädelöffnung, Trepanaciones (Trepanationen), von 2003. Das visuelle Festhalten urbaner Schauplätze von Tod und Gewalt hat auch in ihrer dokumentarischen Produktion die Repräsentation von Interieurs der Gerichtsmedizin mittlerweile abgelöst. Diese Orte hat Margolles im städtischen Außenraum als Topografien des Todes und des Verschwindens von Menschen in den Fokus gerückt, so auch in ihrer Videoinstallation Corporización de la ausencia (Verkörperung der Abwesenheit) von 2010. Darin hielt sie eine Aktion mit Schülerinnen und Schülern von Gymnasien in Ciudad Juárez und Guadalajara fest, die durch eine symbolische Inszenierung von deren Absenz auf die hohe Zahl der Morde an Kindern und Jugendlichen in Mexiko aufmerksam machen soll. Anlässlich der Berlin-Biennale 2010 stellte die Künstlerin eine Wandcollage aller Titelseiten der Boulevardzeitung PM aus Ciudad Juárez des Jahres 2010 zusammen, die in täglichem Wechsel Mordfälle wie in einem »bizarren Todesporno«44 neben Erotikanzeigen abbildeten. »Gewalt und Tod« wurden hier »als Alltagserfahrung einer Gesellschaft« vorgeführt, »die unter dem Druck organisierter Drogenkriminalität einen Zusammenbruch erlebt.«45 In ihrer Kasseler Ausstellung Frontera 2010/2011, wo auch Plancha zu sehen war, machte die Künstlerin die Wirklichkeit des Todes auch in massiver, steinerner Gegenwärtigkeit greifbar. Margolles transplantierte für die Arbeiten Muro baleado (Culiacán) von 2009 und Muro Ciudad Juárez von 2010 Mauern aus ihrer Geburtsstadt und der »Hauptstadt des Verbrechens« Ciudad Juárez, von deren Auswirkungen lange Zeit insbesondere Frauen betroffen waren,46 als »Zeugen der Geschichte« und »materieller Überrest einer tragisch verlaufenen Schießerei«47 in den Ausstellungsraum. Vor ersterer Mauer wurden zwei Polizisten, vor letzterer Mauer vier Schüler erschossen. Die Einschusslöcher indizieren die mörderische Gewalt, die das Leben der Opfer zerstörte: Bild und 44

45 46

47

222

Artur Zmijewski; Joanna Warsza, Teresa Margolles: PM 2010, in: Act for Art. Forget Fear, Berlin Biennale Zeitung zur 7. Berlin-Biennale für zeitgenössische Kunst (27. April bis 1. Juli 2010), dt./engl., hrsg. v. dies., Berlin 2010, S. 12. (Siehe dazu auch: http://www.berlinbiennale.de/blog/projekte/»pm-2010«-von-teresa-margolles-23471, 16. Okt. 2016). Zmijewski; Warsza, in: dies. 2010, S. 12. Vgl. dazu das Zitat von Judith Torrea aus: »El peligro en Ciudad Juárez es estar vivo« (Das Gefährlichste in Ciudad Juárez ist es, lebendig zu sein), zit. in: Teresa Margolles, Frontera, Ausst.-Kat., engl./dt./span. (Kunsthalle Fridericianum, Kassel: 2010/2011; MUSEION, Bolzano/Bozen: 2011), hrsg. v. Rein Wolfs; Letizia Ragaglia, Köln 2011, S. 83. Rein Wolfs, Über die Grenze, in: ebd., S. 105.

TERESA MARGOLLES’ FEINSTOFFLICHE ELEGIEN

Wirklichkeit verfließen. Das gilt auch für die ebenfalls in Kassel gezeigte Arbeit Herida (Wunde) von 2010. Margolles visualisiert darin die allgegenwärtige Realität des Todes in Nordmexiko in Gestalt eines mit Körperfett ermordeter Menschen gefüllten medizinischen Schnitts, der als scharfe, waagerechte Gerade wie die Nulllinie auf einem EKG-Monitor durch eine skulptural nachgebildete Mauer verläuft. Durch die Integration der realkörperlichen Substanz (das menschliche Fett) in die ästhetischen Symbolfiguren von Mauer und Einschnitt gehen auch hier Bildmedium und Bild ineinander über: So wie die Bildhauer des Postminimalismus industrielle und natürliche Rohstoffe verbinden, zum Teil um die Unterschiede zwischen Arbeit und Ort und Kunst und Leben zu verringern, so verwendet Margolles industrielle Materialien wie Beton und Stahl im Zusammenhang mit unorganisch gemachten organischen Materialien (tote Körper), um die Unterschiede zwischen Arbeit und Ort und Kunst und Leben zu tilgen.48

Hans Belting hat ausgeführt, dass der »Archetypus des Bildes« im »symbolischen Tausch von Tod und Bild vollzogen« wurde, bei dem das Bild als Medium den »verlorenen Körper« des Toten ersetzte, mittels dem dieser »unter den Lebenden blieb«.49 In Margolles’ Inkorporation der Toten zeigt sich eine partielle Wiederherstellung des »Anthropozentrismus der antiken Kultur«, dessen Tabuisierung seitens des Christentums nach Belting die »Krise des Körperbilds« auslöste, aus der die »Bildgeschichte des Körpers in Europa« hervorgegangen sei: Die unmittelbare Anwesenheit des Göttlichen im Bild wich dessen Entkörperlichung und »Menschen [wurden] fortan nur als Tote abgebildet, die in einer anderen Welt leben«.50 In ihren Arbeiten koppelt die Künstlerin das Jenseits mit dem Diesseits, indem sie einerseits den Körper selbst (samt seiner Spuren und Überreste) als doppelt kodiertes Bild einsetzt, in dessen Textur sich Leben und Tod eingeschrieben haben und sich gegenseitig überlagern, während »die lebendigen Spuren der Leiche die Leere des Todes«51 offenbaren. Und indem sie andererseits das Nichtsein und die abwesenden Toten mittels organischen Platzhaltern, ver-

48 49 50 51

Jauregui in: Margolles 2004, S. 149. Belting 2011, S. 29. Ebd., S. 95. Jauregui in: Margolles 2004, S. 150.

223

13 |  ABDRUCK DER ABWESENDEN

balen Evokationen und visuellen Chiffren »in ihrer physischen Realität präsent«52 werden lässt, auch ohne diese konkret zur Abbildung zu bringen. »Im Rätsel des Bildes«, schreibt Belting, »sind Anwesenheit und Abwesenheit unauflösbar verschränkt. In seinem Medium ist es anwesend (sonst könnten wir es nicht sehen), und doch bezieht es sich auf eine Abwesenheit, von der es ein Bild ist. Das ›Hier und Jetzt‹ des Bildes lesen wir an dem Medium ab, mit dem es uns vor Augen tritt.«53 Im Werk der Künstlerin ist die Übereinstimmung von Präsenz und Absenz indes nicht allein in der grundsätzlichen Eigenschaft des Bildes begründet, simultan Gegenstand und Verweis auf etwas zu sein, das außerhalb von ihm liegt. Die Verschränkung von Anwesenheit und Abwesenheit drückt sich vielmehr in einer Sichtbarund Spürbarmachung des Unsichtbaren – des gewesenen Lebens ebenso wie jener »Leere des Todes« – aus, die die Betrachter aufgefordert sind, anhand der von Margolles’ gesicherten und ausgelegten Spuren zu vergegenwärtigen. Jede Menschendarstellung, als Körperdarstellung, ist der Erscheinung abgewonnen. Sie handelt von einem Sein, das sie allein im Schein darstellen kann. Sie zeigt, was der Mensch ist, in einem Bilde, in dem sie ihn erscheinen läßt. Und das Bild wiederum tut dies im Substitut eines Körpers, den es so inszeniert, daß dieser die gewünschte Evidenz liefert. Der Mensch ist so, wie er im Körper erscheint. Der Körper ist selbst ein Bild, noch bevor er in Bildern nachgebildet wird. Die Abbildung ist nicht das, was sie zu sein behauptet, nämlich Reproduktion des Körpers. Sie ist in Wahrheit Produktion eines Körperbilds, das schon in der Selbstdarstellung des Körpers vorgegeben ist.54

Was aber, wenn das »Körperbild« zerstört, die Selbstdarstellung des Körpers außer Kraft gesetzt ist? Führt das Ende des Körpers nicht zu einem Ende seiner Bilder? Und wie lässt sich das gewesene Sein selbst vor endgültiger Auslöschung retten? In ihren Gestaltgebungen vergangenen Lebens löst Margolles das Bild des menschlichen Körpers aus der Scheinhaftigkeit des inszenierten Seins und verleiht ihm die Wahrhaftigkeit und Gewichtigkeit des realen Todes. Auch wenn der Mensch als »Ort der Bilder«55 verloren 52 53 54 55

224

Görner; Kittelmann in: ebd., S. 19. Belting 2011, S. 29. Ebd., S. 89 [Herv. im Orig.]. Ebd., S. 57.

TERESA MARGOLLES’ FEINSTOFFLICHE ELEGIEN

ist, lässt sich seine Existenz am Abdruck, den er in der Welt hinterlässt, ablesen. Diese Spur schreibt die Künstlerin fort und transzendiert damit die Grenzen zwischen Diesseits und Jenseits. »Die Welt, in der wir sterben, steht der Welt, in der wir leben, gegenüber wie das Unzugängliche dem Zugänglichen«,56 schreibt Georges Bataille. Persistent schlägt Margolles eine Brücke zur »Welt, in der wir sterben«, und macht sie uns zugänglich. Darin liegt die Radikalität ihres anhaltenden Projekts einer Rettung der aus dem Leben Verschwundenen vor der Vergessenheit: dass sie der Abwesenheit ein Gesicht, den Nichtmehrseienden ein Bild, dem Endpunkt eine neue Wendung und Zukunft gibt.

56

Georges Bataille, Die Welt, in der wir sterben [Orig.: Le monde dans lequel nous mourons], in: ders., Henker und Opfer, Berlin 2008, S. 27.

225

14 | LIEBESBRIEFE IN LICHTBLAU

Felix Gonzalez-Torres’ ephemere Botschaften des Begehrens I wanted to make art work that could disappear, that never existed […]. Felix Gonzalez-Torres1

D

ie Liebe weitet den Raum und die Zeit. Als emphatische Evokationsund Erinnerungsleistung vermag sie bei Abwesenheit ihres Subjekts temporale wie territoriale Schranken aufzuheben und selbst die Zäsur zwischen Leben und Tod zu überwinden. Ihre Grenzen überschreitende Kraft durchzieht das vielgestaltige Werk von Felix Gonzalez-Torres. Wandelbar und ephemer, gehen seine in mehrere Richtungen offenen Bilder, Skulpturen und Botschaften in die Welt hinaus: in den Köpfen der Rezipienten oder auch in konkreter Form davongetragen und in Umlauf gebracht. Das Textarbeiten und Fotografie, Objekte, Plakate und Rauminstallationen umfassende, prozesshafte Schaffen des 1957 in Guáimaro, Kuba, geborenen, 1996 in Miami, Florida, an den Folgen von Aids gestorbenen US-amerikanischen Künstlers bezieht seine poetische Intensität aus der Aufladung des Beiläufigen und Flüchtigen durch die Auslotung existenzieller und gesellschaftspolitischer Tiefendimensionen. Schimmernde Lichter- und Perlenketten, Stapel von bedruckten Papierbögen, glitzernde Bonbonhaufen, Billboard-Plakate und Wortfriese werden zu Vehikeln der Erinnerung, der Elegie, der Anklage, des Begehrens, der Trauer und der Feier des Lebens und der Liebe. Eine immanent präsente, vielgestaltig evozierte Schlüsselfigur in Gonzalez-Torres’ Arbeiten ist der 1991 ebenfalls an Aids gestorbene Geliebte des Künstlers, Ross Laycock. Gonzalez-Torres lernte Laycock, den er als sein eigentliches »Publikum«2 bezeichnet hat, 1983 kennen und war mit ihm bis zu dessen Tod verbunden. In seiner Kunst fließen Verweise auf die Fragilität 1

2

Felix Gonzalez-Torres in: Felix Gonzalez-Torres – Etre un Espion, Interview with Felix Gonzalez-Torres by Robert Storr, urspr. veröffentlicht in: Art Press Magazine, engl./ franz., Paris, Jan. 1995, S. 24-32, unter: http://www.queerculturalcenter.org/Pages/ FelixGT/FelixInterv.html (18. Okt. 2016). Vgl. ebd. Auf Storrs Frage nach seinem Zielpublikum betont Gonzalez-Torres: »When people ask me, ›Who is your public?‹ I say honestly, without skipping a beat, ›Ross.‹ The public was Ross. The rest of the people just come to the work.«

227

14 |  LIEBESBRIEFE IN LICHTBLAU

des menschlichen Körpers und auf die nie versiegende Fülle des Daseins in fugischer Verflechtung ineinander. Der Körper zeigt sich dabei als Austragungsort eines konstanten dialektischen Wechselspiels der gegenläufigen Energien an der Schnittstelle zwischen Leben und Tod, essenzieller Anfälligkeit und sinnlich-vitaler Manifestation. Die Unmöglichkeit, die Komplexität des menschlichen Daseins und der Phänomene der Wirklichkeit mittels ab­strakter Zählwerke zu erfassen, bildete 1987/88 den Ausgangspunkt der Papierarbeiten aus der »bloodwork«3 Serie, die sich medizinischen Kurvendarstellungen von Blutwerten widmet. Über eine implizite Bezugnahme auf die fortschreitende Immunschwäche durch HIV hinaus zeigen die »bloodworks« die grundsätzliche Problematik schematisierter Messwerte und Kodifizierungen als institutionalisierte Erklärungsmuster und Regelsysteme in unserer (westlichen) Kultur auf. Zugleich kehrt der Künstler die unpersönliche visuelle Sprache der »Zahlen und Codes«4 in deren Aneignung um: Wie Nancy Spector erläutert, unterstreiche er im Sinne einer »Brechtschen Strategie« der Distanzierung die Abstraktion des medizinischen Diskurses, indem er den Körper in der »bloodworks« Serie vollends ausklammere, gestatte aber dadurch den Betrachtern, die Arbeiten mit einer jeweils eigenen Bedeutung zu erfüllen.5 Parallel zur Realisierung der »bloodworks« entwickelte Gonzalez-Torres auch seine Werkgruppe der potentiell endlos reproduzierbaren Stapel (»stacks«): bedruckte Papierbögen mit Schrift- oder Bildmotiven, die den Rezipienten zur Mitnahme freistehen und zu einem ästhetischen Markenzeichen des Künstlers geworden sind. Die Idee dazu entstand nach seinem eigenen Bekunden daraus, dass er nach einer Lösung zur Realisierung »einer wirklich öffentlichen Skulptur« suchte, wobei er alle offiziellen Präsenta­ tionsflächen der Kunst, ob in einer Galerie oder im Außenraum, als prinzipiell »privat« auffasste.6 Der deshalb aus seiner Sicht obsoleten, weil künstlichen Trennung zwischen »öffentlich« und »privat« begegnete er mittels 3

4 5 6

228

Ein wesentlicher Impuls bei der Konzeption der »bloodworks« war Gonzalez-Torres’ Erfahrung des ersten großes Blutbildes, das von Lacock im Zuge seiner Erkrankung in der Klinik erstellt wurde und das ihn aufgrund des hohen Abstraktionsgehalts zutiefst befremdete. (Vgl. Gonzalez-Torres, zit. nach Nancy Spector, Felix GonzalezTorres, Ausst.-Kat., Solomon R. Guggenheim Museum, New York u. a.: 1995/1996, hrsg. v. The Solomon R. Guggenheim Foundation, New York 2007 [1995], S. 167) [Übers. d. Autorin]. Vgl. ebd. Vgl. Spector 2007, ebd. Vgl. Gonzalez-Torres im Interview mit Storr, in: Gonzalez-Torres 1995 [Übers. d. Autorin].

FELIX GONZALEZ-TORRES’ EPHEMERE BOTSCHAFTEN DES BEGEHRENS

einer potenziell nomadisierenden Skulptur, die die institutionalisierten Räume der Kunst verlässt und sich quasi an anderen, nicht vorhersehbaren Orten fortsetzt. Im Stil seiner ab 1987 produzierten »dateline pieces«7 sind auf den Einzelblättern von »Untitled« (1988),8 der ersten Arbeit der vielfältigen Werkgruppe der aus Plakatstapeln bestehenden »stacks«, ausgewählte Ereignisse und Protagonisten mit dazugehörigen Jahresdaten in weißer Schrift auf schwarzem Grund abgedruckt, die auf die homosexuellenfeindliche, Aids stigmatisierende gesellschaftliche Realität in den USA und Europa der 1980er Jahre referieren. Die Blätter späterer »stacks« bilden meist fotografische Motive oder monochrome Farbfelder ab: dekontextualisierte Nachrichtenbilder aus den Medien, von Vögeln durchflogene Wolkenhimmel, eine lichtblaue Fläche, in die der Blick eintauchen und sich verlieren kann, oder eine schwarz gerahmte weiße Leere – »Untitled« (The End), 1990 – die das Nichts heraufbeschwört, eine Tabula rasa des Todes, der in seinem unergründlichen weißen Rauschen alle Bilder auslöscht und doch alle Farben des Lebens in sich vereint. Die »dateline pieces« nehmen ab 1989 in den Zeitleisten-»Portraits« neue Gestalt an: Persönliche und zeitgeschichtliche Begriffe und Daten verdichten sich darin in nicht-chronologischer Reihung 7

8

Die erste »dateline«- oder »Datumszeilen«-Fotokopie mit aneinander gereihten gesellschaftspolitischen und alltagskulturellen Ereignissen und Jahreszahlen wurde im Rahmen der Diplomaustellung des Künstlers 1987 zum Master of Fine Arts (dem Künstler vom International Center of Photography und der New York University verliehen) präsentiert. Auf ihr war der Text: Bitburg Cemetery 1985 Walkman 1979 Cape Town 1985 Water-proof mascara 1971 Personal computer 1981 TCL abgedruckt. (Vgl. dazu: Julie Ault, Chronologie, in: Felix Gonzalez-Torres, Ausst.-Kat., dt./engl. (Neue Gesellschaft für bildende Kunst, Berlin, in Kooperation mit dem Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin: 2006/2007), hrsg. v. Neue Gesellschaft für bildende Kunst (NGBK), Berlin 2006, S. 183f.). Die Methode der »dateline« Arbeiten, Begriffe und Jahreszahlen als eliptische Form einer offenen, unchronologischen, kollektiven Geschichtsschreibung, deren Lücken die Betrachter selbst mit eigenen Inhalten füllen konnten, manifestierte sich in verschiedenen Formaten beziehungsweise Medien, unter anderem in Gestalt von Großplakatwänden sowie friesartigen Wandtext-Portraits, die auf persönlichen Daten der Portraitierten beruhten. (Vgl. dazu: Susanne Weiß, Final Meaning? Plädoyer zur Vermittlung des Werks von Felix Gonzalez-Torres, in ebd.:, S. 192f.). Diese Arbeit enthält den Text: Helms Amendment 1987 Anita Bryant 1977 High-Tech 1980 Cardinal O’Connor 1988 Bavaria 1986 White Night Riots 1979 F.D.A. 1985 (Vgl. Ault in: ebd., S. 184). Die »Photostat«-Arbeiten, kleinere, gerahmte »dateline pieces« mit wenigen Zeilen weißer Schrift (Orte/Personen und die dazugehörigen Daten) auf einem schwarzen Feld, sind zwischen 1987 und 1992 enstanden. (Zu dieser Gruppe von Arbeiten und zur Erläuterung des vom fotostatischen Fotokopierverfahren abgelösten »Photostat«-Verfahrens, vgl. Weiß in: ebd., S. 192 und 198, Fußnote 2).

229

14 |  LIEBESBRIEFE IN LICHTBLAU

zu elliptischen, Privates und Öffentliches verflechtenden, dabei abstrakt bleibenden Lebensfriesen, die in der Regel als rundum verlaufende Schriftbänder in Deckenhöhe eines Raums platziert wurden und von den Portraitierten selbst ergänzt und fortgeschrieben werden konnten.9 Gonzalez-Torres’ durch das Publikum in Umlauf gebrachte, immer wieder nachfüllbare Stapel-Arbeiten mit identischen Motiv-Reproduktionen – der Künstler arbeitete bis 1993 mit diesem Medium – haben zwar eine von ihm benannte Idealhöhe, sind aber daran nicht gebunden und aufgrund der den Betrachterinnen und Betrachtern offen gestellten Möglichkeit der Mitnahme ohnehin in Auflösung und Wandlung begriffen. Der Künstler hat selbst hervorgehoben, dass seine Arbeiten grundsätzlich »extrem instabil« sind. So gebe es immer nur »ideale Höhen oder ideale Gewichte oder ideale Blattmengen«. Doch gefalle ihm gerade »diese Gefahr, diese Instabilität, dieser Zwischenzustand«. So müsse jeder Ausstellungsmacher oder Sammler selbst entscheiden, wie die Arbeit installiert werde.10 Die Dynamik der in konstanter De- und Rekonstruktion befindlichen, mobilen und zirkulierenden Skulpturen evoziert darüber hinaus sowohl das Prinzip der Vergänglichkeit, das alle weltlichen Phänomene betrifft, und einen Kreislauf, der nie versiegt und sich spiralförmig in die denkbare Unendlichkeit des öffentlichen Raums erweitert. Frank Wagner hat die dialektische Verbindung zwischen der instabilen Gestaltgebung der »stacks« und der transitorischen Natur des menschlichen Körpers hervorgehoben: Wird der ›stack‹ als symbolischer Verweis auf einen realen menschlichen Körper und seine zeitliche Präsenz wahrgenommen, dann kommen Unruhe, Angst und Trauer ins Spiel. Bezieht man die Körperlichkeit auf ein einzelnes Element eines Stapels, so evoziert es den Gedanken an das Verschwinden des Individuums in der Anonymität der 9

10

230

Die Portraits, die »›Privates öffentlich‹ machen« lösen die Zeitleisten-Arbeiten, die »›Öffentliches öffentlich‹ zeigen« ab. (vgl. Ault in: ebd., S. 185). Die letzte Modifikation seines eigenen kumulativen Selbstportraits »Untitled«, 1989, präsentierte Gonzalez-Torres 1995 im Centro Galego de Arte Contemporánea in Santiago de Compostela, Spanien. In chronologischer Reihenfolge lautet der letzte Eintrag: A view to remember 1995. (Vgl. dazu Petra Reichensperger, »A view to remember«. Bewegungsprozesse voller Verräumlichungen und Verzeitlichungen, in: ebd., S. 41, sowie Ault in: ebd., S. 188). Zit. nach Frank Wagner, Vorwort, in: Gonzalez-Torres 2006, S. 36 [Übers. d. Autorin; Herv. im Orig.]. Wie Nancy Spector bemerkt hat, ist die »ideale« Bemessung der Höhe der »stacks« ebenso wie die des Gewichts der »spills« (Bonbonhaufen) nicht zuletzt von den Gegebenheiten des jeweiligen Standorts der präsentierten Arbeit bestimmt. (Vgl. Spector 2007, S. 95).

FELIX GONZALEZ-TORRES’ EPHEMERE BOTSCHAFTEN DES BEGEHRENS

Masse: Dem seriellen Produkt wird der Vanitasgedanke eingeschrieben. Betrachtet man den Stapel als Ganzes, stellt sich eine bedrängende Gegenwärtigkeit ein, die durch das Faktum der Reproduzierbarkeit mit dem Gedanken der Erneuerung korreliert.11

Tatsächlich liegt im Prozess des Verschwindens des Stapels (und im übertragenen Sinne des Körpers) auch die Idee einer Rettung. Denn in der Aneignung und Distribution durch den Betrachter, die Betrachterin wird ein Fortbestand des Vergehenden an anderem Ort möglich.

Zwischen Formgebung und Auflösung Die Ambivalenz zwischen Form und Auflösung, (befruchtender) Verstreuung und Verlust/Verschwendung, die in der Werkgruppe der »stacks« zum Tragen kommt, ist in Gonzalez-Torres’ Arbeiten allgemein zu erkennen. Sie findet sich auch in den metallisch glänzenden Bonbon-Aufschüttungen (»candy spills«), die der Künstler von 1990 bis 1993 als opulente Anhäufungen sowie in strengen, rechteckigen Grundrissen als Bodenarbeiten auf der Fläche oder in der Ecke des Ausstellungsraums realisierte. Die nach gewichtsspezifischen Parametern festgelegte »ideale« Menge der in einer Aufschüttung enthaltenen Bonbons fluktuiert nicht nur im Wechsel der jeweiligen Präsentation, sondern auch in deren Verlauf, wenn Besucher mit der Skulptur interagieren und daraus Stücke entnehmen. Die BonbonArbeit »Untitled« (Lover Boys) von 1991,12 dem Todesjahr von Ross Lackock, kann als Doppelportrait zweier Liebender gelesen werden und eröffnet eine weitere interpretatorische Dimension als invertiertes, da selbst in Auflösung befindliches Memento mori. In dem »zum Mitnehmen und Einverleiben auffordernden Bonbonhaufen, der mit seiner potenziellen Auflösung spielt, womit sich metaphorisch auch der gemeinte Mensch aufzulösen scheint«,13 wird das im Subtitel angedeutete Doppelportrait zweier Liebender – Lover Boys – perspektivisch durch die Betrachter zerstört, sofern sie das Bild Stück für Stück zerlegen und davontragen. »Das Bildnis«, befindet Michael Lüthy, »wird in Verkeh11 12 13

Wagner in: Gonzalez-Torres 2006, S. 10. Als Idealgewicht der Arbeit waren 355 Pfund angegeben, »das gemeinsame Gewicht von Gonzalez-Torres und Ross Laycock« (vgl. Ault in: ebd., S. 187). Michael Lüthy, Wie ein flüchtiges Gesicht im Sand. Bildstiftung im Zeichen der Bildlosigkeit, in: Portrait ohne Antlitz. Abstrakte Strategien in der Bildniskunst, Ausst.-Kat. (Kunsthalle zu Kiel: 2004), hrsg. v. Dirk Luckow und Petra Gördüren, Kiel 2004, S. 39.

231

14 |  LIEBESBRIEFE IN LICHTBLAU

rung seiner ehemaligen Memorialfunktion, die Dargestellten über den Tod hinaus präsent zu halten, zum heiter-melancholischen Sinnbild des Verschwindens, das es an sich selbst vollzieht.«14 In Gonzalez-Torres’ »Sinnbild des Verschwindens« steckt aber auch die Überlebensstrategie der öffentlichen Verbreitung: Einer Reliquie gleich, die die Endlichkeit des physischen Leibs transzendiert und ein über sich selbst hinausreichendes spirituelles Konzept verkörpert, verweisen die einzelnen Bestandteile dieses zur Mitnahme und Einverleibung freigegebenen Bildnisses auch auf eine Dauerhaftigkeit des Lebens und der Liebe, die individuell und kollektiv in der Wirklichkeit jenseits des Kunstwerks eine Fortsetzung finden. Die ebenfalls 1991 geschaffene Arbeit »Untitled« (Placebo) umfasst Tausende Bonbons, und kann in wechselnden Formen (als Anhäufung, als Fläche, oder als Aufschüttung in der Ecke eines Raums) Gestalt annehmen. In Gonzalez-Torres’ ephemerer Hommage an den Geliebten, die – wie die Stillleben des Barock – simultan an den Tod gemahnt und Sinnenfreude zele­ briert, zeigt sich die Vieldeutigkeit und Widersprüchlichkeit seines gesamten Werks, wie der Künstler im Gespräch mit Robert Storr erläutert hat: ›Untitled‹ (Placebo) ist entstanden, weil ich nicht anders konnte. Ich hatte dazu keine weiteren Überlegungen, außer dass ich eine künstlerische Arbeit schaffen wollte, die verschwinden könnte, die nie existiert hatte, und sie war eine Metapher für die Zeit, als Ross im Sterben lag. Sie war also eine Metapher dafür, dass ich diese Arbeit aufgeben würde, bevor sie mich aufgab. Ich würde sie zerstören, bevor sie mich zerstört. Das war das kleine Stück Macht, das ich gegenüber dieser Arbeit hatte. Sie sollte keinen Bestand haben, weil sie mir dann nicht wehtun konnte. Von Anfang an gab es sie nicht einmal wirklich – ich habe etwas geschaffen, das nicht existiert. Ich kontrolliere den Schmerz. Darum geht es eigentlich. Das ist der eine Aspekt der Arbeit. Natürlich hat sie auch mit dem ganzen Bullshit um Verführung und die Kunst der Authentizität zu tun. Das ist mir bewusst, aber auf der anderen Seite hat sie diese sehr reale persönliche Ebene. Es geht nicht um Schwindelei. Es geht zudem um Exzess, den Exzess des Vergnügens. Es ist wie bei einem Kind, das sich eine Landschaft aus Bonbons wünscht. Zuallererst geht es um Ross. Dann wollte ich mir selbst, schließlich allen eine Freude bereiten.15 14 15

232

Ebd. Vgl. Gonzalez-Torres im Interview mit Storr, in: Gonzalez-Torres 1995 [Übers. d. Autorin].

FELIX GONZALEZ-TORRES’ EPHEMERE BOTSCHAFTEN DES BEGEHRENS

Gonzalez-Torres setzt seine Trauer über den Verlust seines Lebenspartners in einem zugleich abstrakten und stark suggestiven Bild-zum-Anfassen (und Verzehren) um, in dem das Verschwinden gleichsam bereits eingebaut ist und die Anfälligkeit und Fragilität des menschlichen Körpers grundsätzlich verhandelt wird. Simultan wird hier der Endgültigkeit des Todes ein Akt der Lebensbejahung und des (Mit-)Teilens gegenübergestellt. Die private Gefühlslage wird dabei buchstäblich publik gemacht, das persönliche Bild politisch aufgeladen. Der Subtitel der Arbeit, Placebo, hat im Licht der sich in den 1980er Jahren aufgrund von Ausgrenzung und mangelhafter Versorgung von HIV-Erkrankten dramatisch verschärfenden Aids-Krise, die erst ab 1996 mit der Entwicklung neuer medizinischer Wirkstoffe einen Wendepunkt erfuhr, auch eine gesellschaftskritische Komponente.16 In seinen vielfältigen Implikationen eines Platzhalters deutet er nicht nur auf ein wirkungsloses Präparat, das bei medizinischen Testläufen im Zuge der Entwicklung von Arzneimitteln zum Einsatz kommt (und großflächig HIV-Infizierten verabreicht wurde), sondern auf die leere Hülle des physischen Leibs, den der Tod hinterlässt, und somit auf den nicht mehr Anwesenden, auf einen (künstlerisch geschaffenen) Ersatz, der letztlich den Fehlenden nicht zu fassen vermag, und auf die flüchtige Existenz des Menschen per se. Gonzalez-Torres folgt in seinem Werk auf verschiedenen Ebenen dem Erbe der Minimal und Conceptual Art der 1960er Jahre. Serialität und Modularität sowie formale Reduktion spielen darin ebenso eine Rolle wie die physische Erfahrbarkeit des Raums durch die künstlerische Intervention, die Vertreter der Minimal Art wie Carl Andre (geb. 1935) und Robert Morris (geb. 1931) zu erzielen suchten. Sein Einsatz von Sprache als Bild und Raum stiftendes Medium wiederum ist in den Werken von Conceptual-Art-Pionieren wie Lawrence Weiner (geb. 1942) und Joseph Kosuth (geb. 1945) vorgeprägt. Im Gegensatz zu den Minimalisten ist bei Gonzalez-Torres die stringente Form allerdings nicht ein Zweck an sich, sondern sie schafft eine möglichst offene Rahmung, die mit persönlichem und gesellschaftskritischem 16

In dieser Hinsicht weist die Arbeit auch Parallelen zu der Installation PLA©EBO des von 1968 bis 1994 aktiven kanadischen Künstlerkollektivs General Idea (Felix Partz, Jorge Zontal und AA Bronson) aus demselben Jahr auf. Bestehend aus stark vergrößerten Tabletten in Kapselform, die auf die Aids-Krise Bezug nehmen, präsentiert diese eine »Ikonografie der Leere und falscher Versprechungen«. Vgl. Louise Dompierre, Auf dem Weg zum ›Fin de Siècle‹, in: General Idea’s Fin de Siècle, Auss.-Kat., dt./engl. (Württembergischer Kunstverein Stuttgart; Centre d’Art Santa Mònica, Barcelona; Kunstverein in Hamburg, u. a.: 1992/1993), hrsg. v. General Idea, Stuttgart 1992, S. 57. Felix Partz und Jorge Zontal starben 1994 an Aids, AA Bronson ist seitdem als Einzelkünstler tätig und lebt in Toronto und Berlin.

233

14 |  LIEBESBRIEFE IN LICHTBLAU

Gehalt gefüllt werden kann. So sieht Heike-Karin Völl zwar eine direkte Verbindung zwischen den »candy spills« von Gonzalez-Torres und Carl Andres Spill (Scatter Piece) von 1966. Doch zeigt sich für sie im Verfahren des Ersteren über »den phänomenologischen Strang des minimalistischen Diskurses, der die Einbeziehung des Körpers – wenn auch unspezifisch – propagiert und Skulptur in Abhängigkeit von den räumlichen Kontexten thematisiert hat« hinaus eine emotionale Affizierung und Einbeziehung des Betrachters, der Betrachterin: Resultat einer Inkorporation der »appropriierten Formen und Verfahren in einen komplexen Werkkontext« sowie in »einen semantischen Bezugsrahmen […], der aus gezielten Referenzen, wie (identitäts- und repräsentations-) politischen und queeren Anliegen besteht.«17 Letztere Anliegen teilte Gonzalez-Torres mit dem Künstlerkollektiv Group Material, dem er 1987 beitrat, dem Jahr, in dem ihm der Master of Fine Arts vom International Center of Photography und der New York University verliehen wurde.18 Neben gemeinsamen Arbeiten mit dem Kollektiv, das einen aktivistischen sozialkritischen und politischen Ansatz verfolgte (darunter etwa ein Diskussions- und Ausstellungsereignis zum Thema Democracy unter Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern der Stadt in der Dia Art Foundation, New York, 1989, und andere öffentlichkeitswirksame Aktionen), führte er seine autonome Arbeit als Einzelkünstler fort. Für GonzalezTorres waren politisches Engagement, poetische Tiefe und formale Stringenz unbedingt vereinbar: »Jegliche Kunst und jegliche kulturelle Produktion ist politisch.«19

Fragmente einer in sich gebrochenen Wirklichkeit Gonzalez-Torres’ Vorstellung einer fragmentarisch angelegten Skulptur, die auf der Prämisse der Auflösung beruht und aus »Kopien von Objekten, für die kein Original existiert«20 besteht, findet eine Entsprechung in den ab 1987 kreierten Puzzle-Arbeiten: gestanzte fotografische Bilder, in denen 17 18

19 20

234

Heike-Karin Völl: Form, Referenz und Kontext: Felix Gonzalez-Torres’ »candies«, in: Gonzalez-Torres 2006, S. 109. Gonzalez-Torres studierte zunächst an der Universität von Puerto Rico (und realisierte mit Mitstudierenden 1978 erste ephemere Installationen im öffentlichen Raum). 1981 und 1983 setzte er seine Studien in New York im Independent Study Program des Whitney Museums fort und erwarb 1983 seinen Bachelor of Fine Arts am New Yorker Pratt Institute, bevor er 1987 den Master of Fine Arts erwarb. Er blieb bis 1991 Mitglied von Group Material. Vgl. Gonzalez-Torres im Interview mit Storr, in: Gonzalez-Torres 1995 [Übers. d. Autorin]. Vgl. Spector 2007, S. 95 [Übers. d. Autorin].

FELIX GONZALEZ-TORRES’ EPHEMERE BOTSCHAFTEN DES BEGEHRENS

kollektive und persönliche Geschichte festgehalten ist und die »lediglich von dem leisesten Hauch einer durchsichtigen Kunststoffhülle zusammengehalten werden«.21 Als Vorlagen dazu dienen zunächst mediale Fundstücke – Zeitungsbilder von Menschenmassen sowie von Klaus Barbie im Kreis der Familie oder von Kurt Waldheim als Hostienempfänger bei einer Papst-Au­ dienz. Letztere verweisen auf Doppelmoral und Verlogenheit im Kontext und im Nachhall des Nationalsozialismus.22 Die symbolische Bedeutung der Puzzle-Arbeiten als Mementos, die die Flüchtigkeit des Lebens, der Zeit und der Erinnerung vor Augen führen, machen indes vor allem private Ansichten aus dem Fotoalbum des Künstlers sichtbar: Portraits von ihm und seiner Schwester als Kinder und von Laycock am Strand oder auf dem Bett liegend, das Gesicht von einer Katze verdeckt, Szenen vom letzten Paris-Besuch des Paars, die zwei verlassene Stühle und zwei ineinander übergehende Schattengestalten auf dem Asphalt zeigen. Die Ungreifbarkeit des längst vorübergegangenen Moments in der Fotografie, nach Roland Barthes »eine Emanation des vergangenen Wirk­ lichen«23 im Sinne einer Zeugenschaft gegenüber dem, »was gewesen ist«,24 wird noch verstärkt durch die Labilität des Puzzles, das hier als Bildträger dient: »Indem sie jeden Augenblick drohen, sich in Bruchstücke aufzulösen, machen diese Puzzle die Fragilität der Reminiszenz manifest, da mit der Erinnerung die Anerkennung von Abwesenheit oder Verlust einhergeht.«25 Nancy Spector hat in diesem Zusammenhang auch auf die von Barthes formulierte Verbindung der Fotografie zum Tod hingewiesen, die aus ihrer Sicht in Gonzalez-Torres’ fotografischem Werk inhärent mitschwingt.26 Als beispielhaft für die Visualisierung des für immer verlorenen Moments, der eine Liebesbekundung in einen Ausdruck des Gedenkens verwandelt, nennt sie »Untitled« (Loverboy), ein Portrait von Laycock in Puzzleform, entstanden 1988, drei Jahre vor dessen Tod:

21 22

23 24 25 26

Ebd., S. 44. Die genannten Arbeiten stehen im Zusammenhang mit weiteren Arbeiten, in denen der Künstler politische Fragestellungen kritisch reflektiert hat, darunter die Stapel-Arbeit »Untitled« (Death by Gun), 1990, beruhend auf Bildern aus einem TIME-magazine-Bericht, in dem alle Menschen gezeigt werden, die innerhalb einer gegebenen Woche mit Handfeuerwaffen getötet wurden. (Vgl. zu dieser Arbeit: Ault in: Gonzalez-Torres 2006, S. 186). Barthes 1989, S. 99. Ebd., S. 95. Spector 2007, S. 44 [Übers. d. Autorin]. Vgl. ebd., S. 129.

235

71  Felix Gonzalez-Torres, »Untitled« (Perfect Lovers), 1991, Wanduhren und Farbe auf Wand, Gesamtdimensionen je nach Installation variabel, Uhren: 102 x 71 x 7 cm; zwei Teile: Durchmesser je 35,6 cm

72  Felix Gonzalez-Torres, »Untitled«, 1994, Detail, gerahmte Silber Gelatine Prints,

Gesamtgröße: 11,4 x 55,3 cm; vier Teile: je 11,4 x 14,2 cm; Fotos: je 7,5 x 10 cm, Aufl.: 2 + 1 AP

14 |  LIEBESBRIEFE IN LICHTBLAU

Das, was als Tribut zu Lebzeiten – ein fotografischer Liebesbrief – gedacht war, ist zu einem Memorial geworden. Betrachten wir jetzt das Bild, sehen wir eine schon erfolgte Zukunft vor uns. Es ist schmerzhaft sich einzugestehen, dass Fotografien geliebte Menschen, die von uns gegangen sind, nicht mehr zum Leben erwecken können; stattdessen dienen sie dazu, uns an das zu erinnern, was bereits der Zeit anheim gefallen ist und was letztendlich – im Tod – noch einmal verloren gehen wird.27

Das gilt auch für die Ausschnitte von tatsächlichen Liebesbriefen, die Gonzalez-Torres in den Puzzle-Arbeiten »Untitled« (Love Letter from the Warfront), 1988, oder »Untitled« (Lover’s Letter), 1991, noch zusätzlich fragmentiert hat. Die Auszüge intimer Korrespondenz, die mit Laycocks Tod 1991 abgerissen ist wie die Lebenslinie, die in den Endloskopien von GonzalezTorres’ Stapel-Arbeit »Untitled« (Line of Long Life) von 1991 die Silhouette einer Hand in Weiß auf weißem Grund durchläuft, vermitteln die Evidenz einer nicht mehr greifbaren, vergangenen Wirklichkeit. Doch ist diese immer schon in sich brüchig und in Auflösung begriffen, wie die Zerteilung der Bilder in Puzzlestücke nahelegt: Die Vorstellung, dass das Bild, die Bilder, die wir uns von der Welt und der Realität machen, jemals kohärent oder ganz sein könnten, wird damit von vornherein in Frage gestellt und ausgehebelt.

Materialisierungen und Immaterialisierungen des Körpers Der ephemere Charakter, der Gonzalez-Torres’ Puzzle-Arbeiten und Verfahren der Gestaltgebung prinzipiell bestimmt, durchzieht auch motivisch das fotografische Bildvokabular des Künstlers. Vereiste Fußabdrücke im Schnee, eine schemenhafte Silhouette, die sich hinter einer Gardine abzeichnet (beide jeweils 1988 und 1989 ebenfalls als Puzzle realisiert, wobei letzterer Schattenumriss auch Gegenstand eines Billboard-Plakat-Projekts 1992 mit Installationen an neun Standorten in Kopenhagen war), oder die Ansicht von zwei eingedrückten Kissen auf zerknitterten Laken (präsentiert erstmals 1991 auf Billboards an 24 Standorten in New York): Hinter den zarten, vorübergehenden Zeichen menschlicher Präsenz tut sich das Vakuum profunder Abwesenheit auf. Wie Spector erläutert hat, die sich ausführlich mit indexikalischen Bedeutungsträgern in Gonzalez-Torres’ fotografischen Arbeiten 27

238

Ebd. [Übers. d. Autorin].

FELIX GONZALEZ-TORRES’ EPHEMERE BOTSCHAFTEN DES BEGEHRENS

befasst hat, fungieren diese Motive »weniger als Indikation menschlicher Anwesenheit denn als Spur einer Person, die in der Zeit verloren gegangen ist. Dies ist ein fotografischer Index, der auf der Vergangenheitsform beharrt, auf der Offenbarung dessen, was war, und auf der Transformation von physischen Schatten in immaterielle Phantome.«28 Gleichwohl rückt die Darstellung von Kopfabdrücken auf Bettzeug, von schattenhaften Umrissen auf der Straße und hinter verschleierndem Vorhang oder von Spuren im Schnee den menschlichen Körper in den Fokus. Alle Motive sind »Indizes« eines einstigen lebensvollen beziehungsweise liebevollen Hier- und Zusammenseins. Als ephemere, körperlose Repräsentationen des Körpers sind sie Nachbilder des Begehrens, in denen sich Lust und Verlust überschneiden. Diese Stellvertreterfunktion für den Körper (für den eigenen und den des Geliebten ebenso wie für den menschlichen Leib allgemein) übernehmen im Werk des Künstlers nicht nur fotografische Bilder. Alle von ihm konzipierten Materialisierungen und Entmaterialisierungen beziehen sich auf die eine oder andere Weise auf die physische Manifestation und Dissolution des Menschen mit spezifischem Bezug auf den verstorbenen Geliebten. Ausgehend von Gonzalez-Torres’ fotografischem Motiv zweier Kopfabdrücke auf nebeneinander liegenden Kissen in verlassenem Bett hebt Renate Puvogel die Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit, die dieser und anderen Arbeiten des Künstlers innewohnt, hervor: Wie Gonzalez-Torres in den beiden eingedrückten Kissen dieses Fotos die Lebens-Spuren einfängt, so nutzt er das Verdoppeln als Gleichnis, um eine Liebesbeziehung in ihrer ganzen Tragweite zu skizzieren, in ihrer Schönheit, in dem Gleichklang und auch in der Erkenntnis, daß angesichts letztlich nie erreichbarer Vereinigung die Widersprüchlichkeit und Vergänglichkeit bleibt.29

28 29

Ebd., S. 117 [Übers. d. Autorin]. Renate Puvogel, Felix Gonzalez-Torres, in: Kunstforum International, Kunst und Literatur I, Bd. 139, Dez. 1997 – März 1998, hrsg. v. Heinz-Norbert Jocks, Ruppichteroth 1997, S. 345. Die Retrospektive Felix Gonzalez-Torres, die erste postume Werkschau von Felix Gonzalez-Torres in Deutschland, startete am 1.6.1997 im Sprengel Museum Hannover, wanderte anschließend in den Kunstverein St. Gallen/Kunstmuseum (6.9.­– 16.11.1997) und das Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig, Wien (Herbst 1998). Die zweibändige Publikation zur Ausstellung umfasst einen Band mit dem Werkverzeichnis des Künstlers: Felix Gonzalez-Torres, Ausst.-Kat., 2 Bde., dt./ engl. [Teil 1: Text; Teil 2: Catalogue raisonné], hrsg. v. Dietmar Elger, Ostfildern-Ruit 1997.

239

14 |  LIEBESBRIEFE IN LICHTBLAU

Für die Vergegenständlichung von Gefühlen der Zweisamkeit und Einsamkeit wählt der Künstler Materialen und Gegenstände, die den Ausnahmezustand der Liebe und des Vergehens im Zuge einer »Anthropomorphisierung«30 und poetischen Aufladung des Alltäglichen thematisieren. Dieses Vorgehen wird multidimensional sichtbar in Gonzalez-Torres’ Arbeit »Untitled« (Perfect Lovers) (1987–1990), ein Duo identischer, batteriebetriebener Wanduhren mit gleichermaßen identischer Zeitanzeige, die Seite an Seite zunächst im Gleichtakt schlagen. Doch werden die beiden Uhren zwangsläufig zunehmend voneinander abweichen, wird eine der beiden Uhren vor der anderen stehen bleiben. In dem Moment, in dem eine der Uhren stehen bleibt, müssen die Batterien ersetzt und die Uhren wieder synchronisiert werden. Sie sind einerseits Chiffren für das ideale Liebespaar – Perfect Lovers –, in dem die Dualität zwischen zwei eigentlich separaten Entitäten in einer harmonischen Übereinkunft von Körper und Geist für den Augenblick aufgehoben ist. Zugleich drückt sich im Memento mori der Uhren, die gemeinsam zu schlagen beginnen, aber zu unterschiedlichen Zeiten ablaufen, die unaufhaltbare Vergänglichkeit des Seins aus, die dem Liebespreis gegenübersteht. Als könne er damit das Unaufhaltbare magisch bezwingen, dringt Gonzalez-Torres auch ins Körperinnere vor und verbildlicht die Blutbahnen als (über)lebenswichtige Versorgungswege im Stil einer schillernden, zwischen Zauber, Kitsch und Kostbarkeit changierenden Dekoration.31 Die alternierend roten und durchsichtigen Perlenschnüre der Arbeit »Untitled« (Blood), 1992, so installiert, dass die Betrachter beim Durchschreiten mit den funkelnden Kugelsträngen zwangsläufig in Berührung kommen, wecken Assoziationen zu roten und weißen Blutkörperchen, deren Werte über Gesundheit und Krankheit des Körpers entscheiden. Eine weitere Perlenvorhang-Arbeit, »Untitled« (Chemo) von 1991, deutet im Zusatztitel auf den Einsatz von Chemotherapie zur Behandlung (Aids-bedingter) Krebserkrankungen.32 Weiße, durchsichtige und silberne Perlenstränge glitzern verheißungsvoll und widersprechen scheinbar der angedeuteten Verbindung zu Krankheit und Tod – eine Ambiguität, die Spector als programmatisch für den Ansatz des Künstlers erachtet, Eros und Thanatos im Gewand des Beiläufigen zu vereinen: 30 31

32

240

Vgl. Spector 2007, S. 184 [Übers. d. Autorin]. Vgl. ebd., S. 171. Spector hat hier auf den taktilen Reiz der Perlenstrang-Arbeiten des Künstlers aufmerksam gemacht, die mit ihren Kitschbezügen zu TeenagerParties, Opiumhöhlen, Pop-Kultur und den 1960er Jahren den Körper in den Vordergrund rücken würden. Vgl. dazu ebd.

FELIX GONZALEZ-TORRES’ EPHEMERE BOTSCHAFTEN DES BEGEHRENS

Diese Vorhänge sind ein weiteres Beispiel von Gonzalez-Torres’ Gespür dafür, selbst die banalsten Gegenstände mit erotischer Poesie zu erfüllen. Allerdings, wie oft im Werk des Künstlers der Fall, schwingt in der lustvollen Darstellungsweise die Bedrohung des persönlichen Verlusts mit. Die Anspielungen auf Krankheit können nicht ignoriert werden, trotz der greifbaren und verführerischen Materialität der Arbeiten. Das ist die zweischneidige Realität von Gonzalez-Torres’ so ungeheuer generöser Kunst: Das ›Ende‹ kann hinter jeder Ecke lauern; und das Streben nach Freiheit, Wissen, Schönheit und Sinnenlust kann dies nicht abwenden.33

Eine besondere Fragilität vermitteln Gonzalez-Torres’ Arbeiten der »curtain«Werkgruppe, beginnend mit »Untitled« (Loverboy) 1989: beinah transparente Vorhänge in zartem Blau, die vor dem Fenster angebracht den leisesten Lufthauch einfangen. »Die Erinnerung an Vergangenes und nicht Zugängliches gehört ebenso zur Idee des Vorhangs wie die Sehnsucht nach Enthüllung und Offenlegung des Verborgenen«,34 bemerkt Martina Sitt mit Blick auf ein wiederkehrendes Motiv des barocken Stilllebens. Wie eine »durchlässige Membran«35 umhüllen Gonzalez-Torres’ Schleier sachte den Raum, verleihen ihm Intimität und versetzen ihn in einen diffusen, zeitlosen, magischen Schwebezustand, in dem Innen- und Außenwelt, Gestern und Heute ineinander übergehen. Eine »Weichzeichnung der Grenzen zwischen den öffentlichen und privaten Sphären«36 erzeugen auch die Lichterketten des Künstlers, die – möglicherweise inspiriert von Straßenfesten in dessen kubanischer Heimat oder in Paris37 – sanft leuchtend von der Decke baumeln und sich auf dem Boden zu funkelnden Knäueln verflechten, die Liebesumarmungen evozieren und zugleich als Memento mori fungieren. Gonzalez-Torres schuf seine erste 33 34

35 36 37

Vgl. ebd. [Übers. d. Autorin]. Martina Sitt, V – Vorhang, in: dies.; Gaßner 2008, S. 170. Vgl. auch im selben Katalog Philipp Ursprung, Augenwischerei: Trompe-l’œil einst und jetzt, S. 26. Ursprung deutet hier etwas eindimensional Gonzalez-Torres’ Vorhang-Arbeit »Untitled« (Loverboy) von 1989 als »auf die Ausgrenzung der Homosexuellen zur Zeit der Aids-Epidemie« bezogen. Spector 2007, S. 192 [Übers. d. Autorin]. Ebd. Spector zitiert in ihrem Text Gonzalez-Torres, der die Vermutung anstellt, dass die Lichtarbeiten unbewusst auf Erinnerungen an Kuba basieren könnten, an die ihn wiederum der Eindruck von Lichterketten eines Straßenfestes bei einem gemeinsamen Paris-Aufenthalt mit Laycock 1985, die er in einem Foto festhielt, habe denken lassen. (Vgl. ebd.).

241

14 |  LIEBESBRIEFE IN LICHTBLAU

Lichtarbeit, »Untitled« (March 5th) #2, im Todesjahr des Geliebten, 1991. Der Subtitel bezieht sich auf den Geburtstag von Ross Laycock. Wie zwei menschliche Köpfe sind hier zwei von der Wand herabhängende Glühbirnen, die aus verschlungenen Leitungen ihren Strom beziehen, aneinandergeschmiegt. Der Künstler hat insgesamt vierundzwanzig Lichtschnüre zur variablen Installation in verschiedenen Konstellationen produziert. Die Subtitel der jeweiligen Bündelungen nehmen Bezug auf persönliche Verbindungen des Künstlers zu bestimmten Orten – der gemeinsame Paris-Besuch mit dem Geliebten, eine Reise nach Ischia – und andere wesentliche Begebenheiten seines Lebens. Der Schimmer der Lichterketten setzt sich als flüchtige Reflexion an Wänden, auf der Decke und auf dem Boden fort: Liebesbotschaften und Erinnerungsspuren in Licht geschrieben wie Luftspiegelungen in der Wüste.

Flug der Wolken und der Vögel Gonzalez-Torres’ achtteilige Heliogravüre-Serie »Untitled« (Sand), 1993/94, zeigt Fußabdrücke, die Menschen im Sand hinterlassen haben. Die verwischten Umrisse überlagern sich wie bei einem Palimpsest, das vom Verschwinden handelt, aber auch von der ewigen Wiederkehr der Schritte auf den Stränden dieser Welt, die die Spuren, die ihnen vorangegangen sind, immer wieder überschreiben. Als Zeichen unentwegter Erneuerung setzen diese Spuren Michel Foucaults fatalistischer post-humanistischer Vorstellung des Menschen, der »verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand«38 die zyklische Kontinuität des Seins entgegen. Die Idee des Transitorischen, des Vorübergehenden, Inkonstanten ist mit der des Transits – des Durchgangs oder Durchreisens von einem Ort zum anderen, von einem Zustand in den anderen – verwandt. Eine Fusion beider Vorstellungen wird im Motiv des von Vögeln durchflogenen Wolkenhimmels sichtbar, das der Künstler nach fotografischen Vorlagen in verschiedenen (schwarz-weißen) Fassungen und Formaten – als gerahmte Prints, als Billboard-Plakate und insbesondere in Gestalt gestapelter Endlos-Drucke – variiert hat. Der Wolkenhimmel selbst signifiziert das Veränderliche schlechthin. In jedem Augenblick verwandeln sich die Bilder, die die mutablen Formen der Wolken

38

242

Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften [Orig. Les mots et les choses. Une archeologie des sciences humaines, Paris: 1966], Frankfurt/Main 1974, S. 462.

FELIX GONZALEZ-TORRES’ EPHEMERE BOTSCHAFTEN DES BEGEHRENS

in den Himmel zeichnen. Sie sind in ständiger Bewegung wie die Wellen im Meer. In »Untitled« (Aparición), 1991, tritt als »Erscheinung« ein Lichtstrahl hinter sturmverkündend aufgetürmter Wolkenballung wie ein Hoffnungsschimmer hervor. »Untitled« aus demselben Jahr zeigt die gekräuselte Oberfläche eines dunklen Ozeans, auf der sich Lichtreflexe verfangen, ohne dass sie die Dunkelheit zu durchbrechen vermögen. In »Untitled« (1992/1993) kreuzt ein solitärer Vogel durch die unendliche Weite des Himmels. Nach Renate Puvogel verbirgt sich in der Evokation von Freiheit wieder ein Vanitas-Motiv, das auf die Endlichkeit des Künstlers selbst Bezug nimmt: […] die vom Künstler mehrfach gebrauchte Metapher für Freiheit und Ungebundenheit mutiert hier zugleich zum persönlichen Abschiedsgruß. Bei dem Vogel handelt es sich um einen Geier, ein Raubvogel also, von dem man weiß, daß er sich hauptsächlich von Aas ernährt. Somit ist das schmerzhafte Sichverzehren und grausame Verzehrtwerden des sterbenden Lebewesens mitgedacht.39

In »Untitled« (Passport #II) von 1993 – bestehend aus Stapeln kleiner Hefte in Passgröße zum Mitnehmen – treten Aufnahmen des Himmels mit fliegenden Vögeln an die Stelle von Identitätsnachweisen, Stempeln und anderen Regularien des Unterwegsseins. Indem er »nationale und kulturelle Zugehörigkeiten überwindet und die Person freigibt«,40 eröffnet Gonzalez-Torres’ Pass einen unendlichen Möglichkeitsraum. Ebenso wie die leere weiße Fläche in der Arbeit »Untitled« (Passport) von 1991 regt »Untitled« (Passport #II) zu inneren Streifzügen an, schlägt aber im Gegensatz zu ersterer nichts Geringeres als die Weite des Himmels als Startpunkt eines Aufbruchs ins Unbekannte vor. Der ort- und zeitlose Ausweis, den der Künstler 1993 als Dokument für jedermann (und jede Frau) entwarf, »hat keinen Raum für Erinnerungen«, so Spector: »Er lädt stattdessen zum Träumen ein.«41 Er ist für das Bereisen eines Landes ohne Grenzen ausgestellt: Ein solches Land ist die Liebe. 39

40 41

Puvogel 1997, S. 344. Die 1995, kurz vor dem Tod des Künstlers im Januar 1996 entstandene Foto-Serie »Untitled« (Vultures), die einen Schwarm kreisender Geier in Himmelgrau zeigt, unterstreicht diese Deutung. Kira van Lil, Felix Gonzalez-Torres. »Untitled« (Passport # II), 1993, in: Monets Vermächtnis 2001, S. 176. Spector 2007, S. 56 [Übers. d. Autorin].

243

14 |  LIEBESBRIEFE IN LICHTBLAU

Der Künstler, der abwechselnd in Kuba, Spanien und Puerto Rico aufwuchs und 1979 nach New York ging, fühlte sich bei seinem Geliebten im kanadischen Toronto, als habe er »zum ersten Mal nach so langer, langer Zeit ein echtes Zuhause«42 gefunden. Das in Gonzalez-Torres’ Werk leitmotivisch auftauchende Lichtblau, das auch die Kücheneinrichtung des Paars in Toronto bestimmte, symbolisiert für den Künstler Himmel, Wasser, die Reisen der Phantasie und ist auch seine ganz persönliche Farbe der Sehnsucht und der Erinnerung: »Wenn eine schöne Erinnerung eine Farbe annehmen könnte, wäre diese Farbe für mich ein helles Blau.«43 In »Untitled« (Loverboy), einer Stapelarbeit von 1990, stellt er das helle Blau eines Sommerhimmels als »wunderschönes leeres Blatt, auf das alles projiziert werden kann, was man will, jedes erdenkliche Bild«44 zur Mitnahme bereit: ein Angebot an das Publikum, ein eigenes Stück Himmel zu entdecken und zu erkunden. Ebenso wie der unbegrenzte Wolkenhimmel deutet das lichte Blau auf ein offenes Terrain, das weder Anfang noch Ende hat, und dass – wie bei den unendlichen Vervielfältigungen von »Untitled« (Blue Mirror), einer weiteren Arbeit von 1990 mit azurblauem, zusätzlich von hellerem Blau umrandetem Feld – dem Betrachter, der Betrachterin als (Seelen-)Spiegel dienen kann. Als Verbindung und Mittler zwischen den Erfahrungswelten des Künstlers und denen der Rezipientinnen und Rezipienten seiner Arbeiten fungieren verschiedentlich auch reale Spiegel, so in »Untitled« (Orpheus Twice), 1991: In zwei nebeneinander angebrachten großen, hochformatigen Wandspiegeln wird Orpheus’ verhängnisvoller rückwärtsgewandter Blick, der in der mythischen Tragödie verbotenerweise auf die Geliebte Eurydike gerichtet war und deren Verharren in der Unterwelt besiegelte, in gedoppelter Form heraufbeschworen und umgekehrt. Ebenso wenig wie Orpheus Eurydike retten konnte, vermag niemand die Verstorbenen in die Welt der Lebenden zurückzuholen. Doch fungiert die reflektierende Fläche erneut wie ein Platzhalter, ein Verweis, der die physische Präsenz des Abwesenden auch in der Absenz spürbar werden lässt. Steht der Betrachter, die Betrachterin allein vor dem Spiegelpaar, bleibt ein Spiegel stets leer: »das Kennzeichen eines abwesenden Anderen.« Positioniert sich das Individuum zwischen die Spiegel, »zeigt 42

43 44

244

Vgl. biografische Notiz von Gonzalez-Torres zum Jahr 1986: »1986 blaue Küche, blaue Blumen in Toronto – zum ersten Mal nach so langer, langer Zeit ein echtes Zuhause, Ross ist hier« (zit. nach Ault in: Gonzalez-Torres 2006, S. 183). Zit. nach Reichensperger in: ebd., S. 41. Vgl. Gonzalez-Torres, zit. nach: Spector 2007, S. 62 [Übers. d. Autorin].

FELIX GONZALEZ-TORRES’ EPHEMERE BOTSCHAFTEN DES BEGEHRENS

sich eine zweigeteilte Figur, eine gespaltene Persönlichkeit, ein zerstörtes Ego.« Wie Spector feststellt, müssten Menschen in »Gonzalez-Torres’ idealer Welt« das Leben nicht allein bestehen, sondern würden es »als Teil eines liebenden Paars« verbringen, das gemeinsam altert. In dieser Welt beziehe sich »körperliche Erfüllung« auf einen Zustand der Liebe, der Zweisamkeit und auf »das Konstituieren einer Zweiergemeinschaft«.45 Erst, wenn zwei Personen nebeneinander vor den Spiegeln stehen, wird das Bild wieder ganz. Der Spiegel macht es aber auch möglich, die Schwelle zwischen Realität und Abbild, An- und Abwesenheit mit dem Blick zu überqueren. Der »Ort ohne Ort«,46 den der Spiegel nach Foucault in seiner heterotopischen Eigenschaft verkörpert, eröffnet einen Raum jenseits der Wirklichkeit, in der sich der Betrachter real befindet, und ist zugleich Rückverweis auf diese Ursprungsrealität: jene Gleichzeitigkeit von Präsenz und Absenz herstellend, die für das Werk von Gonzalez-Torres durchweg charakteristisch ist. Diese Doppel(ge)sichtigkeit ruft auch die im Wanduhr-Paar »Untitled« (Perfect Lovers) von 1987–1990 vorgeprägte Spiegelarbeit »Untitled« (March 5th) # 1 aus dem Todesjahr Laycocks 1991 hervor, dessen Geburtstag erneut im Untertitel genannt wird. Die Umrisse der beiden eng verkoppelten Uhren wiederholen sich in zwei gleichgroßen runden Wandspiegeln, die ebenfalls so dicht aneinandergefügt sind, dass sie eine Einheit bilden. Die Betrachter nehmen beim Hineinschauen den Platz des Paars ein, für das die beiden Spiegelkreise stehen.47 In abstrahierter Form tritt das Motiv noch einmal in der Stapelarbeit »Untitled« (Double Portrait) ebenfalls von 1991 auf, wo zwei schwarze Kreislinien auf weißem Grund Uhren und Spiegel als Doppelportrait der Liebenden ersetzen. Hier nun wird ersichtlich, dass die aneinander gesetzten Kreise, die an ineinandergreifende Eheringe denken lassen, auch als liegende Acht, das Ewigkeitszeichen, gelesen werden können.48 Die umkreisten Leerstellen, die das Ende der Zeit, das Ende der Liebe und des Lebens selbst versinnbildlichen, deuten von anderer Warte aus gesehen auf die Unendlichkeit der Liebe, die die Endlichkeit des Lebens zu überwinden vermag. Für Gonzalez-Torres ist die Liebe der Katalysator ultimativer Freiheit: 45 46 47

48

Vgl. ebd., S. 143. Foucault in: Barck u.a. 1992, S. 39. Vgl. Spector 2007, S. 72. Die Arbeit »Untitled« (Perfect Lovers), 1991, die auf hellblau bemalter Wand präsentiert wird, ist eine Variante des Wanduhren-Paars »Untitled« (Perfect Lovers), 1987–1990. Ebd.

245

14 |  LIEBESBRIEFE IN LICHTBLAU

»Wie kann man überhaupt fühlen, wenn man nicht liebt? Man braucht diesen Raum, dieses Emporgehobenwerden, diese Reisen im Kopf, die die Liebe mit sich bringt und die die Grenzen des Körpers und des Geistes überschreiten – die totale Grenzüberschreitung.«49 Die persönlichen Allegorien des Künstlers um Leben und Tod, Liebe und Verlust, Anwesenheit und Verschwinden – von den Stapel- und BonbonArbeiten über die Spuren und Schatten, die von Vögeln bevölkerten Wolkenhimmel, die Lichterketten, Perlenschnüre und schwerelosen Vorhänge bis hin zu den Uhren- und Spiegel-Paaren, den zeichenhaften, gesichtslosen Doppelportraits, Imaginationsflächen und Leerstellen, die den Blick auf den Betrachter, die Betrachterin zurückwerfen – verdichten sich zu einer erweiterten Aussage über die Conditio humana: Wir alle sind vergänglich, hoffen aber auf eine Transzendenz unserer Zeitlichkeit, die bereits im Diesseits einsetzt. In seinem essenziell transitorischen Werk eröffnet Gonzalez-Torres Perspektiven einer solchen Grenzüberschreitung – auch über den Tod hinaus – kraft der Wandelbarkeit und Wiederherstellbarkeit seiner Kunst, des darin enthaltenen Angebots zur Teilhabe und zum Weiterdenken seiner Bilder sowie der befreienden, Endlichkeit überwindenden Energien der Phantasie, der Erinnerung und der Liebe.

49

246

Vgl. Gonzalez-Torres im Gespräch mit Ross Bleckner, zit. nach: BOMB – Artists in Conversation/Felix Gonzalez-Torres by Ross Bleckner, in: BOMB 51, Spring 1995, unter: http://bombmagazine.org/article/1847/felix-gonzalez-torres (20. Okt. 2016) [Übers. d. Autorin].

15 | GEGEN DAS VERSCHWINDEN

Christian Boltanskis Spurensicherung zwischen den Zeiten […] meine Arbeit soll auf der Grenze sein wie eine Kerze, die von einem Moment zum nächsten verlöschen kann.1 Es gibt immer eine Geschichte, auch wenn wir sie nicht kennen.2 Christian Boltanski

S

tück für Stück verdichten sich diffuse Areale auf dem Papier zu den Konturen zweier Gesichter. Aus dem Helldunkel grobkörniger SchwarzWeiß-Fotografie tritt das Bild eines jungen tanzenden Paars hervor: Mann und Frau, traumverloren, lächelnd, einander zugewandt. Der Ort des Geschehens bleibt ebenso im Ungewissen wie die Identität der Tanzenden. Wie Erscheinungen, die momenthaft dem Nebel der Zeit entstiegen sind, nehmen sie im Zwielicht der Halbtöne flüchtig Gestalt an. Christian Boltanski veröffentlichte dieses Vexierbild in Ausgabe 26 der von ihm mitinitiierten, von agnés b. und Hans-Ulrich Obrist seit 1997 herausgegebenen Publikation Point d’Ironie3 – ein Hybrid zwischen Plakat und Künstlermagazin. 1

2

3

Doris von Drateln, Der Clown als schlechter Prediger. Gespräch mit Christian Boltanski, Paris, im Dezember 1990, in: Christian Boltanski. Inventar, Ausst.-Kat. (Hamburger Kunsthalle: 1991), hrsg. v. Uwe M. Schneede, Hamburg 1991, S. 17, S. 61. Christian Boltanski im Telefongespräch mit der Autorin am 15. September 1999, zit. nach: Belinda Grace Gardner: Fundstücke der Erinnerung. Der französische Installationskünstler Christian Boltanski über das Sammeln von Spuren gegen die Flüchtigkeit des menschlichen Daseins, in: dies. (Hrsg.), Verführung des Blicks. Das Haus der Kunst, München, Hamburg 2000, S. 36. Die von der französischen Modedesignerin agnès b. und dem Schweizer Kurator Hans-Ulrich Obrist gemeinsam mit Boltanski initiierte Publikation Point d’Ironie (Erscheinungsweise ursprünglich circa sechs- bis achtmal im Jahr, Auflage: 100.000, 8-seitiges Faltblatt im A3-Format mit zwei lose ineinander gefalteten Bögen) wurde als alternatives Künstlermagazin und Kunstnetzwerk konzipiert. Benannt nach einem von dem französischen Schriftsteller Alcanter de Brahm Ende des 19. Jahrhunderts entwickelten Interpunktionszeichen zur Indikation ironischer Passagen, haben darin wechselnde Künstlerinnen und Künstler Carte blanche zur freien Gestaltung. Es ist kostenlos in agnès b. Boutiquen, Museen, Galerien, Hochschulen, Kaffees, Kinos und anderen Orten weltweit erhältlich. Bis 2016 sind fast 60 Aus-

247

15 |  GEGEN DAS VERSCHWINDEN

Boltanskis tanzendes Paar erschien im Rahmen einer Reihe von Sondernummern zur Documenta 11, 2002. Das Bild erstreckte sich über vier Doppelseiten und war erst beim Zusammensetzen der richtigen Einzelteile zu erkennen. Zwei Ausgaben des Magazins waren dafür erforderlich, da Boltanski das Motiv in Fragmenten auf Vorder- und Rückseiten des Einzelhefts verteilt hatte. Die Aufnahme der Tanzenden entspringt einer Fernsehdokumentation – »ein Bild der Liebe«, hinter dessen schwereloser Anmut sich eine tragische Geschichte verbirgt, wie der Künstler im Gegensatz zum Betrachter weiß: Dieses Bild scheinbaren Glücks ist ein Bild des Unglücks. Darüber hinaus hat es mich als eine Art Codewort für eine geheime Botschaft interessiert. Man muss diese Botschaft entdecken. Wenn man das Titelblatt der Zeitung betrachtet, hat es eine gewisse Schönheit, aber es ist wie eine chinesische Malerei oder ein etwas komplexeres abstraktes Gemälde. Wenn man zwei Blätter nimmt und sie aus einer bestimmten Entfernung betrachtet, sieht man ein Bild. Mir war die kodierte oder geheime Botschaft dabei wichtig.4

Der von Boltanski aus dem Fluss medialer Bewegtbilder herausgelöste Augenblick ist mehrfach kodiert. Von retrospektiver Warte aus wird der in medias res eingefrorene Liebesreigen, in dem Mann und Frau auf ewig in der Blüte der Jugend und des Glücks innig vereint sind, zum Totentanz. Das ist die geheime Botschaft, die in diesem längst abgelaufenen Lebensmoment steckt: In der fast bis zur Unkenntlichkeit aufgelösten Szene, die im zerlegten Zustand gänzlich zerfällt, sind die einst liebesselig Tanzenden nur mehr flüchtige Schemen im Schattenreich der Vergangenheit – ihr Glück ist so ephemer wie die Jugend und das Leben selbst. Diese Erkenntnis vermitteln Boltanskis Archive, Inventare, Depots und Reliquiare der vergessenen und verloren gegangenen Bilder und Gegenstände insgesamt: dass nichts bleibt, wie es ist, dass alles vergeht, dass die Gegenwart schon in der nächsten Sekunde zerbricht wie ein Spiegel, dessen Scherben sich nicht mehr zu

4

248

gaben erschienen; Gustav Metzgers Ausgabe No. 58, Remember Nature, erschien im Februar 2015. (Vgl. http://www.pointdironie.com/origine_en.html; http:// www.pointdironie.com/in/58/metzger_en.html; http://searchworks.stanford.edu/ view/9178419 und http://www.worldcat.org/title/point-dironie/oclc/173697745, 16. Okt. 2016). Vgl. Boltanski in: Hans Ulrich Obrist: Hans Ulrich Obrist & Christian Boltanksi: The Conversation Series 19. Köln 2009, S. 197 [Übers. d. Autorin].

C H R I S T I A N B O LT A N S K I S S P U R E N S I C H E R U N G Z W I S C H E N D E N Z E I T E N

einem kohärenten Ganzen fügen lassen. Die Leitfrage, die sich durch die existenzielle »Spurensicherung«5 des Künstlers hindurchzieht, der sich selbst als »Künstler der ›vanités‹, der Eitelkeiten, der Vergänglichkeit«6 bezeichnet hat, ist die Frage nach dem, was ultimativ vom Leben eines Einzelnen, und vom Menschen grundsätzlich »nach dem Tod, nach der Passage von Subjekt zum Objekt«7 übrig bleibt. Der Ausgangs- und Rückkopplungspunkt von Boltanskis Beschäftigung mit den schwer greifbaren Restbeständen individuellen und kollektiven Seins liegt in der Vergangenheit. Diese Relikte werden von dem Künstler, der sich selbst als »romantischen Maler« bezeichnet hat und nach eigenem Bekunden »eine primäre Emotion herzustellen« sucht,8 ans Licht geholt und vor dem endgültigen Vergehen bewahrt. Der 1944 als Sohn eines ukrainischstämmigen Vaters jüdischer Herkunft und einer korsisch-christlichen Mutter wenige Tage nach der Befreiung von der Nazibesatzung in Paris geborene Künstler rekreiert zunächst die eigene Vergangenheit. Die Kindheit, von der Boltanski behauptet hat, dass sie im Zuge des Erwachsenwerdens als erstes sterbe,9 dient ihm als veränderliche Topografie der Umdeutungen und Neuformulierungen von Erinnerung. Seine persönliche Biografie – das Aufwachsen in einem liberal-bürgerlichen Haushalt in der französischen Hauptstadt, die Außenseitergefühle und Ängste als junger Mensch, der daraus resultierende frühe Schulabbruch und die Hinwendung 5

6 7 8

9

Der Begriff »Spurensicherung« etablierte sich infolge der von Uwe M. Schneede mit Günter Metken organisierten Ausstellung Spurensicherung: Archäologie und Erinnerung Anfang 1974 als Definition der damals aufkommenden künstlerischen Praxis des Sammelns und Archivierens, zu deren Hauptvertretern Boltanski zählte. Zu den weiteren »Spurensicherern«, die in diesem Rahmen präsentiert wurden, gehörten Jürgen Brodwolf, Nikolaus Lang sowie Anne und Patrick Poirier. Boltanski im Gespräch mit Drateln in: Boltanski 1991, S. 58. Ebd. Boltanski hat behauptet, dass es ihm in seiner Kunst darum gehe, das Publikum »ganz unmittelbar Emotionen erleben« zu lassen, weshalb er zwischen sich und einem romantischen Maler keinen Unterschied sieht. (Vgl. dazu: ebd., S. 65). Vgl. Boltanskis Äußerungen zur eigenen Biografie in: Ralf Beil, »Das Leben ist ein kurzer schwarzer Strich«. Ein Gespräch mit Christian Boltanski, in: Christian Boltanski. Zeit, Ausst.-Kat. (Institut Mathildenhöhe Darmstadt: 2006/2007), hrsg. v. dems., Ostfildern 2006, S. 50. Am Anfang von Boltanskis Suche nach der verlorenen Kindheit stand die zwischen 1958 und 1967 entstandene Reihe von Malereien Peintures d’histoire et d’évenements dramatiques (Bilder von Geschichten und dramatischen Ereignissen). In Les saynètes comiques (Die komischen Einakter) von 1974 bearbeitete er fotografische Selbstportraits mit Pastellkreide und in seinen fotografischen Compositions (Kompositionen), 1975 bis 1983, nahm er auf die serielle US-amerikanische Malerei »ironisch Bezug«. (Vgl. dazu: Carola Kemme, Biografie Christian Boltanski, in: Boltanski 2006, S. 129).

249

15 |  GEGEN DAS VERSCHWINDEN

zur Kunst, oder auch die tödlichen Auswirkungen der NS-Diktatur auf die väterliche Familie und die damit verbundene Erfahrung tiefer Bedrohung10 – wird dabei dezidiert nicht erhellt.11 Boltanski stellt vielmehr Attribute und Posen einer typischen Kindheit nach, die weniger dem eigenen Erfahrungshorizont als der von ihm imaginierten Projektion einer allgemeingültigen Kindheit entsprechen, »dem Klischee einer Kindheit«,12 wie er es nennt. Dazu eignet er sich deren Repräsentationen, wie in der Arbeit Album de photo de la famille D. Fotoalbum der Familie D.), 1971, im Sinne eines generischen Bilderfundus an.13 Die bei seinem (Wieder-)Herstellungsprojekt eingesetzten Mittel sind weit gefächert. Der Künstler schlüpft in verschiedene Rollen, inklusive seiner Personifizierung durch die Puppe Le petit Christian14 und der Rekapitulation fiktiver Erlebnisse (unter anderem in seinem ersten Kurzfilm, La vie impossible de Christian Boltanski [Das unmögliche Leben des Christian Boltanski],15 1968, und dem Buch Recherche et présentation de tout ce qui reste de mon enfance, 1944-1950 [Suche und Darstellung von dem, was von meiner Kindheit geblieben ist, 1944-1950], 1969, sowie in der slapstickartigen Foto-Pastellkreide-Serie Saynètes Comiques [Komische Einakter], 1974). Er betreibt fotografische Appropriationen oder Reinszenierungen, etwa in der Foto-TextArbeit 10 portraits photographiques de Christian Boltanski 1946–1964 (10 Fotoportraits von Christian Boltanski 1946–1964), 1972, die fremde Kinder und Jugendliche verschiedenen Alters im immer gleichen Parkausschnitt zeigen.16 Er sammelt ab 1970 Objekte und Souvenirs seiner Jugend in täg10 11

12 13

14 15

16

250

Vgl. Boltanski im Gespräch mit Beil in: ebd., S. 52-57. Im Gespräch mit Obrist macht Boltanski deutlich, dass er in seinem gesamten Werk keine konkreten persönlichen Kindheitsgeschichten behandele (vgl. Obrist 2009, S. 71f.). Boltanski im Gespräch mit Beil in: Boltanski 2006, S. 49. Vgl. ebd., S. 49f. Für diese Arbeit fotografierte Boltanski das Familienalbum seines Jugendfreundes Marcel Durand-Dessert ab. Er wählte bewusst »ein völlig austauschbares Album«. Seit 1993 im Besitz des Karl Valentin-Musäums im Isartor, München. (Vgl. Kemme in: Boltanski 2006, S. 128). Zwischen 1968 und 1973 entstanden mehrere 16-mm-Kurzfilme, darunter auch der unter anderem im Rahmen der Internationalen Ausstellung All the World’s Futures zur 56. Venedig-Biennale 2015 gezeigte L’homme qui tousse (Der Mann, der hustet), 1969, unter Beteiligung des maskierten, Farbe spuckenden Bruders des Künstlers, Jean-Elie Boltanski. Der Künstler, der sich anschließend anderen Medien zugewandt hat, sieht sich mehr als figurativer, denn als narrativer Künstler und wollte nach eigenem Bekunden nie »Kinoregisseur« sein. (Vgl. dazu: Boltanski im Gespräch mit Beil in: Boltanski 2006, S. 76, S. 80, Fußnote 12, und S. 75). Die von der französischen Künstlerin und Lebensgefährtin Boltanskis Annette Mes-

C H R I S T I A N B O LT A N S K I S S P U R E N S I C H E R U N G Z W I S C H E N D E N Z E I T E N

lich etikettierten Biskuitdosen. Und er kombiniert skulpturale Nachbauten von angeblichen Werk- und Spielzeugen aus der eigenen privaten Historie mit Schriftstücken, Fotos und anderen »Dokumenten« in Vitrinen in der Reihe Vitrines de référence (Vitrinen der Bezugnahme), von 1971 bis 1973. Diese selbst geschaffenen Kindheitsrelikte, ausgestellt im Stil anthropologischer Museumspräsentationen in gläsernen Schaukästen und anderen Displays, umfassen fragile Objekte aus Knetmasse, handgeformte Erdkugeln und aus Zuckerwürfeln geschnitzte Zeichen eines rätselhaften Alphabets (Sucres taillés par C.B. [Von C.B. bearbeitete Zuckerstücke], 1971). Der Künstler hat seine Recherchen auf den Spuren der Kindheit als Versuch beschrieben, »Dinge zu erhalten, die Vergangenheit wiederzufinden«: Einerseits möchte ich zu diesen Dingen wieder zurückfinden, andererseits weiß ich aber, dass das unmöglich ist. Wir können nichts bewahren. Wir können nichts vor dem Verfall retten. Genau davon handeln meine ersten Arbeiten, die Dinge zu bewahren im Wissen um ihre Vergänglichkeit. Wir sind zwangsläufig zum Scheitern verurteilt.17

Dieses Wissen um die Vergänglichkeit allen Seins, inklusive der damit verbundenen Geschichte(n) und Erinnerungen, offenbart sich für Boltanski angesichts der unwiderruflich verlorenen Zeit der Kindheit. Die Idee, dass in dieser ein bereits vorweggenommener erster Tod liegt,18 bestätigt sich für Boltanski anhand eines Klassenfotos, das ihn im Kreis ehemaliger Mitschüler abbildet, an deren Namen er sich nicht mehr erinnern kann. Aus dieser Erfahrung (und der Vorlage) erwachsen fast zeitgleich zu den flüchtigen Lichtspielen des Théâtre d’Ombres (Schattentheater) Mitte der 1980er Jahre die feinstofflichen Monuments: von Lichtern angestrahlte, altarartige Arrangements aus ihrem ursprünglichen fotografischen Zusammenhang entnommenen vergrößerten Kindergesichtern in Schwarz-Weiß und monochromen farbigen Papieren. Die Fotoinstallation Monuments 1986, gezeigt auf der 42. Venedig-Biennale im früheren Gefängnis des Palazzo delle Prigi-

17 18

sager in einem Park in Paris an einem Tag aufgenommenen Fotos deklinieren die verschiedenen Lebensalter anhand verschiedener Personen durch. Nur das letzte Bild der Folge repräsentiert tatsächlich Boltanski. Die Typisierung »im Rahmen des kulturellen Bildschemas biografischer Serien, die Einheit im Wandel zu verbürgen scheinen« wird darin ausgehebelt. (Siehe dazu: Aleida Assmann, Die Furie des Verschwindens. Christian Boltanskis Archive des Vergessens, in: Boltanski 2006, S. 90). Boltanski im Gespräch mit Beil in: Boltanski 2006, S. 51. Ebd., S. 50.

251

15 |  GEGEN DAS VERSCHWINDEN

one, und das von Kerzen an die Wand geworfene geisterhafte Schattentheater Leçons de ténèbres (Lektionen der Finsternis/Klagegesänge)19 in der Chapelle de la Salpêtrière, Paris, im selben Jahr markieren den Beginn von Boltanskis ortsspezifischen Raumarbeiten, die der Künstler auch verschiedentlich in Kirchen realisiert hat.20

Vergegenwärtigung des Vergangenen Die Begegnung mit dem Klassenfoto, dessen Protagonisten ihm fremd geworden sind, ist für Boltanski in mehrfacher Hinsicht ein Schlüsselerleb­ nis,21 das sich auf sein weiteres Werk entscheidend auswirkt. Nicht nur zeigt sich darin für ihn, dass alle Menschen im Sinne eines endgültig abgeschlossenen Teils ihres Lebens »tote Kinder« sind und »die Körper von toten Kindern«22 in sich tragen. Hier offenbart sich auch das, was nach Roland Barthes das »Wesen« der Fotografie ausmacht: dass diese allein als Bestätigung des Gewesenen fungiert, indes keine Auskunft »über das, was nicht mehr ist«23 zu geben vermag: Die PHOTOGRAPHIE ist, wörtlich verstanden, eine Emanation des Referenten. Von einem realen Objekt, das einmal da war, sind Strahlen ausgegangen, die mich erreichen, der ich hier bin; die Dauer der Übertra-

19

20

21 22

23

252

Der französische Titel rekurriert auf eine im 17. Jahrhundert in Frankreich gängige liturgische Musikform, die in der Karwoche das Nachtgebet begleitete. In Boltanskis Arbeiten finden sich verschiedentlich Bezüge zu katholisch-christlichen Ritualen, die im Sinne eines kollektiven Bild- oder Ritualreservoirs von dem Künstler angezapft werden. Vgl. dazu: Günter Metken: Christian Boltanski. Memento mori und Schattenspiel [Christian Boltanski. Les Suisse morts, Schriften zur Sammlung des Museums für Moderne Kunst], hrsg. v. Museum für Moderne Kunst, Frankfurt/ Main 1991, S. 6: »Mehr als von seinem jüdisch-russischen Erbteil zeigt sich Boltanski hier von bestimmten äußeren Formen des Katholizismus angezogen. Manche Arbeiten mit Aufnahmen von Schülern hat er autels, Altäre genannt. Damit ist keine liturgische Funktion gemeint: es kommt ihm auf die Stimmung an, mehr noch, auf die Stille.« Vgl. dazu die biografischen Angaben zu Boltanski (in: ebd., S. 92) sowie in Bezug auf den »Memorialraum« der Kirche als Ort sakraler Inszenierung bei Boltanski: Assmann in: Boltanski 2006, S. 93. Vgl. dazu Boltanskis Äußerung in: Uwe M. Schneede, Die Mittel der Erinnerung, in: Boltanski 1991, S. 17. Boltanski zit. nach Metken 1991, S. 7. Vgl. auch Boltanski im Gespräch mit Beil, wo er den von ihm geschätzten Dramaturgen Tadeusz Kantor mit den Worten zitiert: ›Wir alle tragen ein totes Kind in uns.‹ (Vgl. dazu Boltanski 2006, S. 50). Barthes 1989, S. 95 [Herv. im Orig.].

C H R I S T I A N B O LT A N S K I S S P U R E N S I C H E R U N G Z W I S C H E N D E N Z E I T E N

gung zählt wenig; die Photographie des verschwundenen Wesens berührt mich wie das Licht eines Sterns.24

Im Vergleich zum »konstitutiven Stil« des Films besteht laut Barthes die besondere »Melancholie« der Fotografie darin, dass diese »ohne Zukunft« sei und »nicht den geringsten Drang nach vorn« besitze: In der PHOTOGRAPHIE zeigt sich die Stillegung der ZEIT nur in einer maßlosen, monströsen Weise: die ZEIT stockt (daher die Beziehung zum LEBENDEN BILD, dessen mythisches Grundmuster das Einschlafen Dornröschens ist). Mag das PHOTO auch ›modern‹, mit unserer noch so lauten Alltäglichkeit vermischt sein, so gibt es dennoch in ihm einen rätselhaften Punkt von Inaktualität, eine seltsame Stauung, Inbegriff des Stillstands […].25

Dieser dem Foto innewohnende »Stillstand«, den Barthes als »das tote Theater des TODES «26 bezeichnet hat, entspricht Boltanskis Auffassung der Fotografie als »die Abbildung des Abgestorbenen«.27 In der Fotografie wird dementsprechend der festgehaltene Lebensmoment des Abgebildeten nicht nur zur Ruhe gesetzt, sondern geht in die ewige Ruhe ein. Die fotografische Abbildung ist per se bereits todeshaltig, ein Speicher vergangenen Daseins, das sich nicht mehr restituieren lässt. Auf die Verbindung zwischen Barthes’ Thesen und Boltanskis Vorstellung der Fotografie als gleichbedeutend mit einem »Tod auf Raten« eingehend, schreibt Werner Spies, dass fotografische Bilder wie »die progressive Aktion eines Scanners« schrittweise »die Biografie eines Menschen« durchschneiden würden: »Jede Aufnahme wird zum Fragment einer verschwundenen, unwiederbringlichen Zeit.«28 Boltanski setzt der verschwundenen Zeit in seinen Installationen von gefundenen, reduplizierten fotografischen Portraits ihm unbekannter Menschen, die in den meisten Fällen bereits gestorben sind, ein zugleich persönliches und abstraktes Denkmal. »Jede Fotografie«, hat Susan Sontag festgestellt, ist »eine Art memento mori« und bezeugt gerade im Herausgreifen 24 25 26 27 28

Ebd., S. 90f. [Herv. im Orig.]. Ebd., S. 100f. [Herv. im Orig.]. Ebd., S. 101 [Herv. im Orig.]. Schneede in: Boltanski 1991, S. 17. Werner Spies, Das Schattentheater Peter Schlemihls. Christian Boltanski als Historienmaler der Nacht unserer Zeit, in: Boltanski 2006, S. 27.

253

15 |  GEGEN DAS VERSCHWINDEN

und Anhalten eines Moments »das unerbittliche Verfließen der Zeit«.29 Die Memento mori des Künstlers offerieren dem Betrachter, der Betrachterin zwar eine Identifikationsfolie in Form von jungen, alten, nachdenklichen, schönen, lachenden, ernsten, betrübten, hoffnungsfrohen Gesichtern. Doch entziehen sich diese im fotografischen Bild einer eindeutigen biografischen Lesbarkeit und verweigern sich durch ihre – in Barthes’ Diktion – immanente »Interpretationssperre«30 dem letztgültigen Zugriff. In den Bildern der im Werk des Künstlers vorrangig auftretenden Verstorbenen gleichen die Gesichter der abgebildeten Menschen »Gespenstern, die – in einer kontingenten Weltsekunde erstarrt – für den voyeuristischen Blick des Betrachters konserviert und eingefangen bleiben […]. Die uns oft anlächelnden Gesichter der Toten sind nämlich reine Signifikanten, denen der Tod ihren Referenten entzogen hat, sodass dieser nun für immer fehlen muss.«31 Durch Verwendung von Portraitfotos, deren ursprünglicher Kontext entweder unbekannt ist oder gezielt von ihm ausgeklammert wird, versetzt Boltanski diese zusätzlich in einen überzeitlichen, ortlosen beziehungsweise ortsübergreifenden Schwebezustand. Insofern die durch den Künstler angeeigneten Bilder »an einem einzigen Ort mehrere Räume, mehrere Platzierungen« vereinen, »die an sich unvereinbar sind«,32 lassen sich diese im Sinne Michel Foucaults auch als heterotopisch bezeichnen, da darin – wie im Tod selbst – »die Menschen mit ihrer herkömmlichen Zeit brechen«.33 Die von Boltanski durch Nachbearbeitung der Vorlagen oft noch zusätzlich erzeugte Verschwommenheit der Portraits lässt sie einerseits »universeller« wirken, sie »erhalten eine allgemeinere Aussage«,34 wie der Künstler erläutert. Andererseits unterstreicht die visuelle Entmaterialisierung deren Entrücktheit als Phantome der Vergangenheit. Sie erscheinen in Gabriel Ramin Schors Worten wie »faziale Schleier, hinter denen es nichts mehr gibt«: Boltanskis ›Gemälde‹ sind Vanitasdarstellungen, gleichsam barocke Stillleben unter den Bedingungen ihrer radikalen, postmodernen Neubestimmung. Das Wesen eines jeden Gesichts liegt in seiner Gewesenheit. Das ist der Kern von Boltanskis testamentarischer Ästhetik. Er scheint jedem Portrait, das er vorfindet und in sein Verfahren ein29 30 31 32 33 34

254

Sontag 1989, S. 21. Barthes 1989, S. 117. Schor in: Boltanski 2006, S. 112. Foucault in: Barck u.a. 1992, S. 42. Ebd., S. 43. Boltanski im Gespräch mit der Autorin, in: Gardner 2000, S. 34.

C H R I S T I A N B O LT A N S K I S S P U R E N S I C H E R U N G Z W I S C H E N D E N Z E I T E N

schließt, mit exorzistischer Gründlichkeit das Persönliche und Besondere austreiben zu wollen. Das macht ihn zum entschiedenen Stürmer auf das Individualbild. Boltanski ist der Ikonoklast repräsentierter Individualität. Doch dieser Sturm, diese ›Zerstörung‹ erfolgt keineswegs richtungslos. Das Ziel all dieser dekonstruktiven Bemühungen ist nämlich die Restitution eines einzigen, durch die Geschichte der europäischen Zivilisation und neuzeitliche Individualitätsreligion verschütteten Bildes. Es ist das bis heute verdrängte, tragische Bild der Conditio humana.35

Erinnerung an das Eigene im Fremden Die Dialektik zwischen Nähe und Ferne der Sujets, die simultan als Mit-Menschen erkennbar und vertraut, aber als Individuen fremd bleiben, gilt für sämtliche Fotokonvolute Boltanskis – von den Monuments über Les archives, 1987,36 bis hin zu der Portraitgruppe Les Suisse morts (Die toten Schweizer), 1990,37 der Günter Metken »etwas so Normales wie Unheimliches« bescheinigt hat: »Es ist eine Family of Man, vom Fatum oder Freund Hein ausgelost, ein Durchschnitt, der zufällig wirkt und gerade deswegen unter die Haut geht, je länger man hinsieht.«38 Erst recht trifft die von Metken genannte subkutane Wirkung auf das rund 1.200 schwarz-weiße Portraitfotografien umfassende Archiv Menschlich zu,39 das erstmals 1994 im Ludwig Forum 35 36

37

38

39

Schor in: Boltanski 2006, S. 112 [Herv. im Orig.]. In seiner Installation Les archives im Rahmen der documenta 8 1987 platzierte Boltanski »[…] in die Gänge eines dunklen, von Bürolampen nur spärlich beleuchteten Zimmers an die 350 flüchtig gerahmte, unregelmäßige Schwarzweißphotos namenloser, wie austauschbarer Personen […], ganz wie auf südlichen Friedhöfen oder in Kolumbarien, wo der umbaute Raum mit Erinnerungsbildern von Toten, oft in den glücklichsten Momenten aufgenommen, tapeziert ist.« (Siehe dazu: Metken 1991, S. 5). Boltanski nahm zuerst an Harald Szeemanns documenta 5 1972 teil, wo er unter dem Schwerpunkt »Individuelle Mythologien« unter anderem das Album de photo de la famille D., 1971, zeigte. Er war ebenfalls an Manfed Schneckenburgers documenta 6 beteiligt. Die Serie basiert auf reproduzierten Fotoportraits von Verstorbenen, die Boltanski Todesannoncen in der Schweizer Kantonszeitung Le Nouvelliste du Valais entnommen hat. Die Einzelbilder sind in Gestalt eines Archivs auf Blechdosen attachiert, die eine Architektur mit schmalem Gang bilden. Metken 1991, S. 7. Mit der »Family of Man« spricht Metken die von Edward Steichen organisierte Fotoausstellung mit über 500 Exponaten von 273 Fotografen aus 68 Ländern an, die nach ihrem Start 1955 im Museum of Modern Art in New York bis 1962 als Wanderausstellung weltweit tourte. (Siehe dazu: http://www.steichencollections.lu/de/the-family-of-man, 16. Okt. 2016). Seit 1999 in der Sammlung des Kunstmuseums Wolfsburg.

255

15 |  GEGEN DAS VERSCHWINDEN

Aachen gezeigt wurde. Diese zentrale fotografische Sammlung des Künstlers bündelt eine Grundthematik in dessen Werk: Es sind Bilder von Menschen, die vermutlich mittlerweile gestorben sind und über die wir heute nichts mehr wissen. Uns ist lediglich bekannt, dass sie ›menschlich‹ waren, doch wissen wir nicht, ob sie gut oder böse, glücklich oder unglücklich waren. Mich interessierte dabei, dass jemand, der einst wichtig war, plötzlich fort ist. Der Verlust der Identität geschieht so schnell. Ich kann mich beispielsweise an meine Großmutter erinnern, aber nur noch mein Bruder und ich erinnern uns an sie. Nach uns wird das endgültig vorbei sein. Für mich ist der Gedanke sehr seltsam, dass jemand, der sehr präsent und einzigartig war, so schnell verschwinden kann.40

Die von Boltanski vor dem ultimativen Verschwinden geretteten fotografischen Portraits, in denen per se, wie Aleida Assmann erklärt, »Fixierung, Mortifikation, Vorwegnahme des Todes« und »Spur des Lebendigen, Abdruck eines individuell gelebten Lebens« zusammentreffen,41 bergen bereits in sich die Differenz zwischen der Gegenwart des repräsentierten Menschen im Bild und dessen Abwesenheit in der Wirklichkeit außerhalb des Bildes. Durch das zeitlich versetzte Abfotografieren bereits historisch gewordener Vorlagen im »Gebrauch und Wiedergebrauch von Familienund Personenfotografien«42 – gleichsam ein Fotografieren der Vergangenheit43 – mache der Künstler die »Erosion des Gedächtniswerts der Fotografie« sichtbar und produziere »ein ›Nach-Nach-Gedächtnis‹«.44 Speziell die privaten Bilddokumente, aus denen der Künstler in erster Linie schöpft, haben aus Assmanns Sicht ihre »unerbittlichen Halbwertszeiten«: Das Familiengedächtnis […] ist nichts Stabiles, es ist – im Gegensatz zum kulturellen Gedächtnis – nicht auf die Ewigkeit hin angelegt. […] die materiale Speicherkraft der Fotografie bleibt zwar erhalten. Die abgebildeten Personen sind noch zu erkennen. Doch ihre memoriale Kraft ist damit ausgelöscht: Es lässt sich niemand mehr wieder erkennen.45 40 41 42 43 44 45

256

Boltanski im Gespräch mit der Autorin in: Gardner 2000, S. 37. Assmann in: Boltanski 2006, S. 96. Ebd., S. 92. Vgl. ebd., S. 89. Ebd., S. 92f. Ebd., S. 92 [Herv. im Orig.].

C H R I S T I A N B O LT A N S K I S S P U R E N S I C H E R U N G Z W I S C H E N D E N Z E I T E N

Das spezifische Vergessen und Nichterkennen aber, das dem Familiengedächtnis ein Ende setzt, öffnet die von Boltanski ausgehobenen und öffentlich gemachten Privatbilder, Familien- und Schulfotos, Schnappschüsse vergangener Lebensmomente und Portraits unbekannter Toter, für deren Aufnahme ins kollektive Gedächtnis eines breiteren (Kunst-)Publikums. Die Distanz, eine Entfremdung des Blicks, erzeugt erst die erforderliche Nähe, die eine Erkennbarkeit des Eigenen im Anderen möglich macht und die die kollektive Erinnerung am Leben hält – auch wenn die individuellen Leben und Schicksale lange schon der Vergänglichkeit anheim gefallen sind. Der Künstler entwirft ein Schattentheater, das das Leben des Betrachters in die Vergangenheit projiziert. Wir stehen neben den eigenen Schatten. Von einem umgekehrten Peter Schlemihl wollte man reden: Dieser hat nicht seinen Schatten ausgetauscht, er ist hinter der Projektion von Schemen verschwunden. Es sind Partituren, die der einzelne durch seine persönliche Biographie anreichern muß. Er sieht nichts Anderes und Fremdes, er sieht sich als das Andere und Fremde.46

Der Betrachter, die Betrachterin erkennt dabei aber auch im Bild (und Blick) des Anderen und des Fremden sich selbst als Schatten unter Schatten, als Mensch unter Menschen.

Der Blick der Fehlenden Die erweiterte Beschäftigung mit der kollektiven »Family of Man«, die in den 1980er Jahren Boltanskis Auseinandersetzung mit einer persönlichen (möglichen/imaginären) Familiengeschichte ablöst, umfasst auch die Spurensicherung der Verschwundenen, die Opfer des nationalsozialistischen Terrors geworden sind. Auf Vorkriegsportraits jüdischer Schulkinder in Wien basierende Arbeiten wie Lycée Chases, 1987, oder Réserves – la fête de Pourim (Reserve: Das Purimfest), 1989, verweisen implizit ebenso auf den Holocaust wie die ab 1988 in der Gruppe der Réserves47 integrierten Kleidungsstücke. Bis unter die Decke gehängt, wie in der ersten Installation mit Textilien in der Ydessa Hendeles Art Foundation in Toronto, Kanada, Réserve: Canada,

46 47

Spies in: Boltanski 2006, S. 24. Siehe zu der Werkgruppe der Réserves: Heidi Brunnschweiler, Christian Boltanski und die Shoah. Im langen Schatten des Bösen, München 2014, S. 64ff.

257

73  Christian Boltanski, Menschlich, 1994 (Installationsansicht: Kunstmuseum Wolfsburg, 2013), ca. 1200 Schwarz-Weiß-Fotografien, gerahmt, je 50 x 60 cm bzw. 60 x 50 cm, Dimensionen variabel

74  Christian Boltanski, Petit Monument

Odessa, 1990, 4 s/w Fotografien gerahmt, Metallbehälter, Lampen und Kabel, Installation: 136 x 164 cm; 1 Fotografie: 60 x 50 cm, 3 Fotografien je 40 x 30 cm

75  Christian Boltanski,

Être à nouveau #1, 2011, s/w Foto­grafie, Collage, gerahmt , 31,5 x 25,5 cm

76  Christian Boltanski, Théâtre d'Ombre (Schattentheater), 1984, Installation (Detail), Blech, Metallgestell,

Spots, Ventilator, Maße variabel (min. 400 x 300 cm)

15 |  GEGEN DAS VERSCHWINDEN

1988,48 oder, wie in der Installation Réserves – la fête de Pourim 1989 im Museum für Gegenwartskunst, Basel, auf dem Boden verteilt, so dass das Publikum zwangsläufig beim Betrachten der Ausstellung darüber laufen musste, lösen letztere sogleich Assoziationen zu den in Haufen sortierten Habseligkeiten Ermordeter in den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten aus. Boltanski sieht seine Arbeit mit abgelegten Kleidungsstücken indes auch in Bezug zu seinen fotografischen Arbeiten, insofern »ein Bekleidungsstück […] wie die Photographie ein Objekt der Erinnerung an ein Subjekt« sei: »Da ist der Geruch, da sind die Falten, das ist wie eine Hohlform im Vergleich zum Photo.«49 In der Installation Verloren in München 1997/98, eine Kooperation des Magazins der Süddeutschen Zeitung und des Hauses der Kunst, München, versetzte Boltanski das Münchner Fundbüro in die Ausstellungsinstitution, während das Magazin 2.000 der dort ausgestellten 6.000 Fundstücke abbildete.50 Die nach Gattungen geordneten Konglomerate verlorener Gegenstände im Haus der Kunst riefen im ersten Moment ebenjene usurpierten Habseligkeiten von Mordopfern der Nationalsozialisten ins Bewusstsein. Doch stand für den Künstler angesichts der Fundstücke eine den anonymen fotografischen Bildnissen, die er in seinen Arbeiten dem Verlorensein entreißt, vergleichbare Überlegung im Vordergrund: Zu jedem Gegenstand gehört ein Mensch, doch über die einzelnen Personen wissen wir überhaupt nichts. […] Ich, beispielsweise, besitze 48

49 50

260

Der Titel der Installation, die in Anlehnung an die sechs Millionen ermordeten Juden des Holocaust sechstausend gebrauchte Kleidungsstücke umfasste, bezog sich nicht nur auf den Ausstellungsort. Mit dem Begriff »Kanada« bezeichneten die Nationalsozialisten die Schuppen in den Todeslagern, wo die Habe der dorthin verschleppten Opfer gesammelt wurde und die perfiderweise »nach dem Land benannt wurden, in das sich die Juden zu retten hofften«. Vgl. dazu: Werner Spies, Installationskunst: Christian Boltanski: Es verschlägt einem die Sprache in: Frankfurter Allgemeine, 13. Januar 2010, unter faz.net: http://www.faz.net/aktuell/ feuilleton/kunst/installationskunst-christian-boltanski-es-verschlaegt-einem-diesprache-1638246.html (16. Okt. 2016). (Vgl. auch: Kemme, Biografie Christian Boltanski, in: Boltanski 2006, S. 131). Boltanski im Gespräch mit Drateln in: Boltanski 1991, S. 63. Boltanski konzipierte die »Edition No. 46« des Magazins der Süddeutschen Zeitung, No. 46, 14.11.97, im Rahmen der von der Süddeutschen Zeitung zwischen 1990 und 1999 einmal jährlich herausgegebenen, von wechselnden Künstlern und Künstlerinnen (von Anselm Kiefer bis Alex Katz) gestalteten Ausgaben. Von 2007 bis 2011 wurde die Edition nochmals aufgelegt (Francesco Vizzoli bis Barbara Kruger). Boltanski bildete in seiner Ausgabe Gegenstände aus dem Münchner Fundbüro ab, die im Haus der Kunst von ihren Besitzern entweder abgeholt oder von potenziellen neuen Inhabern erworben werden konnten.

C H R I S T I A N B O LT A N S K I S S P U R E N S I C H E R U N G Z W I S C H E N D E N Z E I T E N

eine Pfeife, die ich sehr liebe – zwischen mir und meiner Pfeife gibt es eine Geschichte. Wenn ich nun diese Pfeife verlieren würde, wäre sie ohne Identität, sozusagen niemand. Kauft jemand anderes irgendwann eine Pfeife, hat sie eine ganz andere Identität. Doch wenn die Gegenstände im Fundbüro liegen, haben sie keine Identität mehr. Sie sind Erinnerungen an Menschen, ohne Geschichte.51

Im Verlauf der Ausstellung hatte das Publikum Gelegenheit, die Fundstücke zu erwerben und ihnen damit, so der Künstler, »ein neues Leben« im Sinne »einer Art Wiederauferstehung« zu geben.52 Boltanski, der im Schatten der Schoah und des Zweiten Weltkriegs aufwuchs, hat wiederholt betont, dass er keine Kunst über den Holocaust, sondern eine nach dem Holocaust mache.53 Die Schreckensbilder der Schoah sind im kollektiven Gedächtnis verankert und konstituieren das Vorwissen, durch das hindurch Boltanskis Foto- und Textilinstallationen ihre entsetzliche Aufladung als Zeugnisse der Katastrophe erhalten. Die Arbeiten des Künstlers stehen unweigerlich in Bezug zu dieser Katastrophe. Doch sieht er sie selbst vor dem Panorama des gesamten 20. Jahrhunderts, das rückblickend von ihm »als eines der schrecklichsten Jahrhunderte überhaupt« bezeichnet wird: Während meiner ganzen Kindheit hat mich der Holocaust als sehr zentrales Problem begleitet. Auf der anderen Seite geht es in meinen Arbeiten nicht spezifisch um den Holocaust, sondern im weiteren Sinne um das zwanzigste Jahrhundert. Wir haben erlebt, dass die meisten Hoffnungen, die die Menschen in das zwanzigste Jahrhundert gesetzt haben, mehr oder weniger zerstört worden sind. Am Anfang des Jahrhunderts glaubte man noch, dass es ein Zeitalter mit mehr Kultur sein würde und dass die Kultur die Menschheit retten würde. Man betrachtete die Menschheit wie ein Kind, das sich weiterent­ wickelt und dabei immer mehr Weisheit erlangt. Desgleichen hat man in die Errungenschaften der Wissenschaft große Hoffnungen gesetzt. […] Der Kommunismus war gewissermaßen die letzte christliche Utopie, und sie ist gescheitert. Es gibt wenig Hoffnung auf eine grundlegende Veränderung in der Mentalität der Menschen hinsichtlich eines friedlichen, brüderlichen Zusammenlebens. Im Grunde haben wir jeg51 52 53

Boltanski im Gespräch mit der Autorin in: Gardner 2000, S. 35. Ebd., S. 37. Vgl. dazu Boltanski im Gespräch mit Drateln in: Boltanski 1991, S. 61.

261

15 |  GEGEN DAS VERSCHWINDEN

liche Utopie verloren, weil wir im zwanzigsten Jahrhundert gesehen haben, wie gefährlich Utopien sein können.54

Boltanski zufolge zeige das Sichereignen des Holocaust in einem Land »mit einer sehr ausgeprägten und traditionsreichen Kultur«, dass dieser »überall jederzeit wieder geschehen könnte«.55 Boltanskis fotografische und textile Réserves sind Gedächtnisspeicher, in dem das allgemeinmenschliche Schicksal der Vergänglichkeit mit der systematischen Auslöschung ideologisch Verfolgter kurzgeschlossen wird. Hier werden die ephemeren Portraits des Daseins, die der Künstler aus den vergessenen und verschütteten Bildern generiert, zu zutiefst politischen Memorialen für jene, deren Lebensspuren gezielt verwischt und zerstört wurden. Boltanski realisierte 1990 in Berlin als Beitrag zur Gruppenschau Die Endlichkeit der Freiheit anlässlich des Mauerfalls seine erste Arbeit im öffentlichen Raum. La maison manquante (Das fehlende Haus) markiert nahe des früheren jüdischen Friedhofs und der heute wieder in Betrieb befindlichen jüdischen Schule eine Lücke in der Bebauung der Großen Hamburger Straße in Berlin-Mitte. Hier stand ein Haus, das im Zweiten Weltkrieg durch Bomben zerstört wurde. Boltanski brachte die Namen der einstigen Bewohner des »fehlenden Hauses«, von denen viele Opfer des Holocaust wurden, an die Brandmauern der angrenzenden Häuser an. Die Leerstelle wird durch Benennung derer, die hier lebten, zu einer Erinnerungsstätte, die an alle gemahnt, deren Identität zunichte gemacht wurde und spurlos verschwunden ist – ein »Gedankengebäude«, das aus der »Gedächtnisarbeit«56 der Rezipienten immer wieder neu Gestalt gewinnt. In dieser Hinsicht ist der Künstler nicht nur ein Spurensicherer, sondern auch ein Spurenleger, der Indizien eines größeren Zusammenhangs, eines umfassenderen Bildes als »Stimulus«57 zur Vervollständigung durch den Betrachter, die Betrachterin anbietet. In einer Gruppe weiterer Arbeiten hat der Künstler auf die Darstellung menschlicher Antlitze verzichtet und diese durch isolierte Augenpaare ersetzt, die als Pars pro toto eine Stellvertreterfunktion übernehmen und zugleich in ihrer Unvollständigkeit »eine Realität der Erinnerung im Ver­ gessen«58 belegen. So montierte er 1993 im Zuge der Gruppenausstellung 54 55 56 57 58

262

Boltanski im Gespräch mit der Autorin in: Gardner 2000, S. 29f. Ebd., S. 30. Spies in: Boltanski 2006, S. 29. »Von dem Stimulus, den man sieht, rekonstruiert jeder sein eigenes Bild.« (Vgl. Boltanski im Gespräch mit Drateln in: Boltanski 1991, S. 65). Beil, Chronos trifft Thanatos, in: Boltanski 2006, S. 12.

C H R I S T I A N B O LT A N S K I S S P U R E N S I C H E R U N G Z W I S C H E N D E N Z E I T E N

Widerstand – Denkbilder für die Zukunft auf die Außenfassade des Hauses der Kunst in München vergrößerte Augenpaare von Protagonisten des antifaschistischen Widerstands der »Roten Kapelle«.59 Mit seiner Intervention Résistance / Widerstand (Rote Kapelle)60 rückte Boltanski der Historie der heute international bespielten Münchner Ausstellungshalle für Gegenwartskunst als Adolf Hitlers designiertem »Tempel für die wahre und ewige deutsche Kunst«61 kraft des Gegenblicks der Widerständigen zu Leibe: eine Mahnung auch an die Menschen heute innezuhalten und die eigenen Überzeugungen zu überprüfen.62 Gleichzeitig unterstützt die fragmentarische, abstrahierende Fokussierung auf die Augen die von Boltanski erzielte allgemeingültige Aussage: »Jeder kann sich mehr oder weniger darin wieder erkennen.«63 Der Künstler hat das Bildmotiv der Augenpaare im Anschluss aus der politisch-geschichtlichen Rahmung gelöst und unter dem Titel Les regards auf Werbetafeln übertragen und im öffentlichen Raum in verschiedenen Städten, darunter Paris (1998), Basel (1999), Warschau (2001) und Bremen (2004), gezeigt. In der Bremer Fassung Les regards. Skulptur für Bremen64 59

60

61 62 63 64

Unter der Bezeichnung »Rote Kapelle« wurden während des Nationalsozialismus von der Gestapo verschiedene Widerstandsgruppen subsumiert, die Kontakte zur Sowjetunion hatten. Ab 1942 wurden die ersten Mitglieder der »Roten Kapelle« hingerichtet; über 50 Mitglieder wurden insgesamt ermordet. (Vgl. dazu: Hans Coppi (Hrsg.), Die Rote Kapelle im Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Berlin 1994). Boltanskis Résistance von 1993/94 sowie Gustav Metzgers Travertin/Judenpech aus dem Jahr 1999 wurden im Rahmen der zweiten Präsentation der Archiv Galerie im Haus der Kunst 2015/16 (18. Sept. 2015 – 18. Sept.2016), mit Fokus auf Interven­ tionen in die Architektur, insbesondere Auseinandersetzungen mit der Fassade des Gebäudes, reaktiviert. Die beiden Arbeiten waren die ersten, die spezifisch für die Fassade und den Säulengang des Hauses der Kunst konzipiert wurden. (Vgl. http://www.hausderkunst.de/agenda/detail/christian-boltanski-resistance-2/, 16. Okt. 2016). Vgl. dazu: Peter M. Bode, Bau mit zwei Gesichtern: vom »Tempel« der Kunst zum lebendigen Ausstellungsforum, in: Gardner 2000, S. 15. Vgl. Boltanski im Gespräch mit der Autorin, in: ebd., S. 31. Ebd., S. 34. Boltanski, dem 1996 der Rolandpreis der Senatsstiftung (»Bremer Bildhauerpreis für neue künstlerische Denkansätze im öffentlichen Raum«) verliehen wurde, realisierte die Arbeit 2004 als Dank an die Stadt Bremen (vgl.: Intensive Blicke: Christian Boltanski, der 1996 den Bremer Rolandpreis bekam, hat eine Fotoserie für Plakatwände und eine Beilage der taz nord gestaltet, in: taz. Die tageszeitung, 16. Sept. 2004, unter. http://www.taz.de/!698803/, 16. Okt. 2016). Für die Werkschau Christian Boltanski. Zeit 2006 im Institut Mathildenhöhe Darmstadt variierte er Les regards erneut in einer Präsentation von vier Schwarz-Weiß-Fotografien unterschiedlicher Augenpaare auf der Westfassade der Ausstellungshalle, die »über die Stadt und ihre Menschen« blickten. (Vgl. dazu: Kemme, Kommentiertes Werkverzeichnis Zeit, in: Boltanski 2006, S. 139).

263

15 |  GEGEN DAS VERSCHWINDEN

2004 plakatierte der Künstler nicht nur großformatige Schwarz-Weiß-Bilder von Augenpaaren im gesamten Stadtraum. Boltanskis Augenpaare tauchten ferner auf Faltblättern, in Zeitungsbeilagen sowie im Internet auf. Durch die Durchdringung des öffentlichen Raums auf den verschiedenen visuellen Ebenen wurden die Betrachter in einen Dialog der Blicke hineingezogen, in dem die sonst üblicherweise über Werbe- und Medienplattformen kommunizierte kommerzielle oder informatorische Botschaft einer weiter gefassten zwischenmenschlichen Begegnung wich.

Schattenspiele, Totentänze, Trugbilder Adalbert von Chamissos Märchenerzählung des Peter Schlemihl, der seinen Schatten an den Teufel verkauft und darauf seinen Platz in der »wirklichen Welt« verliert, deutet den Schatten als Beweis für »Echtheit und Wirklichkeit« – und steht damit, wie Ernst H. Gombrich hervorgehoben hat, der in Platons Höhlengleichnis vertretenen Auffassung des Schattens als Trugbild der Wirklichkeit konträr entgegen.65 Ebenso wie die Fotografie »zugleich Pseudopräsenz und Zeichen der Abwesenheit«66 ist, ist das Phänomen des Schattens beides: Beweis und Spur einer physischen Realität, und Ausdruck der Flüchtigkeit dieser Realität. Parallel zu seiner Arbeit mit fotografischen Bildern, denen die transitorische Eigenschaft menschlicher Existenz gleichsam eingeschrieben ist, hat Boltanski mehrfach das ephemere Format des Théâtre d’ombres, des Schattentheaters, eingesetzt. Neben den allegorischen Verknüpfungen zwischen Schatten und Tod und der magischen Aufladung des flüchtigen Bildmediums interessierte ihn auch dessen Bezug zur Fotografie: Mit den ›Schatten‹ verbinde ich viel. Zunächst einmal erinnern sie an Tote, man spricht vom Schattenreich. Dann aber gibt es auch eine unmittelbare Beziehung zur Photographie: auf griechisch bedeutet das, mit Licht schreiben, ein Schatten ist also eine primäre Photographie. […] Der Schatten ist aber auch trügerisch, man sagt, ›man hält den Schatten für die Beute‹, der Schatten ist der Trick, es ist eben genau jene kleine Papierfigur, die wie ein großer Löwe erscheint; der 65

66

264

Vgl. Ernst H. Gombrich: Schatten. Ihre Darstellung in der abendländischen Kunst, [Orig.: Shadows. The Depiction of Cast Shadows in Western Art, London 1995], Berlin 2013 [2009], S. 21f. Sontag 1989, S. 21.

C H R I S T I A N B O LT A N S K I S S P U R E N S I C H E R U N G Z W I S C H E N D E N Z E I T E N

Schatten ist die Vorstellung an sich von einem ›deus ex machina‹. In diesem Sinn interessiert mich der Schatten, denn das ist Theater, in seinem künstlichsten Sinn. Ich wollte mit den Schatten eine Art Totentanz machen, allerdings eine nette Form von Theater, eine nette Form von Totentanz. […] Dann mag ich an den Schatten das Ephemere; von einem Augenblick zum anderen können die Schatten verschwinden, sobald die Scheinwerfer oder die Kerzen verlöschen, ist nichts mehr da. Der Schatten ist fragil, er ist nicht greifbar.67

Das erste Schattenspiel realisierte der Künstler 1984 in der Rotterdamer Galerie ‘t Venster, bestehend aus Skelett- und Geistergestalten, bizarren Tier- und Menschenwesen aus Pappe, Federn, Korken und anderen Mate­ rialen, die an einem Metallgestell befestigt von Projektoren angestrahlt und durch einen Ventilator in Bewegung versetzt wurden.68 Nach diesem Prinzip schuf der Künstler mit Blechfiguren weitere Schattentheater-Installationen, darunter seine mit Kerzen beleuchtete Fassung von 1986 mit kreisendem (Todes-)Engel L’Ange d’alliance (Engel des Bündnisses) in der Chapelle de la Salpêtrière, Paris. Die flüchtigen Geisterwesen evozierten im halbdunklen Sakralraum der Kirche nicht nur die spätmittelalterlich-barocken Totentänze, in denen »die Gleichheit angesichts des Todes und das memento mori«69 allegorische Verkörperung fanden. Boltan­ skis ätherischer, von den flackernden Reflexen des Kerzenlichts an die Wände geworfener Danse macabre offenbarte auch ebenjene karnevalistischen Züge, die der Künstler als »nette Form« des Totentanzes zu erzielen suchte. Wie Metken über dessen feine Balance zwischen tiefem Ernst und Leichtigkeit anmerkt: »Es ist dieses Erlebnis des Nichthaftenden, des Vorläufigen und Vorüberhuschenden, das Boltanskis Werk so produktiv in der Schwebe hält, zugleich Vanitasbild und melancholisch grundiertes Varieté. Ludisch und instabil auch seine Projektionen, auf die der Strahl der Laterna Magica fällt […].«70 In Botanskis Théâtre d’ombres, zu dem sich ab Mitte der 1990er Jahre Theaterprojekte des Künstlers in Zusammenarbeit mit dem französischen Lichtdesigner und Bühnenbildner Jean Kalman und wechselnden Regisseu67 68

69 70

Boltanski im Gespräch mit Drateln in: Boltanski 1991, S. 75. Vgl. dazu: Henrike Mund, Christian Boltanski, in: Cut. Scherenschnitte 1970–2010, Ausst.-Kat. (Hamburger Kunsthalle: 2010/2011), hrsg. v. Hamburger Kunsthalle, Hamburg 2010, S. 32. Ariès 2005, S. 151. Metken 1991, S. 6.

265

15 |  GEGEN DAS VERSCHWINDEN

ren gesellen,71 werden die Mittel der Illusionsstiftung nicht kaschiert, sondern treten offenkundig in Erscheinung. Die dramatischen Schimären beruhen deutlich sichtbar auf rudimentären Kürzeln aus Pappe oder Blech; die sich selbst verzehrenden Kerzen, die ihnen flüchtig Form geben, gehören ihrerseits zum Inventar der Vanitas-Sinnbilder des barocken Stilllebens: »Schließlich ist es nicht nur die Endlichkeit des menschlichen Seins, die Boltanski hier vor Augen führt» sondern auch das Groteske der schattenhaften Illusion.«72 Das Leben ist nichts als Blendwerk, so ließe sich Boltanskis Spiel mit den Schatten lesen, aber es kann bezaubern und lustvoll sein, zumindest solange, bis die unabdingbare Wirklichkeit des Todes die Illusion durchschneidet. Dieses Thema kulminiert in Boltanskis Installation Vanitas 2009 in der Chorkrypta des Salzburger Doms im Rahmen der Skulpturenprojekte der Salzburg Foundation.73 In der einstigen Krypta des Doms verstärkt sich noch die Wirkung der Schattenfiguren als Mittler zwischen Leben und Tod, Anund Abwesenheit, Gestaltfindung und Auflösung. Der Engel, der in der Apsis seine Kreise zieht, kündet vom unaufhaltsamen Vergehen des menschlichen Daseins, das kein weltlicher Erlösungsentwurf aufzuhalten vermag, aber auch vom ewigen Zyklus des Lebens. Das zartgliedrige, selbst jederzeit zum Erliegen kommen könnende »Mobile der Vergänglichkeit«74 wird von 71

72 73

74

266

Boltanski realisierte in einer Bildsprache, die die grotesk-düsteren Inszenierungen des polnischen Dramatikers, Malers, Bühnenbildners und Kunsttheoretikers Tadeusz Kantor (1915–1990) evoziert, unter anderem die Winterreise von Franz Schubert in Kooperation mit Hans Peter Cloos und Jean Kalman (Hebbel-Theater Berlin, 1994; Lyric Theater Hammersmith, London, 1997; BAM, New York, 1998), Der Ring – Fünfter Tag. Der Tag danach nach Richard Wagner zusammen mit Ilja Kabakov und Jean Kalman (Festival Theater der Welt, Beelitz-Heilstätten Berlin, 1999) und Les limbes in Zusammenarbeit mit Luc Boltanski und Jean Kalman (Théâtre du Châtelet, Paris, 2006). (Vgl. Angaben zu den Theaterprojekten des Künstlers unter: Kemme in: Boltanski 2006, S. 148). An Kantor, wie Boltanski jüdisch-katholischer Herkunft, schätzt er, »daß er eigentlich immer das gleiche macht, mit Variationen«, genau wie er selbst. Während er Beuys und Andy Warhol bezüglich seiner Arbeit als »Großväter« bezeichnete, nannte er Kantor einen »Vater«. (Siehe dazu Boltanski im Gespräch mit Drateln in: Boltanski 1991, S. 67). Mund 2010, S. 32. Vanitas ist das achte Werk in der Reihe der Skulpturenprojekte der Salzburg Foundation, die 2002 mit einer Arbeit von Anselm Kiefer ihren Anfang nahm. Seit 2013 befindet es sich im Eigentum der Würth-Gruppe, die es der Öffentlichkeit und der Stadt Salzburg als Leihgabe zur Verfügung gestellt hat. (Vgl. http://salzburgfoundation.at/kunstprojekt-salzburg/christian-boltanski-2009/, 16. Okt. 2016). Peter Iden: Rede für Christian Boltanski, Salzburg, 3. Oktober 2009, Um Leben und Tod. Zu Christian Boltanskis »Vanitas« in der Krypta des Salzburger Doms, unter: ebd. (Download: http://salzburgfoundation.at/wp-content/uploads/rede_iden_ boltanski.pdf, 16. Okt. 2016).

C H R I S T I A N B O LT A N S K I S S P U R E N S I C H E R U N G Z W I S C H E N D E N Z E I T E N

einer elektronischen Zeitansage flankiert, die leidenschaftslos und unerbittlich mit mechanischer Lakonie den Minutentakt ausruft: »Die Minute, die sie markiert, bereits vorüber im Moment ihrer Benennung.«75 Das Zählwerk der von Boltanski erstmals im Rahmen der Ausstellung Entre temps (Zwischenzeit) 2003 in der Pariser Galerie Yvon Lambert zu Gehör gebrachten Horloge parlante (Zeitansage) stellt den ephemeren (Schatten-)Bildern, die für einen Augenblick im Equilibrium zwischen Anund Abwesenheit sichtbar werden, das stete Vorrücken der Zeit gegenüber. Der Künstler vergleicht die Zeitansage mit einer »Art Stimme Gottes, des griechischen Gottes allerdings«: Angesichts dieses von jedwedem menschlichen Schicksal ungerührten griechischen Gottes, der weder Gut noch Böse kennt, werden alle menschlichen Bemühungen, das Leben selbst, der Kampf gegen den Tod, der Versuch, irgendetwas zu tun, nichtig. Denn eines ist stärker als wir, und zwar das ewige Fortschreiten der Zeit, die nie anhält und zwangsläufig zum Tod führt.76

Zeit und Tod, die als unentrinnbare und unauflöslich miteinander verwobene Kräfte unser Leben durchwirken und die Ralf Beil im Zentrum von Boltanskis Werk sieht, sind zwar »gemeinsam Herren des Weltgeschehens«, dabei aber »auf je eigene Weise an der Tilgung von Leben beteiligt. Während der Tod das Leben sichtbar beendet, scheint die unaufhörlich vergehende Zeit in ihrer Unsichtbarkeit eine fast noch größere Unerbittlichkeit aufzuweisen.«77 Dieses zutiefst existenzielle Drama, dem sich niemand entziehen kann, thematisierte Boltanski auf verschiedenen Ebenen auch in seiner mehrteiligen Pariser Installation Entre temps, die neben Horloge parlant unter anderem auch die gleichnamige Videoarbeit Entre temps (2003) sowie ein Schaukasten-Ensemble mit privaten Archivmaterialien des Künstlers, La vie impossible de C.B.,78 2001, und eine Gruppe von Wandtafeln mit 75 76 77 78

Ebd. Boltanski im Gespräch mit Beil in: Boltanski 2006, S. 65. Beil in: ebd., S. 9. Die aus zwanzig vergitterten, beleuchteten Vitrinen bestehende Installation enthält eine Fülle von ungeordneten Archivmaterialien des Künstlers, darunter Briefe, Quittungen, Fotos, Fahrkarten und vieles mehr – »materielle Stellvertreter seines persönlichen Lebens, die vergangene Ereignisse und Zeitabläufe speichern«, die aber durch das darüber liegende feinmaschige Gitter schwer leserlich sind. (Vgl. dazu Kemme, Kommentiertes Werkverzeichnis, in: ebd., S. 136).

267

15 |  GEGEN DAS VERSCHWINDEN

den Geburts- und Todesdaten seiner Angehörigen und Freunde unter dem Titel Mes morts (Meine Toten),79 2002, umfasste. Sie markiert die erneute Hinwendung des Künstlers zu Fragen seines eigenen Daseins und seiner Vergänglichkeit.

Zwischen den Zeiten Hatte sich Boltanski in seinem Frühwerk mit seinem Ableben in anekdotischer Spekulation beschäftigt,80 so setzt er sich seit den frühen 2000er Jahren zunehmend spezifischer mit dem persönlichen Tod auseinander. In der filmisch aktivierten Fotocollage Entre temps von 2003 verfließen wie im Zeitraffer übereinander geblendete Portraitbilder des Künstlers aus verschiedenen Altersstufen von sechs bis sechzig Jahren. Sein Leben zieht sich im beschleunigten Tempo zusammen; die Betrachter werden zu Zeugen des rasanten Vergehens der Jahre, das jene »Zwischenzeit« zwischen Geburt und Tod im Handumdrehen verschlingt. Das im Eiltempo alternde Antlitz Boltanskis macht die Kürze und den unweigerlichen Endpunkt des menschlichen Daseins – des »Seins zum Tode«81 – sichtbar. »Jeder von uns ist einzigartig, und zugleich sind wir so fragil, so unerträglich vergänglich«, befindet der Künstler. »Egal ob arm oder reich, gut oder böse, alle sind wir letztlich gleich und alle werden wir vergessen – das ist die wahre Radikalität der Vergänglichkeit.«82 In seiner Installation Chance für den französischen Pavillon auf der 54. Venedig-Biennale 2011 baute Boltanski die Idee einer Visualisierung der Pole zwischen Werden und Vergehen in aufwendiger, elektronischer Technik 79

80

81

82

268

Dazu hat der Künstler die Frage gestellt: »Was bleibt am Ende von einem Leben? Zwei Daten und ein kurzer schwarzer Strich.« Siehe Boltanski im Gespräch mit Beil in: ebd., S. 65. So etwa in der Arbeit Reconstitution d’un accident quine m’est pas encore arrivé et oú j’ai trouvé la mort (Rekonstruktion eines Unfalls, der mir noch nicht zugestoßen ist und bei dem ich den Tod gefunden habe) von 1969. Boltanski lieferte darin retrospektiv den Beweis für einen tödlichen Fahrradunfall, der nie stattgefunden hatte, wobei er auch den Todesfall selbst nicht erlebt, sondern nur vorweggenommen hatte. (Vgl. dazu auch Schneede in: Boltanski 1991, S. 15f.). Der Terminus nimmt hier stark verkürzt Bezug auf Martin Heideggers »existenziale« Begrifflichkeit des Todes: »Daseinsmäßig aber ist der Tod nur in einem existenziellen Sein zum Tode.« Siehe dazu: Martin Heidegger, Sein und Zeit [Zuerst erschienen als ›Sein und Zeit. Erste Hälfte‹, Sonderdruck, Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, 8. Band, hrsg. v. Edmund Husserl, Halle a. d. Saale 1927, ab 7. Aufl.: Sein und Zeit, Tübingen 1953], Tübingen 1967 [1953], S. 234. Boltanski im Gespräch mit Beil in: Boltanski 2006, S. 57.

C H R I S T I A N B O LT A N S K I S S P U R E N S I C H E R U N G Z W I S C H E N D E N Z E I T E N

aus, die mit der Low-Tech-Ästhetik seiner früheren Arbeiten stark kontrastierte. Der Künstler transformierte den Innenraum des Pavillons in ein immenses, automatisiertes Rotationsgerät – Wheel of Fortune (Glücksrad) – über das wie auf einem Fließband Bilderstreifen mit Gesichtern Neugeborener in Hochgeschwindigkeit am Auge des Betrachters, der Betrachterin vorbeisausten. Beim Ton einer Klingel hielt das Band kurz an und ein computergesteuerter Zufallsgenerator wählte ein Foto von einem Kind aus, das in Vergrößerung auf einem Monitor erschien: Zu Beginn eines Lebens, bevor ihn das Schicksal davonträgt, so die vermittelte Botschaft, stehen dem Menschen noch alle Chancen offen. In einer weiteren Arbeit der Installation, Be New (2005), setzten sich die Fragmente dreigeteilter Gesichter von 60 neugeborenen polnischen und 52 verstorbenen Schweizern in rapidem Wechsel auf einem Bildschirm zu immer neuen Konstellationen möglicher hybrider Portraits zusammen: Werden und Vergehen in einem Gesicht vereint. Die Besucher konnten per Knopfdruck über Zufallsgenerator immer wieder andere ›zwischenzeitliche‹ Wesen kreieren. Die Doppelinstallation Last News from Humans (Letzte Nachrichten von Menschen) zeigte derweil auf zwei Displays die ständig aktualisierte Anzahl aller neugeborenen und aller verstorbenen Menschen auf der Welt in digitalen Ziffern an: grüne Zahlen indizierten die Geburten, rote die Todesfälle. Die Gesamtinstallation Chance kreiste um das Werden und Vergehen ebenso wie um die Rolle des Zufalls in der Bestimmung des Verlaufs eines Lebens. Damit verwies sie auch auf einen seit 2009 laufenden Pakt zwischen Boltanski und dem tasmanischen Millionär, Glücksspieler und Museumsgründer David Walsh. Letzterer erwarb Boltanskis Werk The Life of C. B. (2010–) verbunden mit dem Recht, den Arbeitsalltag des Künstlers in dessen Pariser Atelier bis zu dessen Tod rund um die Uhr filmisch zu dokumentieren.83 Die seit 2010 entstehenden Aufnahmen werden direkt in einen Container auf dem Gelände des Anfang 2011 von Walsh gegründeten Museums of Old and New Art (MONA) auf der Halbinsel Berriedale in Hobart, Tasmanien, Australien, überspielt; Boltanski bekommt bis zu seinem Ableben für 83

Siehe zu der Verbindung zwischen der Venedig-Installation »Chance« (im Sinne der Vieldeutigkeit des Begriffs, der zwischen Chance, Schicksal und Glücksspiel changiert) und Boltanskis Vereinbarung mit Walsh: Mireille Juchau, Christian Boltanski’s Chance at Life. The French artist in Sydney, in: The Monthly. Australian politics, society & culture, März 2014: https://www.themonthly.com.au/issue/2014/ march/1393592400/mireille-juchau/christian-boltanski’s-chance-life (16. Okt. 2016).

269

15 |  GEGEN DAS VERSCHWINDEN

das Work-in-Progress eine monatliche Rente.84 Der Tauschhandel basiert auf Walshs Spekulation, dass der bei Abschluss der Abmachung im Jahr 2009 65-jährige Künstler keine acht Jahre mehr leben würde. Sollte Walsh Recht behalten, würde Boltanski nicht nur sein Leben, sondern auch Geld verlieren. Andernfalls müsste Walsh für den Lebensfilm Boltanskis entsprechend mehr aufwenden. Zumindest hinsichtlich der eigenen Autonomie bleibt der Künstler in jedem Fall der Gewinner: »Der tasmanische Spieler glaubt, dass er so mein Leben kaufen könne, aber er bekommt nichts.«85 Das Spiel »um Leben und Tod« stand auch im Zentrum der Ausstellung Bewegt im Kunstmuseum Wolfsburg 2013, wo der Künstler die bereits in seinem Schattentheater implizit angelegte, in monumentalen Installationen wie Personnes (Personen)86 2010 in Paris und Chance in Venedig weiträumig eingebrachte kinetische Komponente auf Bilder seines Archivs Menschlich übertrug. In der Wolfsburger Installation Geist(er) von 2013 schwebten 190 ausgewählte Portraits aus diesem Fundus als Abdrucke auf transparenten Tüchern wie von unsichtbarer Hand angetrieben durch die Ausstellungshalle. Die sphärischen Erscheinungen bewegten sich dabei sachte im Luftzug, überlappten einander für einen Moment, und kamen den Besuchern mitunter ganz nah: »Die auf den durchsichtigen Tüchern abgebildeten Gesichter«, schreibt Markus Brüderlin in seiner Einführung zur Schau, »wecken in ihrer Flüchtigkeit umso mehr das Bedürfnis, jeden einzelnen dieser Menschen zu ›erkennen‹, etwas über sein Schicksal erfahren zu 84

85

86

270

Das von Walsh gegründete, auf Sexualität und Tod spezialisierte Museum of Old and New Art (MONA) wurde im Januar 2011 in Tasmanien eröffnet. (Vgl. dazu und zu dem Schauplatz von Boltanskis Lebensdokumentation: Heidi Gmür, Museum of Old and New Art in Hobart. »Wundert euch!«, in: Neue Zürcher Zeitung, 21.7.2013, unter: http://www.nzz.ch/feuilleton/kunst_architektur/wundert-euch-1.18115562, 16. Okt. 2016). Boltanski in: »Dich zu verleugnen, das ist das große Verbrechen« – Ein Interview mit Christian Boltanski von Markus Brüderlin [geführt am 29. Februar, 2013, in Paris], in: Christian Boltanski. Bewegt, Ausst.-Zeitung/Museumsbeilage, Kunstmuseum Wolfsburg, hrsg. v. Kunstmuseum Wolfsburg, Braunschweig 2013, s. p. Vgl. dazu Spies, in: Frankfurter Allgemeine, 13. Januar 2010. Boltanskis »fragiles Monument auf Zeit«, Personnes, wurde von Boltanski anlässlich der 4. Monumenta im Pariser Grand Palais auf der Basis von 200.000 gebrauchten Kleidungsstücken geschaffen. Die monumentale Installation, mit der der Künstler laut Spies »die Präsentation des mechanisierten Todes« auf die Spitze trieb, bestand aus einer Archivkonstruktion aus korrodierten, mit Nummern versehenen Blechdosen, einer Landschaft mit lagerartig anmutenden, neonbeleuchteten Parzellen aus Textilien in strengen Formationen sowie einem riesigen Haufen aus weiteren Textilien, auf den der Greifarm eines Krans von oben mit mechanischer Willkür »Kleider wie tote Körper auf den bunten Berg wirft«, nach Sicht des Autors »in den Augen Boltanskis Ausdruck eines blinden Zufalls«. (Ebd.).

C H R I S T I A N B O LT A N S K I S S P U R E N S I C H E R U N G Z W I S C H E N D E N Z E I T E N

wollen.«87 Boltanski assoziiert diese Wiederauferstehung der menschlichen Antlitze in lichtheller, kaum noch wahrnehmbarer Gestalt aus dem dunklen »Grab« des Archivs mit dem freien Schweben des Geistes und dem »Übergang von Körper und Seele, wobei in den ausgebleichten Tüchern die Gesichter zu den Seelen auch langsam verschwinden«.88 Diese zunehmende Verfeinstofflichung und Entmaterialisierung in seinem Werk zeigt sich auch in einer Fokusverschiebung des Künstlers vom Bild zum Klang und vom Bild zum (numerischen) Zeichen. Seit 2008 sammelt Boltanski in seinen Archives du coeur Tausende von individuellen Herzschlägen, die als tonale menschliche Lebenschiffren nach seiner Auskunft die fotografischen Portraits zusehends ablösen,89 zur unbefristeten Langzeitlagerung auf der japanischen Museumsinsel Teshima.90 In Wolfsburg begleiteten Boltanskis eigene Herzschläge seine Mutationen vom Kind zum alternden Mann in der Video-Bildmontage Entre temps als parallel laufender Soundtrack. In den seit 2007 bestehenden Japangarten des Kunstmuseums platzierte der Künstler anlässlich der Ausstellung zudem eine Gruppe zarter kleiner Glocken, die wie Blüten an filigranen Metallstäben baumelnd leise im Wind erklingen. Die Installation Die Stimmen der Seelen (2013)91 bezieht sich auf eine japanische Tradition, jene Glöckchen, deren körperlose Klänge die Geister beschwören und Wünsche in die Welt tragen sollen, zum Gedenken an die Verstorbenen aufzuhängen. In Boltanskis Videoarbeit Animitas (2014), Dokumentation einer Aktion des Künstlers in Chile, setzten japanische Windglöckchen ebenfalls klin87 88 89 90

91

Brüderlin, In Christian Boltanskis Ausstellung Bewegt geht es um Leben und Tod, in: Boltanski 2013, s. p. Boltanski im Gespräch mit Brüderlin, in ebd., s. p. Vgl. ebd. Auf der kleinen japanischen Insel Teshima wurde im Zuge einer Transformation der Nachbarinsel Naoshima zum Kunst-Ort, unter anderem Sitz des Chichu Art Museum, 2010 eine Dauerstätte für Boltanskis Herzton-Archiv eingerichtet. Die Art Site Naoshima (betrieben von dem Unternehmen Benesse Holdings und der Fukutake Foundation) entstand auf Initiative des japanischen Unternehmers und Sammlers Soichiro Fukutake und des ehemaligen Bürgermeisters von Naoshima, Chikatsugu Miyake. Boltanskis Archives de coeur umfassen einen Archivraum, in dem man Herztönen von Menschen aus aller Welt lauschen kann, einen »Herzraum«, in dem ein Licht synchron zum Rhythmus eines pochenden Herzens aufleuchtet und eine Tonaufnahmestation, wo Besucher ihren eigenen Herzschlag zur Archivierung aufnehmen lassen können. (Vgl. dazu: Information der Benesse Art Site Naoshima zu Les Archives de coeur unter: http://benesse-artsite.jp/en/art/ boltanski.html; http://benesse-artsite.jp/en/about/history.html, 16. Okt. 2016) Die Arbeit befindet sich seit der Ausstellung als dauerhafte Installation in der Sammlung des Kunstmuseums Wolfsburg.

271

15 |  GEGEN DAS VERSCHWINDEN

gende Zeichen für die Lebenden und die Toten. Der Titel der Arbeit bezieht sich auf die Gedenkkreuze für Verstorbene, die in manchen Teilen Chiles am Straßenrand stehen. In der Atacama Wüste an der chilenischen Pazifikküste arrangierte der Künstler mithilfe indigener Anwohner 850 Windglocken in einer Glückskonstellation, die zugleich der Sternenformation der südlichen Hemisphäre in der Nacht seiner Geburt entsprach. Boltanskis ephemere as­trale Glücksbotschaft erklang als »kleine Musik des Zufalls« in Okwui Enwezors Internationaler Ausstellung All the World’s Futures auf der 56. Venedig-Biennale 2015.92 Im Sinne einer persönlichen, optischen Horloge parlante hat der Künstler wiederum ein Zählwerk im Stil der Anzeigebänder der Venedig-Installation Last News from Humans konzipiert, das alle verfließenden Sekunden in seinem Leben verzeichnet: Die letzte Sekunde (2012) – ebenfalls Teil der Wolfsburger Schau 2013 – markiert wie ein invertierter Countdown die vergehende Lebenszeit des Künstlers im numerisch aufsteigenden digitalen Livestream bis zu dessen Tod. Die letzte Sekunde lässt auch an die programmatische Schreibzeit von Hanne Darboven oder an die Date Paintings von On Kawara denken, die auf unterschiedliche Weise Lebenszeit durchmessen. Insbesondere ruft sie die »Notation der fortlaufenden und verrinnenden Zeit«93 in dem existenziellen Zahlenwerk 1965/1 – ∞ des polnisch-französischen Künstlers Roman Opalka (1931–2011) ins Gedächtnis. Opalka malte von 1965 bis zu seinem Lebensende Tag für Tag unablässig mit weißer Schrift auf schrittweise immer heller werdendem grauem Grund großformatiger Bildtafeln fortlaufende Zahlen von 1 bis potentiell unendlich. Die Zahlenreihung endete mit seinem Tod. Die weißen Ziffern waren auf dem licht gewordenen Grund kaum noch erkennbar; das Lebensbild löste sich mit dem fortschreitenden Altern und Vergehen des Künstlers gleichsam auf.94 »Das Bewußtsein des Lebens ist die wesentliche Emotion«, so Opalka, »das

92

93

94

272

Vgl. Claire Staebler (CS), Christian Boltanski 010, in: All the World’s Futures. La Biennale di Venezia, 56th International Art Exhibition, Ausst.-Kat. (56. Venedig-Biennale: 2015), engl. Fassung, hrsg. v. Fondazione La Biennale di Venezia, Venedig 2015, S. 45 [Übers. d. Autorin]. Dieter Honisch, Roman Opalka. Text der Laudatio zur Verleihung des Kaiserrings an Roman Opalka in Goslar am 23. Oktober 1993, in: Roman Opalka. OPALKA 1965/1 – ∞, Ausst.-Kat. (Neue Nationalgalerie Berlin und Neuer Berliner Kunstverein: 1994), hrsg. v. Nationalgalerie Staatliche Museen zu Berlin – Preussischer Kulturbesitz, Berlin 1994, S. 9. Parallel zu den gemalten Bildern dokumentierte Opalka das eigene Altern täglich in fotografischen Selbstportraits, die er in immer gleicher Haltung frontal aufnahm.

C H R I S T I A N B O LT A N S K I S S P U R E N S I C H E R U N G Z W I S C H E N D E N Z E I T E N

Werk ist die Emotion dieses Wesentlichen. Kann man mehr ausdrücken als das Leben?«95 Auch wenn Boltanski in seinem Werk das Leben in erster Linie von dessen Ende her zu erforschen scheint: Seine ästhetische Strategie steht der Opalkas nicht eigentlich entgegen. Jedes Gesicht, jeder Herzschlag, jeder Glockenton, der flüchtig erklingt, weist nicht nur auf das unabdingbare Vergehen, sondern auch auf das Weitergehen, die Kontinuität des Lebens: »Unsere Gesichter und unser Geist sind ein Puzzle von Menschen, die vor uns gelebt haben und wir bekommen Wissen von ihnen«, so Boltanski. »Sie bleiben lebendig in uns.«96 In der Ära der digitalen Explosion der Bilder und der fotografischen (Selbst-)Portraits, die seit der ersten Dekade der 2000er Jahre mit sozialen Netzwerken wie Facebook97 massenhafte Verbreitung finden, ist deren Kapazität als Speicher von Erinnerung und als Beweis gewesenen Seins nicht mehr gewährleistet. In der »Zeit des Posthuma­ nismus«,98 die der Künstler mit dem 21. Jahrhundert gleichsetzt und gegen die er sich vehement auflehnt,99 findet das Verschwinden des Menschen bereits prämortal im virtuellen Dauerrauschen der Datenfluten statt, wo die Auslöschung von dessen Bildern durch ständige Überschreibung und Aktualisierung ohne Unterlass vonstatten geht. Aleida Assmann hat in diesem Zusammenhang Zygmunt Baumans Begriff einer »flüssigen Moderne, in der der Wunsch nach Stabilisierung und Gedächtnis ins Leere geht« aufgegriffen und die Arbeiten des Künstlers als »Monumente für die Furie des Verschwindens« bezeichnet, die ebendiese Krise durch das simultane Einklagen und Ausradieren von Erinnerung aufzeigen würden.100 Seine »Gewesenen«, die im Zustand des Nicht-Mehr seine Archive bevölkern, wirken trotz ihrer immanenten Dialektik, in der sich Beweis und Gegenbeweis der Endlichkeit menschlicher Existenz überschneiden, indes eigenartig resistent. Vor allem aber kommt in seinem ephemeren, von ZeitZit. nach einem einleitenden Statement von Roman Opalka, in: Opalka 1994, s. p. Boltanski im Gespräch mit Brüderlin in: Boltanski 2013, s. p. Das 2004 gegründete soziale Netzwerk Facebook, gefolgt von YouTube (2005) und Twitter (2006) ist seit Ende September 2006 »für alle User über 13 Jahren mit einer gültigen E-Mail-Adresse« verfügbar. Bereits 2012 hatte Facebook, laut FocusBericht, weltweit bereits 800 Millionen Mitglieder. Vgl. Claudia Frickel, Von den Anfängen bis zum Börsengang: Wie Facebook die Welt eroberte, Focus Online, 1. Februar 2012, unter: http://www.focus.de/digital/internet/facebook/tid-24930/diegeschichte-des-sozialen-netzwerks-facebooks-eroberung-der-welt_aid_708653. html (16. Okt. 2016). 98 Boltanski im Gespräch mit Beil in: Boltanski 2006, S. 71. 99 Vgl. ebd. 100 Assmann in: ebd., S. 97. 95 96 97

273

15 |  GEGEN DAS VERSCHWINDEN

lichkeit durchströmten Werk, wie Ralf Beil hervorgehoben hat, auch eine »Durchlässigkeit« zum Ausdruck, die im Sinne von »Riss, Spalt, Verletzung und Bruchstelle […] die Möglichkeit zu neuer Sichtbarkeit« eröffnet.101 Die Vanitasbilder und -klänge des Künstlers, der der Ansicht ist, »dass der einzig lohnende Kampf der Kampf gegen den Posthumanismus ist«,102 offenbaren sich in unserer Ära ständiger visueller Überschreibungen der Wirklichkeit als Vademekum gegen das restlose Verschwinden. Indem sie zwischen den Zeiten und über die zeitlichen (und auch örtlichen) Grenzen hinaus, die fragilen Spuren des Lebens hartnäckig, unablässig sichern, setzen sie dessen unerträgliche Leichtigkeit ebenso wie dessen Glücksmomente als einen kollektiven menschlichen Erfahrungsschatz frei und in Umlauf. Boltanskis LichtBilder und Nicht-Bilder ereignen sich bisweilen an der Grenze der Sichtbarkeit, doch zünden sie als verinnerlichte Wahrnehmungen nachhaltig in den Seelenräumen der Betrachter und Betrachterinnen. Dort beschwören sie nicht das endgültige Ende, sondern den immer wieder darauf folgenden Neubeginn und ein »intensiviertes Leben«,103 erwachsen aus dem Bewusstsein, das alles seine Zeit hat, aber nichts verloren geht. Die Kunst, hat Boltanski gesagt, sei »das einzige Mittel, gegen den Tod zu kämpfen«.104 Das andere ist das Leben selbst, denn: »Im Park wird es immer Liebende geben. Und das ist die einzige Hoffnung – dass wenn ein Leben abgeschlossen ist, es immer auch ein neues geben wird.«105

101 102 103 104 105

274

Beil in: ebd., S. 12. Boltanski im Gespräch mit Beil in: ebd., S. 71. Beil in: ebd., S. 12. Boltanski im Gespräch mit Drateln in: Boltanski 1991, S. 75. Boltanski im Gespräch mit der Autorin in: dies. 2000, S. 38.

16 | EPILOG

(Ver-)Rauschende Wirklichkeit The future will be like perfume. Brian Eno1

B

ereits 1992 diagnostizierte der New Yorker Schriftsteller Don DeLillo den »Beginn reiner Aura«2 als Effekt einer fortschreitenden Verflüchtigung der Wirklichkeit im Nonstop-Dröhnen der Werbeansagen und der Massenspektakel auf allen Sendekanälen. Seine Romane Weißes Rauschen (1987) und Mao II (1992) kreisen um die Ablösung der Wirklichkeit von der Geschichte und deren Usurpation durch die visuellen Medien: »Realität wird vorrangig von Bildern, Fotografien aufgezehrt. Was zurückbleibt, ist nur ein Eindruck aus zweiter Hand. Nur das Leuchten, das ein Gegenstand hinterlässt.«3 Zur gleichen Zeit avisierte der britische Pionier der Ambient Music Brian Eno eine künftige Wirklichkeit, so ephemer wie Parfüm: Große Konzepte (Freiheit, Wahrheit, Schönheit, Liebe, Realität, Kunst, Gott, Amerika, Sozialismus) beginnen, ihre Gewichtigkeit zu verlieren. Sie hören auf absolut und unanfechtbar zu sein und werden zu Begriffen für geistige Räume. Wir müssen sie immer wieder neu bewerten oder sie sogar völlig neu gestalten. […] Und ich liebe das: Ich liebe es zu beobachten, wie wir alle Amateur-Parfümeure werden und unsere 1

2

3

Titel eines Essays des Musikers, Komponisten, Multimediakünstlers und Produzenten Brian Eno (geb. 1948), der zuerst in Opal Information # 22, 1992, veröffentlicht wurde. (Siehe dazu: http://www.moredarkthanshark.org/feature_opal_info_221992.html#PERFUME, 18. Okt. 2016). Die Publikation begleitete die aktuellen Projekte von Eno und anderen Künstlern auf dessen Label Opal Music und erschien zwischen 1986 bis 1997 in unregelmäßigen Abständen. Der Essay ist zudem Enos CD Neroli Thinking Music Part IV (erweiterte Edition) von 2014 beigelegt, ErstRelease: 1993 bei All Saints. Des Weiteren ist so eine Ton-Licht-Installation von Eno benannt, die in der gleichnamigen Ausstellung 1993 im Rahmen der MEDIALE Hamburg – Festival für Medienkunst und Medienzukunft in der Hamburger Markthalle präsentiert wurde. Don DeLillo, zit. nach: Belinda Grace Gardner, Der Beginn reiner Aura. Ein Gespräch mit dem amerikanischen Autor Don DeLillo, in: Hamburger Rundschau, Nr. 47, 12. Nov. 1992, S. 12 [Übers. d. Autorin]. Ebd. Die Originalausgaben der beiden Romane sind 1984 (White Noise) und 1991 (Mao II) in New York erschienen.

275

16 |  EPILOG

wissbegierigen Finger in einen großen Topf von Zutaten stecken und schauen, welche Kombinationen für uns Sinn machen, Erfahrungen sammeln – die Möglichkeit haben, neue Vermutungen ohne Gewissheiten anzustellen. Vielleicht prädisponiert uns die Vorstellung, einer Welt anzugehören, die durch Netzwerke ephemerer Überzeugungen (wie Philosophien oder Aktienmärkte) anstatt durch feste Sicherheiten zusammengehalten wird, dafür, uns auf die Freuden unseres primitivsten und nonverbalsten Sinnesorgans einzulassen. Verwirrt zu sein macht uns nicht mehr soviel Angst wie früher. Und der Punkt für mich ist nun, nicht davon auszugehen, dass die Kunst der Parfümerie ihren Platz in einer netten, zuverlässigen, rationalen Weltordnung einnehmen wird, sondern dass alles andere so sein wird wie Parfüm.4

Enos Vision hat sich in unserer globalen Digitalkultur im Zuge einer Verflüchtigung der Realität in die »Augenblicklichkeit der interaktiven, kybernetischen Telekommunikation«5 zumindest auf der Ebene der visuellen, wenn nicht der olfaktorischen Sinneswahrnehmung erfüllt. Die bei Eno noch positiv besetzte Idee eines flexiblen Navigierens durch ständig neue Existenzoptionen hat sich dabei in das »megaloskopische Alles eines Übermaßes an Wirklichkeit« gesteigert, »in der der Totalitarismus nicht mehr nur strategisch und politisch ist, sondern plötzlich zu einer Schaulust wird, die das Bewusstsein des Subjekts im Namen eines Fortschritts der Information überwältigt […].«6 Die Auflösungs- und Ausfallerscheinungen des Blicks auf die Wirklichkeit durch die Beschleunigung der sie durchreisenden und durchrasenden Transportvehikel, die Paul Virilio in seiner Ästhetik des Verschwindens für das 19. und 20. Jahrhundert formulierte, haben sich im 21. Jahrhundert zu einem »neuen Begriff der Beschleunigung der Wirklichkeit, die ›an die Zeitmauer‹ stößt«,7 erweitert: »Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ziehen sich zum allgegenwärtigen Augenblick zusammen, so wie sich die Ausgedehntheit der Erde im Übermaß an Geschwindigkeit und

4

5 6 7

276

Brian Eno, Scents and Sensibility, in: Details Magazine, Juli 1992 (leicht gekürzte und veränderte Fassung von Enos Essay: The world will be like perfume, Opal Information # 22, 1992), unter: http://music.hyperreal.org/artists/brian_eno/interviews/ detail92.html (18. Okt. 2016). [Übers. d. Autorin]. Paul Virilio, Der Futurismus des Augenblicks [Futurisme de l’instant. Stop-Eject, Paris 2009], hrsg.v. Peter Engelmann, Wien 2010, S. 55. Ebd., S. 62 [Herv. im Orig.]. Ebd., S. 57.

(VER-)RAUSCHENDE WIRKLICHKEIT

ständiger Beschleunigung unserer Fortbewegung und Telekommunikation zusammenzieht.«8 Die Dominanz der Virtualität über die Aktualität durch eine »Logik des Bildes in Echtzeit«,9 wo der »Stereo-Realismus«10 der televisionären Parallelwelten und telekommunikativen Interaktionen mittels der »Tele-Präsenz des Objekts oder des Wesens aus der Entfernung« deren »Existenz selbst, hier und jetzt« substituiert hat,11 ist einer Zeitlosigkeit gewichen, »einer Zeit ohne Zukunft und ohne Vergangenheit«.12 Die »›hohe Auflösung‹«13 der Wirklichkeit durch deren Verdopplung in der Virtualisierung erreicht in der »audiovisuellen Augenblicklichkeit«14 der heutigen digitalen Ära den Verflüchtigungsgrad einer fast vollständigen gegenseitigen Durchwirkung der Realität und der sie vermittelnden und aus ihr hervorgebrachten Bilder. In dieser gleichermaßen visuell und existenziell prekären Lage, in der Fortschritt nurmehr als »eine Art endloses ›Reise nach Jerusalem-Spiel‹« wahrgenommen wird, »bei dem ein Augenblick der Unaufmerksamkeit zum unumkehrbaren Ausscheiden, zur unwiderruflichen Exklusion führt«,15 verabschiedet sich die (inner-)räumliche Gebundenheit an die physisch verankerte Präsenz individueller Imagination in die Omnipräsenz eines frei flottierenden kollektiven Bildersharings im Nicht-Raum der Social Networks: Der Unterschied zum Bildangebot der alten Medien besteht vor allem in der Erfahrung, in einer imaginären Welt nicht allein zu sein, sondern auf Mitreisende der Imagination zu stoßen. Wenn auch die anderen nicht dort sind, wo sie am häuslichen Computer sitzen, so befinden sich alle an einem gemeinsamem Nirgendwo, dessen Gemeinsamkeit umso mehr die Illusion von Realität erzeugt, als sie im sozialen Alltag nicht mehr in gleichem Maße erfahren werden kann. Die Kommunikation als gemeinschaftlicher Akt ist wichtiger als ihre Inhalte, denn sie erzeugt den Eindruck, eine soziale Existenz zu erwerben, die nicht 8 9 10 11 12 13 14 15

Ebd., S. 55f. [Herv. im Orig.]. Virilio 1989, S. 144. Virilio 2010, S. 62. Vgl. Virilio 1989, S. 145. Virilio 2010, S. 66f. Virilio 1989, S. 145. Virilio 2010, S. 62. Zygmunt Bauman, Flüchtige Zeiten. Leben in der Ungewissheit [Orig.: Modus vivendi. Inferno e utopia del mondo liquido, Rom/Bari 2007], Hamburg 2008, S. 20.

277

16 |  EPILOG

mehr an physische Orte gebunden ist. Aber diese Existenz ist eine imaginäre Existenz, denn sie ist nur im Bild möglich.16

Diese immaterielle Existenzform im Bild, die an die Stelle der Gegenüberstellung von Bild und Wirklichkeit, Bild und Körper sowie – womöglich der entscheidendste Transfer – von Körpern im Realraum getreten ist, entspringt der scheinbaren Übereinstimmung zwischen der Realität und ihrer Simulation, zwischen »factum und fictum«.17 Vilém Flussers Paradigma, dass die Welt dem Menschen zwar erst durch die Bilder, die er sich von ihr macht, vorstellbar werde, ebenjene vermittelnden Bilder die Welt jedoch mittlerweile »verstellen« würden, spitzt sich in der Verwischung der Grenzen zwischen Welt und Mensch, Körper und Bild zu. Die progressive Umstrukturierung der Realität (beziehungsweise ihrer Konstruktionen) durch die »allgegenwärtigen technischen Bilder« hat die ursprüngliche Funktion der Bilder verkehrt und ein »globales Bildszenarium« geschaffen – laut Flusser Ergebnis einer umfassenden Amnesie, die den Menschen hat vergessen lassen, »daß er es war, der die Bilder erzeugte, um sich an ihnen in der Welt zu orientieren«.18 Im globalen Bildszenarium, jenem ortlosen kollektiven »Nirgendwo« – einer Art Foucault’scher Mega-Heterotopie, in der die individuellen Bildbeweise unentwegt »geteilt«, in Umlauf gebracht und durch ständige Aktualisierung überschrieben und ausgelöscht werden – entschwindet die Chronologie der Ereignisse in eine »zeitliche Gegenwart ohne messbare Dauer«,19 und Erinnerung verliert sich im digitalen Palimpsest des unentwegten Stroms sich überlagernder Bilder. Das Paradox der »Weltsynchron­ge­sell­ schaft«20 besteht in der simultanen Erfassung und Überblendung unzähliger Datenmengen, die aufgrund der potentiell unendlichen Speichermöglichkeiten im Kosmos der Clouds für unvergesslich gehalten werden, während die damit verbundenen, physisch nicht mehr manifest werdenden Informationen aus dem Sinn geraten. »Wenn aber Geschichte zunehmend dem Bann des Vergessens verfällt und das Techno-Imaginäre universale Registratur

16 17 18 19 20

278

Belting 2011, S. 85. Boehm 2006, S. 35. Flusser 1994, S. 9f. Virilio 2010, S. 56. Hans Ulrich Reck, Transitorische Turbulenzen – Konstruktionen des Erinnerns, in: Kai-Uwe Hemken (Hrsg.), Gedächtnisbilder. Vergessen und Erinnern in der Gegenwartskunst, Leipzig 1996, S. 77.

(VER-)RAUSCHENDE WIRKLICHKEIT

verspricht, dann gerät mit unserem Bewußtsein auch unsere ganze Kultur ins Taumeln,« so Hans Ulrich Reck: Gerade durch Registratur schlägt Erinnern in Vergessen um und wird transitorisch. Umgekehrt kann Erinnerung nur der Transition des blinden in eine Kultur des erinnernden Vergessens wieder entspringen. Was bleibt, sind Gesten, rituelle Passagen, Übergänge: transitorische Turbulenzen. […] ›Transitorische Turbulenzen‹ markiert einen für die Technisierung der Kultur maßgeblichen Zwischenzustand, der die Konfigurationen des Erinnerns als ebenso instabil erscheinen läßt wie andere wesentliche anthropologische Konstanten, die unter den exponential gesteigerten Temporalisierungsdruck der Gegenwart geraten sind.21

Die »Vorherrschaft der Gegenwart über die übrige Zeit« zwingt alle Erinnerungshandlungen »in ein Jetzt, dem nicht allein Zukunften, sondern auch Traditionen als Selbstbezüge seiner unzähmbar springenden, insofern nach-linearen, nämlich punktuellen Zeitform eignen«.22 Im sprunghaften, transitorisch-turbulenten »Jetzt« der digitalen Ära ist Zeit unlinear und vom Körper abgelöst. Die Vergangenheit verflüchtigt sich im Meer der Information,23 und die Zukunft wird noch vor ihrem Eintreffen von der Gegenwart verschluckt. Jean Baudrillards Vision einer »in Tausende von Fragmenten« zerborstenen Transzendenz, deren Einzelteile »wie Bruchstücke eines Spiegels sind, in denen wir flüchtig noch unser Spiegelbild greifen können, bevor es vollends verschwindet«, und wo »in jeder einzelnen Scherbe das gesamte Universum enthalten« ist, ist von der »Zersplitterung ins Identische«, die das »fraktale Subjekt« in der »Videowelt« erfasste,24 im digitalen Overflow der Bilder heute zu einer Zerstreuung ins Diffuse explodiert. Die Transzendenz hat sich dabei von der selbstreferenziellen Endlosschlaufe in eine uferlose Referenzlosigkeit verflüchtigt. Im (Ver-)Rauschen heutiger Wirklichkeitserfahrung ruft das Transitorische als bewegliches Lebensprinzip neue Bildfindungsstrategien auf den Plan.

21 22 23 24

Ebd., S. 66f. Ebd., S. 75. Vgl. Douglas Rushkoff, Present Shock. When Everything Happens Now, New York 2013, S. 85. Jean Baudrillard, Videowelt und fraktales Subjekt [gehalten als Vortrag auf dem Symposion Philosophien der neuen Technologie, Linz, Sept. 1988, als Publikation, Berlin 1989], in: Barck u. a. 1990, S. 252.

279

77  Meret Oppenheim, Grüner Spiegel vor Wüste, Feb. 1978, Ölkreide, 48 x 63 cm

78  Meret Oppenheim, Neue Sterne, Sept. 1977, Öl auf Holz, 32,5 x 37,5 cm

79  Christian Boltanski, Geist(er), 2013, Installationsansicht der Ausstellung »Christian

Boltanski – Bewegt« im Kunstmuseum Wolfsburg, bedruckte Textiltücher, Transportsystem, Ventilatoren, 16 x 40 x 40 m

16 |  EPILOG

»Bilder sind Versuche, etwas festzuhalten, Zeit anzuhalten und die Dinge der Erinnerung anzubieten«, befindet Martina Sitt in ihrer Betrachtung über »Zeit im Bild« und die Verbindungslinien zwischen barocken und zeitgenössischen Stillleben: »Dabei sind auch in den festgehaltenen Augenblicken viele Bewegungsspuren enthalten, die in den Stillleben der Moderne oft statt zur scharfen Konturierung zur Flüchtigkeit und Unschärfe, zum Eindruck des Verwischens führen.«25 Im aktuellen künstlerischen Vorstellungsfeld des Flüchtigen halten sich die Sedimente barocker Bildlichkeit ebenso wie die Licht- und Schattenspiele des Ungreifbaren, die, aus Platons Höhle entwichen, in den Beschleunigungen der Moderne neue, realitätsdefinierende und -genierende Form fanden und im digitalen Zeitalter ihrer gänzlichen Verpuffung zustreben. Die hier versammelten Künstlerinnen und Künstler begegnen in ihren Bild- und Gestaltgebungen des Transitorischen den Instabilitäten, Auflösungserscheinungen und Erinnerungsverlusten der Gegenwart mit der Dialektik ineinander greifender, sich gegenseitig aufladender Stabilisierungs- und Destabilisierungsbewegungen. Die »transitorische Turbulenz«, in der sich laut Reck ein »Spielraum des für menschliche Selbstsetzung einzig noch Verfügbaren, des Minimalen und Hinübergehenden, des Sich-Entziehenden«26 eröffnet, wird zur Triebkraft der Produktivmachung des Vergänglichen und seiner Verwischungen und Unklarheiten. Entschleunigung, Substanzialisierung des Insubstanziellen und die Überwindung temporaler, räumlicher und geistiger Grenzen kontern sowohl den »rasenden Stillstand«27 der Hochgeschwindigkeit unserer Jetzt-Zeit als auch den ultimativen Stillstand menschlicher Endlichkeit. Im Sinne dessen, was Wolfgang Welsch als »mediale Untangierbarkeit, eine Souveränität und Eigenwilligkeit« gegenüber einer »medial bestimmten Welt und ihrer Turbulenzen«28 bezeichnet hat, bewahren die Künstlerinnen und Künstler dieser Zusammenschau eine widerständige »Leiblichkeit«29 im weltweiten Netzwerk des Ephemeren. Sie behaupten sich gegen das Auf- oder Eingehen im visuellen Überfluss, der im »Zeitalter des Bildes«30 auf den Blick einstürmt, durch die Aushebelungsmanöver des Querdenkeri25 26 27

28 29 30

282

Sitt in: dies.; Gaßner 2008, S. 46. Reck in: Hemken 1996, S. 70. Paul Virilios Essay Rasender Stillstand [Orig.: L’Inertie polaire, Paris 1990], München u. a. 1992, führt Gedanken weiter, die bereits in der Ästhetik des Verschwindens zur Sprache kommen, (vgl. Virilio 1986, S. 120f.). Welsch 1996, S. 320, 321. Ebd., S. 319. Boehm 2006, S. 35.

(VER-)RAUSCHENDE WIRKLICHKEIT

schen, Magischen, Surrealen, Prozesshaften und Unfertigen, aber auch durch ebenjene Gestaltgebung und Manifestation transitorischer Erscheinungen im – brüchigen, versehrten, anfälligen, fragilen – körperlichen Raum ihrer Kunst. Ein Grundmotiv, das sich durch die verschiedenen Ansätze hindurchzieht, ist die Fragmentierung des Blicks, der Wahrnehmung, des Bildes der Realität selbst, die sich in immanent bruchstückhaften Erzählund Darstellungsweisen zeigt. Das Prinzip des Pars pro toto ist eine Begleitfigur der Bildkonstitution des Transitorischen und entspricht den Zersplitterungen der zunehmend ungreifbarer werdenden, im virtuellen Spiegelkabinett der Endlosreflexionen gefangenen Wirklichkeit unserer Zeit. Die mittels dieser Bildkonstitution artikulierten Facetten einer »Ästhetik des Ephemeren« manifestieren sich dabei wesentlich in geistigen, physischen, überzeitlichen, überräumlichen, transmedialen und transbildlichen Modellen der Transzendenz, die sich der Verflüchtigung entgegenstellen oder aber diese zu einem lebensvollen, Bild und Sinn stiftenden Prinzip umdeuten. Die zukunftsweisende, grenzüberschreitende, prozessuale Einbindung des Prekären, Diffusen, Baufälligen, Labilen und Instabilen in Kreisläufe der Natur, der kollektiven Distribution, der Family of Man, den Sphären der Emotionen, Phantasien und der Erinnerung sind solche Entwürfe diesseitiger Transzendenz. Sie konterkarieren quasi von innen heraus, binnenstrukturell, die ephemere Verfassung unserer Zeit, unseres physischen und geistigen Daseins in der Welt mit den ästhetischen Mitteln des Transitorischen. Die grenzenlose, sich teils bis zur Unsichtbarkeit auflösende, weitgehend diskrete, feinstoffliche und unterschwellige Bildlichkeit des Transitorischen fordert eine intensivierte Wahrnehmungsleistung, einen erhöhten »Anteil des Beschauers«31 in der projektiven, imaginativen und teils auch – wie in den interaktiven Arbeiten von Felix Gonzalez-Torres – konkret partizipatorischen Verfasstheit des ephemeren ästhetischen Gebildes/Erlebnisses. Dabei 31

Ernst H. Gombrich, Maske und Gesicht. Die Wahrnehmung physiognomischer Ähnlichkeit im Leben und in der Kunst, in: ders. u. a., Kunst, Wahrnehmung, Wirklichkeit [Orig.: Art, Perception, and Reality, Baltimore/London 1972], Frankfurt/Main 1977, S. 29. Gombrich prägte in seinem klassischen Werk Art and Illusion. A Study in the Psychology of Pictorial Representation, London/New York, 2010 [1960, 6. Aufl. mit neuem Vorwort 2002] den Begriff der Teilhabe des Betrachters, der Betrachterin an der Konstituierung des Bildgehalts als »the beholder’s share« (vgl. dazu ebd.: Part Three: The Beholder’s Share, S. 154-244, und mit Blick auf das Ephemere insbesondere S. 169). Gombrich stellt in diesem Zusammenhang fest, dass die ›gelenkte Projektion‹ der künstlerischen Komposition angesichts des ›Mosaiks der Pinselstriche‹ der impressionistischen Malerei, die keine feste ›Verankerung‹ mehr auf der Leinwand habe und in der das Bild (»image«) nur noch im Raum der Gedanken heraufbeschworen werde (»[…] it is only ›conjured up‹ in our minds.«) einen Höhepunkt erreiche.

283

16 |  EPILOG

wirken die vereinten künstlerischen Manifestationen des Ephemeren ihrerseits als Reflexionsflächen, in denen sich die Betrachter und Betrachterinnen in ihrer existenziellen Wirklichkeit, ihrer ganzheitlich verbundenen Erdenschwere, ihrem Hier-Sein erkennen können. Anders als die weichzeichnerischen »elektronischen Spiegel« der digitalen Medien, die »uns künstliche Körper, die nicht sterben können«,32 vorführen, machen die organischen, idiosynkratischen, widerspenstigen Bilder der Kunst das menschliche Leben in seiner komplexen Fülle, seiner Präsenz, seiner Vergänglichkeit und seiner darüber hinausweisenden Dauer greifbar. Wie George Kubler hervorgehoben hat, fungiert das Kunstwerk, insofern es nicht lediglich »das Residuum eines Ereignisses, sondern sein eigenes Signal« sei, als greifbarer Auslöser von Fortsetzungen und Neuschreibungen in der historischen Ereignisabfolge, was die bildende Kunst prinzipiell von der textlichen Geschichtsschreibung unterscheide, die sich indirekt auf unwiederbringlich vergangene Geschehnisse bezieht.33 Der Kunst ist demnach eine progressive, transformative, sich selbst erneuernde Dynamik eigen, die über die Zeiten hinweg im Fluss bleibt und weiterwirkt. Entgegen den Auflösungserscheinungen der »Differenz zwischen Bild und Realität« durch die, wie Gottfried Boehm gezeigt hat, die eigentlich bilderfeindliche Medienindustrie »die Grenzen der eigenen Bildlichkeit zu verschleiern« sucht,34 begeben sich die zwischen Materialisierung und Immaterialisierung oszillierenden Ansätze der vorliegenden Betrachtung hinter die Verschleierungen, die sich als mediale Camouflage über die greifbare Welt gelegt haben. Ihre transzendente Leistung – und das gilt gleichermaßen für Meret Oppenheims Wolkenformationen, die Zeitfallen von Daniel Spoerri, Maria Fisahns Vitalisierungen des Verfalls, Marilyn Minters Störbilder des Glamours, Catherine Bolducs Luftschlösser der Wahrnehmung, Naho Kawabes existenzielle Licht- und Schattenspiele, Ena Swanseas Malerei einer ungreifbaren Wirklichkeit, Lorenz Estermanns nomadisierende Bauten zwischen Aufbruch und Verfall, Mirko Reissers Selbstportraits im Wandel, Volker Langs Erinnerungsräume, Luis Camnitzers evokative narrative Bruchstücke, Teresa Margolles’ Elegien des ver32 33 34

284

Belting 2011, S. 23. Vgl. George Kubler, The Shape of Time. Remarks on the History of Things, New Haven/ London 1962, S. 21 [Übers. d. Autorin]. Boehm 2006, S. 35. Hier kristallisiert sich auch Boehms Definition der »ikonischen Differenz«, nach der ein »starkes Bild […] aus eben dieser doppelten Wahrheit« lebe, »etwas zu zeigen, auch etwas vorzutäuschen und zugleich die Kriterien und Prämissen dieser Erfahrung zu demonstrieren«.

(VER-)RAUSCHENDE WIRKLICHKEIT

gangenen Daseins, Felix Gonzalez-Torres’ Memento mori der Liebe und die Lebensspurensicherung Christian Boltanskis – besteht nicht zuletzt in der Überwindung der Sicherheitsabstände zwischen greifbarer und bildlicher Welterfahrung und einer Reaktivierung des »lebenden« Körpers als »Ort der Bilder«:35 »Mit Bildern wehren wir uns gegen die Flucht der Zeit und den Verlust des Raumes, den wir in unseren Körpern erleiden.« 36 Auch wenn die Wirklichkeiten zunehmend ineinanderfließen und selbst die End­lichkeit im unendlichen Welt-Raum der digitalen Zeichen und einer fortschreitend »,posthumanen’ Existenz«37 obsolet zu werden scheint, so erinnern die kontemporären Vanitasbilder daran, dass das Leben weitaus substanzreicher und unmittelbarer ist als ein »Eindruck aus zweiter Hand«, eine Leuchtspur des sich verflüchtigten Wesens der Dinge und der Welt. Indem sie Blick und Aufmerksamkeit des Betrachters, der Betrachterin »auf das je Gegenwärtige« bündeln, setzen sie – zumindest für den Moment – die Vergänglichkeit und Rasanz unseres Seins durch das »Glück des Verweilens« als vorübergehende, zwischen Möglichkeit und Unmöglichkeit changierende »Freiheit von Zeit« außer Kraft.38 »Inmitten der Turbulenzen einer elektronisch sich potenzierenden Welt wird uns die Einmaligkeit einer unwiederholbaren Stunde oder Begegnung neu wichtig – oder die Trägheit und das Glück einer ruhenden Hand oder eines Augenpaares.«39 Mögen diese unmittelbaren physischen Berührungen mit der Realität, der Zeit, dem Gegenüber auch »von den Erfahrungen der Medienwelt gefärbt sein«, so bleiben diese »in ihrem Inneren und ihrer Intensität« davon unbetroffen. »Ähnlich vielleicht, wie es auch Glück zwar nur auf dem Boden der Vergänglichkeit gibt – wie deswegen aber doch das Vergehen nicht die Essenz, sondern allenfalls das Schicksal des Glücks ist.« 40 In der künstlerischen Gestaltung, Durchmessung, Wendung und Vitalisierung des Transitorischen zeigt sich auch dies: dass sich das Glück in der Zeit auszudehnen vermag, dass die Gedanken weitergedacht werden und hier und »auf andern Sternen weiterleben«, 41 35 36 37 38

39 40 41

Belting 2011, S. 83 [Herv. im Orig.]. Ebd., S. 65. Reck in: Hemken 1996, S. 79. Vgl. Michael Theunissen, Freiheit von der Zeit, Ästhetisches Anschauen als Verweilen, in: Wieland Schmied (Hrsg.), GegenwartEwigkeit. Spuren des Transzendenten in der Kunst unserer Zeit, Ausst.-Kat. (Martin-Gropius-Bau Berlin: 1990), Stuttgart 1990, S. 38f. Welsch 1996, S. 320. Ebd., S. 321. Oppenheim in: Meyer-Thoss 2002, S. 85.

285

16 |  EPILOG

dass aus jedem Scheitern wieder neue Handlung erwächst und dass auch morgen wieder Liebende im Park spazieren gehen werden, während das Leben seine großen, weiten Kreise zieht.

286

BIBLIOGRAFIE

Andersen, Hans Christian, Schattenspiel. Schatten und Licht in der zeitgenössischen Kunst. Eine Hommage an Hans Christian Andersen, Ausst.-Kat., dt./engl./dän. (Kunsthallen Brandts Klædefabrik Odense; Kunsthalle zu Kiel; Landesgalerie am Ober­ österreichischen Landesmuseum Linz: 2005–2006), hrsg. v. Kunsthallen Brandts Klædefabrik, Heidelberg 2005. Ariès, Philippe, Geschichte des Todes, München 2005 [1982]. Arp, Hans, Die Natur der Dinge, Ausst.-Kat. (Arp Museum Bahnhof Rolandseck: 2007/2008), hrsg. v. Klaus Gallwitz, Düsseldorf 2007. Art and Feminism, hrsg. v. Helena Reckitt, mit einem einführenden Essay von Peggy Phelan, Berlin 2001. Assheuer, Thomas, Alles ist nichts. Warum Becketts Horrorvision von der verwalteten Welt heute niemanden mehr schreckt, in: DIE ZEIT, Nr. 16, 12. April 2006, unter: http://www.zeit.de/2006/16/berholt (5. Okt. 2016). Assmann, Aleida, Die Furie des Verschwindens. Christian Boltanskis Archive des Vergessens, in: Boltanski 2006, S. 89–97. Ault, Julie, Chronologie, in: Gonzalez-Torres 2006, S. 181–189. Barck, Karlheinz (Hrsg.): Surrealismus in Paris 1919–1939. Ein Lesebuch, mit einem Essay v. Karlheinz Barck, Leipzig 1990. Barck, Karlheinz; Gente, Peter; Paris, Heidi; Richter, Stefan (Hrsg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1992. Barthes, Roland, Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, Frankfurt/Main 1989. Barthes, Roland, Mythen des Alltags, Frankfurt/Main 1964. Bataille, Georges, Die Welt, in der wir sterben, in: ders., Henker und Opfer, Berlin 2008, S. 25– 42. Battistini, Matilde, Symbole und Allegorien, Bildlexikon der Kunst, Bd. 3, hrsg. v. Stefano Zuffi, Berlin 2003. Baudelaire, Charles, Der Maler des modernen Lebens, in: Aufsätze zur Literatur und Kunst 1857–1860, Bd. 5, in: Sämtliche Werke/Briefe in acht Bänden, hrsg. v. Friedhelm Kemp und Claude Pichois, München 1989. Baudrillard, Jean, Videowelt und fraktales Subjekt [gehalten als Vortrag auf dem Symposion Philosophien der neuen Technologie, Linz, Sept. 1988, als Publikation, Berlin 1989], in: Barck u.a. 1992 [1990], S. 252–264. Baudrillard, Jean, Kool Killer oder der Aufstand der Zeichen, in: Barck, u.a. 1992, S. 214– 228. Bauman, Zygmunt, Flüchtige Zeiten. Leben in der Ungewissheit, Hamburg 2008 Baur, Simon, Leerschläge zwischen den Worten. Lorenz Estermanns Modellbegriff, in: Estermann 2008, S. 7–12. Beil, Ralf, »Das Leben ist ein kurzer schwarzer Strich«. Ein Gespräch mit Christian Boltanski, in: Boltanski 2006, S. 47–80. Beil, Ralf, Chronos trifft Thanatos. Einführung und Dank, in: Boltanski 2006, S. 9–15.

289

BIBLIOGRAFIE

Belting, Hans, Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2011 [2001]. Benjamin, Walter, Das Kunstwerk in Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit [1939], Frankfurt/Main 2012 [2007]. Benjamin, Walter, Optiker, in: ders., Einbahnstraße, Frankfurt/Main 1962 [1928]. Benjamin, Walter, Einbahnstraße, Frankfurt/Main 1962 [1928]. Berg, Stephan (Hrsg.), Archisculptures. Über die Beziehungen zwischen Architektur, Skulptur und Modell, Ausst.-Kat. (Kunstverein Hannover: 2001/2002), Hannover 2001. Berg, Stephan, Vorwort, in: Berg 2001, S. 2–3. Berg, Stephan, Architektur als Denkmodell, in: Berg 2001, S. 4–11. Berswordt-Wallrabe, Kornelia von (Hrsg.), Stillleben des Goldenen Zeitalters. Die Schweriner Sammlung, Ausst.-Kat. (Staatliches Museum Schwerin: 2000), Hamburg 2000. Berswordt-Wallrabe, Kornelia von, Vanitas oder die Immanenz des Faktischen, in: dies. 2000, S. 8–9. Biesenbach, Klaus (Hrsg.): Mexico City: An Exhibition about the Exchange Rates of Bodies and Values. A thematic exhibition of international artists based in Mexico City, Ausst.-Kat. engl./dt./span. (P.S.1 Contemporary Art Center, New York; Kunst-Werke Berlin: 2002/2003; Museu de Arte Carillo Gil Mexico City: 2003), New York 2002. Biesenbach, Klaus, Mexico City: Eine Ausstellung über die Wechselkurse von Körpern und Werten, in: ders. 2002, S. 145–153. Birkholz, Holger, Matte Spiegel – Über Ena Swansea, in: Checkpoint, Nr. 6, September–Dezember, hrsg. v. Arndt & Partner, Berlin 2008, S. 50–57. Blouin, Marcel, Preface, in: Bolduc 2012, S. 25–27. Bode, Peter M., Bau mit zwei Gesichtern: vom »Tempel« der Kunst zum lebendigen Ausstellungsforum, in: Gardner 2000, S. 14–25. Boehm, Gottfried, Die Wiederkehr der Bilder, in: ders. (Hrsg.), Was ist ein Bild?, München 2006 [1994], S. 29–36. Bolduc, Catherine, Artist Statement, unter: http://www.catherinebolduc.com/english.html (12. Okt. 2016). Bolduc, Catherine, Mes châteaux d’air et autres fabulations / My Air Castles and Other Fabulations 1996 – 2012, Ausst.-Kat., franz./engl., konzipiert als 3. Part einer Ausstellung mit zwei Stationen (EXPRESSION, Centre d’exposition de Saint-Hyacinthe; La Salle Alfred-Pellan de la Maison des arts de Laval Québec, Kanada: 2009/2010), hrsg. v. Geneviève Goyer-Ouimette, EXPRESSION, Saint-Hyacinthe / Maison des arts de Laval, Saint-Hyacinthe 2012, Quebec 2012. Bolduc, Catherine, The Story of a Non-Existent Work, in: Bolduc 2012, S. 37–41. Boltanski, Christian, Bewegt, Ausst.-Zeitung/Museumsbeilage, Kunstmuseum Wolfsburg, hrsg. v. Kunstmuseum Wolfsburg, Braunschweig 2013. Boltanski, Christian, Zeit, Ausst.-Kat. (Institut Mathildenhöhe Darmstadt: 2006/2007), hrsg. von Ralf Beil, Ostfildern 2006. Boltanski, Christian; agnès b.; Obrist, Hans-Ulrich, Point d’Ironie (1999ff.), unter: http://www.pointdironie.com/origine_en.html; http://searchworks.stanford.edu/view/9178419 und http://www.worldcat.org/title/point-dironie/oclc/173697745 (16. Okt. 2016). Boltanski, Christian, Edition No. 46, Magazin der Süddeutschen Zeitung, No. 46, 14.11.1997.

290

Boltanski, Christian, Inventar, Ausst.-Kat. (Hamburger Kunsthalle: 1991), hrsg. v. Uwe M. Schneede, Hamburg 1991. Borges, Jorge Luis: Spiegel und Maske. Erzählungen 1970–1983, hrsg. v. Gisbert Haefs, Fritz Arnold, Frankfurt/Main 1993. Bredekamp, Horst, Bilder bewegen. Von der Kunstkammer zum Endspiel, Aufsätze und Reden, hrsg. v. Jörg Probst, Berlin 2007. Bredekamp, Horst, Die Stabilität des Instabilen in der Hypnerotomachia Poliphili (2001), in: ders. 2007, S. 23–41. Bredekamp, Horst: Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte, Berlin 1993. Bredekamp, Horst, Die Kunstkammer als Ort spielerischen Austauschs (1993), in: ders. 2007, S. 121–135. Bredekamp, Horst, Der Mensch als ›zweiter Gott‹ (1992), in: ders. 2007, S. 106–120. Breitwieser, Sabine (Hrsg.): vivências / Lebenserfahrung / life experience, Ausst.-Kat. (Generali Foundation Wien: 2000), Wien 2000. Brodersen, Waltraud, Naho Kawabe – Grenzen, Wege und Wasser, in: Kawabe 2013, S. 47–53. Brüderlin, Markus: »Dich zu verleugnen, das ist das große Verbrechen« – Ein Interview mit Christian Boltanski von Markus Brüderlin [geführt am 29. Februar, 2013, in Paris], in: Boltanski 2013, s. p. Brüderlin, Markus, In Christian Boltanskis Ausstellung Bewegt geht es um Leben und Tod, in: Boltanski 2013, s. p. Brüderlin, Markus, 8. Minimal Architecture und die Liebe zur Box 1970–2000, in: ArchiSkulptur. Dialoge zwischen Architektur und Plastik vom 18. Jahrhundert bis heute, Ausst.-Kat. (Fondation Beyeler Riehen/Basel: 2004/2005; Kunstmuseum Wolfsburg: 2006), hrsg. v. dems., Ostfildern-Ruit 2004, S. 166–177. Brugger, Ingried, Das Unsichtbare im Werk von Meret Oppenheim, in: Oppenheim 2013a, S. 150–151. Buchhart, Dieter, Lorenz Estermann – Die Erweiterung des Malerischen im Spiegel utopischer Architektur, in: EIKON – Internationale Zeitschrift für Photographie und Medienkunst, Ausg. 68, dt./engl., hrsg. v. Österreichisches Institut für Photographie und Medienkunst – EIKON, Wien 2009, S. 20–25. Burgbacher-Krupka, Ingrid, Konstruiert literarisch musikalisch. Zum Schreibsystem, in: Darboven 1999, S. 101–105. Brunnschweiler, Heidi, Christian Boltanski und die Shoah. Im langen Schatten des Bösen, München 2014. Burton, Johanna, Hard-Soft Core: The Work of Marilyn Minter, in: Minter 2010, S. 59–74. Busche, Ernst A., Hanne Darboven – Themen und Struktur der »Schreibzeit«, in: Darboven 1999, S. 146–156. Buschmann, Renate, Evokationen von Genuss und Ekel. Daniel Spoerri und die Etablierung der Eat Art, in: Eating the Universe – Vom Essen in der Kunst, Ausst.-Kat., dt./ engl. (Kunsthalle Düsseldorf, u.a.: 2009/2010), hrsg. v. Kunsthalle Düsseldorf; Galerie im Taxispalais Innsbruck; Kunstmuseum Stuttgart, Köln 2009, S. 43ff. Camnitzer, Luis, The Mediocrity of Beauty, Ausst.-Kat engl./span. (Alexander Gray Gallery New York: 2015), hrsg. v. Alexander Gray Associates, New York 2015, unter:

291

BIBLIOGRAFIE

http://prod-images.exhibit-e.com/www_alexandergray_com/Camnitzer_Exhibition_Catalogue_2015.pdf (16. Okt. 2016). Camnitzer, Luis, The Mediocrity of Beauty, in: Camnitzer 2015, S. 4–47. Camnitzer, Luis, Pressetext zur Ausstellung: Luis Camnitzer: The Mediocrity of Beauty (Alexander Gray Associates, New York, 19. Feb. bis 28. März, 2015), unter: http:// www.alexandergray.com/exhibitions/2015-02-19_luis-camnitzer/ (16. Okt. 2016). Camnitzer, Luis, Ausst.-Kat., engl./span. (Daros Museum Zürich; El Museo del Barrio New York: 2010/2011), hrsg. v. Daros Latinamerica AG, Hans-Michael Herzog; Katrin Steffen, Ostfildern 2010. Camnitzer, Luis, Wonder Bread und Spanglische Kunst, in: vivências / Lebenserfahrung / life experience (1977), Ausst.-Kat., dt./engl. (Generali Foundation Wien 2000), hrsg. v. Sabine Breitwieser, Wien 2000, S. 106–119. Camnitzer, Luis, Retrospective Exhibition 1966–1990, Ausst.-Kat. (Lehmann College Art Gallery, Bronx, New York, mit weiteren Stationen, u. a. in Cleveland, Ohio, Montevideo, Uruguay, und Florenz: 1991/1992), New York 1991. Camnitzer, Luis, Uruguay, Ausst.-Kat., engl./span. (28. Biennale Venedig, Länderpavillon Uruguay: 1988), hrsg. v. Angel Kalenberg, Museo Nacional de Artes Visuales, Montevideo, Montevideo 1988. Camus, Albert, Der Mythos des Sisyphos, Reinbek bei Hamburg 2012 [2000]. Clauß, Ingo, Der Lärm der Straße dringt ins Haus. Urban Art im Museum, in: Urban Art. Werke aus der Sammlung Reinking, Ausst.-Kat. (Weserburg I Museum für moderne Kunst Bremen: 2009), hrsg. v. Ingo Clauß, Ostfildern 2009, S. 10–20. Conrad, Dennis; Paul Klee. Herbarium, zwischen 1920 und 1930, in: Schulze 2006, S. 342–343. Coppi, Hans (Hrsg.), Die Rote Kapelle im Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Berlin 1994. Curiger, Bice, Meret Oppenheim. Spuren durchstandener Freiheit, mit vollständigem Werkverzeichnis, bearbeitet von Dominique Bürgi, 3. erweiterte Aufl., Zürich 1989 [1982]. Dannatt, Adrian, Image Alchemy, in: artnet Magazine, 3. Februar 2007, unter: http:// www.artnet.com/magazineus/reviews/dannatt/dannatt3-2-07.asp. (12. Okt. 2016) Darboven, Hanne, Ein Reader. Texte zum Werk, Ausst.-Publ. (Deichtorhallen Hamburg: 1999/2000), hrsg. v. Zdenek Felix, Köln 1999. Debord, Guy, Die Gesellschaft des Spektakels [1967], Berlin 1996. Dencker, Klaus Peter (Hrsg.), Poetische Sprachspiele. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Stuttgart 2002. Dobke, Dirk (DD), Schokolade, in: Roth-Zeit. Eine Dieter Roth Retrospektive, Ausst.-Kat. (Schaulager Basel: 2003, Museum Ludwig Köln: 2004, P.S.1 Contemporary Art Center, Long Island City, New York: 2004), hrsg. v. Theodora Vischer und Bernadette Walter, Basel 2003, S. 116–117. Dobke, Dirk, Die Dieter Roth Foundation. Ein Künstlermuseum, in: Roth 2002, S. 203. Dompierre, Louise, Auf dem Weg zum ‚Fin de Siècle’, in: General Idea’s Fin de Siècle, Auss.-Kat., dt./engl. (Württembergischer Kunstverein Stuttgart; Centre d’Art Santa Mònica, Barcelona; Kunstverein in Hamburg, u. a.: 1992/1993), hrsg. v. General Idea, Stuttgart 1992, S. 53–60.

292

Drateln, Doris von, Der Clown als schlechter Prediger. Gespräch mit Christian Boltanski, Paris, im Dezember 1990, in: Boltanski 1991, S. 53–56. Dünne, Jörg; Günzel, Stephan (Hrsg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt/Main 2006. Ehringfeld, Klaus, Armut, Gewalt, Chaos: Die unheimlichen Mega-Städte, in: Handelsblatt, Rubrik: Politik/International, Online-Ausg., 9. Aug. 2010, unter: http:// www.handelsblatt.com/politik/international/armut-gewalt-chaos-die-unheimlichen-mega-staedte/3511136.html (16. Okt. 2016). Eisenmann, Martin, Radical Beauty: Eine kurze Geschichte über das Werk von Almut Linde, in: Almut Linde. Radical Beauty, Ausst.-Kat. dt./engl. (Galerie der Stadt Remscheid; Overbeck Gesellschaft Kunstverein Lübeck; Kunstverein Braunschweig u. a.: 2012–2014), hrsg. v. Oliver Zybok, Ostfildern 2013, S. 10f. Eno, Brian, The future will be like perfume, in: Opal Information # 22, 1992: http:// www.moredarkthanshark.org/feature_opal_info_22-1992.html#PERFUME (18. Okt. 2016). Eno, Brian, Scents and Sensibility, in: Details Magazine, Juli 1992 (leicht gekürzte Fassung von Enos Essay: The world will be like perfume, Opal Information # 22, 1992), unter: http://music.hyperreal.org/artists/brian_eno/interviews/detail92. html (18. Okt. 2016). Ernst, Max, Abwesenheiten, [aus: Capitale de la douleur, 1926], in: Barck 1990, S. 334. Estermann, Lorenz, Statement zu seinem Film METROPOLAR – exit city unter: https:// www.dorftv.at/video/7620 (12. Okt. 2016). Estermann, Lorenz, instant city, Ausst.-Kat., dt./engl./franz. (Levy Galerie Hamburg, Galerie Vidal Saint Phalle Paris: 2008), hrsg. v. Levy Galerie Hamburg; lukasfeichtner galerie Wien, Bielefeld 2008. Fisahn, Maria, 1. Kernwelt – Naturbeobachtung am Beispiel Erdbeeren [unveröffentl. Konzeptpapier], Hamburg 2003 (der Autorin am 26. Januar 2009 übergeben). Fleming, Paul, Gedancken / über der Zeit (1642), in: Gerhard Hay; Sibylle von Steinsdorff (Hrsg.), Deutsche Lyrik vom Barock bis zur Gegenwart, München 1986 [1980]. Flemming, Victoria von; Kittner, Alma-Elisa (Hrsg.): Barock - modern?, Köln 2010. Flusser, Vilém, Räume, in: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, hrsg. v. Jörg Dünne; Stephan Günzel, Frankfurt/Main 2006, S. 274–284. Flusser, Vilém, Für eine Philosophie der Fotografie, Göttingen 1994 [1983]. Foucault, Michel, Andere Räume, [Typoskript eines Vortrags am Cercle d’Etudes Architecturales, Paris, 14. März 1967], in: Barck u.a. 1992, S. 34–46. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt am Main 1974 [1966]. Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt/Main 1981 [1969]. Freud, Sigmund, Das Unheimliche (1919); in: ders., Psychologische Schriften, Studienausgabe, Bd. IV, hrsg. v. Alexander Mitscherlich, Frankfurt/Main 1982, S.241–274. Frickel, Claudia, Von den Anfängen bis zum Börsengang: Wie Facebook die Welt eroberte, Focus Online, 1. Februar 2012, unter: http://www.focus.de/digital/internet/facebook/tid-24930/die-geschichte-des-sozialen-netzwerks-facebooks-eroberung-der-welt_aid_708653.html (16. Okt. 2016).

293

BIBLIOGRAFIE

Friedrich, Caspar David; Dahl, Johan Christian, Zeichnungen der Romantik, Ausst.Kat. (Staatliches Museum Schwerin, Musée des Beaux-Arts Rouen: 2001), hrsg. v. Kornelia von Berswordt-Wallrabe, Hamburg 2001 García, Aurora, Behind the Curtain, in: Minter 2009, s. p. Gardner, Belinda Grace, Ena Swansea – Trojan Horses: Reflections of the Ephemeral, in: Psycho. Ena Swansea / Robert Lucander, Ausst.-Kat., dt./engl. (Deichtorhallen/ Sammlung Falckenberg, Hamburg: 2011/2012), hrsg. v. Dirk Luckow, Köln 2011, S. 29–31. Gardner, Belinda Grace, Regisseur von Kunstereignissen – Von Fallenbildern bis zur Marilyn: Der Hamburger Galerist Thomas Levy ist seit mehr als 35 Jahren erfolgreich, in: Die Welt, 22. Juli 2006, unter: http://www.welt.de/print-welt/article231069/ Regisseur-von-Kunstereignissen.html (10. Oktober 2016). Gardner, Belinda Grace, »Sie war wahnsinnig offen für alles«. Erinnerungen des Fallenbild-Erfinders Daniel Spoerri an die Schweizer Freundin Meret Oppenheim, in: Oppenheim 2003, S. 42–52. Gardner, Belinda Grace, Wie sind Sie dort ausgebüchst, Herr Spoerri? Ein Gespräch mit dem berühmten Erfinder der »Fallenbilder« über seine Flucht aus der Gewohnheit, in: Die Welt, 2. April 2001, unter: http://www.welt.de/print-welt/article443156/ Wie-sind-Sie-dort-ausgebuechst-Herr-Spoerri.html (9. Okt. 2016). Gardner, Belinda Grace (Hrsg.), Verführung des Blicks. Das Haus der Kunst, München, Hamburg 2000. Gardner, Belinda Grace, Fundstücke der Erinnerung. Der französische Installationskünstler Christian Boltanski über das Sammeln von Spuren gegen die Flüchtigkeit des menschlichen Daseins, in: dies. 2000, S. 28–38. Gardner, Belinda Grace, No Exit – »Zanoobia«. Eine Installation des New Yorker Künstlers Luis Camnitzer in der Galerie Basta, in: Hamburger Rundschau, Ausg. 7, 9. Februar 1995, S. 43. Gardner, Belinda Grace, Der Beginn reiner Aura. Ein Gespräch mit dem amerikanischen Autor Don DeLillo, in: Hamburger Rundschau, Nr. 47, 12. Nov. 1992, S. 12–13. Girveau, Bruno, Jenseits des Spiegels: Literatur und Film bei Walt Disney, in: Walt Disneys wunderbare Welt und ihre Wurzeln in der europäischen Kunst, Ausst.-Kat. (Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung München, Helsinki City Art Museum: 2008/2009), hrsg. v. Bruno Girveau; Roger Diederen, München 2008, S. 53–61. Gmür, Heidi, Museum of Old and New Art in Hobart. «Wundert euch!», in: Neue Zürcher Zeitung, 21.7.2013, unter: http://www.nzz.ch/feuilleton/kunst_architektur/ wundert-euch-1.18115562, (16. Okt. 2016). Glasmeier, Michael, The Gracián–Cervantes Impulse. Luis Camnitzer’s Pedagogical Paradigm, in: Camnitzer 2010, S. 165–175. Glozer, Laszlo, Ankommend abreisen. Dieter Roth: Der Nomade in seiner Zeit, in: Dieter Roth. Originale, hrsg. v. Dieter Roth Foundation/Dirk Dobke, London 2002, S. 9–32. Glozer, Laszlo, Westkunst. Zeitgenössische Kunst seit 1939, Handbuch zur gleichn. Ausst. (Museen der Stadt Köln/Museum Ludwig Köln: 1981), Ausw. und Zusammenst. d. Dokumente: Marcel Baumgartner, Kasper König, Laszlo Glozer, Köln 1981. Görner, Klaus; Kittelmann, Udo, Muerte sin fin, in: Margolles 2004, S. 15–22.

294

Goethe, Johann Wolfgang, Schriften zur Naturwissenschaft/Auswahl, hrsg. v. Michael Böhler, Stuttgart 1982. Gombrich, Ernst H., Schatten. Ihre Darstellung in der abendländischen Kunst, Berlin 2013 [2009]. Gombrich, Ernst H., Art and Illusion. A Study in the Psychology of Pictorial Representation, London/New York, 2010 [1960]. Gombrich, Ernst H., Kunst, Wahrnehmung, Wirklichkeit, Frankfurt/Main 1977. Gomringer, Eugen, Vortrag gehalten am 2. Mai 2013 anlässlich seiner Ausstellung Aircube Project – Eugen Gomringer. Konkrete Poesie, in der galerie wuensch aircube, Linz, unter: http://www.aircube.at/eugen-gomringer (12. Okt. 2015). Gomringer, Eugen (Hrsg.), konkrete poesie, Deutschsprachige Autoren, Anthologie von Eugen Gomringer, Stuttgart 2009. Gomringer, Eugen, vom vers zur konstellation. zweck und form einer neuen dichtung, in: ders. 2009, S. 155–160. Gomringer, Eugen, worte sind schatten [1956], in: Klaus Peter Dencker (Hrsg.), Poetische Sprachspiele. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Stuttgart 2002, S. 193. Gonzalez-Torres, Felix, Ausst.-Kat., dt./engl. (Neue Gesellschaft für bildende Kunst Berlin in Kooperation mit dem Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin: 2006/2007), hrsg. v. Neue Gesellschaft für bildende Kunst (NGBK), Berlin 2006. Gonzalez-Torres, Felix, Etre un Espion, Interview with Felix Gonzalez-Torres by Robert Storr, urspr. veröffentlicht in: Art Press Magazine, engl./franz., Paris, Jan. 1995, S. 24–32, unter: http://www.queerculturalcenter.org/Pages/FelixGT/FelixInterv.html (18. Okt. 2016). Gonzalez-Torres, Felix im Gespräch mit Ross Bleckner, BOMB – Artists in Conversation/Felix Gonzalez-Torres by Ross Bleckner, in: BOMB 51, Spring 1995, unter: http:// bombmagazine.org/article/1847/felix-gonzalez-torres (20. Okt. 2016). Groys, Boris, 05) die weltstadtbürger, in: Sievernich; Medicus 2000, S. 64–69. Goyer-Ouimette, Geneviève, Foreword, in: Bolduc 2012, S.15–17. Goyer-Ouimette, Geneviève, Pandora’s Memories, in: Bolduc 2012, S. 59–69. Hahn, Otto, Die Anatomie als eine der schönen Künste, in: Daniel Spoerri, Ausst.-Kat. (Jüdisches Museum Rendsburg: 2005), hrsg. v. Herwig Guratzsch; Stiftung Schleswig-Holsteinische Landesmuseen Schloss Gottorf, Schleswig 2005, S. 7–16. Haußmann, Julia, Ena Swansea, in: Zurück zur Figur – Malerei der Gegenwart, Ausst.Kat. (Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung München: 2006; museum franz gertsch Burgdorf: 2006/2007), hrsg. v. Christiane Lange; Florian Matzner, München/Berlin/ London/New York 2006, S. 184–185. Heidegger, Martin, Sein und Zeit, Tübingen 1967 [1953]. Heinrich, Christoph, Une série d’effets différents. Monets ›Getreideschober‹ als Hülle für das Licht, die Zeit, das Universum und ›die märchenhafte Kraft und Pracht der Malerei‹, in: Monets Vermächtnis. Serie – Ordnung und Obsession, Ausst.-Kat. (Hamburger Kunsthalle: 2001/2002), hrsg. v. Uwe M. Schneede, Ostfildern-Ruit 2001, S. 13–22. Helfenstein, Josef, Meret Oppenheim und der Surrealismus, Stuttgart 1993. Hemken, Kai-Uwe (Hrsg.), Gedächtnisbilder. Vergessen und Erinnern in der Gegenwartskunst, Leipzig 1996.

295

BIBLIOGRAFIE

Higgs, Matthew, Twenty Questions. A Project by Matthew Higgs, in: Minter 2010, S. 36–41. Hofmann, Werner, Ein Mann im Abseits, in: Degas. Intimität und Pose, Ausst.-Kat. (Hamburger Kunsthalle: 2009), hrsg. v. Hubertus Gaßner, München 2009, S. 11–31. Hofmann, Werner, Die Moderne im Rückspiegel. Hauptwege der Kunstgeschichte, München 1998. Honisch, Dieter, Roman Opalka. Text der Laudatio zur Verleihung des Kaiserrings an Roman Opalka in Goslar am 23. Oktober 1993, in: Roman Opalka. OPALKA 1965/1 – ∞, hrsg. v. Nationalgalerie Staatliche Museen zu Berlin – Preussischer Kulturbesitz, Ausst.-Kat. (Neue National Galerie; Neuer Berliner Kunstverein: 1994), Berlin 1994, S. 9-18. Iden, Peter, Rede für Christian Boltanski, Salzburg, 3. Oktober 2009, Um Leben und Tod. Zu Christian Boltanskis »Vanitas« in der Krypta des Salzburger Doms, unter: http://salzburgfoundation.at/kunstprojekt-salzburg/christian-boltanski-2009/, Download: http://salzburgfoundation.at/wp-content/uploads/rede_iden_boltanski.pdf (16. Okt. 2016). Jauregui, Gabriela, Nekropolis: Die Exhumierung der Arbeiten von Teresa Margolles, in: Margolles 2004, S. 133–151. Jocks, Heinz-Norbert, On the Shores of Time, in: Artempo. Where Time Becomes Art, Ausst.-Kat., engl. (Palazzo Fortuny Venedig: 2007), hrsg. v. Axel Vervoordt; Mattijs Visser, MER/Düsseldorf 2007, S. 51–63. Jocks, Heinz-Norbert, Im Angesicht der Zeit. Ein Exkurs über Zeit, Existenz und Kunst, in: Zeit – Existenz – Kunst, Kunstforum International, hrsg. v. Dieter Bechtloff, Bd. 150, April – Juni 2000, S. 54–79. Johansen, Jørgen Dines, Ein Zerrbild. Der Schatten – ein Anti-Märchen, in: Andersen 2005, S. 57–64. Juchau, Mireille, Christian Boltanski’s Chance at Life. The French artist in Sydney, in: The Monthly. Australian politics, society & culture, März 2014: https://www.themonthly.com.au/issue/2014/march/1393592400/mireille -juchau/christianboltanski’s-chance-life (16. Okt. 2016). Jung, C. G., Traum und Traumdeutung, hrsg. v. Lorenz Jung auf der Grundlage der Ausgabe Gesammelte Werke, Stuttgart 2010 [2001]. Jung, C. G., Ausgewählte Schriften, hrsg. v. Verena Kast; Ingrid Riedel, Ostfildern 2011. Kalenberg, Angel, Latin American Conceptual, in: Camnitzer 1988, s. p. Katz, Vincent, Ena Swansea at Robert Miller, in: Art in America, New York, Juni 1999, s. p. Kawabe, Naho, Observer Effect, Ausst.-Kat., dt./jap./engl. (Trittauer Wassermühle, Trittau: 2013), hrsg. v. d. Kulturstiftung Stormarn der Sparkasse Holstein, Berlin 2013. Kawabe, Naho im Gespräch mit Elena Winkel, in: Index 11, Ausst.-Kat. (Kunsthaus Hamburg: 2011), hrsg. v. Elena Winkel, Hamburg 2011, S. 48–49. Kawara, On, Date Paintings in 89 cities, Ausst.-Kat., niederl./dt./engl. (Museum Boymans-van Beuningen, Rotterdam; Deichtorhallen Hamburg u. a.: 1992/1993), hrsg. v. Museum Boymans-van Beuningen, Rotterdam 1992. Kemme, Carola, Biografie Christian Boltanski, in: Boltanski 2006, S. 128–133. Kemme, Carola, Kommentiertes Werkverzeichnis Zeit, in: Boltanski 2006, S. 136–139. Ketelsen, Thomas, Auf Messers Schneide. Zu einem ästhetischen Kalkül der Still­ lebenmalerei, in: Berswordt-Wallrabe 2000, S. 10-12.

296

König, Kasper; Obrist, Hans Ulrich (Hrsg.), Der Zerbrochene Spiegel. Positionen zu Malerei, Ausst.-Kat. (Museumsquartier Messepalast und Kunsthalle Wien; Deichtorhallen Hamburg: 1993/1994), Wien 1993. König, Kasper; Obrist, Hans Ulrich, Einführung, in: dies. 1993, S. 9–12. Krauss, Rosalind, Photography in the Service of Surrealism, in: dies.; Jane Livingston (Hrsg.), L’Amour fou. Photography and Surrealism, Ausst.-Kat. (The Corcoran Gallery of Art, Washington, D. C.: 1985), New York 1985, S. 15–42. Kriebel, Svenja, Joseph Beuys. Ombelico di venere, 1985, in: Schulze 2006, S. 344– 345. Krolow, Karl, Laudatio zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises 1969 an Helmut Heißenbüttel unter: http://www.deutscheakademie.de/de/auszeichnungen/georg -buechner-preis/helmut-heissenbuettel/laudatio (14. Okt. 2016). Krupp, Walburga, Konstellation / Constellation / Constellation, in: Arp 2007, S. 158– 159. Kubler, George, The Shape of Time. Remarks on the History of Things, New Haven/ London 1962. Kupper, Wanda, Raupen, Puppen, Schmetterlinge. Metamorphosen im Werk von Meret Oppenheim, in: Oppenheim 2006, S. 65–77. Lang, Volker, So soll das Deserteurdenkmal aussehen, unter: NDR.de – Nachrichten – Hamburg, 05.06.2014, unter: http://www.bv-opfer-ns-militaerjustiz.de/uploads/ Dateien/Presseberichte/NDR20140605.pdf (14. Okt. 2016). Lang, Volker, Mahnmal Himmel, herzgrau, muss nah sein in Hamburg/Blankenese (2013) unter: http://www.hamburg.de/kulturbehoerde/kunst/4107310/mahnmaldeportation-blankenese/ (14. Okt. 2016). Lang, Volker, akustische Kurzbeschreibung 212 zu Volker Langs Installation 8 1/2 Circus Space im Rahmen der temporären Skulpturprojekte sculpture@CityNord 2006 (Kurator: Rik Reinking), unter: http://www.sculpture-citynord.de/kue_volker_lang. htm (14. Okt. 2016). Lang, Volker, Mahnmal Der Engel schwieg in Hamburg/Rothenburgsort (2004) unter: http://www.kuenstlerbund.de/kab/index.php?viewid=299 (14. Okt. 2016). Lang, Volker, Doch Indien liegt außerhalb, But India lies outside. Ein Haus für Virginia Woolfs »Die Wellen«, Ausst.-Kat., dt./engl. (Cuxhavener Kunstverein: Juni 2001; Kunst im Öffentlichen Raum – ein Projekt der Kulturbehörde der Hansestadt Hamburg in Kooperation mit dem Literaturhaus Hamburg: September 2001), hrsg. v. Cuxhavener Kunstverein/Kulturbehörde der Hansestadt Hamburg, Hamburg 2001. Lautréamont (Isidore-Lucien Ducasse), Sechster Gesang, in: ders., Die Gesänge des Maldoror, Reinbek bei Hamburg 1990 [1963]. Lehmuskallio, Asko, Bist Du die Person des Jahres, in: Reinking 2008, S. 41–43. Ley, Sabrina van der; Cohen, Françoise; Chougnet, Jean-François, Vorwort, in: Reis 2010, S. 2–3. Lewisohn, Cedar, Abstract Graffiti, London 2011. Lil, Kira van, Gonzalez-Torres, Felix, »Untitled« (Passport #II), 1993, in: Monets Vermächtnis. Serie – Ordnung und Obsession, Ausst.-Kat. (Hamburger Kunsthalle: 2001/2002), Hamburg 2001, hrsg. v. Uwe M. Schneede, S. 176–177. Lipovetsky, Gilles, Narziß oder die Leere: sechs Kapitel über die unaufhörliche Gegenwart, Hamburg 1995.

297

BIBLIOGRAFIE

Liska, Pavel, Vorwort. Die verschiedenen cross overs des Daniel Spoerri, in: Spoerri 2001a, S. 6–8. Lüthy, Michael, Wie ein flüchtiges Gesicht im Sand. Bildstiftung im Zeichen der Bildlosigkeit, in: Portrait ohne Antlitz. Abstrakte Strategien in der Bildniskunst, Ausst.-Kat. (Kunsthalle zu Kiel: 2004), hrsg. v. Dirk Luckow; Petra Gördüren, Kiel 2004, S. 37–40. Lykkeberg, Toke, Graffiti & Street Art – Zeitgenossen zeitgenössischer Kunst, in: Reinking 2008, S. 29–33. Margolles, Teresa, Frontera, Ausst.-Kat. (Kunsthallle Fridericianum Kassel: 2010/2011; MUSEION Bolzano/Bozen: 2011), engl./dt./span., hrsg. v. Rein Wolfs; Letizia Ragaglia, Köln 2011. Margolles, Teresa, Muerte sin fin, Ausst.-Kat. dt./span./engl. (Museum für Moderne Kunst Frankfurt: 2004), hrsg. v. Udo Kittelmann; Klaus Görner, Ostfildern-Ruit 2004. Margolles, Teresa im Gespräch mit Santiago Sierra, in: BOMB – Artists in Conversation. Santiago Sierra by Teresa Margolles, in: BOMB 86, Winter 2004, unter: http:// bombmagazine.org/article/2606/santiago-sierra (18. Okt. 2016). Medina, Cuauhtémoc, Teresa Margolles: What Else Could We Talk About? (Pressemitteilung, mexikanischer Pavillon, 53. Venedig-Biennale), unter: http://u-in-u.com/ de/biennale-venedig/2009/tour/mexico/cuauhtemoc-medina/ (16. Okt. 2016). Medina, Cuauhtémoc, Gegenseitiger Missbrauch, in: Biesenbach 2002, S. 154–166. Metken, Günter, Christian Boltanski. Memento mori und Schattenspiel, Schriften zur Sammlung des Museums für Moderne Kunst, hrsg. v. Museum für Moderne Kunst, Frankfurt/Main 1991, S. 5–12. Metken, Günter, Christian Boltanski. Memento mori und Schattenspiel, in: ders. 1991, S. 5–12. Mexikos Drogenkartelle schlagen zurück, in: Zeit.de / Politik, 2. Mai 2015 unter: http://www.zeit.de/politik/2015-05/mexiko-gewalt-jalisco (18. Okt. 2016). Meyer-Thoss, Christiane, (Hrsg.), Meret Oppenheim, Träume, Aufzeichnungen 1928– 1985 [veränderte und erweiterte Ausgabe der Aufzeichnungen 1929–1985, Träume: Bern/Berlin 1986], Berlin 2010. Meyer-Thoss, Christiane (Hrsg.), Meret Oppenheim, Husch, husch, der schönste Vokal entleert sich. Gedichte, Prosa, Frankfurt/Main 2002. Meyer-Thoss, Christiane, Meret Oppenheim. Buch der Ideen. Frühe Zeichnungen, Skizzen und Entwürfe für Mode, Schmuck und Design (mit Fotografien von Heinrich Helfenstein), Bern 1996. Minter, Marilyn, hrsg. v. Gregory R. Miller & Co, New York 2010. Minter, Marilyn, Marilyn Minter in Conversation with Mary Heilmann, in: Minter 2010, S. 15–27. Minter, Marilyn, Ausst.-Kat., span./engl. (La Conservera, Centro de Arte Contemporáneo, Ceutí/Murcia: 2009), hrsg. v. La Conservera, Ceutí/Murcia 2009. Monet, Claude, Monets Vermächtnis. Serie – Ordnung und Obsession, Ausst.-Kat. (Hamburger Kunsthalle: 2001/2002), hrsg. v. Uwe M. Schneede, Ostfildern-Ruit 2001. Morsbach, Christiane, Eat & Stop: Dem Betrachter ein Stillleben vorsetzen, in: Spoerri 2009, S. 55–60. Mund, Henrike, Christian Boltanski, in: Cut. Scherenschnitte 1970–2010, Ausst.-Kat. (Hamburger Kunsthalle: 2010/2011), hrsg. v. Hamburger Kunsthalle, Hamburg 2010, S. 32–33.

298

Neubauer, Susann, Lorenz Estermann. Das Projekt »Metropolar – dark city«, s. p., 2013 (unveröffentlichter Text, in: E-Mail vom 31. März 2015 an die Autorin von Lorenz Estermann). Obrist, Hans Ulrich, Hans Ulrich Obrist & Christian Boltanksi: The Conversation Series 19, Köln 2009. Okabe, Aomi im Gespräch mit Naho Kawabe in: Kawabe 2013, S. 104–120. Opalka, Roman, OPALKA 1965/1 – ∞, hrsg. v. Nationalgalerie Staatliche Museen zu Berlin – Preussischer Kulturbesitz, Ausst.-Kat. (Neue National Galerie; Neuer Berliner Kunstverein: 1994), Berlin 1994. Oppenheim, Meret, Retrospektive, Ausst.-Kat. (Bank Austria Kunstforum Wien; Martin-Gropius-Bau Berlin: 2013), hrsg. v. Heike Eipeldauer; Ingrid Brugger; Gereon Sievernich, Ostfildern 2013a. Oppenheim, Meret, Gedankenspiegel, dt./engl., hrsg. v. Thomas Levy, Bielefeld 2013b. Oppenheim, Meret, ca. 14. Okt. 1980 (Skizze), Aufzeichnungen, in: Meyer-Thoss 2010, S. 7–79. Oppenheim, Meret, Retrospektive. »Mit ganz enorm wenig viel«, Ausst.-Kat. (u. a. Kunstmuseum Bern: 2006; Henie Onstad Art Center, Oslo: 2007; Städtische Galerie Ravensburg: 2007/2008), hrsg. v. Therese Bhattacharya-Stettler und Matthias Frehner, Ostfildern 2006. Oppenheim, Meret, From Breakfast in Fur and Back Again: The Conflation of Images, Language, and Objects in Meret Oppenheim’s Applied Poetry/Die Pelztasse war nur der Anfang: Verschmelzung von Bildern, Sprachen, Gegenständen in Meret Oppenheims angewandter Poesie, Ausst.-Kat., dt./engl., hrsg. v. Thomas Levy, Bielefeld 2003. Oppenheim, Meret, Am Anfang ist das Ende (1970), in: Meyer-Thoss 2002. Paglia, Camille, Vamps & Tramps. New Essays, London 1995. Pedrini, Enrico, Daniel Spoerri zwischen Eat Art und »Il Giardino«, in: Spoerri 2009, S. 73–77. Phaneuf, Marc-Antoine K., Catherine Bolduc. Monopoly Deluxe Edition or SeventyFour Truths About Catherine Bolduc, in: Bolduc 2012, S. 265–276. Platon, Das Höhlengleichnis. Sämtliche Mythen und Gleichnisse, Berlin 2014 [2009]. Poirier, Anne; ders., Patrick, Pressemitteilung, August 1978, Projects: Anne and Patrick Poirier, Ausée, Museum of Modern Art, New York, unter MoMA, Press Archives, 1978: https://www.moma.org/learn/resources/press_archives/1970s/1978/3 (12. Okt. 2016). Prigge, Walter, 02) metropolisierung. zum strukturwandel der europäischen stadt, in: Sievernich; Medicus 2000, S. 33–36. Puvogel, Renate, Felix Gonzalez-Torres, in: Kunstforum International, Kunst und Literatur I, Bd. 139, Dez. 1997 – März 1998, hrsg. v. Heinz-Norbert Jocks, Ruppichteroth 1997, S. 344–347. Ramírez, Mari Carmen, Moral Imperatives. Politics as Art, in: Camnitzer 1991, S. 4–13. Reck, Hans Ulrich, Transitorische Turbulenzen – Konstruktionen des Erinnerns, in: Hemken 1996, S. 65–89. Reiche, Bärbel (B. R.), Tod, in: Phantasien des Barock. Italienische Grafik des 17. und 18. Jahrhunderts aus dem Besitz der Kunsthalle zu Kiel, Ausst.-Kat., hrsg. v. HansWerner Schmidt, Kiel 1994, S. 68–70.

299

BIBLIOGRAFIE

Reichensperger, Petra, »A view to remember«. Bewegungsprozesse voller Verräumlichungen und Verzeitlichungen, in: Gonzales-Torres 2006, S. 29–44. Reifenscheid, Beate, Über die Choreographie der Kunst von Spoerri, in: Spoerri 2009, S. 7–10. Reinking, Rik (Hrsg.), Still On and Non the Wiser. An exhibition with selected urban artists, Ausst.-Kat., dt./engl. (Von-der-Heydt Museum, Kunsthalle Barmen Wuppertal: 2007), Mainaschaff 2008. Reis, Pedro Cabrita, One after another, a few silent steps, Deutsches Textheft, Ausst.Kat., engl. (Hamburger Kunsthalle; Carré d’Art – Musée d’art contemporain de Nîmes; Museu Colecção Berardo: 2009-2011), hrsg. v. Hamburger Kunsthalle; Carré d’Art – Musée d’art contemporain de Nîmes; Museu Colecção Berardo, Ostfildern 2010. Röder, Kornelia, Caspar David Friedrich und Johan Christian Dahl. Aspekte künstlerischer Positionen im Zeitalter der Romantik, in: Friedrich; Dahl 2001, S. 23–28. Rorimer, Anne, Die Date Paintings von On Kawara, in: On Kawara. Date Paintings in 89 cities, Ausst.-Kat., niederl./dt./engl. (Museum Boymans-van Beuningen Rotterdam, Deichtorhallen Hamburg u. a.: 1992/1993), hrsg. v. Museum Boymans-van Beuningen, Rotterdam 1992, S. 230–239. Roth, Dieter, Zur Geschichte der Dieter Roth Foundation/Dieter Roth Museum, »Schimmelmuseum« und Werkarchiv unter: http://www.dieter-roth-museum.de/ foundation (24. März 2015). Roth-Zeit. Eine Dieter Roth Retrospektive, Ausst.-Kat. (Schaulager Basel, u.a.: 2003), hrsg. v. Theodora Fischer; Bernadette Walter, Basel 2003. Roth, Dieter, Originale, hrsg. v. Dieter Roth Foundation/Dirk Dobke, London 2002. Rumler, Fritz, Ratlose Artisten in der Pulvermühle. Fritz Rumler über Alexander Kluges neuen Film, in: Der Spiegel, Ausg. 37 / 9.9.1968, unter: http://www.spiegel.de/ spiegel/print/d-46477783.html (14. Okt. 2016). Rushkoff, Douglas, Present Shock. When Everything Happens Now, New York 2013. Russo, Manfred, Geschichte der Urbanität (Teil 24) – Moderne 1, Baudelaire. Die Ermächtigung des Künstlers zum Interpreten des urbanen Raums, in: dérive. Zeitschrift für Stadtforschung, hrsg. v. Christoph Laimer, Nr. 33, Okt. 2008, unter: (http:// www.derive.at/index.php?p_case=2&id_cont=775&issue_No=34) (5. Okt. 2016). Sadowsky, Thorsten, Von Schatten, Doppelgängern und Höhlen, in: Andersen 2005, S. 19–24. Sartre Jean-Paul, Die Suche nach dem Absoluten. Texte zur bildenden Kunst, Schriften zur bildenden Kunst und Musik, Bd. 1, Reinbek bei Hamburg 1999. Sartre, Jean-Paul, Die ‚Mobiles’ von Calder. Für den Katalog der Ausstellung Alexander Calder: Mobiles Stabiles Constellations [Paris 1964], in: ders. 1999, S. 59–62. Schmied, Wieland, Darwin hätte nicht unbedingt seine Freude an ihm, in: Spoerri 2009, S. 27–30. Schmied, Wieland, Der Zufall als Meister, Eröffnungsrede im KunstHausWien, 19. Feb. 2003, veröffentlicht in: Spoerri 2003b, S. 25–32. Schmied, Wieland (Hrsg.), GegenwartEwigkeit. Spuren des Transzendenten in der Kunst unserer Zeit, Ausst.-Kat. (Martin-Gropius-Bau Berlin: 1990), Stuttgart 1990. Schneede, Uwe M., Die Kunst des Surrealismus. Malerei, Skulptur, Dichtung, Fotografie, Film, München 2006.

300

Schneede, Uwe M., Das surrealistische Bild, in: Begierde im Blick. Surrealistische Photographie, Ausst.-Kat. (Hamburger Kunsthalle: 2005), hrsg. v. dems., Ostfildern-Ruit 2005, S. 43–47. Schneede, Uwe M.: Die Geschichte der Kunst im 20. Jahrhundert. Von den Avantgarden bis zur Gegenwart, München 2001. Schneede, Uwe M., Die Mittel der Erinnerung, in: Boltanski 1991, S. 9–22. Schnitgerhans, Holger, Zurückgeblättert: Zadek probt ein Märchen – Die anstrengendste Art, Theater zu machen: In der Ausgabe vom 8. September 1978 beobachtet das ZEITmagazin die Proben zum »Wintermärchen«, in: Zeit.de, unter: www.zeit. de/online/2008/37/zeitmagazin-30-zadek (10. Okt. 2016). Schor, Gabriel Ramin, Paradoxe Nachträglichkeit. Zu Geschichte, Autobiografie und Fiktion bei Christian Boltanski, in: Boltanski 2006, S.111–117. Schulz, Isabel, Die Gegenwart der Träume, in: Oppenheim 2013a, S. 104–107. Schulze, Sabine (Hrsg.), Gärten: Ordnung – Inspiration – Glück, Ausst.-Kat. (Städel Museum, Frankfurt: 2006; Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau, München: 2007), Ostfildern 2006. Schulze Sabine, Gärten: Ordnung – Inspiration – Glück, in: dies. 2006, S. 14-21. Schwarz, Dieter, Favorite Places: Arbeiten von Pedro Cabrita Reis, in: Reis 2010, S. 2–9. SEMEFO ,  Website der Künstlergruppe unter: http://arteypoliticateresamargolles blogspot.de/2013/01/grupo-semefo.html (16. Okt. 2016). Seuphor, Michel, Ein halbes Jahrhundert Abstrakte Malerei. Von Kandinsky bis zur Gegenwart, München/Zürich 1962. Seyfarth, Ludwig, Wie Blätter im Wind. Die Ruinen im Werk von Naho Kawabe, in: Kawabe 2013, S. 65–68. Shoji, Sachiko, Kawabe Naho, in: In Search of Critical Imagination, Ausst.-Kat. jap./ engl. (Fukuoka Art Museum: 2014), hrsg. v. Fukuoka Art Museum, Fukuoka 2014, S. 76 –77. Sierra, Santiago, Ein kurzer Anhang (verfasst am 28. Februar 2004 in Paris), in: Margolles 2004, S. 195–199. Sievernich, Gereon; Medicus, Thomas (Hrsg.), 7 hügel__Bilder und Zeichen des 21. jahrhunderts, IV) Zivilisation – Städte – Bürger – Cybercities: Die Zukunft unserer Lebenswelten, 7 Bde., Ausst.-Kat. (Martin-Gropius-Bau Berlin: 2000), Berlin 2000. Sitt, Martina; Gaßner, Hubertus (Hrsg.), Spiegel geheimer Wünsche. Stillleben aus fünf Jahrhunderten, Ausst.-Kat., München 2008. Sitt, Martina, Spiegel geheimer Wünsche, in: Sitt; Gaßner 2008, S. 39–50. Sitt, Martina, V – Vorhang, in: Sitt; Gaßner 2008, S. 170–172. Sontag, Susan, Über Fotografie, München 1989 [1978]. Spector, Nancy, Felix Gonzalez-Torres, Ausst.-Kat. (Solomon R. Guggenheim Museum New York u. a.: 1995/1996), hrsg. v. The Solomon R. Guggenheim Foundation, New York 2007 [1995]. Spielmann, Heinz; Westheider, Ortrud (Hrsg.): Wolkenbilder. Die Entdeckung des Himmels, Ausst.-Kat. (Bucerius-Kunst-Forum und Jenisch-Haus, Außenstelle des Altonaer Museums, Norddeutsches Landesmuseum, Hamburg: 2004; Staatlichen Museen zu Berlin Nationalgalerie: 2004/2005; Aargauer Kunsthaus Aarau: 2005), München 2004.

301

BIBLIOGRAFIE

Spies, Werner, Installationskunst: Christian Boltanski: Es verschlägt einem die Sprache in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. Januar 2010, unter faz.net: http://www. faz.net/aktuell/feuilleton/kunst/installationskunst-christian-boltanski-es-verschlaegt-einem-die-sprache-1638246.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2 (16. Okt. 2016). Spies, Werner, Das Schattentheater Peter Schlemihls. Christian Boltanski als Historienmaler der Nacht unserer Zeit, in: Boltanski 2006, S. 23–33. Spoerri, Daniel, Eaten by ..., Ausst.-Kat., dt./engl., (Ludwig Museum im Deutschherrenhaus Koblenz: 2009), hrsg. v. Beate Reifenscheid, Bielefeld 2009. Spoerri, Daniel, EAT.ART & AB.ART, in: ders. 2009, S. 21. Spoerri, Daniel, Eat Art: Daniel Spoerris Gastronoptikum, mit Illustrationen von Heribert Schulmeyer und einem Vorwort von Barbara Räderscheidt, Hamburg 2006. Spoerri, Daniel, Daniel Spoerri, Ausst.-Kat. (Jüdisches Museum Rendsburg: 2005), hrsg. v. Herwig Guratzsch; Stiftung Schleswig-Holsteinische Landesmuseen Schloss Gottorf, Schleswig 2005. Spoerri, Daniel, Coincidence as Master/Le Hasard comme maître/Der Zufall als Meister/ Il caso come maestro, Ausst.-Kat., engl./franz./dt./ital., (u. a. Kunsthalle – Villa Kobe Halle/Saale: 2001, abschließend Musée des Jacobins Morlaix: 2004) hrsg. v. Thomas Levy, Bielefeld 2003. Spoerri, Daniel, Werke 1960–2001, Ausst.-Kat. (Kunsthalle – Villa Kobe Halle/Saale, u.a.: 2001–2003), hrsg. v. Thomas Levy, Bielefeld 2001a. Spoerri, Daniel, Morduntersuchungen – Investigations criminelles, in: ders. 2001a, S. 46–52. Spoerri, Daniel, Wortfallen (Piège à mots), in: ders. 2001a, S. 14–15. Spoerri, Daniel, Text der Menukarte des »eaten by ....« Restaurant, in: ders. 2001a, S. 66–67. Spoerri, Daniel, Anekdotomania. Daniel Spoerri über Daniel Spoerri, Ausst.-Kat. (Museum Jean Tinguely, Basel: 2001), hrsg. v. Museum Jean Tinguely Basel, Ostfildern-Ruit 2001b. Spoerri, Daniel, II. Poetisches und verpasste Gelegenheiten. Den Winter konservieren, in: ders. 2001b, S. 24. Spoerri, Daniel, Anekdoten zu einer Topographie des Zufalls (mit Kommentaren von Emmett Williams, Robert Filliou und Dieter Roth sowie Zeichnungen von Roland Topor), hrsg. v. Andreas Schäfler, Hamburg 1998. Spoerri, Daniel, Das gastronomische Tagebuch, Hamburg 1995. Spoerri, Daniel, zum Ausstellungsformat Musée Sentimental unter: http://www.danielspoerri.org/web_daniel/deutsch_ds/werk_einzel/23_sentimental.htm (12. Okt. 2016) Staebler, Claire (CS), Christian Boltanski 010, in: All the World’s Futures. La Biennale di Venezia, 56th International Art Exhibition, Ausst.-Kat., engl. Fassung, hrsg. v. Fondazione La Biennale di Venezia, Venedig 2015, S. 45. Steichen, Edward, Fotoausstellung Family of Man (1955), unter: http://www.steichencollections.lu/de/the-family-of-man (12. Okt. 2016). St-Jean Aubre, Anne-Marie, At the Heart of Catherine Bolduc’s Work: A Sublimated Disappointment, in: Bolduc 2012, S. 235–244.

302

Swansea, Ena; Lucander, Robert, Psycho. Swansea und/and Robert Lucander, Ausst.Kat., dt./engl. (Deichtorhallen/Sammlung Falckenberg Hamburg: 2011/2012), hrsg. v. Dirk Luckow, Köln 2011. Swansea, Ena, Persönliche Anmerkungen, in: Swansea/Lucander 2011, S. 8–9. Sykora, Katharina, Zeitflächen. Cornelis de Vos’ Allegorie der Vergänglichkeit und die Seifenblasen der Moderne, in: Flemming; Kittner 2010, S. 29–56. Szeemann, Harald, Daniel Spoerri, in: ders. (Hrsg.), Visionäre Schweiz, Ausst.-Kat. (Kunsthaus Zürich u. a.: 1991/1992), Aarau 1991. Tietenberg, Annette, Visite ma tente. Das Bildnis des Orientreisenden Jean-Baptiste Tavernier (1678) von Nicolas de Largillière, in: Flemming; Kittner 2010, S. 136–163. Theunissen, Michael, Freiheit von der Zeit, Ästhetisches Anschauen als Verweilen, in: Schmied 1990, S. 35–40. Thon, Ute, Schatten der Vergangenheit, in: Art – Das Kunstmagazin, Ausg. 4, Hamburg 2012, S. 70–78. Tornabene, Francesco Federico Fellini. Realist des Phantastischen, Berlin 1990. Unruh, Rainer, Ankündigung zum Künstlergespräch zwischen dem Hamburger Kritiker Rainer Unruh und Volker Lang am 1. Februar 2015 im Rahmen von Langs Ausstellung Montello (1. Nov. 2014 – 15. Feb. 2015) in der Hamburger Galerie Oster­ walder’s Art Office (unter: Onlineportal Kulturport.de /Kunst-Kultur-Events) (Archiv der Autorin). Ursprung, Philipp, Augenwischerei: Trompe-l’œil einst und jetzt, in Sitt; Gaßner 2008, S. 25–37. Vervoordt, Axel und Visser, Mattijs (Hrsg.), Artempo – Where Time Becomes Art, Ausst.-Kat., Venedig 2007. Virilio, Paul, Der Futurismus des Augenblicks, hrsg. v. Peter Engelmann, Wien 2010. Virilio, Paul, Rasender Stillstand, München u.a. 1992. Virilio, Paul, Metempsychose des Passagiers, in: Barck u.a. 1990, S. 83–96. Virilio, Paul, Die Sehmaschine, Berlin 1989. Virilio, Paul, Ästhetik des Verschwindens, Berlin 1986. Völl, Heike-Karin, Form, Referenz und Kontext: Felix Gonzalez-Torres’ »candies«, in Gonzalez-Torres 2006, S. 105–122. Wagner, Frank, Vorwort, in: Gonzalez-Torres 2006, S. 9–16. Wagner, Thomas, Archimedes in der Stadt. Sechs Blicke auf die Bilder von Michael Bach, in: König; Obrist 1993, S. 106–119. Wegmann , Sublimste Vanitas in jeder Zitrone. Zu Pieter Claesz’ monochrome banketijes – Ephemere Präsenz der Dinge im Wechsel des Lichts, in: Sitt; Gaßner 2008, S. 15–23. Weiß, Susanne, Final Meaning? Plädoyer zur Vermittlung des Werks von Felix Gonzalez-Torres, in: Gonzalez-Torres 2006, S. 191–198. Welsch, Wolfgang, Grenzgänge der Ästhetik, Stuttgart 1996. Welsch, Wolfgang; Frenzel, Ivo (Hrsg.), Die Aktualität des Ästhetischen (Publikation zum gleichnamigen Kongress, 2.–5. September 1992), München 1993. Welsch, Wolfgang, Das Ästhetische – eine Schlüsselkategorie unserer Zeit?, in: ders; Ivo Frenzel 1993, S. 13–47. Westheider, Ortrud, Wolken und Abstraktion. Ein Motiv verändert die Malerei. Von Blechen zu Mondrian, in: Spielmann; dies. 2004, S. 216–225. Wetzel, Christoph, Das große Lexikon der Symbole, Darmstadt 2008.

303

BIBLIOGRAFIE

Wiedemann, Erich, Die schlimmste Fracht meines Lebens. SPIEGEL-Reporter Erich Wiedemann auf dem Giftmüll-Schiff »Zanoobia« vor der toskanischen Küste, in: Der Spiegel, Ausg. 22, 30. Mai 1988, unter: http://www.spiegel.de/spiegel/ print/d-13530582.html (15. Okt. 2016). Wipplinger, Hans-Peter, Ergonomie der Architektur – Wahrnehmungen und Kommentare zu gebauter Umwelt im Werk von Lorenz Estermann, in: Lorenz Estermann – instant city, Ausst.-Kat., dt./engl./franz. (Levy Galerie Hamburg; Galerie Vidal Saint Phalle Paris: 2008), hrsg. v. Levy Galerie Hamburg, und lukasfeichtner galerie Wien, Bielefeld 2008, S. 16–21. Wolfs, Rein, Über die Grenze, in: Margolles 2011, S. 100–105. Woolf, Virginia, Die Wellen, hrsg. und kommentiert v. Klaus Reichert, Frankfurt/Main 1994. Yablonsky, Marilyn Minter’s Oozing Desire, unter: http://www.marilynminter.net/ video/im-not-much-but-im-all-i-think-about/ (12. Okt. 2016). Zanetti, Sandro, Handschrift, Typographie, Faksimile. Marcel Duchamps frühe Notizen – »Possible« (1913), in: Bilder der Handschrift. Die graphische Dimension der Literatur, hrsg. v. Davide Giuriato; Stephan Kammer, Basel/Frankfurt am Main 2006, S. 203–238. Zmijewski, Artur; Warsza, Joanna, Teresa Margolles: PM 2010, in: Act for Art. Forget Fear, Berlin Biennale Zeitung zur 7. Berlin-Biennale für zeitgenössische Kunst (27. April – 1. Juli 2010), dt./engl., hrsg. v. dens., Berlin 2010, S. 12. Gespräche und Schriftwechsel mit der Autorin:

Bolduc, Catherine, Gespräch am 1. Mai 2008. Dies., Catherine, E-Mail-Statement vom 30. April 2008. Boltanski, Christian, Gespräch am 15. September 1999. Brenken, Anna, Gespräch am 6. Dezember 2009. Camnitzer, Luis, Gespräch am 6. März 2002. Ders., Gespräch am 20. September 2003. Estermann, Lorenz, Gespräch am 26. Januar 2010. Ders., E-Mail-Statement vom 31. März 2015. Fisahn, Maria, Gespräch am 26. Januar 2009. Jaar, Alfredo, Gespräch am 6. Juni 2002. Kawabe, Naho, Gespräch am 30. Dezember 2012. Dies., Gespräch am 12. März 2015. Dies., E-Mail-Statement vom 21. April 2015. Lang, Volker, Projekt-Beschreibung für Konstruierte Empfindung – beobachtbare Zeit. Time and Emotion under Construction 2011 im Kunsthaus Hamburg, E-Mail vom 20. Okt. 2010. Ders.: Brief vom 23. September 2010. Ders., Kurzbeschreibung zu 8 1/2 Circus space (2006), Brief vom 24. Oktober 2010. Ders., Kurzbeschreibung des Künstlers zu Spiritlovers (2008), Brief vom 26. Oktober 2010. Ders., Kurzbeschreibung des Künstlers zu Südwärts (2005), Brief vom 26. Oktober 2010. Minter, Marilyn, Gespräch am 9. April 2011. Reisser, Mirko, Gespräch am 9. August 2011. Swansea, Ena, Gespräch am 31. Oktober 2011.

304

NACHWEISE

Kap. 2: Bearbeitete und erweiterte Fassung des Texts: Sternbilder, Wolkenbilder – Meret Oppenheims Formgebung des Wandelbaren, zuerst erschienen in: Meret Oppenheim. Gedankenspiegel / Mirrors of the Mind, dt./engl., hrsg. v. Thomas Levy, Bielefeld 2013, S. 37–45. Kap: 3: Bearbeitete Fassung des Texts: Kunst oder Leben. Und dann schnappt die Falle zu: Daniel Spoerris Gespür für Schnee und für die Dauer des Flüchtigen, zuerst erschienen in: Daniel Spoerri. Von den Fallenbildern zu den Prillwitzer Idolen, Ausst.Kat. (Museen der Stadt Aschaffenburg, Kunsthalle Jesuitenkirche: 2010), hrsg. v. Christiane Ladleif, Bielefeld 2010, S. 15–25. Kap. 4: Bearbeitete Fassung des Texts: Zwischen Eros und Thanatos. Kreislauf des Werdens und Vergehens: Maria Fisahns Erdbeermuseum, zuerst erschienen in: Vom Blumenbild zum digitalen Garten, Ausst.-Kat. (anlässlich der Ausstellungen: GARTEN – Vom Blumenbild zum digitalen Garten, Kunstsammlungen, Schlösser und Gärten Staatliches Museum Schwerin, Bundesgartenschau in Schwerin: 2009), hrsg. v. Gerhard Graulich, S. 119–124. Kap. 5: Stark bearbeitete und erweiterte Fassung des Texts: Reality Check. Marilyn Minters derangierter Glamour, in: Marilyn Minter, Ausst.-Kat., dt./engl. (Deichtorhallen/Sammlung Falckenberg, Hamburg: 2011), hrsg. v. Dirk Luckow, Köln 2011, S. 25–28. Kap. 6: Stark bearbeitete und erweiterte Fassung des Texts: Die Magie von Luftschlössern und Kartenhäusern. Catherine Bolducs (CAN) ephemere Kunst der Zeichen und Wunder, zuerst erschienen in: Be Magazin, »auteur«, Jahresschrift, Ausg. 15, dt./ engl., hrsg. v. Künstlerhaus Bethanien Berlin, Berlin 2008, S. 20–24. Kap. 7: Bearbeitete und erweiterte Fassung des Texts: Licht- und Schattenspiele. Der Flüchtigkeit Gestalt geben: Naho Kawabes Sichtbarmachung des Unsichtbaren, zuerst erschienen in: Naho Kawabe. Observer Effect, Ausst.-Kat., dt./engl. (Wassermühle Trittau: 2013), hrsg. v. Sparkassen-Kulturstiftung Stormarn, Berlin 2013, S. 14–22. Kap. 8: Stark bearbeitete und erweiterte Fassung des Texts: Ena Swansea. Trojanische Pferde: Reflexionen des Ephemeren, zuerst erschienen in: Psycho. Ena Swansea und / and Robert Lucander, Ausst.-Kat. (Deichtorhallen/Sammlung Falckenberg, Hamburg: 2011/2012), dt./engl., hrsg. v. Dirk Luckow, Köln 2011, S. 15–17.

305

NACHWEISE

Kap. 9: Bearbeitete und erweiterte Fassung des Texts: Haltestellen im Nirgendwo. Nomadisierende Modelle der Nichtrealisierung: Lorenz Estermanns hybride Häuser und Bauten, zuerst erschienen in: Lorenz Estermann. public hyperbindings, Ausst.Kat. (Galerie Stefan Röpke, Köln; Galerie Willy Schoots, Eindhoven: 2010) dt./engl., hrsg. v. Alexander Sairally, Ostfildern 2010, S. 17–21. Kap. 10: Bearbeitete und erweiterte Fassung des Texts: Benennen, was nicht zu benennen ist. Unterwegs zu DAIM: Mirko Reissers verbale Selbstportraits in Wandlung, zuerst erschienen in: Mirko Reisser [DAIM]: 1989 – 2014, dt./engl., Rom 2014, S. 161–167. Kap. 11: Bearbeitete und erweiterte Fassung des Texts: Bruchstücke von Geschichten im Fluss. Innehalten, Weiterdenken: Volker Langs Verräumlichung des Ephemeren, zuerst erschienen in: Volker Lang – Ich sehe Indien. Skulpturen, Räume, Projekte, hrsg. v. Volker Lang, Wien/Bozen 2011, S. 4–11. Kap. 12 Bearbeitete und erweiterte Fassung des Texts: Fragmente einer Illusion. Diesseits und jenseits der Spiegel: Luis Camnitzers ambivalente Kunst der Grenzüberschreitung, zuerst erschienen in: Luis Camnitzer. Werke von 1966 bis 2003 / Works from 1966 to 2003, Ausst.-Kat., dt./engl. (Schleswig-Holsteinischer Kunstverein in der Kunsthalle zu Kiel: 2003/2004), hrsg. v. Dirk Luckow, Kiel 2003, S. 77–88.

306

BILDNACHWEIS

1 | Einführung : Abb. 1: Privatsammlung; Abb. 2: Rijksmuseum, Amsterdam, erworben aus Mitteln der Stichting Jubileumfonds Rijksmuseum; Abb. 3: National Gallery, London, Turner Bequest, 1856; Abb. 4: Nelson-Atkins Museum of Art, Kansas City, Missouri, erworben aus Mitteln des Kenneth A. and Helen F. Spencer Acquisition Fund. 2 | Meret Oppenheim: Abb. 5: Courtesy LEVY Galerie, Hamburg, Foto: Dirk Masbaum, Hamburg; Abb. 6: Galerie Ziegler SA, Zürich, Courtesy Galerie Ziegler, Zürich, Foto: Jean-Pierre Kuhn; Abb. 7: Kunstmuseum Bern, Courtesy LEVY Galerie, Hamburg, Foto: Dirk Masbaum, Hamburg; Abb. 8: Privatsammlung Köln, Courtesy LEVY Galerie, Hamburg, Foto: Dirk Masbaum, Hamburg; Abb. 9: Privatsammlung Schweiz, Courtesy LEVY Galerie, Hamburg, Foto: Dirk Masbaum, Hamburg. Abb. 5–9: © VG Bild-Kunst, Bonn 2016. 3 | Daniel Spoerri: Abb. 10: Maria und Walter Schnepel Kulturstiftung, Budapest, Courtesy LEVY Galerie, Hamburg, Foto: Dirk Masbaum, Hamburg; Abb. 11: Galerie Henze & Ketterer, Wichtrach/Bern, Courtesy Galerie Henze & Ketterer, Foto: Galerie; Abb. 12: Sammlung des Künstlers, Courtesy LEVY Galerie, Hamburg, Foto: Dirk Masbaum, Hamburg; Abb. 13: Sammlung des Künstlers, Courtesy LEVY Galerie, Hamburg, Foto: Dirk Masbaum, Hamburg; Abb. 14: Museumsberg Flensburg, Courtesy LEVY Galerie, Hamburg, Foto: Dirk Masbaum, Hamburg. Abb. 10–14: © VG Bild-Kunst, Bonn 2016. 4 | Maria Fisahn: Abb. 15–16: Fotos: Fred Dott. Abb. 15–18: Courtesy und © Maria Fisahn. 5 | Marilyn Minter: Abb. 19: Courtesy die Künstlerin, Salon 94, New York, und Regen Projects, Los Angeles; Abb. 20–22: Courtesy die Künstlerin und Salon 94, New York. 6 | Catherine Bolduc: Abb. 23: Foto: Guy L‘Heureux; Abb. 24–26: Fotos: Paul Litherland. Abb. 23–26: Courtesy die Künstlerin. 7 | Naho Kawabe: Abb. 27: Foto: Ken Kato; Abb. 29: Foto: Ken Kato. Abb. 27–30: Courtesy die Künstlerin, © VG Bild-Kunst, Bonn 2016. 8 | Ena Swansea: Abb. 31–34: Courtesy die Künstlerin, Fotos: Christopher Burke Studio. Farbabbildungen: Abb. 35: Meret Oppenheim: Courtesy LEVY Galerie, Hamburg, © VG Bild-Kunst, Bonn 2016, Foto: Dirk Masbaum, Hamburg; Abb. 36: Daniel Spoerri: Sammlung des Künstlers, Courtesy LEVY Galerie, Hamburg, VG BildKunst, Bonn 2016, Foto: Dirk Masbaum, Hamburg; Abb. 37: Maria Fisahn: Courtesy und © Maria Fisahn, Foto: Fred Dott; Abb. 38: Marilyn Minter: Courtesy die Künstlerin und Salon 94, New York; Abb. 39: Catherine Bolduc: Courtesy die Künstlerin, Foto: Catherine Bolduc; Abb. 40: Naho Kawabe: Courtesy die Künstlerin, © VG Bild-Kunst, Bonn 2016, Foto: Shintaro Yamanaka; Abb. 41: Ena Swansea: Courtesy die Künstlerin, Foto: Christopher Burke Studio; Abb. 42 : Lorenz Estermann: Courtesy alexanderlevy, Berlin, © Lorenz Estermann 2012; Abb. 43: Mirko Reisser (DAIM): Courtesy ReinkingProjekte, © Mirko Reisser (DAIM), © VG Bild-

307

BILDNACHWEIS

Kunst, Bonn 2016, Foto: Cecile Arp; Abb. 44: Volker Lang: Courtesy der Künstler, © VG Bild-Kunst, Bonn 2016, Foto: Norbert Balzer, Cuxhaven Abb. 45: Luis Camnitzer: Courtesy Alexander Gray Associates, New York, © 2016 Luis Camnitzer/ Artists Rights Society (ARS), New York; Abb. 46: Teresa Margolles: Courtesy die Künstlerin und Galerie Peter Kilchmann, Zürich, Foto: Axel Schneider; Abb. 47: Felix Gonzalez-Torres: Courtesy Andrea Rosen Gallery, New York, © The Felix Gonzalez-Torres Foundation, Foto: James Ewing; Abb. 48: Christian Boltanski: Museo Nacional Bellas Artes, Santiago de Chile, Courtesy und © Christian Boltanski, Paris, © VG Bild-Kunst, Bonn 2016. 9 | Lorenz Estermann: Abb. 49: © Lorenz Estermann 2009; Abb. 50: © Lorenz Estermann 2008; Abb. 51: © Lorenz Estermann 2008; Abb. 52: © Lorenz Estermann 2009; Abb. 53: © Lorenz Estermann 2013. Abb. 49–53: Courtesy alexanderlevy, Berlin. 10 | Mirko Reisser (DAIM): Abb. 54: Courtesy von-der-Heydt Museum, WuppertalBarmen, ReinkingProjekte; © Mirko Reisser (DAIM), Abb. 55: Courtesy ReinkingProjekte; Abb. 56: Courtesy Museum Marta Herford, ReinkingProjekte; Abb. 57: Courtesy ReinkingProjekte; Courtesy sommer.frische.kunst. Abb. 54–57: © Mirko Reisser (DAIM), © VG Bild-Kunst, Bonn 2016, Fotos: MRpro. 11 | Volker Lang: Abb. 58: Foto: Hajo Haye; Abb. 59: Foto: Anselm Gaupp; Abb. 60: Foto: Nobert Balzer, Cuxhaven; Abb. 61: Foto: Markus Ambach; Abb. 62: Foto: Helge Mundt. Abb. 58–62: Courtesy der Künstler, © VG Bild-Kunst Bonn 2016. 12 | Luis Camnitzer: Abb. 63–66: Courtesy Alexander Gray Associates, New York, © 2016 Luis Camnitzer/Artists Rights Society (ARS), New York. 13 | Teresa Margolles: Abb. 67: Foto: Axel Schneider; Abb. 67-70: Courtesy die Künstlerin und Galerie Peter Kilchmann, Zürich. 14 | Felix Gonzalez-Torres: Abb. 71–72: © The Felix Gonzalez-Torres Foundation, Courtesy Andrea Rosen Gallery, New York. 15 | Christian Boltanski: Abb. 73: Kunstmuseum Wolfsburg, Courtesy Kunstmuseum Wolfsburg, Foto: Marek Kruszewski; Abb: 74: Courtesy und © der Künstler, Courtesy Kewenig Galerie, Berlin | Palma; Abb. 75: Courtesy und © der Künstler, Courtesy Kewenig Galerie, Berlin | Palma; Abb. 76: Kunstmuseum Wolfsburg, Schenkung Freundeskreis des Kunstmuseum Wolfsburg e.V., Courtesy Kunstmuseum Wolfsburg, © der Künstler, VG Bild-Kunst, Bonn 2016. 16 | Epilog : Abb. 77: Meret Oppenheim: Privatbesitz, Basel, Courtesy LEVY Galerie, Hamburg, Foto: Dirk Masbaum, Hamburg; Abb. 78: Meret Oppenheim: Privatsammlung, Courtesy Galerie Ziegler SA, Zürich, Foto: Galerie; Abb. 79: Christian Boltanski: Courtesy und © der Künstler, Courtesy Kunstmuseum Wolfsburg, Foto: Marek Kruszewski. Abb. 77–79: © VG Bild-Kunst, Bonn 2016.

308

DANK

E

in umfassender Dank geht an meine Eltern Thomas Jefferson und Gunhilde Gardner und an meine Geschwister Thomas, Tatyana und Mahalia: for all your love and support, for always being there, and for being what you are (the greatest), desgleichen an meine Freundinnen und Freunde, die mich durch die Zeiten hindurch auf so vielfältige Weise mit ihrer Zuneigung und Liebe begleitet und getragen haben, insbesondere an Susanne Sander, die mir immer wieder und ganz entschieden auch bei diesem großen Unterfangen eine unermessliche Stütze war, für ihre lebensumspannende Freundschaft. Spezifisch danke ich Prof. Dr. Annette Tietenberg und Prof. Dr. Michael Glasmeier für ihre Unterstützung im Zuge der Verwirklichung meines Vorhabens und das meiner Dissertation entgegengebrachte Interesse bei deren Betrachtung und Begutachtung. Für die wunderbare Gestaltung und Verwandlung meines Manuskripts in ein höchst anmutiges Buch danke ich der Künstlerin und Grafikerin Dodo Schielein. Ganz herzlich danke ich Dr. Luise Metzel für die generös vorab gegebenen Hinweise zur formalen Perfektionierung des Manuskripts und Barbara Noell für ihr großmütiges Engagement bei dessen Veröffentlichung. Auch denen, die von institutioneller oder GalerienSeite aus die Publikation durch Bereitstellung von Bild- und Informationsmaterial unterstützt haben, danke ich sehr. Sehr herzlich danke ich der ALE-Stiftung für großzügige Unterstützung bei der Drucklegung des Buchs. Traute und Thomas Levy danke ich für die inspirierende Möglichkeit, mich in das Werk von Meret Oppenheim und Daniel Spoerri vertiefen zu können, und für alles Weitere. Ulf Schröder gebührt ein spezieller Dank für sein großzügiges Entgegenkommen hinsichtlich des weite Blicke gewährenden Raums für jene mentale Vertiefung. Ein ganz großer Dank geht an alle Künstlerinnen und Künstler, die diese Auseinandersetzung mit den Gestaltgebungen des Ephe­ meren durch ihre Bilder und Gedanken angeregt und überhaupt erst möglich gemacht haben. Herzlichen Dank auch an Prof. Dr. Horst Bredekamp für seine große Offenheit meinen akademischen Anliegen gegenüber. Für die nachhaltig bereichernde Vermittlung der Faszinationskraft lyrischer Themen und Motive, die mich von den Bildern der Sprache zur Sprache der Bilder geführt hat, danke ich meinem langjährigen Mentor Prof. Dr. Theodor Wolpers with all my heart.

309

Image Annette Jael Lehmann Environments: Künste – Medien – Umwelt Facetten der künstlerischen Auseinandersetzung mit Landschaft und Natur Mai 2018, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1633-0

Gerald Schröder, Christina Threuter (Hg.) Wilde Dinge in Kunst und Design Aspekte der Alterität seit 1800 Mai 2017, ca. 264 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3585-0

Pierangelo Maset, Kerstin Hallmann (Hg.) Formate der Kunstvermittlung Kompetenz – Performanz – Resonanz Mai 2017, ca. 160 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-3689-5

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Image Sylvia Brodersen Modefotografie Eine fotografische Praxis zwischen Konvention und Variation April 2017, ca. 320 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-3870-7

Sabiene Autsch, Sara Hornäk (Hg.) Material und künstlerisches Handeln Positionen und Perspektiven in der Gegenwartskunst April 2017, ca. 240 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3417-4

Astrit Schmidt-Burkhardt Die Kunst der Diagrammatik Perspektiven eines neuen bildwissenschaftlichen Paradigmas April 2017, ca. 280 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3631-4

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.)

Diskriminierungen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2016

November 2016, 160 S., kart., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-3578-2 E-Book: 14,99 € Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften dient als kritisches Medium für Diskussionen über »Kultur«, die Kulturwissenschaften und deren methodische Verfahren. Ausgehend vom internationalen Stand der Forschung sollen kulturelle Phänomene gleichermaßen empirisch konzis wie theoretisch avanciert betrachtet werden. Auch jüngste Wechselwirkungen von Human- und Naturwissenschaften werden reflektiert. Diese Ausgabe untersucht das soziale Phänomen der Diskriminierung. Was bedeutet Diskriminierung? Worauf basiert sie? Wie werden diskriminierende Merkmale identifiziert? Die Untersuchungen verbinden verschiedene Perspektiven, solche aus der Literatur- und Kulturwissenschaft, der Psychologie, der Medizin und der Sportwissenschaft. Lust auf mehr? Die ZfK erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 20 Ausgaben vor. Die ZfK kann – als print oder E-Journal – auch im Jahresabonnement für den Preis von 20,00 € bezogen werden. Der Preis für ein Jahresabonnement des Bundles (inkl. Versand) beträgt 25,00 €. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

www.transcript-verlag.de