Traktate zur Platonischen Philosophie [Reprint 2017 ed.] 9783050069135, 9783050023625

136 66 16MB

German Pages 263 [272] Year 1995

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Traktate zur Platonischen Philosophie [Reprint 2017 ed.]
 9783050069135, 9783050023625

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Argumentum in Piatonicam Theologiam / Einführung in die Platonische Theologie
Compendium Platonicae Theologiae / Kompendium der Platonischen Theologie
Quaestiones quinqué de mente / Fünf Fragen über den Geist
Quid est felicitas, quod habet gradus, quod est eterna / Über die Glückseligkeit

Citation preview

COLLEGIA PHILOSOPHISCHE

Marsilio Ficino

Traktate

TEXTE

COLLEGIA

PHILOSOPHISCHE TEXTE

Herausgegeben von Rolf Schönberger, Jörg Jantzen und Paul Richard Blum

Piaton: Hippias minor oder Der Falsche Wahre Thomas von Aquin: Über die Sittlichkeit Bonaventura: Über den Grund der Gewißheit Philosophie und Theologie von Averroes Piaton: Nomoi X Francisco de Vitoria: Über die staatliche Gewalt

COLLEGIA PHILOSOPHISCHE

TEXTE

Marsilio Ficino

Traktate zur Platonischen Philosophie Übersetzt und mit Erläuterungen versehen von Elisabeth Blum, Paul Richard Blum und Thomas Leinkauf

Akademie Verlag

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahrae

Ficinus, Marsilius: Traktate zur Platonischen Philosophie/Marsilio Ficino. Übers, und mit Erl. vers, von Elisabeth Blum . . . - Berlin: Akad. Verl., 1993 (Collegia) ISBN 3-05-002362-7 NE: Blum, Elisabeth [Hrsg.]; Ficinus, Marsilius: [Sammlung < d t > ]

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 1993 Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen der VCH-Verlagsgruppe. Gedruckt auf säurefreiem Papier. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Satz: Hagedorn, Berlin Druck und Bindung: Clausen & Bosse GmbH, Leck Printed in the Federal Republic of Germany

Inhalt

Einleitung 1. Das Leben eines platonischen Philosophen: Marsilio Ficino 2. Die Bedeutung Piatons und des Piatonismus bei Marsilio Ficino 3. Zum Inhalt der Schriften 4. Zu dieser Ausgabe 5. Auswahlbibliographie

1

9 27 34 37

Argumentum in Piatonicam Theologiam Einführung in die Platonische Theologie

44 45

Compendium Platonicae Theologiae Kompendium der Platonischen Theologie

106 107

Quaestiones quinqué de mente Fünf Fragen über den Geist

156 157

Quid est felicitas, quod habet gradus, quod est eterna Über die Glückseligkeit

222 223

1

Einleitung 1. Das Leben eines platonischen Philosophen: Marsilio Ficino

Das Leben Marsilio Ficinos war das eines platonischen Philosophen, sorgenfrei und asketisch zugleich, ohne Katastrophen, konsequent in der Entwicklung einer Idee, der des christlichen Piatonismus. So läßt es sich leicht stilisieren. Was dagegen sprechen könnte, sind innere Irritationen, welche seine Philosophie hätten in Schwierigkeiten bringen können - es aber nicht taten. Sein Testament machte er am 29. September 1499, zwei Tage vor seinem Tod am 1. Oktober 1499, als „ehrenwerter und geachteter Herr, großer und hochberühmter Philosoph und Kanoniker des Doms zu Florenz"1. Geboren war er am 19. Oktober 1433 in Figline im Arnotal, wo sein Vater Arzt war; von dessen Namen Dietifeci (oder Diotifeci) und dem gebräuchlichen Deminuitiv „Fecino" erhielt Marsilio seinen Namen Ficino. Mit der Anstellung des Vaters zunächst als Chirurg am Florentiner Krankenhaus und dann als Leibarzt des ungekrönten Herrschers in Florenz, des 1434 aus dem Exil heimgekehrten Cosimo de' Medici, beginnt Marsilios Karriere. Er wird um 1449-1451 auf die Universität Pisa/Florenz geschickt, wo er, nach der obligatorischen Philosophie, Medizin studiert. Als der Vater den Sohn dem „Pater Patriae" Cosimo vorstellt, erklärt dieser: „Du, Ficino, bist 1

Marcel 1958,740-746, hier 740; Catalogo Nr. 171, dort Nr. 172 zum Todesdatum.

2

Einleitung

zur Heilung des Körpers, Dein Sohn Marsilio ist zur Heilung der Seelen vom Himmel uns geschickt worden."2 Ficino interessierte sich früh für die platonisierende Literatur des lateinischen Mittelalters, nachdem er eine Zeitlang mit dem Epikureismus des Lukrez sympathisiert hatte. Im Alter erzählt er, er habe mit dreiundzwanzig Jahren (1456) im Eifer ein Lehrbuch „Institutiones ad Platonicam disciplinam" verfaßt. Als seine Berater - darunter Cosimo - es lasen, rieten sie von der Veröffentlichung ab, er solle statt dessen erst einmal Griechisch lernen, um den Piatonismus „aus den Quellen zu schöpfen"3. Was er zuvor und in der Folge an platonischen Klassikern verarbeitet hat, zählt Ficino in einem berühmten Brief an Martin Uranius auf: die lateinischen Ausgaben des Dionysius Areopagita, Augustinus, des Boethius „Consolatio philosophiae", Apuleius („De daemonibus"), den Timaios-Kommentar des Chalcidius sowie Macrobius, auch die lateinisch übersetzten Araber Avicebron, Alfarabi, Avicenna, und er weist darauf hin, daß auch die mittelalterlichen Theologen Heinrich von Gent und Scotus (Eriugena) platonisch beeinflußt sind. Aus der neueren Zeit erwähnt er Kardinal Bessarion und Nicolaus Cusanus4. In der Folge übersetzt Ficino eine große Reihe von platonischen Grundtexten aus dem Griechischen ins Lateinische. Zuerst das „Corpus Hermeticum", das 1471 - als erstes Buch Ficinos überhaupt - gedruckt erscheint und dem er auf diese Weise einen festen Platz im Bildungska-

2

3 4

Vita von Giovanni Corsi, in : Marcel 1958,680-689, hier 682 : Tu, inquit, Ficine corporibus, at Marsilius hic tuus animis medendis coelitus demissus est. Brief an Philippus Valor v o m N o v e m b e r 1491, Opera 929. 12.6.1489, Opera 899; hierzu Klibansky 1981. Vgl. auch den Brief an Philippus Valor, Opera 929, und die Liste der v o n Ficino benutzten, besessenen, kopierten oder annotierten Autoren bei Kristeller 1987, 159-162. Vgl. unten S . 9 f f .

Leben eines platonischen

Philosophen

3

non des lateinischen Europa sichert5. Piaton wird gleich anschließend übersetzt und teilweise kommentiert 6 . Als dieser 1484 gedruckt vorliegt, folgt die Übersetzung der Enneaden des Plotin, die 1492, ebenfalls mit Kommentaren, gedruckt erscheint. Dazwischen liegen kleinere Übersetzungen7 und eigene Schriften. Am 18. April 1463 schenkt Cosimo de' Medici Ficino ein Landhaus in Careggi bei Florenz (nachdem er ihm kurz zuvor schon ein Stadthaus geschenkt hatte), das ihn wirtschaftlich absicherte und ihm erlaubte, sich für seine schriftstellerische Arbeit zurückzuziehen8. Die Villa in Careggi gilt zumeist als Treffpunkt der Gruppe, die man als „Platonische Akademie von Florenz" bezeichnet. Jedoch scheint diese Akademie eher ein Mythos gewesen zu sein, entstanden aus der Tatsache, daß Ficino ein eifriger Lehrer und Promotor seiner Philosophie war. In Florenz, vermutlich im Haus seines Vaters, veranstaltete er wohl Treffen im Geiste der platonischen Philosophie9. Man findet sie in Ficinos Schrift „De amore" stilisiert: Es handelt sich um Dialoge, die vorgeblich ein Symposion am Geburtstag Piatons darstellen und zugleich den Inhalt gerade von Piatons „Symposion" nachdiskutieren10. Gegen diese Selbstdarstellung ist jede historische Faktenforschung machtlos. Tatsache ist, daß die Schenkung von Careggi das nahe Ende des Herrschers Cosimo

5 Frances A. Yates, Giordano Bruno and the Hermetic Tradition, London 1964, vor allem Kap. 2 u. 4. 6 Hankins 1986. 7 Speusippos, Alkinoos, Pythagoras (alle ca. 1463), Dantes „Monarchia" 1468, Hermias 1484. 8 Catalogo Nr. 139, 140. 9 Hankins 1991. 10 Vgl. De amore, Vorrede.

4

Einleitung

(f 1464) und der Symposion-Kommentar den Aufstieg des Lorenzo de' Medici (des Enkels) markieren". Lorenzo wird bis zu seinem Tod 1492 nicht nur Mäzen, sondern Verkörperung des idealen gebildeten Publikums für Ficino werden. An ihn sind die meisten Werke adressiert, auch die in diesem Band gedruckten. „Im Schatten dieses Lorbeerbaums"12 gelangt Ficino zu Ruhm. Wir dürfen den Widmungsbrief der „Einführung" ernst nehmen, warum sonst hätte der Philosoph sich derart in die Schuld seines Schülers begeben sollen, wenn er sich nicht schon darin befände? „Zumal ich es nicht so sehr deswegen schulde, weil ich es versprach, als es versprach, weil ich alles schulde." Mitglieder dieser als Platonische Akademie zu Florenz bekannten Gruppe, unter Ficino als „alter Plato", waren Dichter wie Angelo Poliziano, Tommaso Benci und Cristoforo Landino, Redner, Juristen und Politiker aus den Familien Rucellai, Guicciardini, Medici und Albizzi, Philosophen wie der Grieche Demetrios Chalkondyles, Leon Battista Alberti und Giovanni Pico, Kirchenmänner wie der Bischof von Fiesole Antonio degli Agli. Ficino selbst unterschied zwischen eng vertrauten (familiares) und zuhörenden (auditores) Mitgliedern; die wenigsten von ihnen waren so fanatische Platoniker wie ihr Lehrer Ficino13. Für Lorenzo und seine Mitphilosophen sind die großen religionsphilosophischen Abhandlungen geschrieben: „De Christiana religione" und „Theologia platonica". „De Christiana religione" wurde 1474 verfaßt und von Ficino

11 Zu Ficino und den Medici zuletzt: Fubini 1984 und 1987; Hankins 1990 (Cosimo de' Medici and the "Platonic Academy"). 12 Laurus/Laurentius: Marcel 1958, 372. 13 Brief an Uranius von 1492, Opera 936. Im übrigen Della Torre passim, v. a. 26-31 u. 654-800, Hankins 1991.

Leben eines platonischen

Philosophen

5

selbst sofort ins Italienische übersetzt, um für die führenden Köpfe von Florenz, die kein Latein beherrschten, lesbar zu sein14; noch in demselben Jahr wurde die italienische Ausgabe gedruckt; erst 1476 folgte der lateinische Druck. Es handelt sich um ein apologetisches Werk zur Befreiung der Philosophie von der Gottlosigkeit15 und zum Nachweis der Existenz Gottes und Wahrheit der christlichen Religion, das die Tradition nicht verleugnet, indem es die loci theologici umfassend zusammenstellt16. Wichtiger als eine theologische Christologie scheint Ficino der Aufweis der ungebrochenen Reihe der Bezeugung zu sein. Christus bezeichnet er als „Lehrbuch der Moral, ja sogar der vom Himmel gesandten göttlichen Philosophie, und als die für Menschen sichtbare Idee der Tugenden selbst"17. Philosophie ist ihm folglich ein genuin religiöses und menschlich interesseloses Unternehmen, das nicht der menschlichen, sondern der göttlichen Erkenntnis untersteht18. So erfüllte Ficino seinen Auftrag als Seelenarzt. Noch umfassender ist die „Theologia platonica" angelegt (begonnen 1469, also zusammen mit den großen PiatonKommentaren, abgeschlossen 1474 gemeinsam mit „De Christiana religione"): Sie beweist in achtzehn Büchern

14 Ähnlich verfuhr Ficino mit De amore und D e raptu Pauli. 15 Opera 1 : liberemus ( . . . ) philosophiam, sacrum dei munus, ab impietate ( . . . ) religionem sanctam pro viribus ab execrabili inscitia redimamus. 16 Vgl. Vasoli 1988. 17 Cap. 23 (Opera 25) : liber quidam moralis, imo divinae Philosophiae vivens de coelo missus, et divina ipsa idea virtutum humanis oculis manifesta; mit der Überschrift: Christus est idea, et exemplar virtutum. 18 Kommentar zu Phaidros 249b (Opera 1379): Oportet autem philosophari sine dolo, id est, non humanae sapientiae gratia, sed divinae.

6

Einleitung

die Unsterblichkeit der Seele und entfaltet die Themen, die in den hier vorgelegten Traktaten angeschnitten werden, insofern sie Einführungen in dieses Buch sein sollten. Die Verschränkung von theologischer Anthropologie mit platonisierender Ideenlehre und Ethik ist der durchgehaltene Anspruch. Die Auseinandersetzung wird kaum mit Heiden geführt, wie es sich für einen christlichen Philosophen geziemen würde, sondern vielmehr mit irrigen Annahmen über die Natur des Menschen und der Seele (was weitgehend identifiziert wird), und in diesem Sinne werden Epikureismus und auch Averroismus kritisiert. In die Jahre äußerster Produktivität (die aber keineswegs nachlassen sollte) fallt auch Ficinos Entschluß, Priester zu werden (1473). Er scheint diesen Schritt getan zu haben, um in Ruhe der Philosophie nachgehen zu können, zugleich aber auch als Konsequenz aus seiner Philosophie der christlichen Religion. „De Christiana religione" könnte als seine Programmschrift gelesen werden, zumal er bald darauf von Lorenzo zum Rektor einer Kirche ernannt wurde 19 . In den folgenden Jahrzehnten ist Ficino einerseits damit beschäftigt, die Ernte seiner platonischen Studien einzubringen, andererseits widmet er sich wissenschaftlichen Problemen : Er ediert, übersetzt und kommentiert Plotin20, Dionysios Areopagita und andere, und er befaßt sich mit Magie, Astrologie und Medizin21. Beständig schwankt er 19 Della Torre 599 ff. Vgl. Fubini 1987. 20 Albert M. Wolters, The First Draft of Ficino's Translation of Plotinus, in: Studi e documenti, 305-330. 21 D i e betreffende Literatur findet sich in den Artikeln v o n D . P. Walker, Brian P. Copenhaver und Carol V. Kaske in: Studi e documenti. Vgl. auch Wolf-Dietrich Müller-Jahncke, Astrologisch-magische Theorie und Praxis in der Heilkunde der frühen Neuzeit, Stuttgart 1985. Ein Consilio contro la pestilenza schrieb Ficino zu Ehren seines 1478 verstorbenen Vaters.

Leben eines platonischen

Philosophen

1

zwischen einer affirmativen und einer apologetisch-kritischen Interpretation astromedizinischer Theorie und deren Anwendung. Der dritte Teil seines medizinischen Hauptwerkes „De vita" von 1489 handelt u. a. davon, wie man mit Hilfe der Sternzeichen auf das irdische Leben Einfluß nehmen kann. Die Argumente gegen die Astrologie, die vor allem auch Ficinos jüngerer Freund Giovanni Pico della Mirandola vertrat22, basierten auf der Verteidigung der Willensfreiheit und der Kontingenz des irdischen Geschehens. Für die Astromedizin stand dagegen Ficinos Konzeption eines einheitlichen, von Gott durchwirkten Kosmos. Ficinos Haltung zur Astrologie ist faktisch mit der Afíare des Dominikaner-Predigers Girolamo Savonarola verknüpft, der gegen diese Art von paganer Weisheit für eine christliche Erneuerung in Florenz kämpfte23. Savonarolas Opposition gegen die Rückkehr der Medici, die unter Lorenzos Nachfolger Piero lo Sfortunato („der Glücklose") die Macht verloren hatten, entzweite ihn auch mit Ficino, der nach dessen Tod auf dem Scheiterhaufen (1498) eine unveröffentlichte Schrift gegen den Prediger mit astrologischen Argumenten verfaßte24. Eine ebenfalls schwierige Freundschaft verband Ficino mit dem jugendlichen Genie Giovanni Pico della Miran-

22 Giovanni Pico della Mirandola, Disputationes adversus astrologiam divinatricem, a cura di Eugenio Garin, Firenze 1946-1952. 23 Zu Ficino und Savonarola (der in dieser Sache mit Pico übereinstimmte) Marcel 1958, 555-579 und Kaske 1986. Die Verbindung von politischem Programm, Polemik gegen „astrologi, filosofi, poeti" und geistlicher Erneuerung enthält z. B. die Predigt vom 17.1.1495: Savonarola, Prediche italiane ai Fiorentini II, Perugia-Venezia 1930, 55-70. 24 Apologia contra Savonarolam (Supplementum Ficinianum II 76 ff.).

8

Einleitung

dola. In seinem Widmungsbrief zum Plotin-Kommentar an Lorenzo de' Medici (beendet 1490) spekuliert Ficino über den Zufall, daß Pico gerade in dem Jahr 1463 geboren wurde, als Piaton in Ficinos Übersetzung wiedergeboren zu werden begann, und in dem Augenblick der Veröffentlichung (1484) nach Florenz kam, um genau das zu fordern, was Cosimo ihm aus dem Himmel eingegeben haben mußte, nämlich die Übertragung des Plotin25. Pico bereiste - im Unterschied zu Ficino - die Welt, er studierte an den berühmtesten Universitäten (Bologna, Ferrara, Padua, Paris) und war ein Eklektiker, der neben den platonischen Quellen auch die aristotelische Scholastik, die jüdische Weisheit und vieles andere hoch schätzte. Ficino projizierte auf den Jüngeren seine eigene Erfahrung, die ihn vom Epikureismus über den Averroismus zu Piaton geführt hatte, auf dessen Lehre als Mittelweg (per mediam quandam viam) man zur christlichen Lehre komme26. Dementsprechend kam es in Fragen der Platon-Auslegung zum Konflikt, der auf eine weniger neuplatonische, aristotelisierende Interpretation hinausläuft. Der ältere sah den Unterschied gerade darin, daß das Eine und Gute als Seinsprinzip für alles anzunehmen sei27, während der jüngere in dem Versuch, Piaton und Aristoteles zu harmonisieren, den „Parmenides" Piatons für eine dialektische Übung erklärte, um zu verhindern, daß das Eine dem Seienden vorangehen müßte28. Die philosophisch-theologischen Konsequenzen wurden allerdings nie offen ausgetragen. Für die Frage der „richtigen" Auslegung Piatons ist Ficino ohnehin kein Gewährsmann, war doch sein

25 26 27 28

Opera 1537. Brief an Pico ca. 1492, Opera 930. Kommentar z u m Parmenides, Kap. 49, Opera 1164. Giovanni Pico della Mirandola, D e ente et uno, in : D e hominis dignitate, Heptaplus, D e ente et uno, e scritti vari, hrsg. v o n Eugenio Garin, Firenze 1942, 390. Hierzu Allen 1986.

Bedeutung Piatons und des

Piatonismus

9

erklärtes Ziel, Piaton an das Christentum anzupassen, auch gegen den Widerstand der Platon-Kenner29. Im hohen Alter veröffentlichte Ficino - wie es unter Humanisten üblich war - seine Briefe mit nahen und fernen Freunden. Sie waren für ihn wie Kinder, die durch den Buchdruck unsterblich wurden30. Das zweite Buch der Briefe besteht aus Abhandlungen, die auch schon anderweitig an die Öffentlichkeit gekommen waren. Das letzte große Werk Ficinos wurde sein (unvollendet gebliebener) Kommentar zum Römerbrief des Apostels Paulus; er bezeugt ein letztes Mal seine platonische Apologie des Christentums und vermutlich auch sein praktisches Wirken als Prediger der Kirche. Es wird erzählt, Ficino und sein Freund Michele Mercati hätten einst vereinbart, daß derjenige, der zuerst stürbe, dem anderen aus dem Jenseits berichten sollte. Tatsächlich sei Ficino im Augenblick seines Todes dem Freund Mercati mit den Worten erschienen: „Michael, Michael, es ist alles wirklich wahr!«31

2. Die Bedeutung Piatons und des Piatonismus bei Marsilio Ficino Marsilio Ficino ist einer der bedeutendsten philosophischen Vertreter des Piatonismus im 15. Jahrhundert. Er löste den auf die ethisch-politischen Schriften und Themen konzentrierten Dialog, den die Humanisten mit Pia

29 In Timaeum (Opera 1442): Platonem Christianae theologiae magis conciliabimus, sed caeteri Piatonis interpretes reclamabunt. 30 Opera 607. 31 Caesar Baronius, Annales Ecclesiastici (1624, p. 371), zit. nach Marcel 1958, 578 f.

10

Einleitung

ton führten 32 , ab durch eine Auseinandersetzung, die metaphysisch-theologische und kosmologische Aspekte des platonischen Denkens im Sinne der vorhumanistischen Tradition des Piatonismus aufgreift und neu bewertet. Piatonismus in der Mitte des 15. Jahrhunderts bedeutete nicht eine in sich ausformulierte und differenzierte Schule, wie sie etwa im Aristotelismus der Scholastik vorlag, sondern ein komplexes Bündel platonischer und neuplatonischer Elemente, die durch eine selbst schon Jahrhunderte alte, seit der Patristik bestehende christliche Rezeptionsanstrengung gefiltert waren33. Die wirkungsgeschichtlichen Hauptstränge waren durch die überlieferten Dialoge Piatons bestimmt: 1. Die in der Auseinandersetzung mit den späten Schriften Piatons, insbesondere mit dem „Parmenides", entfaltete Dialektik von Einem und Vielem und die dadurch erreichte spekulative Bestimmung der Transzendenz des absoluten Einen, dessen also, was man die „Theologie des Piaton" aus neuplatonischer Sicht genannt hat. Hier sind vor allem der Parmenides-Kommentar des Proklos, verstärkt durch die mittelalterliche Übersetzung des Wilhelm von Moerbeke, und das Werk des Ps. Dionysius Areopagita wichtig geworden 34 . 32 Vgl. hierzu insbesondere Hankins 1990 b: Ficino setzte sich vor allem mit L. Brunis Übersetzungen auseinander, ebd. II 465 ff. 33 Vgl. allg. zum Piatonismus P. R. Blum, Piatonismus, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von J. Ritter/ K. Gründer, Bd. 7, Basel 1989, Sp. 977-985. 34 Vgl. zu Proklos Klibansky 1981. W. Beierwaltes, Proklos. Grundzüge seiner Metaphysik, Frankfurt/M 21979. Zu Dionysius R. Roque, L'univers dionysien. Structure hiérarchique du monde selon le Pseudo-Denys, Paris 1954. P. Moffitt Watts, Pseudo-Dionysius the Areopagite and three Renaissance Neoplatonists: Cusanus, Ficino and Pico on Mind and

Bedeutung Piatons und des Piatonismus

11

2. Die in den mittleren Dialogen Piatons („Phaidon", „Politela") diskutierte Ideenlehre, die von den Piatonikern eine Synthese einerseits mit dem Denken Gottes (Mittelplatonismus) und andererseits mit der Geist-Hypostase (Plotin) erfuhr und die im christlichen Denken in der Zuordnung der Ideen zum verbum Dei weiterwirkte. Für Ficino zentral war hierbei die Position des Augustinus. 3. Die in „Phaidon" und „Phaidros" grundgelegte Lehre von der Unsterblichkeit der Seele. Diese wurde, nach der Kanonisierung des „Phaidon" durch Albinos (Isag. 5), in der neuplatonischen Theorie einer transzendenten, immateriellen und unvergänglichen Seelenhypostase (Porphyrios, sent. 17; Plotin IV 7-8) durch den spätantiken Phaidon-Kommentar des Olympiodorus, die Absetzung eines spezifisch christlichen Seelen- und Unsterblichkeitsbegriffes hiervon durch Augustinus (imm. an.; conf. VII 13 ; civ. Dei XI4) und Boethius (cons. phil.) sowie die mittelalterliche Phaidon-Übersetzung des Henricus Aristippus vermittelt. 4. Eine am Platonischen „Timaios" entwickelte wissenschaftliche Kosmologie, deren mittel- und neuplatonische Vorgaben durch Calcidius' Timaios-Kommentar und Boethius' poetische Kondensation in der „Consolatio philosophiae" (III metrum 9) weitergegeben und -entfaltet wur-

Cosmos, in: Supplementum Festivum. Studies in Honour of P. O. Kristeller, Binghamton, Ν. Y. 1987,279 ff. Letzterer war Ficino in der wichtigen Kommentierung durch Thomas von Aquin zugänglich und bekannt. Die neuplatonische Theorie des Einen, die sich zentral als Auslegung von Piatons Prinzip des Guten verstand, beeinflußte durch den latinisierten Parmenides-Kommentar des Proklos die philosophische Diskussion des 14. und 15. Jahrhunderts (Meister Eckhart, Nicolaus Cusanus, Marsilio Ficino).

12

Einleitung

den. Diese Kosmologie erlebte ihre Blüte im 12. Jahrhundert in der Schule von Chartres35. 5. Die spezifisch frühchristliche, patristische Transformation des platonischen Denkens durch Augustinus mit seiner ausgeprägten Psychologie und durch den Areopagiten mit seiner negativen Theologie und seiner hierarchisierenden Kosmologie sowie die allgemein über das Mittelalter bei verschiedenen Autoren und Schulen tradierten Platonica36. Neuplatonismus und darauf aufbauender christlicher Piatonismus also geben den für Ficinos Denken verbindlichen metaphysisch-theologischen Rahmen vor. Den Rückgriff Ficinos auf Platonisches kann man immer als einen Rückgriff auf den dahinter als Autorität stehenden Piaton selbst, auf dessen Dialoge und auf ein ganzes, über einzelnen Theoremen stehendes Programm „platonische Philosophie" verstehen. Ficino erschien der desolate Zustand des zeitgenössischen Christentums, markiert durch einen immer größeren Gegensatz von Religiosität und Subtilität, nur durch eine umfassende Erneuerung und gleichsam „Reformation" auch des philosophischen Diskurses überwindbar. Daher erhält sein Piatonismus 35 Vgl. T i m a e u m a Calcidio translatus commentarioque instructus, ed. J. H. Waszink, Leiden - L o n d o n 1962 ( = Plato latinus IV). Vgl. z u m Piatonismus von Chartres Nikolaus M. Häring, Commentaries o n Boethius by Thierry of Chartres and his school, Toronto 1971 mit weiterführender Literatur. 36 E. v. Ivanka, Plato latinus, Einsiedeln 1964. W. Beierwaltes (Hrsg.), Piatonismus in der Philosophie des Mittelalters, Darmstadt 1969. Vgl. Johannes Cursius (Giovanni Corsi), Vita Marsilii Ficini, in: Marcel 1958, Appendix I, 681 ff., der die v o n Ficino selbst in e i n e m späten Brief (1486) an Martin Uranius (Opera 899) gemachten Angaben betreffs der zentralen lateinischen Vermittlungsinstanzen des Piatonismus für Ficino bestätigt. Es handelt sich u m Cicero, Macrobius, Apuleius, Calcidius und dann vor allem Augustinus.

Bedeutung Piatons und des

Piatonismus

13

den Charakter einer philosophia perennis, prisca theologia oder prisca sapientia, die einen (mystischen) Kern christlicher Offenbarung und eine philosophische Erscheinungsform besitzt37. Platonisches Denken wird für Ficino so zu einem von göttlicher Providenz bereitgestellten Antidot gegen den inneren Zerfall christlicher Intellektualität. Das in Piaton, aber auch in Moses, den alttestamentarischen Propheten und den heidnischen Autoren wie Zoroaster, Hermes Trismegistos oder Orpheus oft in kryptischer, fragmentarischer und in Bildern verkleideter Form bewahrte Wissen ist inspiriertes Wissen und „Theologie"38, die erst in der mit Christus und den christlichen Platonikern beginnenden Periode der Interpretation in das manifeste Verstehen ihres eigentlichen Gehaltes gebracht wird: „Divino enim Christianorum lumine usi sunt Platonici ad divinum Platonem interpretandum." 39 Die in Ficinos Denken größtmöglich gesteigerte Nähe von Platonischem und Christlichem zeigt ein sich durchhaltendes Zuordnungs- und Abhängigkeitsverhältnis, in dem das Platonische nie als solches, sondern immer nur

37 Vgl. Hankins 1990 b II, 460 ff. Vgl. Theol. Plat. X V I I 1 (3,148 M.): in rebus his, quae ad theologiam pertinent, sex olim summi theologi consenserunt, quorum primus fuisse traditur Zoroaster, Magorum caput, secundus Mercurius Trismegistus, princeps secerdotum Aegyptiorum. Mercurius successit Orpheus. Orphei sacris initiatus, fuit Aglaophemus. Aglaop h e m o successit in theologia Pythagoras, Pythagorae Plato, qui universam eorum sapientiam suis litteris comprehendit, auxit, illustravit. D a z u Hankins 1990 b I, 238 ff., 339. Ficino rekurrierte hier vermutlich auf Proklos, Theologia Platonica I 5 (1, 25 f. Saffrey-Westerink). Dazu Saffrey 1959,161 ff. Hankins 1990 b II, 463. Unsere Stelle aus Theol. Plat. X V I I 1 entspricht der endgültigen Fassung dieser Genealogie, vgl. Philebus-Kommentar 1975, 180, 246. 38 Vgl. Allen 1984. 39 D e Christiana religione, c. 22; Opera 25.

14

Einleitung

als in providentieller Hinordnung auf das Christliche begriffen in den Blick kommt. Das Verhältnis Ficinos zur griechischen Tradition unterscheidet sich in dieser Hinsicht der Rechtfertigung einerseits und Relativierung andererseits nicht wesentlich von dem der Patristik: Piatons Denken verhält sich zur christlichen, durch die mosaischen und neutestamentarischen Texte verbürgten Wahrheit wie das nur reflektierte Mondlicht zum ursprünglichen Licht der Sonne40. In diesem Zusammenhang geht die ursprüngliche philosophische Formierung Ficinos durch Aristoteles und die Schulphilosophie des Mittelalters, insbesondere des Thomas von Aquin, vollständig in der Restitution des Platonischen auf, bis auf wenige formale Relikte wie etwa die Quaestionenform41. Die Art und Weise, wie Thomas bei Ficino präsent bleibt, zeigt jedoch einen platonischen Thomas, einen, der zumindest der Intention nach mit Piaton kompatibel gemacht wird42.

40 Vgl. Op. 855. Dieses Bild wird auch für das Verhältnis Gott (= sol) - Geist (= luna) in Anschlag gebracht: Theol. Plat. X 2 (2, 58-59). Zum dominanten Einfluß Augustins hierin vgl. auch etwa Op. 769, wo Ficino ebenfalls das signifikante Diktum aus De vera religione IV 7, 23 anfuhrt: Platonici paucis mutatis Christiani fierent. Hierzu H. Blumenberg, Kritik und Rezeption antiker Philosophie in der Patristik, in: Studium Generale 12 (1959). 41 Vgl. Kristeller 1972, 19f.; Blum, Einleitung zu Ficino, Über die Liebe, 1984, XXIV. Zur Beziehung zur Scholastik Hankins 1990 b I, 271 ff. 42 Sichtbar ist die Tendenz zur Integration des Thomas in Platonisches z. B. daran, daß Ficino immer wieder ganze Textpassagen aus der „Summa contra gentiles" paraphrastisch oder ad litteram in Kommentare zu Platon-Dialogen einlagert und zwar ohne dies kenntlich zu machen. Vgl. z. B. Comm. in Phileb. c. 2 (Opera 1208) ab „ultra quod agens nihil exigit... in infinitum procedere, quod impossibile est" mit ScG III 2 oder

Bedeutung Piatons und des Piatonismus

15

U m Piaton die Bedeutung de facto zu verschaffen, die ihm d e m Programm zufolge gebührte, m u ß t e n vor allem zwei D i n g e zugleich geleistet werden: 1. Er mußte zu allererst überhaupt präsent gemacht werden, d. h., aus d e m Zustand der Zerrissenheit und Verstreutheit der Glieder seines Werkes in die Integrität eines Werkganzen restituiert und aus der Esoterik des griechischen Urtextes in die öffentlich wirksame Gestalt der Latinität gewendet werden 43 . 2. D a s D e n k e n Piatons m u ß t e immanent rekonstruiert und strukturiert werden, d. h. auf der Basis des hergestellten Textes und der Übersetzung, aber nicht in sklavischer Gefolgschaft z u m bloßen „Wort", in K o m m e n t a r e n und Argumenten herausgearbeitet werden 44 . Dabei wurden auf den paganen Text im Grunde die gleichen Kriterien

c. 3 (Opera 1209): „sibique conveniens . . . nisi in ea, cui deest actus, potentia" mit ScG III 3. Zum Piatonismus bei Thomas vgl. R. J. Henle, Saint Thomas and Platonism, Den Haag 1956. K. Kremer, Die neuplatonische Seinsphilosophie und ihre Wirkung auf Thomas v. Aquin, Leiden 1966, 2 1971. 43 So wurde Ficino denn von seinen Zeitgenossen durchaus im wesentlichen als Erneuerer und Restitutor Piatons begriffen und gefeiert: Marsilio Ficino Florentino cuius longe felicior quam Thracensis Orphei cithara veram ni fallor Eurydicem hoc est amplissimi iudicii Piatonicam sapientiam revocavit ab inferís (A. Poliziano, Opera 1533, 310). 44 Eine kurze Begründung und Darstellung dieses Programms gibt Ficino in einem Brief an Giovanni Nicholino Op. 855. Die ersten drei Texte dieser Ausgabe geben einen Eindruck von diesem Unternehmen. Zu den „Commentarla" und „Argumenta" vgl. am Beispiel des Phaidros-Kommentares Allen 1984, Preface u. Blum, Einleitung zu Ficino, 1984, XVII f. Beispiele für die kritische Auseinandersetzung Ficinos mit den schon vorliegenden Übertragungen der Chalcidius, Moerbeke, Bruni, Trapezuntios, Chrysoloras und Decembrio gibt Hankins 1990 b I, 341 ff., II, 465 ff.

16

Einleitung

einer pia interpretatio angewandt wie ansonsten bei den verbindlichen christlichen Texten - einer pia interpretatio, die in der Spätantike ihr paganes Gegenstück in der Art und Weise hatte, wie etwa neuplatonische Autoren die ipsissima verba Piatons oder neupythagoreische Autoren die Sprüche des Pythagoras behandelten. Das Verhältnis Ficinos zu platonischen Traditionen changiert in nahezu allen Einzelaspekten zwischen bewahrender Übernahme und Erweiterung. Der spezifisch ficinianische Ansatz innerhalb der platonischen Tradition ist nur zu verstehen, wenn jeweils präzise bestimmt werden kann, wo die bewahrend-tradierende in die erweiternd-innovative Auseinandersetzung übergeht. Das gilt auch für die wichtigsten genuin platonischen Themenbereiche, zu denen folgende Punkte zählen, die anschließend kurz diskutiert werden sollen: die Priorität des Einen und des Guten vor dem Sein bzw. Seienden (1), die Ideenlehre (2), die Übernahme zentraler neuplatonischer 7ernare (essentia-virtus-operatio; essentia-vita-intelligentia) als ontologisch-noetische Schemata (3); die Intellekt-Theorie (4) ; der Bereich der Psychologie mit dem Prinzip der MittelStellung und vermittelnden Funktion der Seele (5) und dem für Ficino zentralen Argument von der Unsterblichkeit der Seele (6); des weiteren die Integration der hypostatischen Seinsordnung Plotins (7) und die Wiederaufnahme der platonischen und d. h. wesentlich philosophisch bestimmten Begriffe der Liebe und des Schönen (8)45. 1. Mit dem Grundgedanken: „unum est superius ente" und dem synonym verwendeten Gedanken des „bonum ente superius" steht Ficino in der Tradition der neuplatonischen Interpretation von Platon „Politela" VI 509 Β sowie des „Parmenides". Das Eine ist das schlechthin Erste, Einfache und Ursprüngliche, das „principium imparticipa45 Zur ausführlichen Darstellung dieser Punkte vgl. Leinkauf 1992, 738 ff.

Bedeutung Piatons und des Piatonismus

17

tum", an dem alles teilhat und durch dessen Teilgabe (Selbstmitteilung) jedes Seiende allererst ein Etwas, ein Eines und Identisches mit sich selbst ist und jede Vielheit im Seienden allererst Ordnung und Zusammenhang erhält46. Das Eine (oder die Einheit) ist das Maß für die Dignität und die Mächtigkeit alles Seienden47. Das Gute, von Piaton in der Politeia-Stelle als jenseits des Seins" befindlich angesprochen, ist neben der Einheit der andere zentrale und gleichwertige Aspekt des ersten Prinzips48. Dieser Aspekt betrifft die dynamische, Sein-gründende und -erhaltende Natur des Einen selbst: Bewahrung bzw. Erhaltung (conservatio) des Seins wird gleichgesetzt mit unificano/unificare. Für jedes Seiende ist sein Ein(e)s-Sein zugleich das für es unbedingt Gute. Die Natur des Guten ist es, die im Einen implizierte Fülle und Potenz ad extra in Vielheit zu entfalten und zugleich, in einer Wendung zum Ursprung und auf die Einheit zurück, zu erhalten49. Für Ficino sind unum und bonum Gottesprädikate, die er

46 Comm. in Parm. c. 41, Op. 1158, c. 47, Op. 1162, c. 43, Op. 1159. 47 Theol. Plat. II 2 (1, 76): In quolibet rerum genere illud quod est generis illius summum, unum est dumtaxat. II 3 (1, 82): Sicut in summa dispersione est imbecillitas infinita, sic in unitate summa infinita potestas. 48 Zur Gleichwertigkeit vgl. Comm. in Parm. c. 49, Op. 1164; c. 78, Op. 1187 f. u. nächste Anm. Ficino rekurriert öfter auf diese Politeia-Stelle und ihre Interpretation im Piatonismus, so auch De amore VI 15 (232) ; Theol. Plat. XI4 (2,113) und in De mente (3, 332, s. unten S. 178 f.). 49 Hierzu vgl. Comm. in Parm. c. 44, Op. 1160: Ideo Deum ex hoc statu nominamus ut unum penitus atque bonum, dum vero unum bonumque dicimus, non duo quaedam, sed item prorsus vaticinamur. (...) sua cuique bonitas unió quaedam est atque vicissim. Propterea ipsum unum, bonumque idem prorsus esse conjicimus, praesertim quia natura boni est, quasi difïundere se per omnia per processum, vicissimque

18

Einleitung

neben den aus der scholastischen Tradition ihm geläufigen und von ihm auch weiterverwendeten Begriffen des esse ipsum oder esse absolutum und der essentia prima einsetzt 50 . 2. Die platonische Ideenlehre wird von Ficino im wesentlichen durch die für die lateinische Tradition grundlegende Interpretation des Augustinus (div. quaest. 83, q. 46) bestimmt. „Idee" läßt sich als ratio, causa principalis, species oder forma verstehen, die gleichwohl auf einen zentralen und bestimmenden Sachkern bezogen bleibt. Diese Kernbedeutung liegt in dem transzendenten, metaphysischen und prinzipiellen Charakter der Ideen als intelligibler Gehalte des göttlichen Intellektes, in dem intelligibles Sein und intelligierender Begriff identisch sind". Ficino verbindet den platonischen Ideen-Begriff mit seiner Theorie des primum in aliquo genere und kann so Einheit, Ursprünglichkeit und Vollkommenheit als Bestimmungen der Idee ableiten52. In der substantiellen Verbindung von göttlicher Einheit und Vielheit der Ideen zeigt sich der für die christliche Transformation des Platonismus grundlegende Aspekt Gottes als Identität von Denken und Sein oder als reine Selbstreflexion (Theol. Plat. II 9; 1,99 f. XI4; 2,119. Comm. in Parm. c. 56; Op. 1169). Die Ideen sind die göttliche Einheit, entfaltet in eine erste Vielheit. Sie sind entsprechend platonischer Teilhabevorstellung Produktionsprinzipien der geschaffenen Welt, und zwar unveränderliche, intelligible Formen und per insitum singulis appetitum ad se u n u m omnia revocare. Ideoque universum summopere reddit unitum. Theol. Plat. II 6 (1, 86). C o m m . in Plot, librum de b o n o c. 1 (Op. 1579). 50 Vgl. Theol. Plat. V 13 (1,204 M.); X I I 3 (2,162 f. M.); XV 2 (3, 23 f. M.). D i e N ä h e zu Pico betont zu Recht W. Beierwaltes, D e n k e n des Einen, Frankfurt/M. 1985, 221. 51 Theol. Plat. X I 3 (2,105,108); X I 4 ( 2 , 1 1 0 f f . ) ; X V I I I 8 (3,201). 52 Vgl. Kristeller 1972, 135 ff.

Bedeutung Piatons und des Piatonismus

19

Muster (Theol. Plat. X I 4 ; 2, 111. XV 16; 3,81 f.). Folglich sind Ideen für Ficino auch Formen, die dem Geist a priori inhärieren und seine Urteile normieren 53 . Seinsgrund und Erkenntnisgrund der Dinge koinzidieren in den Ideen. 3. Der spätneuplatonische Ternar essentia-virtus-operatio (Substanz-Vermögen-Tätigkeit) kann als signifikanter Ausdruck der dynamischen Ontologie gelten, die insbesondere Proklos entfaltet hat. Proklos ist auch der Gewährsmann für Ficino. Dieser Ternar wurde im nachplotinischen Neuplatonismus, der eine vollständige begriffliche Darstellung des Seins in triadischen Strukturen versuchte, im Kontext der Temare Einheit-HervorgangRückkehr, Anfang-Mitte-Ende und Grenze-GrenzenlosesMischung entwickelt. Insbesondere steht essentia-virtusoperatio neben den Temaren Sein-Leben-Denken sowie Existenz-Vermögen-Denken. Ficino kennt diese Temare, und er setzt sie wie die Neuplatoniker als universale dynamische Konstanten der Ordnung der Welt an54. Er bevorzugt dabei den Temar essentia-virtus-operatio: Jede Tätigkeit oder Aktivität hat hier ihr Fundament in einem einvielheitlichem Geflige, das auf der Basis einer sich gleichbleibenden Substanz oder Wesensform eine Entfaltung von deren internen Vermögen in eine exteme oder ad extra gerichtete Tätigkeit ermöglicht. Die Zunahme an Konkretion des Allgemeinen in der der Veränderung unterworfenen Tätigkeit bleibt dabei immer bezogen auf den unveränderlich identischen Horizont des Wesens. Entscheidend ist, daß zwischen einheitlicher Substanz oder Wesensform und der vielheitlichen aus ihr heraus53 Theol. Plat. XI 3 (2, 97ff., 105-107), 4 (2,122 u. 125): innatae menti, inhaerere menti. X V 16 (3, 80-84): référant universalia, m e n s possidet veras rationes. 54 Theol. Plat. 1 4 ( 1 , 5 6 - 5 8 ) ; V 13(1,206f.);VIII 15(1,324-327); X 9 (2, 89 ff). Kristeller 1972, 28 spricht v o n einem „festen ontologischen Schema" bei Ficino.

20

Einleitung

getretenen Tätigkeit ein neuplatonisch gedachtes M o m e n t der Vermittlung tritt, das einerseits durch Teilhabe dem substantiellen Ursprung (essentia) verbunden ist und andererseits durch Verursächlichung sich der Tätigkeit verbindet. Dieses „Mittlere" wird grundsätzlich als Leben bzw. als dynamisches Bewegungsprinzip gedacht, als Entfaltungsinstanz, die überall das sich gleich bleibende, maßgebende Prinzip (oder Wesen oder Substanz) mit seinenje faktischen veränderlichen, vergänglichen oder partikulären Äußerungen vermittelt. In der denkenden Selbstvermittlung liegt auch für Ficino das Paradigma der triadischen Form, in der alle M o m e n t e sich gegenseitig implizieren und auslegen und nur dadurch die Einheit des Ganzen sich in der Einheit der Teile selbst noch einmal unter je anderem Index herstellt. 4. Die Lehre vom Intellekt: Gott, Engel und rationale Individualseelen sind jeweils Intellekte, die je nach ihrer Leistungsfähigkeit und folglich nach Rang verschieden sind. Die Leistungen der Intellekte erstrecken sich auf die Aufnahme von etwas Äußerem, das Loslösen (Abstrahieren) des darin gegebenen Immateriellen und die Fähigkeit des Selbstbezugs, der nur in Gott vollkommen ist, im Menschen sogar sündhaft sein kann. 5. Ficinos Denken ist durchgehend vom Gedanken der Vermittlung bestimmt: quod ab extremo ad extremum sine medio non est eundum 5 5 . Das Prinzip der Vermittlung tritt zum Primat des Einen hinzu, wie schon an den Temaren zu sehen, und ermöglicht eine geordnete Einheit des Vielen. Im vielheitlich gefugten und durch Vermittlung bestimmten Kosmos ist die Seele die Mitte aller Mitten und das Paradigma vermittelnder Tätigkeiten und Funk-

55 C o m m . in Phileb. c. 27; Op. 1233; vgl. Kristeller 1972, 82. Theol. Plat. I 4 (1, 54); X V 2 (3, 25); XVIII 10 (3, 239f.).

Bedeutung Piatons

und des

Piatonismus

21

tionenS6. Die Seele, als in sich vielheitliches Wesen und als ontologisch vielgestaltig existierende Form 57 , ist in ihrer die Extreme von Geist und Materie verbindenden Funktion überall im Universum als Gegensatz-temperierendes Prinzip gegenwärtig58. Wie die Einzelseele eine Ubiquität im einzelnen von ihr beseelten Körper behauptet, so die Seelen-Hypostase allgemein in bezug auf das All des Seienden. Ficino verbindet nun den platonischen und insbesondere plotinischen Gedanken von der vermittelnden Mittelstellung der Seele mit einem kosmologischen Modell, in welchem sich die Seele als Mitte absolut und in bezug auf alle Dimensionen verorten läßt und ihre Tätigkeit vollständig mit ihrem ontologischen Status koinzidiert59. Ficino charakterisiert diesen Status mit Plotin und Augustinus als prekäres und ambivalentes Tätigsein der Rationalseele auf der „Grenzscheide" (in confinio) von Sensiblem und Intelligiblem, von Zeit und Ewigkeit (Theol. Plat. X 3; 2,66). Der philosophisch bewußte Voll-

56 Vgl. ζ. B. Lib. epist. I, Op. 657-658; Theol. Plat. X V I 7 (3,137) : anima ( . . . ) in medio m e n t i u m corporumque confinio creata est. Ficino deutet z u d e m in gut neuplatonischer Tradition Aristoteles an. 431 b 21 in diesem Kontext, ebd. IV 2 (1,167); XVII 3 (3, 162 M.); Theol. Plat. III 2 (1, 137 ff.). Otto 1986, 262-273. Beierwaltes 1980, 39 f. 57 Z u m vielheitlichen W e s e n Theol. Plat. XVI 7 (3, 131-133); X V I I 2 (3,153) : essentia composita. Zur vielgestaltigen Form ebd. XVII 3. 58 Theol. Plat. X V I I 2 (3,153) : anima (est) verissimum o m n i u m , quae a D e o componuntur, m e d i u m ( . . . ) in ea, ut caetera praetermittam, partibile impartibili, alterum e o d e m , motus statu quasi acutum gravi harmonice temperatur. 59 Bei Ficino selber lassen sich zwei Stadien seiner kosmologischen Vorstellungen festmachen, die chronologisch und sachlich seinen Positionen in der Psychologie entsprechen. Vgl. z u m Unterschied der Positionen in „De amore" und der „Theologia Platonica" Kristeller 1972, 97.

22

Einleitung

zug der Mittelstellung der Seele hat zur Konsequenz, daß Erkenntnisse, die die Seele von ihren eigenen Möglichkeiten und Realisierungen hat, unmittelbare Valenz für ihr Wissen um die Dinge im ganzen Universum haben : „sicut autem in nobis, ita et in universo considera" (Theol. Plat. I 3; 1, 52. XIII3; 2, 229: tot concipit mens in seipsa intelligendo, quot Deus intelligendo facit in mundo). 6. Das Hauptwerk Ficinos, die „Theologia Platonica" (insbesondere Bücher V u. Vili ff.), handelt von der Unsterblichkeit der Seele im wirkungsgeschichtlichen Horizont der Dialoge „Phaidon" (79 A ff., 106 D), „Phaidros" (245 C) und des „Timaios" (41C, 42 D, 69 C, 73 D) sowie der daran anschließenden neuplatonischen Hypostasierung der Seele zu einer eigenständigen Wesenheit (Plotin IV 7). Die platonisch-christlichen Bestimmungen der rationalen oder vernunftbegabten Seele als autark, als Prinzip der (Selbst-)Bewegung, als unkörperlich, als frei und als individuelle Substanz bündeln sich in der Grundbestimmung der Seele als einer Einheit, die sich grundsätzlich in Affinität (similitudo) zur göttlichen Einheit befindet 60 . Unsterblichkeit der Seele ist bei Ficino immer im Zusammenhang zu sehen mit ihrer Gleichartigkeit zu Gott und mit der Überzeugung, daß ihr genuines Streben nach unmittelbarer und ungetrübter Anschauung Gottes sich notwendig erfüllen können müsse (ebd. XIV 1; 2, 248 u. 10; 2, 290: perpetuo fruì; Op. 753)61. Die im status terrestris notwendig unvollkommen bleibende contemplatio Dei muß also eine die Individualseele betreffende Erfullungsdimension

60 Vgl. Theol. Plat. 13 (1,55); VI 1 (1,174 f.) zu Phaidros 245 C f. und N o m o i 894 c f. (1, 231); XIII 2 (2, 209ff.). Zur Affinität ebd. V 10 (1, 194f.); VIII 6 (1, 312). 61 Ficino bezieht sich in diesem Zusammenhang auf Theaitetos 176 A B = Theol. Plat. XIV 2 (2, 251): D e o , quatenus fieri potest, se similem reddere.

Bedeutung Piatons und des

Piatonismus

23

post mortem erhalten. Hier liegt das Fundament für die emphatische Betonung der Unsterblichkeit einer Seele, die einen platonisch gedachten metaphysischen Kern und eine aristotelisch gedachte innige Verknüpfung mit einem durch sie individualisierten physischen Substrat besitzt (Theol. Plat. V 2; 1,175). Die metaphysische Affinität der Geistseele zu Gott und d. h. zu Einheit und kreishafter Reflexivität hat zur epistemologischen Konsequenz, daß Selbsterkenntnis zur conditio sine qua non von Gotteserkenntnis wird62. 7. Ficinos Kosmologie steht im wesentlichen in der Tradition Plotins, des Areopagiten und des mittelalterlichen ordo-Konzeptes63. Durchgehend bestimmt blieb jedoch der hypostatische Aufbau des plotinischen Kosmos, in dem drei Hypostasen - Eines, Geist, Seele - als voneinander ontologisch abhängende, je für sich jedoch Eigenständigkeit und Selbständigkeit besitzende Formen von Einheit das Ganze der Wirklichkeit ausmachen. Alle anderen durch Vielheit bestimmten Dimensionen des Wirklichen - Natur, Qualität, Form, Körper, Materie - sind dagegen im Sinne Plotins als Entfaltungen der untersten SeelenHypostase zu denken und haben an sich selbst keinen Bestand64. Ficinos Interesse jedoch, die Seele als absolute Mitte aller Formen und Dimensionen der Wirklichkeit anzusetzen, sowie seine gleichzeitige Orientierung an einem hierarchischen Modell christlicher Provenienz, in 62 Prooem. 1, 35 f. 63 Kristeller 1972, 55 ff. 64 Vgl. Plotin V 1 ; V 2. Kristeller 1972, 56 u. 88 hat dies mit ausschließlichem Blick auf III 4, 1 falsch gesehen und Plotin gleichsam sechs Hypostasen vindiziert. Plotin zeigt in III 4,1 vielmehr, daß αϊσδησις, φύσις und σώμα ihren Bestand nur durch die Präsenz und Tätigkeit der Seele in ihnen haben. Die Zitate (ebd. 2 , 2 - 4 ) aus Piaton „Phaidros" 246 Β sprechen eine deutliche Sprache.

24

Einleitung

dem alle Seinsstufen ihr Sein und Sosein in gleicher Weise unmittelbar dem höchsten göttlichen Ursprung verdanken 65 , fuhren zu einer spürbaren Modifikation des plotinischen Ansatzes. Die mittelalterliche, von Ps. Dionysius Areopagita maßgeblich beeinflußte Vorstellung eines nach Dignität gestuften und in sich vertikal vernetzten Kosmos, einer series rerum oder catena rerum (Theol. Plat. I 5 ; l , 6 1 f . ; X 2 ; 2 , 5 4 f . mit Dionys. Areop. div. nom. VII 3 ; Thomas ScG II 68 u. 91), und das neuplatonische, hypostatische Kontinuitätsmodell werden auf immer wieder modifizierte Weise ineinandergeschoben. Die sich durchhaltende Modellvorstellung des ficinianischen Kosmos ist dabei eine symmetrisch u m die Seele als Mitte aufgebaute Reihe (quinqué rerum gradus): Gott-Engel (Geist)-Seele-Qualität-Körper. Sie läßt sich nachweisen seit „De amore" 66 und findet sich in immer wieder variierter Form bis in die Spätzeit (Theol. Plat. 11 ; 1,38 f.; III 2; 1,137; XII 3; 2,164; XVII2; 3, 153)67. Es bleibt aber dennoch zu überlegen, ob angesichts der Ausführungen Ficinos zu Wesen und Tätigkeit der Seele nicht im Sinne Plotins der ontologische Charakter der unterhalb der Seele angesetzten Seinsformen aufgeht in der dynamisch-operationalen Entfaltung des Seelischen (regere, dominari; Theol. Plat. V 14; 1, 178 f. und o b e n unseren Punkt 3) und keinen eigenen Selbststand im Sinne von Einheit, Unteilbarkeit und Unveränderlichkeit hat 68 . Bestimmend für 65 Op. 757 ff.; Theol. Plat. II 11 ; 1,108. V 13; 1,203 f. mit Bezug auf Dionysius Areopagita und Augustinus. 66 II 3 (147-149): Deus-mens-anima-natura-materia; VII 13 (257): Deus-mens-ratio-opinio-natura-corpus, an dieser Stelle ist die eine Seele in ihre zentralen Tätigkeiten D e n k e n und Vorstellen (ratio, opinio) gleichsam auseinandergetreten. 67 Kristeller 1972, 88-90. 68 Vgl. etwa Theol. Plat. IV 2 (1, 171 f.) die drei hypostatischen Kreise G o t t - E n g e l - S e e l e , zu d e n e n sich der gesamte Bereich

Bedeutung Piatons und des

Piatonismus

25

den inneren Aufbau des Kosmos sind ebenfalls (neu-) platonische Kategorien wie Einheit-Vielheit und RuheBewegung69. In der höchsten Einheit (Gott) ist die Gesamtheit der anderen Einheiten in ihren Vollkommenheiten und selbst als Reihe eingeschlossen, in der Welt ist sie als Totalität entfaltet: cunctarum complexio specierum70. 8. Die platonische Theorie der Liebe und des Schönen bildet den Schlußstein von Ficinos Denkgebäude. Mit ihr gibt er zugleich seinen unmittelbarsten und stärksten wirkungsgeschichtlichen Impuls weiter71. Alle zentralen Aspekte des ficinianischen Piatonismus (Einheit, Ideenbegriff, Natur der Seele) wirken hier zusammen. Schönheit wird von Ficino gedacht als anziehender, sensibler oder intelligibler Vorschein der Vollkommenheit des höchsten Ursprungs, Liebe als korrespondierende Rückbewegung des aus diesem Ursprung Entstandenen in ihn zurück bzw. als bewahrende, Seiendes in der jeweiligen Einheit seiner Formbestimmung erhaltende Tätigkeit des Seelischen in der Welt. Hervorgang und Rückkehr bilden einen komplementären, der Sache nach untrennbaren Zusammenhang, der in sich nichts anderes ist als ein Bild (similitudo) der absoluten Selbstreflexion Gottes selbst, ein Bild der absoluten Tätigkeit (operatio) Gottes: „perpetua quaedam in seipsa conversio, per quam seipsum fruatur et gaudeat"72.

69

70 71 72

der Welt (Himmel) nur als „Bild" verhält und als Kreis ohne Zentrum. Vgl. die Hinweise bei Leinkauf 1989,298 Anm. 49. Sophistes 249 Β ff, 254 D ff. Plotin VI 6 , 1 ; Theol. Plat. 16(1, 68). Prima platonicae sapientiae clavis, ebd. 3,292; D e amore 113; 147f.; VI 15; 231 f. Theol. Plat. XI 4 (2, 115), vgl. I 6, XII 1, XV 2, XVIII 8 u. ö. Vgl. Th. Leinkauf, Das Schöne III, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, Basel 1992. Theol. Plat. IX 6 (2, 44).

26

Einleitung

Liebe ist einerseits ein Bündelungsbegriff f ü r alle innerweltlichen Prozesse, andererseits, in enger A n l e h n u n g an Piatons philosophische D e u t u n g des m y t h i s c h e n D a i m o n , ein E i g e n n a m e eines zwischen Geistigem u n d Sinnlichem vermittelnd tätigen Wesens, das z u m Träger dieser Aktivitäten stilisiert wird. Symbol des d u r c h amor im S e i e n d e n gestifteten Z u s a m m e n h a n g e s von G o t t u n d G e s c h ö p f ist das Licht bzw. die (lichthafte) Schönheit. Im Sinne des platonischen Ideenbegriffes u n d der christlichen U m d e u t u n g der I d e e n zu G o t t e s p r ä d i k a t e n stellt Ficino die Schönheit selbst (ipsa pulchritudo) als t r a n s z e n d e n t e s Prinzip alles S c h ö n e n an die Spitze einer hierarchisch g e s t u f t e n Welt des S c h ö n e n . D i e s e partizipiert, durch die Koinzidenz des h ö c h s t e n Schön e n u n d G u t e n in G o t t " , an ontologischen Qualitäten wie O r d n u n g u n d Stabilität, die die W i r k u n g G o t t e s in der Welt deutlich m a c h e n . D e r ganze K o s m o s ist so interpretierbar als Theophanie 7 4 , deren j e verschieden intensive Präsenz je verschieden intensive R e a k t i o n e n der H a u p t a d r e s s a t e n Seele u n d Intellekt provoziert. D e r Bereich dieser R e a k t i o n e n auf die s t i m u l i e r e n d e Präsenz des S c h ö n e n u n d die Tätigkeit a m o r s u m f a ß t prinzipiell alle affektiven u n d intellektiven V e r m ö g e n der Seele, kulminiert aber äußerlich im H o r i z o n t der künstlerischen P r o d u k t i o n u n d innerlich in d e m der philosophischen K o n t e m p l a t i o n . Diese beiden operations sind auch der e n t s c h e i d e n d e Indikator f ü r d e n anthropologischen Beitrag Ficinos in der Diskussion 73 Theol. P l a t . X I 4 ( 2 , 1 2 1 ) : essentia prima=pulchritudo prima; ebd. X I I I 4 (2,239): prima lux in D e o est; X V I 1 (3,105): D e u s = lux et perspicacia summa. Theol. Plat. XI 4 (2, 110-112, 121 f.); D e amore II 2 , 1 4 6 zu Dionysius Areopagita div. nom. IV 712 D. 74 Theol. Plat. XIV 1 (2, 248) mit Bezug auf D e amore: ipsius s u m m i boni splendor fulget in singulis.

Zum Inhalt der

Schriften

27

der Renaissance, in ihnen findet das genuin menschliche Potential (virtus) den Horizont, in dem es das Wesen (essentia) des Menschlichen am adäquatesten und differenziertesten zum Austrag bringen kann.

3. Zum Inhalt der Schriften Einführung in die Platonische Theologie Mit „argumentum" bezeichnet Ficino eine Anleitung oder ein Modell für die Erstellung, Funktion und erkenntnistheoretische Absicherung einer philosophischen Theologie, die mit platonischer Methode christliche Glaubensinhalte darzustellen und zu beweisen sucht. Es ist in drei Hauptteile gegliedert: 1. Aufstieg in Stufen von der Körperwelt über die Seele und die Intelligenzen zu Gott (S. 46/47-72/73), 2. Gottesbetrachtung (S. 72/73-84/85), 3. Abstieg, d.h. Psychologie in erkenntnistheoretischer und metaphysischer Absicht (S. 84/85-104/105). 1. Der hierarchischen Gliederung der Welt entspricht in der Erkenntnis der Aufstieg zu Gott über die Vermittlung der zunehmend durchgeistigten und entmaterialisierten Formen. Ausgehend von der Elementarwelt der vergänglichen materiellen Formen, steigt Ficino zum Himmel auf, einem Zwischending zwischen körperlicher und geistiger Substanz, das zwar keine Materie, aber Quantität und Ortsbewegung hat. Mit dem Wegfallen von Materie und akzidentellen Bestimmungen nimmt die Intensität der Substanzen an Licht und Leben zu. Die rationale Seele ist lebendiger als der Himmel, da sie ohne Quantität ist, der Engelsgeist ist zudem ohne Bewegung, zeitunabhängig, aber mit Qualität behaftet.

28

Einleitung

Reine Substanz, die frei von allem Akzidentellen ist, ist nur Gott, dessen Existenz aus seinen Attributen - nämlich Kraft, Unendlichkeit, Wahrheit, Güte, Aktualität - abgeleitet wird. Durch sein (unsichtbares, da übersinnliches) Licht wendet sich Gott dem menschlichen Geist, durch die dem Licht identische Wärme dem Willen zu. Die Liebe des Willens zum unsichtbaren Licht (dem Glauben) ist der direkte Zugang zu Gott, die Vernunft nähert sich ihm diskursiv. 2. Der Gottesbeweis erfolgt im Rückschluß von der Schöpfung auf den Schöpfer. Aus der Vernünftigkeit des Universums wird auf die universale Vernunft, aus der Herrschaft der Prinzipien auf das herrschende Prinzip geschlossen. Wahrheit der Welt und Wahrheit der Erkenntnis verweisen auf den gemeinsamen Ursprung aus der höchsten Wahrheit Gottes. Als das Prinzip, das den Dingen Wert und Wesen verleiht, wird Gott in den Dingen und durch die Dinge mittelbar und unbewußt erstrebt und geliebt. Je bewußter und unmittelbarer die Seele aber in ihrer Betrachtung das höchste Gut anstrebt, desto vollkommener ist ihre Freude. 3. Durch ihre Körperverbundenheit wird die Seele bei der Gotteserkenntnis behindert, indem sie a) sich erst spekulativ vom Körperlichen lösen muß, um Unkörperliches zu erkennen, b) natürlicherweise den Körper liebt, c) durch Sinn und Phantasie das Körperliche vor Augen hat und den Geist vom Wesentlichen ablenkt. Aber daß die Fähigkeit zur Erkenntnis von Unkörperlichem überhaupt vorhanden ist, beweist die geistige Natur der Seele und ihre potentielle Körperhaftigkeit. Aus der Tätigkeit der Seele (Erkenntnis durch Abstraktion) wird auf ihre Eigenschaft (Abtrennbarkeit vom Körper, d. h.

Zum Inhalt der

Schriften

29

Unsterblichkeit) geschlossen. Losgelöst vom Körper, verfügt auch die menschliche Seele nach dem Tode über die Erkenntnisart unkörperlicher Geister, die vom allgemeinen zu Einzelnem, von den Ideen zu den Dingen fortschreitet. Kompendium der Platonischen Theologie Das Kompendium ist im wesentlichen eine Zusammenfassung des zweiten Buches der „Theologia Platonica". Ähnlich wie schon im ,.Argumentum", der „Einführung", geht es Ficino auch hier um Gotteserkenntnis (Aufstieg) und Weltbegründung in Einem (Abstieg) und den paradoxen Versuch, das Ungleichgewicht der Relation zu wahren: Abhängigkeit der Welt von Gott, Unabhängigkeit Gottes von der Welt. Der Aufstieg erfolgt unter dem Leitgedanken der Vollständigkeit der Welt: das beste Mögliche ist irgendwann irgendwo im Universum auch verwirklicht. Körperliche Akzidenzien sind Einschränkungen, nicht Bereicherungen der Substanz. Daher muß es unkörperliche Substanzen geben, und zwar in der Reihenfolge zunehmender Reinheit: 1. körperverbundene Seelen, das Einheits- und Lebensprinzip der Lebewesen, 2. Engel - als reine Geister -, die es genauso geben muß, wie es die unbelebten Körper gibt, damit die Welt vollständig und die geistige Natur optimal verwirklicht werde, 3. den göttlichen Intellekt, der als Ursache der Einheitsprinzipien ein Einziger sein muß. In Gott sind die Attribute keine akzidentellen Eigenschaften, sondern mit Ihm und untereinander identisch. Er ist höchste Wahrheit oder Güte, Gewißheit oder Freude - je nachdem, ob er Ziel des erkennenden Intellekts oder aber

30

Einleitung

des Willens ist. Aber „so wie das Licht nicht des Auges bedarf, so bedarf die Wahrheit nicht des Geistes" (S. 131). Der Geist hingegen strebt hauptsächlich zu Gott, da in ihm sein Ursprung ist. Durch sein Erkennen, vor allem aber durch sein Wollen bringt Gott die Dinge hervor, da die willentliche Handlung die vortrefflichere - freie - ist. Gott erkennt sich selbst, der alle Wahrheit ist, und somit erkennt er alles Wahre und erschafft es. Er will alles Gute, indem er sich selbst will, der alles Gute ist, und läßt es somit in den Einzeldingen entstehen. Die Geister (Engel und Menschenseelen) sind immateriell, es bedarf also zu ihrer Erschaffung einer unendlichen Kraft; d.h., sie sind unmittelbar von Gott verursacht und partizipieren an seiner Ewigkeit, was durch ihre Fähigkeit, ewige Begriffe zu denken, bewiesen wird. Fünf Fragen über den Geist In „De mente" legt Ficino eine platonische Theorie des Geistes vor. Sie gliedert sich im wesentlichen in drei Teile: I. eine allgemeine Analyse der Bewegung unter der Voraussetzung, daß gerade auch Denken eine (geistige) Bewegung ist (S. 156/157-166/167); II. eine Analyse der spezifisch geistigen Bewegung selbst (S. 168/169-188/189) und III. eine Analyse der Seele als des innerweltlich bedeutendsten Trägers geistiger Prozesse (S. 188/189-220/221). I. Analyse der Bedeutung: 1. Zuerst diskutiert Ficino die Ordnung und Struktur art- bzw. gattungsspezifischer Bewegungen mit den zentralen Kategorien BewegungRuhe sowie Streben-Ziel. Ruhe und Erreichen des Zieles gelten als Indikatoren des Guten bzw. Gutseins. 2. Der Ursprung von Ordnung wird mit dem Ursprung von Bewegung gleichgesetzt und als Einheit, die zugleich Vernunft und universales Ziel ist, bezeichnet. Eine nähere Analyse der spezifischen natürlichen Bewegungsformen unter dem Grundsatz: partikulare Bewegungen zielen auf parti-

Zum Inhalt der Schriften

31

kulare Strebeziele und verharren in endlichen Grenzen, leitet mit der Absetzung der geistigen Bewegung von diesen Partikularformen über zum zweiten Teil. II. Analyse des Geistes und seiner Bewegung: 1. Eine grundsätzliche Zielgerichtetheit auch des Geistes leitet Ficino in Form eines Analogieschlusses aus I. ab: die vernünftige Ordnung, die in I. bezüglich aller übrigen Seinsformen konstatiert wurde, muß a fortiori für den Geist als höchste kreatürliche Seinsform gelten. Also ist eine ontologische und epistemologische Bindung an das Eine und Gute, als das höchste Ziel von allem, auch für den Geist anzusetzen. 2. Es folgt eine genauere Analyse des Zieles selbst: a) es ist vollkommen, sich gleich bleibend, unbedürftig etc., daher, da Bewegung Mangel oder Strebung indiziert, ohne Bewegung und mit Ruhe gleichzusetzen. Als „Ziel" gilt einmal der Zustand des Geistes und zum anderen die Form der Gegenstände des Geistes (Ideen); b) das Ziel hat den Charakter des Allgemeinen gegenüber der Partikularität von 1.2., seine Bestimmungen sind daher Sein, Wahres, Gutes. Der zielgerichtete Geist hat den größten Bewegungsambitus, durchläuft vollkommene und äußerste Gegensätze (Nicht-Sein und Sein, Falsch und Wahr, Böses und Gutes). Ficino macht folgende allgemeinverbindliche Zuordnungen: Geist-Wahres; WilleGutes; Seele-Universum/All; c) dem (höchsten) Ziel kommt die Eigenschaft der Unendlichkeit bzw. Unermeßlichkeit zu, die Seele partizipiert in ihrem intellektuellen Vermögen an diesen Eigenschaften. Damit leitet Ficino zum dritten Absatz über. III. Analyse der Seele: 1. Ficino konzentriert sich auf die Erkenntnis- bzw. Glücksfähigkeit der Seele, d. h. also auf die menschliche Rationalseele und deren höchste Vermögen Geist/Vernunft und Willen. Die Seele ist, vor dem theologisch gesicherten Hintergrund einer Koinzidenz von höchstem Bewegungsprinzip und höchstem Ziel,

32

Einleitung

grundsätzlich in der Lage, die ihr natürlich wie übernatürlich zukommenden Ziele ihres Strebens auch zu erreichen. 2. Dabei gilt als Spezifikum des Geistes die Fähigkeit, sich selbst und anderes zu erkennen und im Erkennen zu vergleichen (ζ. B. Geistiges-Sinnliches). Er besitzt immer schon die höchste Vollkommenheit als ein internes Maß des Vergleichens und Beurteilens von relativ Vollkommenem. Der Geist ist wesentlich reflexiv strukturiert und besitzt daher inneren Selbststand, Autonomie, Unkörperlichkeit, er hat im Unterschied zum Sinnlichen einen höheren ontologischen Status. Die reflexive Substanz des Geistes äußert sich ad extra in der ausschließlich ihm zukommenden Fähigkeit zu abstraktivem Begreifen. 3. Der Geist kann unter diesen Prämissen sein ihm eigentümliches Ziel eher als die sinnlichen Vermögen der Seele (also etwa auch die Tiere) erreichen. 4. Ebenfalls aus diesen theologisch-metaphysischen Prämissen leitet Ficino eine grundsätzliche Inferiorität der körperlich-zeithaften seelischen Existenz gegenüber ihrer geistig-transzendenten Substanz ab. Selbst die (diskursive) intellektuelle Tätigkeit verschafft allein aus ihr selbst heraus keine angemessenen Glückseligkeitsbedingungen. 5. Dies resultiert aus der christlichen Lehre einer Verdunkelung der Seele im status corruptionis, die für Ficino aber keine vollständige und totale Auflösung menschlicher Erkenntnis- und Willenskraft bedeutet. Vielmehr nimmt er einen ungebrochenen, über den Geist vermittelten Bezug der Seele zum göttlichen Bewegungs- und Strebeprinzip an, eine Art konstante natürliche Bewegungsintention auf den transzendenten Grund also. Das Berühren oder Erreichen des göttlichen Zieles impliziert einen unveränderlichen unverlierbaren Zustand von Eudaimonie. Über die Glückseligkeit Die kleine Abhandlung „De felicitate" hat zum zentralen Gegenstand den insbesondere im christlichen Denken

Zum Inhalt der Schriften

33

und dort insbesondere im Hoch- und Spätmittelalter diskutierten Gegensatz von Intellektualismus und Voluntarismus. Die Abhandlung gliedert sich I. in einen einfuhrenden, traditionelle Positionen skizzierenden Teil (S. 222/223-238/239) und II. eine ausführlichere Darstellung der eigenen Position (S. 238/239-262/263), deren stärker voluntaristisch-affektiven Charakter Ficino in seinen späteren Schriften in Richtung auf eine gleichwertige Bewertung des Denkens deutlich korrigiert. I. 1. Kurze Darstellung der verschiedenen Gattungen der menschlichen Güter (Glück, Körper, Seele) und 2. etwas ausfuhrlichere Behandlung der Güter der Seele auf der Grundlage einer Unterscheidung von nichtrationalem und rationalem Seelenteil. Gipfelpunkt ist für ihn, ganz im Sinne der antiken „Theoria" und Piatons Lehre von einer körperunabhängigen Schau, die ruhige und vollkommene Betrachtung der Wahrheit. 3. Dieser Vorgabe gibt Ficino eine spezifische Wendung, indem er einen Vorrang der Freude vor der Schau und der Liebe bzw. des Willens vor dem intellektuellen Fragen ansetzt. Die Diskussion dieser voluntaristischen Position bestimmt die folgenden Absätze. II. 1. Ficino gibt Kriterien fur seine Behauptung in 1.3. : a) Da keine vollkommene Schau/Erkenntnis durch Denken möglich ist, ist ein vollkommener Bezug auf Gott innerweltlich nur als Willensaffekt oder Liebe beschreibbar; b) Denken ist korrumpierbar, Liebe ihrem Wesen nach nicht; c) die Kraft des Denkens besteht in der diskursiv und schrittweise durchgeführten Unterscheidung, die der Liebe dagegen in der unmittelbaren und schnellen Vereinigung. Zentrales Kriterium ist die Freude, die als eigentümlicher Zustand erfüllter Liebe beschrieben wird. 2. Ficino beschreibt Freude als ein nur auf sich selbst beziehbares und aus sich selbst verstehbares Ziel aller geistigen und affektiven Tätigkeiten. Sie ist von unausschöpfbarer

34

Einleitung

Fülle und größter Intensität. 3. Der Wille bzw. das Wollen hat allein die Vereinigungspotenz und unitive Kraft, die deijenige sucht und benötigt, der geistigen Genuß oder geistige Freude erstrebt. Das Denken bleibt an Differenz und Distanz gebunden. Ficino macht dies u. a. deutlich am Unterschied von Sich-in-den-Gegenstand-Versetzen und Sich-etwas-Vorstellen, von Zustimmung/Genuß und den Gegenstand auf sich beruhen lassender Erkenntnis. 4. Hieraus leitet Ficino eine andere zentrale Unterscheidung ab: das Denken erfaßt seinen Gegenstand auf Weise des Denkens, der Wille dagegen auf Weise des Gegenstandes selbst. Der Wille bzw. die Liebe sind also immer schon „näher" zu Gott, gehen in seiner Unendlichkeit auf und verkürzen diese nicht auf die Kapazität des Begriffes. 5. Dieser genuin dem Willen der Seele eigene Bezug auf Gott im Sinne eines Sich-in-die-Sache-Wendens, eines auf die „Substanz" und nicht auf die Vorstellung oder den Begriff von ihr zielenden Engagements bewertet Ficino hier eindeutig höher. 6. Der in dieser Wendung „nach außen" und in die Sache grundsätzlich erreichte Zustand der Befriedigung, des Genusses und der Freude erweist sich in bezug auf den höchsten Gegenstand (Gott) als absolute Freude oder Glückseligkeit. Dieser Zustand stiftet, einmal eingetreten, einen unverbrüchlichen Zusammenhang der Seele mit Gott. Zumindest in ihren höchsten Vermögen (Geist und reiner Wille) kann die Seele aus diesem Status nicht mehr in einen niedrigeren herabsteigen. 4. Zu dieser Ausgabe Marsilio Ficino gehört gewiß zu den Autoren, die häufiger genannt als gelesen werden. Unter deutschsprachigen Geisteswissenschaftlern gehört seine Abhandlung „Über die Liebe" zur Pflichtlektüre, aber seitdem Karl Paul Hasse sie (1914) übersetzt hatte und seit seiner Übersetzung der „Briefe des Mediceerkreises" sind keine Texte Ficinos

Zu dieser Ausgabe

35

mehr auf Deutsch erschienen. Auch Paul Oskar Kristellers Monographie, in Deutschland in den 30er Jahren vor der Emigration begonnen, erschien deutsch erst 1972. Deshalb besteht ein Bedarf an Texten, die das Verständnis des Autors fordern, und da Ficino selbst seinem Briefwerk große Bedeutung neben seinen Hauptschriften beimaß, bot es sich an, einige seiner Briefe zu übersetzen. Das Briefkorpus, 1495 im Druck erschienen, besteht aus zwölf Büchern 75 , die zahlreiche tatsächliche Mitteilungen, zumeist aber kleine in Briefform gefaßte Ermahnungen, Reflexionen und Kommentare zu philosophischen Problemen enthalten. Auch Widmungsepisteln zu den Werken, vor allem aber eine Reihe von Abhandlungen sind darin inkorporiert. Besonders Buch II76 besteht aus solchen Traktaten, von denen einige in abweichender Reihenfolge unter dem Titel „Opuscula" bzw. „quinqué Platonicae sapientiae claves" (Fünf Schlüssel zur Platonischen Weisheit) vom Autor selbst 1476 zusammengestellt worden waren. Von diesen Schriften haben wir die „Einführung in die Platonische Theologie" (Argumentum), das „Kompendium der Platonischen Theologie" (Compendium) und die „Fünf Fragen über den Geist" ausgewählt. Jede von diesen ist vom Autor als grundlegende Einfuhrung in Platonisches Denken konzipiert, jede legt in konzentrierter Form, aber mit variierenden Zugangsweisen den Kern der Geistphilosophie dar, die Ficino als christlicher Philosoph für unabdingbar hielt. Sie sind auch als Sammlungen platonisierender Topoi lesbar; denn die Betonung liegt nicht auf der Originalität, sondern der Allgemeinverbindlichkeit der philosophischen Argumente. 75 Zur Entstehung und Überlieferung Suppl. Ficin. I, S. LXXXVII ff. und Marcel, Introduction in: Théologie Platonicienne III, Appendice. 76 Dieses wurde in der englischen Ausgabe (The Letters of M. F. 1975 ff.) nicht übersetzt.

36

Einleitung

Da der moralische Appell integrierender Bestandteil der Geistphilosophie ist, haben wir - gewissermaßen als Brücke zum bekannten „De amore" - den ethisch-metaphysischen Traktat „Über die Glückseligkeit" aus dem ersten Buch der Briefe aufgenommen. Diese Schrift war in der Briefausgabe von Hasse - allerdings sehr lückenhaft übersetzt worden. Textgrundlage waren für die Schriften aus dem Epistolarium II die Edition (ohne Übersetzung) von Raymond Marcel (Sigle M) im Anhang seiner Ausgabe der „Theologia Platonica", Bd. III, wobei einige offensichtliche Druckfehler stillschweigend korrigiert wurden. Die Basler Werkausgabe von 1576 (Sigle Ba) und die lateinisch-italienischen Abdrucke der „Einführung" und des „Kompendiums" bei Eugenio Garin wurden berücksichtigt. Für den Brief „Über die Glückseligkeit" wurden die kritische Ausgabe von Buch I der Briefe durch Sebastiano Gentile (Sigle G) und die englische Übersetzung („Letters", Sigle L) benutzt. In den Kolumnentiteln sind die jeweiligen Seitenzahlen zur Orientierung angegeben.77 Die drei Herausgeber tragen für diesen Band gemeinsam die Verantwortung, allerdings waren für die Übersetzung und Kommentierung der ersten beiden Texte Elisabeth und Paul Richard Blum, für die beiden anderen Texte Thomas Leinkauf federführend; die Einleitung verfaßte P. R. Blum (Abschnitte 1,4,5), den Beitrag zum Platonismus Ficinos Th. Leinkauf (Abschnitt 2), Zusammenfassung und Gliederung der Texte jeweils die Übersetzer. 77 Konkordanz Ba Argumentum Compendium De mente De felicitate

M

Garin

G

L

706-716 266-309 328-372 690-697 310-326 292-327 675-682 327-343 662-665 201-210 171-178

A

uswahlbibliographie

37

5. Auswahlbibliographie Abkürzungen Ba: s. Opera. Catalogo: Marsilio Ficino e il ritorno di Platone. Mostra di manoscritti stampe e documenti, Catalogo a cura di S. Gentile, S. Niccoli e P. Viti, Firenze 1984. G : Lettere I, Epistolarum familiarum liber I, hrsg. von Sebastiano Gentile, Firenze 1990. Garin: Compendium Platonicae Theologiae, Argumentum in Platonicam Theologiam, lat.-ital., in: Eugenio Garin, Filosofi italiani del Quattrocento, Firenze 1942, 292-327 und 328-372. L: The Letters of Marsilio Ficino, London 1975-1988. M: Théologie Platonicienne de l'immortalité des âmes, und Commentaire sur le Banquet de Platon, hrsg. von Raymond Marcel. Opera: Marsilii Ficini Opera omnia, Basel 1576 (Reprint Torino 1962). Studi e documenti: Marsilio Ficino e il ritorno di Platone, studi e documenti, a cura di Gian Carlo Garfagnini (Istituto nazionale di Studi sul Rinascimento, Studi e testi 15), Firenze 1986. Suppl. Ficin. : Supplementum Ficinianum, hrsg. von Paul Oskar Kristeller, Florentiae 1937. Supplementum Festivum: Supplementum Festivum, Stu-

38

Auswahlbibliographie

dies in Honour of Paul Oskar Kristeller, Binghamton, Ν. Y. 1987. Werke Marsilii Ficini Opera omnia, Basel 1576 (Reprint Torino 1962), 2 Bde., Bd. II ab S. 1013 [zitiert: Opera, für Textkritisches zit. als Ba], Briefe des Mediceerkreises aus Marsilio Ficino's Epistolarium, übers, von Karl Markgraf von Montoriola [d. i. Karl Paul Hasse], Berlin 1926. Supplementum Ficinianum, hrsg. von Paul Oskar Kristeller, Florentiae 1937, 2 Bde. [zit. als Suppl. Ficin.]. Compendium Platonicae Theologiae, Argumentum in Piatonicam Theologiam, lat.-ital., in: Eugenio Garin, Filosofi italiani del Quattrocento, Firenze 1942, 292-327 und 328-372 [zit. als Garin]. Five Questions concerning the mind, in: The Renaissance Philosophy of Man, ed. by Ernst Cassirer, Paul Oskar Kristeller, John Hermann Randall jr., Chicago 1948,185-212. Commentaire sur le Banquet de Platon, hrsg. v. Raymond Marcel, Paris 1956 [zit. mit Sigle M]. Théologie Platonicienne de l'immortalité des âmes, hrsg. von Raymond Marcel, Paris 1964-1970, 3 Bde. [zit. mit Sigle M], The Letters of Marsilio Ficino, translated by members of the Language Department of the School of Economic Science, London 1975-1988 (bisher 4 Bde.) [zit. mit Sigle L],

A uswahlbibliographie

39

Consilio contro la pestilenza, a cura di Enrico Musacchio, Bologna 1983. [Philebus-Kommentar] The Philebus commentary, hrsg. von Michael J. Β. Allen. Berkeley usw. 1975. [Phaidros-Kommentar] Marsilio Ficino and the Phaedran Charioteer, hrsg. von Michael J. B. Allen, Berkeley usw. 1981. [Sophistes-Kommentar] Michael J.B. Allen: Icastes, Marsilio Ficino's Interpretation of Plato's Sophist, Berkeley etc. 1989. Über die Liebe oder Piatons Gastmahl, lat.-dt., übers, v. Karl Paul Hasse, hrsg. v. Paul Richard Blum (Philosophische Bibliothek 368), Hamburg 1984, mit Bibliographie. Three Books on Life. A Critical Edition and Translation with Introduction and Notes by Carol V. Kaske and John R. Clark (Medieval and Renaissance Texts and Studies 57), Binghamton, N.Y. 1989. Lettere I, Epistolarum familiarum liber I, hrsg. von Sebastiano Gentile, Firenze 1990. Bibliographie s. Studi e documenti = Kristeller 1987. Studien Marsilio Ficino e il ritorno di Platone. Mostra di manoscritti stampe e documenti, Catalogo a cura di S. Gentile, S. Niccoli e P. Viti, Firenze 1984 [zit. als Catalogo],

40

A

uswahlbibliographie

Marsilio Ficino e il ritorno di Platone, studi e documenti, a cura di Gian Carlo Garfagnini (Istituto nazionale di Studi sul Rinascimento, Studi e testi 15), Firenze 1986 [zit. als Studi e documenti], mit umfangreicher Bibliographie [= Kristeller 1987], Supplementum Festivum, Studies in Honour of Paul Oskar Kristeller (Medieval and Renaissance Texts and Studies 49), Binghamton, N. Y. 1987, mit Beiträgen zu Ficino von Michael J. B. Allen, Brian P. Copenhaver, Sebastiano Gentile, Pauline Moffitt Watts [zit. als Supplementum Festivum]. Allen, Michael J. B., The Platonism of Marsilio Ficino, Berkeley usw. 1984 a. - , Marsilio Ficino on Plato, the Neoplatonists and the Christian Doctrine of Love, in: Renaissance Quarterly 37 (1984 b), 555-584. -, The Second Ficino-Pico Controversy: Parmenidean Poetry, Eristic, and the One [1986], in: Studi e documenti, 417-455. - , Marsilio Ficino's Interpretation of Plato's Timaeus and its Myths of the Demiurge [1987], in: Supplementum Festivum, 399-439. Beierwaltes, Werner, Marsilio Ficinos Theorie des Schönen im Kontext des Piatonismus, Heidelberg 1980. Buhler, Stephen M., Marsilio Ficino's De stella magorum and Renaissance Views of the Magi, in: Renaissance Quarterly 43 (1990), 348-371. Bullard, Melissa Meriam, The Inward Zodiac: A Development in Ficino's Thought on Astrology, in: Renaissance Quarterly 43 (1990), 687-708. Della Torre, Arnaldo, Storia dell'Accademia Platonica di Firenze, Firenze 1902 (Reprint Torino 1968). Field, Arthur, The origins of the Platonic Academy of Florence, Princeton 1988.

A

uswahlbibìiographie

41

Fubini, Riccardo, Ficino e i Medici all'avvento di Lorenzo il magnifico, in: Rinascimento 2 a serie, 24 (1984), 3-52. -, Ancora su Ficino e i Medici, ebd. 27 (1987), 275-291. Gilson, Etienne, Marsile Ficin et le Contra Gentiles, in: Archives d'histoire doctrinale et littéraire du Moyen Age 32 (1957), 101-113. Hankins, James, Some Remarks on the History and Character of Ficino's Translation of Plato [1986], in: Studi e documenti, 287—304. -, Cosimo de'Medici and the „Platonic Academy", in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 53 (1990 a), 144-162. -, Plato in the Italian Renaissance, Leiden 1990 b, 2 Bde., Ficino I S. 267-359, II S. 454^85. -, The Myth of the Platonic Academy of Florence, in: Renaissance Quarterly 44 (1991), 429-475. Kaske, Carol F., Ficino's Shifting Attitude towards Astrology in the „De vita coelitus comparanda", the Letter to Poliziano, and the „Apologia" to the Cardinals [1986], in: Studi e documenti, 371-381. Klibansky, Raymond, The Continuity of the Platonic Tradition During the Middle Ages, München 1981 (1. Aufl. 1939/1943). Klutstein, llana, Marsilio Ficino et la théologie ancienne, Firenze 1987. Kristeller, Paul Oskar, Le thomisme et la pensée italienne de la Renaissance, Paris 1967. -, Die Philosophie des Marsilio Ficino, Frankfurt/M. 1972. -, Acht Philosophen der italienischen Renaissance, Weinheim 1986, Kap. 3. -, Marsilio Ficino and his Work after Five Hundred Years, in: Studi e documenti, 15-196; dasselbe separat erschienen Firenze 1987 (Quaderni di „Rinascimento" 7), mit umfangreicher Bibliographie. Leinkauf, Thomas, Amor in supremi opificis mente residens: Athanasius Kirchers Auseinandersetzung mit der Schrift „De amore" des Marsilius Ficinus, in:

42

A

uswahlbibliographie

Zeitschrift fur Philosophische Forschung 43 (1989), 265-300. -, Platon und der Piatonismus bei Marsilio Ficino, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 40 (1992) 735-756 (erweiterte Fassung des 2. Teils der „Einleitung" in diesem Band). Lohr, Charles H., Metaphysics, in: The Cambridge History of Renaissance Philosophy, Cambridge 1988 [Ficino: 568-584], Marcel, Raymond, Marsile Ficin (1433-1499) (Les Classiques de l'Humanisme, Études 6), Paris 1958. Moffitt Watts, Pauline, Pseudo-Dionysius the Areopagite and three Renaissance Neoplatonists: Cusanus, Ficino and Pico on Mind and Cosmos, in: Supplementum Festivum, 279-298. Otto, Stephan, Renaissance und frühe Neuzeit, Stuttgart 1986, 260 fr. -, Geometrie und Optik in der Philosophie des Marsilio Ficino, in: Philosophisches Jahrbuch 98 (1991), 290-313. Tarabochia Cañavero, Alessandra, S. Agostino nella Theologia Platonica di Marsilio Ficino, in: Rivista di filosofia neoscolastica 70 (1978), 626-646. Saffrey, H. D., Notes platoniciennes de Marsile Ficin dans un manuscrit de Proclus, in: Bibliothèque d'Humanisme et Renaissance 21 (1959), 161-184. Vasoli, Cesare, Per le fonti del „De Christiana religione" di Marsilio Ficino, in: Rinascimento 2 a serie, 28 (1988), 135233.

44

Argumentum

Ba 706/M 266

ARGUMENTUM MARSILIIFICINI FLORENTINI IN PLATONICAM THEOLOGIAM AD LAURENTIUM MEDICEM PATRIAE SERVATOREM. Decrevi, Magnanime Lamenti, antequam grande illud Platonicae Theologiae volumen ederem tuo nomini dedicatum, in quo adhuc superest nonnihil quod examinatione indigeat, edere, si tibiplacuerit, argumentum. Non ut huiusmodi argumento quasi quodam theologiae praeludio exercitatus accedas promptior ad ludendum, cum mihi videaris ipsam palmam iam consecutus, sed ut hoc interim pignore admonitus memineris et meminisse me tibi debere quod iamdiu iure promiseram et solvere quandoque velie quod debere cognosce. Praesertim cum non tam hoc ipsum debeam quia promisi, quam id promiserim quia cuncta debebam. Postquam vero hoc in Theologiam Piatonicam argumentum legeris, deinceps quantum per negocia licebit leges quae sequuntur quinqué Platonicae sapientiae claves.

Einführung in die Platonische

Theologie

45

Einführung in die Platonische Theologie

Erlauchter Lorenzo, ich habe beschlossen, bevor ich jenes große Werk über die Platonische Theologie herausgebe, das Dir gewidmet ist und in dem noch einiges der Überprüfung bedarf, mit Deiner Zustimmung eine Einfuhrung zu veröffentlichen. Nicht etwa, damit Du durch eine solche Einführung, wie durch ein Vorspiel der Theologie, eingeübt besser vorbereitet zum Spiele antrittst - denn Du scheinst mir die Siegespalme des Spieles schon erlangt zu haben -, sondern damit Du, inzwischen durch dieses Pfand gemahnt, Dich erinnerst, daß ich mich erinnere, Dir zu schulden, was ich schon lange rechtskräftig versprochen habe und einmal einlösen will, was zu schulden ich weiß. Zumal ich es nicht so sehr deswegen schulde, weil ich es versprach, als es versprach, weil ich alles schulde. Nachdem Du aber diese Einführung in die Platonische Theologie gelesen hast, magst Du - soweit es Deine Geschäfte zulassen - die nachfolgenden „Fünf Schlüssel zur Platonischen Weisheit" lesen1.

1

Diese W i d m u n g ist wiederholt in Ep. III, Opera 737. - D i e von Marcel veröffentlichte Sammlung hat noch den Zusatz: Postquam . . . claves. Zu den „Fünf Schlüsseln" gehören die in diesem Band abgedruckten Texte „Kompendium" und „Fünf Fragen über den Geist".

46

Argumentum

Ba 707/M 267

TRES CONTEMPLATIONS PLATONICAE GRADUS

Tres vero sunt praecipui contemplationis Platonicae gradus. Primus quidem a corpore per animam ascendit ad Deum. Secundus autem consistit in Deo. Tertius denique ad animam corpusque descendit. Tres quoque gradus nostrum continet argumentum.

CONTEMPLATIONIS PRIMUS GRADUS EST ASCENSUS A D ANIMAM, ANGELUM, DEUM. A C DE DIVINA INTELLIGENTIA ET AMORE. Caelum est forma

sine materia,

ut nonnullis

placet.

Considerabam nuper diligenter Aristotelis illud paradoxon, caelum materia caret. Rationem quoque Averrois meditabar qua paradoxon Aristotelicum comprobat. Quod videlicet materia cum natura sua informis sit, ideoque ad

Einfährung in die Platonische Theologie

47

Drei Stufen der Platonischen Betrachtung

Es gibt vor allem drei Stufen der platonischen Betrachtung. Die erste steigt vom Körper durch die Seele zu Gott. Die zweite hat Bestand und verweilt in Gott. Die dritte endlich steigt zur Seele und zum Körper herab 2 . Drei Stufen enthält auch unsere Einfuhrung. Erste Stufe der Betrachtung ist der Aufstieg zur Seele, zum Engel, zu Gott. Ferner über die göttliche Intelligenz und Liebe. Der Himmel ist Form ohne Materie, wie einige annehmen.

Neulich dachte ich über folgendes Aristotelische Paradox gründlich nach: der Himmel hat keine Materie 3 . Ich erwog die Beweisgründe des Averroes 4 , mit denen er das Aristotelische Paradox beweist. Nämlich daß die Materie, weil 2

3

4

Drei Stufen der Betrachtung: vgl. De Felicitate unten S. 234 ff. ; sie entsprechen F.s Interpretation des Mythos vom Seelenwagen (Phaidros 246 A-247 E), wonach die Seele zur Schau des Überhimmlischen aufsteigen und von dort zurückkehren kann, s. den Kommentar Opera 1376 (cap. 20) und 1377 (cap. 22). Aristoteles, coel. I 9, 278 a 29 ff. Die Frage, ob der Himmel Materie habe, wurde unter Aristotelikern diskutiert, z.B. Thomas, STh I 166, 2. De subst. orbis 2.

48

Argumentum

Ba 707/M 268

quamlibet formam aeque se habeat omnesque vicissim capere valeat, a formis iugiter fluit in formas, unde fit ut quod ex materia constat, formam suam quandoque possit amittere. Caelum vero formam propriam amittere nequit, tum quia nulla usquam est illi contraria qualitas, sicut ñeque motus circulan motui suo contrarius reperitur, tum quia motum habet sine ulla digressione semper aequalem indefessumque qui et in idem redit, principiumque rursus inchoat ubi finiri videtur. Ex his concludit Averrois caelum esse formam quamdam per se sine materia existentem, quae quamvis subiecta materia non indigeat, ipsa tamen subiecta est quantitati motuique secundum locum. Eiusmodi formam inter physicas formas et metaphysicas esse vult mediam. Naturales enim formae cum quantitate quadam et in materia sunt. Formae vero omnino super naturam tam quantitate quam materia carent. Mediam quamdam formam esse vult ne ab extremo ad extremum absque medio transeatur, quae quamvis habeat quantitatem, materiam tamen non habeat, qualem esse substantiam caelestem existimat. Proculus quoque Platonicus caeleste vehiculum animae corpus esse putat, nullam tamen habere materiam. Forma sine quantitate magis quam sine potest existere.

materia

His ego Aristotelis Averroisque et Proculi gradibus ad caelum usque directis conatus sum pro viribus ascendere super caelum. Profecto cum formarum genus queat alicubi

Einführung in die Platonische Theologie

49

sie von Natur aus formlos ist, sich deswegen zu jeglicher Form gleich verhält und alle nacheinander aufzunehmen fähig ist und beständig von einer Form zur anderen fließend übergeht; daher kommt es, daß alles, was aus Materie besteht, bisweilen seine Form verlieren kann. Der Himmel aber kann seine eigene Form nicht verlieren, erstens weil es für ihn nirgendwo eine entgegengesetzte Qualität gibt, so wie es auch keine seiner Kreisbewegung entgegengesetzte Bewegung gibt, zweitens, weil er eine Bewegung ohne jede Abweichung hat, die immer gleich und unermüdlich ist und die auch in sich zurückkehrt und dort wieder beim Anfang anfängt, wo sie zu enden scheint. Daraus folgert Averroes, der Himmel sei eine Form, die ohne Materie für sich existiert und die - wiewohl sie keiner zugrundeliegenden Materie bedarf - trotzdem selber der Quantität und der Ortsbewegung unterliegt. Eine solche Form hält er für ein Mittleres zwischen den physischen und metaphysischen Formen. Die natürlichen Formen sind nämlich mit Quantität und in Materie. Die gänzlich übernatürlichen Formen dagegen haben weder Quantität noch Materie. Er nimmt an, daß es eine mittlere Form gäbe, damit es nicht von einem Extrem zum anderen ohne Mittelglied übergehe; diese habe zwar Quantität, jedoch keine Materie, und er nimmt an, die himmlische Substanz sei so beschaffen. Auch der Platoniker Proklos5 glaubt, daß das himmlische Fahrzeug Körper der Seele sei, aber dennoch habe es keine Materie. Die Form kann eher ohne Quantität als ohne Materie bestehen.

Auf diesen Stufen des Aristoteles, des Averroes und des Proklos, die zum Himmel führen, habe ich nach Kräften versucht, über den Himmel hinaufzusteigen. In der Tat, 5

Proklos, Theol. Plat. III 6 (21, 19-21 SafFrey-Westerink).

50

Argumentum

Ba 707/M 269

se a materia liberare, sicut in caelo modo nobis apparuit, potest etiam alicubi absolvere seipsum a quantitate, ac etiam multo magis, quippe si ab alterutro dependeret, penderei potius a materia a qua substantialis forma saepe sustinetur quam a quantitate, quam substantialis forma forte non minus sustinet quam sustineatur ab ilia. Quod maxime in caelo conspicitur, ut placet Averroi, ubi forma talis sustinet quantitatis dimensiones. Adde quod multo magis cum materia quam cum quantitate congruit in ordine quodam generis atque naturae. Quare si absque materia potest esse, longe facilius absque quantitate consistere potest. Praesertim forma ilia quae substantia. Substantia enim cum accidens antecedat absque quantitate, quae accidens est, alicubi potest existere. Forma sine quantitate magis quam sine mole esse potest.

Ita formarum ordo quemadmodum ab elementis in caelum proficit in melius, dum ab umbra materiae liberatur, ita super caeli verticem in aliquid longe melius proficit, dum in animis angelisque etiam a mole quantitatis absolvitur. Depositaque divisionis debilitate ob indivisibilis naturae unitatem fortitudinem adipiscitur. Consummatur tan-

Einführung in die Platonische Theologie

51

wenn die Gattung der Formen sich irgendwo von der Materie befreien könnte, wie es uns gerade beim Himmel begegnete, dann könnte sie sich auch irgendwo von der Quantität loslösen. Ja sogar noch viel mehr: Denn wenn sie von einem von beiden abhinge, dann eher von der Materie, von der die substantielle Form oft erhalten wird, als von der Quantität, denn die substantielle Form erhält sie vielleicht nicht weniger, als sie von ihr erhalten wird. Das kann man am besten am Himmel sehen, wie Averroes meint, wo eine solche Form die quantitativen Dimensionen erhält. Hinzu kommt, daß sie in der Ordnung der Gattungen und der Natur viel mehr mit der Materie als mit der Quantität zusammenpaßt. Wenn sie also ohne Materie sein kann, kann sie viel leichter noch ohne Quantität bestehen. Besonders jene Form, die die Substanz ist. Die Substanz kann nämlich irgendwo ohne Quantität, die ein Akzidens ist, existieren, weil sie dem Akzidens vorangeht 6 . Die Form kann eher ohne Quantität7 als ohne Masse sein.

Wie die Ordnung der Formen auf diese Weise von den Elementen zum Himmel zum besseren fortschreitet, indem sie sich vom Schatten der Materie befreit, so schreitet sie über den Scheitel des Himmels zu etwas viel besserem fort, indem sie sich in den Seelen und Engeln auch von der Masse der Quantität loslöst. Und sobald sie die Schwäche des Geteiltseins abgelegt hat, erlangt sie dank der Einheit der unteilbaren Natur ihre Stärke. Sie vollendet sich schließlich über jene hinaus im Besten, wenn sie in

6 7

Vgl. Kompendium Anfang. quantitate: wir nehmen mit der bei Marcel z. St. genannten Hs. Laur. 83-12 an, daß es qualitate heißen muß, denn eben dies sagt dieser Abschnitt.

52

Argumentum

Ba 708/M 269

dem super illos in optimo, cum in Deo etiam liberatur a qualitate accidentisque defectu. Potest autem a qualitate secerni1 facilius quam a mole. Substantialis enim forma ubique in natura ipsa sustinet qualitates, nusquam vero sustinetur ab illis. Alicubi tarnen in quantitate iacere videtur. Quod in formis naturae infimis plane conspicitur. Caelum aut est vita quaedam visibilis aut natura vitae próxima.

Caelum quidem cum sine materia sit, spiritale quiddam quodammodo esse videtur Piatonicis magis quam corporale. Quid ergo caelum est? Lux circularis circulusque lucidus sine materia, quemadmodum oppositum eius, quod est terrae imum, est materia sine luce. Caelum igitur, ut Platonicis placet, aut vita quaedam est non occulta, ut anima, sed ob dimensionem, si vis, oculis manifesta, aut saltern cum sit natura quaedam vitae propinquior quam caetera corpora, vita quadam vivit sibi magis admodum familiari quam caetera.

1

secerni: servi Ba.

Eitißihrung in die Platonische Theologie

53

Gott sich auch von der Qualität und dem Mangel des Akzidens befreit. Sie kann sich aber von der Qualität leichter trennen als von der Masse. Denn die substantielle Form erhält überall in der Natur selbst die Qualitäten, wird hingegen nirgendwo von ihnen erhalten 8 . Irgendwo scheint sie dennoch in der Quantität zu liegen, was man in den untersten Formen der Natur deutlich sehen kann. Der Himmel ist entweder ein sichtbares Leben oder eine dem Leben nahe Natur. Da der Himmel ohne Materie ist, halten ihn die Platoniker 9 eher für etwas irgendwie Geistiges als für etwas Körperliches. Was ist also der Himmel? Ein kreisförmiges Licht und ein leuchtender Kreis ohne Materie, wie sein Gegenteil, nämlich das unterste der Erde, Materie ohne Licht. Der Himmel ist also nach Meinung der Platoniker entweder ein Leben, das nicht verborgen ist, wie die Seele, sondern sozusagen wegen seiner Ausdehnung den Augen offenbar, oder - weil er wenigstens eine Natur ist, die dem Leben näher steht als die übrigen Körper - er lebt von einem Leben, das ihm viel näher verwandt ist als die übrigen.

8

9

Zu Ficinos Qualitätenlehre vgl. Kristeller 1972, S. 27 ff., 59 ff. Zum Ganzen ist immer die Theol. Plat, zu vergleichen, hier besonders I 1 ff. Vgl. die Kosmologie in Piatons Timaios 30 Β ff. Der Himmel als unkörperliches Licht: Plotin II 1, 7, 27; zur Kreisbewegung II 1,8. Vgl. zum Ganzen den Kommentar zu Plotin II 1 : Opera 1593 ff.

54

Argumentum

Ba 708/M 270

Differentia lucis in caelo atque elementis apud Platónicos ac Peripatéticos. Sed iuuat gradatim a luce ascendere rursus ad lucem. Videmus in elementis ubi minus crassae materiae inest, facilius lucem adesse. Accensamque materiam quo magis extenuatur rarescitque eo purius perlucere. Quamobrem caelum, quoniam fulget summopere, materia carere probatur, et ob hoc ipsum, quia caret materia, maxime fulget. Quod si quis dixerit partes caeli densiores magis lucere quam alias, respondebunt Platonici rariores partes lucere quidem magis, sed ob nimiam tenuitatem lucemque videri non posse. Respondebunt rursus Peripatetici aliud esse ex se, aliud ex alio coruscare. Ideo elementa, quia fulgorem capiunt aliunde, quale rariora sunt facilius capere, caelestia vero quae ex se splendent, quo densiora sunt eo uberius refulgere. Verum mittamus hic quaestiones huiusmodi. Mittamus caelum parumper, ne splendore corporeo prorsus allucinemur. Quando purgamus lucem caelestem, primo reperimus animam, deinde angelum. Age caelesti naturae relicto, si vis, lumine atque motu, subtrahe quantitatis dimensiones. Licet enim cogitatione subtrahere, nam aliud est lumen caeli motusque, aliud est dimensio. Forma, quae superest spiritus quidam est tanto

Einführung in die Platonische Theologie

55

Der Unterschied zwischen dem Licht im Himmel und in den Elementen bei den Piatonikern und den Peripatetikern. Aber es empfiehlt sich, schrittweise vom Lichte wiederum zum Licht aufzusteigen. Wir sehen, daß in den Elementen dort, wo weniger an grober Materie enthalten ist, das Licht eher vorhanden ist und daß die angezündete Materie desto reiner aufleuchtet, je feiner und dünner sie wird10. Daraus wird bewiesen, daß der Himmel, da er ja am meisten leuchtet, keine Materie hat; und genau deshalb, weil er keine Materie hat, leuchtet er am meisten. Denn wenn jemand sagen wollte, daß die dichteren Teile des Himmels mehr leuchten als die anderen, so würden die Platoniker antworten, daß die weniger dichten Teile noch mehr leuchten, aber wegen des Übermaßes an Feinheit und Licht nicht gesehen werden können. Die Peripatetiker wiederum würden antworten, es sei zweierlei, von sich aus oder von etwas anderem aus aufzublitzen. Deshalb könnten die Elemente, da sie den Glanz von anders woher aufnehmen, ihn um so leichter aufnehmen, je dünner sie sind. Die himmlischen Körper dagegen, die aus sich leuchten, strahlen desto reichlicher, je dichter sie sind. Aber überlassen wir diesen solche Probleme. Lassen wir den Himmel ein bißchen beiseite, damit wir nicht von körperlichem Glanz völlig geblendet werden. Wenn wir das himmlische Licht reinigen, finden wir zuerst die Seele, dann den Engel. Angenommen also, Du hast Licht und Bewegung der himmlischen Natur beibehalten, so nimm die Ausdehnung der Quantität weg - im Denken darf man sie nämlich wegnehmen, denn Licht und Bewegung des Himmels sind

10 Über unkörperliches Licht s. De lumine 9, Opera 979.

56

Argumentum

Ba 708/M 271

lucidior velociorque caelo, quanto caelum est lucidius et velocius elementis. Substantia haec incorporea animus rationalis esse videtur. Derne rursus huic motum, relinque lucem et qualitatem. Potes enim demere, nam aliud lux et qualitas est, aliud motus. Forma quae deinde restât est angelus, clarior admodum et velocior anima, quia ñeque disgregai lucem suam motu ñeque actionem propriam sicut anima distrahit tempore. Praestat ascendere ad substantiam, in qua virtus non sit aliud quam substantia. Caeterum nondum satis naturam rerum purgasse videmur. Restât nobis adhuc, nisi me ratio fallit, accidens a substantia secernendum. Angelus enim substantiam habet et qualitatem. Verum quaerendum est primo numquid fieri hoc praestet, deinde utrum possit? Praestat nimirum, nam ubi substantia aliud est, aliud qualitas, substantia huiusmodi cum sua natura informis imperfectaque sit, aliunde formatur atque perfìcitur, et in capienda sustinendaque qualitate quodammodo patitur, atque qualitas ilia, quia est forma quaedam, in alio scilicet in subiecto se sustinere non potest, multoque minus ex se potest existere. Eget ergo tam causa quam subiecto, nec est integra plenaque omnino cum pro capacitate subiecti suscipiatur. Unde necessario fit ab altiore forma, quae quidem, ne sine fine vagemur, in seipsa sit per se sufficiens ipsa sibi atque pie-

Einführung in die Platonische Theologie

57

etwas anderes als die Dimension - ; dann bleibt als Form ein Geist übrig, der um soviel heller und schneller als der Himmel ist, wie der Himmel schneller und heller ist als die Elemente, und diese unkörperliche Substanz scheint die rationale Seele zu sein. Nimm wiederum dieser die Bewegung und lasse das Licht und die Qualität übrig - du darfst sie nämlich wegnehmen, denn Licht und Qualität sind etwas anderes als Bewegung - ; die Form, die dann übrig bleibt, ist der Engel, viel klarer und schneller als die Seele, denn weder verstreut er sein Licht durch Bewegung, noch dehnt er wie die Seele seine Wirkung in der Zeit aus". Am besten ist es, zu der Substanz aufzusteigen, in der die Kraft nichts anderes ist als Substanz.

Übrigens haben wir wohl die Natur der Dinge noch nicht genügend gereinigt. Jetzt bleibt uns noch, wenn ich mich nicht täusche, das Akzidens von der Substanz zu trennen. Der Engel nämlich hat Substanz und Qualität. Aber zuerst ist zu fragen, ob dies sinnvoll, sodann, ob es möglich ist. Auf jeden Fall sinnvoll. Denn wo die Substanz etwas anderes ist als die Qualität, wird eine solche Substanz weil sie ihrer Natur nach formlos und unvollkommen ist woanders her geformt und vollendet, und sie ist gewissermaßen passiv, wenn sie die Qualität aufnimmt und erhält; und diese Qualität, weil sie eine Form in etwas anderem, d. h. in einem Substrat ist, kann sich nicht selbst erhalten und noch weniger aus sich selbst existieren. Sie bedarf also sowohl einer Ursache als eines Substrates, sie ist auch nicht vollständig ganz, weil sie nur nach Fassungsvermögen des Substrates angenommen wird. Deshalb wird sie notwendig von einer höheren Form gemacht, die - damit

11 „Schnell" ist hier nicht örtlich zu denken. Vgl. den Spruch des Thaies: „Das schnellste ist der Geist, denn er durchdringt alles" (Diogenes Laert. I 35).

58

Argumentum

Ba 709/M 272

nissima, sitque virtus undique infinita, cum neque excedatur ab altiore neque a suscipiente aliquo finiatur. Adde quod totum illud quod ex substantia qualitateque componitur, quia dividitur in partes, in virtute debilitatur, et quia componitur, pendet tum ex partibus tum ex eo artifice qui partes illas in u n u m conciliavit, quae cum diversae sint, ex seipsis invicem non coissent. Quamobrem cum huiusmodi compositum neque quantum ad partes neque quantum ad totum spectat sit optimum, meliusque aliquid futura fit et substantia quae non distinguatur a qualitate sua, et qualitas quae non sit aliud quam substantia propria, ut tandem actus quidam omnino purus immensusque reperiatur, quis dubitet melius esse ut super id quod ex substantia accidenteque componitur ad id quod est melius ascendamus? Rationes multae quod necessarium sit esse actum purum et infinitum. Praestet igitur hue ascendere, sed numquid possibile est? Quid si est possibile fore rogas, quandoquidem iam esse ita est necessarium ut probavimus. Quod si aliam exigís rationem, conducit ad idem huiusmodi ratio, quod substantia, quia accidentis est fundamentum, prior est accidente, et quia quod prius est a posteriore non dependet, potest substantia alicubi absque accidente consistere. Atque hoc melius est sicut ostendimus. Quare

Einführung in die Platonische

Theologie

59

wir uns nicht ins Endlose verlieren - in sich selbst, selbstgenügend für sich und erfüllt sein muß und eine allseits unendliche Kraft, weil sie weder von einem Höheren übertroffen noch von irgendeinem Substrat begrenzt wird. Hinzu kommt, daß all das, was aus Substanz und Qualität zusammengesetzt ist, in seiner Kraft geschwächt wird, insofern es sich in Teile teilt; und da es sich zusammensetzt, hängt es sowohl von den Teilen ab als auch von dem Künstler, der jene Teile in eines verband, die nicht von sich aus zusammenkommen würden, da sie untereinander verschieden sind. Da also ein solches Zusammengesetztes weder hinsichtlich der Teile noch hinsichtlich des Ganzen das Beste ist, und da es etwas Besseres geben muß, nämlich sowohl eine Substanz, die sich nicht von ihrer Qualität unterscheidet, als auch eine Qualität, die nichts anderes als die eigene Substanz ist, damit sich schließlich ein ganz reiner und unermeßlicher Akt' 2 findet, deshalb ist es zweifellos besser, von dem, was aus Substanz und Akzidens zusammengesetzt ist, zu dem, was besser ist, aufzusteigen. Viele Gründe, weshalb es notwendig einen reinen und unendlichen Akt geben muß. Es ist also sinnvoll, dorthin aufzusteigen, aber ist es auch möglich? Wozu fragst Du, ob es möglich ist? Wenn wir doch bewiesen haben, daß es notwendig so sein muß? Wenn Du einen anderen Beweis brauchst, so führt ein solcher Beweis zu demselben Ergebnis: daß die Substanz früher als das Akzidens ist, weil sie Grundlage für das Akzidens ist, und daß - weil das Frühere nicht vom Späteren abhängt - die Substanz ohne das Akzidens irgendwo bestehen kann13. Das aber ist besser, wie gezeigt. Damit

12 actus purus bezeichnet bei T h o m a s v o n Aquin Gott, allerdings im Unterschied zur Potenz: STh 1 8 7 , 2 c, ScG 116, II 6. 13 Aristoteles, met VII 1, 1028 a 30 - b 2.

60

Argumentum

Ba 709/M 273

ne ab aeterno in aeternum huiusmodi potentia in rerum principio tarn bona sit frustra, operaepretium esse videtur ut iam sit actu. Praesertim cum ubi summus actus est et summa perfectio, ibi potentia actusque posse et esse sint idem. Ac si in rebus inferioribus minusque bonis, scilicet elementis mixtis, plantis et animalibus, quantum ad partes eorum spectat et reliqua, quod praestat ut sit iam est a natura provisum, quanto magis in rebus admodum melioribus et in summo naturae quicquid melius esse probatur iamiam est et verius. Praeterea quod melius esse monstratur in universo non ob aliam causam melius esse censetur, nisi quia verae rationi consentaneum est, conducit maxime ad rerum ordinem, decet praecipue rerum ordinatorem. Tale vero nefas dictu est impossibile esse vel falsum. Rursus potentia et Veritas tamquam bona naturaliter appetuntur, atque hoc ipsum quod sunt, aut sunt ipsa bonitas aut a bonitate. Ergo quod in universi natura possibilius veriusque est, hoc est et melius, atque e converso, quod universo melius, iudicatur, idem possibilius est et verius.

Einführung in die Platonische Theologie

61

solch eine derart gute Potenz in dem Prinzip der Dinge nicht auf ewig vergeblich sei, ist es offenbar gut, daß sie schon wirklich ist, zumal dort, wo der höchste Akt ist und die höchste Vollkommenheit, Potenz und Akt, Können und Sein identisch sind14. Und wenn schon in den niederen und weniger guten Dingen, nämlich in den gemischten Elementen 15 , den Pflanzen und Tieren, von der Natur vorgesehen ist, daß hinsichtlich ihrer Teile und alles anderen das jeweils bessere schon da ist, um wieviel mehr ist in den durchaus besseren Dingen und in dem Höchsten der Natur das, was sich als das bessere erweist, auch längst schon das wahrere16. Außerdem gilt das, was sich im Universum als das bessere erweist, nur deshalb fur besser, weil es mit dem wahren Grund übereinstimmt, weil es am meisten zu der Ordnung der Dinge hinführt und weil es vor allem deren Ordner17 gemäß ist. Es ist aber ein Frevel zu sagen, ein solches sei unmöglich oder falsch. Ferner werden Potenz und Wahrheit als Gut von Natur aus angestrebt 18 . Und das, was sie sind, sind sie entweder als Güte selbst oder von der Güte her. Folglich ist das, was nach der Natur des Universums möglicher und wahrer ist, auch besser, und umgekehrt, was universell für besser gilt, ist zugleich möglicher und wahrer.

14 Thomas, STh I 54, 1 c: in solo D e o sua substantia est suum esse et suum agere. 15 elementis, mixtis M: das Komma darf nicht stehen, weil es um die gemischten, im Gegensatz zu den reinen Elementen geht, die ja nicht zum Niederen gehören. 16 Vgl. Compendium S. 146ff.; D e mente S. 172ff. 17 Vgl. D e mente S. 164/165; In Philebum 4, Opera 1210; Theol. Plat. II 2, Opera 94 (M 1, 77 f.) über Prinzip und Ordnung. 18 Vgl. Aristoteles, Nik. Eth. Anfang 1094 a 1 ff. Plotin V 6 , 5 , 5 12; I 7 und Comm. in Plot., Opera 1579.

62

Argumentum

Ba 709/M 273

Item quod est melius magis est boni particeps. Non est igitur impossibile, nam impossibile nullius boni particeps iudicatur. Accedit quod si actus purus infinitusque, quem disputando excogitavimus, infinite melior est quam angelus et quam universum cuius pars est angelus, quod totum est terminatum, necessario est infinite potentior ad existendum, cum potentia bonum sit bonumque potestas. Immo etiam cum vere actuque esse bonum sit et nihil boni immenso desit bono, immensus actus infinite verius iam actu est quam cuncta. Si infinita potestas duratione infinita nondum venit in actum, nulla umquam alia potentia venit. Immo si infinitus actus qui idem est ac illa potestas, non sit semper in actu, alius certe nullus erit. Si est semper in actu potentia quaedam sua natura omni carens actu quae est infinite passiva, id est materia, proculdubio est semper in actu potestas ilia quae actus est totus atque est efficax infinite, a qua passiva potentia sit possitque pati et patiatur. Sed quid curiose inepteque quaerimus, utrum possibile verumve sit in universo esse immensum bonum necne? Cum nihil sit possibilius veriusque eo quo nihil potest potentius cogitari? Non esset autem immensum bonum, nisi esset in eo quicquid melius iudicatur ut sit. Atque excederet mens nostra cogitatione affectuque, quibus per boni gradus absque fine progredita, principii

Einführung in die Platonische Theologie

63

Ferner, was besser ist, hat am Guten mehr teil. Also ist es nicht unmöglich. Denn das Unmögliche wird als keines Guten teilhaftig verstanden. Außerdem: Wenn der reine und unbegrenzte Akt, den wir diskursiv ermitteln, unendlich besser ist als der Engel und als das Universum, von dem der Engel ein Teil ist und das als Ganzes begrenzt ist, dann ist er notwendig unendlich mächtiger zu existieren, da die Potenz etwas Gutes ist und das Gute eine Macht. Ja, da wahr und wirklich zu sein ein Gutes ist und dem unermeßlich Guten nichts Gutes fehlt, ist der unermeßliche Akt auf unendlich viel wahrere Weise als alles schon wirklich. Wenn die unendliche Macht noch nicht in unendlicher Dauer Wirklichkeit geworden ist, dann ist es keine andere Potenz jemals geworden. Ja, wäre der unendliche Akt, der dasselbe ist wie jene Macht, nicht immer wirklich, so wäre es sicherlich kein anderer. Wenn es immer wirklich eine Potenz gibt, die ihrer Natur nach jeden Akt entbehrt und die wirklich unendlich passiv ist, d. h. die Materie19, so gibt es ganz zweifellos immer in Wirklichkeit jene Macht, die ganz Akt ist und unendlich wirksam, von der her die passive Potenz ist, leiden kann und leidet. Aber wozu fragen wir neugierig und überflüssigerweise, ob ein unermeßliches Gut überhaupt möglich und wahr sei? Wo doch nichts möglicher und wahrer ist als das, zu dem nichts mächtigeres gedacht werden kann20. Es wäre nämlich nicht das unermeßliche Gut, wenn in ihm nicht alles wäre, von dem gilt, daß es besser sei, daß es ist. Und es würde unser Geist durch Denken und Liebe, mittels deren er über die Stufen des Guten ohne Ende voranschreitet,

19 Vgl. Piaton, Timaios 50 A - Ε ; Plotin VI 7,21 (Materie als das „bedürftigste"). 20 Vgl. den von Thomas (ScG 110-11) diskutierten Begriff Gottes „quo nihil maius cogitari possit" : Anselm von Canterbury, Proslogion c. 2-3 (Op. 101-103), der wiederum Tradition hat.

64

Argumentum

Ba 71 O/M 274

summi naturam, siquid boni cogitari posset quod in eo non esset, ac nisi illud esset immensum. Quid plura? Si in summo principio omnium atque fine, ubi summopere invenitur quicquid est appetendum, summa bonitas est et summa ipsa bonitas idem est prorsus ac summa potentia veritasque, sequitur quicquid circa ipsum melius iudicatur possibilius fore, immo iam verius esse. Omnino autem meminisse oportet potentiam alicuius boni capacem esse revera aliquid atque in re aliqua vera fundari. Praeterea dependere ab alio quodam quod iam actu id habeat bonum; rursum quod actu bonum possidet ab alio proficisci quod actu sit ipsum bonum actusque cuiuslibet actus. De luce Dei ac de umbra materiae.

Caeterum alicui fortasse videbitur natura illa in qua qualitas non discernitur a substantia sine forma luceque esse. Sed meminerit ille probavisse nos ad formam in se existentem ascendendum esse. Est ergo ilia substantia forma. Profecto sicut in rerum infimo, id est materia prima, idem est esse et informe tenebrosumque esse, sic in summo idem est esse et formosum lucidumque esse, immo formam lucemque esse. Materia enim apud Moysem, tenebrarum abyssus est formarumque informe subiectum,

Einführung in die Platonische Theologie

65

die Natur des höchsten Prinzips übertreffen, wenn etwas Gutes gedacht werden könnte, was nicht in ihm wäre und wenn es nicht unermeßlich wäre. Was noch? Wenn im höchsten Prinzip und Ziel von allem, in welchem man vor allem findet, was erstrebenswert ist, die höchste Güte ist, und wenn die höchste Güte dasselbe ist wie die höchste Potenz und Wahrheit, so folgt, daß alles, was an ihm für besser gilt, möglicher ist, ja sogar schon wahrer ist. Man muß sich aber überhaupt daran erinnern, daß die Fähigkeit zu etwas Gutem wirklich etwas und in einem wahren Ding begründet ist und außerdem von einem anderen abhängt, welches schon dieses Gut in Wirklichkeit hat, und daß wiederum das wirklich Gute aus einem anderen hervorgeht, das wirklich das Gute selbst und die Wirklichkeit aller Wirklichkeit ist. Das Licht Gottes und der Schatten der Materie.

Übrigens könnte man meinen, jene Natur, in der die Qualität sich nicht von der Substanz unterscheidet, sei ohne Form und Licht. Aber man sollte sich an den Beweis erinnern, daß man zu der in sich existierenden Form aufsteigen muß, und folglich ist jene Substanz Form. In der Tat, wie im niedrigsten der Dinge, d. h. in der Ersten Materie, „Sein" und „Formlos-und-Finster-Sein" dasselbe ist21, so ist im Höchsten „Sein" dasselbe wie „Formvollendet-undLeuchtend-Sein", ja sogar „Form-und-Licht-Sein". Denn bei Moses ist die Materie der Abgrund der Finsternis und das formlose Substrat der Formen, und Gott ist Licht als

21 Vgl. Aristoteles, phys. 17, 191 a 10, met. VII 3, 1029 a 20ff.: Die Existenz einer Ersten Materie wird von Aristoteles abgelehnt: De gen. et corr. 2, 329 a 23 ff.

66

Argumentum

Ba 7 1 0 / M 274

Deus, lux, abyssus luminum formaque fons formarum. Materia infinita est patiendi potentia, Deus infinita virtus agendi, immo infinitus est actus. Illa ergo potentia est potentiarum omnium quae in patiendo versantur, hic actus est actuum. Et sicut innumere de materia vere dicitur, materia, ñeque forma haec est ñeque illa, ita de Deo innumerabiliter dicitur et vere dicitur: Deus haec forma est et ilia. Una materia est umbra rerum umbratilium infima. Unus Deus lux summa luminum. Materia ob nimias tenebras ignota est, Deus ob nimiam lucem est incognitus. Nam si lux quae est purior est et lucidior, nimirum Deus cum solus sit puras actus, solus lux est revera dicendus. Si lux in forma quadam consistit potiusquam subiecto et formositas consistit in luce, ibi solum vera lux, ubi mera sine subiecti inquinamento forma, ibi solum vera formositas, ubi solum lux vera veraque forma. Quapropter omnis forma et lux, quae vel videtur oculis vel cogitatur, quia finita est, umbra quaedam est ad Dei formam atque lucem. Merito Deus infinitus est actus, quoniam vel subiecti vel causae limite, sicut diximus, non contrahitur. Hinc fit plane ut sit lumen immensum.

Einführung in die Platonische Theologie

67

Abgrund der Lichter und Form als Quelle der Formen 22 . Die Materie ist die unendliche Potenz, zu leiden. Gott ist die unendliche Kraft des Handelns, ja sogar unendlicher Akt23. Jene also ist die Potenz der Potenzen fiir alles im Zustand des Leidens, dieser ist der Akt der Akte. Und so, wie man von der Materie unzählig oft wahrhaft sagen kann, Materie sei nicht diese oder jene Form, so sagt man nicht zählbarerweise und wahrhaft von Gott, Gott sei diese und jene Form. Die eine Materie ist der unterste Schatten der Schattendinge, der eine Gott ist höchstes Licht der Lichter. Die Materie ist unbekannt wegen des Übermaßes an Schatten, Gott ist unerkannt wegen des Übermaßes an Licht. Denn wenn das Licht, das reiner ist, auch heller ist, dann muß man Gott wahrhaftig, da er allein reiner Akt ist, allein das Licht nennen. Wenn das Licht eher in einer Form als im Substrat besteht, besteht auch die Formvollendung im Lichte. Dort ist nur wahres Licht, wo die Form rein ohne Verunreinigung des Substrates ist. Dort nur ist wahre Formvollendung, wo nur wahres Licht und wahre Form ist. Jede Form und jedes Licht, die mit den Augen gesehen oder die gedacht werden, sind deshalb, weil sie endlich sind, ein Schatten vor Gottes Form und Licht. Zu Recht ist Gott unendlicher Akt, weil er - wie gesagt - weder durch die Grenzen des Substrates noch der Ursache eingeschränkt wird. Daraus ergibt sich klar, daß er unermeßliches Licht ist24.

22 Genesis 1, 2; zitiert bei Augustinus, conf. XII 8, 8, wo die Materie als „prope nihil" (vgl. XII6,6) und als „fast nichts aus nichts gemacht" bezeichnet wird; vgl. auch dazu Augustinus, gen. litt. I 13, 27-15, 30. 23 Thomas, STh 1115 a 1 ad 2: materia prima, quae est potentia pura sicut Deus est actus purus (vgl. o. Anm. 12). 24 Gott als Schöpfer des vollkommenen Lichtes: Sir. 24, 6 (lumen indeficiens), Jac. 1, 17 (Pater luminum). Vgl. außerdem Kompendium S. 120/121.

68

Argumentum

Ba 7 1 0 / M 275

Quantum lux Dei supereminet supeificiem intellectus, tantum Dei calor centrum penetrai voluntatis. Cum vero a lumine calor trahat originem, est etiam ardor immensus, ardor in bono infinito infinite beneficus. Hunc nos ardorem voluntatis ardore potiusquam scintilla mentis attingimus, nam Deus quantum intellectus sui luce nos supereminet, tantum ferme bonitatis ardore se nobis inurit, ut nihil Deo excelsius sit, nihil quoque profundius. Quo amplior eius lux eo intellectui naturaliter est ignotior. Quo vehementior ardor eo, ut ita dicam, certior voluntati. Deus ergo in summa intellectus cognitione quodammodo nox quaedam est intellectui. In summo voluntatis amore certe dies est voluntati. Unde Orpheus Deum appellai noctem atque diem. Verumtamen divinus splendor in animo beatorum, quando nox appellato, omni temporali die longe clarior advenit. Atque ob divinum munus tanto pene clarior quanto et Deus est, ut ita dicam, lucidior sole et animus purior ac serenior aere. Lux in elementis, caelo, anima, angelo, Deo. Lux in elementis facile perspicitur oculis, quorum complexio constat ex elementis. Lux in caelo, quamvis amplior, difficilius tamen aspicitur. Remotior enim oculorum quali-

Einführung in die Platonische Theologie So hoch wie das Licht Gottes die Oberfläche Intellekts übersteigt, so tief dringt die Wärme in das Zentrum des Willens ein.

69 des Gottes

Da aber von dem Licht die Wärme herkommt, ist auch die Glut unendlich: die im unendlich Guten unendlich wohltätige Glut. Deshalb erreichen wir die Glut eher durch die Glut des Willens als durch den Funken des Geistes. Denn so sehr Gott uns mit dem Licht seines Intellekts übertrifft, so sehr brennt er sich uns mit der Glut seiner Güte ein, auf daß nichts höher sei als Gott und auch nichts tiefer25. Je größer sein Licht ist, desto unbekannter ist es naturgemäß dem Geist. Je heftiger seine Glut, desto sicherer (sozusagen) ist sie dem Willen. Gott ist also in der höchsten Erkenntnis des Geistes gewissermaßen Nacht des Intellektes26; in der höchsten Liebe des Willens ist er sicherlich der Tag des Willens. Daher nennt Orpheus Gott die Nacht und den Tag27. Trotzdem erscheint der göttliche Glanz, wenn er Nacht genannt wird, in der Seele der Seligen viel heller als jeder zeitliche Tag, und er ist - dank göttlichen Geschenks - um so viel heller, wieviel Gott sozusagen leuchtender ist als die Sonne und die Seele reiner und klarer als die Luft. Das Licht in den Elementen, im Himmel, im Engel, in Gott.

in der Seele,

Das Licht in den Elementen ist mit den Augen leicht zu sehen, die aus den Elementen zusammengesetzt sind. Das Licht am Himmel ist schwerer zu sehen, obwohl es größer 25 Vgl. Kompendium S. 140/141. 26 Vgl. Ps.-Dionysios Areopagita, theol. myst. 1, über die „Dunkelheit Gottes", zit. in Theol. Plat. XVIII 8, Opera 411 (M 3, 209). 27 Opera 934: Iuppiter... regali in corpore cuius Singula ponuntur . . . Nox simul atque dies.

70

Argumentum

Ba 710/M 276

tas est a cáelo. Lux in anima nullo modo videtur sicuti ñeque lux solis a noctua, quia nimia est, ñeque ad earn corporalis sensus ullam habet proportionem. Sed rationalis animae discursu aliquo cogitatur. Lux in angelo ñeque videtur ñeque etiam cogitatur. Est enim super sensus proportionem et super temporalis discursionis capacitatem, verumtamen intelligitur. Congruit enim anima cum angelo in sua quadam intelligentia stabili potiusquam mobili cogitationis discursione. Lux in Deo, quia etiam limites intellectus excedit omnino naturali hominis intelligentia non intelligitur, sed creditur potius et amatur, atque amata gratis infusa videtur, nempe huius amore accensus animus quo flagrat ardentius eo refulget clarius, discernit quoque verius fruiturque suavius. Hinc Plato asserit, divinam lucem non rationis digito demonstran, sed perspicua piae vitae serenitate capi. Quid caelum, anima, angelus, Deus atque de differentia visibilis lucis et invisibilis. Ut autem nostrae disputationis ambages aliquando paucis colligamus, caelum esse dicimus lucem quamdam absque

Einführung in die Platonische

Theologie

71

ist. Die Qualität der Augen ist nämlich vom Himmel weiter entfernt. Das Licht in der Seele ist keineswegs sichtbar - so wie das Sonnenlicht für die Nachteule 28 - , weil es allzu stark ist und der körperliche Sinn zu ihm keinerlei Verhältnis hat. Aber es ist mit einer Überlegung der rationalen Seele denkbar. Das Licht im Engel ist nicht sichtbar noch denkbar, es ist nämlich jenseits der Verhältnisse der Sinne und der Faßbarkeit des Überlegens; es wird trotzdem erkannt, denn es stimmt die Seele mit dem Engel eher in ihrer gewissermaßen ständigen Einsicht als im bewegten Diskurs des Überlegens überein 29 . Weil das Licht in Gott auch die Grenzen des Intellekts übersteigt, wird es von der natürlichen Intelligenz des Menschen überhaupt nicht erkannt, sondern vielmehr geglaubt und geliebt; und als geliebtes wird es offenbar gratis eingegossen, denn je mehr die Seele , die durch die Liebe zu ihm entzündet ist, glühend lodert, desto heller strahlt sie wieder, urteilt auch wahrer und genießt süßer 30 . Daher sagt Piaton 31 , das göttliche Licht werde nicht durch den Finger des Verstandes bezeichnet, sondern durch die durchscheinende Klarheit des f r o m m e n Lebens erfaßt. Was sind Himmel, Seele, Engel, Gott? Der Unterschied zwischen sichtbarem und unsichtbarem Licht. U m also die Probleme unserer Diskussion zusammenzufassen, sagen wir: Der Himmel ist ein Licht ohne Materie, 28 Aristoteles, met. II, 993 b 10 ; zitiert im Kommentar zu Dionysius, div. nom. (Opera 1058) zusammen mit anderen LichtVergleichen. 29 Vgl. Fünf Fragen über den Geist, S. 172 ff. 30 Zur Verknüpfung von Licht- und Eros-Metaphorik im Platonismus: Endre von Ivánka, Plato Christianus, Einsiedeln 1964, 189 ff. 31 Unklar, worauf Ficino sich bezieht.

72

Argumentum

Ba 711/M 277

materia quodammodo corporalem; animam lucem quamdam sine quantitate magnam; angelum lucem sine motu celerrimam; Deum lucem absque qualitate optimam atque potentissimam, cuius calorem volúntate prius certiusque et vehementius experimur, quam intelligentia lumen. In hoc potissimum differì lux invisibilis a visibili, quod visibilis quidem tarn in igne quam in caelo extrinsecus veniens illuminât priusquam calefaciat. Invisibilis autem contra intrinsecus agens quodammodo calefacit antea quam illuminet. Ideo in illa a visu ad tactum; in hac quasi a tactu quodam in visum progredimur. Humana pulchritudo videtur priusquam ametur; divina vero amatur ut videatur. Sed in illa qui videt saepe miserabiliter possidetur. In hac videre nihil est aliud quam feliciter possidere. Igitur frustra nimium contraque ordinem naturae laborat, quicumque Deum absque singulari eius amore cultuque credit se possessurum vel reperturum sperat antequam amaturum. SECUNDUS CONTEMPLATIONS P L A T O N I C A E G R A D U S CONSISTIT IN D E O Artificium uniforme et omniforme pendet ab arte uniformi et omniformi.

Communis omnium opinio credit et diligens sapientum ratio probat artificium hoc mundi quod circa naturam suam ac motum artificiose rationabiliterque disponitur atque agitur, esse regique ab arte quadam rationali artificiosaque ratione. Profecto quantum ex huiusmodi artificio coniicere licet quod et unum et universum est atque circa totum partesque undique tam mirabili ratione constat et

Einführung in die Platonische Theologie

73

das auf eine gewisse Art körperlich ist. Die Seele ist ein Licht, das ohne Quantität groß ist. Der Engel ist ein Licht, das ohne Bewegung überaus schnell ist32. Gott ist ein Licht, das ohne Qualität das beste und mächtigste ist und dessen Wärme wir durch den Willen früher, sicherer und heftiger empfinden als dessen Leuchten durch die Intelligenz. Vor allem darin unterscheidet sich das unsichtbare Licht vom sichtbaren, daß das sichtbare sowohl im Feuer wie im Himmel, da es von außen kommt, früher erleuchtet als erwärmt; das unsichtbare dagegen, da es irgendwie von innen her wirkt, erwärmt, bevor es erleuchtet. Daher schreiten wir bei diesem vom Sehen zum Tasten, bei jenem gleichsam von einem gewissen Tasten zum Sehen vor. Die menschliche Schönheit wird erst gesehen, dann geliebt. Die göttliche hingegen wird geliebt, um gesehen zu werden. In jenem Bereich wird der Sehende aber oft elendiglich besessen, in diesem Bereich bedeutet Sehen nichts anderes als glücklich Besitzen. Also bemüht sich allzu vergeblich und gegen die Naturordnung, wer glaubt, er werde Gott ohne besondere Liebe und Verehrung besitzen, oder hofft, er werde ihn finden, bevor er ihn liebt. Die zweite Stufe der platonischen Betrachtung besteht in Gott. Das einheitliche und das allheitliche Kunstwerk hängt von einer einheitlichen und allheitlichen Kunst ab. Die allgemeine Ansicht glaubt und gute Gründe der Weisen beweisen, daß dieses Weltkunstwerk dieser Welt, das in seiner Natur und Bewegung kunstreich und vernünftig eingerichtet und bewegt wird, aus einer vernünftigen Kunst und kunstreichen Vernunft existiert und gelenkt wird. Soweit man aus einem solchen Kunstwerk schließen darf, daß es eines und allumfassend ist und im Ganzen und in seinen Teilen allenthalben durch eine so wunder-

32 S. Anm. 11.

74

Argumentum

Ba 7 1 1 / M 277

agitur, ut vix ulla possit ratio assequi, nulla queat omnino ratio imitari absque dubio una cum Timeo argumentamur artem illam mundi effectricem esse rationem quamdam et unam et universam, uniformem, ut ita loquar, et omniformem. Rationem, inquam, mundi totius rationes omnes in seipsa omnium mundi partium complectentem. Deus nominatur ars, ratio, substantia, natura, vita, sensus, intelligentia, certitudo. Si ratio haec absolutissima est et fons omnium rationum a qua substantia omnis, natura, vita, sensus, intelligentia producitur penitus atque ducitur, nemo usque adeo irrationalis esse debet ut neget huiusmodi rationem esse substantiam stabilissimam, naturam fecundissimam, vitam aeternam, sensum perspicacissimum, intelligentiam lucidissimam, lucidissimam inquam, id est certissimam. Quod enim in corpore mundi lux et luminum et videntium est, id in ratione mundi effectrice est certitudo, luce hac tanto lucidior quanto certior et praestantior, certitudo scilicet cuiuslibet certitudinis quae ex se certa sit sui, in se certa cunctorum, per se serenis mentibus clara certaque faciat omnia.

Einführung in die Platonische Theologie

75

bare Vernunft besteht und bewegt wird, daß kaum eine Vernunft sie erreichen kann und überhaupt keine Vernunft sie nachahmen kann, behaupten wir zweifellos mit dem Timaios33, daß jene Kunst, die die Welt erschaffen hat, eine einzige und allumfassende, sozusagen einheitliche und allheitliche Vernunft ist. Eine Vernunft der ganzen Welt, die alle Vernünfte aller Teile der Welt in sich umfaßt.

Gott wird Kunst, Vernunft, Substanz, Natur, Leben, Sinn, Intelligenz und Gewißheit genannt. Wenn diese Vernunft in jeder Hinsicht absolut ist und Quelle aller Vernunft, von der jede Substanz, Natur, Leben, Sinn und Intelligenz überhaupt erzeugt und geführt wird, so darf niemand so vernunftlos sein zu leugnen, daß eine solche Vernunft die beständigste Substanz, die fruchtbarste Natur, das ewige Leben, der klarsichtigste Sinn, die hellste Intelligenz ist - die hellste, das heißt die gewisseste. Was nämlich im Körper der Welt das Licht sowohl der Leuchten als auch der Sehenden ist, das ist in der Wirkvernunft der Welt die Gewißheit, die um soviel heller ist als dieses Licht, wie sie gewisser und vortrefflicher ist; sie ist die Gewißheit jeder Gewißheit, die aus sich ihrer selbst gewiß und in sich aller Dinge gewiß ist und durch sich den klaren Geistern alles klar und gewiß macht.

33 Piaton, Timaios 30 Β und Kontext über die Erschaffung des Kosmos durch den Demiurgen. Wir übersetzen hier ratio mit „Vernunft", weil dem im Griechischen nous entspricht, Ficino benutzt in der Paraphrase das Wort intellectus (Opera 1466, cap. VI): Mundus ( . . . ) fit ab optimo quodam intellectu ad exemplar aeternum. Vgl. Allen 1987.

76

Argumentum

Ba 711/M 278

Deus est Veritas, verorum omnium fons, causa veritatis rerum atque mentis. Unde etiam summa cuiusque veritatis Veritas nominatur a qua vera omnia fiunt, per quam indagantur vera, in qua vere2 cernuntur. Quam rerum perscrutatores pro arbitrio ubicumque volunt de veris consulunt, cuius scintilla natur a l e r insita vera rimantur, cuius radiis per omnia fusis vera inventa discernunt a falsis, cuius examine vera iam discreta comparant invicem et diiudicant, et cum species a singulis abstractas, in quibus rei cuiusque Veritas consistit, intelligunt non nisi veritatem ipsam, id est Deum intelligunt qui complexio et fons est omnium abstractorum, id est idearum, sicuti solis lumen fons est colorum. Descriptiones Dei communes secundum Platonicos. Quid ergo Deus est? Ratio rationum, fons rerumque artifex omnium, forma uniformis et omniformis, substantia immobilis omnia movens, in motu status, in tempore aeternitas in loco continens, in summis profunditas, summitas in profundis, in multitudine unitas, in debilitate potestas. Natura fecundissima naturarum, fecunditas

2

vere : vera Ba : wäre zu übersetzen : „in der das Wahre erkannt wird".

Einfährung in die Platonische Theologie

77

Gott ist die Wahrheit, Quelle alles Wahren, Grund der Wahrheit der Dinge und des Geistes. Daher wird er auch höchste Wahrheit 34 jeder Wahrheit genannt, von der alles Wahre wird, durch die das Wahre erforscht, in der es wahrhaft erkannt wird. Wer alles erforscht, wie und wo er will, der fragt sie nach dem, was wahr ist, untersucht durch deren natürlich angelegten Funken das Wahre, unterscheidet durch deren alles durchdringende Strahlen das entdeckte Wahre vom Falschen, vergleicht miteinander und beurteilt durch deren Prüfung das schon unterschiedene Wahre und - da er die von den Einzeldingen abstrahierten Species erkennt, in denen die Wahrheit jedes Dinges besteht - erkennt nichts als die Wahrheit selbst, das heißt Gott, der Inbegriff und Quelle alles Abstrakten, d. h. der Ideen ist, wie das Sonnenlicht die Quelle der Farben ist35. Die üblichen Beschreibungen Gottes bei den Piatonikern. Was also ist Gott? 36 Vernunft, Quelle der Vernünfte, Baumeister aller Dinge, einheitliche und allheitliche Form, unbewegliche alles bewegende Substanz, Stille in der Bewegung, Ewigkeit in der Zeit, das Umfassende im Ort, die Tiefe in den Höhen, Höhe in den Tiefen, Einheit in der Vielheit, Macht in der Schwäche, fruchtbarste Natur aller

34 Zu den Gemeinplätzen über Gott als Wahrheit vgl. Thomas, STh 1 1 6 , 5 ; ScG I 60 ff., bes. I 62: Veritas autem rei mensuratur ad intellectum divinum qui est causa rerum ( . . . ) si unumquodque mensuratur primo sui generis [Aristoteles, met. X 1 , 1052 b 18], 35 Zur Abstraktionslehre s. weiter unten S. 94 ff. 36 Die folgenden, teilweise paradoxen Attribute Gottes sind in Theol. Plat. II (Opera 92 ff.) ausgeführt. Vgl. auch Kompendium S.124 ff.

78

Argumentum

Ba 7 1 2 / M 279

fecunditatum naturalissima, aeterna viventium vitarumque vita. Sensus sensibilium quidem lumen et sensuum perspicacia. Sensus medullas sensibilium in corticibus sentiens, cortices in medullis. Intelligentia quoque talis ut ipsa et rerum intelligendarum bonitas sit, et intellectus cuiuslibet Veritas et gaudium voluntatis. Rationes multae quod gaudium contemplantis superai sensuum voluptates. Gaudium, inquam, ex verissima bonitate et optima ventate optimum et verissimum. Hinc Plato divinus inquit, ab his quae sensibus offeruntur, quia veniunt ab extrínseco nec vere existunt, sed impura breviaque sunt, externam quamdam titillationem circa corporis et animae cutem falsamque et dolori permixtam et brevem fieri voluptatem. Ab his autem quae menti ab intrinseco penitus se insinuant, quia intima veraque et pura et stabilia summaque sunt, intimam, veram, meram, stabilem s u m m a m voluptatem animae medullis infundí. Proinde sensus atque sensibile ita se invicem habent, ut propter eorum crassitudinem debilitatemque sese prorsus penetrare non possint. Intelligibile vera sua tenuitate vique mirabili illabitur in intellectus interiora atque intellectus subtilitate virtuteque sua undique intelligibile pénétrât. Alioquin non posset mens rei intelligendae naturato ab alienis secernere, in partes suas distinguere, intima

Einführung in die Platonische Theologie

79

Naturen, natürlichste Fruchtbarkeit aller Fruchtbarkeiten, ewiges Leben aller Leben und alles Lebendigen. Sinn als Licht der Sinnenwelt und Hellsichtigkeit der Sinne. Sinn, der den Kern in der Oberfläche und die Oberfläche im Kern der Sinnendinge erfühlt. Auch eine solche Intelligenz, die die Güte selbst des zu erkennenden ist und die Wahrheit jedes Intellekts und die Freude des Willens. Viele Gründe, warum die Freude des Betrachtenden die Lust der Sinne übertrifft.

Die Freude, die aus der wahrsten Güte und besten Wahrheit entspringt, ist die beste und wahrste. Daher sagt der göttliche Piaton, daß von dem, was sich den Sinnen bietet, weil es von außen kommt und nicht wirklich existiert, sondern unrein und kurzlebig ist, ein äußerlicher Kitzel an der Oberfläche des Körpers und der Seele und eine kurze, mit Schmerz vermischte Lust kommt. Was sich aber dem Geist von ganz innen her bietet, weil es das innigste, wahre, reine, beständige und höchste ist, flößt dem Innerlichsten der Seele eine innigste, wahre beständige und höchste Lust ein". Zudem verhalten sich Sinn und Wahrnehmbares so zueinander, daß sie wegen ihrer Grobheit und Schwäche sich nicht ganz durchdringen können. Das Erkennbare aber dringt durch seine Feinheit und wunderbare Macht in das Innere des Intellekts ein, und der Intellekt durchdringt überall durch seine Feinheit und Kraft das Erkennbare. Sonst könnte der Geist die Natur des zu erkennenden nicht vom fremden unterscheiden und in ihre Teile zergliedern und sein Innerstes mit dem Äußersten verglei37 Die Unterscheidung von geistiger und körperlicher Lust, vor allem hinsichtlich der Angemessenheit und Dauer, ausführlich mit medizinischen und philosophischen Autoritäten in De voluptate, bes. Kap. XIII (Opera 1005 f.); De felicitate S. 224 ff.

80

Argumentum

Ba 712/M 280

eius cum extimis comparere. Quo fit ut voluptas mentis si quando rite contemplando revera percipitur, interior vehementiorque sit quam sensus oblectamenta. Si tunc vehementer delectan solemus cum circa calorem vel frigus siccumve et humidum aut evacuationem repletionemve habitum corporis naturalem contrariis quasi amissum, contrariis iam recipimus, ceu quando nimium calefacti refrigeramur, in caeterisque similiter, quanta illum voluptate perfundi putamus, qui naturalem mentis habitum tenebris et malignitate deperditum, iamiam luce et bonitate resumit totusque ad suam reformatur ideam? A c si ex rebus magis magisque convenientibus maior gradatim maiorque nascitur delectatio, atque si nihil convenientius homini quam ipsa humanitatis idea, quae verus est homo, quid suavius quam et eam intelligendo in se complecti et in eam amando restituì? Praeterea in omnibus pulchris bonisque amandis revera nihil aliud, quamvis forsitan inscii, quam pulchritudinem ipsam bonitatemque amamus, a qua et ex qua pulchra bonaque sunt singula. Perinde ac si quis dixerit gustui dulcedinis avido pomum vinumque piacere, non quia pomum vinumve sit, sed quia dulce, atque idcirco nihil aliud in his quam ipsam dulcedinem afiectari et in dulcedine bonitatem. Igitur si omnium iucundissimum est re amata potiri, quid potest iucundius cogitali quam ilio potiri qui ipsa pul-

Einführung in die Platonische Theologie

81

chen. Daher kommt es, daß die Lust des Geistes, wenn er in richtiger Betrachtung wirklich wahrnimmt, innerlicher und heftiger ist als die Vergnügungen der Sinne. Wenn wir also üblicherweise dann sehr erquickt werden, wenn wir hinsichtlich der Hitze oder Kälte, der Trockenheit oder Feuchtigkeit, der Leere oder Fülle den natürlichen Zustand des Körpers, den wir durch das eine Extrem fast verloren hatten, durch das andere Extrem wiedergewinnen, d. h. wenn wir allzu erhitzt wieder abgekühlt werden usw. : mit wieviel Lust mag erst der durchströmt sein, der den natürlichen Zustand der Seele, welcher durch Finsternis und Bosheit verloren war, durch Licht und Güte wiedererlangt und als ganzer nach seiner Idee wiederhergestellt wird? Wenn aus den immer mehr passenden Dingen graduell immer größerer Genuß entsteht und es für den Menschen nichts passenderes gibt als die Idee der Menschheit selbst, die der wahre Mensch ist38, was ist dann angenehmer, als sie in sich erkennend zu begreifen und liebend zu ihr zurückzukehren? Außerdem lieben wir in allen schönen und guten Objekten der Liebe in Wirklichkeit nichts anderes als - wenn auch vielleicht unbewußt - die Schönheit und Güte selbst, von denen und aus denen heraus die Einzeldinge schön und gut sind39. Wenn man also sagt, dem auf Süßes gierigen Geschmack gefalle der Apfel und der Wein, nicht weü es Apfel oder Wein, sondern weil es süß ist, und daß deshalb in ihnen nichts als die Süßigkeit selbst geliebt wird und durch die Süßigkeit die Güte, und wenn es dann das allerangenehmste ist, das Geliebte zu besitzen, was kann man sich dann angenehmeres vorstellen als das zu besitzen, was die Schönheit selbst und die Güte selbst ist? Nir38 Vgl. D e amore VI 19 (Opera 1355): Verus autem h o m o et idea hominis idem. 39 Vgl. D e amore, ν. a. VI 18 ausgehend von der Diotima-Rede in Piatons Symposion (Opera 1353 f.).

82

Argumentum

Ba 7 1 2 / M 281

chritudo est et ipsa bonitas? Nusquam enim alibi re amata sed eius umbra potimur. Ibi ergo placet idea nostra, est enim sibi quisque carissimus. Ibi solum pienissime delectamur ubi solum verissime nos reperimus. In nostra idea ideae placent omnes. Pulchritudo oblectat in omnibus, omnes in bonitate nos implent. Atque secundum formam proprie ibi ipsa gaudii idea gaudemus. Quo fit ut tota gaudii illic solum plenitudine gaudeamus. Si ubi est bonum hoc et illud ibi gaudet hic et ille, certe ubi est ipsum bonum, ibi est ipsum gaudium. Si nullus vere vivit aut sapit nisi qui proprie vita ipsa vivit et sapientia ipsa sapit, proculdubio nullus vere pleneque gaudet nisi qui proprie gaudio ipso gaudet. Denique cum finito pulchro et bono finite laetemur, certe infinita pulchritudine bonitateque innumerabilium formarum bonorumque fonte infinite gaudemus. Gustus animi amaro corporis humore infectus, divinorum saporem aut nullo modo aut vix et rarissime gustai. Sed tanti huius gaudii vix et raro admodum, ha nimium miseri, in terris participes sumus. Et nunc quidem exilem quamdam eius umbram ac momento praetereuntem nostrae mentes aegrotae percipiunt. Quarum naturalis gustus, proh dolor, amaro corporis huius humore nimium est infectus. Unde efficitur ut caelestis ille saluberrimusque sapor vel non sentiatur vel offendat interdum vel levi-

Einführung in die Platonische

Theologie

83

gendwo sonst besitzen wir nämlich das Geliebte, sondern immer nur seinen Schatten. Dort nämlich gefällt uns unsere Idee, denn jeder ist sich selbst der Liebste40. Dort allein ergötzen wir uns am vollkommensten, wo wir allein am wahrsten uns finden. In unserer Idee gefallen uns alle Ideen; in allen gefällt die Schönheit, alle erfüllen uns in Güte. Und genau dort freuen wir uns über die Idee der Freude selbst nach der Form. So kommt es, daß wir uns nur dort über die ganze Fülle der Freude freuen. Wenn dort, wo dies und das gut ist, dieser und jener sich freut, so ist dort, wo das Gute selbst ist, sicherlich die Freude selbst. Wenn man nur dann wirklich lebt oder weiß, sofern man durch das Leben selbst lebt und durch die Weisheit selbst weiß, so freut sich zweifellos nur der wirklich und vollkommen, der sich über die Freude selbst freut. Schließlich, wenn wir über endliches Schönes und Gutes auf endliche Weise froh sind, dann freuen wir uns sicher unendlich über die unendliche Schönheit und Güte als Quelle unzähliger Formen und Güter. Wenn der Geschmackssinn der Seele vom bitteren Saft des Körpers verdorben ist, schmeckt er den Geschmack des Göttlichen überhaupt nicht oder kaum und sehr selten. Aber von soviel Freude wird uns Armen auf Erden kaum und nur selten etwas zuteil. Und jetzt nehmen unsere kranken Geister nur einen schwachen, augenblicklich vorübergehenden Schatten davon wahr. Deren natürlicher Geschmackssinn ist leider durch den bitteren Saft dieses Körpers allzusehr verdorben. So kommt es, daß dieser himmlische und überaus heilsame Geschmack nicht empfunden wird oder manchmal mißfällt oder wenig und 40 D e amore II 8, Opera 1327 f. ; Ep. I, Opera 626, über die Selbstliebe in der gegenseitigen Liebe.

84

Argumentum

Ba 713/M 281

ter breviterve delectet. Acutius inter nos aliquando gustant vehementiusque et diutius oblectantur qui magis sordes labemque corporis morum contemplationisque studio a natura mentis abstergunt. Sed ... Pauci, quos aequus amavit Iupiter, aut ardens evexit ad aethera virtus. Quinam isti sunt, ô amice? Hi certe sunt quibus a vitae magistro dictur: «Iterum videbo vos et gaudebit cor vestrum. Gaudium vestrum erit plenum, nec a vobis unquam auferetur». TERTIUS CONTEMPLATIONS PLATONICAE GRADUS. CUR ANIMA IN CORPORE DIFFICILE DIVINA COGNOSCAT ET QUOD SIT IMMORTALIS. Primum mentis obstaculum ad lucem intelligibilium intuendam. Quia est coniuncta corpori. Igneus est ollis vigor et caelestis origo Seminibus, quantum non noxia corpora tardant, Terrenique hebetant artus moribundaque membra. Hinc metuunt cupiuntque dolent gaudentque, nec auras Respiciunt, clausae tenebris et carcere caeco.

Einführung in die Platonische Theologie

85

kurz erquickt. Diejenigen unter uns schmecken manchmal deutlicher und werden heftiger und länger ergötzt, die Schmutz und Schwäche des Körpers durch Bemühung um Sitten und Kontemplation von der Natur des Geistes abwenden. Aber es sind wenige, die der gerechte Juppiter liebte oder die brennende Tugend zum Äther emporhob41. Denn wer ist das, mein Freund? Gewiß die, denen vom Lehrmeister des Lebens gesagt wird: Ich werde Euch Wiedersehen und Euer Herz wird sich freuen. Eure Freude wird vollkommen sein und Euch niemals genommen werden42. Dritte Stufe der platonischen Betrachtung. Warum die Seele im Körper das Göttliche schwer erkennt, und daß sie unsterblich ist. Das erste Hindernis des Geistes, das Licht der intelligiblen Gegenstände zu schauen, besteht Er ist mit dem Körper verbunden.

darin:

Feurig ist die Kraft der Samen und himmlisch ihr Ursprung, sofern nicht schädliche Körper sie behindern und irdische oder sterbliche Körperteile sie hemmen. Von daher fürchten und lieben, leiden und genießen sie, nie sehen sie den Himmel, sie bleiben im dunklen und blinden Kerker eingeschlossen43. 41 Virgil, Aeneis VI 129 f. 42 Jo 16, 22 u. 15, 11. 43 Virgil, Aeneis VI 730-734; diese Stelle folgt dem klassischen pantheistischen oder animistischen Beleg 724 ÍT. : Principio caelum ac terras . . . spiritus intus alit . . .

86

Argumentum

Ba 713/M 282

Quid in his carminibus Platonicus 3 Maro noster voluerit, videamus. Anima, tenebroso corporis huius caracere circumsepta mirabile veritatis lumen et vera quae mirifice in ilio refulgent minime percipit, quia minimam ad illud habet proportionem. Defectus autem proportionis huiusmodi tribus ex causis provenit. Prima est, quoniam anima forma quaedam est coniuncta corpori. Illud vero lumen est forma penitus a commercio corporum segregata. Hue tendit quod inquit in Metaphysicis Aristoteles: «Intellectus noster se habet ad illa quae in natura clarissima sunt, tamquam noctuae oculus ad solis lumen». Ad idem spectat quod scribit in Metaphysicis Avicenna: «Quemadmodum paralytici lingua oppressa quodam humore certum gustum saporis amittit, quo expurgato recipit gustum; ita intellectus humanus ob corporis mortalis coniunctionem quasi paralyticus, id est naturali eius sensu orbatus est ad ilia quae incorporea penitus sunt et aeterna. Atque sicut humor linguae actum gustandi adimit, non virtutem, quod in eo apparet qui iam purgatus gustandi recipit actum, ita corpus actionem intellectus circa incorporalia interturbat, sed potentiam non disperdit». Quod ex eo coniicimus, quia quanto longius animus tam morum cultu quam speculationis frequentatione se a corpore sevocat, tanto clarius incorporalia cernit. Atque una cum his etiam semetipsum, qui etiam ipse est incorporeus, quandoquidem actione sua et affectu quodam innato aliquando corporum transcendit ordinem atque virtutem.

3

platonicus : Piatonicis Ba (zu beziehen auf die Verse : carminibus).

Einführung in die Platonische Theologie

87

Betrachten wir, was unser Platoniker Vergil in diesen Versen sagen wollte: Umgeben vom finsteren Kerker dieses Körpers kann die Seele das wunderbare Licht der Wahrheit und das Wahre, das wunderbar in ihm erstrahlt, überhaupt nicht erblicken, weil sie zu ihm keinerlei Verhältnis hat. Das Nicht-Verhältnis rührt aus drei Ursachen her: Erstens, weil die Seele eine mit dem Körper verbundene Form ist44. Jenes Licht aber ist eine gänzlich vom Umgang mit Körpern losgelöste Form. In diese Richtung weist, was Aristoteles in der Metaphysik sagt: Unser Geist verhält sich zu dem, was in der Natur das klarste ist, wie die Augen der Nachteule zum Sonnenlicht 45 . Auf dasselbe läuft hinaus, was Avicenna 46 in der Metaphysik schreibt: Wie die Zunge eines Gelähmten, durch einen Saft behindert, einen bestimmten Sinn für Geschmack verliert und ihn nach Reinigung von diesem Saft wiedererlangt, so ist der menschliche Intellekt wegen der Verbindung mit dem sterblichen Körper wie ein Gelähmter, d. h. seines natürlichen Sinnes für das gänzlich Unkörperliche und Ewige beraubt. Und so wie der Saft der Zunge zwar den Akt des Schmeckens, aber nicht die Fähigkeit nimmt, was an dem deutlich wird, der nach der Reinigung den Akt des Schmeckens wiedererlangt, so stört der Körper zwar das Wirken des Intellekts an Unkörperlichem, er vertreibt aber nicht die Fähigkeit dazu. Das aber schließen wir daraus, daß die Seele - je länger sie durch Pflege der Sitten und Übung der Spekulation sich vom Körper loslöst desto klarer Unkörperliches erkennt und zugleich sich selbst, unkörperlich wie sie ist, da sie ja aus eigener Tätigkeit und aus einer angeborenen Liebe manchmal die Ordnung und Macht der Körper überschreitet. 44 Plotin IV 8,2, 45 ff. : Körper als Hindernis für das Erkennen. 45 Aristoteles, met. II, 993 b 10. 46 Aricenna, Metaphysica (Venedig 1495, Reprint Louvain 1961), war seit 1150 lateinisch verbreitet.

88

Argumentum

Ba 7 1 3 / M 283

Secundum obstaculum ad intelligibile lumen. Quoniam animus ad corpus afficitur. Altera causa quae proportionem quam ab initio diximus impedii est eiusmodi; quod anima coniuncta corpori cum eo pacto quo hic est naturaliter moveatur et agat, certe naturalem convertit affectum in primis ad corporalia, qualis affectus eam ab incorporalibus longe divertit. Tertium obstaculum ad intelligibile lumen. Quoniam animus vertit aciem ad corpora. Tertia quod aciem cognoscendi frequenter vertit ad sensum et sensibilia eorumque imagines in phantasia recónditas. Hae vero imagines tamquam nubes quaedam usque adeo aciem mentis obumbrant, ut lucem intelligibilium mirabilem non discernât, dum splendorem eorum ut plurimum non in seipso, sed in his nubibus intuetur, ubi iam a seipso degenerantem, et quasi corporalem iam factum aspicit, et ob hoc neque verum ipsum videt neque darum, sed imaginum caligine obfuscatum. Similis autem esse videtur haec affectio mentis oculis rubra ophtalmia laborantibus, quibus lux non clara sicuti est, sed rubra videtur, colores quoque in luce non quales sunt, sed rubri. Sunt etiam nonnulli quorum animus aliquando ita et corporis contagione et corporalium nebulis obfuscatur, ut rerum

Einführung in die Platonische Theologie

89

Das zweite Hindernis, das intelligible Licht zu schauen: Die Seele ist dem Körper zugeneigt. Die zweite Ursache, die das obengenannte Verhältnis stört, ist, daß die mit dem Körper verbundene Seele - weil sie in der Weise, wie sie hier ist, natürlicherweise bewegt und wirkt - gewiß ihre natürliche Zuneigung vorrangig Körperlichem zuwendet: eine Zuneigung, die sie vom Unkörperlichen weit ablenkt. Das dritte Hindernis, das intelligible Licht zu schauen: Die Seele lenkt ihre Aufmerksamkeit auf die Körper. Drittens richtet sie die Schärfe des Erkennens oft auf Sinn und Sinnliches und deren in der Phantasie aufbewahrte Bilder47. Diese Abbilder aber verdunkeln wie Wolken die Schärfe des Geistes so sehr, daß er das wunderbare Licht der intelligiblen Gegenstände nicht unterscheidet, solange er meistens deren Glanz nicht in sich, sondern in diesen Wolken erblickt. Dort sieht er ihn, wie er schon von sich selbst heruntergekommen und fast schon körperlich geworden ist, und deshalb sieht er ihn weder klar noch wahr, sondern von der Dunkelheit der Bilder verdunkelt. Diese Krankheit des Geistes scheint aber den Augen ähnlich zu sein, die an Rotsichtigkeit leiden und für die das Licht nicht hell, wie es ist, sondern rot aussieht und auch die Farben im Licht nicht wie sie sind, sondern rot. Manchem wird auch die Seele durch Verunreinigung mit dem Körper und dem Körperlichen so verdunkelt, daß sie die

47 Über die Zuwendung der Seele zum Körper in der Erkenntnis s. Theologia Platonica X 6, Opera 232 ff. (M II 76 ff.) und XVI 1, Opera 368 ff. (M III bes. 113-116) mit Betonung der kosmologischen Zuordnung der Seele zum Körperlichen im Anschluß an Plotin IV 8.

90

Argumentum

Ba 714/M 284

spiritalium radios omnino nusquam videat, instar oculi qui opprimitur Cataracta. Caeterum quando corporales hae sordes quodammodo abluuntur, ab animo incorporalia aliquantum prospiciuntur; quando vero penitus diluuntur, subito intelligibile lumen, intelligibilium omnium radiis plenum, intelligentiae oculis sese prorsus infundit. Quod quidem ubique est, et natura sua intellectualem oculum, cum primum fuerit purgatus, illustrât, sicut lumen visibile visum atque sensibilia omnia multo clarius in luce intelligibili tamquam in primo fonte refulgent, quam in luce visibili, quae revera illius est umbra. Meminisse vero oportet animam occupatam in mole corporis fabricanda regendaque et in diversas actiones distractam et perturbatane ad spiritalium radios aut nullo modo aut ut plurimum neglette et leviter aciem vertere, adde et oblique. Quippe etiam quando paulo attentius pro viribus aspicit, quia ipsa coniuncta est corpori, saepissime ad coniuncta se flectit, id est ad corporalium nubes in phantasia volantes. Phantasia etiam radios spiritalium, cum primum menti subrutilant, corporalium simulacris induit, ideoque mens aut nullo pacto aut vix obscureque videt. Sed quando et seiuncta est a corpore et a corporis labe mundata ad incorporalia solum tota intentione convertitur, quorum uberrima luce refulget ad votum, cuncta in ea clare discernit tamquam et clarissima in seipsis et intelligentiae intima. Hoc autem assequitur quando

Einführung in die Platonische Theologie

91

Strahlen geistiger Dinge überhaupt nirgends sehen, wie ein vom Grauen Star getrübtes Auge. Wenn dieser körperliche Schmutz übrigens irgendwie abgewaschen wird, dann sieht die Seele ein wenig das Unkörperliche, wenn er aber ganz abgelöst wird, dann flößt sich auf einmal das intelligible Licht, voll der Strahlen alles Intelligiblen, den Augen der Intelligenz vollständig ein. Dieses aber ist überall und erleuchtet von seiner Natur aus das intellektuelle Auge, wenn es erst gereinigt ist, wie das sichtbare Licht das Sehen. Und alles sinnlich Wahrnehmbare erstrahlt im intelligiblen Licht als der primären Quelle viel heller als im sichtbaren Licht, das in Wirklichkeit sein Schatten ist. Man muß daran denken, daß die Seele damit beschäftigt ist, die Körpermasse aufzubauen und zu lenken, und mit verschiedenen Tätigkeiten abgelenkt und verwirrt ist und ihre Schärfe auf die geistigen Strahlen überhaupt nicht oder zumeist nachlässig und leichthin richtet und zudem indirekt. Denn wenn sie auch ein wenig aufmerksamer nach Kräften dorthin schaut, neigt sie, da sie selbst mit dem Körper verbunden ist, meistens zu dem Verbundenen hin, nämlich zu den körperlichen Wolken, die in der Phantasie schweben. Auch die Phantasie umkleidet die Strahlen des Geistigen mit Körperbildern, sobald sie in den Geist hineinschimmern48, und daher sieht der Geist gar nicht oder mit Mühe und undeutlich. Aber wenn er vom Körper losgebunden und von der Schwäche des Körpers gereinigt ist, wendet er sich mit der ganzen Aufmerksamkeit nur dem Unkörperlichen zu; von deren überreichem Licht strahlt er auch, soviel er will. In ihm erkennt er alles klar als in sich klarstes und der Intelligenz innerlichstes. Das aber erreicht er, wenn er

48 subrutilant: In erkenntnistheoretischem Kontext bei Augustinus, Soliloquia II 20, 35.

92

Argumentum

Ba 714/M 285

... perfecto temporis orbe Concretam exemit labem purumque relinquit Aethereum sensum atque aurae simplicis ignem. Ratio immortalitatis animi, quoniam intelligit incorporea sine corporis instrumento, attingit formas separatas separatane contundas. Quod autem animus noster queat secundum substantiam separari a corpore atque deinde in seipso manere, ex hoc in praesentia intellexisse sufficiat quod intellectus agit sine ullo instrumento corporeo, quando scilicet per omnia corporalium genera speciesque discurrens, ascendit inde superius ad ordinem spiritalium, iliaque in genera sua speciesque distinguit. Per instrumentum vero corporeum, quod etiam particulare esset, non posset nisi corporea et particularia comprehendere. Si absque corpore potest agere, potest et seorsum ab ilio vivere atque intelligere. Adde quod secundum actionem quae et a substantia eius est et in substantia permanet, ipse non modo attingit quae separata aeternaque sunt, quando invitis etiam phantasiae fallaciis probat talia quaedam in rerum ordine esse debere, verumetiam vi sua separat a materia formas, quando in rebus naturalibus secernit a singulis speciei cuiusque naturam.

Einführung in die Platonische Theologie

93

nach vollendetem Umlauf der Zeit die anhaftende Schwäche beseitigt und den reinen ätherischen Sinn und das Feuer des einfachen Himmelslichtes übrig gelassen hat49. Beweis für die Unsterblichkeit der Seele: Sie erkennt Unkörperliches ohne das Hilfsmittel des Körpers, berührt abgetrennte Formen und trennt verbundene Formen ab. Daß aber unsere Seele vom Körper substanziell getrennt werden und dann für sich bleiben kann, mag an dieser Stelle daraus hinreichend einsichtig sein, daß der Intellekt ganz ohne ein körperliches Hilfsmittel tätig ist, und zwar dann, wenn er, alle körperlichen Gattungen und Arten durchdenkend, von dort zur Ordnung der geistigen Dinge höher aufsteigt und diese in ihre Gattungen und Arten einteilt. Mittels eines körperlichen Instrumentes aber, welches auch ein Einzelding wäre, könnte er nichts außer Körperlichem und Einzeldingen erfassen 50 . Wenn sie ohne Körper tätig sein kann, kann sie auch jenseits von ihm leben und erkennen. Zudem berührt sie selbst nicht nur entsprechend ihrer Tätigkeit, die aus ihrer Substanz kommt und in der Substanz bleibt - das, was abgetrennt und ewig ist, wenn sie gegen die Trugbilder der Phantasie beweist, daß es solches in der Ordnung der Dinge geben müsse, sondern sie trennt auch aus eigener Kraft die Formen von der Materie, wenn sie in den Naturdingen die

49 Virgil Aeneis VI 745-747; dort ist mit dem Umlauf der Zeit (perfecto temporis orbe) die Reinigung und Wiedergeburt der Seelen nach tausend Jahren gemeint. 50 Der Intellekt (nous) als unkörperlich und ohne körperliches „Organ", weil er sonst nichts als Körperliches erkennen könnte: Aristoteles, an. III 4, 429 a 22ff.; Plotin IV 7, 6-8.

94

Argumentum

Ba 714/M 285

Plotinus et Proculus aiunt, quoniam essentia actionis et principium est et fundamentum, ideo mentem quae actione se a corpore sevocat abstrahendo posse multo magis secundum essentiam seorsum a corpore vivere. Themistius arbitratur difficilius esse naturas separare coniunctas quam formas percipere separatas. Unde concludit intellectum posse separatas formas attingere, quandoquidem coniunctas naturas pro arbitrio separat. Ratio immortalitatis animi ex proportione ad formas separabiles atque ex accessu ad separatas. Naturae huiusmodi naturalia familiariaque obiecta sunt intellectus humani, quamdiu naturale hoc corpus inhabitat. Continue namque et naturali quodam instinctu intelligit eas a singulis separando. Unde inter hunc et illas necesse est ut proportio sit non parva. Ex quo concluditur intellectum esse ea conditione corpori iunctum ut sit sepa-

Einfîihrung in die Platonische

Theologie

95

Natur jeder Spezies von den Einzeldingen unterscheidet 5 '. Plotin52 und Proklos53 sagen: Weil das Wesen der Handlung auch ihr Prinzip und Fundament ist, könne der Geist, der sich in seiner Tätigkeit abstrahierend vom Körper trennt, um so mehr seinem Wesen nach jenseits des Körpers leben. Themistius54 meint, es sei schwieriger, die verbundenen Naturen zu trennen als die abgetrennten zu erkennen, und folgert daraus, der Intellekt könne die losgelösten Formen erreichen, da er doch die verbundenen Naturen nach seinem Gutdünken trennt. Beweis für die Unsterblichkeit der Seele aus ihrem Verhältnis zu den abtrennbaren Formen und ihrem Zugang zu den abgetrennten. Solche Naturen sind die natürlichen und vertrauten Gegenstände für den menschlichen Intellekt, solange er diesen natürlichen Körper bewohnt. Denn beständig und aus natürlichem Antrieb erkennt er sie, indem er sie von den Einzeldingen ablöst. Daher muß es zwischen diesem und jenen eine nicht unbedeutende Beziehung geben. Daraus folgt, daß der Intellekt in der Weise mit dem Kör51 Zur Abstraktionslehre vgl. Aristoteles, an. III 4, 429 b 21; Boethius, In Isagogen Porph. c o m m . I l l (CSEL ed. Brandt, S. 164-167); Thomas, S T h I 8 5 , 1 : Cognoscere ( . . . ) est abstrahiere formam a materia individuali, quam repraesentant phantasmata. Thomas, D e ente et essentia 5. Theol. Plat. XIV 3 (Opera 310f.; M II 259); vgl. Kompendium S. 108ff. 52 Zur Verknüpfung von erkenntnismäßiger Abstraktion und Separation der Seele v o m Körperlichen vgl. Plotin 11, bes. 10, 7 ff. 53 Proklos, Elementatio theologica 186. 54 Vgl. Opera 1551, Kommentar zu Plotin 17. Edward P. Mahoney, Neoplatonism, the Greek Commentators, and Renaissance Aristotelianism, in: Neoplatonism and Christian Thought, hrsg. v. D. J. O'Meara, Albany 1982, 170 ff.

96

Argumentum

B a 7 1 4 / M 286

rabilis, immo etiam quodammodo separatus, quandoquidem obiecta eius domestica sunt species coniunctae quidem singulis, sed non ut coniunctae, immo ut separabiles atque separatae. Nempe communis intelligendi modus hic est ut quando phantasia hominem hunc et illum imaginatur, tunc intellectus, praetermissis mortalibus hominis accidentibus, praetermisso hoc situ temporeque et ilio, ad humanitatem ipsam se conférât singulis communem hominibus, ubique semperque vigentem similiterque in aliis speciebus. Maxime vero tunc separatus apparet, quando interdum ultra conditionem, qua hic habitat species illas rerum naturalium, resolvit prorsus in rationes ipsas ideasque super naturam ab omni materia penitus absolutas. Et sicut ab imagine in phantasia reperta ante naturali quodam intuitu processit ad speciem abstrahendo, sic deinde a specie argumentando ad speciei rationem prorsus aeternam. Videlicet quia necessarium sit naturam in multis unam a forma una super multitudinem proficisci. Ratio immortalitatis animi, quia intelligit nonnihil, ad cuius intuitum proprium Phantasma aìiquando non est necessarium. Profecto quoniam ab essentia provenit actio, semper qualis essendi conditio est talis agendi, atque e converso. Quamobrem animus noster quia nunc ita iunctus est corpori ut separabilis sit aìiquando et ut permaneat separatus, ideo cognoscendo quamvis conditione loci incipiat a singulis rerum formis omnino materiae iunctis, tamen deinde procedit ad species coniunctas quidem effectu, sed et sua quadam natura et virtute intelligentiae separabiles. Tertio vi sua discussis a se parumper phantasiae simulacris ad ratio-

Einfährung in die Platonische Theologie

97

per verbunden ist, daß er loslösbar ist, und sogar gewissermaßen losgelöst, da ja doch die ihm vertrauten Gegenstände die mit den Einzeldingen verbundenen Spezies sind, aber nicht insofern sie verbunden sind, sondern insofern sie abtrennbar und abgetrennt sind. Denn die allgemeine Methode des Erkennens ist folgende: Wenn die Phantasie sich diesen oder jenen Menschen vorstellt, geht der Intellekt unter Absehung von den sterblichen Akzidentien des Menschen und von Ort und Zeit zur Menschheit selbst über, die für die einzelnen Menschen gemeinsam ist und überall und immer gilt. Und ähnlich geht es bei anderen Spezies. Am meisten als abgetrennt erweist er sich dann, wenn er zuweilen über den Zustand hinaus, in dem er hier lebt, jene Spezies der Naturdinge ganz in die Begriffe selbst und in Ideen auflöst, die jenseits der Natur völlig von jeder Materie abgetrennt sind. Und wie er zuvor von einem in der Phantasie gefundenen Bild durch Abstraktion mittels einer natürlichen Einsicht zur Spezies voranschritt, so schreitet er dann argumentiv von einer Spezies zum ewigen Begriff der Spezies. Denn notwendig muß die in vielen einheitliche Natur aus einer einzigen Form jenseits der Vielheit hervorgehen. Beweis für die Unsterblichkeit der Seele: Sie erkennt manches, zu dessen eigentümlicher Schau das Phantasma manchmal nicht nötig ist.

Da die Tätigkeit vom Wesen kommt, entsprechen die Bedingungen des Handelns immer denen des Seins und umgekehrt. Weil unsere Seele jetzt mit dem Körper so verbunden ist, daß sie manchmal trennbar ist und getrennt bleibt, deshalb dringt sie im Erkennen, obwohl sie unter den örtlichen Bedingungen bei den einzelnen Formen der Dinge beginnt, die ganz mit Materie verbunden sind, dann doch zu den Spezies vor, die zwar der Wirkung nach verbunden, aber ihrer Natur nach und durch die Kraft der Intelligenz trennbar sind, und als drittes, wenn sie die Bilder

98

Argumentum

Ba 715/M 287

nes iam separatas, quas in rerum ordine omnino absolutas existere numquam exogitare posset, nisi saltern ad brevissimum tempus ab a d e phantasmatum nubes expelleret. Sed cito ob regionis huius naturam consuetudinemque congregatae iterum nubes caelestium impediunt claritatem. Ex illa autem subita abstractione coniiciunt Metaphysici posse intellectum aliquando absque phantasmatibus intelligere. Unde etiam sequitur posse seorsum a corpore vivere et clarissime intelligere. Anima in corpore secundum Platónicos procedit cognoscendo a singulis ad species, a speciebus ad ideas. Extra corpus e converso progeditur scilicet ab ideis ad species, a speciebus ad singula. Verum quando separatus animus est, progreditur aliter quam in corpore, nam in corpore animus a singulis ad species, a speciebus transit ad rationes. Separatus autem contra, nempe a familiaribus suis naturaliter tunc incipiens, in divinis rationibus naturali intuitu naturales videt species, ac in speciebus quasi subita quadam argumenta-

Einführung in die Platonische

Theologie

99

der Phantasie ein wenig von sich gedrängt hat, zu den schon abgetrennten Begriffen, von denen sie niemals erdenken könnte, daß sie in der Ordnung der Dinge existieren, wenn sie nicht kurzfristig die Wolken der Phantasmen vertriebe, die ihre Schärfe 55 trüben. Aber die Wolken, die sich wegen der diesseitigen Natur und Gewohnheit wieder sammeln, verhindern bald die Klarheit der himmlischen Dinge. Die Metaphysiker schließen aber aus jener spontanen Abstraktion, der Intellekt könne manchmal ohne Phantasiebilder erkennen; und daraus folgt, daß er außerhalb des Körpers leben und überaus klar erkennen kann 56 . Im Körper geht die Seele - nach Lehre der Platoniker beim Erkennen vom Einzelnen zu den Spezies und von den Spezies zu den Ideen vor. Außerhalb des Körpers geht sie umgekehrt vor, nämlich von den Ideen zu den Spezies und von den Spezies zu den Einzeldingen. Wenn aber die Seele abgetrennt ist, geht sie anders vor als im Körper. D e n n im Körper geht die Seele von den Einzeldingen zu den Spezies über und von den Spezies zu den Begriffen; abgetrennt dagegen umgekehrt: Das heißt bei dem ihr dann natürlicherweise Vertrauten beginnend, sieht sie in den göttlichen Begriffen mit natürlicher Einsicht die natürlichen Spezies und in den Spezies das Einzelne, zwar gleichsam nach einer Überlegung, aber doch 55 acies: W i e die Verbindung mit der Wolken-Metapher zeigt, ist an den Doppelsinn „Schärfe des Sehens" und „Gipfel" zu denken. 56 Vgl. hierzu den Übergang v o m D e n k e n der materiellen Dinge z u m „theoretischen" Wissen und z u m „abgetrennten" Geist, dessen Sein das D e n k e n ist (intellectus agens), in Aristoteles, an. III 4 und 5, 430 a 3—25. Vgl. o b e n Einleitung zu Ficinos Piatonismus.

100

Argumentum

Ba 715/M 287

tione, et tarnen momento inspicit singula. Hinc circulus ab eo fit a tempore ad aeternitatem, ab aeternitate rursus ad tempus. Ergo quemadmodum ita coniunctus materiae fuit ut separabilis foret et aliquando separatus existeret, sie deinde ita separatus existit ut rursum iungibilis sit et aliquando iunctus. A naturis procedunt vires, naturae a viribus indicantur. Natura ab infinita potentia, sapientia bonitateque regitur. Non igitur frustra vires sunt naturales. Hac argumentation ad animorum circuitum sempiternum uti verisimiliter Portasse possunt Platonici. Eadem verissime ad corporum humanorum resurrectionem Hebraei, Christian!, Muhametenses uti posse videntur. Quam obscure animus in corpore tarn clare extra corpus intelligit incorporea. Proinde anima, dum in materia et quodammodo sub tempore vitam ducit, naturales formas in materiae infimae videt umbra. Supernaturales autem formas, ut plurimum, sub naturalium videt eclipsi. Quando vero extra materiam

Einführung in die Platonische Theologie

101

augenblicklich57. So beschreibt sie einen Kreis von der Zeit zur Ewigkeit und von der Ewigkeit zurück zur Zeit. So also, wie sie derart mit der Materie verbunden war, daß sie abtrennbar war und manchmal abgetrennt existiert, so existiert sie abgetrennt derart, daß sie wiederum verbindbar und bisweilen verbunden ist. Aus den Naturen gehen die Kräfte hervor, und die Naturen werden von den Kräften angezeigt. Die Natur wird durch die unendliche Macht, Weisheit und Güte regiert. Die natürlichen Kräfte sind also nicht umsonst. Diese Argumentation können die Platoniker vielleicht mit dem Schein von Wahrheit für den ewigen Kreislauf der Seelen58 benutzen, und ebenso die Juden, Christen und Mohammedaner offenbar mit ganzer Wahrheit für die Auferstehung der menschlichen Körper. So dunkel die Seele im Körper das Unkörperliche erkennt, so klar erkennt sie es außerhalb des Körpers.

Denn solange die Seele in der Materie und gewissermaßen in der Zeit lebt, sieht sie die natürlichen Formen im Schatten der untersten Materie, die übernatürlichen Formen aber meistens verfinstert durch die natürlichen. Wenn sie 57 Piaton, Phaidros 249 B-C. 58 Piaton, Phaidros 248 C-249 B; dazu der Kommentar, Opera 1379 f. (Animam nostrani non fieri brutam: Überschrift zu cap. 25). Gegen die Annahme der meisten platonischen Schulen, Piaton habe die Seelenwanderung gelehrt, polemisiert Ficino ausfuhrlich in Theol. Plat. 17, 4 (Opera 3939ff.): sie sei eine „poetische" Darstellung (M 3, 166); die mit der Seelenwanderung verbundene Reinigung versteht er (wie hier) als Akt der Erkenntnis (Non enim purgatio fit, nisi ubi régnât quaedam conscientiae reclamatio. ebd. 168); deshalb: transitum animarum accipiamus non in varias species, sed in habitus (ebd. 172). Vgl. auch den Kommentar zu Plotin III 4 (Opera 1709-1711). Zur christlichen Ablehnung der Seelenwanderung s. Thomas, ScG II 83.

102

Argumentum

Ba 715/M 288

et super tempus agit vitam, tunc supernaturales quidem formas in summae formae lumine conspicit. Naturales autem sub radiis supernaturalium intuetur. Tunc igitur omnia clare, omnia nunc obscure, siquidem temporalia non aliter percipit quam per eorum imagines sensibus haustas, in eisque quasi purgatas. Non enim aliter inter haec et animam est proportio. Ad aeterna vero quamdiu immortali 4 corpore occupata est, difficile parumque convertitur, et conversa occursu imaginum corporalium saepissime allucinatur et fallitur. Hinc illud Piatonis nostri mysterium in Phedone. «Animus in alio vivens», scilicet in corpore, «perque aliud aspiciens», scilicet per sensuum fenestras atque phantasmata, «aspiciens, inquam, quae sunt in alio», id est tarn species in singulis quam formas singulas in materia, «nihil usquam clare discernit». «Quando autem vivens in se per se aspicit atque in se illa quae sunt in seipsis», id est rationes rerum, quae dum in summa omnium ratione sunt in seipsis existunt, «tune omnia clarissime perspicit», quia et intima et clarissima, quae tanto fulgentiora in se et illi sunt quam ista quanto puriora, veriora, potentiora. Praestantior sensus longe praestantior

est in phantasia quam in nervis, in mente quam in phantasia.

Sed numquid illa sensibus comprehendit? Sensibus certe quibusdam, sensuum videlicet sensu. Quoniam praeter sensus illos quos in aethereo animae vehículo exerceri Platonici opinantur, sunt et sensus nonnulli admodum clariores, quibus uti mens potest etiam absque corpore. Sane

4

immortali corpore Ba Garin M: Da es einen unsterblichen Körper in diesem Kontext nicht gibt, muß „in mortali corpore" konjiziert werden, so auch die Turiner Hs, bei Marcel zitiert, und Figliucci, dessen Übersetzung Garin bietet: „in questo mortal corpo".

Einführung in die Platonische Theologie

103

aber außerhalb der Materie und überzeitlich lebt, erblickt sie die übernatürlichen Formen im Licht der höchsten Form, die natürlichen aber unter den Strahlen der übernatürlichen. Dann also nimmt sie alles klar, jetzt aber dunkel wahr, insofern sie das Zeitliche nicht anders wahrnimmt als vermittels der Abbilder, die sie mit den Sinnen aufgenommen und in ihnen gleichsam gereinigt hat. Kein anderes Verhältnis besteht zwischen ihnen (den Bildern) und der Seele. Aber solange sie im sterblichen Körper befangen ist, wendet sie sich schwerlich und nur wenig dem Ewigen zu, und wenn sie sich ihm zugewandt hat, wird sie durch den Ansturm der körperlichen Bilder sehr oft verwirrt und getäuscht. Daher der Mythos des Phaidon bei unserem Piaton59. Die Seele lebt in etwas anderem, nämlich im Körper, und sieht durch etwas anderes, nämlich durch die Fenster der Sinne und durch Phantasmen; sie sieht, was in etwas anderem ist, nämlich die Spezies in den Einzeldingen und die einzelnen Formen in der Materie, und sie erkennt dabei niemals etwas klar. Wenn sie aber für sich lebt, sieht sie durch sich und in sich das, was in sich existiert, nämlich die Begriffe der Dinge, die, solange sie im höchsten aller Begriffe sind, in sich selbst existieren, und dann sieht sie alles überaus klar, weil es ganz innerlich und ganz klar ist; und dies strahlt um so heller an sich und für sie (die Seele), je reiner, wahrer und mächtiger es ist. Der Sinn in der Phantasie ist vorzüglicher als in den Nerven, der im Geist ist weit vorzüglicher als der in der Phantasie. Aber begreift die Seele jenes durch Sinne? Gewiß durch einige Sinne; nämlich durch den Sinn der Sinne. Denn außer den Sinnen, die - nach Meinung der Platoniker mittels des ätherischen Instruments der Seele tätig sind, gibt es auch einige viel klarere Sinne, die der Geist auch

59 Piaton, Phaidon 79 C - D .

104

Argumentum

Ba 7 1 6 / M 289

quinqué sensus qui in nervis et spiritibus exercentur, émanant ab iis qui vigent in phantasia. Sed in hac quinqué illi sensus unus sunt amplior illis et perspicacior, adde et stabilior. Servat enim quae illi non servant. Unus est rursus in mente tanto latior, stabilior, perspicacior quam in phantasia, quanto mens praestantior est quam illa. Si latior est, nimirum ultra illa rerum porrigitur genera, quae sensibus et phantasia comprehenduntur. Si stabilior est, etiam servat diutius quam phantasia. Si perspicacior, certius, clarius, splendidius quam illi cernit et quam illa. Cernit, inquam, interdum per illos et per illam imagines atque singula, quando eo sese vertit. Cernit per se, excitatus ab ilia, species, et clarius quia propinquius. Inspicit in seipso seipsum, quando ad se reflectitur. Potest autem ad se reflecti, si se amat, quaerit, intelligit. Ubi apparet prorsus indivisibilis et in seipso consistens. Nam forma, quae vel divisibilis est vel necessario iacet in alio, numquam reflectitur in seipsam. Clarissime tandem rationes discernit, quando ex se ad summam omnium respicit rationem, in qua mentis visus rationem vimque lucis videt atque colorum, tanto hac luce hisque coloribus fulgentiorem, quanto ibi, scilicet in idea sua, est integrior et praestantior quam in corporibus inde formatis. In qua etiam mentis auditus rationem sonorum audit sonantiorem consonantioremque sonis cunctis quos vel auris audire vel phantasia queat imaginari. Eadem ratio est de caeteris intelligentiae sensibus, quibus quisquís suavissime optat frui, det operam imprimis oportet, ut corporis sensibus utatur quidem, sed non fruatur.

Einfîihrung in die Platonische Theologie

105

ohne Körper benutzen kann. Die fünf Sinne nämlich, die in den Nerven und Lebensgeistern tätig sind, gehen aus denen hervor, die in der Phantasie wirken. In ihr aber sind diese fünf Sinne einer, der weiter und scharfsichtiger und auch beständiger ist als jene; er leistet nämlich, was jene nicht leisten. Es gibt aber im Geist einen, der um soviel weiter, beständiger und scharfsichtiger ist als der in der Phantasie, wie der Geist vortrefflicher ist als sie. Wenn er (der Sinn) weiter ist, dann erstreckt er sich über die Gattung der Dinge hinaus, die durch Sinne und Phantasie erfaßt werden. Wenn er beständiger ist, dient er länger als die Phantasie. Wenn er scharfsichtiger ist, erkennt er sicherer, klarer und heller als jene (Sinne) und jene (Phantasie). Durch Sinne und Phantasie erkennt er nämlich manchmal Bilder und Einzeldinge, wenn er sich ihnen zuwendet. Angeregt durch die Phantasie, erkennt er die Spezies von sich aus, und zwar klarer, weil näher. Er betrachtet sich selbst in sich, wenn er sich zu sich selbst wendet, er kann sich aber sich selbst zuwenden, wenn er sich liebt, sucht und erkennt. Dort erweist er sich als ganz unteilbar und in sich bestehend. Denn eine Form, die entweder teilbar ist oder notwendig in etwas anderem ruht, wendet sich niemals sich selbst zu. A m klarsten schließlich erkennt er die Begriffe, wenn er von sich zum höchsten aller Begriffe schaut. In ihm sieht die Sicht des Geistes den Begriff und die Kraft des Lichtes und der Farben, und zwar um soviel strahlender als dieses Licht und diese Farben (auf Erden), wie die Sicht dort, nämlich in ihrer Idee, vollständiger und vorzüglicher ist als in den Körpern, die von dort geformt sind. In ihm hört auch das Gehör des Geistes den Begriff der Laute, der klangvoller und harmonischer ist als alle, die man mit den Ohren hören oder sich in der Phantasie vorstellen kann. Dasselbe gilt für die übrigen Sinne der Intelligenz. Jeder, der diese aufs angenehmste genießen will, muß sich vor allem bemühen, zwar die körperlichen Sinne zu benutzen, sie aber nicht zu genießen.

106

Compendium

Ba 690/M 310

COMPENDIUM PLATONICAE THEOLOGIAE MARSILIUS FICINUS FLORENTINUS C O N P H I L O S O P H I S SUIS. S. D. Ascensus a substantia corporea ad incorpoream scilicet animas angelosque et Deum. Substantia, quoniam accidentis omnis fundamentum est, naturae ordine quodam prior est accidente potestque, cum sit prior ac formae virtute non careat, alicubi sine accidente consistere; accidente, inquam, praecipue corporali, quod ad communem accedens substantiae rationem, non tam profectum affert quam defectum. Profecto substantia, si absque corporeo accidente consistât, tam ob puritatem verior erit quam ob ipsam individuae naturae simplicitatem unitatemque potentior. Quamobrem iam est actu substantia quaedam seorsum a quantitatis divisione qualitatisque corporalis permixtione, ne vana sit semper in universo

Kompendium der Platonischen Theologie

107

Kompendium der Platonischen Theologie Marsilio Ficino grüßt seine Mitphilosophen

Aufstieg

von der körperlichen Substanz zur unkörperlichen, nämlich zu den Seelen, den Engeln und Gott.

Die Substanz ist der natürlichen Ordnung nach früher als das Akzidens, insofern sie Grundlage jedes Akzidens ist', und sie kann - da sie früher und nicht ohne Formkraft ist irgendwo ohne Akzidens bestehen, nämlich vor allem ohne das körperliche Akzidens2, das zu dem gemeinsamen Begriff der Substanz hinzutritt und nicht so sehr Zuwachs als Mangel einträgt. Jedenfalls wird die Substanz, wenn sie ohne körperliches Akzidens besteht, sowohl wegen der Reinheit3 wahrer sein als auch gerade wegen der Einfachheit und Einheit der unteilbaren Natur mächtiger. Und deshalb gibt es wirklich eine Substanz, die losgelöst ist von der quantitativen Teilung und der Vermischung der körperlichen Qualität, damit jene so vernünftige und gute Potenz im Universum nicht für immer vergeblich bleibt 1 2

3

Aristoteles, met. VII 1,1028 a 18-20, VII 17,1041 b 28-31 ; vgl. Thomas, In metaph. 7, lect. 1 u. 13. Theol. Plat. 13 (1, 52 M). Aristoteles, met. XII 6, 1071b 19-21, beweist, daß es eine Substanz gibt, die sich aus sich selbst betätigt und die ohne Stoff ist (der Unbewegte Beweger, Gott). In XII8,1073 a 14 ff. lehrt er, daß es mehrere solcher Substanzen gibt. Aus der Rezeption dieser Stellen stammt die Forderung unkörperlicher Substanzen (Individualseelen, Engel). Piaton, Politeia 509 D, Symposion 210 AB. Plotin V 8 , 4 , 1 ff.

108

Compendium

Ba 690/M 311

potentia ilia tam rationabilis tamque bona vel falsa prorsus vel imbecillis omnino natura illa, quae verior potentiorque quam substantia quaelibet corporalis existimatur. Primus incorporate substantiae gradus est vita quaedam, id est, anima. Incorporalis autem ilia substantia idem atque vita quaedam esse videtur, quandoquidem vitae proprium est vis quaedam ad penetrandum, uniendum, movendum corpus valde mirabilis. Talem vero vim habet in primis substantia prorsus incorporalis. Vitae quaedam huiusmodi in rerum ordine iam existunt. Magis enim dependet corpus vivens a vita sibi coniuncta quam a corpore vita. Nam corpus inde formatur et sustinetur, regitur et movetur. Quare quemadmodum infra coniunctionem istam corporis atque vitae corpora quaedam reperiuntur, saxa scilicet et metalla caeteraque generis eiusdem, quae possunt absque vita manere, sic et multo magis forte etiam plures existunt vitae quae sine aliquo corporis adminiculo sustinere se possunt. Hae vero partim sunt rationales animae, partim angeli. Super animas sunt angeli. Verum numquid super corpora et animas necessarium est angelos esse? Est utique necessarium. Sane intellectus

Kompendium der Platonischen Theologie

109

und jene Natur, die fur wahrer und mächtiger als jede körperliche Substanz gilt, nicht ganz falsch oder ohnmächtig sei4. Die erste Stufe der unkörperlichen Substanz ist ein Leben, also die Seele. Jene unkörperliche Substanz scheint aber dasselbe wie ein Leben zu sein5. Weil nun dem Leben die wunderbare Kraft eignet, den Körper zu durchdringen, zu einigen und zu bewegen, hat vor allem die durchaus unkörperliche Substanz eine solche Kraft. Es gibt nun solcherart Leben in der Ordnung der Dinge. Denn der lebendige Körper hängt mehr von dem ihm verbundenen Leben ab als vom Körper das Leben. Denn der Körper wird von daher geformt und erhalten, gefuhrt und bewegt. Daher ist klar: So wie es unterhalb der Verbindung von Körper und Leben einige Körper gibt (nämlich Steine, Metalle und derartiges), die ohne Leben bleiben können, so - und vielleicht noch mehr - gibt es Leben, die ohne die geringste Hilfe eines Körpers sich erhalten können, dies sind aber teils rationale Seelen, teils Engel6. Uber die Seelen stehen die Engel Aber ist es nötig, daß es über den Körpern und Seelen noch Engel gibt? Allerdings ist das nötig. Denn es scheint 4 5

6

Zum Motiv des Aufstiegs vgl. „Einführung" Anfang sowie Theol. Plat. I 3. Beseelung als Leben des Körperlichen im Kosmos : Plotin IV 4,36. Vgl. dazu P. Hadot, Être, vie, pensée chez Plotin, in: Les sources de Plotin, Vandoeuvres/Genève 1961. Theol. Plat. I 5 (1, 58 ff. M) zum Zusammenhang von Leben und seelischer oder geistiger Substanz. Ficino denkt Leben grundsätzlich als intrinseca operatio (ebd. 59), die vollständig vom Körper gelöst subsistieren kann, wie auch Körper ohne Leben existieren können (62).

110

Compendium

Ba 690/M 311

ipsius, in quantum est intellectus, natura haec esse videtur ut potius seorsum a corpore quam ut in corpore vivat. Intelligit enim abstractione quadam formarum a singulis corporum passionibus. Et quanto ab eisdem ipse magis abstrahitur, tanto discernit clarius et efficacius agit vivitque beatius. Quasi ille sit mentis habitus potissimum naturalis, coniungere vero corpori mentem forte nihil aliud sit quam earn ab ipsius origine longe seiungere. Quod autem naturalius est id in ipso rerum ordine existit ut plurimum. Igitur super intellectus eos qui corporibus adsunt, id est animas rationales, nimirum mentes quamplurimae sunt a commercio corporum segregatae. Quemadmodum puri intellectus ipsius proprietas est seorsum a corpore vivere, sic et natura puri sensus esse cum corpore. Spiritus igitur in quo solus cum vita est sensus, solum ut videtur vivit in corpore. Spiritus autem in quo intellectus solus, extra corpus tantum agit vitam. Sed ubi intellectus sensusque coniungitur, quod homini convenit, eiusmodi spiritus ea praeditus est natura, ut et in corpore vivere possit et extra. At quoniam intellectus in hoc est pars quaedam in anima partes insuper alias continente,

Kompendium

der Platonischen Theologie

111

die Natur des Intellekts als Intellekt zu sein, eher losgelöst vom Körper als im Körper zu leben. Denn er erkennt dadurch, daß er Formen von den einzelnen Eigenschaften der Körper abstrahiert7. Und je mehr er sich selbst von ihnen löst, desto klarer erkennt und wirksamer wirkt und glücklicher lebt er: so als wäre dies der natürlichste Zustand des Geistes8 und als bedeutete, den Geist mit dem Körper zu verbinden, nichts anderes, als ihn weit von seinem Ursprung zu trennen9. Was aber natürlicher ist, das existiert zumeist auch in der Ordnung der Dinge. Also sind über den Intellekten, die bei den Körpern sind, nämlich über den Vernunftseelen, gewiß möglichst viele vom Umgang mit Körpern abgeschiedene Geister10. So wie es dem reinen Intellekt eigen ist, losgelöst vom Körper zu leben, so ist es die Natur des reinen Sinnes, mit den Körpern zu sein. Der Geist also, in dem der Sinn nur zusammen mit dem Leben ist, lebt offensichtlich ausschließlich im Körper. Der Geist aber, in dem es nur Intellekt gibt, fuhrt sein Leben nur außerhalb des Körpers. Wo aber Intellekt und Sinn verbunden sind (was den Menschen zukommt), ist der Geist mit einer solchen Natur begabt, daß er innerhalb des Körpers und außerhalb leben kann. Aber da der Intellekt in diesem Falle ein Teil in der Seele ist, die auch noch andere Teile enthält, ist er doppeldeutig und schreitet im Erkennen mit einer geistigen 7 Vgl. „Einführung" S. 92 f f , Theol. Plat. IX 2 (2,10 M); V i l i 4 8 (1, 300 ff.) 8 „mens" und „spiritus" müssen beide mit „Geist" übersetzt werden, wobei „mens" das rein Unkörperliche hervorhebt, während „spiritus" der übergeordnete Begriff ist. 9 Beweis der Unkörperlichkeit und damit Unsterblichkeit der Seele aus der ihr natürlichen Handlung: Thomas, ScG II 79. 10 Beweis der Existenz körperloser Substanzen (Intelligenzen, Engel) aus der Unkörperlichkeit der abstrahierenden Erkenntnis: z. B. Thomas, De ente et essentia 5; STh I 50; Qu. de anima 2 ad 6; De spirit, creaturis 5. Vgl. unten S. 152/153.

112

Compendium

Ba 691/M 312

est et ambiguus et quodam spiritali motu ab alio in aliud intelligendo discurrit, idcirco super eum extare oportet mentem perfectiorem, quae neque ad capacitatem animae contrahatur neque inferioribus partibus misceatur, neque actionem suam tempore distrahat, sed in seipsa absoluta meraque sit et undique clara actionemque suam non discurrendo peragat sed manendo. Super mentem iti anima est mens in seipsa, super illam est Deus. Conferì ad idem ratio illa Platonica. Si anima secundum formarn rationemque suam esset intellectus, certe tota prorsus anima intellectus esset, intellectus, inquam absolutissimus. Et anima quaelibet appareret intelligentiae compos. Cum vero se res aliter habeat, perspicuum est animam non secundum formam proprie principalem sed secundum participationem quamdam intelligentiam possidere. Quemadmodum vero super animarum mentes, quae participatione tales esse dicuntur, sunt mentes multae secundum formam, id est angeli, ita super mentes secundum formam est mens una secundum causam efficacemque virtutem, id est Deus. Multi sunt intellectus fiumani, multi angelici, unicus est Divinus. Quod multi sint secundum participationem intellectus, patet ex eo quod animae rationales sunt plurimae. Atque in mentibus hominum diversorum momento eodem apparent opiniones, affectus, habitus inter se penitus repu-

Kompendium der Platonischen Theologie

113

Bewegung von etwas zu etwas voran; demgemäß muß es über ihm einen vollkommeneren Geist geben, der nicht auf die Fähigkeit der Seele reduziert ist und sich auch nicht mit den unteren Teilen vermischt, noch auch seine Wirkung zeitlich verzögert, sondern in sich selbst absolut und rein und rundum klar ist und sein Wirken nicht in einem Ablauf ausübt, sondern dauernd". Über dem Geist in der Seele ist der Geist an sich, über ihm ist Gott.

Folgendes platonische Argument paßt dazu: Wenn die Seele nach Form und Begriff Intellekt wäre, dann wäre gewiß die Seele durchaus Intellekt, und zwar vollkommen absoluter Intellekt. Und jede Seele erschiene als der Intelligenz fähig. Da es sich aber anders verhält, ist offensichtlich, daß die Seele nicht nach ihrer eigentlich erstrangigen Form, sondern nach Teilhabe eine gewisse Intelligenz besitzt. So aber, wie über den Seelen-Geistern, die nur dank Teilhabe so genannt werden, viele Geister der Form nach sind, nämlich die Engel, so ist über den Geistern nach Form der eine Geist, der es nach Ursache und Wirksamkeit ist, nämlich Gott12. Es gibt viele menschliche und viele der göttliche Intellekt ist ein

Engel-Intellekte, einziger.

Daß es der Teilhabe nach viele Intellekte gibt, ist daher klar, daß es überaus viele Vernunftseelen gibt. Und in den Geistern der verschiedenen Menschen kommen in demselben Augenblick Meinungen, Affekte und Einstellun-

11 Thomas, STh I 58,3 : Utrum angelus cognoscat discurrendo. 12 Eine Hierarchie der Intelligenzen und Seelen, die von Gott abhängt, hat der Liber de Causis, prop. 19; Thomas, D e ente et essentia 5 u. a. Vgl. De amore VI 15.

114

Compendium

Ba 691/M 313

gnantes. Quod sint multi etiam intellectus secundum formam in superioribus declaravimus, quando diximus ad mentis ipsius rationem spectare magis seorsum a sensibus corporeque vivere quam cum ipsis. Quod super mentes omnes, quae forma ipsa sunt tales, sit unicus secundum causam intellectus, inde probamus, quod cum spiritalis individuarum mentium multitudo ordinata magis unitaque sit quam corporum multitudo, necessarium est unionem eiusmodi ab una quadam causa proficisci. Res enim diversae sive illae quidem corporales sint sive incorporales5, ea ipsa ratione qua diversae sunt, in unum vel opus vel ordinem finemve conspirare non possunt, sed in quantum unum quiddam illis inest commune. Atque hoc ipsum quod commune dicitur universis, a nullo illorum proprie, quae continentur in ordine, provenit. Illi enim dumtaxat aut certe suis quibusdam proprium esset, non commune pariter universis, ñeque etiam a cunctis ex propria variaque ipsorum virtute communis illa qualitas proficiscitur. Quae enim diversa sunt, ut diximus, in quantum diversa sunt non pariunt unionem. Sed numquid natura, quae cunctis inest communis, ex seipsa prorsus existit? Nequaquam. Maius enim est existere ex seipso quam in seipso consistere. Cum igitur natura eiusmodi non in se, sed in turba consistât, certe ex seipsa non potest existere. Igitur ab unitate quadam, quae super omnium numerum in seipsa consistit, unió illa omnium proficiscitur, et quia unitas illa sublimis nulli propria est, ideo sicut unitas numeralis ubique omnibus adest numeris, et punctum lineis, sic ipsa quoque indivisibilis permanens omnibus unique spiritibus corporibusque pariter adest ac aeque ligat invicem universa. Quae ex hoc ipso mutua quadam convenientia con-

5

sive incorporales: om. Ba.

Kompendium

der Platonischen Theologie

115

gen vor, die sich vollkommen untereinander widersprechen. Daß es auch viele Intellekte der Form nach gibt, haben wir schon oben erklärt, als wir sagten, daß es mehr zum. Begriff des Geistes paßt, von den Sinnen und den Körpern eher abgelöst zu leben als zusammen mit diesen. Daß über allen Geistern, die es der Form nach sind, ein einziger Intellekt der Ursache nach besteht, beweisen wir folgendermaßen: Weil die geistige Vielheit der individuellen Geister stärker geordnet und geeint ist als die Vielheit der Körper, ist es notwendig, daß die Einheit aus einer einzigen Ursache hervorgeht. Die unterschiedlichen Dinge, ob körperlich oder unkörperlich, können genau aus dem Grund, aus dem sie verschieden sind, nicht auf eine einzige Bestimmung, Ordnung oder einen Zweck hinwirken, wohl aber insofern ihnen etwas, das eines ist, gemeinsam ist. Das nun, was allem gemeinsam sein soll, geht eigentlich aus nichts von dem hervor, was in der Ordnung enthalten ist. Es wäre sonst nur diesem oder jedenfalls einigen eigentümlich, nicht aber allen gleichermaßen universell gemeinsam. Auch geht jene gemeinsame Qualität nicht von allen aus der je eigenen und verschiedenen Eigenschaft hervor. Was nämlich verschieden ist, bringt - wie gesagt - nicht, insofern es verschieden ist, die Einheit hervor. Aber existiert etwa die Natur, die allen gemeinsam inne ist, gänzlich aus sich selbst? Keineswegs. Es ist nämlich etwas größeres, aus sich selbst zu existieren, als in sich selbst zu bestehen. Da also eine derartige Natur nicht in sich, sondern in einer Menge besteht, kann sie gewiß nicht aus sich selbst existieren. Also geht jene Einigung aller aus einer Einheit hervor, die jenseits aller Zahl in sich selbst besteht; und weil jene höchste Einheit keinem zu eigen ist (so wie die zahlenmäßige Einheit überall in allen Zahlen und der Punkt in den Linien enthalten ist), so bleibt sie selbst auch unteilbar, indem sie dauernd überall in den Geistern und Körpern gleichermaßen enthalten ist und alles gleich miteinander verbindet. Diese leiten gerade daher durch gegenseitige

116

Compendium

Ba 691/M 314

ducunt ad unum, quoniam ducuntur ab uno. Sicut igitur omnia mundi corpora ad unum summumque corpus continens movensque omnia rediguntur, sic spiritus omnes ad unum summumque spiritum omnia complectentem perque spiritus sibi subditos corpora vivificantem atque moventem. Res ñeque circulo confunduntur, ñeque ad principia plura aequalia reducuntur, neque sursum absque fine progrediuntur. Hie, ut videtur, triplex potissimum excluditur error. Primus, eorum qui aiunt cuncta sic circulo invicem dependere, ut quemadmodum hoc ab ilio, ita illud vicissim ab isto dependeat. Sic utique idem ad idem comparatum esset et causa et effectus, prius quoque atque posterius, superius et inferius. Secundus, eorum qui plura in latus principia introducunt. Foret enim numerus quidam principiorum ex communi natura proprietatibusque compositus. Nullum igitur illorum esset revera principium, quia nullum simplex existeret et ab altiore unitate cuncta ligante singula provenirent. Tertius, illorum qui sursum absque fine a principio alio ad aliud semper ascendunt. Sed illi dum innumerabilia principia curiosus affectare videntur, cum nusquam reperiant primum, nullum prorsus principium assequuntur. Cogitare profecto deberent quicquid dependet ab alio suapte natura pendere ac, nisi ab alio quod non dependet

Kompendium

der Platonischen

Theologie

117

Übereinstimmung zu dem Einen, weil sie von dem Einen abgeleitet sind. So also, wie alle Körper der Welt auf den einen höchsten, alles enthaltenden und bewegenden Körper zurückgeführt werden, so alle Geister auf den einen alle erfassenden höchsten Geist, der durch die ihm untergebenen Geister die Körper belebt und bewegt13. Die Dinge gehen weder im Kreis ineinander über, noch werden sie auf mehrere gleiche Prinzipien zurückgeführt, noch schreiten sie endlos aufwärts weiter.

Hier wird offensichtlich besonders ein dreifacher Irrtum14 ausgeschlossen: 1. Der Irrtum jener, die sagen, alles hänge so im Kreis voneinander ab, daß wie dieses von jenem so jenes umgekehrt von diesem abhinge. Somit wäre dasselbe mit demselben gleich, es wäre Ursache und Wirkung sowie früher und später, höher und tiefer. 2. Der Irrtum derer, die mehrere parallele Prinzipien einfuhren. Es wäre dann die Zahl der Prinzipien aus der gemeinsamen Natur und den Eigenschaften zusammengesetzt. Keines davon wäre also wirklich Prinzip, weil keines als einfaches bestünde und die einzelnen (Prinzipien) von einer höheren, alle verbindenden Einheit hervorgingen. 3. Der Irrtum derer, die immer aufwärts ohne Ende von einem zum anderen Prinzip aufsteigen. Indem sie aber allzu eifrig nach unzähligen Prinzipien suchen, erreichen sie - solange sie niemals ein erstes finden - überhaupt kein Prinzip. Sie müßten aber unbedingt bedenken, daß alles, was von etwas anderem abhängt, von Natur aus schwebt 13 Thomas, STh I 11, 3 resp. 3. Beweis der Einheit Gottes aus der Einheit in der Ordnung. Über die Einheit Gottes auch Theol. Plat. II 2, Opera 93 f. (1, 77 f. M). 14 Gegen den sog. unendlichen Regreß („progressus" im folgenden) vgl. Aristoteles, met. 112, 994 a 1 ff. Theol. Plat. 113, Opera 95 f. (1,80-82 M).

118

Compendium

Ba 692/M 314

aliunde sustineatur, penitus vacillare. Quapropter, si omnia ab aliis absque fine dependent, cuneta undique vacillabunt, perinde ac si liquida liquidis haereant nec usquam solida dentur quae liquida sistant. Nullus erit in rebus status, ordo, circuitus, perseveranatia et restitutio nulla. Non erit in rebus aliud praestantius alio, cum ubi non datur summum, ibi aliis ad summum propius non accédant. Manifeste vero videmus alia in natura facere, alia fieri, illa quidem antecedere dignitate, ista succedere. Causarum praeterea multitudinem latitudinemque in effectibus quoque numerum amplitudinemque producere. Itaque si absque termino a causis in causas ascendatur, similiter praeter terminum ad effectus ab effectibus descendetur. Nulla erunt extrema, sed omnia media, omnia infinita. Siquidem res quaelibet ab innumerabilibus antecedentibus vires accipiet et succedentibus innumeris vires dare valebit, innumerabilia erunt infinita. Quod est absurdum. Res quaelibet cuilibet apparebit aequalis. Quod nihilominus iudicatur absurdum. Nusquam reperietur corpus infimum, quod est terra, nusquam materia infima, quae est potentia una puraque formarum capax. Nisi sit summus spiritus usquam, nisi sit forma suprema actus purus fonsque formarum, numquam incipient affectus 6 aliqui fieri, quia numquam mediae incipient causae facere, quae non prius faciunt quam ab omnibus superioribus moveantur. Quod si ab innumeris et per immensum intervallum

6

affectus: effectus Ba.

Kompendium der Platonischen Theologie

119

und gänzlich schwankt, solange es nicht von etwas gehalten wird, das nicht irgendwovon abhängt. Wenn deshalb alles von anderen endlos abhinge, schwankte alles. So etwa als würden Flüssigkeiten an Flüssigkeiten hängen, und nirgends gäbe es Festes, was den Flüssigkeiten Halt gäbe. Es gäbe in den Dingen also keinerlei Bestand, Ordnung, Umlauf, Dauerhaftigkeit, Wiederherstellung. Es gäbe in den Dingen nichts, was gegenüber anderen vorrangig wäre, denn wo es kein Höchstes gibt, da können sich nicht einige mehr als andere dem Höchsten nähern. Wir sehen aber deutlich, daß einiges in der Natur macht, anderes gemacht wird, so daß jene an Rang vorangehen, diese folgen. Wir sehen außerdem, daß die Vielzahl und Weite der Ursachen auch in den Wirkungen die Vielzahl und die Vielfalt hervorbringt. Demnach würde man - wenn man ohne Ende von Ursachen zu Ursachen aufstiege - gleichermaßen ohne Ende zu Wirkungen von Wirkungen absteigen. Es gäbe keine Extreme, sondern alles wäre Mitte, alles unendlich. Da jedes Ding Kräfte von unzähligen vorangehenden erhielte und sie unzähligen nachfolgenden weitergeben könnte, wären die unzähligen unendlich - was absurd ist. Jedes beliebige Ding erschiene jedem gleich. Was nicht weniger für absurd gilt. Nirgendwo fände sich ein unterster Körper, die Erde, nirgends eine unterste Materie, die die eine reine zur Aufnahme der Formen fähige Potenz ist15. Wenn es keinen höchsten Geist gäbe, keine oberste Form, keinen reinen Akt und keine Quelle der Formen, dann würden niemals irgendwelche Wirkungen zu werden beginnen; denn niemals beginnen die mittleren Ursachen zu wirken, welche nicht wirken, bevor sie nicht von allen oberen bewegt werden, was niemals erlangt wird, wenn

15 Aristoteles, phys. I 7, beweist, daß bei Annahme von nur einem Prinzip „das Seiende dann nicht gewußt" werden könne.

120

Ba 692/M 315

Compendium

expectetur motionis exordium, numquam accipietur. Nulla erit effectus alicuius scientia, quia nequaquam erit innumerabilium comprehensio causarum. Quid plura? Singuli in rebus humanis naturalibusque motus ideo ad certos términos diriguntur, quoniam a principio certo reguntur, nisi enim regerentur inde, illuc nunquam dirigerentur. Cum igitur universi mundi motus ordinatior sit quam singuli qui ad illius ordinem referuntur, ideoque magis ad certum terminum sese conférât, id est ad commune cunctis bonum atque pulchrum. Necessarium est ab uno quodam certoque principio, id est bonitate ipsa summaque pulchritudine proficisci. Veritas est super

mentem.

Verum ne forte, dum infinitum progressum amputare contendimus, ipsi quoque intervallo pene infinito ab ipso disputationis nostrae proposito dementer digrediamur, iam si placet regrediamur ad mentem. Quod est in corpore oculus et in oculo visus, id ferme est intellectus in anima. Quod rursus Solis lumen ad visum, hoc lumen veritatis ad mentem. Aliud Solis lumen est, aliud oculus. Similiter aliud ipsa Veritas est, aliud intellectus. Alioquin et omnis mens omnino esset veridica, et res

Kompendium

der Platonischen

Theologie

121

der Anfang von unendlichen Bewegungen über eine unermeßliche Distanz erwartet wird. Es gäbe keine Wissenschaft von irgendeinem Effekt, weil es überhaupt kein Erfassen der unzähligen Ursachen gäbe. Was noch? Die einzelnen Bewegungen bei den Menschen und in der Natur richten sich deshalb auf bestimmte Ziele, weil sie von einem bestimmten Prinzip regiert werden; würden sie nicht daher regiert, wären sie nie dorthin gesteuert worden. Da also die Bewegung des Universums mehr geordnet ist als die einzelnen Bewegungen, die sich auf dessen Ordnung beziehen, richtet sie sich auch mehr auf ein bestimmtes Ende, nämlich auf das allen gemeinsame Gute und Schöne. Notwendig ist es, von einem einzigen und sicheren Prinzip, nämlich der Güte selbst und der höchsten Schönheit, auszugehen. Die Wahrheit ist über dem

Geiste.

Damit wir aber nicht selbst aus Eifer, den unendlichen Progreß abzuschneiden, geistlos unendlich weit vom Thema der Abhandlung abweichen, wollen wir zum Geiste zurückkehren. Was im Körper das Auge und im Auge das Sehen, das ist gewiß der Intellekt in der Seele16. Was wiederum das Sonnenlicht für das Sehen ist, das ist das Licht der Wahrheit für den Geist17. Das Sonnenlicht ist etwas anderes als das Auge, gleichermaßen ist die Wahrheit selbst etwas anderes als der Intellekt. Andernfalls wäre jeder Geist gänzlich wahrhaftig. Und jedes am Wahren teilhabende Ding hätte 16 Aristoteles, an. III 6, 430 b 27. - Vgl. zu diesem Abschnitt Theol. Plat. I 6. 17 Vgl. das Sonnengleichnis bei Platon, Politela 508 a-509 b, und bei Plotin 16, 30. Der Themenkreis dieser Gleichnisse bleibt auch für die folgenden Abschnitte bestimmend. Vgl. auch De lumine, Opera 717-720 u. 976-986. Kristeller 1972,76 ff. Vgl. auch „Einfuhrung" S. 66/67.

122

Compendium

Ba 692/M316

quaelibet particeps veri similiter esset intelligentiae particeps. Oculus tuus quia pars est alterius, id est corporis, ñeque clare videt omnia prorsus neque sua omnia simul. Si totum corpus tuum oculus unus efficiatur, simul undique cuncta videbit. Nondum tamen idem erit oculus atque lumen. Similiter mens tua, quoniam pars est animae, ideo neque clare neque momento eodem intelligit omnia. Si totus animus tuus intellectus unus evadat, iam ex animo fiet angelus, clare cuncta perspiciet, neque temporali discursu amplius tum hoc, tum illud aucupabitur, sed cuncta simul perspicue contuebitur. Adhuc tamen aliud ventas ipsa, aliud ipsa mens erit, quae nihil est aliud quam oculus spiritalis ad ipsum veritatis lumen bonitatisque calorem intelligentia et volúntate percipiendum. Veritas et bonitas idem sunt.

Verum perscrutandum esse videtur, numquid unum idemque sit ipsa Veritas atque bonitas. Mittamus quid relationes illae dialecticae machinentur. Si in rerum ordine fai-

Kompendium

der Platonischen

Theologie

123

gleichermaßen an der Intelligenz teil. Weil dein Auge Teil von etwas anderem (nämlich dem Körper) ist, kann es weder alles recht deutlich sehen noch alles zugleich. Wenn dein ganzer Körper zu einem Auge würde, würde er rundum alles sehen18. Trotzdem wären Auge und Licht nicht dasselbe. In gleicher Weise erkennt dein Geist, als Teil der Seele weder alles deutlich noch in demselben Moment. Wenn deine ganze Seele zu einem Intellekt würde, dann würde aus der Seele schon ein Engel, und er würde alles deutlich erkennen und nicht mehr im zeitlichen Durchgang mal dies, mal jenes erhäschen, sondern alles zugleich scharfsichtig betrachten. Auch dann noch wäre die Wahrheit selbst etwas anderes als der Geist selbst, der nichts anderes ist als das geistige Auge", um das Licht der Wahrheit selbst und die Wärme der Güte mit Intelligenz und Willen wahrzunehmen. Wahrheit und Güte sind dasselbe.

Es ist aber wohl zu untersuchen, ob Wahrheit und Güte selbst nicht genau dasselbe sind20. Wir übergehen, was als dialektische Relationen ausgedacht wird21. Wenn in der 18 Plotin IV 3 , 1 8 , 20 f. : Im Jenseits wäre der ganze Körper rein und jedes Ding wie ein Auge. 19 Vgl. Plotin 1 6 , 8 , 2 5 : U m die Wahrheit zu sehen, m u ß man die A u g e n schließen und ein „anderes Gesicht" s e h e n lassen; VI 8 , 1 9 : D i e „Augen der Seele" s e h e n das Jenseitige überall zugleich. Oculus corporalis vs. spiritualis bei T h o m a s , STh III 76, 7. 20 Theol. Plat. II 1 : Unitas, Veritas, bonitas idem sunt, et super ea nihil est. 21 Thomas, STh I 16, 4 behandelt die Konvertibilität von b o n u m und verum: U n d e in ordine appetibilium b o n u m se habet ut universale et verum ut particulare, in ordine autem intelligiblium est e converso. Für Ficino sind anstreben (appetì) und erkennen (intelligere) dasselbe; Theol. Plat. 14,2 (Opera 307; M 2, 250 f.).

124

Compendium

Ba 693/M 316

sum atque malum, falso esse atque male esse inter se reipsa non discrepant, sequitur ut eodem in ordine verum et bonum, vere esse et bene esse revera non différant. Quapropter super rerum omnium ordinem idem in substantia est Veritas atque bonitas. Praesertim quia quousque se veritatis, eousque et bonitatis, atque vicissim, se dilatai imperium. Quicquid enim veri idem et boni particeps reperite, atque converso. Hoc ipsum tamen quod veritas et bonitas nominatur, mentem quamlibet supereminet. Quia mens non in suiipsius natura, sed in veri et boni possessione quiescit. Ac latius se veritatis bonitatisque vestigia quam intelligentiae propagant. Ubi enim nullum apparet intelligentiae munus, veri tamen bonique nonnihil latere videtur. Quid ergo dicemus? Deus omnia ad suae artis exemplar in specie quadam propria puraque collocai, deinde ad suae largitatis exemplar omnibus ordinem usumque aliquem ad aliquid benigne distribuii; in ilio quidem actu vera, in hoc bona efficit omnia. Rursus Deus, quando intelligentiae lucet, veritas, quando voluntati calet, bonitas appellato. Ibi intelligentia illustrato et adolescit, hic voluntas blande allicitur et impletur. Deus mentem immenso supereminet

intervallo.

Metiamur praeterea si mensurari potest, postquam Deus supereminet mentem, quam longo spatio earn superemineat. Ah, quam immensae dementiae est conari immensa metiri! Tanto enim dignitatis spatio saltem sursum distai a

Kompendium der Platonischen Theologie

125

Ordnung der Dinge „falsch" und „böse", „falsch sein" und „böse sein" sich nicht der Sache nach unterscheiden, folgt daraus, daß sich nach derselben Ordnung das Wahre und das Gute, Wahrsein und Gutsein wirklich nicht unterscheiden. Deshalb sind oberhalb der Ordnung aller Dinge Warheit und Güte in der Substanz dasselbe. Zumal das Reich der Wahrheit sich ebenso weit erstreckt wie das Reich der Güte, und umgekehrt. Denn alles das, was am Wahren nachweislich teil hat, das hat auch am Guten teil, und umgekehrt. Das selbst aber, was Wahrheit und Güte genannt wird, überragt jeden Geist, weil der Geist nicht in seiner eigenen Natur, sondern im Besitz des Wahren und Guten ruht22. Und die Indizien der Wahrheit und der Güte erstrecken sich weiter als die der Intelligenz. Denn wo auch keine Leistung der Intelligenz erscheint, scheint doch etwas von Wahrem und Gutem zu stecken. Was also sollen wir sagen? Gott richtet alles gemäß seiner Kunst in einer eigenen reinen Species ein, sodann teilt er mildtätig in seiner Großzügigkeit allem Ordnung und Brauchbarkeit für etwas zu: In jenem macht er alles wirklich wahr, in diesem gut23. Umgekehrt wird Gott die Wahrheit genannt, wenn er der Intelligenz leuchtet, Güte, wenn er den Willen erwärmt. Dort wird die Intelligenz erleuchtet und wächst, hier wird der Wille sanft gelockt und erfüllt. Gott überragt

den Geist mit unermeßlichem

Abstand.

Messen wir ferner, wenn man es messen kann, da doch Gott den Geist übersteigt, um welch großen Abstand er ihn übersteigt. Was für eine maßlose Dummheit ist es doch, Unermeßliches messen zu wollen. Es ist nämlich

22 Vgl. Fünf Fragen. Augustinus, conf. I 1 : quia fecisti [Deus] nos ad te et inquietum est cor nostrum, donec requiescat in te; vgl. IV 11. Theol. Plat. XIV 22 (Opera 307; M II 250f.). 23 Über die sich selbst verströmende Güte s. S. 138/139.

126

Compendium

Ba 693/M 317

mente, quantum spatii mentis discursui patet super se gradatim a clariori in clarius percurrenti et voluntati a meliori melius affectanti. Id vero eousque patet quousque nobis aliquid occurrat prorsus immensum, quod infinítate sua imponat infinito quodammodo progressui terminum. Deus est ipsa certitude et ipsum gaudium. Quamvis autem extremae dementiae videatur mente comprehendere velie quod mentem insuperabiliter mentisque stimulum, id est voluntatem exsuperat, non tarnen dementis est ullo pacto ab ipso saltern velie pienissime comprehendi. Forte enim quod incomprehensibile est, comprehendere nihil est aliud quam ab ipso feliciter comprehendi. Quid ergo? Volumusne a summa increataque forma quae nos hactenus clam complectitur manifestissime comprehendi, id est ita comprehendi, ut nos hoc ipsum minime lateat? Apprehendamus quoad possumus quae in formarum genere creatarum summa nobis occurunt. Summa vero in iis sunt, quae absque medio ad summam increatamque formam sese convertere possunt, ob id ipsum quod ab eadem sine medio processerunt. Eiusmodi autem omnes mentium species esse videntur, siquidem omnes divinitatem summam non in rebus aliis tantum, sed etiam caeteris omnino posthabitis, in ipsa, ut ita dicam, eius excellentia quadam quaerere, considerare,

Kompendium

der Piatonischen

Theologie

127

vom Geist um einen so großen Abstand an Dignität entfernt, wie dem Diskurs des Geistes an Spanne freisteht, wenn er stufenweise über sich hinaus zu immer deutlicherem vorangeht, und dem Willen, wenn er nach immer besserem strebt. Dies ist aber soweit offen, bis uns etwas durchaus Unermeßliches begegnet. Das setzt durch seine Unendlichkeit dem unendlichen Progreß gewissermaßen ein Ende24. Gott ist die Gewißheit und die Freude selbst.

Obwohl es aber von äußerster Geistlosigkeit zu zeugen scheint, mit dem Geist erfassen zu wollen, was den Geist und den Anreiz des Geistes, den Willen, unübertrefflich übertrifft, ist es dennoch nicht dumm, von ihm auf irgendeine Weise völlig erfaßt werden zu wollen. Denn vielleicht ist etwas erfassen, was unfaßlich ist, nichts anderes als von ihm glücklich erfaßt zu werden. Was also? Wollen wir uns von der höchsten ungeschaffenen Form, die uns bislang heimlich umfaßt, offensichtlich erfassen lassen, also so erfassen lassen, daß dies uns nicht im geringsten verborgen ist? Nehmen wir, so gut wir können, auf, was uns bei der Gattung der geschaffenen Formen als Höchstes erscheint. Das Höchste ist aber bei dem, was ohne Mittelglied sich in die höchste ungeschaffene Form konvertieren kann, und zwar deshalb, weil es aus eben diesem ohne Mittelglied hervorgegangen ist : derartig aber scheinen alle Arten von Geistern zu sein, insofern sie alle die höchste Göttlichkeit nicht bloß in anderen Dingen, sondern auch unter gänzlicher Absehung von allem anderen, sozusagen in ihre Hervorragendheit, immer suchen, erwägen und verehren können. Das Höchste im Universum sind also -

24 Pio tin VI 9, bes. 6: die Unendlichkeit des Einen/Guten. Bei Ficino ein weiteres Attribut Gottes in Theol. Plat. II 4. Vgl. De mente S. 184 ff.

128

Compendium

Ba 693/M 318

colere quotidie possunt. Summa igitur in universo post summum universi principium sunt mentes tamquam specula summi. Capiamus quae in mente sunt summa, id est intellectum ipsum et voluntatem. Rursus quod in intellectu est voluntateque summum, in ilio quidem supremum est intelligere, in hac autem velie. Verum quid est ulterius in intelligendo supremum? Quid iterum in volendo? In ilio quidem claritas summa, id est exactissima verorum omnium certitudo. In hoc autem plenissimum gaudium, id est integra bonorum omnium securaque fruitio. Nihil ulterius possumus vel fingere vel optare. Quid ergo Deus est? Certe quantum in mente ipsius speculo refulget ex eo, Deus est clarissima et certissima Veritas, omnium fons verorum. Verissima quoque claritas claritatum. Rursus bonitas infinita, quae dum seipsa gaudet, bonis gaudet innumeris. Gaudium quoque immensum seipso bonum, perque seipsum faciens ut alia bona sint, quibus gaudere quis possit. Ipsa certitude vel claritas idem atque ipsum gaudium.

est

Quando dicimus Deum claritatem esse vel gaudium, non claritatem in intellectu vel gaudium in volúntate ponimus, sed in seipsis. Neque volumus illic claritatem a gaudio discrepare, ubi Veritas a bonitate non discrepat. Est itaque claritas gaudens gaudiumque clarum. Claritas, inquam, gaudio non tanquam re alia gaudens, sed seipsa. Gaudium non alia claritate clarum quam seipso.

Kompendium

der Platonischen

Theologie

129

nach dem höchsten Prinzip des Universums - die Geister, gleichsam als Spiegel des Höchsten 25 . Wir erfassen, was im Geist jeweils das Höchste ist, nämlich den Intellekt selbst und den Willen; umgekehrt erfassen wir, daß es in bezug auf Intellekt und Willen ein Höchstes gibt: für jenen nämlich ist das Höchste das Erkennen, für diesen das Wollen. Aber was ist dann im Erkennen das Höchste, was wieder im Wollen? In j e n e m ist es die höchste Klarheit, nämlich die genaueste Gewißheit alles Wahren; in diesem die erfüllteste Freude, nämlich der volle und sichere G e n u ß aller Güter. Nichts können wir weiter ausdenken oder wünschen. Was also ist Gott? Mit Sicherheit ist Gott die klarste und gewisseste Wahrheit, die Quelle alles Wahren, wie es aus ihm im Geist, seinem Spiegel, zurückstrahlt. Auch ist er wahrste Klarheit der Klarheiten; wiederum ist er unendliche Güte, die, indem sie sich an sich selbst freut, sich an unzähligen Gütern freut; auch unermeßliche Freude, für sich selbst gut, die durch sich selbst bewirkt, daß anderes gut ist, an dem man sich freuen kann. Die Gewißheit oder Klarheit selbst ist dasselbe wie die Freude selbst. Wenn wir sagen, daß Gott die Klarheit ist oder die Freude, dann n e h m e n wir nicht an, daß die Klarheit im Intellekt oder Freude im Willen sei, sondern in sich. Auch wollen wir nicht, daß Klarheit sich dort von Freude unterscheidet, wo Wahrheit sich nicht von Güte unterscheidet. Es freut sich nämlich die Klarheit, und die Freude ist klar, und zwar so, daß die Klarheit sich an der Freude nicht wie an etwas anderem erfreut, sondern an sich selbst. Die Freude ist aus keiner anderen Klarheit klar als aus sich selbst.

25 Theol. Plat. XII 4, Opera 272 (2, 166 f. M).

130

Compendium

Ba 694/M 319

Sicut lumen non indiget oculo, sic Veritas non indiget mente.

Aliud quidem oculus est, aliud radiolus quidam ingenitus oculo, aliud rursus amplissimum Solis lumen. Radiolus ille propria est oculi claritas et in oculo, lumen vero illud communis est omnium claritas, claritas non egens oculo qui ad ipsam percipiendam est institutus. Similiter aliud mens, aliud eius propria claritas, id est radius ei insitus ab initio. Aliud Deus supereminens claritas claritatum, claritas proprie mente non indigens, quae ad ipsam percipiendam procreata videtur. Gaudium gaudiorum omnium, quae a volúntate qualibet sentiuntur, gaudium non indigens volúntate qua gaudeat, siquidem ipso dumtaxat gaudet unaquaeque voluntas. Summae certitudini nihil est incertum. Si Solis lumen esset non solum in causa visus visibilisque ipsius, sed etiam omnium causa causarum, ac visus ipse foret praestantissimus Solis effectus et proximus, cum perfectio a defectu dari non possit, immo vero opus sit visu perfecto ad indigum generandum, certe quicquid in visu bonum praecipue optandumque apparet, id totum ac multo excellentius esset in lumine. Optimum vero optabi-

Kompendium

der Platonischen Theologie

131

So wie das Licht nicht des Auges bedarf, so bedarf die Wahrheit nicht des Geistes. Das Auge, ein dem Auge eingeborener Strahl, und das weite Sonnenlicht sind jeweils etwas ganz verschiedenes 26 . Der Strahl ist eine dem Auge eigene Klarheit, die im Auge ist, das Licht aber ist die allem gemeinsame Klarheit, eine Klarheit, die nicht des Auges bedarf, welches ja genau dazu da ist, sie wahrzunehmen. Analog voneinander verschieden sind der Geist und die ihm eigene Klarheit - also der ihm von Anfang an eingegebene Strahl - und Gott, die überragende Klarheit der Klarheiten, eine Klarheit, die des Geistes eigentlich nicht bedarf, der offenbar dazu geschaffen ist, sie wahrzunehmen; die Freude aller Freuden, die von jedem Willen empfunden werden, eine Freude, die den Willen nicht nötig hat, an dem sie sich freut, wenngleich sich jeder Wille bisweilen an eben dieser freut. Der höchsten Gewißheit ist nichts ungewiß. Wenn das Sonnenlicht nicht nur beim Sehen und Sichtbaren ursächlich beteiligt, sondern auch die Ursache der Ursachen 27 von allem wäre und wenn das Sehen selbst der ausgezeichnetste und unmittelbare Effekt der Sonne wäre: da es Vollkommenheit aus Mangel nicht geben kann, vielmehr ein vollkommenes Sehen nötig ist, um Unvollkommenes zu erzeugen, muß gewiß alles, was beim Sehen gut und besonders wünschenswert erscheint, ganz und viel hervorragender im Licht vorhanden sein. Das

26 Zur Lehre von den Sehstrahlen s. Piaton, Timaios 4 5 b / c (Kommentar dazu Opera 1472-1474); Aristoteles, an. II 7, 418b 15 ff.; physiologisch angewendet bei Ficino, De amore VII 4/5. 27 Vgl. unten S. 146 ff.

132

Compendium

Ba 694/M 320

lissimumque est oculo, ut ñeque lumen lateat ipsum, neque, cum patet, offendat, immo vehementer oblectet. Lumen igitur, etsi non haberet oculum, tamen suo quodam pacto, id est seipso, tamquam sublimiore visu, sese clare videret coloresque omnes in se fonte colorum intueretur. Videret quoque se id esse quod omnes vident oculi, omnesque per ipsum videntes passim ipsum quoque videret. Mitto nunc quod Platonici putant lumen cuncta videre. Deus autem tota mentis causa est et próxima, ac mens opus est Dei summum. Quicquid ergo summopere menti est optandum tamquam optimum, totum hoc iam habet Deus modo supra quam dici possit prestantiore. Quid vero vel intellectui optabilius quam verorum omnium certitudo vel voluntati quam gaudium omnibus gaudens bonis? Non satis esset menti (eam interroga), non satis esset ipsi veritatis tota possessio, si earn Veritas ipsa quam possidet lateat. Non satis omne bonum, nisi iucundum occurrat et gaudeat omni. Claritas ergo divina quamvis intellectu proprie non utatur, sed tamen ipsam minime latet. Neque latet eam alicubi quicquam quando per ipsam ubique omnia patent. Quid enim alicui posset esse certi, si certitudini ipsi, per quam sunt certa omnia, non esset certuni? Ubi praecipuus mentium finis, ibidem est earum principium.

Sed répété hunc in modum superiora: effectus quilibet impellente natura causam appétit, ut unde effìcitur, ibi

Kompendium

der Platonischen Theologie

133

Beste und Wünschenswerteste ist aber für das Auge, daß ihm das Licht weder verborgen ist noch es angreift, wenn es sichtbar ist, sondern es vielmehr heftig ergötzt. Wenn das Licht auch kein Auge hätte, so sähe es doch sich selbst deutlich auf eine gewisse ihm eigene Weise, nämlich durch sich selbst wie durch ein noch feineres Sehen, und schaute sich selbst deutlich und alle Farben in sich als der Quelle der Farben28. Es sähe auch, daß es das ist, was alle Augen sehen, und alle, die durch es sehen, sähe es auch durchwegs selbst. Ich setze voraus, daß die Platoniker annehmen, das Licht sähe alles. Gott aber ist die ganze und unmittelbare Ursache des Geistes, und der Geist ist Gottes höchstes Werk. Was immer also der Geist als Bestes zu wünschen hat, das besitzt Gott schon in unaussprechlich vortrefflicher Weise. Was aber ist für den Intellekt wünschenswerter als die Gewißheit von allem Wahren? Oder für den Willen die aller Güte sich freuende Freude? Es wäre dem Geist (frage ihn) der ganze Besitz der Wahrheit selbst nicht genug, wenn ihm die Wahrheit selbst, die er besitzt, verborgen bliebe. Alles Gute wäre nicht genug, wenn ihm nicht das Angenehme widerführe und er sich nicht über alles freute. Die göttliche Klarheit ist sich also nicht im geringsten verborgen, wiewohl sie sich des Intellekts eigentlich nicht bedient. Noch auch ist ihr irgendwo etwas verborgen, wenn durch sie überall alles offenbar ist. Denn was könnte es für irgend jemanden gewisses geben, wenn es der Gewißheit selbst, durch die alles andere gewiß ist, nicht gewiß wäre. Wo das Hauptziel der Geister ist, da ist auch ihr Ursprung.

Aber wiederhole das oben gesagte in der Weise: Jede Wirkung strebt aus natürlichem Drang nach ihrer Ursache, 28 Die hier entfaltete Metaphorik des Sehens als Sich-selbstSehens paradigmatisch bei Plotin VI 9, 10/11; V 3, 8 u . ö .

134

Compendium

Ba 694/M 320

quoque perficiatur. Causam quidem proximam, si talis sit ut in se remotarum omnium causarum muñera colligat, appétit proprie, atque, sub huius forma, remotam. Propriam enim distinctamque formam a próxima potius causa quam a remota sortitur. Igitur in próxima illa, quam dixi, unde proprium principium habuit, proprium quoque collocai finem. Sicut ignis in concavo Lunae potiusquam in Sole vel Marte terminum assequitur naturalem, et aer in ignis concavo, non in Venere vel in love. Cum igitur mens quaelibet, natura duce, sive in summa ipsa omnium certitudine summe gaudente, sive in summo omnium gaudio summopere certo dumtaxat proprium praecipuumque finem statuat tamquam in causa próxima, quis non videat Deum ipsum, qui próxima est mentium causa, esse summam ipsam, ut ita dixerim, certitudinem gaudiumque supremum? Certitudinem, inquam, non alicuius vel in aliquo vel ad aliquid, sed suiipsius, in semetipsa et ad seipsam, alioquin ñeque pura simplexque esset, ñeque summopere summa. Cum igitur nulla ex parte terminum ullum mensuramque accipiat, immensa relinquitur. Quapropter nihil prorsus admittit incerti. Nihil igitur sive in ea, sive extra, vel esse vel fingi umquam potest quod ipsi certitudini sit incertum. Quae, dum supereminet omnia, super-

Kompendium

der Platonischen

Theologie

135

von der sie bewirkt wird und von der sie auch vervollkommnet wird. Eigentlich strebt sie die nächste Ursache an, falls sie eine solche ist, daß sie die Aufgaben aller entfernten Ursachen in sich versammelt, unter deren Form aber die entfernte. Denn die eigene bestimmte Form erhält sie eher von der nächsten Ursache als von der entfernten. Folglich setzt sie auch ihr eigenes Ziel in genannter nächster Ursache an, aus der sie ihr eigentümliches Prinzip hatte 29 , so wie das Feuer in der Mondsphäre eher seine natürliche Grenze findet, als in der Sonne oder dem Mars und die Luft in der Feuersphäre, und nicht in Venus oder Jupiter30. Da also jeder Geist von Natur aus sein eigenes und höchstes Ziel nur in die allerhöchste sich höchst erfreuende Gewißheit oder in die allergewisseste allerhöchste Freude setzt, als allernächste Ursache, sieht jeder ein, daß Gott selbst als nächste Ursache aller Geister sozusagen die höchste Gewißheit und Freude selbst ist. Gewißheit freilich nicht von etwas oder in etwas oder über irgend etwas, sondern von sich selbst, in sich selbst und über sich selbst; sonst wäre sie nicht rein und einfach noch die allerhöchste. Da also die Gewißheit von nirgendwo irgendeine Grenze oder Maß erhält, bleibt sie nur noch unermeßlich. Deshalb läßt sie überhaupt nichts Ungewisses zu. Nichts, was der Gewißheit selbst unsicher wäre, kann in oder außer ihr 29 F. knüpft an die traditionelle aristotelische Ursachen-Lehre an, derzufolge die Wirkungen an Notwendigkeit verlieren, je weiter sie von der ersten Ursache durch vermittelnde Ursachen entfernt sind (ζ. B. Thomas, STh 114,13 ad 3). Daß die Wirkungen ihre Ursachen „anstreben", ist eine Kontamination dieser Lehre mit der Prinzipienlehre des Neuplatonismus, der das aus dem Einen hervorgegangene sich zurückwenden läßt. Vgl. hierfür z. B. De amore II 3. 30 In aristotelischer Tradition (s. Ps.-Aristoteles, De mundo 2) sind die vier Elemente von den Sphären des Mondes und der Planeten wie von Hohlkugeln umgeben.

136

Compendium

Ba 695/M 321

eminenter est omnia. Neque aliunde in essendo agendoque dependet, sed inde alia in utroque dependent. In qua cum non aliud sit esse ipsum atque certam esse, immo certitudinem esse, nimirum dum suiipsius est, similiter suiipsius est certa, immo, ut loquar rectius, certitudo. Ac dum suipsius, quae cuncta mirabili virtute complectitur, certa est, proculdubio est certa cunctorum, immo vero omnium certitudo. Proinde lumen quodcumque videtur nihil est aliud quam purae efficacisque formae spiritalis quaedam amplificatio. Ubi igitur formae puntas efficaciaque minime terminatur, ibi lux pullulât infinita, inde lumen emanat prorsus immensum. Profecto quod est in corporibus perspicuitas, hoc est in spiritibus perspicacia. Quod rursus in corporibus visibile lumen, hoc in spiritibus est perfectio7. Unde corpora quae ad spiritum magis accedunt, facilius uberiusve refulgent. Atque contra, quae fulgent sola spiritalem ex se propagant qualitatem. Igitur in summo spiritu lux viget et perceptio8 summa. In eo idem est claritas atque perspectio. Non dico Deum esse quamdam perspiciendi virtutem, quae perspiciendi egeat actu, neque rursus ipsum appello id quod perspicere nominatur, ne vel nixus quidam ad aliud videatur vel compositum. Sed ipso actus

7 8

perfectio M wie Ba; dem Kontext nach muß aber perspectio (so auch Garin) angenommen werden. perceptio: perspectio Ba, Garin.

Kompendium der Platonischen Theologie

137

sein oder ausgedacht werden, die übersteigendermaßen alles ist, indem sie alles übersteigt, und die von nirgendwo im Sein oder Wirken abhängt, von der vielmehr die anderen in beidem abhängen; da in ihr Es-Selbst-Sein nichts anderes ist als Gewiß-Sein, ja sogar Gewißheit-Sein, ist sie, solange sie sich selbst gehört, ihrer selbst auch gewiß, vielmehr, richtiger gesagt, die Gewißheit ihrer selbst. Und solange sie sich ihrer selbst gewiß ist, die sie mit wunderbarer Kraft alles umfaßt, ist sie zweifellos auch aller gewiß, richtiger gesagt, die Gewißheit aller. Daher ist das Licht, was immer es sieht, nichts anderes als eine Ausweitung der reinen und wirksamen geistigen Form31. Wo also die Reinheit und Wirksamkeit der Form nicht im Geringsten begrenzt wird, dort strömt das unendliche Licht, von dort breitet sich ein unermeßliches Licht aus. Was in den Körpern Sichtbarkeit ist, das ist Klarsieht in den Geistern. Was wiederum in den Körpern sichtbares Licht ist, ist in den Geistern Schauen. Deshalb strahlen die Körper, die näher an den Geist herankommen, leichter und reichlicher zurück, und umgekehrt, was alleine strahlt, verbreitet geistige Qualität aus sich. Also wohnt im höchsten Geist höchstes Licht und Schauen. In ihm sind Klarheit und Schauen dasselbe32. Ich sage nicht, daß Gott eine Fähigkeit zu Schauen ist, die des Aktes des Schauens bedürfte, auch nenne ich ihn wiederum nicht das, was Schauen genannt wird, damit er nicht als Aufstieg zu etwas anderem oder als Zusammengesetztes erscheint, sondern

31 Vgl. De lumine XVI (Opera 984, desgl. 720): [Lumen] est amplificatici quaedam subita et latissima (...) sese (...) largiens. Dies unter Berufung auf Platon, Politela, 508 b-c (Sonnengleichnis). 32 Theol. Plat. I 6, Opera (1,70 M): Est enim Deus perspicacissima ventas et verissima perspicatio sive perspectio.

138

Compendium

Ba 695/M 322

vocabulo Deum perspicientiam nuncupo per se existentem nec alia claritate quam seipsa perspicientem. Verum quid modo dixi perspicientem? Quis enim non improprie dixerit visio videt vel sapienta sapit? Non tarnen vel sapientia insipida est vel visio caeca. Similiter ipsa perspicientia neque proprie dicenda est perspicere quicquam, neque rursus aliquid alicubi esse, quod non perspicuum illi sit atque perspectum. Sicut enim perspicientiae huic vel illi perspecta sunt haec et illa, sic ipsi summae infinitaeque perspicientiae perspicua perspectaque sunt omnia. Ibidem quoque summa abundat laetitia, ubi summa dantas emicat, quae laetitiae est spiritalis origo. Immo idem est ibi dantas atque laetitia. Nihil enim vel in oculo, qui in corpore maxime spiritalis apparet, vel in ipso spiritu aliud quicquam exhilaratio est quam vel claritas ipsa vel illuminatio congrua. Quisnam ambigit omne ibi gaudium dominari ubi est omne bonum? Siquidem gaudium tamquam optimum maxime omnium exoptatur atque ipsum est tum boni ipsius circumfundentis splendor et gratia, tum cricumfusae virtutis amplificatio quaedam circa bonum. Deus est claritas laetissima

et laetitia

clarissima.

Ubi igitur volumus rectissime loqui, Deum ipsum neque intellectum proprie nominamus, ne intelligendi egeat actu,

Kompendium der Platonischen Theologie

139

mit dem Wort für den Akt nenne ich Gott die Schau, die aus sich existiert und durch keine andere Klarheit schaut als durch sich selbst. Aber warum sage ich nur „er schaut"? Denn sagt man nicht ganz passend „das Sehen sieht" oder „die Weisheit weiß"? Ist doch die Weisheit nicht unwissend oder das Sehen blind. Ähnlich kann man weder eigentlich sagen, daß die Schau irgend etwas erschaut, noch umgekehrt, daß es irgendwo etwas gibt, das ihm nicht schaubar wäre und geschaut. Denn so wie für diese oder jene Schau dies oder jenes geschaut ist, so ist der höchsten und unendlichen Schau selbst alles schaubar und erschaut. Eben dort gibt es auch überreichliche Freude, wo die höchste Klarheit hervorblitzt, die der Ursprung der geistigen Freude ist. Denn dort sind ja Klarheit und Freude dasselbe33. Denn sowohl im Auge, das im Körper am meisten geistig ist, als auch im Geist selbst gibt es keine andere Erheiterung als die Klarheit selbst oder die entsprechende Erleuchtung. Wer bezweifelt auch, daß alle Freude dort herrscht, wo alles Gute ist? Da doch die Freude als das Beste von allem am meisten erwünscht wird, und sie selbst der Glanz und die Grazie des sich verströmenden Guten ist und zugleich eine Ausbreitung der verströmenden Kraft des Guten34. Gott ist die freudigste Klarheit und klarste Freude.

Wo immer wir also ganz korrekt sprechen wollen, nennen wir Gott selbst weder eigentlich Intellekt, damit er nicht 33 Augustinus, conf. X 23,33 identifiziert Freude und Wahrheit : Beata quippe vita est gaudium de ventate. 34 Ps.-Dionysios Areopagita, div. nom. IV 1: Das Gute als wesentlich Seiendes teilt seine Güte durch das Sein allem Seienden mit (vgl. IV 20). Zitiert bei Thomas, ScG I 37: Bonum est diffusivum sui et esse, auch STh I 5, 4 ob. 2 u. ö. Vgl. Opera 1052: Ipsum bonum sicut et sol per Septem gradus suum diffundit lumen (vgl. Opera 1075).

140

Compendium

Ba 695/M 322

neque etiam ipsam intelligentiam, ne in quodam intellectu maneat et alio quodam lumine repleatur; immo claritatem ipsam mirifice laetam laetitiamque clarissimam, quam ita omnes ambiunt intellectus, sicut astra omnia solem. Claritatem, inquam, radiis certitudinis suae cuneta videntem et ut videant videanturque efficientem, flammis insuper gaudii sui tamquam voluptate omnium genitrice singula facientem, facta quoque foventem, fovendo rursus vivificantem, viva sensu moventem mota ratione trahentem, rapta deinde mente sistentem, consistentia tandem suiipsius veritate bonitateque prorsus implentem. Deus volendo res facit et movet potiusquam intelligendo.

Sed delectat nescio quomodo ab eo quod in corporibus est pulcherrimum, ad optimum spiritum similitudine quadam rursus ascendere. Ergo quemadmodum Sol, Dei similitudo, eadem luce in seipso fulget et suo pacto calet, eodem quoque radio singula illustrât et calefacit, verumtamen calefaciendo potiusquam illustando res facit et movet, sic Deus ipse, Solis exemplar, eadem claritate et claret ipse sibi suo modo intelligendo, et gaudet ipse secum suo

Kompendium

der Platonischen Theologie

141

des Aktes des Erkennens wirklich bedarf, noch auch die Intelligenz selbst, damit er nicht in einem Intellekt bliebe, und von einem anderen Licht erfüllt würde. Vielmehr nennen wir ihn die wunderbar frohe Klarheit, die klarste Freude, die alle Intellekte so umgeben, wie alle Sterne die Sonne. Die Klarheit nämlich, die alles mit den Strahlen ihrer Gewißheit sieht und bewirkt, daß alles sieht und gesehen wird35, die zudem mit den Flammen ihrer Freude als der alles zeugenden Wollust das Einzelne macht, das Gemachte auch hegt, im Hegen belebt, das Lebende mit dem Sinn bewegt, das Bewegte mit Vernunft zieht, das Emporgerissene sodann mit dem Geist stillt und schließlich durch seinen eigenen Bestand mit Wahrheit und Güte ganz ausfüllt. Gott macht und bewegt die Dinge eher durch seinen Willen als durch sein Erkennen.

Aber es macht irgendwie Freude, von dem, was das Schönste in den Körpern ist, durch eine Ähnlichkeit zum besten Geist wieder aufzusteigen36. Wie also die Sonne als Gleichnis Gottes mit demselben Lichte in sich selbst leuchtet und aus sich wärmt und mit demselben Strahl das Einzelne erleuchtet und erwärmt, dabei freilich eher durch Wärmen als durch Erleuchten die Dinge macht und bewegt, so auch Gott als Urbild der Sonne: Mit derselben Klarheit klärt er für sich auf seine Weise durch Erkennen 35 Augustinus, Soliloquia 11,3: Deus intelligibilis lux, in quo et a quo et per quem intelligibiliter lucent, quae intelligibiliter lucent omnia. Ebd. 1 8 , 15: Ergo quomodo in hoc sole tria quaedam licet animadvertere, quod est, quod fulgit, quod illuminât: ita in ilio secretissimo D e o quem vis intelligere, tria quaedam sunt, quod est, quod intelligitur, et quod caetera facit intelligi. 36 Vgl. De amore VII und die Vorlage bei Piaton, Symposion. Das folgende faßt Theol. Plat. II 7 - 9 zusammen.

142

Compendium

Ba 695/M 323

modo volendo. Eiusdem praeterea claritatis radiis, ut vocabulis aliquando loquamur humanis, intelligit atque vult omnia. Verum non tam intelligendo procréât quam volendo. Unde omnibus et animalibus et naturis videtur esse tributum, ut appetitu quodam pro natura cuiusque ac etiam voluptate sibi similia generent. Meminisse vero debemus Deum sicut intelligendo se intelligit alia, quae sunt quidam ipsius intelligentiae radii, sic volendo se, id est seipso gaudendo, velie alia simul illisque gaudere, quae sunt quidam affectus ipsius effectus. Genusque actionis eiusmodi, scilicet voluntarium, quia perfectissimum est, Deo agentium perfectissimo convenire. Quod enim volúntate agit libera praestantius agit quam quod impulsu naturae necessario impellitur ad agendum. Felicissima certe est actio in qua auctor suae actionis est dominus, ut ipse finem et modum et mensu-

Kompendium der Platonischen Theologie

143

und erfreut sich mit sich auf seine Weise durch Wollen. Außerdem erkennt und will er alles mit den Strahlen derselben Klarheit, um es einmal mit menschlichen Worten auszudrücken. Aber nicht so sehr erkennend als wollend erzeugt er. Daher scheint es allen Tieren und Naturdingen aufgegeben, daß sie durch ein Erstreben - nach der Natur eines jeden - und auch durch Wollust ihresgleichen erzeugen". Wir müssen uns aber daran erinnern, daß Gott - so wie er sich erkennend andere Dinge erkennt38, die gewissermaßen Strahlen seiner Intelligenz sind - so auch sich wollend, also sich seiner selbst freuend, zugleich andere Dinge will und sich an ihnen freut, die gewissermaßen die Wirkung seiner eigenen Zuneigung sind. Und derartiges Wirken, nämlich willkürliches, ist, weil es am vollkommensten ist, Gott als dem vollkommensten der Wirkenden am angemessensten. Denn was mit freiem Willen wirkt, wirkt edler als das, was durch einen notwendigen Anstoß der Natur zum Wirken getrieben wird. Am glücklichsten ist also bestimmt das Wirken, in dem der Urheber

37 Thomas, ScG I 72: Cum igitur Deus sit intelligens, oportet quod sit volens. Ebd. I 75 : Quod Deus volendo se vult etiam alia. Allerdings betont Thomas, ebd. III 26 (5. Argument), den Vorrang des Intellekts vor dem Willen : intellectus autem voluntatem per modum quo finis movet, nam bonum intellectum est finis voluntatis. Von einer Art Naturalisierung des göttlichen Wollens/Erkennens/ Erschaffens hängt die nachfolgende Beweisführung ab. Theol. Plat. XVIII1 (Opera 397; M III 176f.): Das göttliche Schaffenwollen und das Streben der Kreatur zum Ursprung machen für F. die Weltordnung aus, wie im folgenden Abschnitt noch zu sehen sein wird. 38 Ps.-Dionysios Areopagita VII 2: Divina sapientia seipsam cognoscens seit alia; zit. bei Thomas, ScG I 49.

144

Compendium

Ba 696/M 323

ram praescribat agendi, finem quoque proprium certasque vias operibus suis instituât. Profecto, si Deus ita naturali qualitate faciat sicut ignis calefacit caliditate, maxime omnium compositus erit, quandoquidem a naturalibus formis eius inter se distinctis, res innumerabiles procreabit, praesertim illas quae sola possunt creatione produci, scilicet materiam ipsam et formas vel separatas a materia vel separabiles. Praeterea non vicissitudine quadam distribuet singula, sed cuncta simul effundet, immo confundet. Adde quod cum sit actus immensus, repente omnia coget, agitabit sphaeras mundi momento. Nihil relinquet in universo contingens, consultationis auferet libertatem. Nunc vero quoniam omnia efficit volúntate, idcirco ea potissimum mensura quo vult nimirum facit et movet et sistit. Non difficile intelligit universa in quo intelligere idem est atque esse. Non difficile singula facit et curat, in quo idem est facere quod et velie iam facere. Intelligit ille omnia vera dum seipsum intelligit omne verum. Vult etiam bona omnia, dum vult seipsum qui est omne bonum. Alia divinae intelligentiae voluntatisque ratio est, alia est humanae. Homo tunc vere ipsas rerum rationes intelligit, quando ita praecipue ut sunt intelligit. Hae autem idcirco sunt verae, quoniam ita sunt ut Deus intelligit, qui ipsa Veritas est, qua et vera sunt omnia et vere passim intelliguntur. Humana voluntas singula ideo vult, quia bona. Singula vero creata propterea bona sunt, quod haec ipsa vult Deus, qui ipsa bonitas est, qua et bona sunt et bene singula volumus.

Kompendium der Platonischen Theologie

145

Herr seines Wirkens ist, so daß er selbst Zweck, Weise und Maß des Wirkens vorschreibt, und auch seinen eigenen Zweck und bestimmte Methoden seinen Werken vorgibt. Denn wahrhaftig, wenn Gott derart mit natürlicher Qualität wirkte, wie das Feuer mit Wärme wärmt, wäre er das von allem am meisten zusammengesetzte, insofern er aus seinen natürlichen, untereinander verschiedenen Formen unzählige Dinge erschüfe, vor allem jene, die nur durch Erschaffung hervorgebracht werden können, nämlich die Materie selbst und die Formen, sowohl die von der Materie getrennten als auch die trennbaren. Außerdem würde er nicht in irgendeinem Wechsel einzelnes austeilen, sondern alles zugleich ausgießen oder gar zusammengießen. Hinzu kommt, weil er eine unermeßliche Wirkung wäre, daß er alles im Nu zusammenfuhren und die Weltkugeln in einem Augenblick in Bewegung setzen würde. Nichts ließe er im Universum zufällig, die Freiheit der Überlegung würde er aufheben. Da er aber alles in Freiheit bewirkt, so macht, bewegt und beruhigt er alles in genau dem Ausmaß, in dem er will. Mühelos erkennt der alles, bei dem Erkennen und Sein dasselbe sind. Mühelos macht und hegt der das Einzelne, bei dem Machen und Noch-Machen-Wollen dasselbe sind. Er erkennt alles Wahre, insofern er sich als ganz wahr erkennt. Er will auch alles Gute, insofern er sich selbst, der alles Gute ist, will. Göttliche Intelligenz und Wille bedeuten etwas anderes als menschliche. Der Mensch erkennt dann die Begriffe der Dinge wahrhaft, wenn er sie vornehmlich erkennt, wie sie sind. Diese aber sind insofern wahr, als sie so sind, wie Gott sie erkennt, weil er die Wahrheit selbst ist, durch die auch alles wahr ist und allenthalben wahrhaft erkannt wird. Der menschliche Wille will einzelnes deshalb, weil es gut ist. Die einzelnen Kreaturen aber sind deshalb gut, weil Gott selbst sie will, weil er die Güte ist, durch die sowohl sie gut sind, als auch wir das Einzelne gut wollen.

146

Compendium

Ba 696/M 324

Deus omnibus providet, praecipue mentibus, quia sunt ex eo proxime procreatae. Unde constat causam primam voluntatis suae benignitate omnibus providere, quia maxime sua sunt omnia. Certe cum sit maxime causa, tam in conservando perficiendoque causa est quam efficiendo. Praecipue ad summum bonum summa pertinet Providentia, quae nihil est aliud quam diffusio et conservado boni. Constat praeterea sequentes causas, dum a prima generandi fecunditatem proclivitatemque accipiunt, providendi quoque suis ab eadem diligentiam adipisci. Si quis vero neget mundum tum artificiosissima ratione, tum volúntate benignissima gubernari, hic mihi videtur ñeque rationabilem pulcherrimumque rerum ordinem in seipsis et invicem et ad totum, neque mirabilem singulorum commoditatem ubique singulis aptissime servientem mutuumque rerum usum consideravisse. Sane commoda habitatio tamquam finis fabrum movet, quasi agentem causam, ut certam quamdam domus formam excogitet, ob quam formam rursus certam quaerat materiam. Ubi finis movet agentem, agens formam, forma materiam. Idem accidit in civilibus bellicisque consiliis. Quo fit ut finis sit

Kompendium der Platonischen Theologie

147

Gott sorgt für alles, besonders die Geister, weil sie aus ihm als erstes erschaffen sind.

Daher steht fest, daß die erste Ursache mit dem Wohlwollen ihres Willens für alles sorgt, weil alles ihr gehört39. Da sie im höchsten Grade Ursache ist, ist sie gewiß Ursache im Erhalten und Vervollkommnen wie im Bewirken. Die höchste Vorsehung gehört vorzüglich zum Höchsten Gut, weil sie nichts ist als die Ausbreitung und Erhaltung des Guten. Fest steht ferner, daß die nachfolgenden Ursachen - insofern sie von der ersten die Fruchtbarkeit und Neigung zum Zeugen übernehmen - auch die Sorgfalt der Vorsehung für das Ihrige erhalten. Wenn aber jemand bestreitet, daß die Welt von einer allerkünstlichsten Vernunft und einem allergütigsten Willen regiert wird, dann hat er wohl weder die vernünftige und allerschönste Ordnung der Dinge in sich und untereinander und auf das Ganze hin bedacht noch das wunderbare Zusammenpassen, das überall dem Einzelnen bestens dienlich ist, noch den gegenseitigen Nutzen der Dinge. Das bequeme Wohnen aber motiviert als Zweck den Handwerker wie eine wirkende Ursache, damit er eine bestimmte Hausform ausdenkt, um derentwillen er wiederum das Material aussucht40. Dabei bewegt der Zweck den Wirkenden, der Wirkende die Form, die Form die Materie. Dasselbe gibt es bei den politischen und kriegerischen Beschlüssen. Daher kommt es, daß der Zweck die 39 Theol. Plat. II 13. 40 Zu den folgenden teleologischen Argumenten grundlegend : Aristoteles, phys. II 2-3 (der Vergleich mit dem Haus II 8, 199 a 12), aber für den Aufweis einer leitenden Intelligenz s. Platon, Nomoi X 903 b ff. Für die christliche Theologie des Mittelalters sind sowohl die Natur als auch die menschlichen Handlungen auf Gott als letztes Ziel gerichtet: Thomas, STh I 103, 1. F. s Philebos-Kommentar widmet Kap. 1-3 dem bonum als finis.

148

Compendium

Ba 696/M 325

causa causarum, ideoque omnes causas antecedat. Sunt autem naturalia omnia certi alicuius finis gratia instituta, cum singula ad singulos potissimum usus conducere videantur. Puta, claviculus palmitis, quem capreolum vocant, ad hoc natus est ut vitem proximae arbusculae vinciat. Hie vinciendi actus causa est ut ortus sit capreolus. Quia vero quod nullo modo est, id neque esse potest essendi causa effectui cuiquam neque causas omnes movere necessarium est actum huiusmodi et ante capreolum et ante reliquas omnes vitis causas extitisse. Non autem extitit in corporibus nisi novissime. Ergo in natura quadam incorporali, rectrice corporum, extitit longe priusquam in palmite. Quae quidem natura vitis artifex gratia talis actus per formam suam capreoli9 in tali quadam materia figuravit. Sed utrum actus huiusmodi in natura illa praefuit secundum naturae modum an secundum propositum voluntatis? Certe secundum utrumque. At ex ilio idem erat quod agentis forma quaedam et effectue ipsius exemplar, ex hoc erat finis. Ubi autem artificiosae voluntatis propositum est, ibi mens. Quapropter praeest omnibus corporalibus Divina mens, quae corporalium omnium formas intellectuali modo complectitur, singula ad suos dirigit fines, ad unum denique cuncta. Maxime vero omnium mentes non solum

9

formam om. M.

Kompendium

der Platonischen

Theologie

149

Ursache der Ursachen41 ist und daher allen Ursachen vorangeht. Es sind aber die Naturdinge alle um eines bestimmten Zweckes willen eingerichtet, so daß je Einzelnes zu ganz besonders einzelnem Gebrauch zu fuhren scheint. Zum Beispiel die Ranke des Weinstocks, die Strebe, ist dazu da, den Weinstock an den Stab festzubinden. Dieser Akt des Festbindens ist die Ursache dafür, daß die Strebe entstanden ist. Weil aber, was keineswegs existiert, auch nicht Seinsursache für irgendeine Wirkung sein noch alle Ursachen bewegen kann, ist es notwendig, daß dieser Akt vor der Strebe und vor allen übrigen Ursachen des Weinstocks bestanden hat42. Er bestand aber in den Körpern erst zu allerletzt, folglich existierte er in einer unkörperlichen, die Körper steuernden Natur, lange bevor er im Weinstock war. Die Kunstbildner-Natur des Weinstocks bildete dank eines solchen Aktes durch seine Form die Form der Strebe in einer solchen Materie. War aber ein solcher Akt in jener Natur vorher da nach Weise der Natur oder nach Vorsatz des Willens? Gewiß nach beiden, nämlich nach jener war es dasselbe wie die Form des Wirkenden und ein Modell der Wirkung selbst, nach diesem war es der Zweck. Wo aber der Vorsatz eines kunstreichen Willens ist, da ist auch Geist. Deshalb steht allen körperlichen Dingen der göttliche Geist voran, der die Formen aller körperlichen Dinge geistig umfaßt, das Einzelne zu seinem jeweiligen Zweck und alles schließlich auf eines hin leitet. Am meisten aber von allen hegt und liebt Gott nicht nur die Engelsgeister, sondern auch die menschlichen, als seine erstgeborenen 41 Sextus, primo princ ; der Sache nach bei Thomas, STh 1 5 , 4 ; I 44,4; I—II 1, 2; [In Poster, 16 (15). Nur wenn Finis als causa causarum, nicht wenn Geist oder Gott]. Theol. Plat. XIV 2 (Opera 307f.; M II 252) stellt den Zweck als „Ursache der Ursachen" im Sinne eines Strebevermögens in allem dar. 42 Vgl. oben Einführung S. 56/57 über die Unzeitlichkeit der Form.

150

Compendium

Ba 697/M 325

angelicas, verumetiam humanas, Deus curat et diligit, tamquam filias ex eo proxime procreatas. Cum enim indiuiduae et separabiles a materia separataeve sint, non possunt ex praecedente vel parte vel materia confici. Ex nihilo vero quod infinite ab ipso esse distare videtur, agere aliquid solius infinitae virtutis est opus. Omnes mentes sunt separabiles a materia,

individuae, sempiternae.

Quod autem mentes indivisibiles separataeque vel separabiles a materia sint, inde patet, quoniam rationem ipsam indivisibilem ac penitus separatam, per quam res multae indivisibiles separataeque sunt et noscuntur; rationem, inquam, ipsam proprie in quantum individua separataque est, attingunt. Quemadmodum vero lineae indivisibile centrum non aliter quam per ipsarum indivisibile punctum, sic nos individuam secretamque naturam non nisi per virtutem individuam et secretam attingere possumus. Deus quibus esse producendo tribuit temporale, iisdem providendo bene esse temporale procurât. Quibus autem

Kompendium der Platonischen Theologie

151

Töchter43. Denn, da sie einzeln und von der Materie trennbar oder auch getrennt sind, können sie nicht aus einem vorhergehenden Teil oder Stoff gebildet werden: Aber es bedarf einer einzigen unendlichen Kraft, um aus Nichts, das vom Sein schlechthin unendlich weit entfernt scheint, etwas zu bewirken44.

individuell,

Alle Geister sind trennbar von Materie

und

ewig.

Daß aber die Geister unteilbar und abgetrennt oder trennbar von Materie sind, ist daraus klar, daß sie die unteilbare und gänzlich abgetrennte Vernunft berühren, durch die viele Dinge unteilbar und abgetrennt sind und als solche erkannt werden; diese Vernunft berühren sie gerade, insofern sie individuell und abgetrennt ist45. Auf die Weise wie die Linien das unteilbare Zentrum nicht anders berühren als durch einen unteilbaren Punkt auf ihnen46, so können auch wir die individuelle abgesonderte Natur nur durch eine individuelle abgesonderte Kraft berühren. Wem Gott im Erschaffen ein zeitliches Sein zuteilt, dem teilt er fürsorglich auch ein zeitliches Wohlsein zu. Wem er aber in

43 Thomas, STh I 22, 3 berichtet als einen platonischen Irrtum die Annahme, Gott wirke in seiner Vorsehung vorrangig für das Geistige, schließt aber nicht aus, daß sie vermittels der Geister ausgeübt werde. 44 Beweis, daß die menschliche Seele aus Nichts geschaffen ist: Thomas, ScG II 87. 45 Zur Lehre von den Geistern und Seelen ausfuhrlich Theol. Plat. IV 1, unter Berufung auf Piatons Timaios, Vgl. auch De amore I 2. 46 Ps.-Dionysios Areopagita, div. nom. 5, 821 A, F. s Kommentar Opera 1095, vgl. De amore II 3.

152

Compendium

Ba 697/M 326

aeternum esse sua incomparabili largitate concessit, iis bene esse non tam ad tempus dirigit quam in aeternum. Unde his res ita disponit in tempore, ut quamvis non videantur his bonae, qui ipsam non vident aeternitatem, tarnen sint apud illos optimae semper, qui quo pacto tempus aeternitati serviat non ignorant10. Quod autem mentibus vitam tribuerit sempiternam, nunc ab ipsa ratione et luce breviter perspicua rationis luce monstrabimus. A ratione primum hunc in modum. Si rei cuiusque ratio quae propria speciei definitione monstratur aliter se habere non potest, quicumque dubitat utrum summa ipsa rationum ratio aliter habere se possit, is tunc vel ratione non utitur vel abutitur. Summa igitur ratio est aeterna, sive potius est aeternitas. Haec mentibus omnibus passim sese insinuât, qua ubicumque placuerit pro arbitrio possint ratiocinari. Atque eousque quamdam aeternitatis suae largitur proprietatem, quousque sub rationis ipsius muñere, hoc est ratiocinatione, aeternae rerum rationes, in quantum aeternae sunt, capiuntur, ac rationis aeternitas ratioque aeternitatis sua quadam definitione comprehenditur. A luce deinde hunc in modum. Immensam Divini Solis lucem inexstinguibilem esse non dubitant quicumque umbratilem eius imaginem in caelesti Sole lucentem exstingui numquam animadvertunt. Siquidem in summo puroque actus cuiuslibet actu nulla potest passio vel priva-

lo apud illos . . . q u i . . . non ignorant: apud ilium . . . q u i . . . non ignorât Ba; der Singular ist richtig, weil Gott (Deus) das Subjekt ist.

Kompendium

der Platonischen Theologie

153

seiner unvergleichlichen Großzügigkeit ewiges Sein zugesteht, dem fuhrt er Wohlsein nicht nur auf Zeit zu, sondern in Ewigkeit. Deshalb ordnet er für sie die Dinge in der Zeit so, daß sie - wiewohl sie denen nicht gut erscheinen, die die Ewigkeit selbst nicht sehen - dennoch bei dem immer am besten stehen, der weiß, wie die Zeit der Ewigkeit dient. Daß er aber den Geistern ein ewiges Leben zugeteilt hat, werden wir nun aus dem Begriff selbst und dem Licht mit Hilfe des klarsehenden Lichtes der Vernunft zeigen. Erstens aus der Vernunft: Wenn der Begriff einer Sache, der aus der eigenen Definition der Art gezeigt wird, sich nicht anders verhalten kann, dann gebraucht jeder, der zweifelt, ob der höchste Begriff aller Begriffe sich anders verhalten kann, entweder seine Vernunft nicht oder er mißbraucht sie. Der höchste Begriff ist also ewig, oder vielmehr die Ewigkeit47. Dieser teilt sich allen Geistern mit, damit sie, wo es gefallt, nach Gutdünken denken können. Und er spendet etwas von seiner Ewigkeit so weit aus, wie im Bereich dieser Vernunft, das heißt durch das Denken, die ewigen Begriffe der Dinge, insofern sie ewig sind, verstanden werden und die Ewigkeit des Begriffs und der Begriff der Ewigkeit jeweils in ihrer Definition erfaßt werden48. Zweitens aus dem Licht: Daß das immense Licht der göttlichen Sonne unauslöschlich ist, bezweifelt niemand, der wahrnimmt, daß dessen schattenhaftes Abbild, das in der himmlischen Sonne leuchtet, niemals ausgelöscht wird. Wenn aber im höchsten und reinsten Akt jedes Aktes keinerlei Leiden oder Privation ausgedacht werden

47 Thomas, STh 110 : Nec solum est aeternus [Deus], sed est sua aeternitas. Theol. Plat. II 5, Opera 97 (1, 84 f. M). 48 Beweis der Unsterblichkeit bzw. Ewigkeit der Seele aus der Teilhabe an der Erkenntnis der ersten Prinzipien: Thomas, Quaestiones de anima XIV ad 15 und 16.

154

Compendium

Ba 697/M 326

tio fingi, sicuti neque vel in potentia infima ullus actus, vel in mera privatione habitus ullus. Lux ilia supercaelestis per omnes mentes supercaelestia cogitantes quasi stellas pro natura cuiusque late diffunditur. Eatenus vero suam illam inexstinguibilem servat proprietatem, quatenus per earn quod exstingui non potest ab eo quod exstingui potest quadam rationis luce discernitur, et qua ratione vel hoc exstinguibile sit vel illud inexstinguibile demonstratur. Nempe sub ratione inexstinguibilis proprietatis lux ilia tributa est, ubicumque ratio inexstinguibilis cuiusque naturae perspicitur. Et summus ipse naturae lucisque cuiusque fons siti quadam naturali proprie quaeritur, amatur et colitur.

Kompendium der Platonischen Theologie

155

kann, so auch in der niedrigsten Potenz kein Akt oder in der bloßen Privation keine Eigenschaft. Jenes überhimmlische Licht verteilt sich weithin entsprechend der jeweiligen Natur über alle Geister, die Überhimmlisches denken, wie über Sterne. Es bietet seine unauslöschliche Eigenschaft so weit an, wie man dadurch mit einem Licht der Vernunft unterscheiden kann, was nicht ausgelöscht werden kann, von dem, was ausgelöscht werden kann, und beweisen kann, warum das eine löschbar ist oder das andere unauslöschbar. Denn unter dem Begriff der unverlöschlichen Eigenschaft ist dieses Licht ausgeteilt worden, wo immer der Begriff einer unauslöschlichen Natur wahrgenommen wird. Und die oberste Quelle der Natur und jedes Lichtes wird mit einem natürlichen Durst eigentlich gesucht, geliebt und verehrt.

156

De mente

Ba 675/M 327

QUAESTIONES QUINQUE DE MENTE

Prima. Utrum motus eius in finem aliquem certum dirigatur necne? Secunda. Utrum motionis eius finis sit motus an status? Tertia. Utrum sit particulare quiddam an universum? Quarta. Utrum optatum finem suum quandoque consequi valeat? Quinta. Utrum postquam adepta est finem, aliquando inde discedat?

MARSILIUS FICINUS FLORENTINOS CONPHILOSOPHIS SUIS. S. D. Sapientia, summo Iovis omnium creatoris capite nata, philosophis suis amatoribus praecipit, ut si modo re amata potiri quandoque desiderant, summa semper capita rerum potiusquam vestigio infima petant. Pallas enim divina «progrenies, quae cáelo demittitur alto», altas «ipsa colit

Fünf Fragen über den Geist

157

Fünf Fragen über den Geist

Die erste, ob die Bewegung des Geistes auf irgendein bestimmtes Ziel gerichtet ist oder nicht. Die zweite, ob das Ziel seiner Bewegung selbst Bewegung oder Ruhe ist. Die dritte, ob es etwas Besonderes oder das Allgemeine ist. Die vierte, ob er jemals in der Lage ist, ein erstrebtes (gewünschtes) Ziel zu erreichen. Die fünfte, ob der Geist, nachdem er sein Ziel erreicht hat, es jemals verlieren kann. Marsilio Ficino seinen Mitphilosophierenden zum Gruße Die aus dem höchsten Haupte des Jupiter, des Schöpfers aller Dinge, geborene Weisheit empfiehlt ihren philosophischen Liebhabern, sie mögen doch, wenn sie nur begehrten die geliebte Sache zu besitzen, kosequent vor allem die Hauptbestimmungen der Dinge und nicht die niedrigsten Spuren derselben erforschen. Pallas (Athene), der göttliche „Sproß, die vom höchsten Himmel herabgeschickt wurde"1, die „hohen Festungen bewohnt sie

1

Vgl. Vergil, Bucolica IV 6. Zur Rezeption des Vergil im Mittelalter und Renaissance (z. B. bei Ficino oder Landino) vgl. G. Pasquali, Studi recenti in Virgilio nel medioevo, in: Terze pagine stravaganti, Firenze 1942. H. de Lubac, Virgile philo-

158

De mente

Ba 675/M 327-328

qua et condidit arces». Monstrat praeterea non posse nos ad summa rerum capita pervenire, nisi prius in caput animae mentem, posthabitis inferioribus animae partibus, ascendamus. Pollicetur denique si nos ipsos in fecundissimum caput animae collegerimus, ibi proculdubio ipso capite, hoc est mente, mentem procreaturos. Mentem, inquam, et Minervae ipsius comitem, et summi Iovis alumnam. Ego igitur, optimi conphilosophi mei, qualem nuper in monte Caelano, una quadam lucubratione mentem mente creaverim, nunc in medium vobis adducam, ut ipsi qui longe fecundiores estis quam Marsilius, aemulatione quadam, ut ita dexerim, provocati prolem aliquando Iovis Palladisque conspectu digniorem parturiatis. Naturalis cuiusque speciei motus, quia certo agitur ordine, ideo a certo quodem principio ad certum finem dirigi et provenire cognoscitur. Omnis naturalis speciei cuiusque motus certa quadam ratione procedit. Nam et aliter alia movetur species, et species quaelibet eumdem servat semper suo in motu teno-

Fünf Fragen über den Geist

159

selbst, die sie auch gegründet hat" 2 . Sie zeigt außerdem, daß wir nicht zu den Hauptbestimmungen der Dinge gelangen können, wenn wir nicht zuvor zu dem Haupt der Seele aufsteigen, dem Geist, nachdem wir die unteren Teile der Seele zurückgelassen haben. Sie verspricht schließlich, wir würden, wenn wir unsere Kräfte in diesem allerfruchtbarsten Bereich der Seele konzentrierten, dort ohne allen Zweifel durch diesen selbst, d.h. durch den Geist, Geist hervorbringen können; 3 den Geist, meine ich, den Begleiter Minervens selbst und den Sproß des höchsten Jupiter. Ich will also, meine besten Mitphilosophen, einen solchen Geist, den ich neulich auf dem Coelaner Berg in einer durcharbeiteten Nacht durch den Geist hervorbrachte, jetzt in Eure Mitte fuhren, damit Ihr, die Ihr weit geistreicher als Marsilius seid, durch Rivalität mit ihm dazu provoziert werdet, irgendwann einen dem Anblick Jupiters und der Pallas würdigeren Nachkommen zu erzeugen. Da die natürliche Bewegung jeglicher Species nach bestimmter Ordnung sich vollzieht, ist zu erkennen, daß sie von einem bestimmten Anfang zu einem bestimmten Ziel gelenkt wird und fortschreitet. Jede natürliche Bewegung einer Species4 vollzieht sich nach einem bestimmten Gesetz. Jede Species bewegt sich ja aufje andere Weise und jede bewahrt in ihrer Bewegung

2 3 4

sophe et prophète, in: Exegèse médiévale 2 Paris 1964. Zur Bedeutung der Pallas (Minerva) für Ficino vgl. die Hinweise bei Kristeller 1972, 342 f. Ebd. II 61-62: Pallas, quas condidit, arces ipsa colat. Vgl. die Hinweise von Burroughs zu Plotin III 8,5 und Ficinos Übersetzung in: Five Questions concerning mind, 194. Daß Ficino die Diskussion des zentralen Bewegungsbegriffes unmittelbar im Blick auf die species durchführt und beginnen läßt, dürfte mit der platonisch fundierten, ontologisch her-

160

De mente

Ba 675/M 328

rem, ut ab hoc in istud, et ab isto deinceps in illud, modo quodam congruentissimo progrediatur semper atque regrediatur. Quaerimus unde praecipue ordinem eiusmodi motus accipiat. Duo sunt apud Philosophos motus termini a quo videlicet effluii, in quem profluit. Ab his terminis

Fünf Fragen über den Geist

161

immer das identische Bewegungsmuster 5 , damit sie auf passendste Weise v o n d i e s e m zu j e n e m Ort fort- u n d schließlich v o n j e n e m zu diesem immer zurückschreitet. Wir fragen, woher sie insbesondere die Struktur solcher B e w e g u n g aufnimmt. D i e Philosophen setzen zwei b e s t i m m e n d e Grenzpunkte der B e w e g u n g an, den Punkt, aus d e m sie hervorgeht, und denjenigen, zu w e l c h e m sie fortschreitet 6 . V o n diesen G r e n z b e s t i m m u n g e n her

5

6

ausragenden Valenz der species für die gesamte Kosmologie zusammenhängen. Vgl. Theol. Plat. XV 16 (3,82 M.): Species autem honorari iubet Plato [vgl. Phaidon 78 D ; Symposion 212 A; Politela 508 E-509 B]. In iis enim consistit mundi perfectio et scientiae Veritas. Naturam significet in singulis existentem. Dazu Comm. in Phileb. 1218,1226 und Theol. Plat. XVI 1 (3, 109 M.) zur Dominanz der species. Der kosmologisch-naturphilosophisch begründete Zusammenhang von species und appetitus naturalis erlaubt Ficino, die dynamischen Momente von Bewegung und Strebung an substantielle, sich gleichbleibende Formen zurückzubinden. Tenor=Bewegungsmuster, Marcel übersetzt tenor in Theol. Plat. IX 7 (2 48): tota elementi sphaera suam speciem, suum situm, suum servat tenorem mit „sa densité". Überzeugender dagegen die Übersetzungen Kristellers zu unserer Stelle (1972, 173) mit (Bewegungs-)„Verlauf und Burroughs, Five Questions, 194 mit „course". Vgl. Aristoteles, Phys. VIII 2, 252 b 10 ff. Durch diese Fixierung im Fluß, denn für Aristoteles ist die Bewegung selbst reiner Übergang und in sich unvollendet (Phys. III 1, 201 a 10-11, b 32; allg. 16-7; III 1-3; VIII), erreicht die Natur Konstanz und Möglichkeit der Selbsterhaltung für ihre internen Leitstrukturen (Gattungen, Arten). Zu De cael. 276 b-277 a vgl. Thomas, In de cael. expos, lect. XVII text. 117: omnino enim quod movetur ex quodam in quiddam transmutatur. Für Ficino vgl. Theol. Plat. XI 3 (2, 106 M.): motus vero omnis a quiete sive stabili aliquo exorditur, tendit ad stabile. XV 2 (3,20 M.): principale agens sequentia movet, principalis finis reliquos cogit fines.

162

De mente

Ba 675/M 328

suum ordinem adipiscitur. Quamobrem non ab incerto et inordinato in incertum et ordinis expers oberrat, sed a certa quadam et ordinata natura in certuni quiddam ordinatumque dirigitur, quod cum natura illam conveniat unde motus incepit. Unumquodque enim ad suum recurrit potiusquam alienum, alioquin at dissimiles rerum species nonnumquam similiter, et similes saepe dissimiliter moverentur, ac eadem species alias atque alias modo diverso, et species diversae saepe modo eodem agitarentur. Adde praeterea quod auferretur motionis illa successio, qua gradatim deinceps per plures congruosque gradus formasque decentes certo tempore profluit, certis temporum curriculis refluit. Adde postremo, quod non in talem quamdam vel regionem vel qualitatem vel substantiam potiusquam in quamlibet aliam quisque motus dirigetur.

Fünf Fragen über den Geist

163

nimmt sie ihre Ordnung. Daher irrt sie nicht von einem unbestimmten und ungeordneten Zustand in einen anderen, sondern sie wird von einem bestimmten und geordneten natürlichen Zustand in einen wiederum bestimmten und geordneten Zustand gelenkt, der mit dem übereinstimmt, von dem die Bewegung ihren Anfang nahm. Ein Jegliches kehrt nämlich eher zu dem Seinigen als zu einem Fremden zurück7, andernfalls bewegten sich einerseits die ungleichen Species der Dinge manchmal gleich(artig) und die gleichen häufig ungleich(artig), und andererseits dieselbe Art zu verschiedenen Gelegenheiten auf verschiedene Weise, dagegen die verschiedenen Species häufig auf dieselbe Weise. Man kann außerdem hinzufugen, daß dann jene Folge der Bewegung aufgehoben würde, durch welche schrittweise in enger zeitlicher Folge, durch mehrere und übereinstimmende Stufen und entsprechende Formen etwas in bestimmter Zeit hervortrat und in ebenso bestimmten Zeitläufen zurückkehrte. Schließlich kommt noch hinzu, daß dann jede beliebige Bewegung nicht eher in einen bestimmten Bereich oder eine Qualität oder Substanz als in irgendeine andere gelenkt würde.

7

C o m m . in Phileb. c. 3, Opera 1209: in aliquid sibi simile tendit. Dieses Kapitel im Philebos-Kommentar ist bei Ficino selbst Zitat aus T h o m a s ScG III 3. Für Ficino gilt der Grundsatz der klassischen griechischen Metaphysik: „esse in se antecedit esse in alio" (Theol. Plat. X V 2; 3, 21 M.), wobei antecedere als primär ontologisches und erst sekundär zeitliches Vorhergehen zu verstehen ist. Vgl. Thomas, ScG III 3 : agendo autem (agens) tendit in sibi simile (nach Aristoteles Phys. II 7,198 a 25 ; III 3,202 a 13-17. Met. 1032 a-1033 b) und III 7 (28): nihil tendit ad s u u m contrarium; u n u m q u o d q u e enim appétit quod est sibi simile et conveniens.

164

De mente

Ba 675-676/M 328-329

Ordinatissimus mundi motus ad certum Providentia divina dirigitur.

flnem

Si motus singuli ordine quodam mirabili transiguntur, certe universus mundi ipsius motus ordinis perfectione non caret. Sicut enim ab universo atque ad universum sunt singuli, sic ab universi ordine accipiunt ordinem, et ad universi ordinem referuntur. In hoc ipso communi totius ordine omnia quamvis diversissima una quadam convenientia et ratione reducuntur in unum. Igitur ab uno quodam ordinatore ratione pienissimo cuncta ducuntur. Siquidem ordo apprime rationabilis a summa mentis ratione et sapientia manat, in qua necessario praescripti sunt fines singuli ad quos dirigat singula. Praescriptus est finis etiam universi communis, ad quem fines singuli perducantur.

Fünf Fragen über den

Geist

165

Die äußerst geordnete Bewegungsform der Welt wird durch die göttliche Providern zu einem bestimmen Ziel geführt.

Wenn sich schon die einzelnen Bewegungsformen in einer wunderbaren Ordnung vollziehen8, dann mangelt mit Sicherheit der allgemeinen, umfassenden Bewegung der Welt selbst nicht die Vollkommenheit solcher Ordnung. So wie nämlich die einzelnen Dinge von dem All her und in bezug auf das All sind, so erhalten sie auch von der Ordnung des Alls ihre Ordnung und beziehen sich auf eben diese Ordnung wieder zurück9. Innerhalb dieser Ordnung des allgemeinen Ganzen wird alles auch noch so Verschiedene mittels Übereinstimmung und Vernunft in Eines zurückgeführt10. Also wird von einem an Vernunft übervollen Ordnungsprinzip alles (sich Bewegende) geleitet, da ja diese vollkommen vernünftige Ordnung von der höchsten Vernunft und Weisheit des Geistes ausgeht, in der auf notwendige Weise die einzelnen Zielbestimmungen, zu denen sie die einzelnen Dinge hinleitet, vorgezeichnet sind. Auch die allgemeine Zielbestimmung des Alls ist (dort) vorgezeichnet, zu der die einzelnen Zielbestimmungen wiederum hingeführt werden. 8 Zu geordneten und voneinander abhängenden Bewegungen vgl. Aristoteles, Phys. VIII 5, 256a ff.; Thomas, ScG I 13. Ficino, Theol. Plat. XIV 1 (2,247 M.). Kristeller 1972,132 ff. 9 Vgl. In Plotinum (Librum de bono primo) Opera 1579: Principium igitur universi atque finis est idem: Id autem nihil aliud est quam ipsum (sc. summum bonum). Theol. Plat. XIV 1 (2, 247 M.) zum naturalis motus (sc. animae) ad finem, der fur Ficino Ausdruck einer teleologischen Grundstruktur im ganzen Bereich des Seins ist. Der Text unseres Absatzes weist durchgehend sprachliche und sachliche Nähe zu Theol. Plat. XIV 1 auf. 10 Der Zusammenhang von Einheit/Einem (unitas/unum) und Ordnung wird ausführlich diskutiert In Phileb. comm. c. 4 (Opera 1210).

166

De mente

Ba 676/M 329

Quos términos habeat motus elementorum et plantarum atque brutorum. Quos términos habeat motus elementorum et plantarum animaliumque brutorum non dubitamus. Elementa quidem alia gravitate quadam ad centrum mundi descendunt. Alia levitate ad concavum sphaerae superioris ascendunt. Motus quoque plantarum ex virtute nutriendi generandique profectus, in plantae ipsius sufficiente alimento et generatione plantae similis terminatur. Idem accidit virtuti quae nobis ac brutis cum arboribus est communis. Brutorum animalium motus, qui proprie ad sensum attinet, a forma sensibili atque indigentia naturae procedit per ea quae extrinsecus sentiuntur ad explendam corporis indigentiam. Idem naturae illi contingit, quam habemus ipsi cum animalibus quibusque communem. Omnes hae quas modo narravimus motiones, quoniam ad particulare quiddam tendunt, a particulari etiam vi provenire noscuntur. Atque in his, quos diximus, terminis quietem agunt sufficientem, et quantum earum natura requirit perficiuntur.

Fünf Fragen über den Geist

167

Welche Grenzen die Bewegung der Elemente, Pflanzen und Tiere hat. Keine Zweifel bestehen darüber, welche Grenzen die Bewegung der Elemente, Pflanzen und der tierischen Lebewesen hat". Bei den Elementen steigen die einen wegen ihrer Schwere zum Zentrum der Welt hinab und die anderen wegen ihrer Leichtigkeit zur Wölbung der obersten Sphäre auf. Auch die aus dem Ernährungs- und Erzeugungsvermögen entspringende Bewegung der Pflanzen ist begrenzt in der zureichenden Ernährung der Pflanze selbst und in dem Hervorbringen einer gleichartigen Pflanze. Dasselbe widerfahrt dem Vermögen, das uns und den Tieren mit den Bäumen gemeinsam ist. Die Bewegung der Tiere, die sich eigentlich auf das Sinnesvermögen bezieht, verläuft von der sinnlichen Form und von der Bedürftigkeit der Natur und über die äußerlich wahrgenommenen Dinge zur Erfüllung des körperlichen Bedürfnisses. Dies trifft auch für die natürliche Verfassung zu, die wir mit einigen Tieren gemein haben. Alle von uns aufgeführten Bewegungen werden, da sie jeweils Partikuläres anstreben, auch erkannt als aus einer partikulären Kraft hervorgehend, und sie finden auch innerhalb der von uns angesprochenen Grenzen eine ausreichende „Ruhe" 12 und werden entsprechend dem Bedürfnis ihrer jeweiligen Natur vollendet.

11 Vgl. Aristoteles, cael. II passim; mot. an. II 6 etc. 12 Thomas ScG III 3 : finis est in quo quiescit appetitus agentis vel moventis, et eius quod movetur. Für Thomas, wie auch für Ficino, ist die prinzipielle Hinordnung innerweltlicher Bewegungen bzw. Handlungen auf Zielbestimmungen, bei deren Erreichen diese Bewegungen und Handlungen zur Ruhe kommen, Indikator der Endlichkeit und Abgeschlossenheit der geschaffenen Welt, die dadurch wieder ein Indikator fur die Existenz des Schöpfergottes ist.

168

De mente

Ba 676/M 330

Quaestiones quinqué de mentis motu. Superest ut de mentis humanae motu quaeramus. Primo, utrum ad aliquem tendat finem necne. Secundo, utrum motionis eius finis sit motus an status. Tertio, utrum particulare quiddam hoc bonum sit vel universum. Quarto, utrum optatum finem suum, id est summum bonum, quandoque consequi valeat. Quinto, utrum postquam perfectum adepta est finem, aliquando inde discedat. Mentis motus certum respicit finem. Si caetera non insipienti casu passim oberrant, sed ordine quodam rationabili ad quiddam maxime proprium et convenientissimum diriguntur, quo et prorsus perficiuntur, multo magis mens quae est sapientiae receptaculum, quae naturalium rerum ordinem et fines intelligit, quae res suas quotidie ad finem quemdam rationabiliter ordinat, quae aliis omnibus quotcumque praediximus est perfectior, multo, inquam, magis naturali instinctu ordinatum finem aliquem respicit, quo et ipsa ad votum perficiatur. Praesertim quia, quemadmodum singulae vitae partes, id est con-

Fünf Fragen über den Geist Fünf Fragen zur Bewegung des

169 Geistes.

Übrig ist eine Untersuchung zur Bewegungsform des menschlichen Geistes. Und zwar fragen wir: Erstens, ob er zu einem bestimmten Ziel strebt oder nicht. Zweitens, ob ein solches Ziel seiner Bewegung selbst Bewegung oder Ruhe ist. Drittens, ob dieses Gut ein besonderes oder ein allgemeines Gut ist. Viertens, ob er in der Lage ist, sein erwünschtes Ziel, d. h. das höchste Gut, irgendwann zu erreichen. Fünftens, ob er, nachdem er das vollkommene Ziel erreicht hat, von diesem irgendwann sich entfernt. Die Bewegung des Geistes vollzieht sich im Blick auf ein bestimmtes Ziel.

Wenn die übrigen Dinge nicht durchgehend in blindem Zufall herumirren, sondern in vernünftiger Ordnung zu dem ihnen am meisten eigentümlichen und entsprechenden Ziel gelenkt werden, wodurch sie auch vollständig vollendet werden, dann bezieht sich um so mehr der Geist, der das aufnehmende Gefäß der Weisheit ist, der die Ordnung und die Zielbestimmung der natürlichen Dinge erkennt, der seine Dinge täglich zu einem bestimmten Ziel hin vernünftig ordnet, der gegenüber allen zuvor angesprochenen Dingen das Vollkommenere ist, dieser Geist, sage ich, bezieht sich um so mehr aus natürlichem Antrieb auf eine gewisse Zielbestimmung hin, durch welche auch er selbst entsprechend der Intensität seines Wollens vollkommen wird13. Insbesondere gilt: da die einzelnen Momente des Lebens, d.h. die Überlegungen,

13 Ein für Ficino typischer, analogischer Schluß vgl. schon oben Abs. 2 den Schluß von partikularen Bewegungsstrukturen auf die Bewegung des Ganzen bzw. des Universums. Cf. Plotin V 6,5,5-12 zum Zusammenhang von Denken und Strebebewegung zum „Guten".

170

Demente

Ba 676/M 330-331

sultationes et electiones et facultates ad fines singulos referuntur, (quaelibet enim harum proprium respicit finem tamquam bonum), sic universa vita ad finem bonumque similiter universum. Cum enim partes quaelibet serviant toti, sequitur ut ordo qui partibus inest invicem sit propter earum ordinem ad ipsum totum maxime pertinentem. Ordo rursus earumdem qui ad fines spectat particulares a communi quodam dependeat totius ordine qui ad communem totius finem praeeipue conférât. Profecto si motor quilibet suiipsius gratia movet, consentaneum est mentem non ob aliam causam sua quaelibet ad fines proprios ducere, nisi ut ad communem mentis finem bonumque conducant. Denique quis adeo mentis inops ut opinetur mentem anniti tam natura quam proposito singulis diversisque ad unum quiddam ordinem exhibere, nisi ipsa quo-

Fünf Fragen über den Geist

171

Wahlentscheidungen und die Vermögen, sich auf einzelne Zielbestimmungen beziehen - ein jedes dieser Momente beachtet nämlich eine ihm eigentümliche Zielbestimmung gleichsam als sein Gutes -, bezieht sich auch das allgemeine Leben auf eine Zielbestimmung und ein Gutes, die gleichermaßen allgemein sind. Da nämlich die Teile einer jeden Sache dem jeweiligen Ganzen untergeordnet sind, folgt, daß die den Teilen untereinander inhärierende Ordnung umgekehrt der Ordnung der Momente untergeordnet ist, die sich am meisten auf das Ganze selbst bezieht 14 . Die Ordnung, die sich auf die besonderen Zielbestimmungen bezieht, hängt wiederum von einer allgemeinen Ordnung des Ganzen ab, die sich insbesondere auf das allgemeine Ziel des Ganzen bezieht 15 . Wenn also jede beliebige Bewegungsursache um ihrer selbst willen bewegt, ist es klar, daß der Geist aus keinem anderen Grund seine Bewegungen zu ihren eigentümlichen Zielbestimmungen hinfuhrt, als daß sie zum allgemeinen Ziel und Gut des Geistes beitragen. Wer könnte außerdem geistig so beschränkt sein anzunehmen, daß der Geist sich sowohl von Natur aus als auch aus Vorsatz bemühte, die einzelnen und verschiedenen Dinge in einer Ordnung dar-

14 Z u m grundlegenden Verhältnis Ganzes-Teile vgl. D e amore VI 3 (201 f. M.). 15 Vgl. Ficino, C o m m . in Phileb. c. 4 (Opera 1210): sicut se habent singuli rerum ordnines ad propria sua principa, sic universus ordo ad universale principium. Sed o m n e s illi ad unam quandem speciem reducuntur. Quare& o m n e s ordo naturae ad principium unum. Dazu ebenfalls Disputatio contra iudicium astrologorum (Suppl. Ficin. II12): quemadm o d u m singuli rerum ordines ad singula principia reducuntur ( . . . ) sic universus ordo rerum ad u n u m rerum o m n i u m c o m m u n e principium atque finem, quo non solum fiant, sed etiam serventur atque ducantur. Alioquin nulla m u n d o inesset unitas, nulla inter mundi partes concordia, ordo denique nullus.

172

De mente

Ba 676/M 331

que ordinem quemdam haberet ad unum? Nempe cum ultimus communisque finis ubique reliquos moveat. Est enim primum quod appetitur cuius gratia caetera appetuntur. Nimirum si ultimus ipse communisque absit, omnino reliqui adesse non possunt. Nisi enim absoluta totius aedificii forma praescripta sit architecto, numquam diversi ministri eo ordine, qui ad totum ipsum conducat, ad diversa opera movebuntur. Immo vero nullo pacto ad ministeria praefìnita mittentur ab ilio, qui non ipse prius communem totius opens terminum habuerit praefinitum. Finis motionis intellectualis non est motus sed status.

Si motionis intellectualis finis est ipse motus, certe movetur ut moveatur, rursusque ut moveatur deinceps sine fine movetur. Hinc efficitur ut in ipso motu iugiter perseverane moveri non desinat, ideoque nec vivere desinai umquam neque cognoscere. Forsitan hic ille iugis est animi motus

Fünf Fragen über den Geist

173

zustellen, wenn er nicht auch selbst (ursprünglich) eine Hinordnung zum Einen besäße16? Dies alles gilt doch wohl, weil die letzte gemeinsame Zielbestimmung überall die übrigen (Zielbestimmungen) bewegt. Es ist nämlich immer das Erste, das erstrebt wird und um dessen Willen die übrigen Dinge erstrebt werden17. Wenn diese schlechthin letzte und allgemeine (Zielbestimmung) fehlt, können auch die übrigen schlechterdings nicht gegeben sein. Wenn nämlich die absolute Form des ganzen Gebäudes durch den Baumeister18 nicht vor- und festgeschrieben wäre, könnten die verschiedenen einzelnen Handwerker zu ihren einzelnen Tätigkeiten niemals gemäß der Ordnung bewegt werden, die zum Ganzen selbst hinführt. Ja sie könnten sogar auf keinen Fall zu vorbestimmten Aufgaben von jenem geschickt werden, wenn er nicht selbst zuvor den gemeinsamen Zielbegriff des ganzen Werkes vorbestimmt in sich trüge. Das Ziel der vernünftigen Bewegung ist nicht Bewegung, sondern Ruhe.

Wäre das Ziel der vernünftigen Bewegung selbst wiederum Bewegung, würde sie sicherlich (nur) bewegt, um bewegt zu werden, und sie würde wiederum, um bewegt zu werden, ohne Ziel und Ende bewegt; dies bewirkte, daß sie in der ständig andauernden Bewegung sich befindend, nicht aufhörte, bewegt zu werden, und deshalb zu keiner Zeit zu leben noch zu erkennen aufhörte. Vielleicht wäre dies jene andauernde Bewegung der Seele, von der einige 16 Vgl. Plotin I 4, 6,17-19. Zur Bedeutung des Einen als einem jenseits der Zahl befindlichen Prinzip und als höchster Einheit vgl. Compendium Opera 691 (317 M.). 17 Thomas, ScG III 17. Comm. in Phileb. c. 2 (Opera 1209): Deus autem per appetitum concitai omnia (...). Summus finis est finis ultimus: in quo sit tota ratio finis. 18 Vgl. Argumentum Opera 711 (277-278 M.), oben S. 72 f., 76.

174

De mente

Ba 676-677/M 331

quo semper agi et vivere animus a Platonicis nonnullis existimatur. Puto autem mentem quandoquidem statum noscit iudicatque ipsum mutatione praestantiorem, atque naturaliter appétit illum ultra motum, in habitu quodam stabili potiusquam mobili conditione finem bonumque suum optare et denique consequi. Huius rei indicium est

Fünf Fragen über den Geist

175

Platoniker annehmen, daß durch sie die Seele immer tätig sei und lebe 19 . Ich glaube aber, daß der Geist, w e n n er den Zustand der Ruhe (des Nicht-Bewegtseins) kennt und urteilt, daß er der Veränderung vorzuziehen sei, und w e n n er diesen Zustand jenseits der B e w e g u n g auf natürliche Weise erstrebt, eher im Zustand des Nicht-Bewegtseins als unter der Bedingung v o n B e w e g u n g das für ihn G u t e erstrebt und auch schließlich erreicht 20 . Ein Indiz dieser

19 Vielleicht bezieht sich Ficino hier auf die bekannte Stelle aus Ciceros Somnium Scipionis 25,27: nam quod semper movetur, aetemum est; quod autem motum adfert alicui quodque ipsum agitatur aliunde, quando finem habet motus, vivendi finem habeat necesse est. Solum igitur quod sese movet, quia numquam desertur a se, numquam ne moveri quidem desiniti quin etiam caeteris quae moventur hic fons hoc principium est movendi (...) 26, 28: cum pateat igitur aeternum id esse quod a se ipso moveatur, quis est qui hanc naturam animis esse tributam neget? Das semper bei Cicero wie bei Ficino geht zurück auf das Selbstbewegungskriterium Piatons (Phaidros 245 ff.) mit der Aufnahme und Diskussion durch Plotin III 6, 1, 28; Proklos, Elem. theol. prop. 189 und Porphyrios, sent. 17 (8, 6-7 Lamberz). 20 Thomas ScG III 48 : ultimus finis hominis terminât eius appetitum naturalem, ita quod, eo habito, nihil aliud quaeritur: si enim adhuc movetur ad aliud, nondum habet finem in quo quiescat. Für Thomas gehören stabiliri und quiescere zum genuinen Kontext des finis-Begriffes. Für Ficino ist die mens, als „Träger" der motio intellectualis, eine Substanz, quae propter aeternitatem stabilis est et super motum [Theol. Plat. XV 16 (3,82 M.)]. Ebd. (84): substantia mentis omnino stabilis. Zur ontologischen Präferenz der „Ruhe" vgl. Theol. Plat. XVIII 9 (3, 222 M.), wo Ficino dieses parmenideische Theorem als zentralen Gehalt der mysteria priscorum philosophorum sowie der christlichen und mohamedanischen Religion anführt: statum enim motu perfectiorem esse quietisque gratia moveri singula. Vgl. auch Prima platonicae sapientiae clavis, Opera 686 (3, 292 M.).

176

Demente

Ba 677/M 331-332

quod mens in statu proficit magis quam in motu. Rursus, quod familiaria eius obiecta sunt rerum rationes aeternae, non mobiles materiae passiones. Accedit quod quemadm o d u m vitae virtus, scilicet intelligentia et voluntas, ultra rerum mobilium fines ad stabiles progreditur et aeternas, sic ipsa vita ultra mutationem quamlibet temporalem certe finem b o n u m q u e suum in aeternitate consequitur. Alioquin non posset animus u m q u a m vel intelligendo vel appetendo términos mobilium transgredí, nisi eos supergredi vivendo valeret. Denique motus semper est imperfectas tenditque ad aliud, ipsius vero finis, praesertim summi, ratio est ut ñeque imperfectus sit ñeque ad aliud quicquam progrediatur. Mentis obiectum et finis est universum verum atque bonum. Sed numquid proprium quiddam verum b o n u m q u e finis intelligentiae voluntatisque dicitur an universum? Universum certe. Quoniam intellectus amplissimam quamdam eius, quod philosophi ens verumque et b o n u m nominant,

Fünf Fragen über den Geist

177

Sache ist, daß der Geist im Zustand der Ruhe eher als in dem der Bewegung vorankommt21. Ebenso daß seine ihm verwandten Gegenstände die ewigen Ideen der Dinge22 und nicht die veränderlichen Eigenschaften der Materie sind. Hinzu kommt: wie die Kraft des Lebens, d.h. der Intellekt und der Wille, die Zielbestimmungen der beweglichen Dinge überschreitet hin zu den unbeweglichen und ewigen Zielbestimmungen, so erreicht auch das Leben selbst sicherlich jenseits von jeder zeitlichen Veränderung seine Zielbestimmung und sein Gut in der Ewigkeit. Denn die Seele könnte niemals erkennend oder strebend (wollend) die Begriffe der beweglichen Dinge überschreiten, wenn sie nicht die Kraft hätte, diese zu transzendieren, indem sie lebt. Schließlich ist die Bewegung immer unvollkommen und strebt nach etwas anderem; zum Begriff des Zieles selbst, vor allem des höchsten, gehört es dagegen, daß es weder unvollkommen ist, noch zu irgend etwas anderem fortschreitet. Der Gegenstand ist das schlechthin

und das Ziel des Geistes allgemeine Wahre und Gute.

Wird nun das eigentümliche oder nicht vielmehr das allgemeine Wahre und Gute als Zielbestimmung der Vernunft und des Willens bezeichnet? Sicherlich das allgemeine, da ja die Vernunft den umfassendsten Begriff von dem, was die Philosophen das Sein, das Wahre und das Gute nen21 Vgl. Aristoteles EN VII 14, 1154 b 26-28 und Ficino, Theol. Plat. VIII 1 (1, 320 M.) sowie Argumentum, S. 100 f. 22 Rerum rationes aeternae: Vgl. Augustinus, div. quaest. 83 q. 34. Ficino bezieht sich in seiner Theorie der Erkenntnis der intelligiblen Seelensubstanz an vielen Stellen auf Augustinus, der selbst eine deutlich durch die „Platoniker" beeinflußte Position vertritt. Vgl. etwa Theol. Plat. V 15 (1,217-218 M.) mit imm. an. 4, 5 und XI 3 mit trin. XII 2; dazu Tarabochia Cañavero 1978, 639. Leinkauf 1992, 739.

178

De mente

Ba 677/M 332

concipit notionem. Sub qua quicquid vel est vel esse potest penitus comprehenditur. Hoc ipsum quod ens verumque et bonum dicitur omnia continens Peripatetici esse putant commune humani intellectus obiectum, quia sicut obiectum sensus sensibile, sic intellectus ipsius obiectum intelligibile dicitur. Intelligibile autem amplitudine sua omnia comprehendit. Rursus intellectus natura afficitur ad totam entis amplitudinem comprehendendam ac in eius notione omnia conspicit, vicissimque in omnium notione inspicit ipsum. Praeterea sub ratione veri intelligit, sub ratione boni appétit omnia. Haec autem utraque ad rationem entis Peripatetici referunt. Utrum vero bonum ente latius sit, quod Platonici putant, necne, ad propositam quaestionem

Fünf Fragen über den Geist

179

nen, bildet, in welchem Begriff alles, was ist oder was sein kann, vollständig enthalten ist. Eben dieses selbst, was, indem es alles in sich enthält, Sein, Wahres und Gutes genannt wird, setzen die Peripatetiker als den allgemeinen Gegenstand des menschlichen Intellektes an, weil, ebenso wie das Sinnliche Gegenstand der Sinne ist, der Gegenstand der Vernunft das Vernünftige ist. Das Vernünftige enthält wegen seiner Weite alles. Die Vernunft wird von Natur aus angetrieben, die ganze Weite des Seiens zu erfassen, und sie betrachtet in dessen Begriff alles und erschaut umgekehrt im Begriff von allem dieses (Sein) selbst. Außerdem erkennt die Vernunft alles unter dem Prinzip des Wahren und erstrebt alles unter dem Prinzip des Guten23. Diese beiden Argumente beziehen die Peripatetiker auf den Seinsbegriff. Ob jedoch das Gute einen weiteren Umfang als das Seiende hat, wie die Platoniker glauben24, oder nicht, scheint zu der hier vorgelegten

23 sub ratione boni vgl. Thomas v. Aquin, ScG III 3 : agens autem per intellectum non determinai sibi finem nisi sub ratione boni : intelligibile enim non movet nisi sub ratione boni, quod est obiectum voluntatis. Tätigsein, Streben, Bewegung etc. erhalten fur Ficino ihre gesicherte Intentionalität durch den Willen, zu dessen ontologischer Signatur es gehört, auf das höchste Gute durchgehend intentional bezogen zu sein. 24 Piaton, Politela 509 Β; Parmenides 141 E wird das „Gute" bzw. „Eine" jenseits des Seins angesetzt. In der Wirkungsgeschichte, die sich als komplexe und vielfältig vermittelte Diskussion der „ungeschriebenen Lehre" Piatons verstehen läßt (Gaiser, Krämer), führte die Identifikation oder zumindest die enge Bezogenheit von Einem und Gutem zu der Konsequenz, die Ficino in der These vom bonum ente latius ausdrückt. Vgl. hierzu die Testimonia bei K. Gaiser, Piatons ungeschriebene Lehre, Stuttgart 21968, 530 f. und die für Ficino wichtige Vermittlungsposition des Ps. Dionysius Areopagita, zitiert bei Thomas ScG III 20: quod bonum quodammodo amplioris est ambitus quam ens: propter quod

180

De mente

Ba 677/M 332

nihil referre videtur. Utamur igitur in praesentia tribus his, si placet, nominibus, scilicet ente veroque et bono tamquam idem significantibus, nam in commentariis Philebi diligentius ista discussimus. Quaerendum videtur in primis utrum intellectus quicquid sub ente concluditur perspicue possit attingere. Potest utique. Dividit enim ipsum in genera decern generalissima rursusque genera decern in genera subalterna gradatim sub ipsis quam plurima. Deinde species quasdam ultimas sub generibus collocai subalternis. Denique speciebus singula subiicit, ut ita dixerim, absque fine. Si intellectus potest ens ipsum tamquam totum quiddam describere, atque ipsum in cuncta eius quasi membra gradatim dividere aeque1 tarn invicem quam ad totum diligentissime comparare, quis non videat hunc natura entis ipsius universi esse capacem? Qui enim totum ipsum in sua

1

aeque: ea quae Ba; wir konjizieren, daß ea quae in Ba und aeque Verschreibungen von ea que.

Fünf Fragen über den Geist

181

Frage nichts beitragen zu können. Wir wollen also im Moment diese drei Bezeichnungen Sein, Wahres und Gutes sozusagen als Namen in der Weise verwenden, als ob sie dasselbe bezeichneten. Denn in den Kommentaren zum Philebus diskutieren wir diesen Zusammenhang sorgfältiger25. Zu fragen scheint dagegen vor allem, ob die Vernunft dasjenige, was im Sein begriffen (eingeschlossen) ist, deutlich erfassen kann. Sie kann es durchaus. Sie unterteilt es nämlich in die zehn allgemeinsten Gattungen und dann diese Gattungen gradweise in soviel untergeordnete Gattungen wie möglich. Dann setzt sie bestimmte letzte Species unterhalb der subalternen Gattungen an. Schließlich unterstellt sie die einzelnen Dinge, wenn ich so sagen darf, ohne Grenzen den Species. Wenn also die Vernunft das Sein selbst als ein Ganzes beschreiben kann26 und dieses in alle seine Glieder (Momente) schrittweise unterteilen und sie sowohl unter sich als auch in bezug auf das Ganze aufs Sorgfältigste vergleichen kann, wer sähe da nicht, daß sie von Natur aus zur Erkenntnis des allgemeinen Seins selbst fähig ist. Wer nämlich das Ganze selbst in seiner Form Dionysius dicit, IV cap. De div. nom. [§§ 1.3], quod „bonum se extendit ad existentia et non existentia". Vgl. Theol. Plat. XI4 (2, 113 M.) und XII 3 (2, 163-165 M.). 25 Operall 1207, 121 If. 26 Plotin IV 4,20,10 ff. : der voue denkt die Totalität dessen, was ist, in einem ungeteilten und zeitlosen Akt. Zum Vorhergehenden V 9, 6, 9: der Intellekt umfaßt bzw. enthält alles, so wie die Gattung die Arten und das Ganze die Teile. Hierzu Rremer, Die neuplatonische Seinsphilosophie und ihre Wirkung auf Thomas v. Aquin, Leiden 21971, 63 ff., 314 f. Zur Transformation bei Thomas, die hier wohl für Ficino maßgeblich ist, ebd. 378 ff. Hinter der definitorisch-gattungslogischen „Einteilung" steht vmtl. die durch Porphyrios vollzogene Verbindung von platonischer Dihairese und aristotelischer Kategorien- und Definitionenlehre.

182

De mente

Ba 677/M 332-333

forma videt eiusque términos atque gradus per quos prop a g a t o undique prospicit, absque dubio potest singula, quae illis terminis comprehenduntur, media comprehendere. Mitto nunc quod cum apud Platonicos super ens atque sub ente queat ipsum unum b o n u m q u e excogitare, multo magis totam eius latitudinem undique percurrere poterit. Certe post notionem entis, quod vocabulum saepius iam repetimus, etiam quod ab eo diversissimum fingi potest, id est non ens proarbitrio cogitat. Si potest ab ilio ad hoc infinite inde distans percurrere, multo magis per quaelibet quae sub ilio quasi media continentur. Hinc Aristoteles inquit: «Sicut materia, quae ultimum est naturalium, o m n e s potest corporeas induere formas omniaque hoc pacto corporalia fieri, sic intellectum, qui, ut ita loquar, superaaturalium ultimum est supremumque naturalium, spiritales o m n e s rerum o m n i u m formas accipere posse o m n e s q u e evadere». Q u e m a d m o d u m universum sub ratione entis atque veri obiectum est intellectus, ita sub ratione boni est voluntatis obiectum. Quidnam intellectus inquirit, nisi cuncta in se suo m o d o pingendo transformare omnia in seipsum? Quid rursus voluntas annititur, nisi

Fünf Fragen über den Geist

183

erschaut und dessen Grenzen und Stufen, in welchen es sich entfaltet, überall vor sich sieht, kann ohne Zweifel das Einzelne, das durch jene Grenzen umfaßt wird, als Mittelglieder, begreifen. Ich lasse beiseite, daß die Vernunft bei den Piatonikern über dem Sein und unter dem Sein das Eine und das Gute selbst ansetzen kann, und deshalb um so mehr dessen ganze Breite überall durchmessen kann. Und sicherlich kann sie nach dem Begriff des Seins, welchen wir schon des öfteren wiederholten, auch denjenigen, der von diesem am meisten verschieden ist, d.h. den des NichtSeins, nach Belieben bilden. Wenn sie aber von jenem (Begriff) zu diesem - von ihm unendlich entfernten - eilen kann, dann um so mehr durch all jene, die unter diesem, gleichsam als Mittelbegriffe, begriffen sind. Daher sagt Aristoteles: „Wie die Materie, die letztes Moment der natürlichen Dinge ist, alle körperlichen Formen annehmen kann, und daher alles Körperliche werden kann, so kann auch die Vernunft, die, wenn ich so sagen darf, das unterste Glied der übernatürlichen und das höchste der natürlichen Dinge ist, alle unkörperlichen (geistigen) Formen der Dinge annehmen und sich zu allem entwikkeln"27. So wie das All unter der Bestimmung des Seins und des Wahren Gegenstand der Vernunft ist, so ist es unter der des Guten Gegenstand des Willens. Was denn überhaupt sucht die Vernunft, wenn nicht, indem sie alles in ihr selbst auf ihre Weise abbildet, dies alles in sich zu verwandeln 28 ? Was andererseits erstrebt der Wille, wenn 27 Vgl. De anima III 5, 430 a 14-15 zur Vernunft (νους) und 8, 431 b 21-22 zur Seele, „die in gewisser Weise alles Seiende ist". 28 Vgl. Theol. Plat. XIV 3 (2,257 f. M. 258) : ideo i n t e l l e c t s pene res illa fit, quam intelligit. Fit, inquam, actu res ilia. Nam et potentia et quodammodo habitu res eadem erat etiam priusquam intelligeret, ut Plotinus existimat [vgl. V 5, 1 ; V 7, 1]. (...) Atque ita mens res quaelibet vera fit, quando res ipsas

184

De mente

Ba 677-678/M 333

omnibus omnium modo fruendo seipsam in omnia transformare? Ille ergo conatur ut universum fiat quodammodo intellectus, haec autem ut voluntas sit universum. Utrinque2 igitur naturalis ad hoc vergit animi nixus, quemadmodum inquit in Metaphysicis Avicenna, ut animus ipse modo suo totus mundus evadat. Videmus enim quemlibet animum naturali instinctu et continuo nixu conari, ut et cuncta vera intellectu cognoscat et cunctis bonis volúntate fruatur. Animi

origo finisque est solum verum atque bonum.

infinitum

Meminisse vero oportet universum ipsum, quod esse dicimus animi finem, esse penitus infinitum. Finem enim cuiusque praecipuum propriumque putamus quod proprie

2

utrinque: utrumque Ba.

Fünf Fragen über den Geist

185

nicht alles gemäß seiner jeweiligen Natur sich in alles zu verwandeln? Jene strebt danach, daß das Universum gewissermaßen Vernunft werde, dieser aber, daß der Wille das Universum werde. Beide also treibt hierzu ein natürliches Streben der Seele an, wovon Avicenna in der „Metaphysik" sagt, daß die Seele selbst auf ihre Weise die ganze Welt werde 29 . Wir sehen nämlich, daß jede Seele in natürlichem Trieb und beständigem Streben versucht, alles Wahre mittels der Vernunft zu erkennen und alles Gute mittels des Willens zu genießen. Der Ursprung und das Ziel der Seele1" ist allein das unendlich Wahre und Gute. Es muß erinnert werden, daß das All selbst, von dem wir sagten, es sei Ziel der Seele, gänzlich unendlich ist. Als Ziel im besonderen und eigentümlichen Sinne einer jeden intelligit, se in earum rationes perpetuas convertendo. Utraque fiunt quidem omnia intellectus omnia vera, voluntas omnia bona, sed intellectus res in seipsum transferendo illis unitru ; XV 15 (3,78 M.) : ipse (sc. intellectus agens) se format in ipsa (sc. re). Ebd. III 2 (1,141) leitet Ficino den psychologischen Hintergrund dieses Arguments ab: die Seele als vermittelnde Mitte des Seins ist die einzige Substanz außer Gott, die „alles zugleich" ist. 29 Dieses Diktum des Avicenna (Metaph. V 1) geht zurück auf Aristoteles, an. III8,431 b 21 : ή ψυχή τα όντα πώς έσπ πάντα. Vgl. Plotin V 5,1 ; V 7,1 ; III 6,18,24. Porphyrios sent. 16 (7,3 sqq. Lamberz); Nemesios, nat. hom. 7 (dazu P. Hadot, Porphyre et Victorinus, Paris 1968,1238). Vgl. Theol. Plat. XVII3 (3, 162 M.): quod saepe iam diximus, animam nostram esse quodammodo omnia. 30 Seele: animus. Ficino verwendet im folgenden den lateinischen Begriff animus durchgehend nahezu gleichbedeutend zu Geist. Wir haben in der Übersetzung dennoch Seele beibehalten. Einerseits, um den Unterschied im Sprachbild selbst wiederzugeben, andererseits, um den von Ficino intendier-

186

De mente

Ba 678/M 333-334

res quaeque summopere appétit tamquam s u m m u m cuique b o n u m , cuius gratia petit agitque reliqua, in quo tandem quiescit omnino, adeo ut finem naturae appetitusque stimulo iam prorsus imponat. Intellectui vero nostro conditio haec innata est, ut rei cuiusque requirat causam rursusque causae causam. Ideo non cessât u m q u a m inquisitio intellectus, nisi earn causam reperiat, cuius nulla sit causa, sed ipsa sit causa causarum. Id autem solus est D e u s immensus. Voluntatis quoque affectus nullo satiatur b o n o quatenus putamus b o n u m praeterea aliud superesse. Solo igitur eo satiatur b o n o ultra quod nihil est boni. Quid autem hoc aliud est, nisi D e u s immensus? Igitur quicquid aut veri aut boni offertur quod certos habeat gradus quamvi quamplurimos, adhuc plures intellectu requiris et ulterius appetis volúntate. U n d e nusquam nisi in vero b o n o q u e i m m e n s o potes quiescere neque finem nisi in infinito potes facere. C u m vero res quaeque in propria eius quiescat origine unde efficitur et ubi perficitur, animus vero noster in solo infinito quiescere valeat, sequitur ut solum quod est infinitum sit propria eius origo. Vocari autem idipsum proprie debet ipsa infinitas et aeternitas potiusquam vel aeternum quiddam vel infinitum. Quoniam vero effectus causae proximus evadit causae ipsi simillimus, consequens est ut anima infinita quodam-

Fünf Fragen über den Geist

187

Sache nehmen wir an, was eine jede Sache eigentlich in höchster Weise als ihr je höchstes Gut erstrebt, um dessentwillen sie alles übrige erstrebt und tut, ein Ziel, in dem sie schließlich vollständig zur Ruhe kommt, so sehr, daß sie dem Stimulus der Natur und der Begierde bald ein Ende macht. Für unsere Vernunft ist aber dies von Natur aus eigentümlich, daß sie die Ursache einer jeden Sache erforscht und wiederum die Ursachen dieser Ursache. Deshalb hört das Forschen der Vernunft niemals auf, es sei denn, sie fände die Ursache, von der es keine Ursache mehr gibt und die selbst Ursache der Ursachen ist. Dies aber ist allein der unermeßliche Gott. Auch der Affekt des Willens wird von keinem Gut gesättigt, solange wir glauben, daß außerdem noch ein anderes Gut übrig sei. Also wird er nur von dem Guten gesättigt, jenseits dessen es kein Gutes mehr gibt. Was ist dies aber anderes, als der unermeßliche Gott? Also was auch immer an Wahrem und Gutem angeboten wird, sofern es bestimmte Grade, wieviel auch immer, besitzt, du suchst noch mehr mit der Vernunft und erstrebst weiteres mit dem Willen. Daher kommst du nirgends zur Ruhe als im unermeßlichen Wahren und Guten, findest nirgends ein Ende, es sei denn im Unendlichen. Da aber jede Sache in dem ihr eigenen Ursprung, der sie hervorbrachte und worin sie vollendet wird, ruht, unsere Seele aber nur im Unendlichen Ruhe finden kann, folgt, daß nur das Unendliche ihr eigentümlicher Ursprung sein kann. Genannt werden muß dies aber eigentlich „Unendlichkeit selbst" und „Ewigkeit selbst", viel eher als entweder „etwas Ewiges" oder „etwas Unendliches". Da die der Ursache nächste Wirkung ihr am ähnlichsten wird, ergibt sich, daß die Seele eine gewisserma-

ten Bezug auf die spezifisch menschliche Verbindung von Geist und Seele nicht zu verwischen. Animus läßt sich deutsch nicht angemessen im Unterschied zu Geist oder Seele übersetzen.

188

De mente

Ba 678/M 334-335

modo virtus sit et aeterna, alioquin ad finem numquam proprie vergerei infinitum. Hinc nimirum efficitur ut nulli sint inter homines qui contenti sub caelo vivant opibus temporalibusque impleantur. Animus

optatum finem bonumque suum quandoque consequi potest.

Potest autem perfectum finem suum aliquando rationalis animus assequi. Si enim quae minus in natura perfecta sunt naturalem perfectionem suam in quaesiti finis habitu consequuntur, multo magis animus, qui est perfectissimus est et finis omnium naturalium. Si quae finem neque aliis neque sibi ipsa praescribunt, aliquando fine congruo potiuntur, multo magis et mens, quae finem suum aucupatur et reperit, finem rursus multis instituit, multorum praesagit, videt et omnium. Si naturalis patentia 3 in rebus vel minimis non est inanis, certe non est inanis in animo, qui usque adeo magnus existit ut quanto intervallo minima quaeque a maximis excedantur examussim dimetiatur.

3

patentia: potentia Ba

Fünf Fragen über den

Geist

189

ßen unendliche und ewige Kraft (virtus) ist; ansonsten würde sie niemals zu ihrem eigentümlichen unendlichen Ziele gelangen. Daher ist es kein Wunder, daß es unter den Menschen niemanden gibt, der zufrieden auf der Erde lebt und von zeitlichen Gütern wirklich erfüllt wird31. Die Seele kann ihr erstrebtes Ziel und Gut irgendwann erreichen.

Die vernünftige Seele kann ihr vollkommenes Ziel durchaus einmal erreichen. Wenn nämlich weniger vollkommene Naturdinge ihre Vollendung im Besitz eines erstrebten Zieles erlangen können, dann um so mehr die Seele, die sowohl das vollkommenste Naturding als auch das Ziel aller natürlichen Dinge ist. Wenn, was weder anderen noch sich selbst das Ziel vorgeben kann, einmal sein entsprechendes Ziel erlangen kann, dann gilt um so mehr für den Geist, der sein Ziel eijagt und selbst findet, daß er wiederum vielen ihr Ziel bestimmt, das Ziel vieler im voraus weiß und das Ziel aller erblickt. Wenn das natürliche Vermögen sogar in den geringsten Dingen nicht wirkungslos ist, ist es dies sicherlich auch nicht in der Seele, die doch von solcher Größe ist, daß sie ein beliebig großes Intervall, um das die Maxima die Minima übertreffen, genau mes31 Die unendliche „Kraft" (virtus) der Seele ist zu sehen mit Blick auf ihr höchstes Vermögen, d. h. auf die Vernunft bzw. den Geist (mens). Dazu vgl. Theol. Plat. VIII 16 (1, 382 M.); XV 13(3,75-76). Daß der Geist bzw. die Seele nur im Unendlichen, d. h. in Gott selbst zur Ruhe kommen können und im Endlichen eben keine Ruhe und kein Genügen finden zeigt auch Theol. Plat. VIII 16 (1, 331): mentis ardor numquam extinguitur (...) merito quiescit numquam, nisi infinitum Deum capiat, qui capacitatem eius ab ipso manantem impleat infinitam. Ebenso Χ 8 (2, 87): ñeque intellectus ñeque voluntas in rebus ipsis quiescere potest sed ille revolvit in Deum, haec refert ad Deum.

190

De mente

Ba 678/M 335

Accedit quod animus haudquaquam finem certum naturaliter sequeretur nisi posset et assequi. Qua enim alia potentia movetur ad ilium, nisi qua potest etiam pervenire? Videmus praeterea ilium, quando impense contendit, multum in eiusmodi motu proficere. Qua vero virtute proficit, eadem quandoque perficitur. Videmus denique vehementius paulatim vehementiusque moveri, quemadmodum elementum quodlibet quo naturali termino propinquat magis eo movetur velocius. Ergo sicuti neque elementum, ita neque mens ab alio in aliud semper praeter terminum frustra progreditur, sed terminum quandoque attingit suiipsius gratia exoptatum. Sunt autem in rebus actionibusque naturalibus et humanis principia quaedam, sunt et fines. Contra naturam ipsam rationemque principii est ab alio semper principio ad aliud ascendere sine principio. Contra rationem finis est

Fünf Fragen über den Geist

191

sen kann. Hinzu kommt, daß die Seele wohl kaum ein bestimmtes Ziel auf natürliche Weise verfolgen würde, wenn sie es nicht auch erreichen könnte. Durch welches andere Vermögen bewegte sie sich denn zu jenem Ziel, wenn nicht durch dasselbe, durch das sie auch hingelangen kann? Außerdem sehen wir, daß jene, wenn sie sich nachdrücklich bemüht, in dieser Form der (zielgerichteten) Bewegung viel erreicht. Mit derselben Kraft, mit der sie diese Fortschritte macht, wird sie dann auch vervollkommnet. Schließlich sehen wir die Seele allmählich immer heftiger sich bewegen, wie auch jedes Element, je mehr es sich seiner natürlichen Zielbestimmumg nähert, sich um so schneller bewegt32. Also: so wie das Element wird auch die Vernunft nicht immer vergeblich von einem zum anderen ohne Grenzen fortschreiten, sondern vielmehr irgendwann den um seiner selbst willen erstrebten Endpunkt berühren. Es gibt nämlich sowohl in den natürlichen wie in den menschlichen Dingen und Tätigkeiten Prinzipien und Zielbestimmungen 33 . Es verstößt dabei gegen die Natur und den Begriff des Prinzips, immer weiter von einem Prinzip zu einem anderen aufzusteigen ohne ein Prinzip dieses Aufstiegs. Ebenso verstößt es gegen den Begriff des 32 Vgl. Aristoteles cael. I 8, 277 a; IV 4, 3 1 1 b 31 ff. und die Bezugnahme des Ficino darauf in Theol. Plat. XIV 2 ( 2 , 2 5 1 252 M.) : n e m p e elementa, quae naturali cupiditate sua petunt loca, tanto feruntur rapacius, quanto magis locis suis finibusque propinquant. Daraus folge mit Aristoteles, daß eine Bewegung nicht ins Unendliche gehen könne, sondern, indiziert durch die Zunahme an Schnelligkeit und Heftigkeit, nur bis zu e i n e m bestimmten, d. h. natürlich festgelegten Zielpunkt (ad certum aliquid). 33 Theol. Plat. X V (3, 20 M.): principale agens sequentia movet agentia. Principalis finis reliquos cogit fines. In diesen absoluten Grenzen bewegt sich jedes v o m absoluten ersten Prinzip abhängige Sein.

192

De mente

Ba 678-679/M 335-336

a fine deinceps in finem descendere sine fine. Omnis actio a summo agente, omnis appetitio a fine summo ducit originem. Quaecumque enim propter aliud talia sunt vel talia, ad ipsum quod propter se tale existit necessario reducuntur. Igitur si utrinque summa desunt, neque actio prorsus incipiet ulla, neque appetitus aliquis incitabitur. Denique cum motor suiipsius gratia moveat, ubi summus est motor, summus finis pariter reperitur. Idque et in ordine rerum quolibet verum est, et in ordine similiter universi. Sed iuvat rationem de mente superiorem aliquanto latius explicare. Si quis a nobis quaerat utrum horum perfectius sit, intellectusne an sensus, intelligibilene sive sensibile, promittemus ei nos quod desiderat protinus ostensuros, si modo nobis prius ad hoc unum ipse responderit. Seis, o amice, qui me rogas, esse aliquid in teipso quod aliquam habet utrorumque notitiam, notitiam, inquam, intellectus ipsius et sensus, rursum intelligibilis atque sen-

Fünf Fragen über den Geist

193

Zieles ziellos von einem Ziel in andere Zielbestimmungen abzusteigen. Jegliche Tätigkeit entspringt einem höchsten aktiven Prinzip und jedes Streben einem höchsten Strebensziel. Was auch immer also wegen eines anderen so oder so beschaffen ist, wird notwendig zurückgeführt auf dasjenige, was von sich aus als ein solches existiert34. Wenn also auf beiden Seiten das Höchste fehlt, wird weder überhaupt irgendeine Tätigkeit beginnen noch irgendein Streben angeregt werden. Wenn schließlich das Bewegungsprinzip um seiner selbst willen bewegt, dann findet sich auch da, wo der höchste Beweger ist, in gleicher Weise das höchste Ziel. Dies trifft zu für jede beliebige Ordnung der Dinge und vergleichbar für die Ordnung des Alls überhaupt. Aber es mag hilfreich sein, die oben angeführte These über den Geist noch etwas weiter zu explizieren. Wenn einer uns fragte, was von beiden vollkommener sei, die Vernunft oder die Sinnlichkeit, das vernünftig Einsehbare oder das sinnlich Erkennbare35, dann würden wir ihm versprechen, das, was er begehrte, bald aufzuzeigen, wenn er uns nur zuvor auf dies Eine geantwortet hätte : Du weißt, o Freund, der du mich fragst, daß es etwas in dir selbst gibt, das von beidem eine bestimmte Vorstellung (notitia) hat. Eine Vorstellung, meine ich, von der Vernunft selbst und der Sinnlichkeit, wie auch vom Intelligiblen und Sensi34 Zur „schlechten Unendlichkeit" des Prinzipien- und Ziellosen Rückganges (In Plotinum Comm., Opera 1579) oder Fortschreitens (regressus/progressus in infinitum) vgl. die Hinweise bei Kristeller 1972, 41. 35 Zum „Paragone" von Sinnlichkeit und Intellekt vgl. De amore V 2. Die sachliche Bedingung fur den folgenden wertenden Vergleich liegt für Ficino in seinem auf platonische Grundlagen zurückgehenden (Plotin, Augustinus) Konzept von der Seele als einer vermittelnden Mitte des Seins oder der Welt (medium, nodus resp. copula mundi), vgl. Leinkauf 1992, 743 f.

194

De mente

Ba 679/M 336

sibilis. Eadem enim vis quae haec invicem comparai, iam utraque quodammo videt. Responde igitur, numquid vis eiusmodi sit intellectus an sensus. Responde, quaeso, libenter, ut hac ego responsione tua mox tuae illi interrogationi respondeam. Iam igitur te sic audio respondentem. Virtus eiusmodi non est sensus. Omnes enim continue sensibus utimur, ac maxime et intentissime utimur. Si igitur sensus videre se posset et illa, vel omnes vel quamplurimi facileque et clare vim ipsam sentiendi et intelligendi atque intelligibilia sensibiliaque cognoscerent. Cum vero paucissimi sint qui ista cognoscant omnia, atque ii quidem vix et nonnisi diuturna intelligentiae argumentatione cognoscant, certum est sensum nequaquam nosse vel seipsum vel intellectum et intellectus obiecta. Immo vero haec omnia constat ab intellectu cognosci. Praeterea vis ilia quae de utrisque perquirit eadem est ac ilia quae etiam ratiocinando haec invenit et ratione concludit utrum sit inter illa perfectius. Quod autem ratiocinando quaerit rationemque assignat, ratio est, non sensus, Igitur solus intellectus est qui haec omnia novit. Igitur et ego priori tuae illi quaestioni iam ita respondeo. Tanto saltern perfectior intellectus est quam sensus, quanto vis eius latius perfectiusque propagatur agendo. Sensus, ut ipse monstrabas, neque seipsum neque intellec-

Fünf Fragen über den Geist

195

bien. Dasselbe Vermögen nämlich, das die beiden gegenseitig vergleicht, sieht auch zwangsläufig beide. Antworte also nun, ob dieses Vermögen der Vernunft oder der Sinnlichkeit eignet? Antworte, bitte ich, gerade heraus, damit ich mittels dieser deiner Antwort auch gleich darauf deine Frage beantworten kann. Schon höre ich dich aber folgendermaßen replizieren: dieses Vermögen ist nicht Sinnlichkeit. Wir gebrauchen ja alle andauernd unsere Sinne, und zwar auf sehr ausgeprägte und aufmerksame Weise. Wenn also die Sinne sich und jenes 36 sehen könnten, dann würden auch jene, entweder alle oder doch die meisten, leicht und klar sowohl die Kraft der sinnlichen Wahrnehmung und das Vermögen vernünftiger Erkenntnis selbst als auch die intelligiblen und sensiblen Dinge erkennen. Da es aber nur sehr wenige sind, die dieses alles erkennen, und auch die nur unzureichend und nur durch lang anhaltende Argumentation der Vernunft, ist es gewiß, daß das Sinnesvermögen niemals etwas weiß, weder von sich selbst, von der Vernunft noch von den Gegenständen der Vernunft. Vielmehr steht fest, daß dies alles von der Vernunft erkannt wird. Außerdem ist jenes Vermögen, welches beide Bereiche erforscht, identisch mit dem, welches mittels diskursiver Überlegung dies findet und durch einen Akt des Verstandes schließt, welches von jenen vollkommener sei. Was aber diskursiv etwas erforscht und rational etwas bestimmt, heißt Verstand und nicht Sinnlichkeit. Es ist also allein die Vernunft, die alles dies erkannt hat. Also antworte ich jetzt jener von Dir zuvor gestellten Frage folgendermaßen : Die Vernunft ist um soviel vollkommener als die Sinnlichkeit, um wieviel sie, indem sie tätig ist, weiter und vollkommener ausgefaltet wird. Die Sinnlichkeit aber kann, wie Du selbst gezeigt hast, weder sich selbst noch die Vernunft und die

36 illa: Wir vermuten, daß hiermit die intelligibilia angesprochen sind.

196

De mente

Ba 679/M 336-337

tum intellectusque obiecta potest agnoscere, intellectus autem utraque noscit. Accedit alius quidem perfectionis gradus. Quippe intellectus quando se atque sensum caeteraque quantum ad perfectionis attinet gradus invicem comparai, iam summam ipsam perfectionis formam quasi ante oculos habet, ad quam utraque conferens, quod ad ipsum4 accedit propinquius, idem iudicat esse perfectius. Si summam perfectionis attingit formam, proculdubio ex summa quadam ad eam proportione hanc attingit. Non solum igitur perfectior est quam sensus, sed etiam pene post perfectionem ipsam summe perfectus. Video tertium insuper perfectionis intelligentiae gradum, nam dum quaerit iudicatque seipsam, certe reflectitur in seipsam. Quod autem tale est, etiam in seipso existit et permanet, est insuper incorporeum penitus atque simplex. Denique cum ex seipso ad seipsum motu circulad progrediatur, potest utique sempiterne moveri, hoc est agere semper et vivere. Mitto quod intellectus tamquam perfectior paucioribus est communis seriusque et rarius exercetur, ac tamquam finis post vegetationis usum sensumque conceditur. Dat

4

ad ipsum : Wir lesen, obgleich ad ipsum [sc. intellectum] möglich wäre, ad ipsam [sc. formam].

Fünf Fragen über den Geist

197

Gegenstände der Vernunft erkennen. Die Vernunft jedoch kennt beide. Es kommt hier sogar ein anderer Grad von Vollkommenheit hinzu. Die Vernunft hat nämlich, wenn sie sich selbst, die Sinnlichkeit und die übrigen Dinge, was den Vollkommenheitsgrad angeht, untereinander vergleicht, immer schon die höchste Form der Vollkommenheit selbst gleichsam vor den Augen. Zu dieser Form beide (Vernunft und Sinnlichkeit) in Beziehung setzend, beurteilt sie eben das als vollkommener, was dieser Form näher kommt. Wenn sie also die höchste Form der Vollkommenheit berührt, dann tut sie dies ohne Zweifel wegen ihrer höchsten Entsprechung zu dieser Form. Die Vernunft ist also nicht nur vollkommener als die Sinnlichkeit, sondern auch, nach der Vollkommenheit selbst, zuhöchst vollkommen. Ich sehe aber noch zusätzlich einen dritten Grad der Vollkommenheit der Vernunft: während sie sich selbst erforscht und beurteilt, bezieht sie sich sicherlich auf sich selbst zurück. Was aber von solcher Beschaffenheit ist, existiert in sich und verharrt in sich und ist zusätzlich völlig unkörperlich und einfach37. Da sie schließlich aus sich selbst zu sich selbst hin in kreisförmiger Bewegung fortschreitet, kann sie sich in ewiger Dauer bewegen, d. h. immer tätig sein und leben. Ich übergehe hierbei, daß die Vernunft als etwas Vollkommeneres eben weniger Menschen gemeinsam ist und wenn überhaupt, dann später und seltener zum Austrag kommt; und daß sie uns als Zielbestimmung erst nach dem Gebrauch des vegetativen Vermögens und nach der Sinnlichkeit zugestanden wird. Sie gibt der Sinnlich-

37 Vgl. De amore VI 15 (213 f. M.), VII 13 (257 M.). Zur reflexiven, intelligiblen und einfachen Struktur des Intellekts vgl. Plotin, V 9 , 5 , 1 ff. ; V 1,7; VI 4,11,15 f. Dionysius Areopagita, div. nom. IV 8 (704 D).

198

De

mente

Ba 679/M 337

sensui regulam atque leges finemque praescribit seipsum ad agendum pro arbitrio ducit quando ratiocinatur atque consultât. Sensus autem, ubi ratio non resistit, instinctu semper naturae propellitur. Mitto quod ratio saepe aliter eligit quam sensus et usus corporis exigat, quia videlicet electionis principium non pendet a corpore, alioquin finis eius semper spectaret ad corpus. Rationem certe in motu suo nequaquam subdi corporibus ex eo perspicitur quod speculando transcendit corpora, consultando se ad diversa oppositaque extendit, eligendo corporis inclinationi saepe répugnât. Quare multominus in essentia vitaque corporibus ullis subiicitur. Quid? Quod sensus procedente aetate quoddammodo hebetari videtur, intellectus vero nequaquam. Potest tarnen ab intentione speculationis averti, quando in curando colendoque corpore nimium occupatur. Quid? Quod sensus ipsius obiectum quotiens vehementius est, laedit subito sensum, atque post illius occursum non potest e vestigio sensus debiliora discernere. Sic offendit oculum splendor exuberantior, sic offendit aures strepitus vehementior. Mens vero contra ab excellentissimo sui obiecto neque laeditur, neque confunditur. Immo eo cognito inferiora simul clarius veriusque discernit. Quod quidem mentis naturam esse significat summopere spirita-

Fünf Fragen über den Geist

199

keit die Regel und schreibt ihr Gesetz und Zielbestimmung vor, sich selbst versetzt sie nach Belieben in Tätigkeit, wenn sie diskursiv reflektiert und mit sich zu Rate geht. Die Sinnlichkeit jedoch wird, wenn der Verstand nicht Widerstand bietet, immer nur durch Trieb und Naturanlage angetrieben. Ich übergehe außerdem, daß der Verstand häufig anders entscheidet, als der Sinn und die Gewohnheit des Körpers erfordern, dies deshalb, weil das Prinzip der Wahl nicht vom Körper abhängt. Andernfalls würde seine Zielbestimmung immer auf den Körper bezogen sein. Daß der Verstand in seiner Bewegung sicherlich niemals den Körpern unterworfen ist, wird aus Folgendem klar ersichtlich: Wenn er vernünftig reflektiert, übersteigt er die Körper, wenn er überlegt, erstreckt er sich auf verschiedene und entgegengesetzte Dinge und bei seiner Wahl widersetzt er sich oft der Neigung des Körpers. Daher wird er noch viel weniger betreffs seiner Wesensform und seines Lebens irgendwelchen Körpern unterworfen. Was bedeutet es denn, daß das Sinnesvermögen mit zunehmendem Alter schwächer zu werden scheint, die Vernunft jedoch niemals? Trotzdem kann sie von der Anspannung der Betrachtung abgelenkt werden, wenn sie zu sehr durch die Sorge und Pflege des Körpers in Anspruch genommen wird. Was bedeutet es denn, daß, so oft ein Gegenstand des Sinnesvermögens selbst zu heftig einwirkt, dieser das Vermögen sofort schädigt und daß das Sinnesvermögen unmittelbar nach diesem Vorgang in der Folge schwächere Gegenstände nicht mehr unterscheiden kann? So greift nämlich ein übermäßiger Glanz das Auge, so ein zu heftiger Lärm die Ohren an. Der Geist dagegen wird von seinem hervorragendsten Gegenstand niemals geschädigt noch verwirrt. Vielmehr unterscheidet und beurteilt er die untergeordneten Dinge, gerade weil er diesen Gegensatz kennt, zugleich deutlicher und wahrhaftiger38. Dies zeigt vielmehr, daß die Natur des Geistes von 38 Vgl. Aristoteles, an. III 4, 429 a 31 - b 4. Thomas, ScG III 59.

200

De mente

Ba 679-680/M 337-338

lem et excellentem. Quid? Quod sensus solis corporeis terminatur obiectis, intellectus autem secundum intimam actionem ab omnibus emergit corporibus, utpote qui secundum essentiam atque vitam non sit submersus. Formas corporales separat a materiae passionibus, formas quoque illas, quae per se penitus sunt, incorporeae discernit a corporalibus, quippe qui ipse a materiae passionibus atque a corporalis formae conditionibus sit separatus. Praeterea sensus particularibus solum obiectis est contentus. Familiaria vero intellectus obiecta rationes ipsae rerum sunt universales et sempiternae, quas non aliter quam per praecipuam quamdam ad ipsas proportionem familiariter potest attingere, ex quo apparet ipse quoque absolutus et sempiternus. Praesertim quia rationes eiusmodi per species quasdam attingit, quas ipsemet et facit et suscipit. Quas esse necessarium est a materiae passionibus absolutas, alioquin rationes ideasque illas referre non possent. Intellectus autem ipse nisi a materiae passionibus

Fünf Fragen über den

Geist

201

höchster Spiritualität und zuhöchst herausragend ist. Was bedeutet es denn, daß das Sinnesvermögen ausschließlich von körperlichen Gegenständen bestimmt wird, die Vernunft aber gemäß einer inneren Tätigkeit aus allem Körperlichen „auftaucht", da sie ja hinsichtlich ihres Wesens und Lebens nicht „untergetaucht" ist39? Sie trennt die körperlichen Formbestimmungen von den materiellen Affekten, und sie unterscheidet die vollständig für sich seienden, d. h. unkörperlichen Formen von den körperlichen Formbestimmungen, und zwar weil sie selbst von den Affekten der Materie und den Bedingungen der Körperform getrennt ist. Außerdem gibt sich die Sinnlichkeit mit nur einzelnen Gegenständen zufrieden. Die der Vernunft zugehörigen Gegenstände dagegen sind die allgemeinen und ewigen Ideen selbst der Dinge, die sie nicht anders als dadurch, daß sie in einem ausgezeichneten Verhältnis zu diesen steht, als ihr verwandt berühren kann. Aus diesem Zusammenhang wird klar, daß auch sie selbst absolut und ewig ist. Insbesondere da sie diese Ideen durch Spezies berührt, die sie sowohl durch sich selbst hervorbringt, als auch in sich aufnimmt. Dabei ist es notwendig, daß diese Spezies frei von materiellen Bestimmungen sind, andernfalls könnten sie sich nicht auf jene Ideen beziehen. Die Ver-

39 Vgl. Theol. Plat. XVI 7 (3, 131 M. bes. 139): animus numquam cogitur aliunde, sed amore se mergit in corpus, amore emergi e corpore mit Augustinus Conf. XIII 7,8: mergimur et emergimus? Zur Unkörperlichkeit der Seelensubstanz bei Augustinus vgl. gen. litt. VII 15, 21; 19, 25 u. bes. 21, 28 mit Plotin, V 3, 1, 24; V 5, 1, 7; Porphyrios, sent. XI u. XXXVII. Zum platonischen Topos des „Eintauchens" bzw. des „Falles" der Seele bzw. des seelischen Intellektes von ihrem/seinem rein intelligiblen Einheitsgrund in die vielheitlich sensible Dimension des Körperlichen vgl. insbes. Plotin IV 8,8, 2-6.

202

De mente

Ba 680/M 338

liber existeret, species eiusmodi neque hoc pacto facere posset neque suscipere. Mens magis quam sensus optatum consequi potest.

flnem

Ratio quidem nobis propria est. Non enim bestiis earn Deus infudit, alioquin dedisset eisdem sermonem tanquam rationis Interpretern, manum insuper tanquam rationis ministrum et instrumentum. Praeterea videremus in bestiis aliqua consultationis varietatisque5 indicia. Nunc autem videmus eas numquam aliter facere quam impulsu naturae ad necessitatem dumtaxat corporis impellantur. Omnes araneae similiter texunt telam, neque texere discunt, neque tempore quamvis longo in melius texendo proficiunt. Postremo apparerent in brutis certa quaedam religionis indicia atque opera omnibus manifesta. Ubi

5

varietatis : veritatis Ba. Wir lesen mit Marcel und im Blick auf den Kontext (consultationis) varietatis und verstehen varietas hier im Sinne von Verschiedenheit und Gegensatz bzw. Abweichungen von Meinungen.

Fünf Fragen über den Geist

203

nunft selbst könnte daher, wenn sie nicht von materiellen Affekten frei wäre, Spezies dieser Art auf diese Weise weder bilden noch aufnehmen. Der Geist ist viel eher in der Lage sein Ziel zu erreichen als die Sinne.

Uns ist der Verstand eigen, Gott hat ihn nicht den Tieren eingegeben. Andernfalls hätte er ihnen auch die Redefähigkeit als Vermittlerin der Verstandestätigkeit und darüber hinaus die Hände als Diener und Werkzeug des Verstandes eingegeben; außerdem würden wir in diesem Falle einige Anzeichen von Überlegung und von verschiedenen Meinungen bei den Tieren finden. Nun sehen wir jedoch, daß sie etwas immer nur aus natürlichem Antrieb verrichten; und sie werden dabei ausschließlich zu den körperlichen Notwendigkeiten hingetrieben. Alle Spinnen z.B. weben ihr Netz auf die gleiche Weise, wobei sie weder das Weben lernen, noch in einer beliebigen Zeit etwa dazu gelangen, besser zu weben als zuvor40. Schließlich würden bei den Tieren bestimmte Hinweise auf Religiosität und damit zusammenhängende, allen sichtbare Handlungen

40 Der Spinnen-Vergleich gehört, neben dem mit den Bienen oder Schwalben, in die Topik der Diskussion um Freiheit/ Notwendigkeit und Kunst/Natur, vgl. Theol. Plat. IX 4 (2, 19f. M.), XIII 3 (2, 223 f.); XIV 9 (2, 279). Im Kontext steht meist entweder stoisch inspirierte Kosmologie, die die Präsenz rationaler Gesetzmäßigkeiten in der Welt als Ausdruck göttlicher Weltordnung hervorhebt, oder - wie durchgehend bei Ficino - eine platonisch-christliche Anthropologie, die die Dignität des Menschen durch Vergleich mit der hohen, aber rein trieb- und notwendigkeits-diktierten „Kunstfertigkeit" der Natur potenzieren will.

204

De mente

Ba 680/M 338-339

enim intellectus adest, qui tamquam oculus quidam est ad lumen intelligibile constitutus, ibi quoque intelligibile lumen, qui Deus est, lucet, suspicitur et amatur et colitur. Quanto intellectus perfectior est quam sensus, tanto saltern homo perfectior est quam brutum, atque ex hoc ipso est perfectior quod habet ipse proprium bestiis non commune. Itaque propter intelligentiam tantum perfectior iudicatur. Praesertim cum intelligentiae muñere ad infinitam perfectionem, qui Deus est, affectu, speculatione cultuque accedat. Perfectio autem cuiusque praecipua in convenientis finis possessione consistit, cuius quidem consecutio tanto facilior est et plenior quanto innata perfectio est uberior. Ubi enim perfectio illa formalis quae innascitur ab initio praevalet, ibidem naturae ordine finalis ipsa perfectio abundantius et facilius feliciusque conceditur, siquidem illa huic obsequitur, haec illius obsequio provenit. Unde concluditur, ut multo magis faciliusque ratio quam sensus, homo quam brutum finem congruum optatumque consequi possit.

Fünf Fragen über den Geist

205

erscheinen41. Wo nämlich Vernunft zugegen ist, die ja gleichsam als ein dem intelligiblen Licht zugeordnetes Auge geschaffen ist, dort leuchtet auch das intelligible Licht, welches Gott ist, auf, und wird empfangen, geliebt und verehrt42. Um soviel die Vernunft vollkommener ist als die Sinnlichkeit, um soviel ist wenigstens der Mensch vollkommener als das Tier. Und er ist gerade deswegen vollkommener, weil er selbst etwas zu eigen hat, was den Tieren nicht gemein ist. Daher wird er nur wegen der Vernunft als vollkommener eingeschätzt. Besonders da er sich mittels der Tätigkeit der Vernunft der unendlichen Vollkommenheit, die Gott ist, durch Zuneigung (Liebe), Betrachtung und Verehrung nähert. Jede Vollkommenheit besteht insbesondere im Besitz des angemessenen Zieles, das um so leichter und vollständiger erlangt wird, je reicher die angeborene Vollkommenheit ist. Wo nämlich jene formale Vollkommenheit, die von Anfang an eingeboren ist, vorherrscht, da wird gemäß natürlicher Ordnung die endgültige Vollkommenheit reichhaltiger, leichter und glücklicher zugestanden; wenn wirklich jene dieser gehorcht und diese aus dem Gehorsam von jener hervorgeht. Hieraus folgt, daß viel eher und einfacher der Verstand als die Sinnlichkeit und der Mensch als das Tier das entsprechende und erstrebte Ziel erreichen kann.

41 Ficino versucht immer wieder (vgl. Opera 474, 647; Suppl. Ficin. 111 ; Theol. Plat. XIV 9; 2,280 M.), die Religiosität des Menschen als genuinen Ausdruck seiner Vernunftnatur zu erweisen, einer Natur, die ihn scharf von dem Wesen der Tiere trennt und ihn in ein exzeptionelles Verhältnis zum „Gegenstand" der Religion, zu Gott, setzt. Vgl. Kristeller 1972, 301-303. 42 Zu diesem auf das platonische Sonnengleichnis zurückgehenden Zusammenhang vgl. Tertia platonicae sapientiae clavis n. 3 (3, 305 M.) und Compendium, S. 120/121.

206

De mente

Ba 680/M 339

Immortalis animus in corpore mortali semper est miser. Experimur autem in nobis bestiam nostrani, id est, sensum, finem suum bonumque saepissime consequi, quando scilicet sufficientis obiecti sui consecutione, quantum ad ipsum pertinet, prorsus impletur. Homo vero noster, id est ratio, quando finem consequatur optatum non experimur. Nam in summis etiam corporis voluptatibus, quando sensus ipse, quantum in se est, impletur omnino, ratio adhuc vehementer sollicitatur sensumque sollicitât. Sive enim sensibus obsequi velit, semper aliquid suspicatur, nova machinatur oblectamenta, continue nescio quid ultra requirit. Sive sensibus repugnare contendat, vitam reddit laboriosam. Utrobique igitur non solum ipsa non est felix, verumetiam sensus ipsius felicitatem penitus interturbat. Sive iam domuerit sensum seque in seipsa collegerit, tunc, propria impellente natura, rationes rerum causasque perquirit. Ubi aut invenit saepe quod nollet aut non invenit saepe quod vellet, aut forte non tantum comprehendit, quantum cupit et capit. Semper certe ambigit et vacillai et angitur.

Fünf Fragen über den Geist

207

Die unsterbliche Seele ist im sterblichen Körper immer unglücklich. Wir machen die Erfahrung, daß das „Tier" in uns, d. h. unsere Sinnlichkeit, sehr häufig ihr Ziel und das für sie Gute erreicht, und zwar dann, wenn sie vollständig, so viel von ihr abhängt, durch das Erreichen ihres angemessenen Gegenstandes zufriedengestellt ist. Wann unser „Mensch" dagegen, d. h. der Verstand, sein gewünschtes Ziel erreicht, erfahren wir nicht43. Denn auch in den höchsten körperlichen Lustzuständen, wenn die Sinnlichkeit selbst, soweit es ihr möglich ist, vollkommen befriedigt ist, wird der Verstand weiterhin heftig erregt und erregt wiederum die Sinnlichkeit. Sei es nämlich, daß er den Sinnen gehorchen wollte, so argwöhnt er immer wieder anderes, heckt neue Genüsse aus und sucht andauernd irgend etwas, ich weiß nicht was, noch jenseits von diesen. Sei es, daß er sich bemüht, die Sinne zu bekämpfen, so verschafft er sich ein mühseliges Leben. In beiden Fällen ist nicht nur der Verstand nicht glücklich, sondern er verwirrt auch vollständig das der Sinnlichkeit eigene Glück. Sei es aber auch, daß er die Sinnlichkeit schon bezwungen und sich in sich selbst versammelt hat, dann erforscht er, durch die ihm eigene Natur angetrieben, erst recht die Seinsgründe und Prinzipien der Dinge. Wobei er aber häufig findet, was er nicht wollte, oder auch häufig nicht findet, was er eigentlich wollte, oder vielleicht nicht so viel erfassen kann, wieviel er begehrt und erfassen könnte. Immer aber ist er unschlüssig, schwankt und ist ängstlich.

43 Zu den Wendungen „Tier in uns" und „unser Mensch" vgl. Plotin I 1, 10, 5-10; III 2, 8 und VI 7, 4-6; die Zuordnung Fleisch (Sinne) - äußerer Mensch und Geist - innerer Mensch bei Paulus, Römer 7-8. Allgemein zum Verhältnis sensus-ratio bei Ficino Kristeller 1972, 357 ff.

208

Demente

Ba 680-681 /M 339-340

Cum igitur nusquam quieta sit, certe numquam, dum sic afficitur, vel ipsa fine potitur optato vel sensum praesente iam fine suo potili permittit. Nihil vero irrationabilius fingi potest quam hominem, qui per rationem est animalium, immo omnium, quae sub caelo sunt, perfectissimus; perfectissimus, inquam, quantum ad formalem perfectionem illam quae tributa nobis est ab initio, ob eamdem rationem esse omnium imperfectissimum, quantum ad finalem illam perfectionem ad quam consequendam perfectio prima tribuitur. Hic esse videtur infelicissimus ille Prometheus, qui divina sapienta Palladis instructus, ignemque caelestem, id est rationem adeptus, ob hoc ipsum in summo vertice montis, hoc est in ipsa contemplationis arce, ob continuum avis rapacissimae morsum, id est inquisitionis stimulum, miserrimus omnium merito iudicatur, donec transferatur eodem, unde olim acceperat ignem, ut quemadmodum uno ilio luminis superni radiolo nunc assidue stimulatur ad totum, sic toto deinde lumine penitus impleatur. Homo quam difficile extra habitum naturalem positus felicitatem sequitur, tam facile hanc in naturalem habitum restitutus assequitur. Rationes de facilitate felicitatis humanae in superioribus primo nobis adductae veritatem ipsam naturali quodam

Fünf Fragen über den Geist

209

Wenn der Verstand also niemals Ruhe findet, wird er sicherlich auch niemals - solange er auf diese Weise affiziert wird - entweder selbst seines erstrebten Zieles Herr werden noch zulassen, daß die Sinnlichkeit, ihres Zieles schon gewärtig, dieses genießt. Man kann sich aber nichts Irrationaleres vorstellen als Folgendes: daß der Mensch, der wegen seines Verstandes das Vollkommenste aller Lebewesen ist, ja überhaupt aller der Dinge, die sich unter dem Himmel befinden; das Vollkommenste, sage ich, hinsichtlich der formalen Vollkommenheit, die uns von Anfang an verliehen ist; daß der Mensch aus eben demselben Grunde das Unvollkommenste von allen sei, hinsichtlich jener zielbestimmten Vollkommenheit, zu deren Erlangung die erste (formale) Vollkommenheit ja verliehen wurde. Ein solcher scheint jener allerunglücklichste Prometheus zu sein, der, durch die göttliche Weisheit der Pallas unterwiesen und nachdem er das himmlische Feuer, d. h. den Verstand, erlangt hat, sich eben deshalb auf dem höchsten Gipfel des Berges, d. h. auf dem Gipfel der (geistigen) Betrachtung befindet und wegen des andauernden Bisses des wildesten Vogels, d. h. des Forschungsdranges, zu Recht als der Erbarmungswürdigste von allen gilt. Und zwar solange, bis er schließlich dorthin gebracht wird, wo er einst das Feuer empfangen hatte, damit er, so wie er jetzt unablässig von jenem einen kleinen Strahl des höchsten Lichtes zum ganzen (Licht) angetrieben wird, dann vollständig vom ganzen Licht erfüllt werde. So beschwerlich der Mensch, sofern er außerhalb seines natürlichen Standes gesetzt ist, seine Glückseligkeit zu erreichen sucht, so leicht erlangt er sie, wenn er in diesen Stand wieder eingesetzt ist. Die im Vorhergehenden zuerst von uns angeführten Gründe betreffs der leichten Zugänglichkeit der menschli-

210

De mente

Ba 681/M 340-341

ordine monstrare perspicue videbantur. Undenam igitur, quemadmodum experientia docet, tanta nobis ad beatitudinem contendentibus opponitur difficultas? Ut grande illud Sisyphi saxum per montis ardua sursum volvere videamur. Quid mirum? Summa Olympi montis fastigia petimus. Infimae vallis habitamus abyssum. Onerosissimi corporis sarcina premimur. Dum anhelamus in arduum, saepe tam ipso pondere quam praeruptis undique rupibus in praeceps repente relabimur. Quid? Quod illinc offendicula et obstacula quamplurima detinent, illinc pratorum quorumdam blandimenta noxia demorantur. Sic igitur, heu miseris, sic extra sublimem patriam religatis in infimo nihil usquam obiicitur non valde difficile, nihil occurrit non undique miserum. Quidnam ad ambiguitatem eiusmodi respondebimus? Illinc argumentatio facilitatem summam pollicebatur, hinc experientia summam pariter monstrat difficultatem. Tantam denique litem sola nobis lex Mosaica dirimet. Extra naturae primae ordinem positi sumus, praeter naturae ordinem, proh dolor, agimus atque patimur. Primus homo quam facile primum omnino conversus ad Deum felicitatem accipere poterat, tam facile deinde illinc aversus ipsam amisit facilitatem. Cuneta igitur parentis primi propago tam difficile extra naturae prioris ordinem posita beatitudinem recipit, quam facile in ordinem ipsum restituta reciperet.

Fünf Fragen über den Geist

211

chen Glückseligkeit scheinen die Wahrheit selbst sehr deutlich durch die natürliche Ordnung aufzuzeigen. Woher entstehen uns dann also, wie es ja die Erfahrung lehrt, so große Schwierigkeiten, wenn wir uns bemühen, die Glückseligkeit zu erlangen, so daß es aussieht als wälzten wir jenen riesigen Stein des Sisyphus auf die steile Berghöhe? Was Wunder allerdings, erstreben wir doch die höchsten Gipfel des olympischen Berges und leben im Abgrund des tiefsten Tales. Wir werden niedergedrückt durch die Last eines äußerst beschwerlichen Körpers und während wir also nach der steilen Höhe keuchen, stürzen wir oft plötzlich ebenso wegen unsres eigenen Gewichtes wie wegen der überall hervorragenden Felsschründe kopfüber hinab. Was heißt es, daß uns auf der einen Seite so viele Hindernisse und Widrigkeiten wie möglich abhalten und uns auf der anderen Seite schädliche Reize bestimmter Wiesen aufhalten? So also, o ihr Elenden, so also aus dem höchsten Vaterland ins Unterste verbannt, tritt nichts Euch entgegen, was nicht äußerst schwierig ist, und nichts widerfahrt Euch, was nicht in jeder Hinsicht erbärmlich ist. Was werden wir also auf eine solche Zweideutigkeit entgegnen? Dort verhieß die Beweisführung höchste Leichtigkeit, hier dagegen zeigt die Erfahrung in gleicher Weise höchste Schwierigkeit. Einen so großen Widerstreit vermag für uns nur das Gesetz Mose aufzuheben. Aus der Ordnung der ersten Natur sind wir ausgeschlossen, außerhalb der Ordnung der Natur, welch ein Schmerz, handeln und leiden wir. So leicht wie der erste Mensch, anfänglich ganz Gott zugewandt, die Glückseligkeit empfangen konnte, so leicht schließlich verlor er diese Leichtigkeit selbst, nachdem er sich von dort abwandte. Die ganze Nachkommenschaft der ersten Eltern empfangt also, aus der ursprünglichen Naturordnung gefallen, die Glückseligkeit ebenso schwer, wie sie sie leicht empfinge, wenn sie erst in diese Ordnung wieder eingesetzt wäre.

212

De mente

Ba 681/M 341

Quid vero dicent ad ista Philosophi? Magi quidem, Zoroastris Hostanisque sectatores, simile quiddam afferent. Aiunt enim ob antiquam quamdam humanae mentis infirmitatem omnia nobis infirma difficiliaque contingere. Ac si quis temperationem animae restituent, omnia iam fore disposita. Huic quoque non dissonai illud Pythagoreorum atque Platonicorum, animam videlicet idcirco tot in mundo sensibili malis affligi, quia sensibilium bonorum aviditate nimis illecta bona intelligibilis mundi imprudenter amisit. Peripatetici forte dicent hominem potiusquam brutum a fine proprio aberrare, quia libero movetur arbitrio, unde hinc atque illinc, prout variis consultando unitur6 coniecturis, potest praevaricari. Animai autem irrationale non ducitur a seipso, sed ab ipsa naturae Providentia, numquam errante, ad finem sibi convenientem tamquam ad signum sagitta dirigitur. Error autem ille noster atque praevaricatio cum non a naturae defectu proveniat, sed a

6

unitur: utitur Ba. Wir folgen Ba.

Fünf Fragen über den Geist

213

Was sagen aber hierzu die Philosophen? Die Magier nämlich, die Gefolgsleute des Zoroaster und Hostanis44, fuhren ähnliches an. Sie sagen, daß wegen einer alten Schwäche des menschlichen Geistes uns alles Kranke und Schwierige zufällt und daß alles schon in Ordnung wäre, wenn nur einer das Gleichmaß der Seele wiederherstellte. Dem steht auch nicht jenes Diktum der Pythagoräer und Platoniker entgegen, daß die Seele deshalb so vielem Übel in der sinnlichen Welt ausgesetzt sei, weil sie, allzusehr von der Begierde nach sinnlichen Gütern angelockt, die Güter der intelligiblen Welt leichtfertig aufs Spiel setze45. Die Peripatetiker sagen etwa, daß der Mensch, da er vom freien Willen bewegt wird, eher als das Tier von seinem eigenen Ziel abirrt. Daher gerät er hierhin und dahin auf Abwege, indem er Rat suchend verschiedene Vermutungen ins Spiel bringt. Das vernunftlose Tier wird dagegen nicht von sich selbst bestimmt, sondern wird von der niemals irrenden Vorsehung der Natur selbst zu dem ihm entsprechenden Ziel hingeführt wie der Pfeil ins vorbezeichnete Ziel46. Da unser Irrtum und jenes Abirren nicht aus einem Defekt der Natur herrühren, sondern aus

44 Zu Zoroaster und Hostanis vgl. Bidez/Cumont, Les mages hellenises II 252 ff. (Zoroaster, Chaldäische Orakel), 265 ff, 289 f. (Hostanis). Zur Bedeutung für Ficino vgl. Klutstein 1987. 45 Vgl. hierzu die plotinische (ursprünglich gnostische) Lehre vom τόλμα (Leichtsinn, Wagemut) der Seele, ζ. Β. IV 3, 13; IV 4,11 ; 11,12,24; 18,14; V 1,1, lsqq.; VI 9,5,29. W. Theiler, Porphyrius und Augustinus 27-30. E. R. Dodds, Heiden und Christen in einem Zeitalter der Angst (1965), Frankfurt/M. 1985, 35 f. W. Beierwaltes, Identität und Differenz, Frankfurt/M. 1980, 34. Zur declinatio der menschlichen Seele von der ursprünglichen Anschauung des höchsten Guten bzw. Gottes bei Ficino vgl. etwa De amore IV 5 (185 M.). 46 Theol. Plat. XIV 1 (2,248 M.): Gott als Pfeilschütze, unsere desideria als Pfeile, Gott als notwendiges Ziel und die Befie-

214

De mente

Ba 681/M 341

varietate rationis et obliquitate consilii, nequaquam disperdit potentiam naturalem, sed turbat potius voluntatem. Atque sicut in elemento, etiam extra locum proprium posito, una cum natura servatur vis atque inclinatio ad terminum proprium naturalis, qua potest aliquando suam repetere regionem, sie in homine, etiam postquam a recto tramite aberravit, restare putant naturalem tum tramitis, tum termini repetendi potentiam. Denique exaetissima Theologorum examinatio rem omnem breviter ita concludit. Non potest ulla ad motum aliquem inclinatio amplior esse quam motor. Cum igitur animi inclinatio praeeipue vergat ad infinitum, nimirum dependet solum ab infinito. Si enim a determinata quadam causa post Deum animae motrice quamproxime proveniret, ad finem quoque dumtaxat vergerei terminatum.

Fünf Fragen über den Geist

215

der Unbeständigkeit des Verstandes und der schiefen Richtung der Überlegung, können sie niemals das natürliche Vermögen vernichten, sondern nur den Willen in Verwirrung bringen. Und so wie für einen Elementarstoff, auch wenn er aus seinem eigentümlichen Ort gesetzt ist, zusammen mit seiner Natur auch die Kraft und Neigung zu seiner eigentümlichen natürlichen Zielbestimmung erhalten bleibt, durch welche er irgendwann zu seinem natürlichen Ort wieder zurückstreben kann, so glauben sie, daß dem Menschen, auch nachdem er vom rechten Weg abirrte, ein natürliches Vermögen, sei es zum Wiedererlangen des Weges oder des Zielpunktes selbst, erhalten bleibe47. Schließlich löst die genaueste Untersuchung der Theologen die ganze Sache in Kürze: keine auf irgendeine Bewegung gerichtete Neigung kann größer sein als die bewegende Kraft selbst. Da also die Neigung der Seele insbesondere zum Unendlichen strebt, so hängt sie freilich nur vom Unendlichen selbst ab. Denn entstünde sie unmittelbar von einer bestimmten Ursache, die die Seele unabhängig von Gott bewegt, würde sie auch einem nur begrenzderung der Pfeile (bzw. der Seele, die mit ihren Grundstrebungen eins ist) als Bedingung für den „treffsicheren" Aufstieg der Seele zu Gott. 47 Kristeller 1972, 168-169 bezieht diesen Passus fälschlicherweise auf die Platoniker, der Kontext zeigt aber, daß diese Ausführungen sich sachlich und syntaktisch auf die „Peripatetici" beziehen. Zum „ontologischen" Aspekt des ficinianischen appetitus-Begriffes, der ihm eine argumentative Zuordnung von natürlichen Strebebewegungen der physischen Seinsformen (z. B. der Elemente) zu affektiven Strebungen psychischer Wesen und zum „erotischen" Erkenntnisstreben des Intellekts erlaubte vgl. z. B. Theol. Plat. XIV 1 (2, 247 ff. M.) und 2 (2, 252), dort verweist Ficino selbst auch noch einmal auf die zentrale Abhandlung De amore (2, 248; vgl. A V 4, 184 M.). Den peripatetischen Hintergrund bildet Aristoteles' De caelo.

216

De mente

Ba 681-682/M 341-342

Siquidem movendi virtus quamvis in infinito principio sit infinita, tarnen in sequente causa, quae determinata est, terminatur. Ac motus moventis proximi potiusquam remoti sequitur qualitatem. Quamobrem motor ipse qui animum proprie vertit ad infinitum est ipsamet solum infinita potestas, quae mentem pro libera voluntatis natura modo quodem movet ad eligendas vias maxime libero. Rursus pro infinita moventis potentia ad appetendum finem usque adeo incitât ut non appetere nequeat. Si motus eiusmodi non potest quo dirigitur pervenire, nullus utique potent. Ubi infinita viget potentia, ibidem infinita sapientia atque bonitas dominatur. Haec autem neque quicquam movet incassum, neque bonum ullum praetermittit alicui, quod accipi iam possit et debeat. Proinde cum homo tum ob rationis contemplationisque usum ad angelos beatissimos, tum ob divinum cultum ad Deum beatitudinis fontem multo propinquius accedat quam bestiae, necesse est cum 7 aliquando posse in optati finis possessione fore multo beatiorem. Ut qui supernis similior est tam voluntatis ardore quam intelligentiae lumine, similiter sit vitae felicitate similior. Siquidem a vitae virtute intelligendi volvendique 8 virtus et excellentia profiscitur. Nunc vero in corpore hoc tum propter corporis ipsius imbecillitatem infirmitatemque et rerum omnium indigentiam, tum propter continuam mentis anxietatem est longe miserior. Quapropter, quam difficile felicitatem suam in corpore terreno, intemperato, caduco animus caelestis et immortalis continue sequitur, tam facile hanc vel a corpore liber, vel in

7 8

cum: eum Ba. Wir folgen Ba. volvendi: wir konjizieren in volendi contra omnes.

Fünf Fragen über den

Geist

217

ten Ziel zustreben. Denn wenn auch eine Bewegungsursache im unendlichen Ursprung selbst unendlich ist, so wird sie dennoch in der folgenden Ursache, die begrenzt ist, selbst begrenzt. Und die Bewegung folgt eher der Qualität des näheren als des ferneren Bewegenden. Deshalb ist der Beweger, der die Seele eigentlich zum Unendlichen wendet, allein die unendliche Macht selbst, die den Geist, entsprechend der freien Natur des Willens, dazu bringt, seine Wege auf eine höchst freie Weise zu wählen. Durch die unendliche Macht des Bewegungsgrundes wird er so sehr dazu angeregt, das Ziel zu erstreben, daß er nicht umhin kann, es zu erstreben. Wenn eine solche Bewegung nicht dahin gelangen kann, wo sie hingelenkt wird, dann kann es überhaupt keine. Wo die unendliche Macht wirkt, dort herrschen auch unendliche Weisheit und Güte. Diese aber bewegt niemanden vergeblich, noch läßt sie irgendein Gut für jemanden aus, welches er empfangen könnte und sollte. Da also der Mensch einerseits durch Gebrauch des Verstandes und der Betrachtung den glückseligen Engeln sowie andererseits durch den göttlichen Verehrungskult Gott als Quell der Glückseligkeit viel näher kommt als die Tiere, folgt notwendig, daß er einst im Besitz des erstrebten Zieles noch viel glückseliger wird sein können als diese. So daß, wer den höheren Wesen sowohl an Glut des Willens als auch an Licht der Vernunft ähnlicher ist, auf vergleichbare Weise ihnen auch an Glückseligkeit des Lebens ähnlicher ist. Aus der Kraft des Lebens entspringen Kraft und Exzellenz von Vernunft und Willen. Nun ist aber in diesem Körper, teils wegen der Schwäche und Anfälligkeit des Körpers selbst und seiner sich auf alle Dinge erstreckenden Bedürftigkeit, teils wegen der beständigen Angst des Geistes der Mensch bei weitem erbärmlicher. So mühevoll daher die himmlische und unsterbliche Seele ihre Glückseligkeit im irdischen, unausgeglichenen und gefallenen Körper beständig zu erreichen versucht, so leicht erreicht sie sie entweder vom Körper befreit oder in einem ausgeglichenen, unsterb-

218

De mente

Ba 682/M 342-343

corpore temperato, immortali, caelesti consequitur. Non videtur autem finis ipse naturalis existere, nisi in habitu naturali. Habitus autem sempiterni animi maxime naturalis esse videtur, ut suo in corpore vivat iam sempiterno. Hinc necessaria ratione concluditur, immortalitatem claritatemque animi posse ac debere quandoque in corpus proprium effulgere. In quo quidem statu solum summa hominis beatitudo completur. Atque haec quidem Prophetarum Theologorumque sententia, a Magis et Mercurialibus philosophis et Piatonicis confirmatur. Mens adepta

beatitudinem

numquam

amittit.

Quando vero infinitum attingit anima finem, cum ea praecipue ratione hunc attingat, qua hinc afficitur et trahitur et perducitur, attingit utique sine fine. Si potuit ex finito quodem gradu, qui infinite distat ad immensum quandoque resurgere, potest etiam in ipso immenso infinite manere.

Fünf Fragen über den Geist

219

liehen und himmlischen Körper. Dieses natürliche Ziel selbst scheint es also nur in einem natürlichen Zustand zu geben. Der der ewigen Seele natürlichste Zustand scheint zu sein, daß sie in ihrem schon ewigen Körper lebt. Daher wird mit notwendigen Gründen geschlossen, daß die Unsterblichkeit und Klarheit der Seele irgendwann in ihrem eigentümlichen Körpersubstrat wird aufleuchten können und müssen. In diesem Zustand allein liegt die höchste Seligkeit des Menschen beschlossen48. Diese Darstellungen der Propheten und Theologen werden von den Magiern, den hermetischen Philosophen und den Platonikern bekräftigt49. Der Geist kann seine erworbene Glückseligkeit niemals verlieren.

Wenn die Seele das unendliche Ziel berührt und sie es vor allem in dem Maße berührt, wie sie von ihm affiziert, angezogen und hingeführt wurde, berührt sie es ohne jedes Ende. Wenn sie aus einer endlichen Seinsstufe, die in unendlicher Distanz zum Unermeßlichen steht, zu diesem aufsteigen konnte, dann kann sie auch in diesem

48 Zum Status der Körperlichkeit der glückseligen Seelen vgl. Theol. Plat. XVIII 9 (3,220 ff. M.): D e corporibus beatorum. Ficino versucht hier die christliche Wiederannahme des Leibes in statu perfectionis als Grundgedanken schon der prisca theologia deutlich zu machen, also als ein theologisch-psychologisches Grundinterpretament des Verhältnisses der menschlichen Existenz zum göttlichen Prinzip. Dies mit Rückgriff auf Piaton, Politikos 272f.; die theologischen Grundpositionen bezieht er aus Thomas, ScG IV 79 nn. 1-3. 49 Zum Ganzen vgl. Bücher XIV und XVIII der Theologia Platonica und die Ausführungen Kristellers 1972, 170-186. Insbes. vgl. Theol. Plat. XVIII 8 (3,217 f. M.) und Thomas, ScG III 62.

220

De mente

Ba 682/M 343

Praesertim quia eadem infinita potestas, quae tam longe traxerat ad seipsam vehementius quam explican possit, in se proxime retinet. In bono autem infinito ñeque quicquam fingi mali potest et quicquid boni fingi optarique potest, pienissime reperitur. Illic igitur aeterne vita, clarissimum intelligentiae lumen, status mutatione carens, habitus privationis expers, secura tutaque totius possessio boni, gaudium undique plenum. Finis quinqué quaestionum de mente.

Fünf Fragen über den Geist

221

Unermeßlichen unbegrenzt lange verweilen50. Vor allem, da dieselbe unendliche Macht, die sie schon so lange51 und zwar heftiger, als sich vorstellen läßt, zu sich hinzog, sie ganz nahe bei sich festhält. Im unendlichen Guten läßt sich überhaupt kein irgendwie geartetes Böses vorstellen, und was auch immer an Gutem sich ausdenken und wünschen läßt, wird dort in vollstem Umfang gefunden. Dort findet sich das ewige Leben, das reinste Licht der Vernunft, die der Veränderung entbehrende Bewegung, der von Beraubung freie Habitus, der sichere und geschützte Besitz alles Guten und die in jeder Hinsicht erfüllte Freude. Ende der fünf Fragen über den Geist.

50 Vgl. z.B. P l o t i n V I 7 , 26. 51 Kristeller 1972,178 übersetzt tarn longe mit „auf so weite Entfernung zu sich hinzog".

222

De

felicitate

Ba 6 6 2 / G 201

QUID EST FELICITAS, QUOD HABET GRADUS, QUOD EST ETERNA MARSILIUS FICINUS L A U R E N T I O MEDICI VIRO M A G N A N I M O S. D. Cum ego ac tu nuper in agro Charegio multa de felicitate ultro citroque disputavissemus, tandem in sententiam eandem duce ratione convenimus, ubi tu novas quasdam rationes, quod felicitas in voluntatis potius quam intellectus actu consistât, subtiliter invenisti. Placuit autem tibi ut

Über die Glückseligkeit

223

Über die Glückseligkeit Was Glückseligkeit ist, daß sie Abstufungen hat, und daß sie ewig ist. Marsilius Ficinus an Laurentius Medici, den erlauchten Mann. Als wir, D u und ich, neulich in der Villa von Chareggi vieles hin u n d her über die Glückseligkeit diskutierten, gelangten wir schließlich, durch den Verstand geleitet, zu der selben Ansicht. Dort hast D u auch auf subtile Weise n e u e Argumente dafür gefunden, daß die Glückseligkeit eher in e i n e m Tätigsein des Willens als in d e m der Vernunft bestehe 1 . Dabei erschien es Dir als angemessen, daß

1

Dieser Passus fehlt nach Kristeller (Suppl. Ficin. I 28; ders. 1967,113 f.) im älteren Ms. Vermutlich wurde er für die Veröffentlichung eingeführt und ist aus der Reaktion auf die Kritik durch Vincentius Blandellus OP zu sehen. Vgl. dessen Opusculum ad magnificum ac generosum virum Laurentium Medicem quod beatitudo hominis in actu intellectus et non voluntatis essentialiter consistit ed. P. O. Kristeller in: 1967, 187 ff. Zur Blandellus-Ficino-Kontroverse ebd. 104 ff. Blandellus sah in Ficinos Brief, der im Kreis der Florentiner Akademie kursierte, eine skotistische Position der voluntas/ amor-Dominanz vertreten, die er im Sinne des Aquinaten zu kritisieren versuchte. Zur Diskussion um den Primat von Intellekt bzw. Willen vgl. auch Michael J. B. Allen, Introduction, in: The Philebus Commentary, 35 ff. Zur durchgehenden Präsenz des Aquinaten, insbesondere von dessen Summa contra gentiles, in unserem Text und im gesamten Oeuvre Ficinos vgl. Kristeller 1967, 93 ff.; E. Gilson 1957, 201 ff. und die kritische Replik E. Garins im Giornale critico della filosofía italiana 38 (1959) 158 f.

224

De felicitate

Ba 662/G 201-202

tu disputationem illam carminibus, ego soluta oratione conscriberem. Tu iam eleganti poemate tuum officium implevisti, ego igitur nunc aspirante Deo munus meum exequar quam brevissime. Tria bonorum humanorum genera numerantur, bona videlicet fortune corporisque et animi. Fortune bona sunt pecunie, honor, benivolentia, dominatio. Atque, ut a primis incipiamus, pecunia non est summum bonum, ut opinatus est Mida: non enim propter se ipsam sed propter corporis vel animi commoda comparatur. Ñeque honor et benivolentia, ut Augustus solebat dicere: quia in alterius arbitrio sunt et sepe non sentiuntur a nobis, sepissime pre-

Über die Glückseligkeit

225

Du jene Unterhaltung in Versen2 niederschriebest, ich dagegen in ungebundener Rede. Du bist Deiner Pflicht durch ein elegantes Gedicht schon nachgekommen, ich versuche also jetzt, mit Gottes Beistand, meine Aufgabe so kurz wie möglich durchzufuhren. Drei Gattungen der menschlichen Güter pflegt man aufzuzählen3: die des Glückes, die des Körpers und die der Seele". Die Güter des Glückes bestehen in Geld, Ehre, Beliebtheit und Herrschaft. Um mit dem ersten anzufangen: Geld ist nicht das höchste Gut, wie es etwa Midas annahm; denn es wird nicht um seiner selbst willen, sondern im Blick auf die Annehmlichkeiten des Körpers und der Seele erworben5. Und auch nicht Ehre und Beliebtheit, wie Augustus zu sagen pflegte6, weil sie auf dem Gutdünken anderer basieren und häufig von uns nicht bemerkt werden. Sehr oft dagegen werden sie ohne Verdienst ver-

2

3 4

5

6

Nach G. vmtl. eine Anspielung auf die Altercazione (vel De summo bono) des Lorenzo de Medici. Vgl. die Ausgabe von L. Cavalli, Lorenzo de Medici, Opere, Napoli 1969, 117 ff. Vgl. zum Folgenden auch L. de Medici, Altercazione 2, 109-5, 162 (Cavalli 130 ff.). Vgl. zur Einteilung der bona und zur folgenden Diskussion ihrer Relevanz für die visio beatifica resp. den status felicitatis Aristoteles, EN I 8,1098 b 13—15 und durchgehend Thomas, ScG III cc. 27-34. Die meisten Topoi waren schon in der patristischen Auseinandersetzung mit den Tugend- bzw. Glückseligkeitskonzepten der antiken Autoren präsent; vgl. z. B. Lactantius, Divinae institutiones III cc. 7 ff. 11 : voluptas, opes, divitiae, regnum, virtus, honestas etc.; Augustinus, Divers, quaest. LXXXIII q. 31 n. 3 : gloria, dignitas (honestas), amplitudo (potestas, maiestas), amicitia. Aristoteles, EN I 5, 1096 a 6-7; 9, 1099a 31 f.; Thomas, ScG III 30 : non enim appetuntur divitiae nisi propter aliud : per se enim nihil boni inferunt. Vgl. Sueton, August. 66, 4.

226

De felicitate

Ba 662/G 202

ter meritum et impenduntur et amittuntur. Neque dominatio, ut voluit Cesar, quoniam quanto pluribus dominamur tanto acrioribus vexamur curis, plura subimus película, pluribus servimus hominibus atque negotiis, plures hostes habemus. Bona corporis sunt robur, sanitas, pulchritudo. Robur sanitasque non est summum bonum, ut Milo Crotoniates existimasse videtur: minimis enim offensiunculis subicimur 1 . Neque pulchritudo, qua Scepticus gloriabatur Herillus: nemo enim, quamvis pulcherimus sit, hoc ipso con-

1

subicimur: subicitur L.

Über die Glückseligkeit

227

geben oder eingebüßt 7 . Ebensowenig ist die Herrschaft ein höchstes Gut 8 , wie Caesar wollte 9 , weil gilt, daß wir, je mehr M e n s c h e n wir beherrschen, v o n u m so gewaltigeren Sorgen gequält werden, mehr Gefahren uns aussetzen, mehr M e n s c h e n und Geschäften verpflichtet sind und mehr Feinde haben werden. D i e Güter des Körpers sind Stärke, Gesundheit, Schönheit 10 . Stärke und Gesundheit sind keine höchsten Güter, wie es Milo von Kroton geglaubt zu haben scheint, d e n n wir werden noch den geringsten Widerwärtigkeiten unterworfen. U n d auch nicht die Schönheit, der der Skeptiker Herillus sich rühmte, denn niemand, wie herausragend schön er auch sein mag, lebt allein deswegen zufrieden,

7 Thomas, ScG III 28: Honor autem hominis non consistit in sua operatione, sed alterius ad ipsum, qui ei reverentiam exhibet (...) hoc autem quod honorem assequetur, non est in potestate hominis, sed magis in potestate honorantis. Thomas bezieht sich hier vmtl. auf Aristoteles, EN I 3, 1095 b 24 f. ; IV 8,1024 a 21 f. Vgl. auch ScG III 29 zur Abweisung des gloria als eines substantiellen bonum. Lactantius, Divinae institutiones III c. 11: num gloriam? num honorem? (sc. est summum bonum) et haec omnia non sunt in ipsa virtute, sed in aliorum existimatione atque arbitrio posita. Zur Vergänglichkeit vgl. Macrobius, In somn. Scipionis comm. II 10,1 ff. 8 Vgl. Thomas, ScG III 31 wo die „potentia mundana" als instabilis und der fortuna ausgesetzt betrachtet wird ; 128 : et tanto maior reputatur potestas, tanto a pluribus dependet: quod etiam ad eius debilitatem pertinet; cum quod a multis dependet, destruí multipliciter possit. Non est igitur in potestate mundana summum hominis bonum. Lactantius, ebd.: num divitias? num potestas? et ea quidem fragilia sunt et caduca. 9 Vgl. Sueton, lui. 76, 1-80, 1. 10 Thomas, ScG III 32 : sanitas, pulchritudo und robur sind auch für den Aquinaten die klassischen bona corporis; er sieht sie an als indifferent in bezug auf Gut- oder Schlecht-Sein verteilt und als grundsätzlich „unbeständig" (instabilia).

228

De felicitate

Ba 662/G 202

tentus vivit, et aliis potius bonum est pulchritudo quam pulchris. Anime bona alia sunt irrationales partis anime, alia rationalis. Irrationalis partis sunt acumen sensuum eorumque voluptates. Aristippus censuit in ambobus summum esse bonum, nos in neutro felicitatem consistere arbitramur. Non in acumine, tum quia in hoc2 a multis bestiis superamur, tum quia offendere nos solet acutus sensus non minus quam iuvare. Non in sensuum voluptatibus: nam ardor eas antecedit, comitatur suspitio, penitentia sequitur, multis longisque doloribus una emitur brevisque voluptas; ac tandiu voluptatis huiusmodi vehementia durât, quandiu durât corporis indigentia - puta eousque potus suavitas quousque sitis -, indigentia vero omnis molestia quedam est. Voluptas ergo sensus, quia sepe contrario suo, id est dolori, miscetur, ñeque pura veraque

2

in hoc: ex hoc L.

Über die

Glückseligkeit

229

und zudem scheint die Schönheit eher ein Gut für die anderen zu sein als für die Schönen selbst. Von den Gütern der Seele sind die einen die des nichtrationalen und die anderen die des rationalen Seelenteiles. Die des nichtrationalen Teiles sind die Schärfe der Sinne und die Freuden der Sinne". Aristipp urteilte, daß in beiden das höchste Gut läge12. Wir dagegen behaupten, daß in keinem von beiden das Glück bestehen kann: nicht in der Sinnesschärfe, da wir hierin teils von vielen Tieren übertreffen werden, teils die Sinnesschärfe uns nicht weniger zu helfen als zu behindern pflegt13. Und nicht in den Freuden der Sinne, denn diesen geht das brennende Verlangen voran, es begleitet sie der Verdacht und es folgt ihnen die Reue und mit vielen und lang dauernden Schmerzen wird ein einziges und kurzes Lustgefühl erkauft. Und die Heftigkeit eines solchen Lustgefühles dauert genau so lange, wie die Bedürftigkeit des Körpers anhält, zum Beispiel die Süße des Trankes genau so lange, wie der Durst dauert. Alles Bedürfnis ist etwas Lästiges14. Die Lust der Sinne ist, da ihr häufig ihr Gegenteil, der Schmerz, beigemischt ist, weder reine noch wahre noch

11 Thomas, ScG III 33. Zu rationalis-irrationalis vgl. auch Aristoteles, EN I 13, 1102 a 26 f. 12 Vgl. Aristipp frg. Β 37 u. 39 (Giannantoni) bei Cicero, fin. mal. 2, 18-20, 39. 13 Augustinus, quant, an. 28, 54 (PL 32, 1066). 14 Vgl. Seneca, De beata vita VII 4: tunc cum maxime delectat (sc. voluptas) extinguitur cito implet et taedio est et post prim u m impetum marcet. Horaz, epist. 12, 55. Augustinus, D e beata vita n. 8 die Bestimmung der nequitia im Blick auf körperliche und geistige Nahrung: nihil est enim omne, quod fluit, quod solvitur, quod liquescit et quasi semper périt. Dagegen steht die virtus als manens, constans, semper tale essendum. Vgl. nn. 30-31.

230

De felicitate

Ba 662/G 202-203

voluptas est neque sufficiens. Ac siquis dixerit nonnullas esse sensuum voluptates que indigentiam non sequantur, respondeo eas usque adeo debiles esse, ut nullus in ei beatitudinem collocet. Neque audeat quispiam in habitu quodam ex acumine oblectamentisque sensuum composito beatitudinem ponere: habitus enim huiusmodi fallax, volatilis, inquietus. Vilia oblectamenta non implent animum, naturali quodam instinctu sublimiora petentem. Rationalis partis anime bona alia naturalia dicuntur, ut acumen, memoria et prompta voluntatis audacia. In his felicitas non consistit: bene enim utentibus bona sunt, male vero mala. Alia rationalis anime bona sunt acquisita, ut morales virtutes et speculative. Nunquid in moribus est felicitas, quod Stoici et Cynici arbitrantur? Nequaquam: operationes enim moralium virtutum, ceu temperantie fortitudinisque, negotiose et laboriose sunt. In labore autem non est finis ille quem querimus, sed in quiete: negotiamur enim ut otiemur et bellum gerimus ut in pace

Über die

Glückseligkeit

231

zureichende Lust15. Wenn aber einer sagte, es gäbe einige Sinnesfreuden, die nicht der Bedürftigkeit nachfolgten, dann antworte ich, daß sie derart schwach sind, daß keiner seine Glückseligkeit in sie legte. Es kann auch keiner wagen anzunehmen, die Glückseligkeit bestehe in einem aus der Schärfe und den Genüssen der Sinne zusammengesetzten Zustand, denn ein solcher Zustand ist trügend, schnell vergänglich und unruhig. Minderwertige Genüsse können eine Seele, die aus einem natürlichen Antrieb Höheres erstrebt, nicht erfüllen. Von den Gütern des rationalen Seelenteiles werden einige als natürliche bezeichnet, wie Scharfsinn, Gedächtnis und entschlossener Mut des Willens. In diesen besteht allerdings die Glückseligkeit nicht, denn sie sind für die sinnvoll mit ihnen Umgehenden etwas Gutes und für die, die schlecht mit ihnen umgehen, etwas Schlechtes. Andere Güter der Rationalseele heißen erworbene, wie die moralischen und die spekulativen Vermögen. Ist also in den moralischen Tugenden die Glückseligkeit anzusetzen, was die Stoiker und Kyniker annehmen16? Auf keinen Fall. Denn die Tätigkeiten der moralischen Tugenden, etwa der Mäßigung und der Tapferkeit, sind mühevoll und schwierig. Im Mühevollen jedoch liegt nicht das Ziel, welches wir suchen, sondern in der Ruhe; denn wir mühen uns ab, um Muße zu finden, und wir führen Kriege, 15 Vgl. Phaidon 60 BC. Seneca, De beata vita IV 4 zum Zusammenhang von voluptas und dolor: quo die infra voluptatem fuerit, et infra dolorem erit. 16 Vgl. Diogenes Laertius VI 104; VII 121. Für die Stoa ist die vita beata als summum bonum eine „vita conveniens naturae suae (sc. animae)" (Seneca, De beata vita III 3) im Sinne eines „habitus optimae mentis" (ib. IX 3), der ohne die innerweltliche optimale Konvenienz von Seele und Körper nicht zu verwirklichen ist. Daher werden Gesundheit und Stärke ebenso wie ein sachentsprechendes iudicium zu entscheidenden Kriterien der beatitudo/felicitas.

232

De felicitate

Ba 662/G 203

vivamus. Preterea mores non propter se queruntur unquam, sed tanquam medicine quedam ad purgationem tranquillitatemque animi referuntur. Non est autem in tranquillitate Epicurea finis ultimus: refertur enim animi tranquillitas ad speculationem veritatis, ceu serenitas aeris ad solis lumen. Num ergo in speculativis virtutibus, qualis est contemplatio veritatis, beatitudo versatur? Certe in his ipsis, sed alia est contemplatio, ut ita loquar, subcelestium, alia celestium, alis supercelestium. Democritus in prima speculatione finem statuii. Anaxagoras in ea quiescere noluit, quia celestia prestantiora sunt quam subcelestia, sed contentus esse volebat speculatione celestium; unde, inquit, ad illorum contemplationem genitum se fuisse, celumque esse suam patriam affirmavit. Quod quidem Artistoteles

Über die

Glückseligkeit

233

um in Frieden zu leben17. Außerdem gilt, daß die Sitten niemals um ihrer selbst willen erstrebt werden, sondern gleichsam als eine Art Medizin auf die Reinigung und Ruhe der Seele bezogen werden18. Aber auch in der epikureischen „Ruhe"19 ist nicht das letzte Ziel zu sehen. Die „Seelenruhe" bezieht sich nämlich (als Voraussetzung) auf die Betrachtung der Wahrheit, wie etwa die Klarheit des Himmels auf das Licht der Sonne. Ist nun also in den betrachtenden Vermögen, wie ζ. B. der Anschauung der Wahrheit, die Glückseligkeit anzusetzen? Sicherlich gerade in diesen20. Etwas anderes ist jedoch, um mich so auszudrücken, die Betrachtung der Dinge unter dem Himmel, der Dinge im Himmel und der Dinge über dem Himmel. Demokrit setzte das Ziel von allem in jener ersten Betrachtungsart an. Anaxagoras wollte hierbei nicht stehenbleiben, da die himmlischen Dinge höherrangig als die unter dem Himmel seien; vielmehr wollte er auch mit der Betrachtung der himmlischen Dinge zufrieden sein. Daher sagte er, er sei zur Betrachtung jener himmlischen Dinge geboren und behauptete, daß der Himmel für ihn der Ursprung sei21. Dies widerlegte Aristoteles, für den die Betrachtung der überhimm-

17 Vgl. Thomas, ScG III 34. 18 Ebd. III 37. 19 Vgl. Epikur frg. 425 und 434 (Usener) bei Cicero, Tusc. V 16 resp. Seneca, ep. 66, 45. 20 Daß „Glückseligkeit" als wesentlich mit den geistigen Tätigkeiten des Sehens/Anschauens und Erkennens verbunden gedacht wird, ist eine seit der antiken Dichtung und Philosophie wirksame Tradition. Vgl. etwa Phaidros 250 Β ff., Phaidon 111 A, Symposion 210 E- 211 E; Aristoteles s. Anm. 22; Plotin, VI 9,11, 32; 3, 23 ff. zu den Begriffen θεωρία, θέαμα, φρόνησις. 21 Aristoteles, EE 1216a 11-16; Diog. Laert. II 7; Chalcidius, Comm. in Tim. c. 266 n. 297 (p 271 Waszink).

234

De felicitate

Ba 662-663/G 203-204

reprobavit, quia supercelestium consideratio dignior admodum videatur atque beatitudo sit summus actus summe potentie circa obiectum summum. Verum alia est horum consideratio, quam consequi potest animus corpore clausus, alia quam solutus. Aristoteles putavit hominem qui primam habeat esse felicem, noster Plato negavit, quoniam divinorum consideratio in hac vita intellectus ambiguitatem voluntatisque anxietatem semper habet admixtam; quamobrem apud Platonem beatitudo vera ad animam pertinet a corpore separatam divina considerantem. In divinorum genere angeli ponuntur atque Deus. Avicenna et Algazel affirmare videntur, in

Über die Glückseligkeit

235

lischen Dinge von höherem Wert war und die Glückseligkeit darin lag, der höchste Akt des höchsten Vermögens in bezug auf den höchsten Gegenstand zu sein22. Aber eine Sache ist die Betrachtung, die die Seele vollziehen kann, solange sie im Körper eingeschlossen ist, und eine andere Sache die Betrachtung, wenn sie von ihm losgelöst ist. Aristoteles glaubte, daß der Mensch, der die erstere vollziehe, glücklich ist; unser Piaton verneinte dies23, weil der Betrachtung der göttlichen Dinge in diesem Leben immer Zweideutigkeit des Intellektes und Angst des Willens beigemischt sind. Daher bezieht sich die wahre Glückseligkeit bei Piaton auf die vom Körper getrennte und die göttlichen Dinge betrachtende Seele. Zur Gattung des Göttlichen gehören die Engel und Gott. Avicenna und Algazel scheinen anzunehmen, daß die

22 Aristoteles, EN X 7,1177 a 12 ff., bes. 19-21 die,.betrachtende Tätigkeit" findet in ihr selbst als reinem, autarken Denken ihr Ziel; sie ist frei, da unbedingt und aus jeglichem Interessebezogenen einengenden und begrenzenden Kontext herausgeschoben; die ihr immanenten Gesetze etwa der logischen Strukturen werden nicht als necessitierender Zwang gesehen; Met. XII, 1027 b 24. Ficino kann dagegen das intelligere mit der Scholastik (Thomas) als ein pati und als ein, im Unterschied zur freien voluntas, notwendig an seine eigenen Gesetze gebundenes Tätigsein der Seele verstehen, vgl. Disputationes contra iudicium astrologorum (Suppl. Ficin. II 71-71). 23 Vgl. Phaidon 66 B-67 C: έως αν τό σώμα έχωμεν καί συμ" πεφυρμένη ή ήμϊν ψυχή μετά τοϋ τοιούτου κακού. Epinomis 973 C-974 Α. Ficino zitiert aus Epinomis ebenfalls Theol. Plat. XIV 2 (2,254 M.): Quae (sc. vera et bona) hic ideo numquam assequi videtur, ut Plato inquit in Epinomide, quia semper est ambiquus intellectus, semper voluntas est anxia. Haec igitur animus exutus corpore consequitur.

236

De felicitate

Ba 663/G 204

angelorum consideratione animam fore beatam. Id duabus rationibus Platonici confutant. Ratio prima huiusmodi est. Intellectui nostro conditio hec innata est, ut rei cuiusque requirat causam rursusque cause causam. Ideo non cessât unquam inquisitio intellectus, nisi earn causam reperiat cuius nulla sit causa, sed ipsa sit causa3 causarum, id autem solus est Deus. Secunda ratio talis. Voluntatis affectus nullo satiatur bono, quatenus putamus bonum pretera aliud superesse: solo igitur eo bono satiatur, ultra quod nihil est boni. Quid autem hoc aliud nisi Deus? Quapropter in solo Deo quiescere potest intellectus inquisitio et voluntatis affectus; in Deo igitur solo hominis beatitudo consistit, quod quidem inde provenit, quod nulla res alibi quam in propria causa potest quiescere; et quia Deus solus est propria anime causa, ideo anima in solo quiescit Deo.

3

sed ipsa sit causa: sed causa L.

Über die

Glückseligkeit

237

Seele glücklich sei in der Betrachtung der Engel24. Dies wird von den Piatonikern aus zwei Gründen bestritten. Der erste lautet folgendermaßen: Unserem Intellekt ist als folgende Bedingung angeboren, daß er die Ursache jeder Sache und wiederum die Ursache jener Ursache erforschen muß. Daher hört diese Untersuchung des Intellekts niemals auf, es sei denn, er fánde jene Ursache, die selbst wiederum keine Ursache hat und die selbst die Ursache der Ursachen wäre. Dies aber ist allein Gott25. Der zweite Grund ist dieser: Der Affekt des Willens wird durch kein Gut zufriedengestellt, weil wir glauben, daß es außer diesem noch je anderes Gutes gibt. Der Wille wird also nur durch jenes Gut gesättigt, jenseits dessen es kein weiteres Gutes gibt. Was aber ist dies anderes als Gott selbst? Daher können das Forschen des Intellektes und der Affekt des Willens in Gott allein zur Ruhe kommen. Also hat die Glückseligkeit des Menschen ihren Grundbestand in Gott allein26. Dies folgt daher (aus dem Grundsatz), daß keine Sache anderswo als in ihrer eigentümlichen Ursache in Ruhe sein kann. Und weil Gott allein die eigentümliche Ursache der Seele ist, ruht die Seele folglich allein in Gott.

24 Vgl. Avicenna, D e an. 5, 6 (II 150 van Riet); Metaph. 9, 7 (II 510-521 v. R.). Algazel, Metaph. 1, 3, 11; 2, 5, 3 (85 f., 185 Mückle). Aegidius Romanus, Errores philos. 6 , 1 8 ; 7, 22 (34, 38 Koch). 25 Vgl. Thomas, ScG III 25; Ficino, Theol. Plat. XVIII3 (3,209 M.); Quinqué quaestiones de mente (Opera 678), s. o. S. 187. Argumentum de summo bono (Suppl. Ficin. II 96). 26 Vgl. Augustinus, De beata vita 11 : D e u m qui habet, beatus est; lib. arb. II 16, 41: beata vita animae Deus est. Dazu vgl. W. Beierwaltes, Regio beatitudinis. Zu Augustins Begriff des glücklichen Lebens, Heidelberg 1981, 20 ff. Daß Ficino Augustinus und dessen christlichen Piatonismus von früh auf kannte, ist mehrfach nachgewiesen, etwa durch A. Tarabochia Cañavero 1978, 626 ff; dort 626-627 die weitere Literatur (E. Garin, P. O. Kristeller).

238

De felicitate

Ba 663/G 204-205

Sed hec latius in Theologia de immortalitate animorum disseruimus. Ceterum duo sunt anime actus circa Deum: videt enim Deum per intellectum ac Deo cognito gaudet per voluntatem. Visionem Plato vocat «ambrosiani», gaudium «nectar), intellectum vero et voluntatem geminas «alas», quibus in Deum tanquam patrem et patriam revolemus. Iccirco puras, inquit, animas, cum in celum evolaverint in divina mensa ambrosia et nectare vesci. Gaudium in ea felicitate est prestantius visione, quia quanto magis apud Deum in hac vita meremur amando quam inquirendo, tanto maius in illa vita premium amori quam inquisitioni tribuitur. Meremur autem amando multo magis quam indagando multis de causis. Prima: quia nemo in hac vita vere cognos-

Über die

Glückseligkeit

239

Doch darüber haben wir ausfuhrlicher in der theologischen Abhandlung „Über die Unsterblichkeit der Seelen" gehandelt27. Des weiteren: Es gibt zwei Tätigkeitsformen der Seele in bezug auf Gott. Sie „sieht" nämlich Gott durch den Intellekt und indem sie ihn erkannt hat, freut sie sich an ihm durch den Willen. Piaton bezeichnet die Schau als „Ambrosia", die Freude als „Nektar", den Intellekt und den Willen aber als die zwei „Flügel", mittels derer wir zu Gott als Vater und Vaterland zurückfliegen sollen. Daher sagt er, daß die reinen Seelen an der göttlichen Tafel Ambrosia und Nektar genießen werden, wenn sie in den Himmel emporgeflogen sind28. Die Freude ist in diesem Glücklichsein jedoch vortrefflicher als die Schau. Denn um wieviel mehr wir uns in diesem Leben bei Gott durch Liebe verdient machen als durch Forschung, um so größerer Lohn wird in jenem Leben für die Liebe als für die Forschung gewährt. Aus vielen Gründen machen wir uns durch Liebe mehr verdient als durch intellektuelles Nachforschen 29 : erstens, weil niemand in diesem Leben Gott wahrhaftig 27 Theol. Plat. XIV 2 (2, 250-256 M.). Gerade in Theol. Plat. XIV, insbes. in den Kap. 2 und 10, ist der Bezug zu Augustinus' Konzeption des desiderium naturale und der beatitudo animae manifest. Vgl. A. Tarabochia Cañavero 1978, 639 mit Hinweis auf Conf. I 1; civ. Dei VIII 8 und trin. XIII 8, 11. 28 Phaidros 247 E, 249 C-D. 29 Zum folgenden Absatz vgl. Theol. Plat. XIV 10 (2, 291 M.). Die fur Ficino selbst zentrale platonisch-augustinisch grundgelegte Engführung von intelligere, amare und bonum (Deus), in der ein wesentlich spekulativer Intellektbegriff dominiert, muß getrennt gehalten werden von der Diskussion, die Ficino hier im Kontext einer zu seiner Zeit noch virulenten scholastischen Debatte um den Vorrang von intellectus oder voluntas zwischen Dominikanern und skotistischen Positionen durchführt (Kristeller 1967, 107 ff.). Hier gilt ein scholastisch verstandener, auf rationale und formale Diskur-

240

De felicitate

Ba 663/G 205

cit Deum, vere autem amat Deum quoquo modo cognitum qui spernit cetera propter Deum. Secunda: quemad-

Über die Glückseligkeit

241

erkennt30. Es liebt aber wahrhaftig Gott der, der ihn kaum kennt und alles übrige um seinetwillen verschmäht31. Zweitens: soviel schlechter ist es, Gott zu hassen als ihn sivität restringierter Intellektbegriff, gegen dessen Defizite hinsichtlich der Gotteserkenntnis sich Ficino hier deutlich absetzt. In diesem Zusammenhang kann ζ. B. der Unterschied zwischen Intellekt und Wille folgendermaßen aufgemacht werden: res intelliguntur ut sunt in intellectu, sed appetuntur ut sunt in se ipsis (Disp. c. iud. astrai., Suppl. Ficin. II 71; Blandellus, Opusculum p. 201 Kristeller; vgl. unten S. 250/ 251). Jeder Gottes-5eg/7# r rnuß so Gott auf die Kapazität des menschlichen Intellektes reduzieren; jedes geistige willentliche Streben dagegen geht auf Gott, wie er in sich selbst ist und kann zumindest im liebenden „Besitz" Gottes terminieren. Dagegen ist seit Plotins „Über die Glückseligkeit" (I 4) Eudaimonie als „Besitz" (I 4, 6, 4 f.) des Guten bzw. Gottes intensiv im Kontext einer aus seiner höchsten Anstrengung und seinem höchsten Selbstbezug entspringenden SelbstÜberschreitung des Denkens auf ein unmittelbares Sehen oder Anschauen Gottes hin gedacht worden. Diesem transdiskursiven Zustand des Denkens wird dann z. B. von Augustinus (gen. litt. II 26) der Habitus der Liebe zugeordnet. Für Ficino ist zu verweisen auf das Argumentum in summo bono (Suppl. Ficin. II 96-97), wo es einerseits deutlich heißt, daß das höchste Gut der Seele in der Erkenntnis Gottes bestehe (in ipsa Dei cognitione), die eindeutig von dem körperlichen Affektbereich und dem ethischen Horizont abgesetzt und der contemplatio zugeordnet wird; und wo es andererseits heißt, daß diese intellektuelle Kontemplation den ausgezeichneten Modus der Vollkommenheit erfüllen muß, in dem die Willensintention absolut in ihrem höchsten Ziel zur Ruhe kommt, dem gaudium der visio diivina. Zur Diskussion vgl. V. Blandellus, Opusculum (s. Anm. 1), der auch zu den folgenden Argumenten Ficinos eine zu Schlüssen formalisierte Zusammenfassung gibt S. 197-203 Kristeller. 30 Hierzu Thomas, ScG III 47. 31 Letters 173: no matter how he understands Him, if he despises everything etc.

242

De felicitate

Ba 663/G 205

modum detenus est odisse Deum quam ignorare, sic melius amare quam nosse. Tertia: cognitione Dei possumus male uti, scilicet ad superbiam, amore eius male uti non possumus. Quarta: qui Deum prospicit, nihil ob hoc tribuit Deo, qui autem eum amat et se ipsum et quicquid possidet Deo tribuit; amanti ergo se Deus retribuit potius quam scruptanti. Quinta: perscruptando Deum paulum longo vix tandem tempore proficimus, amando brevissimo plurimum; ob id enim citius propinquiusque et firmius amor quam cognitio mentem cum divinitate coniungit, quia vis cognitionis in discretione consistit magis, amoris autem vis magis in unione. Sexta: amando Deum non solum maiorem percipimus voluptatem quam perscruptando, verum etiam meliores efficimur. His rationibus concludere possumus premium quod amori debetur maius esse quam quod humane inquisitioni

Über die

Glückseligkeit

243

nicht zu kennen, um soviel besser ist es, ihn zu lieben als ihn zu kennen32. Drittens: Wir können das Wissen von Gott mißbrauchen, ζ. B. zur Überheblichkeit; die Liebe zu ihm können wir nicht mißbrauchen. Viertens: Wer Gott (in geistiger Distanz) anschaut, erweist ihm allein dadurch keinen Dienst; wer ihn aber liebt, der bringt ihm sich selbst und alles, was er besitzt, dar. Umgekehrt gewährt sich Gott wieder eher dem Liebenden als dem Forschenden. Fünftens: Wenn wir Gott intellektuell erforschen, kommen wir in langer Zeit nur wenig und kaum voran, wenn wir ihn lieben dagegen in kürzester Zeit sehr weit. Die Liebe verbindet den Geist deshalb schneller, enger und fester mit der Gottheit als die Erkenntnis, weil die Kraft der Erkenntnis eher in der Unterscheidung, die Kraft der Liebe dagegen eher in der Vereinigung besteht33. Sechstens: Indem wir Gott lieben, empfinden wir in uns nicht nur, im Vergleich dazu, daß wir intellektuell nach ihm forschten, eine größere Freude, sondern wir werden dadurch selbst auch besser. Aus diesen Punkten können wir schließen, daß der Lohn, der der Liebe gebührt, größer ist als der Lohn, der der menschlichen Forschung angemessen ist. Dem Liebenden kommt es zu, die geliebte Sache zu genießen und

32 Blandellus faßt dieses Argument Ficinos in seinem Opusculum p. 197 Kristeller präzise zu der syllogistischen Form zusammen : illud melius est, cuius oppositum est peius, et per consequens tale maioris est meriti. Sed odisse D e u m quod est dilectionis oppositum detenus est quam ignorasse quod est oppositum cognitionis. Est ergo dilectio melior et potioris merito quam cognitio. 33 Vgl. Ps. Dionysius Areopagita, D e div. nom. IV 12 (709 C) und 15 (713) und den Rückgriff auf die platonisch-dionysische Bestimmung von amor als virtus unitiva bei Thomas, ScG I 91. Vgl. hierzu weiter unten Anm. 44.

244

De felicitate

Ba 663/G 205-206

accomodatur. Amanti conventi ut re amata fruatur et gaudeat - is enim est finis amoris -, inquirenti autem ut videat. Gaudium igitur in homine felice superat visionem. Preterea videre querimus ut gaudeamus, non autem ut videamus gaudere. Causam assignare possumus ob quam videre velimus, causam vero ob quam velimus gaudere aliam preter ipsummet gaudium assignare nequimus, quasi propter se ipsum desideretur. Non cupimus ipsum videre simpliciter, sed talia et tali quodam pacto videre ut gaudeamus. Nullum gaudium natura ipsa respuit unquam; respuit tamen aliquam interdum cognitionem, immo etiam vitam, si4 arbitramur multum fore molestam, ut oblectatio non cognitionis tantum, verum etiam vite sit condimentum, quo sublato omnia videntur insipida. Plenius est gaudium quam cognitio: non enim quisquís cognoscit idem simul et gaudet, quisquis autem gaudet necessario et cognoscit. Natura sicut deterius existimat

4

etiam, si: etiam vitam, si L. et G.

Über die Glückseligkeit

245

sich an ihr zu erfreuen - dies ist nämlich die Zielbestimmung der Liebe -, dem Forschenden dagegen, sie (die Sache) zu sehen. Die Freude in einem glücklichen Menschen übertrifft also die Schau34. Außerdem streben wir nach dem Sehen, um dadurch Freude zu erlangen, nicht aber erstreben wir das SichFreuen, um sehen zu können. Wir können zwar eine Ursache anfuhren, weshalb wir sehen wollen; eine Ursache aber, warum wir uns freuen wollen, können wir nicht angeben, es sei denn die Freude selbst. Diese wird gleichsam um ihrer selbst willen erstrebt. Dagegen begehren wir nicht einfachhin das Sehen als solches, sondern dieses und jenes zu sehen, um uns zu freuen. Unsere Natur selbst verschmäht niemals eine Freude, wohl aber verschmäht sie zuweilen eine Erkenntnis, manchmal sogar das Leben, wenn wir meinen, es sei sehr beschwerlich. So daß der Genuß die Würze nicht nur der Erkenntnis, sondern auch des Lebens selbst ist, die, nähme man sie hinweg, bewirkte, daß alles als schal und dumm erschiene. Die Freude ist auch von größerer Fülle als die Erkenntnis: der, der erkennt, der freut sich nicht auch zugleich; jeder aber, der sich freut, erkennt notwendigerweise auch35. So wie die Natur daher den Schmerz schlimmer bewertet als

34 Ficino steht hier nachweislich unter dem Einfluß des Augustinus, vgl. ζ. B. Opera 730-731 : Legebam modo hanc felicitatis defmitionem in Confessionibus Augustini nostri, cuius vestigia, quoad possumus, frequentissime sequor; beate vivere nihil aliud est quam veritatem gaudere. Dazu siehe Conf. Χ 23, 33. 35 Vgl. Blandellus, Opusculum 253 ff. (Kristeller) : sed verum est quod omne gaudium de necessitate cognitionem praesupponit ex qua causatur (254). Gegen diese Bewertung des gaudium bzw. der delectatio setzt Blandellus Opusculum p. 246 Aristoteles EN X 2,1174 a 4-6, der deutlich zeige, daß zentrale Tätigkeiten und Positionierungen des Menschen (videre,

246

De felicitate

Ba 663-664/G 206

dolere quam ignorare, ita melius gaudere quam nosse; et sicut dolorem semper et ubique propter se fugit, et omnia propter ipsum tanquam summum malum, ita voluptatem sequitur propter se et alia propter ipsam, quasi summum bonum. Cum vis cognitionis, ut supra diximus, in quadam discretione consistât, vis autem amoris in unione, propius unimur Deo per amatorium gaudium, quod nos tranformat in amatum Deum, quam per cognitionem; et sicut non qui videt bonum, sed qui vult fit bonus, sic animus non ex eo quod Deum considérât, sed ex eo quod amat fit divinus, quemadmodum materia non quia lucem ab igne capiat, sed quia calorem, ignis evadit. Ratio hec ex eo confirmatur, quod cum anima non sit ipsum bonum, ideoque bonum ipsi extra sui naturam sit querendum, sequitur ut conversio voluntatis, que extra protenditur in obiectum, venus ipso bono fruatur quam notio intellectus que manet intus. Intellectus enim modo quodam imaginario obiectum capit; voluntas essentiali instinctu transferre se nititur in obiectum; appetitus in essentia fundatur, latissimusque et perpetuus est (quecunque enim sunt, semper aliquid appetunt); cognitio per acceptas imagines agit, paucorum

Über die

Glückseligkeit

247

das Nichtwissen, so bewertet sie die Freude höher als das Wissen. Und wie sie den Schmerz immer und überall wegen seiner eigenen Natur und alles andere seinetwegen als eines größten Übels flieht, so folgt sie der Freude um ihrer selbst willen und verfolgt anderes ihretwegen als des vermeintlich höchsten Gutes. Da die Erkenntniskraft, wie wir oben gesagt haben, in einer gewissen Unterscheidungsfáhigkeit besteht, die Kraft der Liebe dagegen in der Vereinigung, werden wir Gott enger durch die der Liebe eigene Freude, die uns in den geliebten Gott verwandelt, als durch die Erkenntnis verbunden36. Und wie nicht der, der das Gute sieht, sondern der, der es will, gut wird, so wird die Seele göttlich, nicht weil sie Gott denkend betrachtet, sondern weil sie ihn liebt, wie ja auch die Materie zu Feuer wird, nicht weil sie das Licht, sondern weil sie die Wärme des Feuers erfaßt. Dieses Argument wird dadurch bekräftigt, daß, da die Seele nicht das Gute selbst ist und sie daher ihr Gutes außerhalb ihrer Natur suchen muß, folgt, daß die Wendung des Willens, der sich nach außen auf den Gegenstand hin richtet, wahrhaftiger das Gute selbst genießen kann, als das Wissen der Vernunft, das in der Seele verharrt. Die Vernunft erfaßt den Gegenstand in der Weise des Vorstellens (der Phantasie). Der Wille dagegen ist aus einem ihm wesentlichen Trieb bestrebt, sich in den Gegenstand zu versetzen. Das Streben ist im Wesen begründet, weit verbreitet und beständig: alles Seiende erstrebt nämlich immer irgend etwas. Das Erkennen dagegen ist mittels aufgefaßter Vorstellungsbil-

recordari, scire, virtutes habere) in ihrer Durchführung oft keine Freude oder Genuß, sondern eher deren Gegenteil provozieren und dennoch an sich erstrebenswert und notwendig sind. Vgl. auch Thomas I/II q. 4 a. 2; ScG III 26. 36 Vgl. Augustinus, div. quaest. 83, q. 35,2: nullum bonum perfecte noscitur, quod non perfecte amatur. Thomas, ScG 191.

248

De felicitate

Ba 664/G 206

est et intermissa. Possessio igitur boni per appetitus naturarti magis substantialis est quam per cognitionis intuitum. Si Deus mentem a volúntate seiungeret servaretque naturam utranque seorsum, mens quidem priorem speciem retiñere forsitan videretur (esset enim adhuc forma quedam rationalis), voluntas speciem forte mutaret (esset enim appetitus aliquis carens rationis electione), sed mens nullo prorsus bono ulterius frueretur (esset enim tanquam animal absque gustu), nihil sibi piacerei, nihil probaret, ñeque alteri cuiquam ñeque sibi assentiretur; voluntas tamen adhuc suis quibusdam bonis pro viribus frueretur. Frui igitur summo bono ad voluntatem potius quam ad intellectum pertinere videtur.

Über die Glückseligkeit

249

der tätig, es ist nur bei wenigen vorhanden und nur zeitweilig tätig. Der Besitz des Guten, der durch die Natur des Strebens vermittelt ist, ist substantieller als der, der durch die Einsicht der Erkenntnis vermittelt wird. Wenn Gott den Geist von dem Willen trennte und beider Natur getrennt bewahrte, dann würde der Geist vermutlich die ursprüngliche Artgestalt bewahren. Er wäre nämlich immer noch eine Form der Vernunft. Der Wille jedoch veränderte wohl seine Artgestalt, denn er wäre ein Streben, das der durch die Vernunft bewirkten Wahl entbehrte. Aber der Geist könnte sich an überhaupt keinem Gut weiterhin erfreuen, er wäre gleichsam ein Lebewesen ohne Geschmackswahrnehmung, nichts gefiele ihm, nichts würde er anerkennen und weder würde er einem anderen noch sich selbst zustimmen. Der Wille dagegen würde auch jetzt seine Güter nach Kräften genießen. Der Genuß des höchsten Gutes scheint daher eher dem Willen als dem Intellekt zuzukommen37. 37 Vgl. dagegen Thomas, IV. sent. dist. 49, q. 1 a. 1 ; Quodl. VIII a. 9; ScG III 26; diese zentralen Passagen der intellektualistischen Position des Aquinaten werden auch alle von Blandellus gegen Ficino mobilisiert. Vgl. Opusculum S. 228 f. Kristeller. Dazu und auch zum Folgenden vgl. insbes. S. 259-261, wo z.B. die thomistische (und platonische) Präferenz der inneren, intellektuellen Schau vor der triebhaft oder willentlich nach außen strebenden Bewegung parallel gesetzt wird der thomistisch (und platonischen) Präferenz der korrespondierenden transformatio der Seele ins Göttliche per informationem et assimilationem vor derjenigen per inclinationem. Vgl. 263 : die intellektuelle Schau (visio) Gottes ist fur Thomas wie für Blandellus die wesentliche Bestimmung menschlicher Glückseligkeit und bliebe auch bei einer Trennung von Intellekt und Willen in der Seele erhalten. Die fruitio bzw. das gaudium ist nur akzidentelle Ergänzung dieses Status (superaddit perfectionem): ita et anima videns Deum absque hoc quod delectatur est perfecte beata quo ad essen tialem beatitudinis perfectionem, non autem quantum ad accidenta-

250

De felicitate

Ba 664/G 206-207

Merito voluntati convenit finis motus, id est felicitas, quoniam ad eam spectat motus initium. Intellectus enim cum non tam pro natura rerum quam pro natura sua res ipsas intelligat, res ad se ipsum quodammodo videtur attrahere, ideoque non proprie movere dicitur animam. Voluntas cum res appetat eo modo consequi quo sunt in se ipsis, trahit animam ad externa, ideoque motus initium est voluntas; finis autem motus universalis extrinsecus est, qui denique tanquam forma quedam anime sese iungit. Anima per voluntatem hoc fine maxime fruitur, quia merces laboranti debetur, cura vero stimulusque circa consequendum bonum malumve vitandum est in affectu. Voluntas non modo quia magis meretur quam intellectus apud Deum, iccirco magis Deo fruitur, verum etiam quoniam ad eam beatitudinis distinctio pertinet; quanto enim quis ardentius amat, tanto evadit beatior: ideo ad ipsam spectat felicitatis ipsius substantia5. Quid dicemus ad hoc?

5

L. scheint, folgt man der englischen Übersetzung, ad ipsam . . . substantiam zu lesen.

Über die Glückseligkeit

251

Zu Recht kommt dem Willen das Ziel der Bewegung, d. h. die Glückseligkeit, zu, da ja der Beginn der Bewegung auf sie hin ausgerichtet ist. Die Vernunft, die die Dinge selbst nicht so sehr wegen der Natur der Dinge als vielmehr wegen ihrer eigenen Natur erkennt, scheint diese daher irgendwie zu sich selbst hinzuziehen; und deshalb kann man sagen, daß sie nicht eigentlich die Seele bewegt. Der Wille, da er bestrebt ist, die Dinge auf die Weise zu erlangen, wie sie in sich selbst sind, zieht die Seele nach außen. Und daher ist der Wille der Anfang der Bewegung38. Das Ziel aber der allgemeinen Bewegung ist ein außen liegendes, das sich schließlich selbst mit der Seele gleichsam wie eine Formbestimmung verbindet. Der Genuß dieses Zieles liegt für die Seele in höchstem Maße im Willen, da der Lohn dem gebührt, der sich bemüht. Die Sorge und der Antrieb, das Gute zu verfolgen und das Schlechte zu vermeiden, liegt im Affekt. Der Wille genießt Gott in größerer Weise, nicht nur weil der Wille bei Gott mehr im Verdienst steht als der Intellekt, sondern auch weil er durch die Bestimmung zur Glückseligkeit ausgezeichnet ist39. Um so mehr einer liebend entflammt ist, um so glücklicher wird er, und daher bezieht sich die Substanz der Glückseligkeit auf den Willen40. Was sollen wir lem, quae in fruitione consistit. Blandellus verweist zusätzlich auf die Autorität des Dionysius Areopagita (div. nom. V), wo eine analoge Argumentation bzgl. des Verhältnisses essevivere konstatiert werde. Genuß ohne Erkenntnis wäre dagegen für Blandellus nihil aliud . . . nisi solam quietationem appetitus in fine, quae etiam in rebus inanimatis respectu suorum fmium invenitur (264). 38 Blandellus, Opusculum S. 211 Kristeller: inter omnes hominis partes intellectus superior motor invenitur. Intellectus quippe movet voluntatem proponendo ei suum obiectum. 39 Letters 175: because the discovery of happiness belongs to will. 40 Letters ebd. : he approaches the very substance of happiness itself.

252

De felicitate

Ba 664/G 207

Quod cum multo plures amare Deum ardenter possint quam clare cognoscere, amatoria via et hominibus tutior est, et ad infinitum bonum, quod se ipsum vult quam plurimis impertire, longe accomodatior: ad voluntatem igitur pertinet consecutio. Quid rursus ad hoc? Quod liber animarum rationalium" motus, et quia liber ideo progrediens preter finitum quemlibet terminum, usque adeo mentis proficere potest, ut nonnullos etiam angelorum beatitudine valeat superare. Superare vero eos amando gaudendoque potius quam intelligendo valemus; proinde cognoscendo Deum eius amplitudinem contrahimus ad mentis nostre capacitatem atque conceptum, amando vero mentem amplificamus ad latitudinem divine bonitatis immensam. Illic in nos Deum quasi deicimus, hic vere attollimus nos ad Deum: noscimus enim quantum ipsi capimus, amamus autem et quantum intuemur et quantum ultra perspicuum intuitum nostrum vaticinamur bonitatis divine reliquum superesse. Ubi divine infinitatis abyssum remisse quidem et obscure prospicimus, intense tamen ardenterque amamus similiterque gaudemus. Non est, ut aliqui

6

animarum rationalium: animalium rationalium L.

Über die Glückseligkeit

253

schließlich zu Folgendem sagen? Da viel mehr Menschen Gott brennend lieben als klar erkennen können, ist der durch die Liebe bestimmte Weg für die Menschen sicherer und für das Erreichen des unendlich Guten, das sich möglichst vielen mitteilen will, bei weitem angemessener. Es ist also Sache des Willens, die Glückseligkeit zu erlangen. Was sollen wir wiederum hierzu sagen? Daß die Bewegung der Rationalseelen frei ist und daß sie, weil frei, jede endliche Grenze überschreitend, sich soviel Verdienste erwerben kann, daß sie sogar einige der Engel an Glückseligkeit zu übertreffen vermag41 : Übertreffen können wir sie aber eher liebend und uns freuend als erkennend. Schließlich: wenn wir Gott erkennen, dann ziehen wir seine Dimension auf die Aufnahmefähigkeit und das Begreifen unseres Geistes zusammen; wenn wir ihn aber lieben, dann erweitern wir vielmehr unseren Geist zur unermeßlichen Weite der göttlichen Güte42. Dort ziehen wir Gott gleichsam zu uns herab, hier erheben wir uns zu ihm. Wir wissen nämlich nur so viel, wie wir selbst erfassen. Wir lieben aber sowohl was wir anschauen als auch was wir über den von uns angeschauten Anblick hinaus von dem erahnen, was an göttlicher Güte zusätzlich da ist43, wo wir den Abgrund der göttlichen Unendlichkeit abgeschwächt zwar und unklar erblicken, ihn dennoch aber intensiv und brennend lieben und uns in gleicher Weise an ihm erfreuen. Nicht ist, wie einige meinen, die 41 Vgl. Corpus Hermeticum 10, 24; Asclepius 22 (=1 120f.; II 324 Nock-Festugière). Dagegen vgl. Blandellus, Opusculum S. 269 f. Kristeller, der sich für seine These, daß wir die intelligiblen reinen Geister nicht übertreffen, sondern ihnen allerhöchstens gleich kommen können (secundem imitationem, ad aequalitatem), auf Dionysius Areopagita (div. nom. I) berufen kann. 42 Vgl. hierzu Kristeller 1967, 118 f. 43 Der Passus: proinde cognoscendo Deum bis superesse entspricht fast ad litteram Theol. Plat. XIV 10 (2, 292 M.).

254

De felicitate

Ba 664/G 207-208

opinantur, visio mensura gaudii: potest enim qui parum videt amare multum atque contra. Denique illud est summum anime bonum, quo anima contenta est; non est autem contenta proprie ipsa visione Dei: visio enim que in anima vidente suscipitur, creata res est gradibusque perfectionis finita sicut et anima; non est autem anima contenta unquam creato aliquo finitoque bono. Visio igitur non est summum. Contenta vero est anima Deo viso potius quam visione Dei. Fruitio boni in sensu non in eo consistit proprie, quod

Über die Glückseligkeit

255

Schau das Maß der Freude. Es kann nämlich auch der, der wenig sieht, viel (intensiv) lieben und umgekehrt. Schließlich ist dasjenige das höchste Gut der Seele, womit die Seele zufrieden ist, sie ist aber in der Anschauung G o t t e s nicht eigentlich zufrieden: die in der anschauenden Seele a u f g e n o m m e n e Schau ist eine geschaffene, an Stufen und Vollkommenheit begrenzte Sache, wie es auch die Seele selbst ist. D i e Seele ist aber niemals mit e i n e m geschaffen e n und endlichen G u t e n zufrieden. A l s o ist die Schau nicht das höchste (Gut) 44 . D i e Seele ist eher zufrieden mit d e m g e s e h e n e n Gott als mit der Schau Gottes. D e r G e n u ß des G u t e n durch die 44 Vgl. dagegen die Position Plotins VI 9,11 ; V 5, 8,3-5. Daß in der visio Dei als der perfettissima operatio nobilissimae potentiae (sc. animae), also der des Intellektes, die höchste Glückseligkeit bestehe, ist zentrales Argument des Blandellus unter Rückgriff auf Aristoteles (EN 12; X 6-10), Augustinus (trin. 18,17) und Thomas (Quodl. VIII a. 19 ; I/II q. 3 a. 4), vgl. Opusculum S.203f., 209, 213 f. 230 f. Kristeller. Ficino kann seine provokante Argumentation hier nur dadurch konsistent zu machen versuchen, daß er die visio Dei entgegen der klaren Intention ihrer traditionellen philosophischen Bestimmung reduziert und depotenziert auf die kontingente individuelle Signatur der Einzelseele. Der contactus Dei ad intellectum (Blandellus Opuse. 230) wird entsubstantialisiert zu einem contactus conceptus Dei ad intellectum concipientem, die visio von einer unio (Blandellus 253 ; Thomas S. Th. I q. 12 a. 2; IV sent. dist. 49 q. 2 a. 1) zu einem rein rationalen Akt des Begreifens. Zudem muß er die Fundierung jeglicher Strebensleistung des Willens in einem intellektuellen Akt, der dem Willen allererst den Gegenstand bzw. das Ziel seines Strebens vorgibt, aufgeben zugunsten einer Höherbewertung der Natur des Strebens selbst (appetitus) im Seienden, von dem der menschliche Wille nur die differenzierteste Ausformung ist. Dieser Wille richtet sich „von Natur aus", gleichsam blind, ohne substantielle Vorgabe der Vernunft auf das höchste Strebensziel Gott.

256

De felicitate

Ba 664-665/G 208

bonum moveat sensum, sed in eo quod sensus in bonum illud quod oblatum est sese reflectat, convertatur et diffundatur; que quidem spiritalis conversio diffusioque nihil est aliud quam voluptas, ut in libro De voluptate disseruimus. Sic in separata mente ipsa, ut ita loquar, fruitio Dei non in eo proprie quod Deus se monstrat menti consistit (hic enim Dei potius quam nostri actus est), sed in eo quod mens se convertit in Deum, quod est gaudium. Neque putandum est animam in Dei visionem suam sese convertere, ut quiescat in ipsa, sed in Deum visum; vult enim visionem propter visum, quod etiam ipsi tanquam forma coniungitur, sicuti neque gustus in gustationem saporis sed in saporem gustatum se dilatat: gustationem enim propter gustatum cupit. Appetitus nullus rem imaginariam querit, sed substantialem, alioquin sufficeret appetenti absentis boni memoria atque imaginatio; visio autem Dei in nobis imaginaria res est et, ut supra dixi, finita. Quocirca voluntatis actus, qui est in Deum infinitum conversio substantialisque diffusio, rationem infinitatis magis habet quam actus intelligendi, qui est Dei notio quedam pro mentis capacitate.

Über die Glückseligkeit

257

Sinne besteht nicht eigentlich darin, daß das Gute den (jeweiligen) Sinn bewegt, sondern darin, daß der Sinn sich dem sich darbietenden Guten zuwendet, sich in es wendet und sich ausbreitet. Diese geistige Verwandlung und Ausbreitung ist aber nichts anderes als die (sinnliche) Lust, wie wir im Buch „Über die Lust" dargelegt haben45. Ganz analog besteht sogar im vom Körper getrennten Geist der Genuß Gottes selbst, um es so zu sagen, nicht eigentlich darin, daß Gott sich dem Geiste zeigt - dies ist nämlich eher eine Tätigkeit Gottes als eine von uns -, sondern darin, daß der Geist sich zu Gott (zurück) wendet. Das ist die Freude. Man darf nicht glauben, daß die Seele sich in ihre Gottesschau wende, um in dieser Ruhe zu finden, sondern daß sie sich in den gesehenen Gott wendet. Sie will nämlich die Schau um des Geschauten willen, das sich ihr auch wie eine Form verbindet. So erstreckt sich auch der Geschmackssinn nicht auf das Schmecken des Geschmackes, sondern auf den Geschmack des Geschmeckten. Er begehrt nämlich das Schmecken wegen des Geschmeckten46. Kein Streben intendiert eine nur vorgestellte Sache, sondern immer eine substantielle Sache. Andernfalls genügte dem Strebenden die Erinnerung und Vorstellung des nicht vorhandenen Guten. Die Schau Gottes in uns ist aber eine Vorstellungssache und, wie ich oben gesagt habe, eine begrenzte Sache. Daher hat der Akt des Willens, der eine substantielle Wendung und ein Sich-Ausbreiten in den unendlichen Gott ist, eher etwas von der Struktur des Unendlichen als der Akt der Vernunft, die nur einen der Aufnahmefähigkeit des Geistes entsprechenden Begriff von Gott vermittelt.

45 Vgl. De voluptate (1457). Diese frühe Abhandlung setzt sich vornehmlich mit aristotelischen und epikuräischen Theoremen über die „Begierden" auseinander. 46 Dieser Satz fehlt in L.

258

De felicitate

Ba 665/G 208-209

Summum igitur bonum Deus est, beatitudo autem fruitio Dei. Fruimur Deo per voluntatem, quoniam per earn amando quidem movemur ad Deum, gaudendo vero dilatamur convertimurque in Deum. Fruuntur autem varii animi variis Dei virtutibus et ideis: quisque enim ea virtute potitur imprimis, quam in hac vita dilexit pre ceteris atque est pro viribus imitatus. Toto autem Deo fruuntur omnes: totus enim in singulis est ideis, sed totum Deum prestantius possident qui eum in prestantiore idea conspiciunt. Quoniam vero quisque et Deo toto pro sua capacitate potitur et eo modo quo amaverat fruitur, ideo, ut Plato inquit, «livor abest a divino choro»: cum enim omnium iocundissimum sit re amata potili, quilibet in eo potiundo quod amaverat contentus plenusque vivit, quippe si amatores duo suarum delitiarum compotes fiant, uterque in amati sui possessione

Über die

Glückseligkeit

259

Das höchste Gut ist Gott. Die Glückseligkeit aber ein Genießen Gottes47. Wir genießen Gott durch den Willen: durch ihn bewegen wir uns liebend zu Gott hin und durch ihn öffnen wir uns und wenden uns mit Freude in ihn zurück. Verschiedene Seelen genießen verschiedene Tugenden und Ideen Gottes. Ein jeder nämlich nimmt zu allererst die Tugend in sich auf, die er in diesem Leben hier vor allen übrigen liebte und die er seinen Kräften entsprechend abbildend zu realisieren versuchte. Alle aber genießen den ganzen Gott, da er als ganzer in den einzelnen Ideen ist. Dabei besitzen ihn diejenigen auf hervorragendere Weise, die ihn in einer höheren Idee erblicken. Da also ein jeder sowohl nach seinem Vermögen den ganzen Gott in sich besitzt als ihn auch in der Weise genießt, in der er ihn geliebt hatte, ist, wie Piaton sagt, „Neid aus dem göttlichen Chore ausgeschlossen"48. Da es aber das von allem Erfreulichste ist, die geliebte Sache in sich aufzunehmen, lebt ein jeder, indem er besitzt, was er liebte, zufrieden und erfüllt. Wenn also zwei Liebende in den Besitz ihres Schatzes gelangen, so ruht jeder von ihnen in dem

47 Zur fruitio Dei vgl. Augustinus, Doctr. christ. 1 4 , 5 : fruí enim est amore alicui rei inhaerere propter se ipsam. Diese Bestimmung konnte Ficino bestätigen in seinem Bestreben, den voluntativen Aspekt als dominant herauszustreichen, da dieser seiner Meinung nach allein die Dinge „quo sunt in seipsis" erstrebte (s. o.). Vgl. auch Theol. Plat. XIV 2 (2,250 M.): Finis ergo noster est per intellectum D e u m videre, per voluntatem viso D e o frui. D e beata vita n. 34; lib. arb. II13,36; civ. Dei V i l i 8; XI 25; divers, quaest. LXXXIII q. 30 und 35 η. 1. Vgl. dagegen Blandellus, Opusculum S. 236 ff. Kristeller. 236: fruitio proprie sumpta est actus voluntatis praesupponens actum intellectus. Sie ist nicht selbst substantiell die Glückseligkeit, sondern nur akzidentelle Ergänzung und Vervollkommnung derselben (237). 48 Vgl. Phaidros 247 A.

260

De felicitate

Ba 665/G 209

quiescet, neque curam quidem ullam habebit, num alter pulchriore potiatur amato. Adde quod quamvis illic alii aliis capadores sint, tamen quisque ad summum sue capacitatis exuberat, quo fit ut nihil ultra requirat. Adde quod amatorio quodem affectu voluntati distributionique divine iustitie quilibet illic cedit quam libentissime. Amoveri autem a Deo beatus animus nunquam potest: neque enim vi id fieri posse dicendum est - nam unde violentia inferri potest in animam ab infinita Dei potentia comprehensam? - neque sponte. Cum enim voluntas non moveatur ad aliquid nisi ratione boni, postquam semel heserit ei in quo tota est boni ratio idque cognoscit, nunquam inde movetur ad aliud; et quia natura boni est sibi appetendi vim applicare, sequitur ut infinitum bonum applicet absque fine; rursum quia voluntas eatenus quies-

Über die Glückseligkeit

261

Besitz des von ihm Geliebten und trägt keinerlei Sorge darüber, ob der andere etwa einen schöneren Geliebten besitze. Man kann noch hinzufugen: obwohl dort die einen eine größere Fassungskraft haben als die anderen, gelangt doch jeder im Überfluß zum Höchsten seiner eigenen Fassungskraft, so daß er nichts weiter verlangt. Des weiteren gilt, daß jeder dort in seinem Liebesaffekt völlig freiwillig sich dem Willen und der Anordnung der göttlichen Gerechtigkeit fügt. Die glückselige Seele kann niemals von Gott getrennt werden49. Man kann auch nicht einmal sagen, daß dies durch Gewaltanwendung möglich wäre, denn woher könnte auf eine von der unendlichen Macht Gottes umfaßte Seele mit Gewalt eingewirkt werden? Dies könnte auch nicht freiwillig (von Seiten der Seele) geschehen, da der Wille nur auf Grund des Guten sich auf etwas hin bewegt. Denn nachdem er einmal dem, in dem das ganze Worumwillen des Guten besteht, angehangen ist und dies erkennt, entfernt er sich nie mehr von diesem zu einem anderen. Und da es zur Natur des Guten gehört, auf das nach ihm Strebende Kraft auszuüben, folgt, daß das unendlich Gute un-endlich Kraft ausübt50. Da zudem der 49 Vgl. zum Folgenden Blandellus, Opusculum S. 240 ff. Kristeller, der mit seiner hier zu Ficino stimmigen Argumentation pikanterweise einen Seitenhieb gegen die Platoniker und die Origenisten verbindet: per hoc autem (sc. durch die Nachweis der ewigen Dauer und Unablässigkeit der visio/fruitio Dei) excluditur error Platonicorum qui dicebant animas separatas postquam felicitatem ulitmam adeptae fuissent iterum ad corpora incipere velie redire et finita felicitate illius vitae iterum miseriis huius vitae involvi. Excluditur etiam error Origenis qui dictis Platonicorum nimis inhaerens dixit animas et angelos post adeptam beatitudinem iterum posse ad miseriam devenire (242). 50 Lettere 177: to direct the force of desire towards itself, it follows that infinite goodness does so everlastingly.

262

De felicitate

Ba 6 6 5 / G 209-210

cit in aliquo, quatenus aestimatur bonum, in bono infinito sine fine quiescit. Ac si anima dum in corporis motu vers a t o felicitatem eligit omnis mutationis expertem, multo magis quando fuerit super motum, neque inferiores anime partes divertere inde possunt superiores: cesserunt enim illis in eternum, quando in infinitum Dei statum anima sese vertit. Denique, si separandus illinc quandoque animus est, sive id nesciat non est beatus, quia videlicet est ignorans, sive sciât non est beatus, quoniam timidus atque eger. Semper ergo fruitur Deo qui semel fruitur. Lege feliciter, Laurenti felix, que Marsilius Ficinus tuus hic breviter magna ex parte a te inventa de felicitate perstrinxit (sic enim requirit epistola), latissime vero hec ab eo in libris De amore et in Theologia tractantur. Vale7.

7

tractantur. Vale: tractantur. Finis laus D e o . Vale L.

Über die Glückseligkeit

263

Wille insofern bei etwas zur Ruhe kommt, inwiefern er es als ein Gutes bewertet, kommt er in dem unendlich Guten auf un-endliche Weise zur Ruhe51. Und wenn die Seele, schon während sie sich auf körperliche Weise bewegt, eine von aller Bewegung freie Glückseligkeit wählt, wird sie dies um so mehr tun, wenn sie selbst über alle Bewegung erhoben ist. Von dort können auch die unteren Seelenteile die höheren Seelenteile nicht ablenken, da sie ihnen auf ewig gewichen sind, als die Seele sich der unendlichen Ruhe Gottes zugewandt hatte. Schließlich: sollte die Seele von dort trennbar sein, so ist sie aufjeden Fall nicht glückselig. Sei es nämlich, daß sie es nicht weiß, so deswegen, weil sie nichtwissend ist; sei es, daß sie es weiß, so deswegen, weil sie dann ängstlich und kummervoll ist. Wer daher Gott einmal genossen hat, der genießt ihn fur immer. Lies also glückselig, Du glücklicher Laurentius, was Dein Marsilius Ficinus hier in Kürze und in großen Teilen von Dir angeregt über die Glückseligkeit zusammengefaßt hat. So erfordert es das briefliche Genus52, sehr ausfuhrlich sind diese Dinge dagegen in den Büchern „Über die Liebe" und in der „Theologie" abgehandelt. Lebe wohl.

51 Vgl. Thomas, ScG III 62. Zur „Ruhe" als Signum der Eudaimonie Gottes vgl. Aristoteles, EN VII 15, 1154 b 25 f. 52 G. versteht: so verlangt es der (sc. Dein) Brief und verweist auf Ep. 24, 35; 39, 35.