Trakl-Handbuch: Leben - Werk - Wirkung (German Edition) [1. Aufl. 2023] 3662673223, 9783662673225

Das Werk Georg Trakls (1887-1914) ist ebenso schmal wie bedeutend. Er gilt als Klassiker der Moderne und seine Gedichte

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Trakl-Handbuch: Leben - Werk - Wirkung (German Edition) [1. Aufl. 2023]
 3662673223, 9783662673225

Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Autorenverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Teil I Leben
1 Zur Biographie Georg Trakls
Herkunft und Aufstieg der Familie
Kindheit
Krisenhafte Jugend
Wiener Jahre
Wartezeit
Innsbruck – Erfolge als Dichter
Trakls Ende
Literatur
Teil II Kontexte
2 Trakls Land
Trakl und der habsburgische Mythos
Sozialhistorische und literatursoziologische Perspektiven
Literatur
3 Trakls Netzwerke
Das Netzwerk zu Lebzeiten
Salzburg
Wien
Innsbruck
Grodek
Posthume Netzwerke
Literatur
4 Trakls Pharmazie
Pharmazieausbildung und Pharmazieberuf zu Trakls Zeit
Trakls Pharmaziestudium
Trakl als Militärapotheker
Literatur
5 Trakl als Leser
Die Bücherliste von 1913
Bibellektüre
Dramatische Literatur
Erzählliteratur
Lyrik
Literatur
6 Trakls lyrische Einflüsse und Intertexte
Zwischen Tradition und Innovation: Georg Trakls Dichtung
Zwischen Anlehnung und Verwerfung: Nietzsche und Dostojewskij
Zwischen Romantik und Moderne: Novalis und Hölderlin
Zwischen dem Fremden und dem Eigenen: Trakl und die französische Lyrik der Moderne (Baudelaire – Verlaine – Rimbaud)
Trakl und der Rhythmus der Moderne
Literatur
7 Trakl und der Expressionismus
Im Wandel der Zeit
Der ›Einsame‹ zwischen den Fronten
Reihungsstil
Verfall und Zivilisationskritik
Abstraktion und Synästhesien
Gottnähe oder -ferne
Literatur
8 Trakls Religion
Der konfessionelle Hintergrund der Familie Trakl
Ritus-Kritik: Trakl und der Salzburger Katholizismus
Trakls Stilisierung zum christlichen Dichter
Bibelsprache
Biblische Figuren
Psalmenpoetik
Literatur
9 Trakls Unverständlichkeit
Arkanpoetik und Divination – Die Krise der Hermetik
Willkür, Kontingenz, Kalkül – Der Killy-Schock
Vom Sinn zum Verfahren
Von der Textur zum Diskurs
Strukturverstehen und Diskurskritik – Die Trakl-Reparatur
Literatur
Teil III Werk: Produktion, Publikation, Überlieferung
10 Zur Überlieferung, Konstitution und Edition des Werks
Historisch-kritische Ausgabe (HKA)
Innsbrucker Trakl-Ausgabe (ITA)
Dichtungen und Briefe (DuB)
Ausgaben vs. Handschrift
Literatur
11 Trakls Produktions- und Publikationspraxis
Trakls Schreibverfahren
Trakls Ambivalenz gegenüber Veröffentlichtem
Publikationspraxis I: Trakls Einzelpublikationen in Zeitschriften
Publikationspraxis II: Trakls Sammlungsprojekte und Gedichtbände
Literatur
Teil IV Werk: Frühe Prosaarbeiten
12 »Traumland. Eine Episode« (1906)
Literatur
13 »Aus goldenem Kelch. Barrabas« (1906)
Literatur
14 »Aus goldenem Kelch. Maria Magdalena« (1906)
Literatur
15 »Verlassenheit« (1906)
Literatur
Teil V Werk: Dramatisches I – Zu Trakls dramatischem Konzept
16 Trakls Versuche im Drama
Trakls Auseinandersetzung mit der dramatischen Form: ein erster Überblick
Lyrisierung und Dialogkrise: »Don Juans Tod« im Licht der Dramentheorie Maeterlincks
Maschinenmenschen: »Blaubart« als ent-literarisierte Form des Theaters
Das »Kermor«-Fragment als Dramatik der Seele
Literatur
Teil VI Werk: Dramatisches II – Überlieferte dramatische Arbeiten
17 »Don Juans Tod« (1908)
Literatur
18 »Blaubart« (1910)
Literatur
Teil VII Werk: Lyrische Dichtungen I – Werkästhetik
19 Zur Werkästhetik von Trakls Lyrik
Voraussetzungen
Trakls poetische Entwicklung
Strategien der Wiederholung: Klangfiguren und Semantik
Strategien der Ambivalenz: Satzbau
Literatur
Teil VIII Werk: Lyrische Dichtungen II – Gedichte (1913)
20 Zum Aufbau der Sammlung
Literatur
21 »Die Raben« (1909/10)
Literatur
22 »Musik im Mirabell« (1909/12)
Rezeptionsgeschichte
Literatur
23 »Die schöne Stadt« (1911/13)
Literatur
24 »An den Knaben Elis« (1913)
Literatur
25 »Der Gewitterabend« (1910)
Literatur
26 »Traum des Bösen« (1911/12)
Zu den Varianten
Literatur
27 »Geistliches Lied« (1911/12)
Forschungsdiskussion und Rezeption
Literatur
28 »Die Bauern« (1911)
Literatur
29 »Verklärter Herbst« (1912)
Literatur
30 »Im Winter« (I) (1910)
Literatur
31 »Kleines Konzert« (1912)
Trakls unerforschter Dialog mit Wassily Kandinsky
Literatur
32 »Menschheit« (1912)
Literatur
33 »De profundis« (II) (1912)
Literatur
34 »Vorstadt im Föhn« (1911/12)
Literatur
35 »Die Ratten« (1910)
Literatur
36 »In den Nachmittag geflüstert« (1912)
Literatur
37 »Psalm« (I) (1912)
Literatur
38 »Verfall« (II) (1909/12)
Rezeptionsgeschichte
Literatur
39 »Abendlied« (1913)
Literatur
40 »Drei Blicke in einen Opal« (1912)
Literatur
41 »Helian« (1913)
Literatur
Teil IX Werk: Lyrische Dichtungen III – Sebastian im Traum (1915)
42 Zum Aufbau des Zyklus Sebastian im Traum
Entstehung und Veröffentlichung
Entwicklung der Textgestalt
Aufbau
Interpretationsansätze
Literatur
43 »Kindheit« (II) (1913)
Literatur
44 »Stundenlied« (1913)
Literatur
45 »Sebastian im Traum« (1913)
Literatur
46 »Kaspar Hauser Lied« (1913)
Textgenese
Deutung
Literatur
47 »Verwandlung des Bösen« (1913)
Forschung
Literatur
48 »Ein Winterabend« (1913)
Literatur
49 »Die Verfluchten« (1912/13)
Intertextuelle Bezüge
Literatur
50 »Entlang« (1913)
Literatur
51 »Der Herbst des Einsamen« (1913)
Literatur
52 »Ruh und Schweigen« (1913)
Formanalyse
Forschungsgeschichte
Tiefenstrukturen und Konstruktivismus
Bewegungsanalysen
Literatur
53 »Untergang« (1913)
Textgenese und -konstitution
Deutung
Literatur
54 »In Venedig« (1914)
Zum biographischen und kulturgeschichtlichen Kontext
Deutung
Literatur
55 »Vorhölle« (1914)
Literatur
56 »Gesang einer gefangenen Amsel« (1914)
Literatur
57 »Abendland« (II) (1914)
Entstehung und Kontext
Die Beziehung zu Else Lasker-Schüler
Antisemitismus im Abendland
»Abendland« als Gegenmodell
Gescheiterte Versöhnung
Literatur
58 »Traum und Umnachtung« (1914)
Textgenese
Struktur und Grundzüge des Textes
Deutung
Literatur
Teil X Werk: Lyrische Dichtungen IV – Veröffentlichungen im »Brenner« (1914/15)
59 Trakl und der »Brenner«
Zu Gründung und Gründungsgedanken des »Brenner«
Trakls erste Veröffentlichungen im »Brenner«
Trakls programmatische Bedeutung für den »Brenner«
Trakl im Gedächtnis des »Brenner«
Literatur
60 »In Hellbrunn« (1914)
Textgenese
Struktur und Bezüge
Aspekte
Literatur
61 »Der Schlaf« (1914)
Literatur
62 »Das Herz« (1914)
Literatur
63 »Das Gewitter« (1914)
Literatur
64 »Die Schwermut« (1914)
Textgenese
Deutung
Rezeptionsgeschichte
Literatur
65 »Klage« (II) (1914)
Literatur
66 »Grodek« (1914)
Entstehung und Überlieferung
Aufbau
Ein Erlebnisgedicht?
Zwischen Pathos und Ironie
Rezeption
Literatur
67 »Offenbarung und Untergang« (1914)
Rezeptionsgeschichte
Literatur
Teil XI Werk: Lyrische Dichtungen V – Gedichte aus dem Nachlass: Die »Sammlung 1909«
68 Zur »Sammlung 1909«
Literatur
69 »Drei Träume« (1909)
Literatur
70 »Das Grauen« (1909)
Literatur
71 »Confiteor« (1909)
Literatur
72 »Blutschuld« (1906)
Literatur
73 »Der Heilige« (1906)
Literatur
74 »Einer Vorübergehenden« (1909)
Literatur
Teil XII Werk: Lyrische Dichtungen VI – Gedichte aus dem Nachlass: 1909–1914
75 »Der Schatten« (1910)
Literatur
76 »Hölderlin« (1911)
Literatur
77 »An Novalis« (1913)
Literatur
78 »Melancholie« (I) / »Leise« / »Melancholia« (1912)
Literatur
79 »An Luzifer« (1914)
Literatur
Teil XIII Werk: Lyrische Dichtungen VII – Die »Sammlung Buhlig«
80 Zur »Sammlung Richard Buhlig«
Literatur
Teil XIV Werk: Das Briefwerk
81 Trakls Korrespondenz
Überlieferung und Publikationsgeschichte
Forschungsstand
Formale und inhaltliche Aspekte
Literatur
Teil XV Journalismus
82 Trakls journalistische Texte
Frühe Beiträge über das Salzburger Stadttheater (1906)
Freundschaftsdienste und Verrisse (1907/1908)
Abkehr vom Journalismus
Bedeutung für Trakls Biographie und als Werkkontext
Literatur
Teil XVI Werkdiskurse und Bildfelder
83 Farben
Voraussetzungen und historisch-kultureller Kontext
Trakls Verwendung der Farben
Literatur
84 Himmel und Sterne
Dämmerungsmomente
Endzeitstimmung
Verfallene Sterne als kühne Metapher
Permutation einer obsessiven Struktur
Schicksalszeichen
Spiegelung
Literatur
85 Körper
Literaturhistorischer Kontext und zentrale Einflüsse
Motivik
Literarische Verfahren der Körperdarstellung
Literatur
86 Krieg
Kontrastierungen: Zur Kriegssemantik in Gedichte (1913)
Verzeitlichung: Der Krieg in Sebastian im Traum (1915)
Trakls Gedichte im Angesicht des Ersten Weltkriegs
Literatur
87 Landschaft
Anti-pastorale Seelenlandschaften
Werkchronologische Tendenzen
Literatur
88 Melancholie
Voraussetzungen und Transformationen
Poetiken der Melancholie
Literatur
89 Musik
Sonatenklänge: Trakls musikalische Erziehung und ihre Überführung ins lyrische Frühwerk
Wohllaut: Zur Musikästhetik der Gedichte (1913)
Melos des Wortes: Auf den Spuren von Trakls Musikpoetik
Literatur
90 Mutter
Zu Trakls Mutter Maria Catherina Trakl, geb. Halik
Zur »Mutter« in Trakls Werk
Zur »Mutter« in der Trakl-Forschung
Ausblick
Literatur
91 Okkultismus
Die Mystik der Zahlen
Satanische Verse
Chymische Passion
Das erlösende Haupt
Literatur
92 Pathos, Pathologie und Pathologisierung
Literatur
93 Rausch
›Gesichte‹: Trakls Poetik des Rauschtraums
Der Rausch als Inspirationstopos
Synästhesie und Wahrnehmungsschärfung: zur Lyrisierung von Rauschwirkung bei Trakl
Literatur
94 Schwester
Grete Trakl
Zur Figur der Schwester in Trakls Werk
Zur Katastrophik der geschwisterlichen Beziehung
Zur Aufarbeitung der Geschwisterbeziehung in Forschung und Kunst
Literatur
95 Seele
Der Seelen-Diskurs um 1900
Zur semantischen Autonomisierung der Seele in Trakls Dichtung
Die Seele als Schwellenraum
Literatur
96 Tiere
Zoologisch unbestimmte Tiere: ›Tier‹ und ›Wild‹
Tierklassen: Zu Trakls Vögeln
Hässliche und groteske Tiere
Animalisierungen
Zur Zoopoetik Trakls
Literatur
97 Tod und Sterben
Verstorbenheit: Trakls Werk und die Gemeinschaft der Toten
Sterbende und Verwesende: Zur Poetisierung tödlicher Prozesse
Des Todes reine Bilder: zur heilsgeschichtlichen Kennung von Trakls Thanatologie
Literatur
98 Traum
Traumtheoretische Kontexte
Oneiropoetik?
Markierte Träume
Grenzverwischungen
Fazit
Literatur
99 Wahnsinn
Literatur
100 Wald
Trakl und die Tradition der literarischen Wälder
Der Wald als Sprachraum
Die »Legende des Walds«
Am Waldsaum
Literatur
101 Wasser
Mythologisierung: Das Wasser in Trakls früher Dichtung
Entrealisierung: Trakls Wasserpoetik 1910–1912
Das Wasser als poetologische Matrix
Literatur
102 Zeit/Zeiten
Darstellung der Zeit
Zeitdimensionen und ihre Entsprechung zur Zeit Trakls
Die Zeiten als Signale oder Bestandteile von Heil- oder Unheil
Literatur
Teil XVII Rezeption
103 Zur literarischen und philosophischen Auseinandersetzung mit Trakl
Vorsatz
Trakl mit Kierkegaard: zur frühesten Rezeption im Umfeld des Brenner
Eine »linoshaft Mÿthische[]« Gestalt: Die Anfänge der literarischen Trakl-Beschwörung
Zum Trakl-Bild der NS-Zeit
Celan und Trakl
Heidegger, der Ort von Trakls Gedicht und die Folgen
Zwischen Adoration und Aversion: Trakl als literarisches Vermächtnis im Nachkrieg
Fühmanns »Erfahrung mit Georg Trakls Gedicht«
Thomas Kling: Trakl mit Trakl lesen
Zur Übersetzung und Verbreitung von Trakls Werk über den deutschsprachigen Raum hinaus
Trakl im 21. Jahrhundert
Marcel Beyer: Die Geschichte als Verschreiben von Trakl
Lutz Seiler: Trakl als Stifter einer morbiden Sozietät
Literatur
104 Zu den Vertonungen von Georg Trakls Lyrik
Trakls Musikalität
Trakl-Vertonungen
Webern
Hindemith und Adorno
Nach den Liedern
Trakls Fortleben im musikalischen Underground
Literatur
105 Entwicklung, Wege und Perspektiven der Trakl-Forschung
Textgeschichte. Erste Deutungsansätze
Bisherige Forschungsansätze
Forschungsperspektiven
Literatur
Anhang
Personenregister
Sachregister
Register der Werke Trakls

Citation preview

Philipp Theisohn (Hg.)

Trakl Handbuch Leben — Werk — Wirkung

Trakl-Handbuch

Philipp Theisohn (Hrsg.)

Trakl-Handbuch Leben – Werk – Wirkung

Hrsg. Philipp Theisohn Deutsches Seminar, Universität Zürich Zürich, Schweiz

ISBN 978-3-662-67322-5 ISBN 978-3-662-67323-2  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Einbandgestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart (Foto: Georg Trakl im Mai 1914; Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Nachlass Ludwig von Ficker, Signatur 41/99.68) Planung/Lektorat: Oliver Schütze J.B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

Vorwort

Das Unbestreitbare vorab: Unmöglich bleibt es, Trakls lyrikgeschichtliche Bedeutung zu überschätzen. Die deutschsprachige Literatur kennt keinen zweiten Autor, der mit einem vergleichbar schmalen Œuvre – dessen publizierte Oberfläche lange Zeit aus zwei Gedichtbänden und einem nicht allzu üppigen Nachlass bestand – sich so tief ins kulturelle Bewusstsein der Moderne und ihrer Erbzeit eingegraben hat. Geboren in eine Habsburgermonarchie, die bereits am Verdämmern war und in deren endgültigen Untergang sich der Sanitätsleutnant im Krakauer Militärhospital dann selbst hineinstürzte, stand Trakl mit seiner Dichtung stets (und bisweilen gar allegorisch) für die stillen Geheimnisse des Säkulums. Ein Wirklichkeitszertrümmerer wie der ihn umflankende Expressionismus war er nie. Viel eher zeugt sein Werk von der Kunst der Fügung: Vers um Vers erkundet es die Bedingungen, unter denen sich eine zersplitterte Welt wieder neu versammeln ließe. Eine Expedition mit hohen Folgekosten: »Der Wahrheit nachsinnen – / Viel Schmerz!« (ITA IV.2, 288) Jener Schmerz, der Trakls Gedichte durchwaltet, hat bis in unsere Gegenwart hinab die unterschiedlichsten Ausdeutungen erfahren. Er verantwortet sowohl Trakls Erhöhung zum Propheten eines katastrophischen Jahrhunderts wie auch seine – nicht zuletzt durch die sogenannte ›Trakl-Kirche‹ betriebene – Stilisierung zum christlichen Existenzialisten Kierkegaardscher Prägung. Vor allem aber verband und verbindet sich mit jenem schmerzvollen Nachsinnen ein Sprachgeschehen: Die Kluft zwischen Wort und Wirklichkeit, die die Moderne von Grund auf strukturiert, lässt sich in Trakls Lyrik zwar vernähen, aber nicht mehr heilen. Immer laufen seine Verse über Wunden, bilden eine Narbenspur, an der sich ablesen lässt, was allenfalls noch sagbar ist: Eine Welt, die so von einer Stimme durchdrungen wurde, dass sie gänzlich zum Orakel verkommen ist; eine Stimme, die so sehr in der Welt aufgegangen ist, dass sie keine Trägerschaft mehr besitzt, sich nur noch in den Vorstellungsinhalten ihres Gesangs wiederfindet. Obschon diese Dichtung mit wenigen Ausnahmen nahezu ichlos bleibt, objektverfallen scheint, so artikuliert sich in ihr dennoch gerade das Bewusst-

V

VI

sein der unhintergehbaren, ja, unübersetzbaren Sprache des Einzelnen; eine Sprache, die noch so konkret, noch so ›wörtlich‹ scheinen mag, in der man sich, von ferne kommend, jedoch immer nur deutend verlieren kann. Wer Trakl liest, den zwingt er in die ›eindeutige Mehrdeutigkeit‹, wie das Heidegger, einer seiner bedeutendsten Exegeten nicht nur formuliert, sondern auch selbst erfahren hat (Heidegger 2018, 71). Schnee, ein Brunnen, eine Magd, Mauern, der Abend fällt – es mag alles noch so profan wirken, am Ende ist es Bekenntnis. Bekenntnis: zweifellos, und doch auch zugleich so verschlossen, dass es sich weder einnehmen noch abnehmen lässt, unerlöst bleiben muss. Durch jenen singulären, nur auf der schmalen Schwelle dieses Werks und Lebens aushaltbaren Widerspruch der in sich verstummenden Aussprache konnte Trakl zum Dichter des Übergangs, zur Stimme des Ungewissen werden, als die er bis heute fortklingt. Immer – bis hinab zu Webern und Adorno – war er deswegen auch ein Autor der Adoleszenten, deren Lektüre freilich nicht selten von der Ikone des poète maudit überschattet wurde. Natürlich ist Trakls Wirkungsgeschichte nicht von jener Spur der Verderbnis zu trennen, die sich bereits zu Lebzeiten mit seiner Person verbindet, wie man das etwa bereits bei Karl Röck im Oktober 1913 nachlesen kann (ITA VI, 272). Röck, der in Trakl den »Vergifter, Apotheker der Menschheit« erkennt, eine Figur, mit der er »zu Ende« sein möchte – »scheußlicher Giftrausch zu dem er mich verführt hat« –, beschreibt ungeahnt prototypisch ein rezeptionsästhetisches Sediment des Trakl-Komplexes, wenn er Trakl als »nicht genial sondern musisch und Dämon« kategorisiert (ebd.). Eine Prädikation, die Röck in seinem Tagebuch näher ausführt: »Ich schrieb […] von Trakl als von dem seherischen, karyatidisch regungslos weilenden Dämon der Stadt Salzburg; so sehr erschien er mir die Inkarnation ihrer Überwesenheit oder Überperson, doch ihrer verfallenden, halbverschollenen, ihres in Verfall und Sterben nur noch überlegenden, geisternden Barockgeistes« (Röck 1976, I, 236). Dass Trakls Werk nicht als genialischinspirierte, sondern vielmehr als selbst daimonische, nicht als überzeitliche, sondern als überlebte Dichtung verstanden werden muss, blieb von dorther immer eine Leitvorstellung der Lektüre, die sich auch nicht durch die sozialhistorische Kanonisierung von »Grodek« und der Stilisierung Trakls zum Opfer seiner Umstände wegpädagogisieren ließ. Das vorliegende Handbuch nimmt diese Rezeptionsspur durchaus auf, macht sie sich jedoch nicht zu eigen, sondern vielmehr selbst zum Gegenstand. In ihrer Vielstimmigkeit reflektieren die in ihm versammelten Beiträge sowohl die Trakls Autorschaft und Werk begleitenden Diskurse als auch die konkreten poetischen Figurationen und Refigurationen, als die wir seine Gedichte erkennen. Vieles, längst nicht alles kommt dabei zur Sprache. Als eine Konstante der Auseinandersetzung mit Trakl erweist sich gleichwohl der seinem Gedicht eigene Ton, der zugleich die Anverwandlung dessen, was vor ihm liegt – Hölderlin und Novalis, Lenau, Baudelaire und der französische Symbolismus –, nicht verleugnen will. Nicht nur innerhalb der europäischen Avantgarden, sondern im Horizont der neuzeitlichen Lyrik überhaupt bleibt Trakl ein Solitär, ein im Wortsinne ›epochaler‹ Dichter, mit dessen Erscheinen die Gesetze poetischen Sprechens andere geworden sind.

Vorwort

Vorwort

VII

Ihre Sonderstellung verdankt Trakls Dichtung dabei auch fraglos der mit ihr verbundenen Schreibpraxis, die durch die von Walther Killy und Hans Szklenar 1969 herausgegebene historisch-kritische Edition erstmals sichtbar geworden ist und im Moment ihrer Enthüllung mitunter für hermeneutische Bestürzung (den sog. »Killy-Schock«) gesorgt hat. Die Unerkennbarkeit einer poetischen Teleologie, das scheinbar richtungslose, oftmals auch aporetische und doch zwingende Austauschen von Worten und Versen, das Gewirr an Querverbindungen, das sich nicht nur zwischen vermeintlichen ›Fassungen‹ und ›Textstufen‹, sondern durch Trakls Gesamtwerk entspinnt, hat dieses zu einem wunderbar produktiven Kampfplatz der Textphilologie werden lassen. Die Frage, wie sich diese Gedichte sinnvoll anordnen lassen und ob die Textgenese solch ein Unterfangen nicht von vornherein verunmöglicht, begleitet freilich nicht nur die miteinander konkurrierenden Werkeditionen, sondern auch dieses Handbuch unentwegt. Kann man ein Trakl-Gedicht überhaupt lesen, ohne in Querverweisen unterzugehen und zu realisieren, dass all diese Texte tatsächlich »nur aus einem einzigen Gedicht« (Heidegger 2018, 33) stammen? Müssen sich die Topoi dieses Gedichts nicht zwangsläufig Beitrag für Beitrag wiederholen, die Wege zwischen ihnen immer wieder von Neuem ausgeschritten werden? Tatsächlich versuchen die Beiträge des vorliegenden Bandes die Balance zu halten zwischen einer detailorientierten und einer ›vernetzten‹ Lektüre. Sie bahnen ihren Lesern somit immer auch den Weg ins Gesamtwerk – es ist nicht anders möglich. Zugleich jedoch nehmen sie Rücksicht auf das Besondere, klären die Binnenstruktur der Texte auch mit Blick auf ihre Genealogie und ermöglichen somit auch das gezielte Arbeiten mit dem isolierten Textgeflecht. Als äußerst diffizil erwies sich dabei die Frage nach Textbasis und Gliederung des Handbuchs, die nur im Licht der Editionslage entschieden werden konnte. Zu Beginn des Projekts – im Sommer 2020 – existierten mit der oben erwähnten Salzburger Ausgabe Killys/Szklenars (HKA) und der textgenetisch präzisen, von Eberhard Sauermann und Hermann Zwerschina herausgegebenen Innsbrucker Trakl-Ausgabe (ITA) gleich zwei historischkritische Editionen; jedoch waren beide nurmehr antiquarisch greifbar. Zum Abschluss des Handbuchs – zweieinhalb Jahre später – hat sich die Situation nun glücklicherweise deutlich entspannt: Zum einen sind die Dichtungen und Briefe (DuB) nun wieder in einer um die »Sammlung Buhlig« und einige Nachträge (nicht zuletzt das »Hölderlin«-Gedicht) ergänzten, von Hans Weichselbaum edierten Leseausgabe wieder greifbar; zum anderen aber lässt sich die ITA mittlerweile auch online (unter dem Link https://resolver.obvsg.at/urn:nbn:at:at-ubi:2-21952) einsehen, was insbesondere die Nachverfolgung der Textgenese deutlich vereinfacht. Vor diesem Hintergrund hat sich die Herausgeberschaft zu einer moderiert ›liberalen‹ Zitationspolitik durchgerungen: Zitiert werden durfte, so es der Sachverhalt zuließ und etwa falsche Datierungen und/oder Schreibweisen dem nicht entgegenstanden, aus allen verfügbaren Ausgaben. (Dem Verhältnis zwischen den Editionen ist unterdessen ein eigener Beitrag gewidmet.) In der Gliederung des »Werk«-Teils folgt das Handbuch jedoch – der Übersicht und Benutzbarkeit halber – weitgehend der am Publikationsstand orientierten Ein-

VIII

Vorwort

teilung der HKA, ohne zu verkennen, dass die untergründigen Gänge zwischen den Texten die Chronologie ihrer Publikation konsequent unterlaufen. Es versteht sich von selbst, dass im Angesicht der Werkkonstitution Tiefe vor Vollständigkeit gehen und die Auswahl der Einzelinterpretationen stets mit Blick auf das Exemplarische erfolgen musste. Zweifellos wird man Beiträge zu dem einen oder anderen Gedicht vermissen können. Indessen wirft solch ein Handbuch ohnehin immer mehr Fragen auf, als es beantworten kann – anregen soll es. Wie es seinem Gegenstand entspricht, bleibt es letztgültige Auskunft schuldig. Es ist nur Wegweiser auf einer langen, herbstlichen Reise: dem gemeinsamen Nachdenken über Trakl, mit Trakl. Der besondere Dank des Herausgebers für logistische Unterstützung und die Bereitstellung von Dokumenten und Abbildungsmaterial gilt Hans Weichselbaum, dem Leiter der Salzburger Georg Trakl Forschungs- und Gedenkstätte, sowie Markus Ender, Tanja Hofer, Ulrike Tanzer und Anton Unterkircher vom Brenner-Archiv der Universität Innsbruck. Für redaktionelle Unterstützung sei an dieser Stelle Nina Thomas, Luana Sarbacher und Annika Stocker gedankt. Philipp Theisohn

Literatur Heidegger, Martin: Unterwegs zur Sprache. Frankfurt a. M. 22018 (Gesamtausgabe I.12). Röck, Karl: Tagebuch 1891-1946. Hg. von Christine Kofler. Drei Bände. Salzburg 1976.

Inhaltsverzeichnis

Teil I  Leben 1

Zur Biographie Georg Trakls. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Hans Weichselbaum

Teil II  Kontexte 2

Trakls Land. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Paul Keckeis

3

Trakls Netzwerke. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Markus Ender

4

Trakls Pharmazie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Barry Murnane

5

Trakl als Leser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Mario Zanucchi

6

Trakls lyrische Einflüsse und Intertexte . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Achim Geisenhanslüke

7

Trakl und der Expressionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Peter Sprengel

8

Trakls Religion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Ulrike Tanzer

9

Trakls Unverständlichkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Robert Matthias Erdbeer

Teil III  Werk: Produktion, Publikation, Überlieferung 10

Zur Überlieferung, Konstitution und Edition des Werks. . . . 117 Anton Unterkircher

11

Trakls Produktions- und Publikationspraxis . . . . . . . . . . . . . 127 Anton Unterkircher IX

X

Inhaltsverzeichnis

Teil IV  Werk: Frühe Prosaarbeiten 12

»Traumland. Eine Episode« (1906) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Claas Morgenroth

13

»Aus goldenem Kelch. Barrabas« (1906). . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Christian Metz

14

»Aus goldenem Kelch. Maria Magdalena« (1906) . . . . . . . . . 145 Kira Kaufmann

15

»Verlassenheit« (1906). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Kira Kaufmann

Teil V  Werk: Dramatisches I – Zu Trakls dramatischem Konzept 16

Trakls Versuche im Drama. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Bernhard Greiner

Teil VI Werk: Dramatisches II – Überlieferte dramatische Arbeiten 17

»Don Juans Tod« (1908). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Clemens Özelt

18

»Blaubart« (1910). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Clemens Özelt

Teil VII  Werk: Lyrische Dichtungen I – Werkästhetik 19

Zur Werkästhetik von Trakls Lyrik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Elisabetta Mengaldo

Teil VIII  Werk: Lyrische Dichtungen II – Gedichte (1913) 20

Zum Aufbau der Sammlung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Erik Schilling

21

»Die Raben« (1909/10). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Mario Zanucchi

22

»Musik im Mirabell« (1909/12). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Frieder von Ammon

23

»Die schöne Stadt« (1911/13). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Philipp Theisohn

24

»An den Knaben Elis« (1913). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Gabriela Wacker

25

»Der Gewitterabend« (1910). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Daniel Carranza

26

»Traum des Bösen« (1911/12). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Philipp Theisohn

27

»Geistliches Lied« (1911/12). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

Inhaltsverzeichnis

XI

Sabine Gruber 28

»Die Bauern« (1911). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Philipp Theisohn

29

»Verklärter Herbst« (1912). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Philipp Theisohn

30

»Im Winter« (I) (1910). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Claas Morgenroth

31

»Kleines Konzert« (1912). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Mario Zanucchi

32

»Menschheit« (1912) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Mario Zanucchi

33

»De profundis« (II) (1912). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Ulrich Kittstein

34

»Vorstadt im Föhn« (1911/12). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Björn Hayer

35

»Die Ratten« (1910). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Sébastien Fanzun

36

»In den Nachmittag geflüstert« (1912). . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Erik Schilling

37

»Psalm« (I) (1912) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Ulrich Kittstein

38

»Verfall« (II) (1909/12). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Frieder von Ammon

39

»Abendlied« (1913). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Elisabetta Mengaldo

40

»Drei Blicke in einen Opal« (1912). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Erik Schilling

41

»Helian« (1913). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Gabriela Wacker

Teil IX Werk: Lyrische Dichtungen III – Sebastian im Traum (1915) 42

Zum Aufbau des Zyklus Sebastian im Traum . . . . . . . . . . . . . 281 Marlen Mairhofer

43

»Kindheit« (II) (1913) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Paul Keckeis

44

»Stundenlied« (1913). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Björn Hayer

45

»Sebastian im Traum« (1913). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Salomé Meier

XII

Inhaltsverzeichnis

46

»Kaspar Hauser Lied« (1913). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Felix Christen

47

»Verwandlung des Bösen« (1913). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Georg Braungart und Tabea Junker

48

»Ein Winterabend« (1913). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Paul Keckeis

49

»Die Verfluchten« (1912/13). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Daniel Carranza

50

»Entlang« (1913). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Philipp Theisohn

51

»Der Herbst des Einsamen« (1913) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Salomé Meier

52

»Ruh und Schweigen« (1913) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Stephan Jaeger

53

»Untergang« (1913). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Philipp Theisohn

54

»In Venedig« (1914). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 Philipp Theisohn

55

»Vorhölle« (1914). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Madeline Gellhaus und Georg Braungart

56

»Gesang einer gefangenen Amsel« (1914) . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Christian Metz

57

»Abendland« (II) (1914) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Uta Degner

58

»Traum und Umnachtung« (1914). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Shantala Hummler

Teil X Werk: Lyrische Dichtungen IV – Veröffentlichungen im »Brenner« (1914/15) 59

Trakl und der »Brenner«. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Anton Unterkircher

60

»In Hellbrunn« (1914). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 Werner Michler

61

»Der Schlaf« (1914) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 Sebastian Klinger

62

»Das Herz« (1914) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 Clemens Özelt

63

»Das Gewitter« (1914). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 Ulrich Kittstein

Inhaltsverzeichnis

XIII

64

»Die Schwermut« (1914). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 Georg Braungart

65

»Klage« (II) (1914). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 Uta Degner

66

»Grodek« (1914). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 Uta Degner

67

»Offenbarung und Untergang« (1914). . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 Moritz Strohschneider

Teil XI Werk: Lyrische Dichtungen V – Gedichte aus dem Nachlass: Die »Sammlung 1909« 68

Zur »Sammlung 1909«. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 Mario Zanucchi

69

»Drei Träume« (1909) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 Philipp Theisohn

70

»Das Grauen« (1909). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 Mario Zanucchi

71

»Confiteor« (1909). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 Ursina Sommer

72

»Blutschuld« (1906). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 Shantala Hummler

73

»Der Heilige« (1906). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 Björn Hayer

74

»Einer Vorübergehenden« (1909). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439 Mario Zanucchi

Teil XII Werk: Lyrische Dichtungen VI – Gedichte aus dem Nachlass: 1909–1914 75

»Der Schatten« (1910). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 Shantala Hummler

76

»Hölderlin« (1911). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 Frieder von Ammon

77

»An Novalis« (1913). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 Gabriela Wacker

78

»Melancholie« (I) / »Leise« / »Melancholia« (1912). . . . . . . . 457 Felix Christen und Erik Schilling

79

»An Luzifer« (1914). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 Stephan Jaeger

XIV

Inhaltsverzeichnis

Teil XIII Werk: Lyrische Dichtungen VII – Die »Sammlung Buhlig« 80

Zur »Sammlung Richard Buhlig« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471 Hans Weichselbaum

Teil XIV  Werk: Das Briefwerk 81

Trakls Korrespondenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477 Markus Ender

Teil XV  Journalismus 82

Trakls journalistische Texte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489 Harald Gschwandtner

Teil XVI  Werkdiskurse und Bildfelder 83 Farben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497 Elisabetta Mengaldo 84

Himmel und Sterne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503 Sophie-C. Hartisch

85 Körper. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511 Marlen Mairhofer 86 Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517 Thomas Traupmann 87 Landschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525 Paul Keckeis 88 Melancholie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531 Felix Christen 89 Musik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537 Rüdiger Görner 90 Mutter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543 Kira Kaufmann 91 Okkultismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 549 Gunther Kleefeld 92

Pathos, Pathologie und Pathologisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . 555 Arno Dusini

93 Rausch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 561 Gabriela Wacker 94 Schwester . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 567 Ulrike Tanzer 95 Seele. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 573 Mathias Mayer

Inhaltsverzeichnis

XV

96 Tiere. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 579 Vera Thomann 97

Tod und Sterben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 585 Philipp Theisohn

98 Traum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 591 Manfred Engel 99 Wahnsinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 597 Erik Schilling 100 Wald. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 601 Philipp Theisohn 101 Wasser. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 607 Laura Cheie 102 Zeit/Zeiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 613 Hans Esselborn Teil XVII  Rezeption 103 Zur literarischen und philosophischen Auseinandersetzung mit Trakl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 623 Philipp Theisohn 104 Zu den Vertonungen von Georg Trakls Lyrik. . . . . . . . . . . . . 651 Eckhart Nickel und Philipp Theisohn 105 Entwicklung, Wege und Perspektiven der Trakl-Forschung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 661 Rüdiger Görner Anhang. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 673 Personenregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 677 Sachregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 683 Register der Werke Trakls. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 703

Autorenverzeichnis

Frieder von Ammon, Prof. Dr., Ludwig-Maximilians-Universität München (22 Musik im Mirabell; 38 Verfall; 76 Hölderlin) Georg Braungart, Prof. Dr., Eberhard Karls Universität Tübingen (47 Verwandlung des Bösen; 55 Vorhölle; 64 Die Schwermut) Daniel Carranza, Prof. Dr., Harvard University (25 Der Gewitterabend; 49 Die Verfluchten) Laura Cheie, Dr.,  Universität des Westens Timișoara (101 Wasser) Felix Christen, PD Dr.,  Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg (46 Kaspar Hauser Lied; 78 Melancholie (I)/Leise/Melancholia; 88 Melancholie) Uta Degner, Assoz.-Prof. Dr.,  Paris Lodron Universität Salzburg (57 Abendland (II); 65 Klage (II); 66 Grodek) Arno Dusini, Prof. Dr., Universität Wien (92 Pathos, Pathologie und Pathologisierung) Markus Ender, Dr., Forschungsinstitut Brenner-Archiv Innsbruck (3 Trakls Netzwerke; 81 Trakls Korrespondenz) Manfred Engel, Prof. Dr., Universität des Saarlandes Saarbrücken (98 Traum) Robert Matthias Erdbeer, Prof. Dr.,  Universität Münster (9 Trakls Unverständlichkeit) Hans Esselborn, Prof. Dr.,  Universität zu Köln (102 Zeit/Zeiten) Sébastien Fanzun, Dr.,  Universität Zürich (35 Die Ratten) Achim Geisenhanslüke, Prof. Dr.,  Goethe-Universität Frankfurt a. M. (6 Trakls lyrische Einflüsse und Intertexte) Madeline Gellhaus, M.A., Eberhard Karls Universität Tübingen (55 Vorhölle)

XVII

XVIII

Rüdiger Görner, Prof. Dr.,  Queen Mary University of London (89 Musik; 105 Entwicklung, Wege und Perspektiven der Trakl-Forschung) Bernhard Greiner, Prof. Dr., Eberhard Karls Universität Tübingen (16 Trakls Versuche im Drama) Sabine Gruber, Dr.,  Eberhard Karls Universität Tübingen (27 Geistliches Lied) Harald Gschwandtner, Dr.,  Salzburg (82 Trakls journalistische Texte) Sophie-C. Hartisch, M.A.,  Universität zu Köln (84 Himmel und Sterne) Björn Hayer, PD Dr.,  RPTU Landau (34 Vorstadt im Föhn; 44 Stundenlied; 73 Der Heilige) Shantala Hummler, M.A., Universität Zürich (58 Traum und Umnachtung; 72 Blutschuld; 75 Der Schatten) Stephan Jaeger, Prof. Dr.,  University of Manitoba (52 Ruh und Schweigen; 79 An Luzifer) Tabea Junker, M.A.,  Eberhard Karls Universität Tübingen (47 Verwandlung des Bösen) Kira Kaufmann, Dr., Universität Wien (14 Aus goldenem Kelch. Maria Magdalena; 15 Verlassenheit; 90 Mutter) Paul Keckeis, Dr.,  Alpen-Adria-Universität Klagenfurt (2 Trakls Land; 48 Ein Winterabend; 87 Landschaft) Ulrich Kittstein, Prof. Dr.,  Universität Mannheim (33 De profundis (II); 37 Psalm (I)) Günther Kleefeld, Dr.,  Freiburg i.B. (91 Okkultismus) Sebastian Klinger, Dr.,  Universität Wien (61 Der Schlaf) Marlen Mairhofer, Dr.,  Salzburg (42 Zum Aufbau des Zyklus Sebastian im Traum; 85 Körper) Mathias Mayer, Prof. Dr.,  Universität Augsburg (95 Seele) Salomé Meier, M.A.,  Universität Zürich (45 Sebastian im Traum; 51 Der Herbst des Einsamen) Elisabetta Mengaldo, Dr., Universität Padua (19 Zur Werkästhetik von Trakls Lyrik; 39 Abendlied; 83 Farben) Christian Metz, Prof. Dr.,  RWTH Aachen (13 Aus goldenem Kelch. Barrabas; 56 Gesang einer gefangenen Amsel) Werner Michler, Prof. Dr.,  Paris Lodron Universität Salzburg (60 In Hellbrunn) Claas Morgenroth, PD Dr.,  TU Dortmund (12 Traumland; 30 Im Winter (I))

Autorenverzeichnis

Autorenverzeichnis

XIX

Barry Murnane, Prof. Dr.,  University of Oxford (4 Trakls Pharmazie) Eckhart Nickel, Dr.,  Frankfurt a. M. (104 Zu den Vertonungen von Georg Trakls Lyrik) Clemens Özelt, Dr.,  Universität Zürich (17 Don Juans Tod; 18 Blaubart; 62 Das Herz) Erik Schilling, PD Dr., Ludwig-Maximilians-Universität München (20 Zum Aufbau der Sammlung »Gedichte«; 36 In den Nachmittag geflüstert; 78 Melancholie (I)/Leise/Melancholia; 99 Wahnsinn) Ursina Sommer, M.A.,  Universität Zürich (71 Confiteor) Peter Sprengel, Prof. Dr., Freie Universität Berlin (7 Trakl und der Expressionismus) Moritz Strohschneider, Dr., Ludwig-Maximilians-Universität München (67 Offenbarung und Untergang) Ulrike Tanzer, Prof. Dr.,  Universität Innsbruck, Forschungsinstitut Brenner-Archiv Innsbruck (8 Trakls Religion; 94 Schwester) Philipp Theisohn, Prof. Dr.,  Universität Zürich (Vorwort; 23 Die schöne Stadt; 26 Traum des Bösen; 28 Die Bauern; 29 Verklärter Herbst; 50 Entlang; 53 Untergang; 54 In Venedig; 69 Drei Träume; 97 Tod und Sterben; 100 Wald; 103 Zur literarischen und philosophischen Auseinandersetzung mit Trakl; 104 Zu den Vertonungen von Georg Trakls Lyrik) Vera Thomann, Dr.,  Universität Wien (96 Tiere) Thomas Traupmann, M.A.,  Paris Lodron Universität Salzburg (86 Krieg) Anton Unterkircher, Dr., Forschungsinstitut Brenner-Archiv Innsbruck (10 Zur Überlieferung, Konstitution und Edition des Werks; 11 Trakls Produktions- und Publikationspraxis; 59 Trakl und der »Brenner«) Gabriela Wacker, Dr., Eberhard Karls Universität Tübingen (24 An den Knaben Elis; 41 Helian; 77 An Novalis; 93 Rausch) Hans Weichselbaum, Dr., Georg Trakl Forschungs- und Gedenkstätte Salzburg (1 Zur Biographie Georg Trakls; 80 Zur »Sammlung Buhlig«) Mario Zanucchi, Prof. Dr., Albert-Ludwigs-Universität Freiburg (5 Trakl als Leser; 21 Die Raben; 31 Kleines Konzert; 32 Menschheit; 68 Die »Sammlung 1909«; 70 Das Grauen; 74 Einer Vorübergehenden)

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1.1

Abb. 1.2

Abb. 1.3

Abb. 1.4 Abb. 1.5 Abb. 1.6 Abb. 1.7

Abb. 1.8

Abb. 1.9

Abb. 33.1

Trakl als Kind 1889; Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Nachlass Ludwig von Ficker. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Georg Trakl (dritter von rechts) und seine fünf Geschwister (ohne den Halbbruder Wilhelm); Georg Trakl Forschungs- und Gedenkstätte Salzburg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Georg Trakl 1908; Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Nachlass Ludwig von Ficker. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Brustbild 1910; Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Nachlass Ludwig von Ficker. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Trakl in Uniform 1912; Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Nachlass Ludwig von Ficker. . . . . . . . 18 Selbstporträt 1913; Georg Trakl Forschungs- und Gedenkstätte Salzburg. . . . . . . . . . . . 23 Brustbild aus dem Mai 1914; Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Nachlass Ludwig von Ficker. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Abschlägiger Bescheid des Niederländischen Kolonialamts vom 18.6.1914; Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Nachlass Ludwig von Ficker. . . . . . . . 26 Todesanzeige des K.u.K. Garnisonsspitals Nr. 15 in Krakau vom 4.11.1914; Georg Trakl Forschungs- und Gedenkstätte Salzburg. . . . . . . . . . . . 30 Manuskript von »De profundis (II)«, Textstufe 2 H; Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Nachlass Ludwig von Ficker. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244

XXI

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Abb. 42.1

Kurt Wolff an Trakl, 6.4.1914; Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Nachlass Ludwig von Ficker. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 Abb. 48.1 Brief Trakls an Karl Kraus vom 21./22.12.1913 mit der Überarbeitung von »Ein Winterabend«. Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Nachlass Ludwig von Ficker. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 Abb. 50.1 Erste Niederschrift von »Entlang« auf einer Postkarte des Verlags »Die Fackel«; Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Nachlass Ludwig von Ficker. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 Abb. 53.1 Satzvorlage von »Untergang« für den Abdruck im Brenner, Februar 1913; Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Nachlass Ludwig von Ficker. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 Abb. 54.1 Trakl im Badeanzug am Lido, August 1913; Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Nachlass Ludwig von Ficker. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 Abb. 57.1 Telegramm von Else Lasker-Schüler an Trakl vom 20. Juli 1914; Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Nachlass Ludwig von Ficker. . . . . . . . 354 Abb. 65.1 Trakls »Testamentsbrief« beiliegende Niederschrift von »Klage« (II); Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Nachlass Ludwig von Ficker. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396 Abb. 66.1 Trakls »Testamentsbrief« mit der einzigen überlieferten Fassung von »Grodek«. Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Nachlass Ludwig von Ficker. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400 Abb. 76.1 Autograph von »Hölderlin« in Trakls Hölderlin-Ausgabe; Georg Trakl Forschungs- und Gedenkstätte Salzburg. . . . . . . . . . . . 450 Abb. 78.1 Abschrift von »Melancholia« aus dem Juni/Juli 1913; Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Nachlass Ludwig von Ficker. . . . . . . . 462 Abb. 81.1 Trakls »Verzweiflungsbrief« an Ludwig von Ficker, Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Nachlass Ludwig von Ficker. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482 Abb. 86.1 Trakl in Uniform 1912; Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Nachlass Ludwig von Ficker. . . . . . . . 518 Abb. 92.1 Trakl, Frontalaufnahme 1909 oder 1910, oval; Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Nachlass Ludwig von Ficker. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 557 Abb. 94.1 Margarethe Jeanne (Grete) Trakl 1916; Georg Trakl Forschungs- und Gedenkstätte Salzburg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 570 Abb. 103.1 Trakl, Kniestück en face, Mai 1914; Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Nachlass Ludwig von Ficker. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 641

Abbildungsverzeichnis

Teil I

Leben

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Zur Biographie Georg Trakls Hans Weichselbaum

Herkunft und Aufstieg der Familie Georg Trakl war ein Kind des habsburgischen Österreich-Ungarn. Die Mutter hatte tschechische Wurzeln, der Vater stammte aus einer deutschsprachigen Kaufmannsfamilie in Ödenburg, heute Sopron. Der wirtschaftliche Aufstieg des Raumes im Süden von Wien führte beide in Wiener Neustadt zusammen. Die väterlichen Vorfahren kamen aus dem Dorf Harkau. Ein Spross heiratete in eine protestantische Ödenburger Bürgerfamilie ein, aus der Georg, der Großvater des Dichters, stammte. Von den dreizehn Kindern der Familie soll Tobias, der Vater des Dichters, das jüngste gewesen sein. Er wurde am 11.6.1837 in Ödenburg geboren und am nächsten Tag protestantisch getauft. Die Ausbildung zum Kaufmann begann er in seiner Heimatstadt und setzte sie in Wiener Neustadt fort. Mit 31 Jahren heiratete er dort 1868 Valentine Götz. Zwei Monate später gebar sie einen Sohn Wilhelm Maximilian, den späteren Halbbruder des Dichters. Die Mutter Wilhelms starb aber schon 1870 mit 29 Jahren bei der Geburt eines zweiten Kindes. Tobias Trakl

H. Weichselbaum (*)  Georg-Trakl-Forschungs- und Gedenkstätte, Salzburg, Österreich E-Mail: [email protected]

war damit Witwer und musste sich erneut um eine Frau umsehen. Augustin Mathias Halick, Georg Trakls Großvater mütterlicherseits, wurde 1809 in Prag geboren und katholisch getauft. Er diente zunächst in der k.u.k. Armee, entschloss sich aber mit 36 Jahren zu einem beruflichen Wechsel. Als 36-Jähriger übersiedelte er nach Wiener Neustadt, wo er 1846 die um zwölf Jahre jüngere Anna Schod heiratete. Eines der zahlreichen Kinder dieser Ehe war Maria Halik, die 1852 katholisch getauft wurde. Maria wuchs in der Geburtsstadt auf und heiratete mit 23 Jahren Maximilian Schallner, einen aus Mähren zugewanderten Müller. Dieser scheint mit Tobias Trakl näher bekannt gewesen zu sein, denn er lud ihn 1875 als Trauzeuge und »Beistand« zur Hochzeit ein. Diese Entscheidung erwies sich als folgenreich, denn die Ehe zerbrach bald und Maria Halik, geschiedene Schallner, gebar drei Jahre nach ihrer Hochzeit am 22.5.1878 einen Sohn Gustav, zu dem sich Tobias Trakl als Vater bekannte. Etwa einen Monat zuvor war die Mutter Maria von der katholischen zur evangelischen Konfession übergetreten, womit eine Eheschließung im ungarischen Transleithanien möglich werden sollte. Dort erlaubte eine liberalere Ehegesetzgebung die Wiederverheiratung einer geschiedenen Frau. Dafür verlegte das Paar vorübergehend den Wohnsitz offiziell nach Ödenburg in das Elternhaus des Mannes. Vom dreimaligen Aufgebot wurde es dispensiert und

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_1

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konnte am 22.8.1878 in der evangelischen Pfarre getraut werden. Nach der Rückkehr nach Wiener Neustadt wurde das gemeinsame Kind Gustav getauft und für ehelich erklärt; es starb aber ein gutes Jahr später. Vielleicht hatte Tobias Trakl schon länger einen Ortswechsel vor und der Tod des Kindes war möglicherweise nicht der einzige Grund, aber gewiss ein Anlass, ein solches Vorhaben jetzt zu verwirklichen: Ab dem 14.11.1879 war das Ehepaar Trakl in Salzburg polizeilich gemeldet. Neben wirtschaftlichen Überlegungen legten die besonderen Umstände der Eheschließung und der Tod des Kindes einen Ortswechsel nahe. Beides scheint ein Familiengeheimnis geblieben zu sein, denn das erste in Salzburg geborene Kind erhielt wieder den Namen Gustav, was die schmerzliche Erfahrung vermutlich vergessen lassen sollte. Dass dies ganz gelungen ist, darf bezweifelt werden, denn Wilhelm, der Halbbruder Georgs, war bei der Übersiedlung schon elf Jahre alt und hat von diesen Vorgängen sicher manches mitbekommen und seinen jüngeren Halbgeschwistern weitergegeben. In Trakls Dichtung finden sich Spuren davon, beispielsweise in der stark von autobiographischen Bildern geprägten Prosa »Traum und Umnachtung«, im »Dramenfragment« und im Gedicht »Der Spaziergang«. Die Verbindungen zur Heimat der Eltern wurden nach der Übersiedlung nicht ganz abgebrochen. Die Taufpaten und –patinnen der späteren Kinder kamen häufig aus Wiener Neustadt oder Ödenburg. Die Großmutter mütterlicherseits und die Tante Agnes Hallick [sic] kamen mit nach Salzburg. Die Trakl-Kinder waren manchmal in der Heimat der Eltern zu Besuch und schickten von dort Karten. Der 1906 veröffentlichte Prosatext »Traumland« könnte ein Echo auf einen solchen Besuch Trakls in Ödenburg sein. Das Leiden an der Vergänglichkeit war bereits in diesem frühen Text bestimmend, es hat Trakl nicht mehr losgelassen – so wie auch die von dieser Landschaft geprägte Dichtung Nikolaus Lenaus. Salzburg also. Warum? Die Stadt war ein Umschlagplatz für Eisen aus der Steiermark und aus Kärnten ins Deutsche Reich, sie war durch

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die Westbahn seit 1860 an das europäische Eisenbahnnetz angeschlossen und eine NordSüd-Verbindung nach dem Hafen Triest war angedacht. Der Eisenhändler Tobias Trakl wusste möglicherweise auch von einer günstigen Gelegenheit, an diesem Ort Fuß fassen zu können, denn bereits am 26.11.1879 schloss er mit Carl Steiner, einem bekannten Eisenhändler im Zentrum der Stadt, einen Vertrag ab. Demnach sollte er mit 1.1.1880 die Firma für zehn Jahre übernehmen, da sich Carl Steiner wegen seines schlechten Gesundheitszustandes nicht in der Lage sah, die Firma zu führen. Mit der Übernahme der Prokura durch Tobias Trakl begann der wirtschaftliche Aufstieg der Familie. Es war nicht einfach, eine geeignete Unterkunft zu finden. Die Familie wohnte unterschiedlich lang an verschiedenen Adressen. An der ersten nur kurz, an der zweiten wurde Georgs älterer Bruder, der zweite Gustav, geboren. An der dritten, am »Platzl«, kamen die älteren Schwestern Maria und Hermine zur Welt. Die vierte Wohnung, die sie 1885 bezogen, war der Geburtsort für die weiteren drei Kinder. Diese lag an zentraler Stelle der Altstadt auf der linken Salzachseite in einem Haus zwischen Waagplatz und Rudolfskai, das aus dem Mittelalter stammte. Die Wohnung lag im ersten Stock zur Salzach hin. Der Vater hatte von dort nur wenige Schritte zur Firma in der Judengasse. Der Ausblick auf den Kapuzinerberg war wegen des bunten Buchenwaldes besonders im Herbst beeindruckend. Die nahe Salzach konnte bei Hochwasser bedrohlich ansteigen, was nicht selten vorkam.

Kindheit In dieser Wohnung kam Georg Trakl am 3.2.1887 um 6.30 Uhr abends zur Welt. Fünf Tage später wurde er in der Wohnung protestantisch getauft. Als Taufpate stellte sich der k.k. Hofjuwelier Georg Beck mit seiner Gattin Anna Maria zur Verfügung. Von ihm dürfte der Neugeborene den Namen »Georg« erhalten haben; er erinnert aber auch an den Großvater väterlicherseits. Am 27.2.1890 wurde der jüngste

1  Zur Biographie Georg Trakls

Sohn Fritz geboren; auch er wurde daheim getauft. Als letztes Kind kam am 8.8.1891 Margarete Jeanne, genannt Grete oder Gretl zur Welt; sie sollte im Leben Georgs eine besondere Rolle spielen. Im Kreis dieser Geschwister hat Georg seine Kindheit verbracht. Etwas distanziert war das Verhältnis zu dem um 19 Jahre älteren Halbbruder Wilhelm, der bald wegen seiner weitläufigen Reisen interessant erscheinen mochte (Abb. 1.1). Als Spielplatz stand den Kindern zunächst nur der etwas düstere Hof des Hauses zur Verfügung, der von den Bewohnern hauptsächlich als Wirtschaftshof genützt wurde. Ein Hausmeister soll dort manchmal Ratten gejagt haben. Ein freundlicherer Aufenthaltsort war ein Garten, den der Vater in der Nähe pachtete. Dieser lag östlich zwischen alter Stadtmauer und Pfeifergasse. Der Weg dorthin führte quer

Abb. 1.1  Trakl als Kind 1889; Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Nachlass Ludwig von Ficker.

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über den Mozartplatz. Es war (und ist) ein abgeschiedener Ort, von außen kaum einsehbar. Vor Regen und Hitze schützte das ›Salettl‹, ein Gartenhäuschen, das ohne große Veränderungen bis heute erhalten geblieben ist. Die Kinder hielten sich dort häufig auf, betreut von französischen Gouvernanten. Georg hat hier viel gelesen und wahrscheinlich auch seine ersten Gedichte geschrieben. Als der Vater 1892 ein vierstöckiges Haus zwischen Waagplatz und Residenzplatz erwarb und darin ein eigenes Geschäft für Eisenwaren eröffnete, musste die Familie erneut umziehen. Als Wohnung standen nun etwa zehn Zimmer im 1. Stock zur Verfügung mit Blick auf die zentralen Plätze der Stadt – Mozartplatz und Residenzplatz. Hier konnte ein gehobener Lebensstil mit Dienstboten und Gouvernanten entfaltet werden. Sie lebten »in jener behaglichen und selbstverständlichen Aisance, die sich heute niemand mehr vorstellen kann« (Bondy 1952, 9), wie sich Trakls Bruder Fritz später in einem Interview erinnerte. Der Eingang zur Wohnung war auf der Seite des Waagplatzes, daher auch die Adresse Waagplatz 3. Die Geschäftsräume mit einer eigenen Abteilung für Küchengeräte lagen im Parterre, die Firmenadresse lautete Mozartplatz 2 u. 3. Solange der Vater lebte, war dieses Geschäft eine solide materielle Grundlage. Georg wohnte zunächst zusammen mit Fritz in einem Zimmer mit Blick auf den Mozartplatz, als Gymnasiast erhielt er daneben später ein eigenes Kabinett. Wie sich das Leben Trakls als Kind gestaltet hat, dafür gibt es nur spärliche Dokumente. Meist sind es Erinnerungen von Familienmitgliedern, die ein wenig Einblick in Verhaltensweisen des Kindes geben. Die Geschwister waren später freilich in erster Linie bestrebt, das Ansehen der Familie zu wahren und der gemeinsame Nenner lautete daher auch meist: »Georg war ein Kind wie wir anderen auch« (Bondy 1952, 9). 1952 erzählte der Bruder Fritz ein wenig von den Vorlieben Georgs: Er liebte es demnach, mit Freunden an den Turngeräten im Garten zu spielen, und sammelte gerne Briefmarken. Als junger ­ Gymnasiast

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tauschte er Ansichtskarten mit dem Chinesen Chen Lin in Amoy (heute Xiamen) und beschäftigte sich zur Verständigung mit der damals noch jungen Plansprache Volapük (Bondy 1952, 9). Ansichtskarten waren ein beliebtes Sammelobjekt. Eine besondere Anregung dürften die Karten Wilhelms aus fernen Ländern (England, USA, Mexiko) gewesen sein. Nach allen bekannten Äußerungen war der Vater als Kaufmann erfolgreich. Die beruflichen Verpflichtungen nahmen ihn stark in Anspruch, Erfolge stellten ihn zufrieden. Daneben genügten ihm »ein Tarockspiel im Café« oder »ein Glas Wein des Abends« (Spoerri 1954, 42). Für die Kinder stellte er eine anerkannte Respektsperson dar. Politisch war er kaisertreu, was durch eine Offenheit gegenüber liberal-deutschnationalen Strömungen nicht in Frage gestellt wurde. Dazu gehörte auch, dass in der Familie das Salzburger Volksblatt gelesen wurde, das in diese Richtung tendierte; die Redaktion dieses Blattes befand sich direkt gegenüber am Waagplatz, die Familien kannten sich. Die ersten Texte Trakls sind dort erschienen. Für die literarischen Ambitionen seines Sohnes dürfte der Vater aber kaum Interesse und Verständnis gehabt haben. Seine Einstellung wird am ehesten der entsprochen haben, wie sie später Fritz auf die Frage nach Georgs literarischem Schreiben geäußert hat: »Nun, wir ließen ihm seine Freude« (Bondy 1952, 9). Mit dem Tod des Vaters 1910 ist der ruhende Pol der Familie verloren gegangen. Wesentlich spannungsvoller war das Verhältnis Georgs zu seiner Mutter. Ihr Aufstiegswille einerseits und sechs Geburten in elf Jahren andrerseits dürften sie überfordert haben. Sie reagierte mit Rückzug auf ihre eigenen Interessen, insbesondere auf die Sammlung von Antiquitäten. Fritz hatte sie als »kühle, reservierte Frau« in Erinnerung, die sich »unverstanden von ihrem Mann, ihren Kindern, von der ganzen Welt« fühlte. »Ganz glücklich war sie nur, wenn sie allein mit ihren Sammlungen blieb – sie schloß sich tagelang in ihre Zimmer ein, die vollgestopft waren mit Barockmöbeln, Gläsern und Porzellan« (Bondy 1952, 9). Als ein Versuch der Entlastung kann auch ihre Flucht

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in die Betäubung gesehen werden. Georg stufte sie später im Krakauer Garnisonsspital als »Opiumesserin« und »nervenkrank« ein (HKA II, 729). Er soll sie deswegen einerseits gehasst haben, andererseits war ihm ihr Schicksal auch nicht egal, denn als 1913 die Auflösung des Geschäftes bevorstand, erschien es ihm als »leichtfertig, das Haus der Mutter zu verlassen« (DuB 541). Manches hatte er mit ihr gemein wie die Neigung zu Isolation und Depression, seine Abneigung, sich den Anforderungen des Alltags zu stellen, aber auch den Sinn für das ästhetisch Schöne. Im Werk ist sie immer mit Kälte verbunden. Aus psychoanalytischer Sicht war die gefühlskalte Art der Mutter der Hauptgrund dafür, dass Georg die »Ausbildung von Ich-Stärke und psychischer Stabilität« versagt geblieben ist (Stark 1989, 144). Wenn er in seiner Empfindlichkeit schutzbedürftig war, so suchte er solchen Schutz bei der Mutter vergeblich. Umso mehr war er bestrebt, seiner jüngsten Schwester Grete, die ihm in ihren Interessen sehr ähnlich war, Schutz zu bieten (Abb. 1.2). Die Stelle der Mutter nahm in vielerlei Hinsicht die zweisprachige Gouvernante Marie Boring ein. Sie stammte aus dem Elsass, lebte 14 Jahre lang ab 1890, mit einer kurzen Unterbrechung 1891/92, in der Trakl-Familie und kehrte dann wieder in ihre Heimat zurück. Sie war für die Erziehung der Kinder zuständig, die sie offenbar gern hatten. Auch wenn die religiöse Praxis ihrer Dienstgeber eher liberal war, scheint für die streng katholische Frau die Tätigkeit in einem protestantischen Haus nicht ohne Probleme gewesen zu sein; sie ließ sich angeblich von einem Franziskanerpater deswegen beraten (vgl. Basil 1965, 38). Ihr katholisches Weltbild schlug sich sicher auch in der Erziehung der Kinder nieder. Die katholische Szenerie in der unmittelbaren Umgebung der TraklWohnung mag auch dazu beigetragen haben. Religiöse Fragestellungen, beispielsweise Überlegungen hinsichtlich der Existenz und Beschaffenheit einer Seele, haben Georg schon früh beschäftigt. Der Lebensform eines gehobenen Bürgertums gemäß sollten die Kinder bei der Gouvernante Französisch lernen. Marie Boring war

1  Zur Biographie Georg Trakls

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Abb. 1.2  Georg Trakl (dritter von rechts) und seine fünf Geschwister (ohne den Halbbruder Wilhelm); Georg Trakl Forschungs- und Gedenkstätte Salzburg.

s­ icher darum bemüht und war Georg behilflich, wenn er an die Schwestern Maria und Hermine, die sich in einem Internat im schweizerischen Neuveville aufhielten, Karten auf Französisch schickte. Er unterschrieb mit »Georges«. Wie weit er die französische Sprache beherrschte, ist aber unklar. Französische Dichter wie Rimbaud hat er später in einer deutschen Übersetzung gelesen; in einem Brief verwendete er die Formel »mauvaise music« orthographisch unkorrekt. Doch ist das kein zuverlässiger Gradmesser für seine tatsächlichen Kenntnisse. Frau Boring hat sicher die Grundlage für sein Interesse an der französischen Literatur gelegt. Als diese Sprache in der gymnasialen Oberstufe als Freifach angeboten wurde, hat er sie allerdings nicht gewählt. Bei der militärischen Musterung (Assentierung) 1908 wurde festgehalten, dass er Deutsch und Französisch mündlich und schriftlich beherrsche. Eine musikalische Ausbildung gehörte ebenfalls zum bürgerlichen Lebensstil. Sein Bruder Fritz erinnerte sich: »Übrigens spielte er ganz gut Klavier; mit Mozart konnte Georg allerdings nie viel anfangen, aber er liebte die russische Musik« (Bondy 1952, 9). Wie gut er das

Klavierspiel beherrschte, ist nicht recht klar. Auf der Hohenburg bei Innsbruck soll er später die »Mondscheinsonate« gespielt haben. Den Klavierunterricht erteilte August Brunetti-Pisano, ein begabter Musiker, Komponist und angesehener Lehrer. Die jüngste Schwester Grete besaß eine besondere musikalische Begabung, eine Ausbildung zur Pianistin schien durchaus erfolgversprechend. Georg sah in ihr schon die große Künstlerin. Mehrere Anläufe dazu verliefen letztlich aber vergeblich. Einige Vorfälle im Leben des jungen Georg zeugen von einem eigenwilligen Verhältnis zur Realität. So ging er einmal wie geistesabwesend in einen Teich und wurde nur mit Mühe gerettet. Er selbst hatte diesen Vorfall als frühen Versuch der Selbsttötung in Erinnerung (HKA II, 729) – für einen Fünfjährigen ein höchst außergewöhnliches Verhalten. Ein andres Mal warf er sich einem herangaloppierenden Pferd in den Weg, um es zum Stehen zu bringen; Ähnliches soll er bei der Straßenbahn versucht haben. Seine Abneigung gegen heftige Bewegungen erwähnte später auch sein Freund Buschbeck: »Er will halten, was nie bleibt, aufhalten, was ewig sich wandelt. […] Als Feind erkennt er

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am Grunde überall die Bewegung. […] Indem sie vorwärts kommt, nimmt sie ihm immer wieder etwas weg« (Buschbeck 1917, 9). Er setzte dem die Sehnsucht nach Stille, Ruhe und Bilder von Kindheit, Traum und Tod entgegen. Dem entspricht auch seine Erinnerung, dass er sich von Wasser magisch angezogen fühlte und bis zu seinem 20. Lebensjahr »überhaupt nichts von seiner Umgebung bemerkt« habe »außer dem Wasser« (Erinnerung 1966, 122). Als Kind konnte er auf die manchmal bedrohlich hohe Salzach schauen, später machte er gerne lange Spaziergänge den Fluss entlang. Ab Herbst 1892 besuchte Georg die fünfjährige Übungsschule der k.k. Lehrerbildungsanstalt am Universitätsplatz. Es war eine in katholischem Geist geführte staatliche Eliteschule, ein Lehrer unterrichtete jeweils etwa 30 männliche Schüler. Protestantische Schüler hatten ihren Religionsunterricht im Pfarrhaus bei der evangelischen Christuskirche am Salzachkai bei Pfarrer Aumüller, »einem wunderbar gütigen Menschen, dem Trakl sehr anhänglich war«, wie sich Trakls Freund Buschbeck, der ebenfalls protestantisch war, erinnerte (Erinnerung 1966, 140). Bibelkenntnisse, die für Trakl eine wichtige Bildquelle waren, hat er sich wohl hauptsächlich in diesem Unterricht angeeignet. Die Gouvernante begleitete ihn dorthin, was in den Augen der Mitschüler seinen Ruf förderte, »etwas besonders ›Feines‹« (Erinnerung 1966, 140) zu sein und verstärkte bei ihm ein scheues Absonderungsbedürfnis. Das könnte allerdings auch mit seiner etwas fülligen Figur zu tun gehabt haben, deretwegen er Hänseleien ausgesetzt war. Die Noten im Fach »Turnen« waren aber durchaus positiv; später ließ er sich davon allerdings befreien. Die Leistungen in der Volksschule konnten sich sehen lassen: Im letzten Zeugnis vom 10.7.1897 sind nur die Noten 1 und 2 zu finden, wobei die 1 überwiegt. Damit konnte er an einer weiterführenden Mittelschule angemeldet werden. Es war naheliegend, das im selben Gebäude untergebrachte k.k. Staatsgymnasium zu wählen. Nach der Aufnahmsprüfung fand er sich in der ersten Klasse mit 65 Anfängern wieder. Seine Mitschüler kamen meist aus dem Bürger-

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tum von Stadt und Land Salzburg, einzelne auch aus anderen Kronländern. Das Ziel, die Matura, war begehrt, denn sie berechtigte zum Studium an der Universität und zur Absolvierung des Einjährig-Freiwilligen-Jahres in der k.u.k. Armee anstatt des sonst üblichen dreijährigen Militärdienstes. Der Schulweg änderte sich für Trakl nicht, nur fünf Minuten von zu Hause im Zentrum der Altstadt vom Residenzlatz zum Universitätsplatz, vorbei an mehreren Buchhandlungen, Cafés und Konditoreien. Schwerpunkt im Unterricht waren die klassischen Sprachen. Es ging in der ersten Klasse gleich los mit acht Stunden Latein in der Woche, ein Fach, in dem am Jahresende nur 37 Schüler bestanden. Trakl schloss mit einem »genügend« ab. Er hatte als einziger Protestant in der Klasse eine gewisse Sonderstellung, fiel aber sonst weiter nicht auf. Heinrich Benedikt, später ein bekannter Wiener Historiker, hatte ihn als »blassen, stillen Knaben, der bescheiden und verschlossen im Hintergrund blieb«, in Erinnerung (Hanisch/Fleischer 1986, 94). Die Situation an der Schule war unruhig. Es gab mehrfachen Direktorenwechsel, auch die Ordinarien und Lehrer in den gefürchteten klassischen Sprachen wechselten. In der dritten Klasse kam das Fach Griechisch hinzu, Trakl schaffte gerade wieder ein »genügend«. Die Mythologie, der er in diesem Fach begegnete, ist nicht spurlos an ihm vorbeigegangen. Am Ende dieses Schuljahres musste er bei Pfarrer Aumüller eine Prüfung absolvieren und wurde konfirmiert.

Krisenhafte Jugend Den Anforderungen der Schule war er bald nicht mehr gewachsen. Mit drei negativen Noten im Abschlusszeugnis – in Griechisch sogar »ganz ungenügend« – musste er die vierte Klasse wiederholen. Die Erfahrung, ›sitzenbleiben‹ zu müssen, war für den 14-Jährigen nicht leicht zu verkraften. Er reagierte »auf alles, was die Schule betraf, mit völliger Gleichgültigkeit und zynischer Reserve« (Basil 1965, 42).

1  Zur Biographie Georg Trakls

In der neuen Klasse mit 47 Schülern wurde er zu einem »Wurschtikus«, wie sein Mitschüler Franz Grimm berichtete, »sein Blick war nachdenklich und grüblerisch, manchmal auch forschend und verloren. […] immer lag ein stiller, obstinater Spott in seinen Mienen« (Basil 1965, 43 f.). Den Mitschülern erschien er überlegen, was die Lehrer wenig beeindruckte. In den Problemfächern musste er weiterhin um einen positiven Abschluss kämpfen. Die Lehrer hatten es nicht leicht mit dem »schwierigen, verschlagen wirkenden Jungen, von dem es hieß, er dichte« (Basil 1965, 45). Das Vokabellernen in Latein und Griechisch kostete ihn große Überwindung. Er folgte lieber seinen bereits geweckten literarischen Interessen. »Sein Vater wunderte sich immer wieder über die hohen Rechnungen aus den Buchläden, die ihm ins Haus geschickt wurden« (Bondy 1952, 9), erinnerte sich sein Bruder Fritz. Trakl las schon früh Nietzsche und Ibsen, dann vor allem Dostojewskij, den er »sehr früh und mit vollem Einsatz zu lesen begann und bald ganz kannte« (Erinnerung 1966, 140). Der russische Autor spielte eine zentrale Rolle in den Literaturdiskussionen, von denen Erhard Buschbeck berichtete. An Dostojewskij mag Trakl das Antibürgerliche in Verbindung mit einer radikalen christlichen Religiosität und das Gefühl des Mitleids mit den Erniedrigten beeindruckt haben. In der 7. Klasse gab ein dem Naturalismus gegenüber aufgeschlossener Deutschlehrer manche Lektüre-Anregung; er scheint aber die Ausnahme im sonst konservativen Lehrerkollegium gewesen zu sein. Trakl erhielt immerhin die Note »lobenswert« (HKA II, 656). Im Schuljahr 1904/05 war seine Klasse mit 38 Schülern ungewöhnlich groß. Die schulischen Misserfolge machten ihm immer wieder zu schaffen, sodass er sich sogar mit dem Gedanken trug, sich das Leben zu nehmen. Sein Freund Buschbeck fehlte ihm, er hatte bereits 1904 nach der 5. Klasse die Schule verlassen. Am Ende des Schuljahres standen wieder, wie in der 4. Klasse, in den drei Problemfächern negative Noten im Zeugnis. Ein Aufstieg in die letzte Klasse war damit nicht möglich, er hätte die 7. Klasse wiederholen müssen. Nach

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einem kurzen Versuch dazu meldete er sich am 26.9.1905 von der Schule ab. Er hatte sich bereits entschieden, Apotheker zu werden, was damals auch ohne Matura möglich war. Voraussetzungen waren 6 Jahre Gymnasium und ein dreijähriges Praktikum in einer Apotheke. Der Vater hatte mit dieser Wahl keine Freude, er hätte ihn lieber als Beamten gesehen. Was bewog Trakl dazu, diesen Weg zu wählen? Die Experimente mit Drogen werden dabei eine wichtige Rolle gespielt haben. Schon am Ende der Unterstufe soll ein Mitschüler, Sohn eines Apothekers aus Oberndorf, ihn mit Rauschmitteln vertraut gemacht und versorgt haben. (Trakl hat später dort kurz gearbeitet.) Im Sommer 1905 berichtete er einem Freund in Wien davon, dass er »sehr viel gearbeitet« (DuB 510) habe; damit meinte er literarische Arbeiten. Aber er habe »leider wieder zum Chloroform« seine Zuflucht genommen und die Wirkung sei »furchtbar« gewesen. Er ermahnte sich selbst, sich mit solchen Mitteln nicht wieder zu beruhigen, denn er »sehe die Katastrophe zu nahe« (ebd.). Zu diesem Zeitpunkt kämpfte Trakl noch gegen die Gefahr, süchtig zu werden, unterlag aber letztlich. Anregungen aus dem literarischen Bereich mögen ihn auch für den Apothekerberuf motiviert haben: Henrik Ibsen war Apotheker. Mit Nietzsche und Baudelaire begegnete er literarischen Vorbildern, die das Rauscherleben in ihren Texten feierten oder auch selbst von Drogen Gebrauch machten. Trakls Neigung zur Selbstinszenierung kam in dieser Zeit der Konsum von Rauschdrogen ebenfalls entgegen. An die frühesten Versuche erinnerte sich sein Bruder Fritz: Georg habe seine Zigaretten mit Opiumlösung bestrichen, er war früh ein starker Raucher. Später hat er vor allem Veronal genommen, das sich weniger für eindrucksvolle Rauscherlebnisse eignet, sondern in höheren Dosen zu lang andauerndem Schlaf führt; gefährlich ist bei missbräuchlicher Verwendung die Langzeitwirkung. Ferner kam der Gebrauch von Kokain dazu, möglicherweise auch noch Curare, vor dem seine Schwester Grete nach Georgs Tod die Verwandtschaft warnte (Ficker 1986–1996, II, 71). Die Rauschdroge Alkohol wurde ihm schließlich

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zur ­Gewohnheit. Er trank mit Freunden hauptsächlich Wein, später auch Schnaps in größeren Mengen, ohne dass es nach außen erkennbare Folgen gehabt hätte. Mit der Entscheidung für den Apothekerberuf sicherte sich Trakl die Aussicht auf ein Studium und das Einjährig-Freiwilligen-Jahr in der k.u.k. Armee, was die statusbewussten Eltern beruhigt haben dürfte. Am 18.9.1905, also noch vor der offiziellen Abmeldung von der Schule, begann er mit dem Praktikum, einer Art Lehre, in der Apotheke »Zum weißen Engel« in der Linzergasse. Der Besitzer, Magister Carl Hinterhuber, war ein deutschnational orientierter Vereinsmeier, der auch dem Alkohol nicht abgeneigt war. Trakl bezeichnete er als einen »Traumulus«, einen versonnenen, dem Leben abgekehrten Menschen. Trakls Weg zur Arbeit war kurz, etwa zehn Minuten; er führte über die Judengasse und die Staatsbrücke zur Apotheke in die dunkle Linzergasse, wo er seinen Dienst von 7.30 bis 19 Uhr versah. Die Arbeitszeit war also lang, die Arbeit selbst aber nicht allzu anstrengend. »Es gab nur etwa zwei Dutzend Spezialarzneimittel, die der Apotheker kennen musste«, wird berichtet (Fischer 1959, 150). Er hatte also genügend Zeit, sich mit seinen literarischen Plänen zu beschäftigen. In dienstfreien Minuten hielt er sich am liebsten im »Stübl« auf, einem fensterlosen Nebenraum. Von ehemaligen Mitschülern fühlte er sich herablassend behandelt, was ihn kränkte. Erhard Buschbeck stand jedoch weiter freundschaftlich zu ihm. Vermutlich schon seit dem letzten Schuljahr kannte Trakl den um 14 Jahre älteren Dramatiker Gustav Streicher. Dieser stammte aus einer Lehrerfamilie im nahen Innviertel, hatte eine Abneigung gegen den Schulbetrieb, absolvierte aber doch eine Handelsakademie in Linz. Nach journalistischen Versuchen begann er Dramen im Stil der Heimatkunst zu schreiben und hatte zunächst in Linz einigen Erfolg. Als er auch in Salzburg gespielt wurde, übersiedelte er dorthin. Er verstand sich bald gut mit Trakl und wollte die literarischen Ambitionen des jungen Freundes fördern. Dafür benützte er seine Beziehungen zum Salzburger Stadttheater, des-

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sen neuen Intendanten er kannte. Durch ein gemeinsames journalistisches Auftreten sollte dieser auf Trakl aufmerksam gemacht werden. Sie schrieben zur Vorbereitung einer Aufführung von Karl Schönherrs Drama Familie jeweils eine Rezension, Streicher im einflussreicheren Salzburger Volksblatt, Trakl in der Salzburger Zeitung. Das wiederholten sie zwei Monate später Anfang März 1906 bei der Erstaufführung von Oscar Wildes Salome. Die Taktik hatte Erfolg: Im selben Jahr nahm der Theaterdirektor Trakls dramatisches Stimmungsbild Totentag ins Programm auf; am 31.3.1906 war die erste (und einzige) Aufführung. Von den vier Besprechungen in Salzburger Zeitungen waren zwei kritisch-neutral, eine abwertend-bösartig (Salzburger Chronik), eine positiv. Letztere stand im Salzburger Volksblatt, war auch nicht unkritisch, lobte aber die Sprache, in der sich »ein schönes und vielversprechendes Talent« äußere (HKA II, 514 f.). Nur aus diesen Besprechungen wissen wir etwas über den Inhalt, denn Trakl hat nach dem Misserfolg des zweiten Stückes alle Textbücher, auch die Zensurexemplare, vernichtet. Der zweite Einakter Fata Morgana wurde am 15.9.1906 gezeigt. Dieses Stück wurde durchwegs ablehnend besprochen. Der mit dem Verfasser bekannte Lehrer und Dramatiker Hans Seebach schrieb in einer Linzer Zeitung: »Georg Trakl besitzt auch nicht die leiseste Ahnung, was zu einer Bühnenszene nötig ist. […] diese Idee reicht für ein lyrisches Gedicht, aber nicht für eine dramatische Szene« (Sauermann 1991, 108). Möglicherweise hat sich Trakl diese Kritik zu Herzen genommen, denn er hat keine weiteren dramatischen Texte mehr veröffentlicht, auch wenn er sich noch an solchen versucht hat. Von den drei bekannten wurde durch mehrere Aufführungen nach 1970 am wichtigsten das 1909/10 entstandene, Fragment gebliebene Puppenspiel »Blaubart«, in dem aggressive, erotische und religiöse Elemente miteinander verknüpft sind. Buschbeck berichtet von einem nicht erhaltenen Puppenpiel »Kaspar Hauser«, dessen »verzückte, frühlingswarme Primitivität« von eigentümlichem Reiz gewesen sein soll (Buschbeck 1910b, 821).

1  Zur Biographie Georg Trakls

Diese ­historisch-legendenhafte Gestalt aus dem 19. Jahrhundert war für Trakl eine wichtige Identifikationsfigur. In den beiden aufgeführten Einaktern beschäftigte sich Trakl mit dem Thema der Geschlechterbeziehung. In Totentag erfährt ein blinder Sohn namens Peter, dass Grete, die ihn gepflegt hat, nun wegen ihrer bevorstehenden Heirat das Haus verlassen soll; ihm droht deswegen geistige Umnachtung. Warum in der Kritik der Salzburger Chronik Grete als Schwester Peters bezeichnet wird, ist unklar, aus dem Theaterzettel geht das jedenfalls nicht hervor. Möglicherweise wusste der Rezensent von Trakls Schwärmerei für seine jüngste Schwester, die jedenfalls unter Freunden kein Geheimnis war. Ein Mitschüler berichtete, dass sie für Georg in der Gymnasialzeit das »schönste Mädchen, die größte Künstlerin, das seltsamste Weib gewesen« sein soll (Spoerri 1954, 39). In der Erinnerung des Bruders Fritz war Grete »ein vergnügtes junges Mädchen, bis sie später ganz unter seinen [d. h. Georgs] Einfluß geriet. Sie las alle seine Bücher mit, und sie steckten viel zusammen« (Bondy 1952, 9). Zwischen ihnen herrschte früh ein grundlegendes Einverständnis und Vertrauen, begleitet von einer »Tendenz zur Überhöhung des anderen« (Stark 1989, 199). Sie waren sich nicht nur äußerlich ähnlich, sie entwickelten Wunschbilder voneinander: Georg der Dichter, Grete die Pianistin. Einen Erfolg brachte die Aufführung der beiden Einakter immerhin: Das Salzburger Volksblatt druckte mehrere Prosatexte Trakls. Der erste, »Traumland. Eine Episode«, erschien am 12.5.1906. In neuromantischer Manier schrieb Trakl darin über die unausgesprochene Liebe eines Jungen zu einem todkranken Mädchen. Um die Themen Askese und Sinnlichkeit kreisen der dramatische Dialog »Maria Magdalena« und der Prosatext »Barrabas. Eine Phantasie«, beide im Sommer 1906 im Salzburger Volksblatt erschienen. Der Einfluss von Otto Weiningers 1903 erschienenem Buch Geschlecht und Charakter ist sehr wahrscheinlich (vgl. Doppler 2001, 148 ff.). Trakls Versuch, sich in der Salzburger Öffentlichkeit als Dramatiker zu zeigen und

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damit auch sein schulisches Versagen wettzumachen, war also gescheitert. 1906 erschien noch ein Prosatext in neuromantischem Stil mit dem Titel »Verlassenheit«, 1907 eine Rezension zu Wilhelm Meyer-Försters Alt-Heidelberg und – als erste lyrische Publikation – das Gedicht »Aufforderung« in einer Kremser Maturazeitung. Ein ehemaliger Mitschüler dürfte der Vermittler dieses »Original-Beitrages« gewesen sein (ITA I, 104 und DuB 177). Sonst war aber diese Zeit eher eine Phase der Selbstkritik, in der er »Bescheidenheit mit sich« gelernt habe (Buschbeck 1917, 11). In der Beschäftigung mit weiteren Autoren erweiterte er seine Kenntnisse in der Lyrik und sein dichterisches Instrumentarium. Dazu zählte auch eine Leitfigur des Wiener Fin de siècle-Literatur, der poète maudit Paul Verlaine, zu dem er in Dichtung und Leben Anknüpfungspunkte finden konnte: Gefühl der Zerrissenheit, Mythos der ›reinen Kindheit‹, Alkoholrausch, Hassliebe zur Mutter, Madonnenkult, Musik als poetisches Gestaltungsprinzip. Nach und neben Verlaine beschäftigte sich Trakl auch schon mit Arthur Rimbaud. Er lernte dessen Dichtungen in den Übertragungen von K. L. Ammer kennen, der sie 1907 mit einem Vorwort von Stefan Zweig herausgebracht hatte. Sein Einfluss wurde jedoch erst später, etwa ab 1912, stärker wirksam. Deutliche »Einklänge« kamen in den frühen Gedichten auch von Hugo von Hofmannsthal, von dem er mehrere Bücher besaß (HKA II, 727). Als Trakl 1908 im Salzburger Volksblatt das Gedicht »Das Morgenlied« veröffentlichte, wurde deutlich, dass er auch Hölderlin gelesen hatte. Auch wenn er dessen pathetischen Ton nicht weitergeführt hat, blieb dieser Dichter in seinem Werk präsent. Das erst vor kurzem aufgefundene Gedicht »Hölderlin« ist ein augenfälliger Beweis dafür. Das Ende der Praktikantenzeit war um die Jahreswende 1907/08 in Sicht. Schon im Februar 1908 legte er die Tirocinalprüfung, eine Art Vorexamen, frühzeitig ab und erhielt dafür ein vorläufiges Zeugnis, das ihm wegen der bevorstehenden Musterung wichtig war. Er beantragte damit die Absolvierung des EinjährigFreiwilligen-Jahres nach dem Pharmazie-Studium. Bei der Musterung am 27.4. wurden auch

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ßere Veränderungen bevor. Sie erhielt von ihm Gustave Flauberts Roman Madame Bovary mit einer Widmung, die über sein Verhältnis zu ihr einiges aussagt: »Meinem geliebten kleinen Dämon, der entstiegen ist dem süßesten und tiefsten Märchen aus 1001 Nacht. in memoriam! Georg. Salzburg, im Sommer d. J. 1908« (DuB 504).

Wiener Jahre

Abb. 1.3  Georg Trakl 1908; Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Nachlass Ludwig von Ficker.

einige äußere Merkmale Trakls im Protokoll festgehalten (Abb. 1.3): Demnach waren seine Augen und Haare braun, das Gesicht oval, das Kinn spitz und seine Körpergröße ist mit 1,71 m angegeben (Haupt-Grundbuchblatt). Im Sommer 1908 beschäftigte Trakl die bevorstehende Übersiedlung nach Wien . Einerseits dürfte er sich darauf gefreut haben, andererseits hatte er gegenüber den Großstadtverhältnissen ein Gefühl der Unsicherheit. Vorläufig war er aber noch als einziger der Söhne zu Hause in Salzburg. Die Brüder waren auf Reisen. Die älteste Schwester Maria war nach ihrer gescheiterten Ehe wieder zurück aus Graz; Georg hatte sie mit einem Lenau-Zitat trösten wollen (DuB 510). Hermine bereitete sich auf die bevorstehende Hochzeit vor und Grete wird die Sommerferien daheim verbracht haben. Mit dem Schuljahr 1908/09 sollte sie in die Akademie für Musik und darstellenden Kunst eintreten. Auch ihr standen also – wie Georg – grö-

Ende September 1908 zog Trakl nach Wien. Innerhalb von drei Jahren absolvierte er dort das zweijährige Studium der Pharmazie und brachte den Militärdienst hinter sich. In der Begegnung mit Strömungen und Repräsentanten der Wiener Moderne konnte er seine literarische Entwicklung voranbringen. Im ersten Studienjahr wohnte er zunächst im 9. Bezirk, später wechselte er wie viele der Studierenden die Unterkunft. Er inskribierte am 5. Oktober 1908 an der philosophischen Fakultät die Fächer Experimentalphysik, Chemie und Botanik, im zweiten Jahr dann an der medizinischen die pharmazeutische Chemie, Pharmakognosie und die dazu gehörigen Übungen. Über seine Erfahrungen mit dem Studium hat Trakl sich nicht geäußert. Es scheint für ihn eine unvermeidliche Notwendigkeit gewesen zu sein, die er zu den »kommunen Sorgen« (DuB 518) zählte. Bestandene Prüfungen erwähnte er nur nebenbei. Aus zwei Briefen an seine Schwestern Minna und Maria vom Herbst 1908 erfährt man etwas über seine innere Befindlichkeit; sie klingen wie Hilferufe eines Bedrängten (DuB 513 f. und 514 f.). Trakl musste sein Leben erstmals ohne den Rückhalt des Elternhauses organisieren. Grete kommt in den Briefen nicht vor. Sie wohnte wahrscheinlich weiter im Internat Notre Dame de Sion und hatte wegen der strengen Regeln dort kaum Gelegenheit, Georg zu treffen (vgl. Bax 2014, 101). Anfang September belegte sie an der k.k. Akademie für Musik und darstellende Kunst das Hauptfach »Klavier, II. Jg.« bei dem angesehenen Lehrer Paul de Conne; sie muss also schon zu den Fortgeschrittenen g­ ehört

1  Zur Biographie Georg Trakls

haben. Bald besuchte sie jedoch den Unterricht unregelmäßig, ab März 1909 gar nicht mehr und dürfte dann nach Hause gefahren sein. Die »Übertritts- oder Reifeprüfung« konnte sie jedenfalls nicht machen. Trakl freute sich, wenn er Freunde oder Bekannte aus Salzburg treffen konnte. Einige ehemalige Mitschüler studierten ebenfalls in Wien: Karl Minnich (Jus) und Franz Schwab (Medizin). Vor allem Minnich scheint ein großes Verständnis für Trakl gehabt zu haben; er versuchte immer beruhigend auf ihn einzuwirken und sollte für Streicher und auch für die Mutter Trakls Vermittlerdienste leisten (HKA II, 778 f.). Bei Treffen mit Salzburger Bekannten spielte Literatur, im Unterschied zum Weingenuss, kaum eine Rolle. Man suchte Lokale in der näheren Umgebung auf; beliebt war der UrbaniKeller am Hof, auch der Rathauskeller und der Zetkeller werden erwähnt. In das Café Central ging er später nur, wenn ihn Buschbeck dorthin mitnahm, denn »mit Literaten oder irgendwelchen Gesellschaftsmenschen verkehrte er niemals« (Erinnerung 1966, 141). Trakl mied den Umgang mit fremden Menschen aus Scheu oder auch aus Angst vor Missverständnissen. Von klaustrophobem Verhalten, beispielsweise bei Zugfahrten, berichtete Franz Zeis (HKA II, 714), was später auch Ludwig von Ficker miterlebte, als er Trakl nicht dazu bewegen konnte, in die Innsbrucker Hungerburgbahn zu steigen. Bahnfahrten müssen für ihn anstrengend gewesen sein und er war oft unterwegs: zwischen Salzburg und Wien 6–12 Stunden und später zwischen Innsbruck und Salzburg 6–8 Stunden. Das offizielle Wiener Kulturangebot hat Trakl kaum wahrgenommen. Einmal erwähnt er einen Opernbesuch (DuB 515); zusammen mit dem ehemaligen Mitschüler Anton Moritz sah er von einem Stehplatz aus Wagners Tristan und Isolde unter dem Dirigenten Gustav Mahler (vgl. Moritz 1962). Wegen der Verklärung des Todes soll er diese Oper besonders geliebt haben. Neben den Anforderungen des Studiums war Trakl literarisch sehr aktiv. Zu Ostern 1909 zeigte er Buschbeck in Salzburg seine neuesten literarischen Arbeiten und dieser meinte dazu in einem Brief: »Trakl hat jetzt wundervolle Ge-

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dichte« (HKA II, 659). Zwei davon wurden auch im Salzburger Volksblatt publiziert (»An einem Fenster« und »Die drei Teiche in Hellbrunn«). Buschbeck war schon früh von der Qualität der Gedichte des Freundes überzeugt. Er schickte das Gedicht »Melusine«, zwar mit Trakls Namen, aber zu dessen Beruhigung unter seiner eigenen Adresse an die Wiener Zeitung Die Zeit und an Westermanns Monatshefte. Beide haben das Gedicht nicht genommen. Er empfahl ihm auch, sich in den Kürschner’schen Literaturkalender aufnehmen zu lassen – vergeblich, denn Reklame in eigener Sache war Trakl kein Anliegen. Von Salzburg aus empfahl Buschbeck seinen Freunden in Wien den Besuch der »Internationalen Kunstschau 1909«. Sie folgten seinem Hinweis und begegneten dort Werken des Malers und Dramatikers Oskar Kokoschka. Ausgestellt waren dessen Blätter zum »Weißen Tiertöter« (von Buschbeck als »Indianerbücherillustrationen« bezeichnet); im Gartentheater der Kunstschau sahen sie am 4.7.1909 die Uraufführung von Kokoschkas sadomasochistischem Drama Mörder, Hoffnung der Frauen. Trakls Reaktion war, wie man einem Beitrag auf einer gemeinsam mit den Freunden verfassten Karte entnehmen kann, ablehnend, was an der wortspielerischen Gleichsetzung von Kokoschka mit französisch »cochon! cochon!« deutlich wird (HKA I, 475). Durch die »fürchterlichsten Möglichkeiten« (DuB 513) der nackten Triebhaftigkeit und der angesprochenen Inzest-Thematik sah er sich selbst bedroht. Der Frühling 1909 war für Trakl eine literarisch sehr produktive Zeit. Im Juni schrieb er geradezu euphorisch an Buschbeck von »gesegnete[n] Tagen« (DuB 516 f.). Das Ergebnis war eine Zusammenstellung von Gedichten, der Sammlung 1909. Buschbeck versuchte, auf diese Gedichte aufmerksam zu machen und wandte sich an den mit ihm befreundeten Hermann Bahr, den auch Trakl für einen bedeutsamen Kritiker hielt (DuB 517). Zusammen besuchten sie Bahr in Ober-St.-Veit; er nahm drei Gedichte für das Neue Wiener Journal (»Einer Vorübergehenden«, »Vollendung« und »Andacht«). Dies war die erste Publikation Trakls

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außerhalb seiner Geburtsstadt (DuB 518). Das Salzburger Volksblatt war stolz auf diesen Erfolg eines »Talent[s] von eminenter Bedeutung« und druckte die Gedichte nach. Bahr setzte sich nicht weiter für Trakl ein, er erinnerte sich aber später noch an seine »Todesahnung« (ITA V.1, 101). Es gelang Buschbeck nicht, für die Gedichte einen Verleger zu finden. Trakl selbst legte später keinen Wert mehr darauf und meinte in einem Brief an Buschbeck, es wäre ihm am liebsten, wenn er ihm diese »verfluchten Manuskripte« zurückgeben würde (DuB 524). Buschbeck behielt sie jedoch bei sich und veröffentlichte sie 1939 in dem Band Aus goldenem Kelch. Die Jugenddichtungen. Die Manuskripte verbrannten bei einem Bombenangriff im Burgtheater, wo Buschbeck in leitender Stellung tätig war. Das erste Studienjahr schloss Trakl erfolgreich ab, im Fach Chemie sogar mit ausgezeichnetem Erfolg (vgl. HKA II, 660). Nach den Sommerferien in Salzburg fuhr er Anfang Oktober 1909 wieder nach Wien. Minnich hatte ihm ein neues Quartier im 8. Bezirk besorgt (Langegasse 60/III/18). Er inskribierte am pharmakognostischen Institut eine Vorlesung über Pharmakognosie (fünfstündig) und chemische Übungen (15-stündig), die ihn im Wintersemester 1909/10 am stärksten beanspruchten. Buschbeck hatte mittlerweile in Gmunden maturiert und kam jetzt auch nach Wien, um Jus zu studieren; seine kulturellen Interessen ließen ihn dieses Ziel aber bald aus den Augen verlieren. Er wohnte ebenfalls im 8. Bezirk. Auch Grete war wieder in Wien. Sie wohnte aber nicht mehr im Internat, sondern hatte ein Privatquartier im 4. Bezirk und wollte ihre Musikstudien im Privatunterricht fortsetzen; an der Musikakademie war sie nicht mehr eingeschrieben. Grete kannte Buschbeck zumindest flüchtig aus Salzburg und wollte während des nun folgenden siebenmonatigen Aufenthaltes in Wien das Verhältnis enger gestalten. Sie drückte diese Absicht spontan in Briefen an ihn aus: »Sagen Sie mir das Losungswort mit dem man in Ihre Festung eindringen kann. Sie wagen gar nichts« (Langen 2005, 213). Buschbeck reagierte reserviert auf diese Avancen, geriet deswegen aber doch in starke innere Span-

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nungen, von denen er seinem Freund Moritz berichtete (vgl. Buschbeck 1910a). Sie klagte selbst über ihre Launenhaftigkeit und charakterisierte sich mit folgendem Bild: »Zu meinem Karakter würde eine knochige Hand mit langen, spitzen Nägeln passen. Ich zerstöre mir selbst alles« (Langen 2005, 214). Grete ist in dieser Zeit mit Drogen bekannt gemacht geworden. Als Lieferant kommt in erster Linie Georg in Frage, aber auch Buschbeck scheint als solcher tätig gewesen zu sein. Dass Buschbeck sie nicht mehr besuchen durfte, wird auf ihre Quartiergeberin zurückzuführen sein. Also trafen sie sich bei Georg, der ihre Gefühle dem Freund gegenüber offenbar respektierte. Die Annäherungsversuche Gretes an Buschbeck hielten später auch in Salzburg an und sie hatte im Sommer 1913 in einer »Affäre« auch Erfolg. Buschbeck wusste sicherlich am besten über Gretes Verhältnis zu Georg Bescheid. Er umschrieb es mit der Wendung von der »zärtlichen und zornigen Sorge« (Buschbeck 1917, 17), mit der Georg seine Schwester umgeben haben soll. Dass es eine inzestuöse Beziehung war, hat er aus langjähriger und guter (im Fall Gretes auch intimer) Kenntnis beider stets zurückgewiesen. Als 1938 der Innsbrucker Karl Röck, ein Freund Trakls und Herausgeber der ersten Gesamtausgabe 1918, für eine im Otto Müller Verlag in Salzburg geplante Gesamtausgabe der Werke Trakls in einem Entwurf für ein Vorwort von einer »erbarmungswürdig schuldvollen, in den Folgejahren schwer gebüßten Annäherung/ Gemeinschaft beider« (er schwankte in der Formulierung) schrieb, protestierte Buschbeck nach Rücksprache mit Minnich »nicht etwa aus irgendeiner Prüderie, die der Wahrheit nicht ins Gesicht zu sehen vermag, sondern im Namen eben der Wahrheit, von der wir eindeutige Zeugen waren. Durch die Sätze, wie sie bei Ihnen stehen, würde das Bild Trakls für immer entstellt werden und sein Wesen wie das Wesen seines Gedichtes dem Missverständnis ausgesetzt sein. Zwischen Trakl und seiner Schwester Grete hat es niemals so etwas wie eine Blutschuld gegeben, was diesbezüglich in Gedichten steht ist lediglich ein Aufrücken von Gedankensünde, die niemals in die Realität herübergegriffen hat.

1  Zur Biographie Georg Trakls

[…] seine Schwester Grete, mit der wir wirklich befreundet waren, war in erotischen Dingen von solcher Offenheit, daß sie eine solche Sache keineswegs verschwiegen hätte« (Weichselbaum 2005, 49). Diesen Brief zeigte Röck Ludwig von Ficker, der an der Herausgabe mitbeteiligt war. Ficker reagierte mit einem Brief an Buschbeck, in dem er den Entwurf als ein »peinliche[s] Elaborat von Hirngespinsten« (Ficker 1938, 1) bezeichnete. Damit widersprach Ficker deutlich seiner Auskunft in einem Brief vom 28.1.1934 an den Dissertanten Werner Meyknecht, der häufig als einziger außerliterarischer Beweis für einen vollzogenen Inzest zwischen Georg und Grete angeführt wird (vgl. Ficker 1967, 116 ff.). Auch Trakls und Buschbecks Freund Anton Moritz bezeichnete 1964 die Inzestbehauptung als »verleumderisch« (Weichselbaum 2014, 194). 1909 werden in den vier Mitteilungen Trakls an Buschbeck die gemeinsamen Unternehmungen in Wien und Salzburg erwähnt, für die Buschbeck manchmal das Wort »wüst« verwendete, also meist alkoholische Symposien. Sie machten auch einen Ausflug in den Prater, wo sich Georg und Grete von einem Silhouettenschneider porträtieren ließen, oder fuhren auf einem Schiff donauabwärts nach Preßburg – ohne Grete, die schon Ende April 1910 nach Hause gefahren war. Buschbeck folgte ihr Anfang Mai und beschäftigte sich mit der von der Zeitschrift Der Merker geplanten Doppelnummer zum Thema »Salzburg«, die Ende Juli zu den Mozartspielen erscheinen sollte. Er vermittelte Trakls erste Fassung von »Die drei Teiche von Hellbrunn« und schrieb einen Aufsatz über »Salzburgs Kultur aus Vergangenheit und Gegenwart«, in dem er Trakl zu den Schöpfern einer »nachdenklichverträumten Lyrik« zählte (Buschbeck 1910b, 821). Grete bemühte sich weiter um ihn, lud ihn zu einer Radpartie nach Hellbrunn ein oder führte den schwerkranken Vater als Grund an, bei einem Spaziergang mit ihm »ein wenig Erleichterung« zu finden (Langen 2005, 216). Im Juli dürfte dann die Entscheidung gefallen sein, dass sie ihre Ausbildung zur Pianistin in Berlin fortsetzen werde. Möglicherweise hat sie davon

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Georg in einem »kleinen Brief« geschrieben, was diesen zu einer depressiven Mitteilung an Buschbeck veranlasste: »Ich möchte mich gerne ganz einhüllen und anderswohin unsichtbar werden« (DuB 518). Heftig reagierte Trakl, als er sich von dem mit Buschbeck befreundeten Ludwig Ullmann recht plump nachgeahmt fühlte. Dieser hat ihm einen Text vorgelesen, den er als Plagiat des eigenen Gedichts »Der Gewitterabend« empfinden musste, weswegen er »mehr als peinlich berührt« war (DuB 519). Er empörte sich darüber in einem Brief an Buschbeck und beschrieb darin sein poetisches Verfahren als seine »bildhafte Manier, die in vier Strophenzeilen vier einzelne Bildteile zu einem einzigen Eindruck zusammenschmiedet«, die »heiß errungene Manier« seiner Arbeiten (DuB 519). Diese ›Plagiats­ affäre‹ zeigt, wie sehr sich Trakl seiner literarischen Mittel bewusst war. Mit Ullmann söhnte er sich bald aus (Ullmann 1948) und im Briefverkehr mit dessen Braut Irene Amtmann sind sympathische Schwingungen zu spüren (DuB 526 und HKA II, 747). Kurz zuvor war am 18.6.1910 der Vater im 74. Lebensjahr an »Herz-Degeneration« gestorben. Von einer schweren Erkrankung des Vaters ist den Briefen Trakls nichts zu entnehmen. In der Bildwelt von »Traum und Umnachtung« hat diese Erfahrung jedoch deutliche Spuren hinterlassen (DuB 150). Der Leichnam wurde vom evangelischen Pfarrer am 20.6. eingesegnet und dann nach Ulm zur Kremation übergeführt. (In Salzburg wurde erst 1931 ein Krematorium errichtet.) Trakl war bei der Einsegnung anwesend, fuhr aber kurz darauf wieder nach Wien, da die Abschlussprüfungen bevorstanden. Tobias Trakl hatte kein Testament hinterlassen, die Erbschaft musste von der Mutter geregelt werden. Sie wollte den Stiefsohn Wilhelm mit der Geschäftsführung beauftragen, ließ deswegen die noch minderjährigen Söhne Georg und Fritz für großjährig erklären und übernahm zusammen mit Wilhelm die Vormundschaft für Grete. Wilhelm erhielt Ende Juli die Vollmacht zur Vertretung der Erben. Für Georg bedeutete das, materiell von seinem Halbbruder abhängig zu sein. Das war ihm so unangenehm, dass er

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lieber Buschbeck bat, ihm mit 30 Kronen aus einer »unsäglich peinlichen Verlegenheit [zu] helfen« (DuB 519), wozu der Freund nicht in der Lage war. Im Juli 1910 machte Trakl in Wien die praktischen und theoretischen Abschlussprüfungen. Das Fach Chemie absolvierte er mit »ausgezeichnetem Erfolg«, die Gesamtbeurteilung war ein »Genügend«. Mit einem Diplom in lateinischer Sprache (Datum: 21.7.) wurde er am 25. Juli zum Magister der Pharmazie spondiert. Noch am selben Tag reiste er wegen einer Unterschriftsleistung bei Gericht am folgenden Tag nach Salzburg. Erstaunlich ist, dass der Frühsommer 1910 trotz der starken Belastungen durch den Tod des Vaters und die Prüfungen eine literarisch produktive Zeit war. Es entstanden 13 Gedichte, darunter neben »Der Gewitterabend« sehr bekannte wie »Die Raben« und »Die schöne Stadt«. Auch am balladenartigen Text »Die junge Magd« arbeitete er in dieser Zeit; in »De profundis« (I) sind Bilder zu finden, die mit dem Tod des Vaters zusammenhängen. An Karl Kraus schrieb er einen Brief, ohne sich von ihm viel zu erwarten (DuB 521). Er war auf der Suche nach Orientierung. Kontakte zu Hermann Bahr und Stefan Zweig (über Ludwig Ullmann) endeten enttäuschend. Die Sommermonate 1910 in Salzburg verliefen ohne größere Ereignisse. Ernst von Dohnányi, der spätere Klavierlehrer Gretes in Berlin, dirigierte im Rahmen der Mozartfeier am 31. Juli ein Festkonzert. Bei der Verlassenschaftsverhandlung hatte sich herausgestellt, dass die Firma Trakl überschuldet war, die Erben also nichts zu erwarten hatten. Die Mutter wurde Besitzerin der Firma und des Hauses, Wilhelm der Geschäftsführer. Am 1.10.1910 war Trakl wieder in Wien, um seinen Militärdienst als Einjährig-Freiwilliger zu leisten (Abb. 1.4). Nach der Grundausbildung von sechs Wochen außerhalb Wiens wurde er der k.u.k Sanitätsabteilung Nr. 2 in der Rennwegkaserne zugewiesen. Da er den Militärdienst »auf eigene Kosten« bewilligt erhalten hatte (HKA II, 665), musste er sich selbst um ein Quartier kümmern. Er bezog eine auf ihn deprimierend wirkende

H. Weichselbaum

Abb. 1.4  Brustbild 1910; Forschungsinstitut BrennerArchiv, Nachlass Ludwig von Ficker.

Unterkunft in der Josefstädterstraße (vgl. DuB 522). Von dort schrieb er seinem Bruder Fritz, der in Südtirol ebenfalls beim Militär war, und bedauerte, dass er »von daheim selbst, wie je, keine Nachrichten« erhalten habe. Die Nachrichten von Grete aus Berlin bezeichnete er als »exzentrische Episteln«. Vom Militärdienst erwartete er sich nichts; er wollte in seiner »beschaulichen Klause dieses Jahr abrollen« lassen (DuB 522). Seine militärische Laufbahn folgte den üblichen Gepflogenheiten: im Dezember wurde er zum Gefreiten und im März 1911 zum Korporal befördert. Erst nach dem Ende des Militärdienstes wurde er am 1. Dezember 1911 zum »Landwehrmedikamentenakzessisten im nichtaktiven Stande« ernannt (HKA II, 668). In der Freizeit traf er sich mit den alten Freunden. Das Verhältnis zu Schwab wurde (auf alkoholischer Basis) enger, Buschbeck entfernte sich von der Gruppe etwas, weil er sich immer stärker im »Akademischen Verband für Literatur und Musik« engagierte. Dieser war ein Forum des ›anderen Wien‹, gerichtet gegen Jugendstil, Fin de siècle und das ›Juste milieu‹

1  Zur Biographie Georg Trakls

(vgl. Klettenhammer 1990, 140). Buschbeck trat dem Verband 1910 bei und stand ihm 1912/13 vor. In dieser Zeit hatte das Forum großen Zulauf. Es gab Konzerte zeitgenössischer Komponisten (Webern, Berg, Schreker, Schönberg) und Vorträge beispielsweise von Adolf Loos, Oskar Kokoschka und die ersten Lesungen von Karl Kraus. Dass Trakl an Veranstaltungen des Verbands teilgenommen hat, ist wegen der freundschaftlichen Beziehungen anzunehmen. Seine Reaktion auf einen Zeitungsbericht von einem skandalösen Vorfall bei einem Schönberg-Konzert am 31.3.1913 (›Watschen-Konzert‹) zeigt, wie sehr ihn derartiges beschäftigte (DuB 545). Die ästhetischen Neuerungen im literarischen Bereich fanden vor allem in den Beiträgen der vom Verband herausgegebenen Zeitschrift Der Ruf ihren Niederschlag. Eine Grundtendenz war die Abwendung vom Ästhetizismus und die stärkere Hinwendung zu konkreten Zuständen und Entwicklungen in der Gesellschaft. Die einzelnen Nummern waren meist thematisch ausgerichtet; für drei davon lieferte Trakl Beiträge: »Heiterer Frühling«, »Trompeten« und »Im Dorf«. Mit dem »Akademischen Verband« hatte Trakl auch nach seinem Weggang aus Wien noch einen lockeren Kontakt, der aber dann von den Beziehungen zum Brenner überlagert wurde. Eine vom Verband geplante Lesung Trakls in Wien kam nicht zustande, weil sich Buschbeck aus dem Vorstand des Vereins zurückgezogen hatte (ITA V.2, 539). Während des Freiwilligenjahres war Trakls literarische Produktion sonst gering.

Wartezeit Am 30.9.1911 konnte Trakl den Militärdienst beenden; er fuhr sogleich nach Hause. Nun ging es darum, eine berufliche Absicherung zu finden, was der Familie, vor allem Wilhelm, ein besonderes Anliegen war; er wollte weitere finanzielle Belastungen vermeiden. Das Problem der Vereinbarkeit von beruflicher und dichterischer Existenz wurde für Trakl jetzt akut. Auf die Frage, wann Trakls Depressionen begonnen hätten, meinte später sein Bruder Fritz: »Das war

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erst nach seinem Jahr als Einjähriger. Da wurde es schlimm mit ihm« (Bondy 1952, 9). Trakl war aber nicht untätig: Er bewarb sich innerhalb der nächsten beiden Jahre viermal um eine Stelle bei Ministerien in Wien und bemühte sich zweimal um einen Posten im Ausland. Die erste Bewerbung schickte er am 10.10.1911 an das Ministerium für öffentliche Arbeiten und bat um eine Stelle als Praktikant in der SanitätsFachrechnungsabteilung. Es dauerte dann fast ein Jahr, bis ihm diese Stelle verliehen wurde. Trakl musste warten. Angesichts seiner schlechten finanziellen Lage arbeitete er für zwei Monate in der Apotheke »Zum weißen Engel«, seinem ehemaligen Praktikumsplatz. Anschließend bewarb er sich – nach seiner Ernennung zum Militärmedikamentenakzessisten der Reserve am 1. Dezember – beim Kriegsministerium um eine Stelle als Militärmedikamentenbeamter. Dieses Ansuchen wurde mit einem positiven Bescheid beantwortet und führte Trakl schließlich zum 1.4.1912 nach Innsbruck (Abb. 1.5). Bis dahin blieb er in Salzburg. Er traf sich in dieser Zeit mit Mitgliedern der »Salzburger Literatur- und Kunstgesellschaft Pan«, die im »revolutionierenden Sinn künstlerisch tätig sein« wollte (Hanisch/Fleischer 1986, 137), unter anderem mit Karl Hauer, einem Mitarbeiter der Fackel, der in seinen 1910 erschienenen Essays Ideen einer dionysischen Sinnlichkeit vertrat. Hauers Lebensstil eines bürgerlichen Außenseiters hat Trakl angezogen. Das Interesse an Karl Kraus verband beide. Trakl widmete Hauer das Gedicht »Allerseelen«, dieser war ihm später beim Verkauf seiner Bücher behilflich, als er in München eine Buchhandlung betrieb (HKA II, 767). Um in der Öffentlichkeit stärker wahrgenommen zu werden, gaben die jüngeren Mitglieder der »Pan«-Gesellschaft ein literarisches Sammelwerk unter dem Titel Salzburg heraus (Salzburg 1913). Textbeispiele von 25 Autoren (vier davon weiblich) waren darin zu lesen. Trakl war von den Lyrikern mit vier Gedichten am stärksten vertreten. Neben der Ungewissheit über seine berufliche Zukunft belasteten ihn die aufreibenden

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Abb. 1.5  Trakl in Uniform 1912; Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Nachlass Ludwig von Ficker.

Familienstreitigkeiten wegen der Schwester Grete. Sie verleideten ihm den Aufenthalt in Salzburg, »dieser verfluchten Stadt« (DuB 527). Grete hatte sich zu Ostern 1911 in Berlin mit dem um 34 Jahre älteren Arthur Langen, einem Neffen ihrer Quartiergeberin, verlobt, benötigte aber für die Eheschließung das Einverständnis ihrer Vormünder, da sie noch nicht 24 Jahre alt und damit minderjährig war. Vormünder waren die Mutter und Wilhelm, der aber wegen des Altersunterschiedes und enttäuschender Erfahrungen bei einem Berlin-Besuch diese Aufgabe nicht mehr wahrnehmen wollte. An seine Stelle trat Georg, der nicht ablehnend eingestellt war, da Grete »schon seit ihrem 12. Lebensjahr immer selbständig« gewesen sei (Weichselbaum 2014, 103). Nach einer Bedenkzeit von zwei Monaten hatte auch die Mutter keine Einwände mehr. Ein Druckmittel Arthur Langens war sein Hinweis auf die Finanzierung der wei-

H. Weichselbaum

teren musikalischen Ausbildung Gretes, die er nur als Ehemann garantieren wollte. Angesichts der finanziellen Lage der Firma war das ein gewichtiges Argument. Trakls Vorstellung von seiner Schwester als großer Künstlerin hat ihm die Zustimmung nahegelegt. Das Gericht erklärte sie daraufhin trotz einiger Bedenken der Beamten für volljährig. Grete Trakl und Arthur Langen heirateten am 17. Juli 1912 in Berlin. Die Wartezeit benützte Trakl zu ersten Entwürfen oder zur Fertigstellung von Gedichten, die davon zeugen, dass er auf der Suche nach neuen poetischen Ausdrucksmöglichkeiten war, die von den Kunsttendenzen, wie er sie im »Akademischen Verband« kennen gelernt hatte, beeinflusst waren. Im Jänner 1912 schrieb er an Buschbeck von der ihm jetzt gemäßen Gedichtform: »unpersönlich […] und zum Bersten voll von Bewegung und Gesichten«, in einer »universellen Form« gestaltet, im Unterschied zur »begrenzt persönlichen« (DuB 526). Im Gedicht »Vorstadt im Föhn« meinte er das verwirklicht zu haben. Ende März erhielt er die Verständigung, dass er dem k.u.k. Garnisonsspital Nr. 10 in Innsbruck für einen sechsmonatigen Probedienst zugeteilt sei (HKA II, 676 f.). Dienstantritt: 1.4.1912.

Innsbruck – Erfolge als Dichter Es fiel Trakl nicht leicht, sich mit den Innsbrucker Verhältnissen abzufinden. Er klagte darüber in Briefen an Minnich und Buschbeck, sah sich »in der brutalsten und gemeinsten Stadt, […] die auf dieser beladenen u. verfluchten Welt existiert« (DuB 528), angekommen und setzte sich mit der Fremdlingsgestalt des Kaspar Hauser gleich. Er wohnte in einem Arbeiterviertel im Osten der Stadt, nicht weit weg vom Garnisonsspital. Den Dienst empfand er als anstrengend. Fluchtgedanken sollten ihn entlasten. Buschbeck beließ es nicht bei tröstenden Worten, sondern versuchte, ihn aus dieser trostlosen Situation herauszuholen. Er vermittelte »Vorstadt im Föhn« über Robert Müller, der sowohl Mitarbeiter des Ruf als seit kurzem auch der Halb-

1  Zur Biographie Georg Trakls

monatsschrift Der Brenner war, an deren Herausgeber Ludwig von Ficker, der es sogleich in die Nummer von 1.5. aufnahm. Damit begann eine Reihe von Veröffentlichungen, die zu Trakls Lebzeiten 65 Gedichte umfassen sollte. Der Brenner wurde damit zu seinem beinahe ausschließlichen Publikationsorgan. Buschbeck gab auch den Anstoß zu einem Treffen Trakls mit dem um sieben Jahre älteren Ficker am 22.5. im Café Max(imilian), wo sich die Mitarbeiter der Zeitschrift am Brenner-Tisch häufig trafen. Ficker trat Trakl mit großer Offenheit entgegen. Mit seiner aus Schweden stammenden Frau und den Kindern wohnte er in einer Villa in Mühlau, einem Vorort von Innsbruck. 1910 hatte er die Halbmonatsschrift für Kunst und Kultur Der Brenner für den Dichter-Philosophen Carl Dallago gegründet, jetzt war er auf der Suche nach weiteren Mitarbeitern; in Trakl konnte er einen solchen zumindest vermuten. Die Wertschätzung nahm in der Folge rasch zu, aber das Verhältnis blieb trotz freundschaftlicher Nähe – vor allem in den letzten Lebensmonaten – respektvoll distanziert. In der Anrede ist es beim ›Sie‹ geblieben. Der Zufall wollte es, dass in der BrennerNummer mit Trakls »Vorstadt im Föhn« auf der gegenüberliegenden Seite das Gedicht »Traurigkeit am Abend« von Guido Höld abgedruckt war. Der Name war, in Anlehnung an Friedrich Hölderlin, ein Pseudonym für Karl Röck, der dann mit Trakl in Innsbruck oft zusammen war. Er führte ein Tagebuch, das, wenn auch ein verzerrter Spiegel, so doch eine wichtige Quelle für Trakls Innsbrucker Zeit ist. Der Brenner-Tisch im Café Max war für ihn eine »mündliche Zeitung. Literaturzeitung« (Röck o. J., I, Bl. 13). Zu Trakl geriet Röck bald in eine bewundernde Abhängigkeit. Er traf sich mit ihm entweder allein oder mit anderen Mitgliedern des BrennerKreises im Café Max oder in anderen Lokalen der Altstadt. Auf Spaziergängen und Ausflügen wurde über Themen gesprochen, die in der Brenner-Runde gerade aktuell waren. Manche davon waren für Trakl nicht neu wie die Problematik der Geschlechterbeziehung oder Gegenbilder zur bürgerlichen Erwerbswelt. Namen wie Nietzsche oder Weininger waren ihm vertraut; auf Dostojewskij hat vermutlich er hingewiesen.

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Verstärkt begegnete er nun dem Thema Christentum, das im Brenner-Kreis eine große Rolle gespielt hat. Eine Folge davon war, dass er dem dichterischen Schaffen zunehmend skeptisch gegenüberstand: »Alle Dichter sind eitel und Eitelkeit sei widerlich«, äußerte er sich bei einem Gespräch in der Stehbierhalle. »Ein paar Worte des Evangeliums haben mehr Leben und Welt und Menschenkenntnis als all diese Gedichte. […] Man kann sich überhaupt nicht mitteilen. Das alles sei Ausspruch« (Szklenar 1966, 227). Die Überzeugung vom absoluten Wert der schöpferischen Arbeit, wie er sie bei Nietzsche kennen gelernt hatte, wurde zwar fragwürdig, aber trotzdem verschaffte ihm das Schreiben noch am ehesten Befriedigung. Die meisten Gedichte, in denen christliche Motive anzutreffen sind, stammen aus der Innsbrucker Zeit. Das Interesse für Karl Kraus verband Trakl und Ficker, der ein Kraus-Verehrer war. Im Sommer 1912 hielt sich Kraus in der zweiten Augusthälfte länger in Innsbruck auf; dabei ist Trakl persönlich mit ihm bekannt geworden. Er widmete ihm in der Folge drei Gedichte. Kraus reagierte in der Fackel mit dem Aphorismus über die »Siebenmonatskinder« (Erinnerung 1966, 7). Wie beide miteinander umgegangen sind, wissen wir nicht. Ficker meinte, dass Kraus zwar das Ungewöhnliche an Trakl gespürt habe, aber im Grunde genommen nichts Rechtes damit anzufangen wusste (vgl. Ficker 1967, 119 f.). Nach Trakls Tod meinte Kraus: »Es war mir immer unbegreiflich, daß er leben konnte. Sein Irrsinn rang mit göttlichen Dingen […]« (Stieg 1976, 270). Das Gutachten am Ende des Probedienstes fiel durchwegs positiv aus, wenn auch festgestellt wurde, dass »sein Auftreten noch wenig militärisch« sei (HKA II, 679). Er wurde zur Aktivierung empfohlen. Sein Antrag auf Übernahme als Heeresapotheker zum 1.10.1912 wurde genehmigt. Sein Leben wäre damit materiell abgesichert gewesen, aber eine solche Sicherheit erschien ihm eher als trostlos (vgl. DuB 531). Die verstärkte Flucht in den Alkohol, in die »abendliche Weinheizung« (ebd.) war eine Folge dieser Gemütslage. Literarisch war der Herbst eine produktive Zeit, der Brenner brachte regelmäßig Gedichte.

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Der mit Ficker befreundete Maler Max von Esterle zeichnete für das zweite Oktober-Heft eine Karikatur Trakls, die dieser ablehnte (vgl. DuB 532). Trotzdem widmete er einige Monate später dem Karikaturisten das Gedicht »Winterdämmerung«. Im Juli 1913 veröffentlichte Esterle dann eine »Widmung für Georg Trakl«, das sog. »Exlibris«, das Trakls Zustimmung fand (DuB 552). Eine Möglichkeit, der wenig befriedigenden Tätigkeit in der Heeresapotheke zu entkommen, tat sich Ende Oktober 1912 auf: Er erhielt vom Ministerium für öffentliche Arbeiten einen positiven Bescheid zu seinem Ansuchen um eine Stelle, um die er sich länger als ein Jahr zuvor beworben hatte. Den Dienst dort hätte er am 1.11. antreten sollen. Er musste jedoch vorher sein Dienstverhältnis als Militärapotheker auflösen, weswegen er zweimal um einen vierwöchigen Aufschub bat, der jeweils bewilligt wurde. Ende November wurde er in die Reserve versetzt. Nach acht Monaten war damit die Phase seiner längsten beruflichen Tätigkeit vorbei. Buschbeck unternahm nach dem versandeten Anlauf von 1909 einen weiteren Versuch, die Gedichte des Freundes in Buchform herauszubringen. Um die finanziellen Voraussetzungen zu schaffen, startete er im Herbst 1912 eine Subskriptionsaktion, deren Erfolg zunächst wenig ermunternd war. Er bat daher Kraus und Ficker, in ihren Zeitschriften dafür zu werben. Zuletzt fanden sich 100 Subskribenten und Buschbeck meinte, dass damit das Erscheinen gesichert sei (vgl. HKA II, 684). Der Verlag war noch unklar. Trakl stellte nach dem Ende seiner Tätigkeit in der Heeresapotheke ein Manuskript ohne besonderen Gesichtspunkt in der Anordnung zusammen, sprach sich aber gegen eine chronologische Reihung aus (DuB 536). Im Dezember lernte Trakl den Schriftsteller Karl Borromäus Heinrich kennen, der bei Ludwig von Ficker zu Gast war. Heinrich arbeitete zu dieser Zeit noch als Lektor beim Verlag Albert Langen in München; bald wurde er ein Freund und Verehrer Trakls. Er schlug vor, Trakls Gedichte dem Langen-Verlag anzubieten. Buschbeck schickte die Gedichte mit dem Titel »Dämmerung und Verfall« an den Verlag, Heinrich gab dazu eine

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positive Stellungnahme ab, aber die Prüfung durch weitere Instanzen des Verlages führte im März 1913 zu einer Ablehnung. Ficker hatte mittlerweile schon überlegt, den Gedichtband im »Brenner«-Verlag herauszubringen. Karl Kraus stellte dann aber eine Verbindung zu seinem neuen Verleger Kurt Wolff in Leipzig her. Trakl erhielt daraufhin von dort ein Angebot zu einer Buchpublikation (vgl. HKA II, 789). Er überarbeitete die Zusammenstellung und schickte die Gedichte Mitte April ab. Der Lektor, Franz Werfel, las sie »mit großer Bewunderung« (HKA II, 790). Zunächst wollte der Verlag nur eine Auswahl in der neuen Reihe »Der jüngste Tag« herausbringen, Trakl lehnte diesen Plan jedoch – von Ficker unterstützt – entschieden ab. Kurt Wolff lenkte ein, Trakl nahm noch geringfügige Änderungen vor und Buschbeck schickte die Subskriptionslisten. Anfang Juli 1913 war das Buch mit 49 Gedichten als Doppelband 7/8 in der Reihe »Der jüngste Tag« mit schwarzem Umschlag und grünem Titelschild fertig. Es blieb beim ursprünglichen schlichten Titel Gedichte. Der Preis betrug zwei Kronen (geheftet) bzw. 3 Kronen (gebunden); Auflage: 1000 Stück zu Lebzeiten Trakls. Die Werbung setzte erst im Herbst ein. Es blieb der einzige Gedichtband, den Trakl zu sehen bekam. Von diesem für ihn erfreulichen Ausgang der Bemühungen Buschbecks konnte Trakl zur Jahreswende 1912/13 noch nichts wissen. Die Aussicht auf die Stelle in Wien verunsicherte ihn. Im Dezember verbrachte er noch etwa zwei Wochen in Innsbruck, zu Weihnachten war er in Salzburg. Ende des Monats fuhr er nach Wien und meldete sich am 31.12. im Arbeitsministerium zum Dienstantritt. Nach Ablegung eines Dienstgelöbnisses verschwand er aber bald aus dem Büro und schrieb am nächsten Tag ein Entlassungsgesuch, dem am 9.1. stattgegeben wurde (HKA II, 697 f.). Schon am 2.1. war er fluchtartig nach Salzburg abgereist und traf sich dort mit Buschbeck, der Trakls Verzicht auf die Stelle mit der Familie, vor allem mit Wilhelm, besprach; dieser soll die Nachricht sehr gefasst aufgenommen haben. Minnich, bei dem Trakl in Salzburg Quartier beziehen wollte, befand sich zu diesem Zeitpunkt in München, also fuhr er zu

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Ficker nach Innsbruck, der ihn vorübergehend bei sich einquartierte. Als Grund für seine Flucht aus Wien führte er Röck gegenüber seine intensive Arbeit am »Helian« an; es war ihm das »teuerste und schmerzlichste, was ich je geschrieben« (DuB 539), wie er Buschbeck mitteilte. Ficker äußerte sich dazu mit Worten der Bewunderung, ähnlich auch Buschbeck. Im Jänner blieb Trakl in Innsbruck bei Ludwig von Ficker bzw. dessen jüngerem Bruder Rudolf, dem Besitzer der Hohenburg bei Igls auf dem Mittelgebirge südlich von Innsbruck, wo er noch öfter Unterkunft fand. Mit Röck traf er sich dort bei einem Spaziergang zum Isserwirt in Lans, der später mehrmals ein Ziel gemeinsamer Unternehmungen wurde. Anfang Februar kehrte Trakl nach Salzburg zurück. Seine Mutter war gerade dabei, das Geschäft aufzulösen. Zwar musste die Firma, wahrscheinlich wegen Fälligkeit größerer Kredite, liquidiert werden, der Haushalt war aber noch nicht betroffen. Das Haus wurde vorerst für eine Vermietung umgebaut, 1917 musste es dann doch verkauft werden. Die Situation empfand Trakl jedenfalls als bedrückend, worüber er sich seinem Verehrer K.B. Heinrich mitteilte (DuB 542). Dieser verfasste für den Brenner eine ins Mystische überhöhte Würdigung des »Bruders« Trakl unter dem Titel »Briefe aus der Abgeschiedenheit II. Die Erscheinung Georg Trakls« (auch in Erinnerung 1966, 99–110), mit der er das Bild des Dichters nicht unwesentlich prägte. Trakl hatte schon vorher eine große Zuneigung zu ihm empfunden, er widmete dem »Freund und gute[n] Bruder« (DuB 503) das Gedicht »Untergang«. Ficker nahm es zusammen mit der Würdigung in dasselbe Brenner-Heft auf. Im Mai trafen sich beide in München und im Jänner 1914 schrieb Heinrich aus Paris einen letzten Brief an Trakl, in dem er ihm seine religiös stilisierte Verehrung bestätigte (HKA II, 772). Die finanzielle Lage zwang Trakl im Februar 1913, sich doch wieder um eine Stelle zu bemühen. Er arbeitete kurzzeitig in der Apotheke seines ehemaligen Mitschülers Gustav Müller in Oberndorf bei Salzburg, bewarb sich aber dann im März beim Kriegsministerium um eine Stelle als Rechnungskontrollbeamter. Der Berufs-

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offizier und Schriftsteller Robert Michel kümmerte sich auf Bitten Fickers erfolgreich darum (HKA II, 708). Ficker ermöglichte Trakl ab April wieder einen – mit Unterbrechungen – längeren Aufenthalt auf der Hohenburg. Dort stellte er die Gedichte für den Kurt Wolff Verlag zusammen und korrigierte Druckfahnen. Geldnot peinigte ihn ständig. Buschbeck schickte ihm 50 Kronen, die er sich selbst ausborgen musste. Durch den Verkauf seiner Bücher an den Münchner Buchhändler Karl Hauer versuchte er zu Geld zu kommen. Er stellte eine Liste der Bücher zusammen, die er abgeben wollte oder noch abzugeben hatte (HKA II, 727). Der Aufenthalt auf der Hohenburg war für Trakl vergleichsweise erholsam. Er wohnte in einem Zimmer zum Berg hin, hatte ein Klavier zur Verfügung und konnte das schöne Wetter dazu nützen, im nahen Lanser See zu baden. Röck traf ihn manchmal gebräunt an, wenn er mit ihm bei einem Spaziergang zwischen Igls, Lans und Sistrans über Themen sprach, die in der Brenner-Runde gerade aktuell waren. Dazu gehörte auch die Rundfrage zu Karl Kraus, die dem deutschnational orientierten Röck als ›Kraus-Kult‹ mitten in Tirol missfiel. Trakl hatte dazu einen Beitrag geliefert (DuB 123). Um den 10.6. fuhr Trakl nach Salzburg. Aus der kalten und verregneten Stadt erschienen ihm die Innsbrucker Tage umso heller. Buschbeck war aus Überdruss an den Wiener Verhältnissen zurückgekehrt und froh über einen Gesprächspartner. Die positive Erledigung des Ansuchens beim Kriegsministerium vom März verstärkte Trakls depressive Stimmung. Für ihn war das Bevorstehende ein »Gang ins Dunkel« (HKA I, 520), er litt an Schwindelanfällen. Freunde versuchten ihm zu helfen: Buschbeck war um ein Zimmer in Wien bemüht, Franz Zeis, ein Bekannter aus dem »Akademischen Verband«, organisierte eines. Adolf Loos schickte ihm Geld. Am 15.7. trat Trakl den Probedienst als Rechnungskontrollbeamter im Kriegsministerium an, aber bald stellte sich heraus, dass diese Beschäftigung nichts für ihn war. Schon etwa am vierten Tag meldete er sich krank und am 12.8. verzichtete er auf dieses »unbesoldete Amt, das

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reichlich ekelhaft ist« (DuB 553). In Gesellschaft von Karl Kraus traf er in dieser Zeit mit dem um 17 Jahre älteren Adolf Loos zusammen, der sich um eine Stelle für ihn bemühte. In sein Gästebuch schrieb Trakl ein Gelegenheitsgedicht zum heftig diskutierten Haus am Michaelerplatz (DuB 503). Er interessierte sich für den »Geist der Gotik«, bat Buschbeck um Lesenswertes zu diesem Thema und erhielt von ihm Empfehlungen, darunter auch das Buch Die drei Stufen der Erotik von Emil Lucka, das er sich von Ludwig Ullmann ausborgen konnte. Dieser war mit Robert Müller befreundet, der wiederum gemeinsam mit Buschbeck für den Saturn-Verlag in Heidelberg eine Anthologie Jung-Wien plante, zu der auch Trakl nach einigem Zögern sechs Gedichte beitragen sollte; zwei davon waren Erstveröffentlichungen (»Sonja«, »Entlang«). Robert Müllers ablehnende Haltung Karl Kraus gegenüber führte aber dazu, dass Trakl die Beziehungen zum Wiener Literaturbetrieb abbrach, nur in der Zeit und in der Reichspost erschienen noch vier Gedichte. Auch das positive Verhältnis zwischen Müller und Ficker endete damit. Die für Trakl so wichtige Freundschaft mit Erhard Buschbeck zerbrach in diesem Sommer an dessen Affäre mit Trakls Schwester Grete, verheiratete Langen. Buschbeck hielt sich in Salzburg auf und Grete war manchmal zu Besuch. Vertrauliche Mitteilungen aus dieser Zeit sind ein Hinweis darauf, dass ihre Beziehungen enger geworden sind, wie sich Grete das schon lange gewünscht hatte. Trakl wird davon erfahren haben, reagierte ablehnend, redete den Freund erstmals mit »Lieber Fallot« an (DuB 552) und teilte ihm aus Wien noch mit, dass er nach Venedig »hinunter fallen« werde (DuB 554). Es gibt keinen Hinweis auf einen weiteren Kontakt. Adolf Loos hatte Trakl nach Venedig eingeladen; es war die erste größere Reise seines Lebens, sie machte ihm Angst. Am 16.8. fuhr er mit Kraus, Loos und dessen Freundin Bessie für etwa zehn Tage in die Lagunenstadt. Ficker kam mit seiner Frau von Innsbruck aus dazu. Die Urlaubsgesellschaft wohnte am Lido, Trakl in der Stadt. Eindrücke davon hat er später im Gedicht »In Venedig« festgehalten. Er ließ sich,

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wie viele der Badegäste, auch in entsprechender Kleidung am Strand fotografieren. Da Trakl den Probedienst im Kriegsministerium abgebrochen hatte, war seine weitere berufliche Zukunft wieder ungewiss. Eine Ausschreibung des Arbeitsministeriums für eine Rechnungsassistentenstelle im Sanitäts-Fachrechnungsdepartement stellte eine Möglichkeit dar, es erneut im Staatsdienst zu versuchen. Er schrieb die Bewerbung noch vor der Venedig-Reise, seine Mutter sorgte für die nötigen Unterlagen und die Unterstützung durch den einflussreichen Salzburger Politiker Dr. Sylvester – er war Präsident des Reichsrates – sollte die Bewerbung erfolgreich machen. Die Familie machte sich große Hoffnungen. Nach der Venedig-Reise fuhr er nach einem kurzen Aufenthalt in Salzburg gleich nach Innsbruck weiter und blieb dort für etwa zwei Monate im Haus Fickers. Er arbeitete intensiv an weiteren Gedichten und war damit, wie er an Franz Zeis in Wien schrieb, sogar »ein wenig zufrieden« (DuB 555). Das Gedicht »Sebastian im Traum« widmete er Adolf Loos, wohl als Dank für seine Venedig-Einladung. Ein Besuch bei dem Bildhauer Othmar Zeller in Solbad Hall war geplant, Trakl musste ihn aber postalisch aus Salzburg absagen, weil er »telegraphisch abberufen« worden sei (ebd.). Es ging der Familie um die Bewerbung vom August, in der sie vermutlich eine letzte Chance für Georg sah. Auch ihm selbst war bewusst, dass er in seinen »Angelegenheiten endlich eine Entscheidung herbeiführen« müsse (ebd.). Er fuhr also von Innsbruck nach Hause und gleich am nächsten Tag weiter nach Wien. Von einem Treffen mit Grete an diesem Tag ist nichts bekannt. In Wien hatte er starke Depressionen, litt an den Folgen einer Veronalvergiftung und flüchtete in den Alkohol. Das Geld ging ihm aus und als eine Schauspielerin in einem Hörsaal der Universität Gedichte von ihm vortrug, ging er selbst nicht dorthin, sondern in eine Kraus-Vorlesung. Er besuchte Oskar Kokoschka in dessen Atelier, beide verstanden sich als »Abtrünnige des bürgerlichen Lebens« (Schneditz 1951, 107). Mit der Bewerbung im Arbeitsministerium sah es indessen schlecht aus (der ablehnende

1  Zur Biographie Georg Trakls

Bescheid wurde am 9.12. nach Salzburg zugestellt). Nachdem Ficker ihn zu einer Lesung nach Innsbruck eingeladen hatte, um seine Depressionen zu mildern, war ihm der Aufenthalt in Wien, »dieser Dreckstadt« (DuB 557), noch mehr verleidet. Am 30.11. fuhr Trakl nach Innsbruck zurück. Im Atelier von Max Esterle malte er ein Selbstporträt, das in Stil und Maltechnik an Kokoschka erinnert (Abb. 1.6). Dieser hat seinerseits eine Zeichnung von Trakl »nach dem Gedächtnis« vermutlich nach dessen Tod angefertigt. Für die Lesung am 10.12. hatte Ficker auch Robert Michel eingeladen, der zu Beginn und am Schluss eigene Prosa lesen sollte. Trakl ergänzte noch den Programmvorschlag Fickers. Die Lesung im Musikvereinssaal war ein Erfolg, wenn auch in einer Besprechung Trakls Vortragsweise als »leider zu schwach, wie aus Vergangenheiten heraus« (HKA II, 720) kritisiert wurde. Die folgenden Tage waren für ihn solche

Abb. 1.6  Selbstporträt 1913; Georg Trakl Forschungsund Gedenkstätte Salzburg.

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»rasender Betrunkenheit und verbrecherischer Melancholie« (DuB 559), aus der heraus er das von einer religiösen Bildhaftigkeit getragene Gedicht »Ein Winterabend« schrieb, dessen erste Fassung er an Karl Kraus schickte (DuB 422). Die Weihnachtstage hat Trakl zu literarischen Arbeiten genützt. In der ersten Brenner-Nummer 1914 erschienen sechs Gedichte von ihm, dazu der Prosatext »Winternacht«. Eine KrausLesung am 14.1. war der Anlass zu einem Treffen am Vorabend in der Wohnung Fickers, an dem neben dem Gastgeber der Philosoph Carl Dallago, der in Russland lebende Schriftsteller Hans Limbach und Trakl teilgenommen haben. Über das Gespräch hat sich Limbach Notizen gemacht, die er später schriftlich ausformuliert hat (Erinnerung 1966, 117 ff.). Demnach sind dabei weltanschauliche Fragen diskutiert worden, bei denen sich Dallago und Trakl gegenüberstanden. Trakls Bekenntnis zum protestantischen Christentum und seine Ablehnung Nietzsches und Weiningers führten zu einem unüberwindlichen Gegensatz. Im Gasthof Dollinger in Mühlau kam es am 13.2. zwischen Trakl, Röck und dem aus Paris zurückgekehrten K.B. Heinrich zu einem Gespräch bis in die frühen Morgenstunden, in dessen Zentrum die Themen Erotik, Sex und Sexualmystik standen. Trakl wurde dabei mit Röck und wahrscheinlich auch mit K.B. Heinrich per Du (Röck 1976, I, 180). Seinen bereits Ende November des Vorjahres geäußerten Plan, sich wieder beim Militär aktivieren zu lassen (DuB 558), realisierte Trakl jetzt. Auf Bitten Fickers sollte sich wieder Robert Michel in Wien darum kümmern. Dieser schätzte jedoch die Aussichten als äußerst ungünstig ein, da Trakl bei der Behörde mittlerweile als »sehr unbeständig« galt (HKA II, 725). Trakl arbeitete in diesen Tagen an der Vorbereitung eines weiteren Gedichtbandes. Er hielt sich zunächst an einen Gliederungsvorschlag von K.B. Heinrich, der drei Teile, gegliedert durch Prosatexte, vorsah (vgl. Zwerschina 1990). Als auch Röck mit ihm über Gliederungsfragen sprechen wollte, erfuhr er zu seiner Überraschung, dass sich Trakl in Berlin aufhielt. Von seiner Schwester hatte d­ieser

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Mitte März eine Mitteilung über ihren kritischen Gesundheitszustand erhalten. Er reiste sofort ab. Am 17.3. schrieb er aus Berlin an K.B. Heinrich, dass Grete »vor wenigen Tagen eine Fehlgeburt gehabt [habe], die mit außerordentlich vehementen Blutungen verbunden war« (DuB 561). Vier Tage später schrieb er an Ficker von der »herzzerreißenden Traurigkeit und zugleich braven Tapferkeit« (DuB  562) seiner Schwester und dass er noch einige Tage bleiben werde, da sie »den ganzen Tag allein« sei (ebd.). Ficker schickte Geld. K.B. Heinrich fuhr Trakl nach Berlin nach. Gemeinsam teilten sie Karl Kraus mit, dass sie zu seiner Lesung in Berlin am 1. April kommen werden. Im Kreis von Herwarth Walden lernte Trakl dessen frühere Ehefrau Else Lasker-Schüler, die ihm aus dem Brenner bekannt gewesen sein dürfte, auch persönlich kennen. Sie sprachen über Fragen der Religion aus christlicher bzw. jüdischer Sicht, aber auch über das Problem Alkohol. Er widmete ihr das Gedicht »Abendland« (II), sie verfasste nach Trakls Tod drei Gedichte auf ihn. In Berlin schrieb Trakl noch einen Brief an Ficker, wahrscheinlich am 1. oder 2. 4., der wegen der extremen Verzweiflung, die daraus spricht, häufig angeführt wird (DuB 563). Trakl schrieb darin von »so furchtbare[n] Dingen […], daß ich deren Schatten mein Lebtag nicht mehr loswerden kann. Ja, verehrter Freund, mein Leben ist in wenigen Tagen unsäglich zerbrochen worden […]. Es [ist] ein so namenloses Unglück, wenn einem die Welt entzweibricht […]«. Welch »furchtbare Dinge« es gewesen sein könnten, geht aus dem Brief nicht hervor; die Fehlgeburt kann es nicht gewesen sein, denn in den Briefen vorher ist von einer solchen Verzweiflung nichts zu merken. Eine mögliche Erklärung mit hoher Wahrscheinlichkeit ist, dass Trakl das Scheitern der Ehe Gretes in diesen Tagen klar geworden ist. Die intimen Beziehungen zu ihrem Klavierlehrer Richard Buhlig, den ihr Mann vermittelt hatte, waren einer der Gründe für die Scheidung 1916. Grete hatte Buhlig schon wenige Wochen nach der Verehelichung einen Brief mit Gedichten

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ihres Bruders geschickt. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass das verlorene Kind von ihm gewesen ist. Im einzigen bekannten Brief Gretes an Georg kommt er als ihr »Freund« vor (HKA II, 774). Trakl hatte als Teilvormund dieser Ehe zugestimmt in der Hoffnung, dass damit die finanzielle Voraussetzung für die weitere musikalische Ausbildung Gretes gesichert sei. Die Vision einer gemeinsamen künstlerischen Zukunft als Pianistin bzw. Dichter war damit jetzt zerfallen. Das Bewusstsein der in seinen Augen dabei schuldhaften Rolle könnte ihn in ein tiefes Loch der Verzweiflung gestürzt haben. Andere Erklärungen sind denkbar, aber nicht wahrscheinlich. Trakl hat jedenfalls seine Schwester Grete nach dem Berliner Aufenthalt nicht mehr gesehen, auch wenn er den Kontakt nicht abbrechen lassen wollte. Die vorher intensive Beziehung zu K.B. Heinrich fand keine Fortsetzung. Die Rückkehr Trakls aus Berlin muss nach Röcks Darstellung dramatisch verlaufen sein (vgl. Szklenar, 232). Er wohnte zunächst wieder bei Ficker in Mühlau und beschäftigte sich vor allem mit dem nächsten Gedichtband Sebastian im Traum, den der Verleger am 6.4. angenommen hatte. Das Honorar von 400 Kronen milderte seine materielle Notlage zumindest etwas, denn er brauchte nach Angaben von Röck 200 Kronen monatlich allein für »Weintrinken und Rauchen«. Röck warf ihm deswegen »Menschenverachtung« vor, denn »wie viele Menschen leben mit diesem Geld ganz« (Röck o. J., II, 32). Trakl änderte noch die Gliederung, aus drei Zyklen wurden fünf, und fügte noch weitere Gedichte hinzu. Daneben arbeitete er an einem Fragment gebliebenen dramatischen Text und verschiedenen Fassungen von »Herbstliche Heimkehr«. Der Münchner Zeitschrift Phoebus stellte er das Gedicht »Nachtseele« zur Verfügung (Abb. 1.7). Im Juni und Juli korrigierte er die Bürstenabzüge des neuen Gedichtbandes, nahm noch Umstellungen vor und klärte Missverständnisse beim Setzen der Gedichte. Die Herstellung des

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Abb. 1.7  Brustbild aus dem Mai 1914; Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Nachlass Ludwig von Ficker.

Buches brauchte Zeit, im August war es noch nicht fertig. In den Osterfeiertagen 1914 lud ihn Ficker zu einem Besuch bei Carl Dallago in Nago bei Torbole am Gardasee ein, auch wenn sich Trakl und Dallago wenig zu sagen hatten. In der zweiten Maihälfte erkrankte Fickers Frau Cissi. Trakl übersiedelte auf die Hohenburg, was für sie sicher eine Erleichterung war, denn sie hatte schon mehrmals über Trakls »vieles Giftnehmen« geklagt (vgl. Szklenar 1966, 233) und auch darüber, dass der Dauergast oft bis abends im Bett blieb. Paula Schmid, die Verlobte Rudolf von Fickers und Hausherrin auf der Hohenburg, war über den Gast auch nicht gerade erfreut. Vermutlich deswegen teilte Trakl seiner Schwester Maria in Salzburg mit, dass er schon demnächst nach Hause kommen werde (DuB 565). Dass er an dieser Situation etwas ändern

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wollte, darauf deuten auch zwei Versuche hin, beruflich im Ausland unterzukommen: Anfang Juni bewarb er sich vergeblich (Abb. 1.8) beim Niederländischen Kolonialamt um eine Stelle im Sanitätsdienst der Kolonien (HKA II, 725 f.), zwei Wochen später versuchte er, ebenfalls vergeblich, als Militärapotheker in einer österreichischen Miliz für Albanien arbeiten zu können (HKA II, 837). Loos erhielt von ihm einen (verloren gegangenen) Bürstenabzug von Sebastian im Traum, wollte ihm eine weitere Fahrt nach Venedig bezahlen und munterte ihn hellsichtig auf: »Bleiben Sie der Welt gesund. Betrachten Sie sich als Gefäß des Heiligen Geistes, das niemand, auch nicht der Georg Trakl zerstören darf« (HKA II, 777). Mitte Juli erreichte Ficker ein Brief von Ludwig Wittgenstein jun. mit dem überraschenden Angebot, dass er aus seinem Erbe 100 000 Kronen für »unbemittelte österreichische Künstler« zur Verfügung stelle. Ficker möge sie nach seinem Gutdünken verteilen (vgl. Ficker 1986– 1996, I, 231 f.). Er bezog sich dabei auf anerkennende Bemerkungen von Karl Kraus über den Brenner. Neben der Zeitschrift Der Brenner sollten Trakl und Dallago je 20 000 Kronen erhalten. Wittgenstein nannte noch Rilke als Bedürftigen. Zu den von Ficker Bedachten gehörten noch Oskar Kokoschka, Else Lasker-Schüler, Adolf Loos und Theodor Däubler. Wittgenstein hat erst nach Trakls Tod Gedichte von ihm gelesen und war beeindruckt: »Ich verstehe sie nicht; aber ihr Ton beglückt mich. Es ist der Ton der wahrhaft genialen Menschen« (Ficker 1986–1996, II, 53). Ficker legte den Anteil Trakls auf das Konto einer Innsbrucker Bank und war ihm beim Verfassen eines Dankesbriefes behilflich (DuB 569). Trakl hatte aber Hemmungen, von dem Geld Gebrauch zu machen. Die am 25.7. in Innsbruck verlautbarte Teilmobilmachung dürfte für Trakl der Anlass zu einer Fahrt nach Salzburg gewesen sein, denn laut »Widmungskarte zur Dienstleistung im Kriegsfalle« musste er die Einberufung im »Domizile«

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Abb. 1.8  Abschlägiger Bescheid des Niederländischen Kolonialamts vom 18.6.1914; Forschungsinstitut BrennerArchiv, Nachlass Ludwig von Ficker.

abwarten (HKA II, 703) und seit dem Ende des Dienstes in der Garnisonsapotheke war er wieder in Salzburg gemeldet. Für die erste August-

woche hatte er die Rückkehr geplant (DuB 570). Die Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien am 28.7. machte solche Pläne hinfällig.

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Trakls Ende Die allgemeine Mobilisierung begann am 31.7. Aus diesem Anlass »präsentierte« sich Trakl bei seiner Innsbrucker Einheit am 5.8. »zur aktiven Dienstleistung« (Sauermann 1988b, 67); dabei erfuhr er seine vorgesehene Einheit (Feldspital Nr. 7/14) und den Einsatzort. Vom Feldausrüstungsbetrag von 300 Kronen konnte er sich zusätzliches Material für den Einsatz anschaffen, darunter vermutlich eine Pistole (Marke Browning) und einen Gummimantel. Die Wertschätzung der asketischen Seite des Soldatischen (im Gegensatz zur Welt der Geschäftemacher) mag ihm diesen Schritt ebenso erleichtert haben wie die Aussicht auf ein Ende seiner beruflichen und persönlichen Misere. Er hat die weit verbreitete Kriegs-Euphorie nicht geteilt, sich aber auch nicht dagegengestellt. Nach der Meldung ist er in Innsbruck geblieben und wartete auf den Einsatz. Wie sehr ihn die Kriegsereignisse beschäftigt haben, zeigt das im August entstandene Gedicht »Im Osten«. Röck wollte ihm wegen seiner »Russophilie« die Freundschaft kündigen, wurde wieder per »Sie« mit ihm, kam dann aber doch am 24.8. ins Cafe Max, um sich von ihm zu verabschieden, denn er hatte zufällig erfahren, dass Trakls Einsatz in Galizien bevorstand. Dieses Ziel mag für Trakl einen verheißungsvollen Klang gehabt haben, denn es gehörte seit seiner Jugendzeit zu seinen »russischen Phantasien«. Es war eine »zauberhaft erhellte, traumhaft stille Mondmitternacht« (Ficker 1967, 80), als Trakl den Viehwaggon eines Militärtransportes an die österreichisch-russische Front bestieg. Ficker hinterließ er einen Zettel mit den Worten: »Gefühl in den Augenblicken totenähnlichen Seins: Alle Menschen sind der Liebe wert. Erwachend fühlst du die Bitternis der Welt; darin ist alle deine ungelöste Schuld; dein Gedicht eine unvollkommene Sühne« (DuB 501). In Salzburg wurde kurz Halt gemacht. Ein Bruder teilte ihm irrtümlicherweise mit, dass Sebastian im Traum bereits erschienen sei. Trakl schrieb unterwegs mehrere Feldpostkarten, die meisten an Ficker, den »verehrten Freund«. Das

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Wissen um die Militärzensur beeinflusste aber manche Formulierungen. Um den 7.9. hatte Trakls Einheit Galizien erreicht (vgl. Lipinski 1981, 389–397). Lemberg war bereits von der russischen Armee erobert worden, ihr Vormarsch sollte aufgehalten werden. Zwischen dem 8. und 11.9. wurde das III. Corps mit Trakls Einheit bei Grodek in Position gebracht. Die Schlacht mit einem Stoßkeil der Brussilow-Armee begann. Dieser war dem österreichischen Gegner überlegen. Es entstand eine Paniksituation, in der Trakls Sanitätskolonne erstmals eingesetzt wurde. Wie er Ficker später erzählte, musste Trakl in einer Scheune nahe dem Hauptplatz des Ortes neunzig Schwerverwundete ohne ärztliche Assistenz zwei Tage lang betreuen. Noch Wochen später hatte er das »Stöhnen der Gepeinigten im Ohr und ihre Bitten, ihrer Qual eine Ende zu machen« (Erinnerung 1966, 200). Vor der Scheune hingen die leblosen Körper justifizierter Ruthenen: »Tief habe er sich den Anblick eingeprägt: der Menschheit ganzer Jammer, hier habe er einen angefaßt!«, meinte er Ficker gegenüber (Erinnerung 1966, 201). Der Rückzug Richtung Przemysl und Jaroslau verlief chaotisch. Die Kolonnen kamen auf den morastigen Straßen nur mühsam vorwärts. Zufällig traf Trakl mit dem Vater des Schriftstellers Franz Fühmann zusammen, der später seinem Sohn über seine Eindrücke von Trakl berichtet hat. Demnach habe sich Trakl während eines Abendessens erschießen wollen, Kameraden hätten ihm die Pistole aus der Hand genommen (vgl. Fühmann 1982, 17 f.). In Przemysl traf er einen Freund aus Schul-und Studienjahren, den leicht verletzten Sanitätsarzt Franz Schwab, in angeblich guter Stimmung. Bei einem mehrere Tage dauernden Aufenthalt in Limanowa schrieb er Postkarten an Ficker, Röck und Loos: »Ich war einige Tage recht krank, ich glaube vor unsäglicher Trauer« (DuB 572). Am 7.10. schickte man ihn zu seiner Überraschung in das Reservespital Nr. 1 nach Wadowice. Er vermutete zur Dienstleistung als Apotheker, aber schon am nächsten Tag wurde er »zur Beobachtung des Geisteszustandes ins

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Garnisonsspital Nr. 15 in Krakau transferiert« (HKA II, 729). Auf der Fahrt dorthin soll er einen Fluchtversuch unternommen haben. Möglicherweise wollte er sich an der Front als Infanterist einsetzen lassen, wie er es auch schon vorher versucht hatte. Im Krakauer Garnisonsspital wurde er in einem Zweibettzimmer des psychiatrischen Pavillons untergebracht. Die Behandlung beschränkte sich auf Beobachtung und Diät. Von verschiedenen Ärzten wurden Äußerungen Trakls zur Krankengeschichte festgehalten. Schon dem ersten fiel auf, dass er »in Zivil seinen Beruf nicht ausübt, sondern ›dichtet‹« (HKA II, 729). Da ihm eine solche Tätigkeit absonderlich schien, setzte er sie unter Anführungszeichen. Möglicherweise hatte Trakl Angst, wegen Feigheit vor dem Feind vor ein Kriegsgericht gestellt und hingerichtet zu werden. Einige als verrückt erscheinende Äußerungen hätten ihn vielleicht davor schützen sollen. Um den 12.10. schrieb er Ficker von seiner Lage und bat ihn um eine Nachricht (DuB 572). Auch Grete in Berlin informierte er und bat sie um einen Besuch; sie hatte aber für die Reise nicht genügend Geld, auch wenn ihr ein »gütiger Freund« die Fahrt bezahlt hätte (vgl. Ficker 1986–1996, II, 31 f.). Als er keine Antwort erhielt, schickte er ihr ein Telegramm, dass er sie »nicht mehr braucht« (ebd., 32). Er machte sich Hoffnungen auf eine baldige Entlassung, eine Angina ließ das aber nicht zu. Ficker hatte sich schon nach der ersten Mitteilung auf den Weg gemacht. In Wien traf er noch Karl Kraus, der ihm eine Postkarte an den von ihm geschätzten K.B. Heinrich mitgab; Trakl sollte sie unterschreiben. Am 24.10. traf er in Krakau ein und blieb bis zum Abend des nächsten Tages. In der Stadt herrschte Angst vor der den heranrückenden russischen Truppen. Über Eindrücke und Gespräche mit Trakl an den beiden Tagen hat Ficker einen Bericht geschrieben, der die wichtigste Quelle für die Ereignisse in den letzten Tagen von Trakl ist (vgl. Erinnerung 1966, 195–218). Er traf den Freund in einem hohen, schmalen Zimmer an, wo er zusammen mit seinem Burschen Mathias Roth aus Hallstatt und einem leicht erregbaren, an Delirium tremens leidenden Dragoner-Leutnant, der

H. Weichselbaum

keinen Burschen bei sich hatte, untergebracht war. Das Fenster war wie in einer Gefängniszelle vergittert. Trakl saß rauchend auf dem Bett und sprach mit dem Zimmerkollegen. Er teilte Ficker mit, dass er eigentlich nicht recht wisse, warum er noch im Spital sei. Auf einer (nicht abgeschickten) Postkarte hatte er ihm bereits seine Entlassung mitteilen wollen. Ficker vermutete, dass er von den Ärzten wegen des Gedichteschreibens zum Kapitel ›Genie und Wahnsinn‹ gerechnet und eine weitere Beobachtung deswegen für nötig gehalten werde. Bei einem Spaziergang im Spitalsgelände – Trakl trug einen Patientenkittel – berichtete Trakl von den Ereignissen in Grodek, seinem Selbstmordversuch und seiner Angst, deswegen vor ein Kriegsgericht gestellt zu werden. Ficker versuchte ihn zu beruhigen. Am nächsten Nachmittag meinte Trakl, dass er »im Feld […] blutwenig« geschrieben habe und las dem Besucher die Gedichte »Klage« (II) und »Grodek« vor, letzteres mit einem (nicht erhaltenen) um zwei bis drei Verse breiter angelegten Schluss (HKA II, 311). Beide Gedichte bot er Ficker für den Brenner an. Anschließend trug er aus einem Reclam-Bändchen mit Gedichten des Ficker unbekannten Barocklyrikers Johann Christian Günther die letzte Strophe des Gedichtes »An sein Vaterland« und das in seinen Augen »schönste und bedeutendste« lange Gedicht »Bußgedanken« vor, dessen letzter Vers lautet: »Oft ist ein guter Tod der beste Lebenslauf.« Er wies darauf hin, dass Günther mit 27 Jahren jung gestorben sei (vgl. Sauermann 1988a, 59). Auf die Frage Fickers, ob er noch immer Gifte besitze, erwiderte Trakl »fast aufgeräumt und gutmütig lächelnd«: »No freilich, als Apotheker, ich bitt’ Sie, […] wär’ ich denn sonst noch am Leben?« (Erinnerung 1966, 208). Erfahren durfte im Spital allerdings niemand davon. Ficker ließ sich vom diensthabenden Arzt die Zusage geben, dass Trakl bald zu einem Erholungsurlaub entlassen werde. Bei der Verabschiedung versicherte er dem Freund noch, dass er sich auf der Rückreise in Wien für seine Entlassung einsetzen werde und stellte ihm ein baldiges Wiedersehen in Innsbruck in Aussicht.

1  Zur Biographie Georg Trakls

Nach Fickers Abreise schrieb Trakl an den Kurt Wolff Verlag um die Zusendung eines Exemplars von Sebastian im Traum, Else LaskerSchüler informierte er über seine Lage und Ludwig Wittgenstein, der auf einem Weichsel-Schiff Dienst tat, bat er um einen Besuch. Alle diese Notsignale blieben ohne Echo oder die Empfänger reagierten zu spät. Aus den letzten beiden Briefen an Ludwig von Ficker vom 27.10. spricht tiefste Resignation: »Ich fühle mich fast schon jenseits der Welt« (DuB 574), schrieb er im ersten, in dem er seine Schwester Grete als Erbin angab; er wird daher auch als »Testamentsbrief« bezeichnet. Die Gedichte »Klage« (II) und »Grodek« legte er in der bekannten Fassung bei. Im zweiten schickte er eine letztgültige Fassung der Gedichte »Menschliches Elend« und »Traum des Bösen« aus dem Band Gedichte. In den Änderungen verstärkte er das Todesmotiv. Als weitere Besuche ausblieben und er die Hoffnung, wieder »ins Feld« und an die Front zu kommen, aufgegeben hatte, dürfte sich Trakl in die gefährliche Zone zwischen Leben und Tod begeben haben (vgl. Spoerri 1954, 35). Buschbeck gab später zu bedenken, »daß dieser Tod nicht geschehen wäre, wenn im richtigen Moment die richtigen Menschen bei ihm gewesen wären« (HKA II, 742). Sein Bursche Ma­thias Roth hat über den weiteren Ablauf später Ficker berichtet. Demnach hat ihm Trakl am Abend des 2.11. erzählt, dass sie beide am übernächsten Tag nach Innsbruck beurlaubt würden (HKA II, 740). Er erhielt noch den Auftrag, ihm am nächsten Morgen einen »Schwarzen«, also Kaffee, zu bringen. Dann legte sich Roth auf seinen Lagerplatz vor Trakls Bettende schlafen. In den nächsten Stunden hat Trakl wohl zu viel Kokain genommen, das er versteckt bei sich hatte. (Nicht ganz undenkbar ist, dass er sich wegen einer unregelmäßigen Einnahme in der Menge verschätzt hat.) Am nächsten Tag lag er bewusstlos im Bett, Roth durfte nicht mehr ins Zimmer; am Abend stellte er durch das Guckloch fest, dass Trakl noch atmete. Erst am nächsten Morgen sah er ihn, mit einem Leintuch bedeckt, liegen. Trakl war tot. Excitationsmittel hatten nicht geholfen. Als Zeitpunkt wurde der

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3.11., 9 Uhr abends, festgehalten (HKA II, 730). Ursache: Herzlähmung durch Kokainvergiftung (Abb. 1.9). Auf Roths Bitte hin wurde der Sarg noch geöffnet, er konnte Obduktionsschnitte an der linken Schläfe und an der Kehle erkennen. Am 5.11. wurde Trakls Leichnam um 10 Uhr vormittags auf dem Rakovitzer Friedhof in Krakau zusammen mit sechs anderen Särgen »ohne jede Zeremonie, ohne geistliche oder militärische Assistenz« beerdigt (Ficker 1986–1996, II, 47). Als erster erhielt Ficker am 8.11. die Todesnachricht von Wittgenstein, der Trakl besuchen wollte, aber zu spät kam (Ficker 1986–1996, II, 35). Ficker verständigte davon zunächst einige Freunde und Bekannte (u. a. Karl Kraus, Else Lasker-Schüler, Carl Dallago, Oskar Kokoschka); der Mutter Maria berichtete er ausführlich bei einem Besuch in Salzburg. Die Schwester Grete erfuhr davon durch Georg H. Meyer vom Kurt Wolff Verlag. Sie war bestürzt und wollte unbedingt, dass der Leichnam ihres Bruders nach Salzburg überführt wird; dafür war sie bereit, das restliche Honorar für Sebastian im Traum zur Verfügung zu stellen. Auch Else Lasker-Schüler wollte sich finanziell beteiligen. Wilhelm Trakl war der Meinung, dass wegen des Krieges eine rasche Überführung nicht möglich sein werde. Ficker schloss sich dem an und plante bereits eine zweite Bestattung auf dem Friedhof von Mühlau. Er konnte sich auf seinen Einsatz für Trakl und eine Widmung des Freundes auf einem Sonderdruck der Drei Gedichte berufen: »Dem Lande Tirol / das mir mehr als Heimat war« (DuB 502; zum Verlassenschaftverfahren vgl. Stockhammer 2014). 1922 rief er dann zu Spenden für Trakls Grab auf und brachte über das ›Schwarze Kreuz‹ eine Rückführungsaktion in Gang. Die zweite Beisetzung Trakls fand am 7.10.1925 in Mühlau bei Innsbruck statt. Die Brüder und Schwestern waren aus Salzburg gekommen, die Mutter war bereits schwer erkrankt und starb noch im selben Monat. Ein evangelischer Pastor nahm die Einsegnung vor und Ficker sprach einen »Abschiedsgruß«. 1926 wurde das Grab mit einem Sternenkreuz und einer Bronzetafel neugestaltet.

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H. Weichselbaum

Abb. 1.9  Todesanzeige des K.u.K. Garnisonsspitals Nr. 15 in Krakau vom 4.11.1914; Georg Trakl Forschungs- und Gedenkstätte Salzburg.

Grete Langen-Trakl erlebte dies nicht mehr. Nach dem Tod des Bruders hatte sie jeglichen Halt verloren. Ficker sah es als seine Pflicht an, sich um sie zu kümmern. Medizinische Behandlungen und ein Kuraufenthalt waren jedoch umsonst. Die Ehe wurde im März 1916 geschieden. Ficker und Buschbeck konnten im Jahr darauf die von ihr erbetene finanzielle Hilfe nicht leisten. Im Haus der expressionistischen Zeitschrift Der Sturm, wo sie in Untermiete wohnte, beendete sie mit einer Pistole am 21.9.1917 ihr Leben. Auf einem heute nicht mehr existierenden

Friedhof in Berlin-Schöneberg wurde sie in Anwesenheit ihres Bruders Wilhelm beigesetzt. Der Nachlass ist verschollen. Die anderen Geschwister Georgs starben alle eines natürlichen Todes, zuletzt Maria 1973. Das Familiengrab befindet sich auf dem Kommunalfriedhof in Salzburg. Alle Geschwister blieben kinderlos. Anmerkung: Diese Darstellung geht zurück auf Hans Weichselbaum: Georg Trakl. Eine Biographie. Salzburg 2014. (Noch detailliertere Nachweise dort.)

1  Zur Biographie Georg Trakls

Literatur Basil, Otto: Georg Trakl. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek b. Hamburg 1965. Bax, Marty: immer zu wenig liebe. Grete Trakl. Ihr feinster Kuppler. Ihre Familie. Amsterdam 2014. Bondy, Barbara: »Ein Kind wie wir anderen auch...« Unterhaltung mit dem Bruder Georg Trakls. In: Die neue Zeitung, Nr. 28 von 2.2.1952, 9. Buschbeck, Erhard: Brief an Anton Moritz von 12. Februar. 1910a. Handschriftensammlung der Wienbibliothek im Rathaus, H.I.N.242.111. Buschbeck, Erhard: Salzburgs Kultur aus Vergangenheit und Gegenwart. In: Der Merker, H. 20/21 von 25. Juli 1910b, 819–822. Buschbeck, Erhard: Georg Trakl. Berlin 1917. Doppler, Alfred: Die Lyrik Georg Trakls. Beiträge zur poetischen Verfahrensweise und zur Wirkungsgeschichte. Salzburg 2001. Erinnerung an Georg Trakl. Innsbruck 1926. Erinnerung an Georg Trakl. Zeugnisse und Briefe. Salzburg 31966. Ficker, Ludwig von: Brief an Erhard Buschbeck von 29.8.1938. (Kopie aus dem Nachlass von Frau Lotte Tobisch-Labotyn in der Georg-Trakl-Forschungs-und Gedenkstätte Salzburg.) Ficker, Ludwig von: Denkzettel und Danksagungen. Aufsätze und Reden. Hg. von Franz Seyr. München 1967. Ficker, Ludwig von: Briefwechsel. 4 Bde. Hg. von Ignaz Zangerle, Walter Methlagl, Franz Seyr und Anton Unterkircher. Innsbruck 1986–1996. Fischer, Friedrich Johann: Die Trakl-Handschriften im Salzburger Museum Carolino Augusteum. Salzburg 1959, 147–168. Fühmann, Franz: Der Sturz des Engels. Erfahrungen mit Dichtung. Hamburg 1982. Hanisch, Ernst/Fleischer, Ulrike: Im Schatten berühmter Zeiten. Salzburg in den Jahren Georg Trakls (1887– 1914). Salzburg 1986. Klettenhammer, Sieglinde: Georg Trakl in Zeitungen und Zeitschriften seiner Zeit. Kontext und Rezeption. Innsbruck 1990. Langen, Margarethe: Briefe 1891–1917. In: Hans Weichselbaum (Hg.): Androgynie und Inzest in der Literatur um 1900. Salzburg 2005, 208–231. Lipinski, Krysztof: Mutmaßungen über Georg Trakls Aufenthalt in Galizien. In: Walter Methlagl, Eberhard Sauermann, Sigurd Paul Scheichl (Hg.): Untersuchungen zum »Brenner«. Festschrift für Ignaz Zangerle zum 75. Geburtstag. Salzburg 1981, 389–397.

31 Moritz, Anton: Brief an die Editorische Arbeitsstelle des Seminars für deutsche Philologie der Universität Göttingen von 9.11.1962. (Kopie in der Georg-Trakl-Forschungs-und Gedenkstätte Salzburg.) Röck, Karl: Tagebuch 1891–1946. 3 Bände. Hg. von Christine Kofler. Salzburg 1976. Röck, Karl: Materialien zum Tagebuch, 8 Mappen. o. J. (Kopien in der Georg-Trakl-Forschungs-und Gedenkstätte Salzburg.) Salzburg. Ein literarisches Sammelwerk. Hg. von den jungen Mitgliedern der Literatur- und Kunstgesellschaft »Pan«. Salzburg 1913. Sauermann, Eberhard: Trakl-Lektüre aufgefunden. In: Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv 7 (1988), 58 f. ( = Sauermann 1988a) Sauermann, Eberhard: Unbekannte Dokumente zu Georg Trakl aufgefunden. In: Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv 7 (1988), 59–68. ( = Sauermann 1988b) Sauermann, Eberhard: Neues zu Trakls »Fata Morgana« und »Abhandlung über den 3. März«. In: Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv 10 (1991), 107–111. Schneditz, Wolfgang: Georg Trakl in Zeugnissen der Freunde. Salzburg 1951. Spoerri, Theodor: Georg Trakl. Strukturen in Persönlichkeit und Werk. Eine psychiatrisch-anthropographische Untersuchung. Bern 1954. Stark, Klaus: Die Krise Georg Trakls. Tübingen 1989. Stieg, Gerald: Der Brenner und die Fackel. Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte von Karl Kraus. Salzburg 1976. Stockhammer, Harald: A 367/14 Bezirksgericht Hall in Tirol – Das Verlassenschaftsverfahren nach Georg Trakl. In: Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv 33 (2014), 109–125. Szklenar, Hans: Beiträge zur Chronologie und Anordnung von Georg Trakls Gedichten auf Grund des Nachlasses von Karl Röck. In: Euphorion 60 (1966), 222–262. Ullmann, Ludwig: Heimat in der Fremde. Ein Buch der Erinnerung und der Gegenwart. (Abgeschlossen 1948 in New York). Manuskript in der Dokumentationsstelle für österreichische Literatur im Literaturhaus Wien. Weichselbaum, Hans: Georg Trakl. Eine Biographie. Salzburg 2014. Weichselbaum, Hans: Inzest bei Georg Trakl – ein biographischer Mythos. In: Hans Weichselbaum (Hg.): Androgynie und Inzest in der Literatur um 1900. Salzburg 2005, 43–59. Zwerschina, Hermann: Die Chronologie der Dichtungen Georg Trakls. Innsbruck 1990.

Teil II

Kontexte

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Trakls Land Paul Keckeis

»In Salzburg geboren, in Krakau gestorben – dazwischen liegt das alte Österreich. Einige in Wien und Innsbruck und Berlin kannten ihn. Wenige wissen, wer er war; wenige wissen um sein Werk: daß keiner in Österreich je schönere Verse schrieb als Georg Trakl« (Ehrenstein 1989–2004, V, 81). Albert Ehrensteins Nachruf, veröffentlicht am 17. November 1914 im Pester Lloyd, nimmt den Ausgang des Ersten Weltkriegs kurz nach dessen Beginn vorweg, indem er den Tod des Dichters ins Zeichen seiner Herkunft stellt: Trakls Land wird das alte Österreich gewesen sein. Gerade in der Frage des Stellenwerts der spezifischen sozialen und kulturellen Voraussetzungen für Trakls Werk ist die Rezeption allerdings geteilt; in manchen Interpretationen figuriert Trakl als Solitär, anderen gilt die habsburgische Atmosphäre des frühen 20. Jahrhunderts, das »Klima der österreichischen Dekadenz« (Magris 2013, 209), als konstitutives Element seiner Dichtung. Dabei wäre der Versuch, dieses alte Österreich vorrangig aus Trakls Leben und Werk zu rekonstruieren, ebenso unzulänglich wie jene Mysti-

P. Keckeis (*)  Institut für Germanistik, Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, Klagenfurt am Wörthersee, Österreich E-Mail: [email protected]

fikationen von Autorschaft, die solche Kontexte ignorieren. Selbst dort, wo seine Gedichte eindeutig identifizierbare Versatzstücke der Topographie enthalten, zumeist Salzburgs, sind sie einer so intensiven lyrischen Transformation unterworfen, dass eine Aneignung dieser Texte als sozialhistorische Quelle wenig aufschlussreich scheint. Auch in Briefen und anderen Zeugnissen finden sich wenige Hinweise auf eine besonders affirmative Einstellung Trakls zur Monarchie oder zu Österreich, von einzelnen anekdotischen Überlieferungen – zu seiner Ablehnung eines deutsch-österreichischen Nationalismus, seiner Infragestellung einer Hegemonie der deutschen Kultur (Rusch/Schmidt 1983, 89 ff.) und seiner Bevorzugung slawischer und ungarischer Musik und Literatur (HKA II, 518 f.) – sind kaum dezidiert politische und ideologische Positionen Trakls überliefert. Neben diesen empirischen Einschränkungen, die Trakls Land als genitivus subjectivus betreffen, steht die folgende Charakterisierung vor der Herausforderung, dass die Identität ihres Gegenstands immer schon prekär ist. Eine besondere Schwierigkeit der österreichischen Kulturgeschichte liegt darin beschlossen, dass sich das kollektive Identitätsbewusstsein meist dann artikuliert, wenn zugleich seine kulturelle und politische Grundlage in Frage steht: »Es gibt kein geschichtliches Gebilde in Europa, dessen Existenz so sehr mit den Identitätsproblemen seiner Mitglieder verbunden ist« (Heer 2001, 9).

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_2

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Trakl und der habsburgische Mythos Die Trakl-Biographik misst dem Österreichischen und Habsburgischen seit ihren Anfängen einen besonders hohen Stellenwert bei. Wiederkehrende Elemente sind dabei unter anderem: die familiäre Herkunft Trakls – der Vater stammt aus Sopron, die Mutter hat böhmische Vorfahren –, die auf »andere Räume des alten Österreich« (Weichselbaum 2014, 7) verweist; Marie Boring, die elsässische Gouvernante im Hause Trakl, die den protestantisch getauften Kindern eine durch ihren strengen Katholizismus angeleitete Erziehung angedeihen ließ und damit eine Sensibilität für die kulturelle Tragweite konfessioneller Prägungen gestiftet haben dürfte (vgl. Braungart 2016, 361–384); Salzburg, das emblematisch für die Gegenreformation und das Wiederaufleben barocker Kultur steht, durch dessen musealen Charakter sich zugleich aber eine »Ahnung des kommenden Zusammenbruchs« (Basil 1965, 32) an Trakl vermittelt habe; Wien – an dessen Kultur sich schon die jugendlichen Mitglieder der von Trakl mitinitiierten Salzburger Dichterrunde »Apollo« bzw. »Minerva« orientierten –, wo Trakl ab September 1908 die »von der Dekadenz geprägte Stimmung und Literatur in einem späten Zustand in sich aufnehmen« (Esselborn 2009, 23) konnte. Barock, Katholizismus und Verfall als die zentralen Elemente der ›katholisch-habsburgischen österreichischen Identität‹ (Ernst Bruckmüller) um 1900 werden schon in der Rezeption der Zwischenkriegszeit mit Trakl verknüpft. Für Herbert Cysarz, Nachfolger August Sauers auf dem germanistischen Lehrstuhl der Universität Prag, ist Trakl »geradezu der österreichische Rimbaud«. Anders als jene Autoren der Wiener Jahrhundertwende, Cysarz zufolge allesamt »bürgerliche Gemüter«, sei Trakl wie Rimbaud »zugleich berserkerlicher Urwaldmensch und nervöser Verfallsmensch« (Cysarz 1928, 350). Neben dem Hinweis auf jene Spannungen zwischen Metropole und Provinz, die in der späteren Forschung wiederholt thematisiert werden sollten, wird Trakl bereits hier durch das Prisma

P. Keckeis

des Verfalls charakterisiert. Auch Annemarie Schwarzenbachs 1931 bei Robert Faesi an der Universität Zürich eingereichte Prüfungsarbeit, die sich mit Trakl beschäftigt, veranschaulicht die frühen Kontinuitäten der Rezeption. An Cysarz orientiert attestiert Schwarzenbach Österreich eine »schwermütig dekadente Todesnähe«, die seit Metternich »in einem langsamen Stagnationsprozesse« zum »kennzeichnenden Wesen« (Schwarzenbach 2004, 61) des Landes geworden sei. Trakls Dichtung, so Schwarzenbach, sei Ausdruck einer »durch und durch österreichischen, schwermütigen, hofmannsthal’schen Todessehnsucht« (ebd., 77). Dieser Deutungstradition folgend portraitiert auch Claudio Magris in seiner kanonisch gewordenen Studie Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur (1963) Trakl als Repräsentant einer Literatur, die von der spezifisch »österreichischen Atmosphäre« einer »erstarrten Vergangenheit« (Magris 2013, 209) geprägt sei. Wie Hofmannsthal und Rilke sei auch Trakl ein »Erbe des barocken und gegenreformatorischen, erstarrten und kristallisierten Katholizismus«, die besondere Qualität seiner Dichtung bestehe allerdings darin, wie sie »die Äußerlichkeit des habsburgischen Katholizismus« sichtbar mache (ebd., 211). Während Hofmannsthals Mysterienspiele dieses Erbe verklärten, habe jenes »von Musik und italienischer Anmut gemilderte Salzburger Barock« bei Trakl – Magris exemplifiziert seine Lesart an der dritten Strophe des Else Lasker-Schüler zugeeigneten Gedichts »Abendland« (II) – »seine düsterste und dekadenteste Tönung« (ebd.) gefunden. Ähnlich wie Magris, der die Dominanz der Verfallsthematik als Vorahnung auf die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts deutet, verknüpft Otto Basil in seiner bis heute maßgeblichen Biographie Leben und Werk des Dichters mit dem Schicksal des Landes. Basil kritisiert eine Rezeption, »die den Dichter am liebsten mit dem Nimbus überirdischer Isolation« (Basil 1965, 32) ausstatte und argumentiert unter Hinweis auf dessen familiäre Herkunft, Trakls Dichtung seien jene »Disharmonien

2  Trakls Land

und kollektivseelischen Spannungen« (ebd., 27) eingeschrieben, die zum Ende des Vielvölkerstaats geführt hätten. Trakl sei Teil einer »apokalyptischen Generation«, Gedichte wie »Abendland« (II), »Abendländisches Lied« oder das Prosagedicht »Traum und Umnachtung« seien »individuelle[r] Ausdruck einer genau definierbaren, revolutionären Zeitsignatur« (ebd., 31). Basils Lesart repräsentiert die dominante Rezeptionslinie innerhalb der Trakl-Biographik, die der ästhetischen Komplexität der Texte mit ihrer starken Orientierung am habsburgischen Mythos, zugleich symptomatisch für die selektive Aneignung der habsburgisch-österreichischen Geschichte nach 1945, aber nur selten gerecht wird. Deutlich wird dieser schematische Zug auch in Franz Fühmanns, an Basil orientierter Monographie Vor Feuerschlünden. Erfahrung mit Georg Trakls Gedicht (1982). Fühmann, 1922 in Böhmen geboren und später Schüler im Kollegium Kalksburg bei Wien, kehrte aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft in die DDR zurück und beschäftigte sich, im offenen Konflikt mit der Kulturpolitik des Landes, intensiv mit Trakl. Aus Trakls Dichtung, die den »Untergang einer Welt, die sich unerschütterbar fühlt und im Glauben dieser Unerschütterbarkeit handelt, wiewohl schon ihre Grundmauern beben« (Fühmann 2000, 18), vorhersage, destilliert Fühmann ein »Modell des Untergehens«, das er nun auf seine eigene Situation in der DDR überträgt (vgl. Marquart 1995, 106–110). Das Konstrukt Österreich, das Fühmanns TraklAneignung zugrunde liegt, hält aber wiederum der historischen Komplexität dieses Gebildes nicht stand (vgl. Renoldner 1987). Die Verknüpfung zwischen dem Topos des Verfalls in den Gedichten und dem Untergang des alten Österreichs bildet eine stehende Assoziation der Trakl-Biographik. Ihr Zugang scheint insofern plausibel, als durchaus Belege dafür überliefert sind, dass Trakl jenes Zeitgefühl registriert, das seit Nietzsche mit dem Vokabular der Dekadenz charakterisiert wird. In einem Brief an den Schulfreund Anton Moritz versichert Trakl, dass es ihm, »die allgemeine Nervosität des Jahrhunderts abgerechnet« (ITA V.1, 135), gut gehe. Oft folgt die Forschung

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dieser Hypothese auch im interpretativen Zugriff auf einzelne Gedichte und deutet die verschiedenen wiederkehrenden Figurationen und Motive des Untergangs als »Chiffre eines Weltzustands« (Le Rider 2009, 112). Unter den Texten, die häufig in diesem Kontext einer überindividuellen Krise gelesen werden, sind »Helian« (»Erschütternd ist der Untergang des Geschlechts« [ITA II, 261, V. 39]), »Traum und Umnachtung« (»der Fluch des entarteten Geschlechts« [ITA IV.1, 73], das ›verfluchte‹ und ›entsetzte‹ Geschlecht) und »Abendland« (II), dem mit seiner Adressierung an die »sterbenden Völker!« (ITA IV.1, 255) der Status eines Schlüsselgedichts zugewiesen wird. Eine zentrale Einschränkung dieser Deutungsperspektive liegt allerdings darin, dass Trakls Gedichte kaum affirmative Bezüge zu den jeweils entsprechenden kollektiven Identitäten enthalten. So verzeichnet Heinz Wetzels Konkordanz zu den Dichtungen Georg Trakls zum Lemma »Heimat« insgesamt nur fünf Nennungen; ein hervorstechendes Merkmal der Lyrik Trakls ist Wetzel zufolge gerade die negative Präsenz von Heimat, etwa in Gestalt des »Heimatlosen« und der »Heimatlosigkeit« (vgl. Wetzel 1987). Besonders deutlich wird diese lyrische Infragestellung der Heimat als eines Refugiums der Geborgenheit in einer dem Untergang geweihten Welt in der dritten Strophe von »Abendland« (II), die dem mit Beginn der zweiten Strophe – »So leise sind die grünen Wälder / Unsrer Heimat« – eingeführten Motiv »Heimat« den Begriff des »Heimatlosen« (ITA IV.1, 255) entgegenstellt, der aber an derselben räumlichen Sphäre teilhat. Trakls Gedicht thematisiert so weniger einen Verlust von Heimat, sondern hebt stattdessen jene den Heimatdiskurs konstituierende Dichotomie zwischen Heimat und Fremde auf (vgl. Ender 2017, 506). Heimat, Geschlecht und Volk werden in Trakls Lyrik von ihren konkreten topographischen, ethnischen und kulturellen Bezügen abgelöst und in ein metaphysisches Register übersetzt, das keine genuine Zugehörigkeit zum habsburgischen Mythos hat. Allan Jannik, der Trakls Lyrik als »vorsätzliche Konfrontation mit der Habsburgischen Tradition« (Jannik 1989, 52) liest, hat in diesem Zusammenhang

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auch auf Trakls »Verbindung mit den heftigsten Gegnern des habsburgischen Mythos: Karl Kraus, Adolf Loos und Ludwig Wittgenstein« (Jannik 1989, 52) hingewiesen. Jannik bestimmt die Position Trakls gerade im Kontrast zu Carl Schorskes Charakterisierung der Wiener Kultur der Jahrhundertwende (vgl. Schorske 2017). In der Aneignung der Schreibweisen und des ästhetischen Repertoires der Avantgarde unternehme Trakl eine immanente Kritik des Ästhetizismus, seine Dichtung führe die Leere einer Dichtung vor, die von ihrer eigenen Schönheit okkupiert sei (vgl. Jannik 2001, 54; ähnlich Berger 1993, 282–297). Trakls Werk partizipiere demnach nur insofern am habsburgischen Mythos, als es dessen Destruktion vorantreibt.

Sozialhistorische und literatursoziologische Perspektiven Trakls Dichtung stellt eine besondere Herausforderung für eine sozialhistorisch orientierte literaturwissenschaftliche Rezeption dar, die dennoch einen interpretativen Zugriff auf die Texte sucht. Die wenigen überlieferten poetologischen Selbstkommentare deuten darauf, dass der konsequente Rückzug ins Poetische einen bewusst gesetzten Akt darstellt (vgl. Dolei 1985, 245). In jenem vielzitierten Brief an seine Schwester Hermine, in dem Trakl von seinen ersten Eindrücken Wiens berichtet, folgt auf eine Schilderung der Choc-Wirkung der Großstadt die programmatische Losung: »ich lausche, ganz beseeltes Ohr, wieder auf die Melodien, die in mir sind, und mein beschwingtes Auge träumt wieder seine Bilder, die schöner sind als alle Wirklichkeit! Ich bin bei mir, bin meine Welt! Meine ganze, schöne Welt, voll unendlichen Wohllauts!« (ITA V.1, 68). Adornos These zufolge, wonach das Gesellschaftliche der Lyrik darin bestehe, wie sie sich gegen das Gesellschaftliche immunisiere (vgl. Adorno 1998, XI, 52), müsste dann allerdings gerade dieser Prozess der Verinnerlichung und Vereinzelung, der das Soziale zur Voraussetzung hat, in den Mittelpunkt des Interesses rücken.

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Gebhard Rusch und Siegfried J. Schmidt haben in einer Untersuchung des Voraussetzungssystems von Trakl, d.  h. der »sozial vermittelten individuellen Handlungsmöglichkeiten« (Rusch/Schmidt 1983, 16), die ihm zur Verfügung standen, die empirische Grundlage eines solchen Projekts zu erarbeiten versucht. Als Intervention konzipiert, arbeiten Rusch und Schmidt den Hermetisierungstendenzen innerhalb der Trakl-Philologie entgegen (vgl. ebd., 242). Ihre leitende These, die an die Interpretationspraxis der Trakl-Biographik erinnert, lautet: »Trakl hat die Krise der bürgerlichen Gesellschaft im politischen, ökonomischen, sozialen und ästhetischen Bereich bis zum Ersten Weltkrieg primär als individuelle, subjektive Krise erlebt, ohne den Versuch zu unternehmen, deren ›objektive‹ soziale und politische Gründe zu analysieren« (ebd., 312). Anknüpfend an Rusch und Schmidt haben Ernst Hanisch und Ulrike Fleischer eine Gesellschaftsgeschichte Salzburgs zwischen 1887 und 1914 vorgelegt, die Trakls Biographie und sein soziales Umfeld als Ausgangspunkt bestimmt. Hanisch und Fleischer stellen die durch Schorskes Studie befestigte Dominanz Wiens in der Rezeption der österreichischen Kultur der Jahrhundertwende in Frage und relativieren dessen These, derzufolge nach dem »Zerfall der liberalen Einheit aus Wirtschaft, Politik und Kultur […] kein einheitliches ästhetisches Prinzip mehr möglich« gewesen sei (Hanisch/Fleischer 1986, 14 f.). Vielmehr habe hier, »bedingt durch die relative ökonomische und soziale Rückständigkeit« Salzburgs, das »bürgerlich-freiheitliche Syndrom« weiterhin die »Kraft« besessen, »die kulturelle Sphäre einzubinden« (ebd., 15). Trakls antibürgerliche Affekte repräsentierten somit nicht allein die Spannungen zwischen der Provinz Salzburgs und der Metropole Wiens, an der sich die Bohémiens der »Apollo« bzw. »Minerva« orientierten, sondern generierten sich auch aus Gegensätzen, die die Provinz strukturierten. Auf dieser Grundlage zeichnet die Studie nach, dass sich in Trakls Werk, das als Terrain diskursiver Verhandlungen in die sozialhistorische Analyse eingebunden werden soll,

2  Trakls Land

»zahlreiche Realitätspartikel« (ebd., 17) aus verschiedenen Sphären des gesellschaftlichen Lebens (Kirche, Militär, Jagd, Armut oder Prostitution) finden. So lesen Hanisch und Fleischer Trakls Salzburg-Gedicht »Die schöne Stadt« etwa als Beitrag zum kulturell und politisch gepflegten »Salzburg-Mythos« (ebd., 51), der dem rasanten Wachstum des Fremdenverkehrs um 1900 korrespondierte: »Zitternd flattern Glockenklänge, / Marschtakt hallt und Wacherufen. / Fremde lauschen auf den Stufen. / Hoch im Blau sind Orgelklänge« (ITA I, 405). Nach einer Zusammenstellung Hans Weichselbaums sind insgesamt neun SalzburgGedichte Trakls überliefert, die topographisch eindeutig identifizierbare Realitätspartikel enthalten: »Die schöne Stadt«, »St. Peters-Friedhof«, »Am Mönchsberg«, »Im Dunkel«, »Musik im Mirabell«, »Ein Winterabend«, »Vorstadt im Föhn«, »Die drei Teiche in Hellbrunn« und »Anif« (vgl. Weichselbaum 2014). Der literaturwissenschaftliche Ertrag einer Untersuchung, die diese Texte Trakls auf den sozialhistorischen Kontext ihrer Hervorbringung zurückbezieht, ohne die spezifischen Bedingungen des literarischen Feldes, die formalen Investitionen und ihre ästhetische Logik miteinzubeziehen, muss allerdings gering bleiben. Bezeichnend ist schon der Umstand, dass die meisten dieser SalzburgGedichte in Wien und Innsbruck, »weniger als Erinnerungen, denn als Vergegenwärtigungen« (Görner 2014, 89), entstanden sind. Zudem weist das formale Spektrum der Salzburg-Gedichte auf eine signifikante Entwicklung der poetischen Verfahren hin, im Zuge derer Trakl diese Realitätspartikel einer lyrischen Transformationen unterwirft. Die frühen Reimgedichte dokumentieren eine teils ironisch gebrochene Aneignung lyrischer Sprechweisen der Romantik. Die erste Strophe von »St.-PetersFriedhof« übersetzt den Topos der »Waldeinsamkeit« in die karge Friedhofslandschaft (vgl. Görner 2014, 97): »Ringsum ist Felseneinsamkeit. / Des Todes bleiche Blumen schauern / Auf Gräbern, die im Dunkel trauern – / Doch diese Trauer hat kein Leid« (ITA I, 240). Auch »Musik im Mirabell« partizipiert bereits an der Traklschen Ästhetik des Verfalls; die zweite

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Strophe lautet: »Der Ahnen Marmor ist ergraut. / Ein Vogelzug streift in die Weiten. / Ein Faun mit toten Augen schaut / Nach Schatten, die ins Dunkel gleiten« (ITA I, 249). Eine wichtige Unterscheidung innerhalb dieser Gruppe von Gedichten betrifft die verschiedenen Publikationskontexte. Während etwa »St. Peters-Friedhof«, das sehr konkrete topographische Bezüge enthält, 1909 erstmals im Salzburger Volksblatt publiziert wurde, weisen die späteren, im Brenner publizierten SalzburgGedichte eine Tendenz zu Abstraktion und deutlich höherer formaler Komplexität auf. Trakls Gedichte korrespondieren damit auch dem Profil der Zeitschrift, die von Karl Kraus als »einzige ehrliche Revue Österreichs« (Die Fackel 368 [1913], 32) bezeichnet wurde und ein Forum für Autoren war, die sich »von den vorherrschenden lokalen, jeweils monarchisch-klerikalen bzw. von präfaschistisch-antiklerikalen kulturellen Diskursmustern abzugrenzen« (Ender 2017, 502) versuchten. Für Trakl wird der Brenner zum Ort, an dem es ihm gelingt, sich »neue, metaphysische Räume zu erschließen und damit gleichzeitig jede topografischempirische Materialität […] hinter sich zu lassen« (ebd., 506). »Anif« und »Am Mönchsberg« sind jene beiden Gedichte, die diese ästhetische Entwicklung am eindrucksvollsten dokumentieren. Letzteres findet im titelgebenden Ortsnamen nur noch das Terrain für eine mythische Szene, die sich – zwischen Idylle und Katastrophe oszillierend – in der Verflechtung von christlicher Überlieferung und antiker, epischer Tradition, die in den Hexameter-Anklängen der Verse zwei, vier und sechs präsent gehalten wird, aufbaut. Jenseits der Identifikation topographischer oder anderer sozialhistorisch belastbarer Realitätspartikel wurde im Zuge der literatursoziologischen Perspektivierung wiederholt auf spezifische lokale und regionale, mithin soziale Voraussetzungen der lyrischen Produktion Trakls hingewiesen. So verfolgt Trakl schon zu Beginn seiner schriftstellerischen Laufbahn eine sehr kontextbewusste Publikationsstrategie. »Durch die ästhetische Verklärung von Stimmungen und von Örtlichkeiten […] schloß Trakl

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jedoch nicht nur an literarische Strömungen der Moderne an, er bot damit gleichzeitig dem liberalen Leserpublikum Salzburgs, das sich von Kunst und Literatur Erbauung und Pflege des Schönen erwartete, Identifikationsangebote« (Klettenhammer 1990, 257). Trakls Umzug nach Wien bildet nicht nur eine biographische Zäsur, sondern initiiert eine poetologische Neuausrichtung. Hatte er sich aus der Salzburger Distanz noch an den Schreibweisen des Ästhetizismus orientiert, werden in Wien nun die habituellen Abweichungen von den Autoren des Jung-Wien produktiv. Allein seine Herkunft aus dem kleinbürgerlichen Milieu der Provinz macht Trakl in der Metropole zu einem Außenseiter; folglich sucht er die Nähe zu jenen Protagonisten des Geisteslebens, Karl Kraus, Oskar Kokoschka oder Adolf Loos, die dem Ästhetizismus kritisch gegenüberstehen und lässt den poetologischen Katalog der Dekadenz hinter sich (vgl. Esselborn 2009). Werner Michler hat mit Blick auf Trakls Veröffentlichungen in der von Ludwig Ullmann, Erhard Buschbeck, Paul Stefan und Robert Müller herausgegebenen frühexpressionistischen Zeitschrift Der Ruf darauf hingewiesen, dass »Trakls Publikationskarriere […] ihren entscheidenden Schub […] in den noch etwas embryonalen Institutionen der österreichischen Avantgarde« (Michler 2016, 377) erhalten habe. Besonders aufschlussreich für den vorliegenden Zusammenhang scheint die Beobachtung, wonach eines der »entscheidenden Organisationsprinzipien der Traklschen Lyrik«, die »gegenstrebige Fügung von Blühen und Verwesen, Friedlichem und Bedrohlichem«, die Michler am Beispiel von Trakls »Trompeten« herausarbeitet, »auf die Publikationsperspektive im Ruf« (ebd., 381) zurückgehe (vgl. Doppler 2001, 106 f.). Während die Trakl-Biographik zu jener homogenisierenden Sicht auf die österreichische Literatur des Fin de siècle tendiert, die in Einklang mit dem habsburgischen Mythos steht – die Destruktion des Mythos ist nach dieser Lesart das besondere Kennzeichen der Dichtung Trakls –, zeigt die literatursoziologische Kontextualisierung, dass Trakl in den literarischen Institutionen seines Landes fest verankert ist; und dass

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er sie, wie im Fall der Zeitschriften Der Ruf und Der Brenner, durch seine lyrische Produktion mitprägt.

Literatur Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften in zwanzig Bänden. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 1998. Basil, Otto: Georg Trakl. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek b. Hamburg 1965. Berger, Christian-Paul: Georg Trakls Begegnung mit Ludwig Wittgenstein. Eine Kulturtheorie der österreichischen Moderne. Innsbruck 1993. Braungart, Wolfgang: Literatur und Religion in der Moderne. Studien. Paderborn 2016. Cysarz, Herbert: Von Schiller zu Nietzsche. Halle 1928. Dolei, Giuseppe: Zeit und Zeitlosigkeit in der österreichischen Lyrik zu Beginn unseres Jahrhunderts: Georg Trakl. In: Giuseppe Farese (Hg.): Akten des Internationalen Symposiums »Arthur Schnitzler und seine Zeit«. Bern et al. 1985, 244–254. Doppler, Alfred: Die Lyrik Georg Trakls. Beiträge zur poetischen Verfahrensweise und zur Wirkungsgeschichte. Salzburg/Wien 2001. Ehrenstein, Albert: Werke. Hg. von Hanni Mittelmann. München 1989-2004. Ender, Markus: Der »Himmel als Landschaft«. Bemerkungen zum Wandel literarischer und ikonischer Raumtopoi in der Innsbrucker Kulturzeitschrift Der Brenner. In: Markus Ender, Ingrid Fürhapter, Iris Kathan, Ulrich Leitner und Barbara Siller (Hg): Landschaftslektüren. Lesarten des Raums von Tirol bis in die Po-Ebene. Bielefeld 2017, 498–513. Esselborn, Hans: Transkulturelle Prozesse in der österreichischen Literatur des Fin de siècle am Beispiel von Jung-Wien und Georg Trakls Jugendgedichten In: Katarzyna Jastal, Agnieszka Palej (Hg.): Transkulturelle Perspektiven. Die deutschsprachige Literatur der Moderne in ihren Wechselwirkungen. Krakau 2009, S. 2009, 15–33. Fleischer, Ulrike, Hanisch, Ernst: Im Schatten berühmter Zeiten. Salzburg in den Jahren Georg Trakls, 1887– 1914. Salzburg 1986. Fühmann, Franz: Vor Feuerschlünden. Erfahrung mit Georg Trakls Gedicht. Rostock 2000. Görner, Rüdiger: Georg Trakl. Dichter im Jahrzehnt der Extreme. Wien 2014. Heer, Friedrich: Der Kampf um die österreichische Identität. Wien 2001. Jannik, Allan: Vienna 1900 Revisited. Paradigms and Problems. In: Steven Beller (Hg.): Rethinking Vienna 1900. New York 2001, 27–56. Jannik, Allan: Destruktion des habsburgischen Mythos bei Trakl. In: Fausto Cercignani (Hg.): Studia Trakliana. Mailand 1989, 51–62.

2  Trakls Land Klettenhammer, Sieglinde: Georg Trakl in Zeitungen und Zeitschriften seiner Zeit. Kontext und Rezeption. Innsbruck 1990. Le Rider, Jacques: Zur Intermedialität von Text und Bild bei Trakl. In: Károly Csúri (Hg.): Georg Trakl und die literarische Moderne. Tübingen 2009, 113–122. Magris, Claudio: Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur. Wien 2013. Marquart, Marion: Die Konzeption der österreichischen Literatur in der DDR-Germanistik. In: Wendelin Schmidt-Dengler/Johann Sonnleitner/Klaus Zeyringer (Hg.): Literaturgeschichte: Österreich. Prolegomena und Fallstudien. Berlin 1995, 100–114. Michler, Werner: Avantgarde, Krieg, Trompeten. Formund Gattungsstrategien bei Georg Trakl und im österreichischen Expressionismus. In: Uta Degner/Hans Weichselbaum/Norbert Christian Wolf (Hg.): Autorschaft und Poetik in Texten und Kontexten Georg Trakls. Salzburg/Wien 2016, 377–391.

41 Renoldner, Klemens: Ach Du Engel meines Vaterlandes! Die böhmische Kindheit – auf den Wegen durch Österreich. In: Horst Simon (Hg.): Zwischen Erzählen und Schweigen. Ein Buch des Erinnerns und Gedenkens. Franz Fühmann zum 65. Rostock 1987, 113–130. Rusch, Gebhard/Schmidt, Siegfried J.: Das Voraussetzungssystem Georg Trakls. Braunschweig/Wiesbaden 1983. Schorske, Carl E.: Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle. Mit einem Vorwort von Jacques Le Rider. Wien 2017. Schwarzenbach, Annemarie: Georg Trakl. Aus dem Nachlass herausgegebenen von Walter Fähnders und Andreas Tobler. Innsbruck 2004. Weichselbaum, Hans: Georg Trakl. Eine Biographie. Salzburg 2014. Wetzel, Heinz: Heimat in den Dichtungen Georg Trakls. In: Hans Weichselbaum (Hg.): Trakl-Forum 1987, 52–67.

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Trakls Netzwerke Markus Ender

Georg Trakl hat sich schon in früher Jugend als gesellschaftlicher Außenseiter stilisiert und dieses Image in gewisser Weise auch bis zu seinem Tod inszeniert und gepflegt. Trotz des sowohl auf Eigenwahrnehmung fußenden wie auch dem rebellischen Zeitgeist geschuldeten isolationistischen Impetus kam aber auch Trakl nicht umhin, institutionell und situativ mit unterschiedlichsten Akteuren umgeben und damit in verschiedenste soziale Interaktionen und Topographien eingebunden zu sein. Die Beziehungen blieben dabei nicht statisch, sondern erfuhren im Laufe des Dichterlebens Transformationen; allen ist gemein, dass sie ein semantisches Rhizom bildeten, das wechselseitig auf den Dichter einwirkte wie auch der Dichter darauf Einfluss übte. Neben den direkten Kontakten sind dabei insbesondere die indirekten Kontakte von Belang, die von den Akteuren des Netzwerks mit anderen Akteuren geknüpft werden, gepflogen über den Brief als Kommunikationsmittel. Für die Analyse von Personen-Netzwerken bieten sich Briefwechsel geradezu an, denn ihnen kommt, allein schon durch die Erwähnung von Personen, Orten und Begebenheiten, eine entscheidende Rolle bei der Herausbildung von

M. Ender (*)  Brenner-Archiv, Universität Innsbruck, Innsbruck, Österreich E-Mail: [email protected]

Netzwerken zu (vgl. Hildenbrandt/Kamzelak 2014, 176). Georg Trakls Netzwerk kann aufgrund der Quellenlage großteils nur mittelbar erschlossen werden, insbesondere aus Briefen und Mitteilungen des Dichters sowie aus dessen Umfeld. Die Majorität der biographischen Informationen stammt von Trakls Freund Erhard Buschbeck; dieser hat die Zusammenhänge in Briefen an Ludwig von Ficker dargelegt. Im persönlichen Austausch gab Buschbeck Ficker gegenüber auch interpersonelle Zusammenhänge preis und erklärte bestehende Verbindungen zu Schlüsselpersonen in Trakls Leben. Im Verbund mit dem 1926 veröffentlichten Gedenkband Erinnerung an Georg Trakl (Ficker 1926), in dem Ficker diese Informationen verdichtete und für die zukünftige Beschäftigung mit der Vita Trakls aufbereitete, begannen sich schon früh wesentliche Eckpunkte der Biographie und der persönlichen Beziehungen Trakls zu verdichten. Ein bestimmender Aspekt des Netzwerks ist in den Bemühungen des unmittelbaren Umfelds Trakls zu sehen, dem Dichter aufgrund seiner eigenen Passivität unterstützend zur Seite zu stehen. Dies betraf sowohl die Bestrebungen durch Freunde, Bekannte und Unterstützer, ihm eine Arbeitsstelle oder anderweitige Beschäftigung zu verschaffen, die die stets präsente ökonomische Not abfedern sollte, als auch die Fäden innerhalb des kulturellen Feldes auf eine Weise zu spinnen, dass er mit sei-

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_3

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ner K ­ unstproduktion Gehör finden konnte. Trakl selbst stand diesem System und seinen Regulativen mit relativer Distanz gegenüber; symptomatisch erscheint die von Arthur Rimbaud entlehnte Selbstbeschreibung als »armer Kaspar Hauser« (vgl. ITA V.1, 192). Die aufgrund seiner psychischen Disposition größtenteils selbstverschuldete isolationistische Position wurde aber auch seitens seines Umfelds instrumentalisiert, indem sie sukzessive mit der ästhetischen Programmatik der Traklschen Dichtung verwoben wurde. So insinuierte Karl Borromäus Heinrich im Brenner auf einer »seltsamen mönchischen Einsamkeit« (Heinrich 1913, 511) und »innerlich streng und durchgreifend vollzogenen Abgrenzung«, die der Dichter, »wo immer er sich befindet und selbst in Gesellschaft zahlreicher Menschen, stets mit sich trägt« (ebd., 511 f.). Trakls Selbststilisierung zum Mönch kulminierte in jenem Ölbildnis, das er Ende November 1913 in Max von Esterles Atelier geschaffen hatte und das bis heute ikonisch fortwirkt. Die Konstruktion der »Mönchin« als weiblichem Widerpart, die gerne auf die Schwester Margarete Langen-Trakl projiziert wird, fügt sich nahtlos in dieses Bild. Tatsächlich liegt in Trakls Außenseiterposition und in der teils akzidentiellen, teils intentionalen Abkehr von bürgerlichen Lebensmustern ein Moment der fortschreitenden Fokussierung begründet, dessen Telos in der ausschließlichen Konzentration sämtlicher Kräfte auf die Kunstproduktion hin mündet. Ähnlich schwer wie der Anschluss an Personen fiel Trakl auch der Bezug zu Örtlichkeiten. Grundsätzlich fühlte er sich nirgends gebunden, Städte wurden mit negativen Attributen assoziiert, wobei es unerheblich erschien, ob es sich um die Metropole Wien oder um Provinzstädte wie Salzburg oder Innsbruck handelte. Die Wiener waren für Trakl »ein Volk, das eine Unsumme, dummer, alberner, und auch gemeiner Eigenschaften hinter einer unangenehmen Bonhomie verbirgt« (ITA V.1, 76), wie er in einem Brief an seine Schwester Maria im Herbst 1908 bekannte. Im selben Schreiben äußerte er allerdings ein Gefühl der Sehnsucht nach Salzburg, einer »Stadt, die ich über alles liebe« (ITA V.1,

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73). Im Verbund mit der Widmung auf einem Sonderdruck von Sebastian im Traum, den er am 24. August 1914 vor der Abfahrt nach Galizien Ludwig von Ficker überreichte und wo Trakl vom »Lande Tirol, das mir mehr als Heimat war« (ITA V.2, 651) sprach, und den Beschreibungen Wiens, in das er trotz allen Ekels gerne zurückkehrte (»wo ich mir selbst gehören darf« [ITA V.1, 161]), wird evident, dass sich topographische Bindungen mit zunehmender Verdichtung des Netzwerks mit personellen überkreuzten und schließlich von Letzteren überprägt wurden.

Das Netzwerk zu Lebzeiten Salzburg Neben den frühen Bezugspersonen, namentlich der Gouvernante Marie Boring, die Trakl in gewisser Weise die wenig fürsorgliche Mutter ersetzte, und Vaterfiguren wie dem Klavierlehrer August Brunetti-Pisano, die den jungen Trakl insbesondere für das Kunstschaffen begeisterten, sowie Pfarrer Heinrich Aumüller, bei dem Trakl zwei Mal wöchentlich den protestantischen Religionsunterricht besuchte, sind die Jugendfreunde aus der Salzburger Gymnasialzeit erste relevante Knotenpunkte in Trakls Netzwerkgeflecht. Karl Minnich, Franz Schwab, Anton Moritz, Karl von Kalmár und insbesondere Erhard Buschbeck bildeten jenen engen Kreis, der bis zu Trakls Wechsel nach Wien ein fixer Bezugspunkt bleiben sollte und auf den immer wieder in der Korrespondenz referiert wird. Institutionalisiert wurden diese Beziehungen durch den Beitritt Trakls zu den Salzburger Literaturzirkeln »Apollo«, später »Minerva« (1904– 1906), sowie zum Umfeld der Kunstgesellschaft »Pan«, in dem er 1911 über Brunetti-Pisano den Bohémien Karl Hauer kennenlernte, der Trakl in seiner exaltierten Rolle eines Bürgerschrecks zum Vorbild wurde. Die berufliche Tätigkeit in der Engel-Apotheke bot nur geringes Potenzial zur Verzweigung des persönlichen Netzwerks, zumal Trakl sich nach Möglichkeit von jeglichem

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Kundenkontakt separierte und zu den Geschäftszeiten bevorzugt im Hinterzimmer aufhielt. Die Freizeitgestaltung im Zuge der »Minerva«Treffen brachte hingegen eine Erweiterung der Möglichkeiten mit sich. Zwar lag auf solchen Dichterzirkeln der wenig schmeichelhafte Ruch von »puerilen Provinzbohemiens« (Basil 1965, 86), und die Salzburger Vereinigung stellte keine Ausnahme dar. Die gegen ein bürgerliches Establishment gerichtete Aktivität derselben und deren Relevanz für die Entwicklung des Einzelgängers Trakl ist aber nicht von der Hand zu weisen. Aufgrund der widersprüchlichen Zuschreibungen von Trakls Zeitgenossen erscheint zwar fraglich, ob für ihn das Prinzip der Dichterzirkel galt, wonach »Individualisierung und Abkapselung gegenüber der Gesellschaft […] kompensiert [wird] durch eine Intensivierung der Verbindungen, die die Mitglieder der literarischen Gemeinschaft zueinander unterhalten« (John-Wendorf 2014). Dennoch bilden sich in den Gruppen bestimmte Konstellationen heraus, deren personale und inhaltliche Ausrichtungen und Fokussierungen evident sind. Über den Salzburger Dramatiker Gustav Streicher als »seinen ersten Förderer« (Weichselbaum 2014, 49) versuchte Trakl den Ausbruch aus der unmittelbaren Sphäre des insgesamt sieben Köpfe zählenden Dichterzirkels, die stets auch eine Einengung bedeutete, und erwartete sich damit den Einstieg in die überregionale Literatenszene, insbesondere jene Wiens (vgl. ebd., 50 f.). Die eminente, weit über Trakls Tod hinausreichender Bedeutung für die überregionale Verbreitung von Trakls Namen ist allerdings auf die freundschaftliche Beziehung zum Schriftsteller und nachmaligen Burgtheaterdirektor Erhard Buschbeck zurückzuführen. Diese Verbindung hatte seit den frühen Kindertagen Bestand und reichte auf persönlicher Ebene bis in den Sommer 1913, als es, begründet durch die Avancen, die Buschbeck Trakls Schwester Margarete gemacht hatte, zum Zerwürfnis kam. Von Buschbecks Eigenschaft, ein ebenso umtriebiger wie engagierter Netzwerker zu sein, profitierte Trakl in besonderem Maße, weil er dadurch seinen Bekanntheitsgrad steigern konnte und Busch-

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beck es zugleich verstand, Trakls Passivität in merkantilen und organisatorischen Belangen zu kompensieren. Exemplarisch für solche Prozesse steht, dass Buschbeck als Maßnahme zur breiteren öffentlichen Streuung von Trakls Namen schon früh den Rat gab, sich um Aufnahme in Kürschners Deutschen Literaturkalender zu bemühen (vgl. ITA V.1, 84). Augenscheinlich ist, dass sich Trakl im lokalen Salzburger Umfeld noch selbst um eine Form der ›Vermarktung‹ seiner Texte bemüht hat diese Agenden aber in Wien sukzessive an Buschbeck zu übertragen begann. Dass dem Dichter nach den zögerlichen und wenig fruchtbaren Versuchen in Salzburg jegliche Form offensiver Selbstvermarktung schwerfiel, wurde für Buschbeck schnell evident. Trakl griff auch deshalb auf dessen Vermittlung zurück, da er bei sich eine Indifferenz in kaufmännischen Dingen feststellen musste; trotz gegenläufiger Beteuerungen, er werde »sicherlich nicht versäumen«, diesen Vorschlägen »demnächst Folge zu leisten« (ITA V.1, 89), agierte er jedoch gegenteilig und verfügte am 6. Juni 1909 explizit: »Habe die Güte [das Gedicht] an irgend eine Zeitung zu schicken – da ich selbst mich ja doch nie dazu aufraffen werde« (ITA V.1, 83). Auf dieselbe Weise funktionierte die Vermittlung an Persönlichkeiten aus dem Kunstund Kulturleben. Buschbeck unternahm eine »Verwendung« bei Hermann Bahr (ITA V.1, 99), über die Kontakte Ludwig von Fickers konnte Trakl den Austausch mit dem Architekten Adolf Loos und dem Publizisten Karl Kraus intensivieren. Laut Buschbeck lag Trakl der Umgang mit Intellektuellen, abgesehen vom engsten Freundeskreis, nicht: »Mit Literaten oder irgendwelchen Geistesmenschen verkehrte er niemals. Minnich, Schwab und ich waren damals sein einziger Umgang« (ITA VI, 18). Diese Einschätzung bedarf einer Korrektur, denn dass Trakl keinen Zugang zum gesellschaftlichen und künstlerischen Leben fand, galt bestenfalls für die erste Zeit am neuen Ort. In Wien wurde Trakl über Buschbeck tatsächlich mit einer Reihe von Literaten bekannt, darunter Albert Ehrenstein, Arthur Ernst Rutra oder Rudolf

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Kassner. Intensiveren Austausch gab es freilich nur bei wenigen ausgesuchten Persönlichkeiten, darunter insbesondere Karl Kraus, dem Trakl erstmals im August 1912 im Hause Ludwig von Fickers persönlich begegnete.

Wien Trakls persönliches Netzwerk, das sich aus dem engeren Kreis von Bezugspersonen aus der Schulzeit zusammensetzte, blieb trotz der Ortswechsel weitgehend stabil. Der Freundeskreis, bestehend aus Minnich, Schwab, Kalmár und Buschbeck, stellte auch in Trakls Studienzeit in Wien eine fixe Bezugsgröße dar, auf die er sich stets bezog, wenngleich sich der Zusammenhalt auch mit der Zeit zu lockern begann. Gleichzeitig bewirkten vor allem die Ortswechsel, die mit den beruflichen Orientierungsversuchen einhergingen, auch jene Verschiebungen, die das Netzwerk verbreiterten und ausdifferenzierten. Trakl unternahm auch in Wien wenig bis keine Anstrengungen, bereits bestehende Bekanntschaften weiter zu vertiefen oder gar neue zu knüpfen. Stattdessen wandte er sich immer wieder bewusst von einem sozialen Austausch ab, um im selben Atemzug das Fehlen eines solchen sowohl zu bemängeln als auch einen solchen einzufordern, womit er sich in eine unauflösliche Dichotomie begab. Mitte Juli 1910 bekannte er gegenüber Buschbeck: »Ich bin ganz allein in Wien. Vertrage es auch!« Im selben Brief folgt die inhaltlich konträre Passage: »Grüße Minnich recht sehr. Mein Gott ich wäre so froh, wenn er jetzt nur einen Abend hier wäre« (ITA V.1, 119). In diese Polarität fügt sich, dass Trakl Buschbeck gegenüber expressis verbis beklagte, im Grunde ein »sinnlos zerrissenes Leben« (ITA V.1, 132) zu führen. Eine Konstante blieb die Verbindung mit Margarete, die, zur Missbilligung der Familie, insbesondere in ihrer Studienzeit in Wien engen Kontakt zu ihrem Bruder hielt. Während Karl von Kalmár dem Dichter immer wieder Obdach anbot, wurde Erhard Buschbeck aufgrund seiner sozialen und kommunikativen Fähigkeiten auch in Wien zu einer

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zentralen Knotenfigur in Trakls Netzwerk, die sein künstlerisches Schaffen unterstützend begleitete. Nach der Immatrikulation im Wintersemester 1908 an der Universität Wien zum Studium der Pharmazie fand sich Trakl über die Vermittlung Buschbecks im Dunstkreis des im selben Jahr gegründeten »Akademischen Verbandes für Literatur und Musik« wieder, der sich kontinuierlich zu einem Forum der künstlerischen Avantgarde Wiens (Klettenhammer 1990, 92 ff.) entwickelte. Buschbeck war 1911– 1912 der literarische Leiter des Akademischen Verbandes und 1912–1913 dessen Obmann. Trotz der Bemühungen der Freunde hatte Trakl zum Akademischen Verband aber nur wenig Bezug, eine fixe Mitgliedschaft ist fraglich (vgl. Rusch/Schmidt 1983, 73), allenfalls besuchte er Veranstaltungen des Verbandes (vgl. Klettenhammer 1990, 90). Buschbeck reflektierte seine Rolle als Vermittlerfigur, indem er Trakls Verhältnis zum Akademischen Verband als ein »durch mich versuchtes gelegentliches Zusammenkommen mit den paar Menschen, die wir damals oder besser: später und früher diesen A. Verband machten« (Buschbeck an Ficker, 23.10.1925), bezeichnete. Buschbecks Engagement verdankte Trakl einige Vermittlungsversuche in literarischen Blättern; neben Hermann Bahr und dessen Neuen Wiener Journal war es vor allem Karl Kraus mit der Fackel, der nachhaltigen Eindruck auf Trakl machte. Kraus’ Verhältnis zu Trakl bestand im Wesentlichen in Form einer ideellen Stütze, die einerseits durch das im Brenner veröffentlichte Gedicht »Psalm« (I) mit der Widmung an Karl Kraus, andererseits durch diese Widmung wiederum Trakl verdankenden Aphorismus Kraus’ von den »Siebenmonatskinder[n]« in der Fackel illustriert wird, in dem er von jenen »Vollkommenen, die fertig wurden, als es zu spät war« (Kraus 1912, 24) spricht. Auch mit dem Architekten Adolf Loos, der mit Karl Kraus wie mit Ludwig von Ficker bekannt war, verband Trakl eine tiefe Wertschätzung. Die biographischen Zeugnisse illustrieren, dass sich Loos sukzessive als einer der wichtigsten Knotenpunkte in Trakls Wiener Netzwerk herauskristallisierte, was nicht zuletzt

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im Umstand seinen Niederschlag fand, dass ihm Trakl ein vollständiges Korrekturexemplar von Sebastian im Traum zukommen ließ, das heute verschollen ist (vgl. DuB 586). Kraus hätte das Buch von Loos gezeigt bekommen sollen, einen Korrekturabzug wagte Trakl nicht zu übersenden (vgl. ebd.). In diesem Sinne muss Trakls Zuschreibung vom »herrlichen Loos-Luzifer« (ITA V.2, 559) gelesen werden; sie ist nicht pejorativ gemeint, sondern steht ebenso allegorisch wie konkret für einen Lichtbringer, der Trakl in mancher Hinsicht Führung in der Dunkelheit seiner Existenz bedeutete. Bei der Vermittlung des Kontakts zu Kraus und Loos fungierten Karl Hauer (vgl. Basil 1965, 111) und Ludwig von Ficker als Vermittler. Kraus und Loos stellen Ausnahmen im generell rein passiv gestalteten Schema der persönlichen Beziehungen Trakls dar; bei Kraus und Loos manifestiert sich neben einer grundsätzlichen distanzierten Scheu eine Form der aktiven Kontaktnahme, die freilich wieder von Ambivalenzen geprägt war. Wenn der Austausch nicht über Dritte gespielt wurde, erstreckte sich die Referenz zumeist auf persönliche Widmungen von Gedichten. Das zwischen Nähe und Distanz changierende Naturell Trakls trug einmal mehr sein Übriges zur Komplexität persönlicher Beziehungen innerhalb des Netzwerks bei, da sich Verhältnisse schnell ändern konnten. In dieses Schema fügt sich die Aussage Trakls vom Juli 1910, er habe an Kraus geschrieben, »ganz unpersönlich und kalt – werde von ihm wohl nichts zu erwarten haben« (ITA V.1, 132).

Innsbruck Ein weiterer Wendepunkt trat mit dem Ortswechsel im April 1912 ein, als Trakl in der Apotheke des Garnisonsspitals in Innsbruck als Medikamentenakzessist den Probedienst aufnahm. Die ersten Wochen seines Aufenthalts empfand Trakl ähnlich trostlos wie vier Jahre zuvor in Wien; für den Dichter zeigte sich kein Licht am Horizont in der »brutalsten und gemeinsten Stadt […], die auf dieser beladenen u. verfluchten Welt existiert« (ITA V.1, 192).

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Ohne eine entsprechende moralische Stütze, wie sie Buschbeck gewesen war, verlor sich Trakl in Folge erneut in Selbstzweifeln und isolationistischer Strukturlosigkeit, allein schon was alltägliche Verrichtungen anbelangte. Die Kanten zwischen den Knotenpunkten Wien und Innsbruck und deren Akteuren sind evident, ebenso wie deren Überschneidungen. Der TraklBiograph Otto Basil hat diesen Zusammenhang prägnant mit »Wien und Innsbruck« betitelt (vgl. Basil 1965, 85 ff.). Die Einbindung Trakls in militärische Strukturen trug weder 1910–1911 in Wien noch ab 1912 in Innsbruck dazu bei, dass hinsichtlich der äußeren Lebensführung ein Umdenken stattfand. Die Vermittlung Trakls an Ludwig von Ficker und seine Kulturzeitschrift Der Brenner offenbart die Arbeitsweise des Wiener Netzwerks; viele Prozesse wurden von außenstehenden Akteuren angestoßen und geschahen weitgehend ohne Zutun Trakls, wobei auch der regionale Kulturraum überschritten wurde. Die für Ficker wie für Trakl folgenreiche Aktion wurde von Buschbeck über die Person Robert Müller initiiert, ebenso wie Buschbeck ein führendes Mitglied des »Akademischen Verbandes für Literatur und Musik« und Autor der expressionistischen Zeitschrift Der Ruf. Nicht zuletzt um die Beziehungen zwischen Wien und Innsbruck zu vertiefen, hatte Robert Müller auf Bestreben Buschbecks im April 1912 Gedichte Trakls, darunter »Vorstadt im Föhn«, nach Innsbruck gesandt, und Ficker druckte den Text im Brenner ab. Buschbeck wies Trakl daraufhin brieflich aus Wien an, bei Ficker vorstellig zu werden und sich auf Müller, zum Zeitpunkt auch ein Mitarbeiter des Brenner, zu berufen, ohne diesen persönlich zu kennen. Da die Aktion glückte, wurde Trakl unmittelbar nach dem ersten Treffen mit Ficker in den Kreis der Brenner-Mitarbeiter aufgenommen, wodurch sich sein potentieller Aktionsradius automatisch ausweitete. Die Verbindung zum Wiener Akademischen Verband blieb zwar noch bis 1913 aufrecht, Trakl trat in Innsbruck mit dem von Ludwig von Ficker geschaffenen Brenner-Umfeld jedoch in einen künstlerisch-intellektuellen Raum ein,

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der weder ideologisch noch personell von fixen Grenzziehungen bestimmt war. Vielmehr waren es die »einander widersprechenden Positionen, die Kontroversen über politische und ästhetische Einstellungen oder auch Verpflichtungen« (Holzner 2016, 359), die das Innsbrucker Netzwerk auszeichneten. Diese Offenheit, gepaart mit der Unterstützung Fickers, die diesen bis an die Grenzen des Erträglichen führte, ermöglichte eine stärkere Konzentration auf die künstlerische Produktion. Ficker profitierte ebenso von der Mitarbeit Trakls wie umgekehrt; der Brenner, der inhaltlich-konzeptionell an einem Punkt angelangt war, an dem die grundsätzliche Ausrichtung der Zeitschrift fragwürdig wurde, wurde hinfort neu fokussiert und ganz auf Trakls Kunstproduktion ausgerichtet. Trakl erhielt nicht nur in jeder Brenner-Nummer Raum für seine Gedichte, sondern wurde auch im brieflichen Netzwerk Fickers bekannt gemacht. Das Zusammenspiel dieser Faktoren – Mäzenatentum, persönlicher Umkreis und der Dichter selbst – bewirkte eine Transformation des künstlerischen Ausdrucks, die »eine unmittelbare Folge von Trakls immer stärker werdender Bindung an den ›Brenner‹« darstellt (Doppler 1979, 252). Im wechselseitigen Austausch mit den unterschiedlichen Charakteren, unter anderem mit Carl Dallago als weiterem »Anti-Netzwerker«, der als »Landschaftsmensch« die selbstgewählte Isolation und Zivilisationsferne der städtischen Betriebsamkeit vorzog, und insbesondere im Konflikt mit diesen Positionen vollzog sich bei Trakl die Reifung hin zu tiefgründigem Künstlertum und damit zu einer transzendierenden Sprachform, die die Grenzen der symbolistischen Wirklichkeitsbeschreibung sprengte. Trakls Kunst hielt die disparaten BrennerBeiträge auf eine Weise zusammen, die unter anderen Vorzeichen nicht möglich gewesen wäre; er wurde so selbst zu einem zentralen Knoten in Fickers Netzwerk. Karl Röck war von Trakl fasziniert, ihm zufolge habe sich dieses Prinzip auch auf die Person des Dichters übertragen; so formulierte er: »Trakl hält magisch mystisch die unzusammengehörigsten scheinbar heterogensten Elemente zusammen: in den Gedichten

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die einzelnen Momente, im Leben die Menschen, den ›Brenner‹kreis…« (Szklenar 1966, 229). Die Einschätzung Röcks mag übertrieben erscheinen; was für Trakls Zeit in Innsbruck allerdings gilt, ist, dass er in ein Netzwerk eintrat, das durch die persönlichen und vor allem brieflichen Beziehungen Ludwig von Fickers bereits in den 1910er Jahren weit verzweigt war. Einen wesentlichen Teil der Netzwerkarbeit nahmen auch in Innsbruck die Bemühungen unterschiedlichster Akteure ein, dem Dichter Bekanntheit zu verschaffen und den Absatz der Publikationen anzukurbeln. Zudem begannen die Netzwerke ineinanderzugreifen. Im Winter 1912 nutzte Buschbeck den Leserkreis um den Brenner, indem er Ficker überzeugen konnte, in der Zeitschrift eine Anzeige für die Gedichte zu schalten und eine Postkarte mit einem Subskriptionsaufruf beizulegen (vgl. Buschbeck an Ficker, 24.10.1912). Die Konzentration auf die Kunstproduktion resultierte auch aus dem Umstand, dass Trakl wegen seiner andauernden Beeinträchtigung durch Drogen und Alkohol zu keiner regulären Erwerbsarbeit mehr imstande war. Adolf Loos bemühte sich ohne Erfolg in Wien um eine Beschäftigungsmöglichkeit für Trakl, Franz Zeis suchte auf Gesuch Buschbecks eine Unterkunft und intervenierte im Arbeitsministerium. Im sog. »Verzweiflungsbrief«, datiert auf Ende März 1914, bat Trakl darum, Ficker möge brieflich bei Robert Michel anfragen, ob es möglich sei, sich für ihn beim Kriegsministerium zu verwenden (vgl. ITA V.2, 583 f.); Michel kam dieser Bitte tatsächlich nach. Und selbst Karl Borromäus Heinrich fügte sich, obwohl seinerseits durch Drogensucht und seine psychische Disposition beeinträchtigt, in die Netzwerkarbeit und schrieb Aufsätze und Besprechungen, die Trakl wiederum an Ficker weiterreichte oder für die Heinrich den Versuch unternahm, sie in größeren Zeitungen unterzubringen (vgl. ITA V.2, 427). Die Spende Ludwig Wittgensteins, aus der Ficker im Sommer 1914 Trakl mit 20.000 Kronen bedachte, hätte diese Probleme zumindest temporär gelöst und die potenziellen Möglichkeiten erweitern können. Trakl fand aber keine Möglichkeit mehr, diese ökonomische Chance für seine Kunst produktiv zu nutzen.

3  Trakls Netzwerke

Trakl war sich seiner negativen Disposition durchaus bewusst, vermochte aber keinen Ausweg aus dem Dilemma zu erkennen. So bekannte er gegenüber Ficker im November 1913 aus Wien: »Ich habe hier wohl hilfsbereite Menschen getroffen; aber mir will es erscheinen, jene können mir nicht helfen und es wird alles im Dunklen enden« (ITA V.2, 522). Die Negativität dieser Aussagen Trakls konterkarierte in gewissem Sinne die Bestrebungen, die sein tirolisches Netzwerk seit Herbst 1912 (in gemeinschaftlicher Kraftanstrengung mit den Wiener Netzwerkknoten) zur Verbreitung von Trakls Namen unternommen hatte (vgl. Basil 1965, 117). Fickers Beziehungen trugen zudem dazu bei, dass dem geistig Heimatlosen auf einer physischen Ebene Aufnahme und Obdach gewährt wurde. Dass dies angesichts der Geldnöte, des angeschlagenen Gesundheitszustandes und des fortdauernden Drogenkonsums alles andere als friktionsfrei vonstatten gehen konnte, bezeugt der Unmut von Paula von Ficker, der Frau von Ludwigs Bruder Rudolf. Trakl war zu Jahresbeginn sowie im Spätfrühling 1913 auf der Hohenburg in Igls, einem im Besitz der Familie Ficker befindlichen Ansitz, untergekommen. Paula von Ficker war von den antisozialen Verhaltensmustern Trakls und der daraus resultierenden angespannten Situation zunehmend brüskiert, zeigte sich ebenso wie Fickers Ehefrau Cissi vom »vielen Giftnehmen« (Szklenar 1966, 233; ITA VI, 231) Trakls entsetzt und bekundete gegenüber Ludwig von Ficker explizit ihre Ablehnung. Die Widmungen Trakls auf den Sonderdrucken von »Hohenburg« für Rudolf und Paula von Ficker bezeugen ein Gefühl des Nicht-Integriertseins. In dieser Zeit wurde immer deutlicher jene »Interdependenz zwischen Trakls krisenhafter, von Jugend auf gefährdeter Existenz und seiner Poesie« (Kemper 1984, 315) manifest, bei der körperlicher Verfall und künstlerische Produktivität einander wechselseitig bedingten. Im Zusammenhang mit dem Beziehungskomplex zur Schwester wird evident, dass Netzwerke hinsichtlich allfälliger Beziehungen Trakls zu anderen Frauen kaum wahrnehmbar sind. Es existieren keine Hinweise darauf, dass Trakl in

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konventioneller Weise Frauenbeziehungen gepflogen hat oder dass auch nur das Bedürfnis zu solchen existierte. Die wenigen Kontakte, die nachweisbar sind, erstrecken sich, mit Ausnahme der Mutter, der Gouvernante und der Geschwister, in den meisten Fällen auf briefliche Mitteilungen, und jene Frauen, die im Briefwechsel Erwähnung finden oder als Adressatinnen auftauchen – Irene Amtmann, Hermine von Rauterberg, Cissi von Ficker – und in besonderer Exposition die Schwester Margarete LangenTrakl – fungieren zumeist als Empfängerinnen der Traklschen Ich-Botschaften. Siegfried Mandel bestimmt die Rolle Irene Amtmanns sogar als »catalyst for his [=Trakls] self-observations« (Mandel 1983, 87). Einzig die jüdische Literatin Else Lasker-Schüler als Knoten in Trakls Netzwerk gelesen werden: Über ihre Person fand Trakl im Frühjahr 1914 kurzfristig Zugang zur Kunstszene Berlins; der Umstand, dass LaskerSchüler ihrerseits als Außenseiterin deklassiert und zum Zeitpunkt bereits vom Sturm-Herausgeber Herwarth Walden geschieden war, sowie Trakls eigener labiler psychischer Zustand verhinderten aber eine Vertiefung dieser über den Rand der Innsbrucker Einflusssphäre reichenden Netzwerkbeziehung. Ähnlich wie Trakl empfand sie sich als eine Art gesellschaftlicher Außenseiter, im Gegensatz zu Trakl trug sie dieses Außenseitertum aber auch expressiv nach außen. Abgesehen von dieser Ausnahme, die nicht zuletzt aufgrund des offenen zur Schau getragenen Antisemitismus von Margarete Langen-Trakl Episode blieb, bewegte sich Trakl nahezu ausschließlich in einem männerbündlerischen Beziehungsgeflecht, das sich durch relative Persistenz auszeichnete. Insofern hat sich die Forschung zum ephemeren Phänomen »Frauen um Trakl« (Orendi-Hinze 1981) bis auf wenige Ausnahmen bedeckt gehalten.

Grodek Die Bande des Innsbrucker Netzwerkes reichten nur mehr kurzfristig über die Landesgrenzen hinaus. Als Trakl im September 1914 am galizischen Kriegsschauplatz eintraf und ­ westlich

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von Lemberg in Limanowa seinen Dienst als Medikamentenakzessist antrat, war er guter Dinge; der Aufbruch in den Krieg wurde von ihm, entgegen der negativen Symbolik, die er in seinen Texten einflocht, zunächst als positiv empfunden. Die Konfrontation mit der realen Frontsituation bewirkte aber spätestens nach der Schlacht bei Grodek bei Trakl den Zusammenbruch, der in einen Suizidversuch mündete. Mehrere Personen aus Fickers Umfeld versuchten, physischen Kontakt mit Trakl aufzunehmen, als er im Militärspital lag. Gelungen ist dies einzig Ficker selbst, der am 24./25. Oktober 1914 Trakl im Garnisonsspital in Krakau einen letzten Besuch abstatten konnte. Die Kriegssituation und die damit verbundenen Einschränkungen bei der Postbeförderung hatten dazu geführt, dass das briefliche Netzwerk zumindest temporär versagte, sodass »kein einziger der Freundesgrüße Trakl im Felde erreicht hatte« (ITA VI, 237), aber auch Trakls eigene Briefe, in denen er um Besuch bat, verlorengegangen waren. Das prominenteste Beispiel stellt Ludwig Wittgenstein dar, der als Marineleutnant in Krakau stationiert war und der brieflichen Bitte Trakls entsprechen wollte, ihn am Krankenlager aufzusuchen (vgl. ITA V.2, 682). Durch eine Manöverteilnahme war Wittgenstein dies erst am 7. November möglich, wo er bereits vom Ableben des Dichters erfahren musste. Wittgenstein war es auch, der Ludwig von Ficker am 9. November 1914 mit einer Feldpostkarte als erster von Trakls Tod verständigte.

sem Zusammenhang noch annähernd elf Jahre nach dem Tod Trakls beschäftigen sollte, war die Überführung der sterblichen Überreste des Dichters vom Friedhof Krakau-Rakowice nach Mühlau bei Innsbruck. Ficker, selbst in umtriebiger Weise damit beschäftigt, seine Kontakte in dieser Sache zu mobilisieren, wandte sich neben anderen Persönlichkeiten aus Kunst und Kultur unter anderem auch an das Wiener Netzwerk um Kraus, Loos und Buschbeck mit der Bitte, in dessen Bekanntenkreis Spenden für die Grabstätte auf dem Mühlauer Friedhof zu lukrieren. Dass Trakls Grabstätte ausgerechnet in Mühlau und damit in Sichtweite von Fickers Wohnstätte liegt, ist kein Zufall und weniger einer direkten Einflussnahme des Dichters als vor allem dem Willen und der Umsetzungskraft Fickers zu verdanken. Von Trakl selbst sind keine Aussagen überliefert, dass er eine letzte Ruhestätte in Tiroler Erde vorgezogen hätte; Margarete Langen-Trakl sprach sich sogar im Winter 1914 für eine Überführung der sterblichen Überreste des Bruders nach Salzburg aus. Die im Februar 1913 formulierte Wendung vom Brenner als »Heimat und Zuflucht im Kreis einer edlen Menschlichkeit« (ITA V.1, 327) liefert hier einen entscheidenden Hinweis, dass sich im Innsbrucker Netzwerk, abseits jeglicher nationaler Zuschreibung, auf einer ideellen Ebene ein symbolischer Kulminationspunkt formieren konnte, in dem sich sämtliche für Trakl relevanten Aspekte seines Netzwerks verdichteten.

Posthume Netzwerke

Literatur

Mit dem Tod Trakls am 3. November 1914 endete seine irdische Existenz. Sein Netzwerk verging jedoch nicht, sondern bestand weiter und erlebte posthume Transformationen, deren Folgen bis heute nachwirken. Vorangetrieben wurden diese Prozesse insbesondere durch die kontinuierliche Netzwerkarbeit Ludwig von Fickers, über die er vor allem die diskursive Deutungshoheit über die Figur Trakl und dessen Werk zu behalten trachtete. Das sichtbare Zeichen einer Agenda, die Ficker in die-

Basil, Otto: Georg Trakl. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek b. Hamburg 1965. Buschbeck, Erhard: Brief an Ludwig von Ficker, 23.10.1925. In: FIBA, Nachlass Ficker, Sign. 041– 005–004–002. Detsch, Richard: Die Beziehungen zwischen Karl Borromäus Heinrich und Georg Trakl. In: Modern Austrian Literature 16 (1983), 83–104. Doppler, Alfred: »Der Brenner« als Kontext zur Lyrik Georg Trakls. In: Kurt Bartsch/Dietmar Goltschnigg/ Gerhard Melzer/Wolfgang Heinz Schober (Hg.): Die andere Welt. Aspekte der österreichischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Festschrift für Hell-

3  Trakls Netzwerke muth Himmel zum 60. Geburtstag. Bern/München 1979, 249–259. Heinrich, Karl Borromäus: Briefe aus der Abgeschiedenheit II (Die Erscheinung Georg Trakls). In: Der Brenner 3 (1912/13), 508–516. Hildenbrandt, Vera/Kamzelak, Roland: »Im Exil erweitert sich die Welt«. Neue Zugangswege zu Korrespondenzen durch Visualisierung. In: Editio 28 (2014), 175–192. Holzner, Johann: Reflexionen über die Rolle des Dichters im Innsbrucker Umfeld Georg Trakls. In: Uta Degner/Hans Weichselbaum/Norbert Christian Wolf (Hg.): Autorschaft und Poetik in Texten und Kontexten Georg Trakls. Salzburg/Wien 2016, 357–375. John-Wendorf, Carolin: Der öffentliche Autor. Über die Selbstinszenierung von Schriftstellern. Bielefeld 2014. Kemper, Hans-Georg: Nachwort. In: Georg Trakl. Werke Entwürfe - Briefe.. Hg. von Hans-Georg Kemper und Frank Rainer Max. Stuttgart 1984, 269–320. Klettenhammer, Sieglinde: Georg Trakl in Zeitungen und Zeitschriften seiner Zeit. Kontext und Rezeption. Innsbruck 1990.

51 Kraus, Karl: Nachts. In: Die Fackel 14 (1912), Nr. 360– 362 vom 7.11.1912, 1–25. Mandel, Siegfried: Seconds before Eternity. In: Frank Graziano: Georg Trakl. A Profile. Durango 1983, 87– 117. Orendi-Hinze, Diana: Frauen um Trakl. In: Walter Methlagl/Eberhard Sauermann/Sigurd Paul Scheichl (Hg.): Untersuchungen zum »Brenner«. Festschrift für Ignaz Zangerle zum 75. Geburtstag. Salzburg 1981, 381–388. Röck, Karl: Tagebuch 1891–1946. Hg. u. erläutert von Christine Kofler. 3 Bde. Innsbruck 1975. Rusch, Gebhard/Schmidt, Siegfried J.: Das Voraussetzungssystem Georg Trakls. Braunschweig/Wiesbaden 1983. Szklenar, Hans: Beiträge zur Chronologie und Anordnung von Georg Trakls Gedichten auf Grund des Nachlasses von Karl Röck. In: Euphorion 60 (1966), 222–262. Weichselbaum, Hans: Georg Trakl. Eine Biographie. Salzburg 2014.

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Trakls Pharmazie Barry Murnane

Als Apotheker-Schriftsteller steht Georg Trakl in einer kleinen, aber beachtlichen Ahnenreihe neben Autoren wie John Keats, Theodor Fontane oder Henrik Ibsen. Verglichen mit seinen Vorgängern ist Trakls Verhältnis zur Pharmazie jedoch nur selten untersucht worden – vermutlich, weil es angesichts der vermeintlichen Unverständlichkeit und symbolischen Dichte seiner Texte nur schwer rekonstruierbar ist (vgl. Baßler 1999; dagegen Klessinger 2007). Die literarische Durchlässigkeit etwa der Gedichte Keats’, die laufend auf dessen als apothecary erworbene medizinische und pharmazeutische Kenntnisse referieren, findet sich bei Trakl nirgends. Auch die Apothekergestalten, Medikamente und das botanische Wissen, mit denen Fontanes Werk aufwartet, oder die pharmazeutische Typologie Ibsens, von dem Fontane behauptet, dass er wie »ein kleiner Apotheker« schreibe, »der abwartet und dribbelt und auf der Lauer liegt« (Fontane 1969–1997, IV/3, 726), sucht man hier vergeblich. Wenn überhaupt von Trakls unsteter Karriere als Apotheker die Rede ist, dann meist in Verbindung mit dem

B. Murnane (*)  Faculty of Medieval and Modern Languages, University of Oxford, Oxford, UK E-Mail: [email protected]

Gebrauch von Rauschmitteln wie Chloroform, Opiaten oder Kokain (vgl. z. B. Kemper 2014, 108 f.). Der Niederschlag von eigenen Drogenerfahrungen oder gar von pharmakologischem Wissen über narkotisierende (Neben-)Wirkungen von Medikamenten in Trakls lyrischer Produktion ist jedoch umstritten. Während Kemper vehement für thematische (Nennungen von bestimmten Stoffen wie Mohn), mediale (flüchtige und desorganisierte Schreibpraktiken) und formale (Traumdichtungen) Homologien zwischen Trakls Rauscherfahrungen und seinen Gedichten argumentiert (vgl. ebd., 30–36 und 41–45), sieht Millington gerade in den multiplen Arbeitsschritten und in der semantischen Komplexität seiner Bildwelt einen zu hohen Grad an bewusstem Gestaltungswillen, um die Gedichte als Produkte tatsächlicher Rauscherfahrungen gelten zu lassen (vgl. Millington 2012, 41 f.). Kempers Vorschlag, »nach einer poetisch inszenierten Intoxikation« zu fragen (Kemper 2014, 29), bietet einen Mittelweg, lässt die Frage nach Trakls professionellem pharmakologischem Wissen jedoch unberücksichtigt. Dennoch: Ob als Lehrling und späterer Angestellter bei Hinterhuber in Salzburg, als Pharmaziestudent in Wien oder als Militärapotheker in Wien, Innsbruck und schließlich an der Ostfront im Ersten Weltkrieg – Trakl konnte Erfahrung in fast allen pharmazeutischen Berufszweigen seiner Zeit vorweisen. Von Trakls pharmazeutischem Brotberuf handelt der folgende Beitrag.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_4

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Pharmazieausbildung und Pharmazieberuf zu Trakls Zeit Als Trakl 1905 die von ihm kaum geliebte Apothekerlaufbahn einschlug, hatte der Beruf einen langwierigen Rationalisierungsprozess hinter sich, der meist unter dem Begriff ›Professionalisierung‹ zusammengefasst wird. Hierzu zählten die staatliche Lenkung und gesetzliche Regulierung der Ausbildung, eine verstärkte Hinwendung zu naturwissenschaftlichen Methoden sowie spätestens ab Mitte des 19. Jahrhunderts eine zunehmende Industrialisierung der Arzneimittelproduktion, sodass das Berufsbild und die Berufspraxis des Lehrlings und späteren Magisters der Pharmazie Trakl kaum mit denen der Apotheker-Schriftsteller aus der vorigen Generation wie des von Trakl geschätzten Ibsen vergleichbar gewesen sein mögen. Angesichts seiner in Briefen belegten Erfahrungen mit Rauschmitteln warnt Görner vor Spekulationen darüber, »[w]as sich in Hinterhubers Hinterzimmern oder dem katakombenartigen Keller mit dem Medikamentenlager alles zugetragen haben mag« (Görner 2014, 53), aber zumindest beruflich müsste die Antwort lauten: vermutlich nicht sehr viel. Die Entstehung einer chemischen Industrie in Europa hatte die Erzeugung pharmazeutischer Präparate weitestgehend aus dem Apothekerlaboratorium verdrängt. Mussten seine pharmazeutischen Vorfahren noch selbst Rohstoffe vorbereiten und zu Medikamenten verarbeiten, so berichtet Trakl, dass es »nur etwa zwei Dutzend Spezialarzneimittel [gibt], die der Apotheker kennen musste« (Weichselbaum 1994, 52). Sowohl in Salzburg als auch in seiner Zeit als Militärapotheker in Wien und Innsbruck werden Trakls pharmazeutische Tätigkeiten darin bestanden haben, fertige Arzneiprodukte auf ihre Qualität hin zu überprüfen, zu ›defektieren‹ (d. h. Waren aus den Vorratsbehältern in die Standgefäße umzufüllen), individuell zu verpacken, im Handverkauf auszuhändigen sowie schließlich Aufklärungsgespräche mit den Kunden zu führen. Trakl hatte sicherlich Zugang zu Medikamenten wie Barbituraten, Opiaten oder Chloroform, die auch als Rauschmittel eingesetzt werden können, doch war es kaum nötig,

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Apotheker zu werden, um an solche Medikamente heranzukommen, waren Präparate wie Laudanum oder Pillen mit Codein oder Kokain leicht bei Einzelhändlern wie den sog. ›Drogisten‹ zu erwerben. Das Berufsbild des Apothekers um 1905 war weitaus langweiliger, ja beinahe kaufmännischer als das des verruchten Giftmischers, als welcher der Apotheker noch bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts galt. Davon zeugt auch die Pharmazeutenausbildung. Um die sog. ›Tirozinalprüfung‹ zu bestehen und die praktische Lehrzeit abzuschließen, mussten ›Tironen‹ genannte Apothekerlehrlinge wie Trakl folgende Anforderungen erfüllen: »1. Kenntnisse der Rohwaaren, d.i. Benennung bei einheimischen Pflanzen Abstammung nach den botanischen Namen […]; 2. Kenntnisse der einheimischen in der Pharmakopöe angeführten Pflanzen und Kennzeichen der Familie; 3. Beschreibung der Darstellung und Erklärung des dabei stattfindenden chemischen Vorganges nur für jene Präparate, die nach der Pharmakopoe im pharmaceutischen Laboratorio darzustellen sind; dafür aber etwas gründlicher, namentlich mit Berücksichtigung der Technik. […] Schließlich sollte die Rezeptierkunst abgeprüft werden« (Jandous 1873, 381). Hierfür standen unterschiedliche Lehrbücher und Wissensmedien zur Verfügung: Zum einen die Pharmacopoea Austriaca, die seit 1869 für Nicht-Lateiner wie Trakl eine deutsche Übersetzung enthielt, dazu auch Hilfswerke wie etwa die Kommentare von August Vogl und Franz Schneider (vgl. Kernbauer 1989, 341 f.), Richard Godeffroys Compendium der Pharmacie (1880) sowie Oskar Schlickums Die wissenschaftliche Ausbildung des Apotheker-Lehrlings […] (1877). Die Schriftgattung des Manuals war seit der Frühen Neuzeit ein Basiswerk in der Ausbildung und gestaltete sich formal wie inhaltlich als Sammlung von Rezepturen und Arbeitsvorschriften, mit denen der Lehrling die Herstellungsschritte selbst notieren und als Einleitung benutzen konnte (vgl. Friedrich 2011). Dieses Wissen hatte aufgrund der Industrialisierung der Arzneiherstellung – nicht zuletzt ermöglicht durch die fortschreitende chemische und pharmakognostische Grundlagenforschung

4  Trakls Pharmazie

an den Universitäten, die zur Identifizierung, Präparierung und schließlich zum Synthetisieren von genauen Wirkstoffen in der Form von Alkaloiden (paradigmatisch seien hier nur Sertürners Entdeckung von Morphin aus Opium oder Pelletier und Caventous’ Extraktion von Chinin aus Cinchona-Rinde genannt, vgl. hierzu Hickel 2008, 343–364 und 397–404) geführt hatte – jedoch so gut wie nichts mit dem Alltag des angehenden und qualifizierten Apothekers zu tun. Dieser beschränkte sich – wie oben bereits erwähnt – darauf, einige wenige Spezialprodukte wie Salben oder Pastillen selbst herzustellen (vgl. Kernbauer 1989, 189–194), Fertigprodukte zu verpacken und Kundengespräche zu führen. Wir wissen von Trakls Jugendfreund Erhard Buschbeck, dass Trakl die Arbeit als ›Rezeptuarius‹ in Hinterhubers Apotheke nur schwer ertragen konnte und sich nicht zuletzt durch seine Kontaktscheu kaum dazu eignete (vgl. Weichselbaum 1994, 96). Dieser Eintönigkeit des alltäglichen Dienstes stand eine gesteigerte wissenschaftliche Komplexität des Fachs gegenüber, die auch mit einer notwendigen Reform der pharmazeutischen Ausbildung zusammenhängt. Konnte Theodor Fontane sich das nötige chemische, botanische, und medizinische Wissen zur Approbation noch im Selbststudium in den dienstfreien Stunden als Lehrling aneignen, so war bereits zur Mitte des 19. Jahrhunderts das Universitätsstudium verpflichtend, denn an die Stelle der chemisch-technischen Herstellungspraxis durch den Apotheker selbst war seine Verantwortung für die Qualitätsüberprüfung der nun industriell angefertigten und eingekauften Arzneistoffe getreten. Dies erforderte einen hohen Grad theoretischen Wissens, da der Apotheker nun alle Methoden der analytischen Chemie (die Analyse auf nassem und trockenem Weg, die Maßund die Spektralanalyse, vgl. Kernbauer 1989, 5) beherrschen sowie über erweiterte Kenntnisse in den gerade selbstständig gewordenen Teildisziplinen der Pharmakognosie (d. h. der Beschäftigung mit pflanzlichen und tierischen Arzneistoffen) und der Pharmakologie (d. h. der Wirkungsmechanismen im Körper) verfügen musste. Ein Vorfall in einer Wiener Apotheke im

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Jahr 1882, als ein Blutreinigungstee Vergiftungserscheinungen bei Kunden auslöste, verdeutlicht diese neuen Erfordernisse: Nach der gesetzlich verordneten Revision sämtlicher Materialwarenhandlungen und Apotheken wurde in keiner der 64 Apotheken Wiens ein qualitativ einwandfreies Präparat angefunden und in 12 war der Tee sogar mit giftiger Belladonnawurzel (also schwarzer Tollkirsche) verunreinigt (vgl. ebd., 260). Ein Endresultat dieses Skandals war eine durchgehende Reform der Studienordnung für Pharmazie in Österreich bzw. Zisleithanien, die 1889 in Kraft trat und nach deren Vorgaben Trakl noch studierte. Nun musste jeder Magister der Pharmazie elementare Kenntnisse der Physik, allgemeiner Chemie und allgemeiner Botanik im ersten Studienjahr durch ein Rigorosum belegen, sowie im zweiten Jahr vertiefte Kenntnisse nachweisen in der pharmazeutischen, organischen und anorganischen Chemie einschließlich der Analyse, in der Botanik sowie in der Pharmakognosie einschließlich mikroskopischer Übungen.

Trakls Pharmaziestudium Aus Trakls Korrespondenz und Nachlass erfahren wir nur wenig über die Studieninhalte und die allgemeine Studiensituation für angehende Pharmazeuten um 1910. Trakls – übrigens achtenswerte – Zeugnisse aus den Vorprüfungen, Rigorosen und Magisterexamen geben Auskunft darüber, welche Studienfächer in welcher Reihenfolge belegt werden mussten, beginnend mit den Grundlagen der Physik, Botanik und Chemie, dann ergänzt um theoretisches und praktisches Wissen der Pharmakognosie und pharmazeutischen Chemie im zweiten Jahr. Außer Weichselbaums Angaben aus der Prüfungsordnung für das Magisterexamen, derzufolge Trakl in Pharmakognosie Pflanzenteile bestimmen, präparieren und mit Hilfe des Mikroskops auf Qualität hin überprüfen und in pharmazeutischer Chemie ein Präparat auf Identität und Qualität nach den Vorschriften der Pharmakopöe bestimmen musste (vgl. Weichselbaum 1994, 87), ist schwer rekonstruierbar, über

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welches Wissen genau Trakl verfügte. Rusch und Schmidt haben jedoch die Vorlesungsverzeichnisse und das ›Rationale‹ für Pharmazeuten an der Wiener Universität in den Jahren 1910– 1912 rekonstruiert (vgl. Rusch/Schmidt 1983, 57–59 und 62–64), sodass wir wissen, bei wem Trakl studiert hat – und das waren namhafte österreichische Wissenschaftler dieser Zeit, vor allem die für Botanik und Pharmakognosie zuständigen Professoren Richard Wettstein, Julius Wiesner und Joseph Möller, aber auch der Chemiker Josef Herzig. Richard Wettsteins Handbuch der Systematischen Botanik (1901– 1908) führte eine der frühesten auf phylogenetischer Basis strukturierten Darstellungen der Pflanzen ein, sodass wir schließen können, dass Trakl durch Wettsteins Vorlesungen auf der Höhe des botanischen Wissens seiner Zeit gewesen ist. Aus Julius Wiesners wegweisendem zweibändigem Lehrbuch Die Rohstoffe des Pflanzenreiches (1900/1903) lässt sich ableiten, dass Trakl in der Anatomie und Physiologie der Pflanzen detailliert unterrichtet worden ist, einschließlich der Lebensdauer, des Laubfalls, der Symbiose, Anpassungserscheinungen (Morphologie) und Schutzmittel der Pflanzen. Im Fach Pharmakognosie war Joseph Möller – der Trakls theoretische und praktische Abschlussprüfungen abnahm – der führende österreichische Wissenschaftler seiner Zeit und 1908 aus Graz zum Leiter des Pharmakognostischen Instituts in Wien berufen worden. Sein Lehrbuch der Pharmakognosie (1889) argumentiert für die sorgfältige mikroskopische Untersuchung der Drogen (worunter pflanzliche Arzneien und nicht Rauschmittel zu verstehen sind) und bespricht diese hinsichtlich ihrer morphologischen Beschaffenheit und ihrer chemischen Bestandteile mit besonderem Augenmerk auf deren jeweilige medizinische Verwendung. Hier wird Trakl detaillierte Informationen zur mikroskopischen Beschaffenheit von z. B. Blättern, Blüten, Früchten, Samen, Kräutern, Rinden (auf welchem Gebiet Möller besonders qualifiziert war) sowie Stoffen ohne organische Struktur wie Zuckerarten, Gummiarten, Milchsäften (etwa Opium) oder ätherischen Ölen erhalten haben. Josef Herzig wiederum hatte bei bedeutenden

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Chemikern wie August Wilhelm von Hofmann in Berlin und Robert Bunsen in Heidelberg studiert und war vor allem für seine Forschungen auf dem Gebiet der organischen Chemie bekannt. Hervorgetan hatte er sich besonders mit der Entdeckung der chemischen Strukturen von Flavonoiden wie Quercetin und Rhamnetin sowie mit der Untersuchung von Pflanzenfarbstoffen (vgl. Pollak 1925). Herzig hat Trakls Magisterprüfungen in der praktischen und theoretischen Chemie mit den Noten ausgezeichnet und genügend bewertet; angesichts seiner Spezialisierung auf Pflanzenstoffe wird man vermuten können, dass Trakl vor allem in diesem Bereich der organischen Chemie besonders gut unterrichtet war. Was die allgemeine Situation von Pharmaziestudenten betrifft, so weisen alle Biographen darauf hin, dass Trakl als Magister der Pharmazie in den Genuss sozialer Privilegien wie etwa des einjährigen Militärdiensts, der zum Offiziersrang führte, kam; von wirklicher Gleichstellung mit Medizin- oder Jurastudenten wie seinem Freund Buschbeck kann dennoch nicht die Rede sein. Die Befreiung vom dreijährigen Militärdienst war an strikte Kriterien gebunden wie etwa den Abschluss von sechs Gymnasialklassen und den rechtzeitigen Abschluss der Ausbildung. Im Gegensatz zu anderen akademischen Berufen durften Apotheker ihren Truppenkörper nicht freiwillig aussuchen und fanden meist nur als Laboranten in den Militärapotheken Verwendung, weil nur die wenigsten im stellungspflichtigen Alter bereits ›diplomiert‹ waren, also die Tirozinalprüfung nach drei Jahren Lehrzeit absolviert haben konnten (vgl. Kernbauer 1989, 182 f.). Aus diesem Grund hat Trakl wohl seine Prüfung von September auf Februar 1908 vorverlegt (Weichselbaum 1994, 68.). An der Universität waren Apothekervertreter seit Mitte des 19. Jahrhunderts wiederholt daran gescheitert, die Pharmazie als ordentliches Studienfach durchzusetzen, sodass angehende Apotheker wie Trakl nur als außerordentliche Zuhörer aufgenommen wurden und im Niemandsland zwischen der philosophischen (weil einige Teilfächer wie Chemie noch als propädeutische Hilfswissenschaften

4  Trakls Pharmazie

galten) und der medizinischen Fakultät pendelten. Da die meisten Pharmaziestudenten keine Matura hatten, war eine ordentliche Aufnahme in akademische Verbindungen oder Burschenschaften unmöglich, weswegen mit der »Alemannia« eine eigene Verbindung gegründet wurde. Das zweijährige Studium kostete bei bescheidenem Lebensstil etwa 2000 Kronen, was für mittellose Berufsanwärter – auch solche wie Trakl, die kaum Aussicht auf die Übernahme einer eigenen Apotheke nach dem Studium hatten – nicht unerheblich war. Pharmaziestudenten konnten kaum auf Stipendien hoffen und wenn, dann dienten diese meistens nur der Deckung von Kollegiengebühren und Prüfungstaxen (vgl. Kernbauer 1989, 195 f.). Zum Vergleich: Das monatliche Anfangsgehalt eines angestellten Assistenten betrug im Jahr 1903 in Wien monatlich 200 Kronen und stieg bis zum 21. Dienstjahr auf 300 Kronen. Die Bedingungen außerhalb Wiens in den Landapotheken waren deutlich ungünstiger, entfielen dort doch die Wohnzulagen für die k.u.k. Hauptstadt. Ein Absolvent hätte also je nach Standort bis zu zwei Jahre arbeiten müssen, nur um seine Studienzeit zu finanzieren – seine laufenden Lebenskosten nicht eingerechnet (vgl. ebd., 90 f.). So gesehen ist es nicht weiter verwunderlich, dass Trakl »vom offiziellen Wiener Kulturangebot kaum Gebrauch gemacht« hat und kaum Zeugnisse von Interaktionen mit der Wiener Literaturwelt überliefert sind (Weichselbaum 1994, 76), vor allem, wenn man bedenkt, dass die Begünstigung des Einjährig-Freiwilligen-Dienstes auch an die Bedingung geknüpft war, das Studium vor dem 26. Lebensjahr abgeschlossen zu haben. Diese Ungleichbehandlung setzte sich selbst im Berufsleben fort, da es aufgrund der im Zuge der Industrialisierung veränderten beruflichen Tätigkeit nur schwer möglich war, sich von medizinisch-unqualifizierten Materialwarenhändlern und Kaufleuten wie Drogisten zu unterscheiden (vgl. Kernbauer 1989, 9), da diese auch gebrauchsfertige Arzneimittel – auch durchaus gefährliche Präparate mit Kokain oder Opiaten – verkauften (vgl. Millington 2012, 27 f.). Das änderte sich nur allmählich ab 1911/12 infolge schärferer Verordnungen zur

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Regulierung des Medikamentenhandels. Diese finanziellen und sozialen Zustände in der zivilen Pharmazie mögen erklären, warum Trakl nach Beendigung seines Militärdienstes vor allem bemüht war, eine Anstellung in einem Militärkrankenhaus bzw. als Beamter im Militärapothekendienst zu erlangen. Die Anstellung als Militärapotheker war nicht sonderlich gut dotiert, bot aber immerhin ein geregeltes Einkommen im Gegensatz zum Dienst als Assistent in einer zivilen Apotheke. Dementsprechend konnte die Heeresverwaltung bei der Besetzung von Stellen zwischen bestens qualifizierten Bewerbern auswählen. Die Tatsache, dass Trakl wiederholt Anstellungen im aktiven Dienst zwischen 1912 und 1914 erlangen konnte, spricht demnach genauso für seine Qualifikation und Berufserfahrung wie für seine Unbeständigkeit in der Berufswahl.

Trakl als Militärapotheker Von der allgemeinen militärischen Aufrüstung vor 1914 war auch das Militärsanitätswesen betroffen. Die Militärmedikamentendirektion, in der Trakl seinen Militärdienst leistete, wurde fortwährend um eigene Laboratorien, Maschinen zur Tablettenpressung, Werkstätten und Fabriken erweitert (vgl. hierzu – und im Folgenden – Rehor 2011). Dennoch ist es nicht erstaunlich, dass Trakl darüber berichtet, dass in dieser Zeit sein »Popo das einzige ist, was strapaziert« wurde (ITA V.1, 141), denn in erster Linie bestand der Dienst des »Landwehrmedikamentenakzessisten« darin, die sichere Lagerung und Belieferung der 27 Garnisonsspitalsapotheken, der zehn Garnisonsapotheken der Truppenspitäler und der Marineapotheke in Pola zu organisieren. Auch der Dienst im Garnisonsspital in Innsbruck dürfte intellektuell kaum spannender gewesen sein, bestand dieser doch hauptsächlich darin, als besonders gut qualifizierter Lagerist die industriell vorgefertigten und über die Wiener Medikamentendirektion zu beziehenden Arzneien zu kontrollieren und zu verteilen. Höchstens der Umgang mit der militäreigenen Pharmakopöe, die strengere Kriterien bezüglich

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Haltbarkeit, Lagerfähigkeit und Platzbedarf der Arzneien vorschrieb, wird ihn herausgefordert haben. Das änderte sich freilich zu Kriegsbeginn: Zu diesem Zeitpunkt verfügte die k.u.k. Armee über 112 aktive Militärapotheker und etwa 2.000 Reservisten. Die wichtigsten Arzneien wurden an die Apotheker in den Kampfgebieten fertig dosiert in Tabletten- oder Ampullenform aus Wien geliefert und bestanden vor allem aus Schmerzmitteln wie Morphium, zunehmend aber auch aus Kokain, das als Anästhetikum verabreicht wurde. Darüber hinaus waren chemische Antiinfektiva wie Karbol, Chlorkalk oder Jodoform zur Bekämpfung von Krankheitserregern in den Feldspitälern überlebenswichtig; hinzu kamen quecksilberhaltige Arzneimittel wie Kalomel gegen Syphilis, Chininpastillen gegen Malaria, später dann Atropin als Spasmolytikum bei infolge Giftgaswirkung auftretenden Krämpfen. Wie wir aus Trakls Briefen wissen, versahen die Pharmazeuten ihren Dienst jedoch nicht nur in den Militärapotheken, sondern unterstützten die überlasteten Ärzte bei der Versorgung der Verwundeten. Das wird viele Apothekerkollegen und nicht nur Trakl überfordert haben, denn aufgrund ihrer zunehmend spezialisierten Ausbildung verfügten sie nicht mehr über die praktischen medizinischen Vorkenntnisse wie ihre Berufskollegen zu Beginn des 19. Jahrhunderts, die aufgrund der sonst desolaten Gesundheitsversorgungslage oft noch als erste ärztliche Ansprechperson fungieren mussten. Hätte Trakl länger gelebt, hätte er einen sprunghaften weiteren Industrialisierungsschritt der Pharmazie erlebt. Allein 1918 produzierte die österreichische Militärapotheke 71 Millionen Chininpastillen gegen Malaria. Das verdeutlicht den endgültigen Übergang von den in Handarbeit hergestellten Zubereitungen in den Apotheken hin zur Arzneiproduktion und -dis-

B. Murnane

tribution im industriellen Maßstab. Nur wenige Jahre nach Trakls Tod war das bis heute gültige Berufsbild des Pharmazeuten demnach vollständig ausgeprägt.

Literatur Baßler, Moritz: Wie Trakls Verwandlung des Bösen gemacht ist. In: Hans-Georg Kemper (Hg.): Gedichte von Georg Trakl. Stuttgart 1999, 121–141. Fontane, Theodor: Werke, Schriften und Briefe. Hg. von Walter Keitel und Helmuth Nürnberger. München 1969–1997. Friedrich, Christoph: Apotheker als Buchautoren. In: Deutsche Apotheker-Zeitung 151 (2011), 6042–6049. Hickel, Erika: Die Arzneimittel in der Geschichte. Trost und Täuschung – Heil und Handelsware. Nordhausen 2008. Görner, Rüdiger: Georg Trakl. Dichter im Jahrzehnt der Extreme. Wien 2014. Jandous, Alois: Der Bildungsgang und Bildungsgrad der Tyronen der Pharmacie. In: Pharmaceutische Post 6 (1873), 379–381. Kemper, Hans-Georg: Droge Trakl. Rauschträume und Poesie. Salzburg/Wien 2014. Kernbauer, Alois: Geschichte der pharmazeutischen Ausbildung in Österreich. Teil 2. Zwischen Zunft und Wissenschaft. Der österreichische Apotheker- und Pharmazeutenstand in der Krise. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1922. Graz 1989. Klessinger, Hanna: Krisis der Moderne: Georg Trakl im intertextuellen Dialog mit Nietzsche, Dostojewskij, Hölderlin und Novalis. Würzburg 2007. Millington, Richard: Snow from Broken Eyes. Cocaine in the Works of Three Expressionist Poets. Bern et al. 2012. Müller-Jahncke, Wolf-Dieter/Friedrich, Christoph: Geschichte der Pharmazie. 2 Bde. Eschborn 1998 und 2005. Pollak, Jakob: Nachruf für Josef Herzig. In: Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft 12 (1925), 54– 75. Rehor, Thomas: Mörser und Pastillen. Die k.u.k. Militärpharmazie im Ersten Weltkrieg. Wien 2011. Rusch, Gebhard/Schmidt, Siegfried J.: Das Voraussetzungssystem Georg Trakls. Braunschweig/Wiesbaden 1983. Weichselbaum, Hans: Georg Trakl. Eine Biographie. Salzburg 1994.

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Trakl als Leser Mario Zanucchi

Empirische Informationen über Trakls Lektüren sind recht spärlich. Die prägendsten Leseerfahrungen, Rimbaud und Hölderlin, sind nicht aus biographischen Quellen überliefert, sondern wurden erst durch mühsame intertextuelle Erschließungsarbeit nachgewiesen. Erschwert wird der intertextuelle Quellennachweis auch durch Trakls mikrologische, stark selektive und montageartige Arbeitsweise, die in einem poetischen Mosaikverfahren einzelne Zitate dekontextualisiert und rekombiniert. Auch neigte der Dichter dazu, allzu deutliche Zeichen intertextueller Abhängigkeit in einem langwierigen Überarbeitungsprozess aus seinen Dichtungen zu tilgen. Dass Trakl ein leidenschaftlicher Leser war, geht aus den Zeugnissen der Zeitgenossen, etwa seines Bruders Fritz, hervor: »Er war manchmal scheu und still. Er las auch sehr viel; mein Vater wunderte sich immer über die hohen Rechnungen aus den Buchläden, die ihm ins Haus geschickt wurden« (Bondy 1952). Die Privatbibliothek des Dichters hat sich nicht erhalten. Aus der Korrespondenz geht hervor, dass Trakl sich in den letzten Jahren aufgrund seiner beschränkten finanziellen Mittel Bücher bei

M. Zanucchi (*)  Deutsches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Freiburg, Deutschland E-Mail: [email protected]

­reunden und Bekannten wie Erhard BuschF beck, Ludwig Ullmann und Franz Zeis borgte oder auf Leihbibliotheken angewiesen war. Buschbeck besorgte ihm Bände aus der Bibliothek Hermann Bahrs (ITA V.2, 477). Ab 1913 hatte Trakl auch Zugang zu der Bibliothek seines Gönners Ludwig von Ficker, die leider nicht vollständig erhalten ist – nachweisbar sind nach heutigem Kenntnisstand lediglich etwa 400 Bände. Im Folgenden soll ein Überblick über Trakls Lektüren geboten werden, und zwar ausgehend zum Ersten von seiner Bücherliste von 1913, zum Zweiten von seiner Bibellektüre, sowie zum Dritten von seinen ästhetischen Vorlieben und Gattungsfavoriten, wie sie sich über Lesenachweise in Briefen und Fremdzeugnissen, Dichtergedichte und Widmungsexemplare sowie intertextuelle Anspielungen dokumentieren lassen.

Die Bücherliste von 1913 Von Trakls Hand ist eine einzige Bücherliste überliefert, welche Bände aufführt, die mit Sicherheit in seinem Besitz waren. Angefertigt wurde dieses Verzeichnis anlässlich eines Bücherverkaufs bei dem Münchner Buchhändler Karl Hauer (ITA VI, 144–147). Überliefert ist es auf einem Briefumschlag zum Versand der Hefte des Brenners mit Verlagssignet »BVJ« und dem

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_5

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Aufdruck »Brenner-Verlag Innsbruck« sowie Trakls Salzburger Anschrift. Die Bücher-Liste stammt vermutlich von Anfang/Mitte Mai 1913 und gibt somit Aufschluss über seine Lektüren vor diesem Datum. In ihr sind sowohl Autoren aufgeführt, die Trakl nachweislich tief prägten, als auch Schriftsteller, deren intertextuelle Wirkung noch nicht eingehend geprüft wurde. Der auf dem Bücherverzeichnis an erster Stelle aufgeführte Autor ist Fjodor Dostojewskij, den Trakl intensiv rezipierte (vgl. Mahrholdt 1926, 59). Sechs Bände aus der PiperAusgabe sind aufgelistet: Brüder Karamasow, Der Idiot, Raskolnikow, Die Dämonen, Das Gut Stepantschikowo und Politische Schriften. Die im Piper-Verlag erschienene Übersetzung des Gesamtwerks, die schließlich auf insgesamt 22 Bände anwuchs, spielte eine entscheidende Bedeutung für die expressionistische DostojewskijRezeption. Federführende Übersetzerin war die stets auf ihrer Unsichtbarkeit beharrende, sich hinter Pseudonymen wie »Michail Feonanoff« und »E. K. Rahsin« versteckende Elisabeth Kaerrick. An die epochale Bedeutung der PiperEdition erinnert auch Hans-Georg Gadamer in einem Rückblick auf das Marburg der 20er Jahre: »Dostojewskijs Romane wühlten uns auf. Die roten Piper-Bände leuchteten wie Flammenzeichen von jedem Schreibtisch« (Garstka 1998, 141; vgl. auch Garstka 2006). Auf Dostojewskij folgt Friedrich Nietzsche, von dem der Dichter Also sprach Zarathustra, Die Geburt der Tragödie und Jenseits von Gut und Böse besaß. Trakls von der Forschung bisher eher vernachlässigte Nietzsche-Rezeption (vgl. bisher Methlagl 1995; Mayer 2009) entspricht einem ebenfalls früh belegten WagnerKult (ITA VI, 56 f.), von dem sich der Dichter gerade durch Nietzsche löste (vgl. Bondy 1952). Für Trakl von Bedeutung war zum einen der frühe Nietzsche, der Autor der Geburt der Tragödie. Von ihm übernahm er die kulturgeschichtliche und rationalitätskritische Décadence-Diagnose, die sich in Trakls Dichtung in der Antithese zwischen verlorener Natürlichkeit und zivilisatorischer Depravation niederschlägt. Zum anderen wirkte auf ihn der Verfasser von Also sprach Zarathustra. In der Salz-

M. Zanucchi

burger Dichterrunde »Apollo« bzw. »Minerva« soll der junge Trakl 1906 – nach dem Zeugnis von Franz Bruckbauer – das Kapitel »Der hässlichste Mensch« aus Also sprach Zarathustra vorgelesen haben (ITA VI, 46). Frühe Texte Trakls wie »Gesang zur Nacht« XII und »Das tiefe Lied« aus der »Sammlung 1909« stellen Zarathustra-Kontrafakturen (»Das trunkne Lied«) dar. Die spätere Nietzsche-Rezeption steht im Zeichen einer kritischen Revision, die sich etwa im Nietzsche-Widerruf »Untergang« vom Februar 1913 zeigt (vgl. Klessinger 2007, 23–57). Trakl rezipiert dort vor allem Nietzsches postmetaphysische Diagnose, die Proklamation vom »Tod Gottes«, nicht aber dessen lebensphilosophischen Ersatzglauben. Der Verlust der christlichen Transzendenz wird nicht durch Nietzsches Wiederkunftslehre als diesseitige Unendlichkeit kompensiert, sondern verharrt bei Trakl als radikale Erfahrung der Sinnund Orientierungslosigkeit, ohne Hoffnung auf Erneuerung. Gleich nach Nietzsche rangiert auf Trakls Bücherliste Otto Weininger mit seiner wirkmächtigen Abhandlung Geschlecht und Charakter (1903), die der Dichter vermutlich über Karl Kraus kennenlernte (vgl. dazu Le Rider 1985, 147; Doppler 1971; Heckmann 1992). Auch der belgische Symbolist Maurice Maeterlinck, der Trakl ebenfalls prägte, ist auf dem Bücherverzeichnis vertreten, und zwar mit zahlreichen Werken: Prinzessin Maleine, Gedichte, Pelleas und Melisande, Monna Vanna Aglavaine und Selysette. Vermutlich handelt es sich um die bei Diederichs erschienene Maeterlinck-Ausgabe. Mit Ausnahme des von Claudine Funck-Brentano übertragenen Schauspiels Aglavaine und Selysette hatte Friedrich von Oppeln-Bronikowski sämtliche Dramen übersetzt. Maeterlincks Gedichte (1906) übertrug er zusammen mit Karl Klammer. Auf der Liste notiert sind ferner Werke, deren Einfluss auf Trakl noch unklar ist. Dazu zählen Carl Spittelers ebenfalls bei Diederichs erschienene Epen Olympischer Frühling und Prometheus und Epimetheus, Rilkes Neue Gedichte, die 1907 und 1908 im Insel-Verlag veröffentlicht worden waren, ferner einige Dra-

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men Bernhard Shaws, die der Fischer-Verlag in der Übertragung von Siegfried Trebitsch herausgebracht hatte: Der Schlachtenlenker, Caesar und Cleopatra, Mensch und Übermensch sowie Candida. Trebitschs Übersetzung von Shaws Candida wurde 1903 und 1905 zunächst bei Cotta verlegt. 1911 erschien sie als zweiter Band der Dramatischen Werke bei Fischer. Auf der Bücherliste aufgeführt sind auch Werke Oscar Wildes, nämlich Dorian Gray, Das Granatapfelhaus, Die Herzogin von Padua, Die Ballade vom Zuchthaus zu Reading und Weisheiten. In diesem Fall ist es schwieriger, die Ausgaben in Trakls Besitz zu identifizieren, aufgrund der Vielzahl von Übersetzungen auf dem damaligen Buchmarkt. Unklar ist auch, ob die Bände aus einer Gesamtausgabe stammen. Bei der Ballade vom Zuchthaus zu Reading, die nicht in den 1906–1908 im Wiener Verlag publizierten Sämtlichen Werken erschien, handelt es sich offenbar um einen Einzelband. Die Ballade war damals u. a. von O. A. Schröder, Wilhelm Schölermann, Eduard Thorn, Arthur Holitscher und Walther Unus übersetzt worden. Auch von Dorian Gray existierten diverse Übertragungen, u. a. von Felix Paul Greve (Bruns 1905 und 1906), Hedwig Lachmann (Insel 1907, 1908 und 1909), Margarete Preiss (Reclam 1908) und Johannes Gaulke (Ullstein 1912). Das Granatapfelhaus lag in der mehrfach aufgelegten Übersetzung von Felix Paul Greve im Insel-Verlag vor (in der Gesamtausgabe des Wiener Verlags trägt das Werk einen anderen Titel: Ein Haus aus Äpfeln der Granate). Die Herzogin von Padua war sowohl von Max Meyerfeld als von Frieda Uhl übersetzt worden. Die Weisheiten erschienen 1910 im Wiener Verlag in der Übertragung von Paul Wertheimer. Von Arthur Schnitzler besaß Trakl Anatol, Der einsame Weg, Marionetten, Liebelei und Reigen. Bis auf den Reigen, der – nach dem Privatdruck von 1900–1903 und 1910 im Wiener Verlag erschienen war, waren die übrigen Titel von Fischer verlegt worden. Von Hofmannsthal schließlich verzeichnet die Bücherliste zwei Bände: Elektra und Theater in Versen. Hofmannsthals Elektra war erstmal 1904 bei Fi-

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scher und, in der Opernfassung, 1908 bei Fürstner erschienen. Der Band Theater in Versen umfasst Die Frau im Fenster, Die Hochzeit der Sobeide sowie Der Abenteurer und die Sängerin und erschien ebenfalls bei Fischer.

Bibellektüre Nachhaltige Anregungen empfing der evangelisch getaufte und katholisch sozialisierte Dichter von seiner Bibellektüre. Zu Recht hat Wolfgang Braungart (vgl. Braungart 2006, 367) in dieser Beziehung ein Forschungsdefizit moniert (vgl. dazu bisher Doppler 1988; Kemper 1998; Csúri 1995). Die Bibellektüre war für Trakl dermaßen zentral, dass sie ihn – wie schon sein Vorbild Tolstoi – zuweilen gar zu einer Abwertung der Dichtung veranlasste. Karl Röck notierte von Trakl folgendes Diktum aus dem Sommer 1912: »Alles Gedichtemachen sei nichts; was brauche man Gedichte und Welt als Wille und Vorstellung, wenn man das Evangelium habe. Ein paar Worte des Evangeliums haben mehr Leben und Welt als all diese Gedichte: ›Selig sind die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich‹. Daneben seien die Dichter so überflüssig, so dumm […]. Alle Dichter sind eitel und Eitelkeit sei widerlich« (ITA VI, 89). Der frühe Versuch, der sich im Prosastück »Barrabas« und im Dialog »Maria Magdalena« belegen lässt, die Evangelien mythopoetisch fortzuschreiben, weicht später einer synkretistischen Überblendung Christi mit nicht-biblischen Heilsgestalten, wie Orpheus und Kaspar Hauser, und mit neu konstruierten mythischen Figuren wie Elis und Helian. Die Bibel ist in Trakls Œuvre durch eine Vielzahl intertextueller Reminiszenzen und An­ spielungen präsent. Vor allem die biblische Passionsgeschichte kehrt in Trakls Dichtungen in stets variierter Form wieder. Wiederholt etwa sind die Evokationen des Kreuzes und der Dornenkrone (»Dornenbusch«, »Dornenbogen« oder »Dornenzweig«). Auch ein Interesse für die spätgotische Ikonographie der Passionsgeschichte ist belegt. In einem nicht erhaltenen Brief vermutlich vom Juli 1913 an E ­rhard

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Buschbeck erkundigte sich Trakl nach »Büchern über die Gotik« (ITA V.2, 477). Aus dem Antwortbrief vom 29.7.1913 (vgl. ebd.) geht hervor, dass Buschbeck dem Freund den Bildband Altdeutsche Malerei (Heidrich 1909) empfahl. Trakl empfand eine Faszination auch für Märtyrerfiguren, wie die Heilige Afra und Sonja Marmeladowa aus Dostojewskijs Rodion Raskolnikoff (Schuld und Sühne) – auch sie Prostituierte und Heilige in einem. Übrigens zeugt auch die bei Trakl leitmotivische Gestalt des Mönchs bzw. Klosternovizen als Anspielung auf den zweifelnden Aljoscha Karamasow von der Bedeutung der Dostojewskij-Lektüre für Trakl. Was in Trakls Passionsdichtungen, die Nietzsches Liquidation des Christentums voraussetzen, fehlt, ist die soteriologische Perspektive der Auferstehung. Vielmehr wird die Trans­ zendenz selbst von Verfall und Tod betroffen und ist in Auflösung begriffen. Sie wird zum symbolischen Spiegel der diesseitigen Korruption. So treten in »Psalm« (I) »Engel mit kotgefleckten Flügeln« »[a]us grauen Zimmern«, »Würmer tropfen von ihren vergilbten Lidern« (ITA II, 25). Gott ist zwar noch da, erhält aber die ohnmächtigen und änigmatischen Züge eines deus otiosus, der nicht in die Entwicklung seiner Schöpfung eingreift: »Schweigsam über der Schädelstätte öffnen sich Gottes goldene Augen« (ebd.).

Dramatische Literatur Liefern die Bibel und die christliche Tradition somit den kategorialen Rahmen von Trakls dichterischem Selbstverständnis, so wurde sein poetisches Œuvre von einer Vielzahl weiterer Lektüren befruchtet und stimuliert, welche die Forschung bisher nur unvollständig rekonstruiert hat. Als Dramenautor, der sich trotz der Misserfolge immer wieder in dieser Gattung versuchte, scheint Trakl vor allem unter dem Einfluss von Henrik Ibsen, Maurice Maeterlinck und Hugo von Hofmannsthal gestanden zu sein. Trakls dramatische Frühwerke – das am Salzburger Stadttheater 1906 aufgeführte einaktige Stimmungsbild Totentag und die einaktige tra-

M. Zanucchi

gische Szene Fata Morgana – sind zwar nicht überliefert, da der Dichter nach dem Misserfolg des zweiten Dramas sämtliche Manuskripte und Zensurexemplare vernichtet hat. Man weiß aber, dass zeitgenössische Rezensenten seine Kenntnis Ibsens (»Gespenster«), Maeterlincks und Hofmannsthals würdigten. Vermutlich entstand das unvollendete Puppenspiel »Blaubart« (1910) unter der Wirkung von Maeterlincks »Ariane et Barbe-Bleu« (1901) (ITA I, 295). Das dreiaktige Drama »Don Juans Tod« (1907), das Trakl vor den Augen seines Schulfreundes Franz Bruckbauers verbrannte und von dem nur ein Fragment des dritten Aktes überliefert ist, scheint von Nikolaus Lenau (»Don Juan«) und vielleicht auch von Paul Heyse (»Don Juans Ende«) geprägt worden zu sein.

Erzählliteratur Ebenfalls vielfältig waren die Anregungen, die Trakl von der Erzählliteratur empfing. Vor allem schätzte er die russischen und französischen Romanciers des 19. Jahrhunderts. In seinem Verriss von Franz Karl Ginzkeys Roman Jakobus und die Frauen rühmt Trakl »den gallischen Roman« als »den Gipfelpunkt eines beispiellosen Formenkultus« und »die russischen Epopöen« als den »Urquell der gewaltigsten Geistesrevolution« (ITA I, 126). Einen nachhaltigen Eindruck hinterließ die Dostojewskij-Lektüre (vgl. Mahrholdt 1926, 59–60; Klessinger 2007, 59–114); Hermann Bahr bezeichnete Trakl gar als »Schatten Dostojewskis« (ITA VI, 60). Noch im Januar 1914 soll Trakl im Gespräch mit Hans Limbach von Dostojewskijs Romanfiguren Aljoscha Karamasow und Sonja Marmeladowa begeistert gesprochen haben: »Jetzt fragte er mich über Rußland, und seine tiefe Sympathie für dieses Volk trat offen zutage. Besonders lieb war ihm Dostojewski. Von einigen seiner Gestalten, wie Aljoscha Karamasoff und Sonja aus Schuld und Sühne, redete er mit tiefer Ergriffenheit. Soviel ich mich erinnere, sprach er aus Anlaß von Sonja das schöne Wort aus – wieder mit wild funkelnden Augen –: ›Totschlagen sollt’ man die Hunde, die

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behaupten, das Weib suche nur Sinnenlust! Das Weib sucht ihre Gerechtigkeit, so gut, wie jeder von uns!‹« (ITA VI, 200). Auch für Lew Tolstoi fand Trakl Worte der höchsten Anerkennung: »Auch von Tolstoj sprach er [Trakl] mit hoher Ehrfurcht: ›Pan, unter dem Kreuze zusammenbrechend‹, nannte er ihn« (ebd.). Den Aufzeichnungen Karl Röcks zufolge erschien Tolstoi für Trakl als eine Art Brückenbauer zwischen Europa und Nordasien. Einzig über den Tolstoischen Weg der Askese und der Selbstüberwindung sei eine Annäherung der Deutschen zu den Russen möglich (ebd., 88; sowie Weichselbaum 1994, 99). Im Zusammenhang damit spielte Trakl Ende 1913 mit dem Gedanken, nach Galizien überzusiedeln, einem Territorium der Habsburgermonarchie, in dem aufgrund der dort verbreiteten Ruthenischen Ethnie der russische kulturelle Einfluss besonders stark war. Nicht minder bedeutsam für Trakl war Gustave Flaubert (vgl. dazu Klessinger 2009). Seiner Schwester Grete schenkte Trakl im Sommer 1908 ein Exemplar der Madame Bovary in der Übersetzung von Josef Ettlinger mit eigenhändiger Widmung (ITA I, 45). Gesichert ist ferner Trakls Lektüre von Georg Büchners LenzNovelle (vgl. dazu Schier 1972; Goltschnigg 2009), die 1914 im Brenner publiziert wurde und welche Trakl bereits vorher, entweder in der zum Zentenarjubiläum 1913 erschienenen Insel-Edition (zusammen mit Franzos’ Wozzeck) oder im zweiten Band von Hofmannsthals Anthologie Deutsche Erzähler von 1912 gelesen haben muss. Die intertextuelle Lenz-Rezeption betrifft übrigens nicht nur den zweiten Teil von »Traum und Umnachtung«, wie Goltschnigg annimmt, sie lässt sich auch im ersten Abschnitt erkennen: »Ein Orgelchoral erfüllte ihn mit Gottes Schauern« (ITA IV.1, 73; vgl.: »Die Kirche fing an, die Menschenstimmen begegneten sich im reinen, hellen Klang. […] Das Drängen in ihm, die Musik, der Schmerz erschütterte ihn« [Büchner 1913, 49]). Dafür, dass Trakl Lenz in der Insel-Ausgabe gelesen hat, sprechen einige Analogien zwischen dem ersten Teil von »Traum und Umnachtung« und Wozzeck. So ist der Pro­tagonist von »Traum und Umnachtung« mit hellseherischen Kräften begabt (»Wenn der

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Herbst kam, ging er, ein Hellseher, in brauner Au« [ITA IV.1, 73]) und vermag das, was Woyzeck bei Büchner erhofft, nämlich die Hieroglyphenschrift der Natur zu entziffern (»Stille sah er und lang in die Sternenaugen der Kröte, befühlte mit erschauernden Händen die Kühle des alten Steins und besprach die ehrwürdige Sage des blauen Quells« [ebd.]). Der Schluss des ersten Teils von »Traum und Umnachtung« könnte auf Woyzecks Ermordung von Marie am Teich anspielen (ebd., 73 f.). Unter den zeitgenössischen Erzählern scheint Trakl den böhmischen Schriftsteller Hermann Wagner, Verfasser des psychologischen Novellenbandes Aus der Tiefe (1913), zur Kenntnis genommen zu haben. Dies geht aus einer Notiz von Karl Röck hervor, der von Gesprächen mit Trakl »über neuen Prosastil (über den des Hermann Wagner)« im Oktober 1913 berichtet (ITA VI, 174). Unklar dagegen ist, ob die Novelle Vom Podvelež von Robert Michel, mit dem Trakl Anfang Dezember 1913 bei einer vom Brenner veranstalteten Soirée gemeinsam las, einen Einfluss auf das Gedicht »Ein Winterabend« hatte (ITA III, 405).

Lyrik Das breite Feld von Trakls dichterischen Lektüren erschöpfend zu vermessen, gestaltet sich als ebenso schwierig, gerade aufgrund einer in vielfacher Hinsicht noch unbefriedigenden Forschungslage. Wie Hans Weichselbaum zu Recht betont hat (vgl. Weichselbaum 2009, 219 f.), hat sicherlich Nikolaus Lenau mehr als jeder andere Dichter den jungen Trakl in seinem Selbstverständnis als Dichter geprägt. Lenaus Bedeutung für Trakl wurde von der Forschung eher unterschätzt, wie die Spärlichkeit der einschlägigen Studien belegt (vgl. Weiss 1985; sowie Hochheim 1982). Das früheste Dokument dieser Rezeption liefert die Abschrift des Lenau-Gedichts »Frage« am Schluss eines Briefes, den der sechzehnjährige Schüler Georg im Juli 1903 vermutlich an seine Schwester Grete nach St. Pölten geschrieben hatte (Weichselbaum 2014, 14). Belegen lässt

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sich Lenaus Einfluss bis spätestens Ende 1912, wenn nicht gar noch darüber hinaus. Der frühe Trakl stand ferner unter dem prägenden Einfluss des französischen Symbolismus und der Décadence (vgl. Wild 2002; Zanucchi 2016). Bedeutsam war zunächst die Lektüre Charles Baudelaires und Paul Verlaines. Baudelaires Fleurs du Mal rezipierte Trakl vor allem über die Umdichtungen Stefan Georges, die 1901 in der ersten, 1908 in der zweiten Auflage erschienen. Im Unterschied zu Georges Baudelaire betont Trakl allerdings gerade die dekadente Bildlichkeit, welche George abgeschwächt hatte, sodass es nicht auszuschließen ist, dass er Baudelaire auch im Original oder durch andere Übersetzungen rezipiert haben könnte. Die starke Baudelaire-Präsenz in der »Sammlung 1909« (vgl. dazu Schiller 1968; Iehl 1995; sowie Zanucchi 2016) zeigt sich etwa am Motiv der Blumen des Bösen, die bei Trakl ›krank‹, ›giftig‹ und ›pestfarben‹ sind, und an der dekadenten, morbiden Erotik. Trakls ›Trübsinn‹ entspricht Baudelaires ›Spleen‹ als ein Gefühl der Heillosigkeit, welches das Bewusstsein des Bösen und des Verfalls beständig lebendig hält. In seiner frühen Sonettpoetik rückt Trakl wie Baudelaire von der zweireimigen Oktave des klassischen italienischen Sonetts ab und nähert sich in der Gestaltung des Sextetts oft Baudelaire an (vgl. Zanucchi 2016, 635). Verlaines Einfluss war für den frühen Trakl ebenfalls entscheidend. Carl Dallago nannte ihn »eine Art Verlaine (deutsch slawischer Prägung)« (ITA VI, 160). Trakl scheint den französischen Dichter durch eine von Stefan Zweig 1907 herausgegebene Anthologie deutscher Übertragungen rezipiert zu haben. Wahrscheinlich zog er angesichts der wahrhaften Flut an Verlaine-Übersetzungen um 1900 (u. a. von Stefan George, Otto Hauser, Richard von Schaukal, Wolf Graf von Kalckreuth) auch andere Versionen heran (vgl. Finck 1995). Bei einem Treffen mit Anton Moritz im Juni 1909 soll der Dichter ihm eigene Texte (»Drei Träume«) sowie Verlaine-Gedichte in einer deutschen Übersetzung vorgelesen haben (ITA VI, 58). Trakl hat sich Verlaines Ideal poetischer Musikalität zu eigen gemacht – »De la musique avant toute chose«,

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»Musik vor allem«, lautet die Parole in dessen Programmgedicht »Art poétique« (1882). Verlaines Schulung zeigt sich bei Trakl in der euphonischen Versifikation, die – nach symbolistischer Tradition – nicht nur den Endreim, sondern den gesamten Vers als resonierenden Klangkörper betrachtet. Zum anderen übernahm Trakl auch Verlaines Selbstverständnis als poète saturnien (»Saturn lenkt finster deine Stund« [ITA II, 60]), das sich in derselben Vorliebe für melancholische Stimmungen und dekadente Naturbilder bei gleichzeitiger Verfeinerung der Empfindlichkeit und des ästhetischen Sensoriums artikuliert. Eine Reihe von Schlüsselmotiven aus Trakls poetischem Vokabular geht auf Verlaine zurück: monderhellte Nachtlandschaften, verfallene Gärten, schluchzende Fontänen, spiegelnde Weiher, der Zug der Masken, die Evokation von Stille und Schweigen. Verlaine repräsentierte für Trakl ferner ein existenzielles Identifikationsmuster als ein poète maudit, ein gesellschaftlich geächteter und ausgestoßener Dichter. Auch der französische Dichter widmete Kaspar Hauser ein Gedicht, das Trakl wohl – zusammen mit Jakob Wassermanns Roman – zu seinem eigenen poetischen Denkmal auf den rätselhaften Findling anregte. Entscheidende Impulse für sein reifes Œuvre empfing Trakl vor allem von Arthur Rimbaud und Friedrich Hölderlin. Rimbaud (vgl. dazu Grimm 1959; Colombat 1987; Bluhm 1999; sowie Zanucchi 2020) las Trakl hauptsächlich in der 1907 erschienenen, spätromantischen und harmonisierenden Nachdichtung von Karl Klammer (vgl. Grimm 1960; Faber-Bellion 1981; Haberlander 1992; Pöckl 2014) mit einer langen Einleitung von Stefan Zweig. Ebenfalls in Klammers Übersetzung las Trakl übrigens auch François Villon (vgl. Grimm 1959), von dem er einen zornigen Vierzeiler zu zitieren pflegte (vgl. Mahrholdt 1926, 50). Wie Parallelstellen in einigen der ältesten Gedichte der »Sammlung 1909« – »Die tote Kirche« und »Ballade« (III) – zeigen, fing Trakl vermutlich bereits 1907/1908 an, Rimbaud zu lesen. Dennoch beginnt Rimbauds Poetik des Hässlichen ihre Wirkung auf Trakl erst ab 1910 zu entfalten. Eines der frühesten Z ­ eugnisse stellt das

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im Juni 1910 entstandene Gedicht »Die Ratten« dar, in dem Trakl aus Rimbauds Prosagedicht »Die erste Kommunion« das Wort ›Abort‹ übernimmt und sogar in Reimstellung platziert. In Rimbauds Nachfolge erkundete auch Trakl die bis dahin dichterisch tabuisierte Sphäre des Unästhetischen, Hässlichen und Ekelhaften. Worte wie ›blöd‹, ›Schleim‹, ›aussätzig‹ oder ›Gestank‹ fanden gerade durch die RimbaudLektüre Eingang in sein Vokabular. Angeregt durch Rimbauds Sonett »Voyelles«, das eine synästhetische Korrespondenz zwischen Farben und Vokalen etabliert, gelangte Trakl zu einer eigenen synästhetischen Poetik und entwickelte in Rimbauds Nachfolge auch eine amimetische Farbensprache, welche die Farbqualitäten vom natürlichen Gegenstandsbezug löst. Ausgehend von den anaphorischen ›Il y a‹-Reihungen in Rimbauds Gedicht »Enfance« kam Trakl schließlich auch zu einem parataktischen Zeilenstil, mit dem er in »De profundis« (II) und in »Psalm« (I) – trotz der von den biblischen Titeln geweckten Heilserwartung – gerade die Zusammenhanglosigkeit und die Erfahrung des Sinnzerfalls artikuliert. Der Höhepunkt von Trakls Rimbaud-Rezeption fiel in die Entstehungszeit von »Psalm« (I), d. h. September 1912. Darauf folgte eine oft kontrastierende Überlagerung Rimbauds mit Hölderlin, der schließlich in Trakls letztem Schaffensjahr 1914 den französischen Dichter verdrängte. Hölderlin hat vor allem den mittleren und späten Trakl entscheidend geprägt (vgl. dazu u. a. Lachmann 1949; Fiedler 1969; Bartsch 1974; Böschenstein 1978; Methlagl 1981; sowie Klessinger 2007, 115–137). Aufgrund eines mündlich überlieferten Diktums – »Der umnachtete Hölderlin habe den Eindruck gemacht, als trage er seinen stillen Wahnsinn wie eine Maske gegen die Welt« (Riese 1928, 52), aufgezeichnet in einem Brief Ludwig von Fickers an Walther Riese – nahm bereits Regine Blass an, dass Trakl die bei Diederichs erschienene Hölderlin-Edition – und zwar in der Erstausgabe von 1905 – gekannt haben dürfte (vgl. Blass 1968, 139 f.). Trakl zitiert nämlich eine Stelle aus der Einleitung von Wilhelm Böhm, der auf diese Charakterisierung von Hölderlins Wahnsinn zurück-

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greift. Diese später von Pierre Bertaux wiederaufgegriffene Metapher von der ›Maske des Wahnsinns‹, die Hölderlin wie Hamlet nur zeitweilig, als Selbstschutz vor politischer Verfolgung, getragen habe, stammt allerdings weder, wie von Blass angenommen, von Bettina von Arnim noch von ihrem Briefpartner Isaac von Sinclair, sondern vom Hölderlin-Forscher Carl Conrad Theodor Litzmann, der sie in seiner Brief-Edition von 1890, und zwar im Kommentar zum Brief Sinclairs an Hölderlins Mutter vom 6.8.1804, wohl zum ersten Mal prägte (vgl. Litzmann 1890, 629). Wilhelm Böhm übernahm dann die Metapher in seiner Einleitung zum ersten Band der Diederichs-Edition (Hölderlin 1905, I, LXIV). Der 2015 erfolgte, sensationelle Fund eines auf 1911 datierten Nachlassgedichts mit dem Titel »Hölderlin« (vgl. dazu Weichselbaum 2016a) bestätigt Blass’ These, insofern der Text tatsächlich in einem Exemplar des dritten Bandes der 1905 erschienen Diederichs-Ausgabe eingetragen ist. Dies bedeutet, dass Trakl offenbar auch die beiden anderen Bände der Diederichs-Edition in der Erstausgabe, d. h. den von Wilhelm Böhm herausgegebenen Hyperion mit einer Auswahl der Briefe sowie die von Paul Ernst besorgte Ausgabe von Hölderlins Gedichten besaß. Trakl rezipierte Hölderlins Lyrik daher vor allem in der philologisch unzulänglichen und unvollständigen Ausgabe von Paul Ernst, die bislang in der Trakl-Kommentierung nicht im Mittelpunkt stand. 1909 erschien bei Diederichs eine zweite, philologisch solidere und vermehrte Auflage der Gedichte (sie enthält 167 Dichtungen gegenüber den 136 der ErnstEdition), diesmal herausgegeben von Wilhelm Böhm; ein Jahr früher war die Edition von Marie Joachimi-Dege publiziert worden, die sich in der Bibliothek Ludwig von Fickers erhalten hat (Nachlassbibl. Ficker II–47, Datierung aufgrund des Exlibris Max von Esterles, Anstreichungen vermutlich von Karl Borromäus Heinrich). Es ist denkbar, dass Trakl auch diese Editionen benutzt haben könnte. Eine Rolle spielte vermutlich auch der dritte Band der von Stefan George und Karl Wolfskehl verantworteten Anthologie Das Jahrhundert Goethes (1902), dessen Schwerpunkt auf den zwischen 1800 und 1804 entstandenen Ge-

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dichten Hölderlins lag. Die Ode »Wie wenn am Feiertage« dürfte Trakl aus der zweiten Auflage (1910) dieser Anthologie gekannt haben, in der sie unter dem Titel »Hymne« publiziert wurde. Einige Parallelen zwischen Trakls »Heimkehr« und Hölderlins »Der Mutter Erde« sowie Trakls »Sonnenblumen« und Hölderlins »Der Gang aufs Land« haben Bernhard Böschenstein und Adrien Finck zu der These veranlasst, dass Trakl auch den vierten Band von Norbert von Hellingraths Hölderlin-Ausgabe gekannt haben muss (vgl. Böschenstein 1978, 21; Finck 1974, 266 f.). Der vierte Band der Ausgabe wurde zwar erst 1916 veröffentlicht, erschien aber 1914 im Sonderdruck. Ob Trakl diesen Band kannte, ist unklar. In Ludwig von Fickers Nachlassbibliothek hat sich der Sonderdruck jedenfalls nicht erhalten. Das früheste Zeugnis von Trakls Hölderlin-Lektüre bilden »Das Morgenlied« (1908) und der Brief an Minna vom 5.10.1909 mit seinen stilistischen Hyperion-Anklängen. Die Hölderlin-Rezeption verdichtete sich dann in der »Sammlung 1909« und erreichte dann Ende 1912 bis Ende 1913, mit den Dichtungen »Helian«  und »Abendländisches Lied«, einen ersten Höhepunkt in Gestalt einer mit Rimbaud kombinierten Rezeption (vgl. dazu Böschenstein 1978, 27). In dieser Phase veränderte sich unter Rimbauds Einfluss Trakls Hölderlin-Bild entsprechend. Von Hölderlin übernimmt Trakl jetzt vor allem Bilder des Verfalls, der Einsamkeit und der Zerstörung, Hölderlins Dichterglaube wird mit Rimbauds befremdlichen Untergangsvisionen in Berührung gebracht und problematisiert. In »Helian« erscheint Hölderlin als »heiliger Bruder« vom heutigen, aussätzigen Dichter Rimbaudscher Provenienz entrückt, obwohl sein »Wahnsinn« ihn seinem Nachfahren wiederum annähert (Böschenstein 1978, 17). Einen zweiten Höhepunkt bildete Trakls letztes Schaffensjahr 1914, in welchem Rimbauds Einfluss zurücktritt und einer hymnisch erhöhenden, prosafernen Diktion weicht, die im Zeichen von Hölderlins späten Hymnendichtungen steht. Wenn Trakl Hölderlin und Rimbaud gleichzeitig rezipierte, so auch Hölderlin und Novalis, diesmal aber nicht im Sinne einer Spannung,

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sondern einer Überblendung. Neben Hölderlin ist der über das Zentralsymbol der ›Blauen Blume‹ oft evozierte Novalis der einzige Dichter, den Trakl mit einer poetischen Hommage bedacht hat: dem Ende 1913 entstandenen Gedicht »An Novalis«. Vor allem die Vorstufen dieses Textes zeigen einen von Caspar Hauser und Hölderlin her visierten Novalis. Dies bezeugen die erwogene Epitaph-Form (»Grabstein« [ITA III, 310]), die den Text an Kaspar Hausers Grabschrift annähern (»HIC JACET / CASPARUS HAUSER/AENIGMA / SUI TEMPORIS / IGNOTA NATIVITAS / OCCULTA MORS« [Wassermann 1908, 557]), aber auch Formulierungen der ersten Fassung, die an Hölderlin angelehnt sind. Dazu zählen die Apostrophe »Heiliger Fremdling« (ITA III, 307), die an Hölderlins »heilige Fremdlingin« angelehnt ist (Hölderlin 1905, II, 280), sowie die Formulierung: »Vom dunklen Munde nahm ein Gott ihm die Klage« (ITA III, 307), die ebenfalls eine Hölderlin-Reminiszenz in sich birgt: »Von deinem Munde nehm’ ich, Zauberin, / Des Überredens süße Gabe mir« (Hölderlin 1905, II, 103). Zugleich hat Trakl seinem Porträt zumindest in der Erstfassung durch einen dichten – und bisher übersehenen – intertextuellen Dialog auch Novalis-Züge verliehen. Bereits die »Fremdling«-Apostrophe erinnert an Novalis’ Gedicht »Der Fremdling« (1798). Der Fremdling erscheint bei Novalis als eine poetologisch genau kodifizierte Figur. Sie artikuliert sein eigenes dichterisches Selbstverständnis, das zwischen Vergangenheit und Zukunft gespannt und der Gegenwart hingegen entrückt ist (vgl. Novalis 1960 ff., I, 399f.). Das Hinsinken des Verstorbenen als Blüte in den ersten beiden Entwürfen von Trakls Novalis-Gedicht (»Da er in seiner Blüte hinsank« [ITA III, 310 f.]) zitiert Novalis’ »Elegie beym Grabe eines Jünglings« (1790): »Sah die Blüte jeglichen Genusses / Hingewelkt« (Novalis 1960 ff., I, 534). Auch ein anderes Bild des ersten Entwurfs, »das Saitenspiel / In der Brust« (ITA III, 307), zitiert nicht nur Hölderlin, wie man lange annahm, sondern findet auch bei Novalis seine Entsprechung: »meines Busens junges Saitenspiel« (»An He[rrn A.W.] Schlegel«; Novalis 1960 ff., I, 513).

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Trakls Bild vom »Frühling«, der seine »Palmen« vor den verstorbenen Dichter »streut« (ITA III, 307), kombiniert ein Bild aus Novalis’ »Fremdling« über die Goldene Zeit als ewigen Frühling – »Streute ewiger Lenz dort nicht auf stiller Flur / Buntes Leben umher?« (Novalis 1960 ff., I, 399, Hervorhebung von mir, M.Z.) – mit einem weiteren Novalis-Gedicht, nämlich »An den Tod«: »Wo er [der Engel] Glück und Segen die Fülle ausstreut / Heitre Ruhe mit friedlicher Palme über / Tausend Geschöpfe ergossen« (ebd., I, 523, Hervorhebung von mir, M.Z.). Diese intertextuellen Parallelen zeigen, dass Trakl auch eine Novalis-Ausgabe besaß – vielleicht die 1907 bei Diederichs erschienene, von Jacob Minor herausgegebene Edition der Schriften in vier Bänden. Die Tagebücher von Karl Röck überliefern Trakls geradezu ostentative Goethe-Aversion, die fast zum Bruch mit dem Goethe-Verehrer Röck führte, der am Tag nach dem oben zitierten Gespräch aus dem Oktober 1912 Trakl aufsucht, um ihm, »zwar liebevoll, aber ernst und gestreng, meinen Entschluß, meinen Willen mitzuteilen, daß ich den Umgang mit ihm abbrechen, aufgeben müsse, seine Goethefeindschaft und anderes widerspreche zu sehr meinem Wesen, meinen Gesinnungen. Traf ihn aber nicht« (ITA VI, 89). Den Dichterfürsten pflegte Trakl mit Schiller zu kontrastieren (vgl. Mahrholdt 1926, 59), aber auch mit Dostojewski und – mit Jesus selbst (»[…] insbesondere über Goethe im Gegensatz zu Jesus« [ITA VI, 89]). Als weitere Goethe-Antipoden führte er gerne auch Detlev von Liliencron und Eduard Mörike ins Feld, als Dichter, die im Gegensatz zum Olympier an ihren Stoffen »verblutet« seien. So findet sich in Karl Röcks Tagebüchern folgender Eintrag: »Er [Trakl] sprach ihm [Goethe] alle Höhe ab, dafür habe er eine ungemein erstaunliche Weite; gleiche so dem Weibe. Sei ganz oberflächlich, bleibe überall an der Oberfläche. Sei herzlos. Seine Art Lüge [lüge?] teuflisch (ich dachte an Loki). Er sei kein echter Dichter, habe sich nicht daran gegeben wie Mörike. Wie Liliencron, der sich verblutet habe an seinen Stoffen. Goethe habe niemals, auch nicht als junger Mensch neurasthenisch gedichtet,

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Liliencron schon« (ebd.). (Gleichwohl machte Trakl im Gespräch mit dem deutsch-polnischen Schriftsteller Hans Weber-Lütkow [d. i. Johann Pokorny] – nach dem Zeugnis des »Pan«Mitglieds Ludwig Praehauser – aus seiner Bewunderung für Die Wahlverwandtschaften keinen Hehl: »Das liebste Buch sind mir Goethes Wahlverwandtschaften, es ist ein so stilles, sanftes Buch« [ITA VI, 69]). Die Lyrik Mörikes, von dem Trakl etwa in »Der Gewitterabend« das Bild vom ›Feuerreiter‹ übernahm (vgl. Lösel 1985/1986), hätte Trakl in der 1906 erschienenen Ausgabe von Gustav Keißner lesen können. Auch mit Liliencron war er offenbar vertraut. Im September 1912 erhielt Röck von Trakl ein Exemplar von Liliencrons komischem Epos Poggfred (1896) geschenkt (zu Liliencron vgl. Esselborn 1981, 40 f.; sowie Finck 1974, 270 f.). Intertextuell nachweisen lassen sich auch vereinzelte Spuren von Trakls Eichendorff- und Heine-Lektüre. Auch mit der Lyrik C. F. Meyers war er offenbar vertraut, obwohl eine systematische Erforschung dieser Filiationen immer noch aussteht. Im Hinblick auf die Blumenmotive seiner Lyrik (Reseden, Astern«) scheint Trakl den spätromantischen Tiroler Dichter Hermann von Gilm rezipiert zu haben (ITA II, 390). Andere Lyriker des 19. Jahrhunderts, etwa Johann Senn, wurden Trakl etwa durch Nachdrucke im Brenner vermittelt. So lässt sich der Name »Krösus« in Trakls Entwurf »Dass ich, bittre Welt« (ITA IV.2, 207) auf ein Gedicht von Senn (»Nokturne«) zurückführen, das im Brenner-Heft vom 15.05.1914 unmittelbar vor zwei Gedichten Trakls (»In Hellbrunn«, »Jahr«) publiziert worden war. Trakls Lektüre und Rezeption zeitgenössischer Dichter ist noch unzureichend untersucht worden. Bernhard Böschenstein zufolge hinterließ Stefan George in Trakls Dichtungen so gut wie keine Spuren (vgl. Weiss 1978, 111). Zweifelsohne dürfte Trakl Georges heroischen und klassizistischen Habitus als wesensfremd empfunden haben. Trotzdem hat George zumindest indirekt auf Trakl gewirkt, etwa über seine Baudelaire-Versionen, und Trakl scheint punktuell auch Georges eigene Verse

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verwertet zu haben. Dies belegt etwa eine Vorstufe des Gedichts »An Novalis«. Auf der ersten Textstufe heißt es dort »Allzu rauh und finster war ihm die Wohnung des Menschen« (ITA III, 310, Hervorhebung von mir, M.Z) – die Spuren von Trakls George-Lektüre: »[…] kühle bergesbrise / Sie war ein allzu rauher spieltrabant. // Doch wird er selber nimmermehr bedauern / Dass er zum finstern mann nicht aufgeschossen« (George 1982–2013, II, 26, Hervorhebung von mir, M. Z.). Auch Rilkes Neue Gedichte, die Trakl nachweislich besaß, hinterließen eine Wirkung, die bisher allerdings nicht systematisch untersucht wurde. Eine intensive Auseinandersetzung mit Hofmannsthals Lyrik, die bislang nicht gründlich aufgearbeitet wurde, lässt sich in der »Sammlung 1909« belegen (vgl. Zanucchi 2016, 641–644). Intertextuelle Spuren zeigen, dass der frühe Trakl auch Richard von Schaukal und vor allem die frühverstorbene ›Hofmannsthal-Schülerin‹ Lisa Baumfeld rezipierte. Eine zentrale Quelle für Trakls Rezeption der zeitgenössischen Lyrik repräsentieren auch die Zeitungen und Zeitschriften, in denen zu Lebzeiten seine Gedichte publiziert wurden: das Salzburger Volksblatt, die Salzburger Zeitung, das Neue Wiener Journal, die Zeitschriften Der Merker, Ton und Wort, Der Brenner und Der Ruf, die Anthologie Salzburg. Ein literarisches Sammelwerk sowie die auf Wiener Lyrik fokussierte Anthologie Die Pforte. Auch in diesem Fall muss von einem stark selektiven Lesen ausgegangen werden. Von Carl Dallagos Gedicht »Im Park« etwa, das zusammen mit Trakls »Vorstadt im Föhn« 1912 im Mai-Heft des Brenners erschienen war, hat Trakl nur den Titel und die Wendung ›im alten Park‹ übernommen, die auch er ans Ende des Eröffnungsverses seines gleichnamigen Textes platzierte. Im Heft der Zeitschrift Der Ruf vom März 1912, das Trakls »Heiterer Frühling« publizierte, wurde auch Else Lasker-Schülers Gedicht »Unser Liebeslied« veröffentlicht – und auch dieser Text der von Trakl hochgeschätzten Dichterin hat bei ihm Spuren hinterlassen. So kehrt die Wendung »Von meinen Lidern / Tropft schwarzer Schnee« (Lasker-Schüler 1912) aus Lasker-Schülers Gedicht bei Trakl später in vielfachen Variationen

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wieder (etwa: »von blauen Lidern / Tau tropft unaufhaltsam« [ITA IV.2, 237]; »und langsam die schweren Lider senkt, / Auf deine Schläfen tropft schwarzer Tau« [ITA II, 433]; »Der schwarze Schnee, der von den Dächern rinnt« [ebd., 324]). Die Dichter, die in Karl Kraus’ Fackel publizierten, wurden ebenfalls von Trakl wahrgenommen, wie der Fall von Felix Grafe zeigt (vgl. Sauermann 2006). Den Gedichtband Vom Lichtquell des unbegabten Versemachers Artur Grobler rezensierte Trakl für den Salzburger Volksblatt 1908 dagegen ablehnend (vgl. Weichselbaum 2016b). Nach der Einlieferung ins Krakauer Spital infolge der Schlacht von Grodek im Oktober 1914 wurden die Dichtungen Johann Christian Günthers zu Trakls letzter Lektüre (vgl. dazu Sauermann 1988). Günthers sarkastisch-bitteres Abschiedsgedicht »An sein Vaterland« soll Trakl – so Ludwig von Ficker – als »die bittersten Verse« empfunden haben, »die ein deutscher Dichter geschrieben« (Ficker 1959, 191 f.).

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Trakls lyrische Einflüsse und Intertexte Achim Geisenhanslüke

Zwischen Tradition und Innovation: Georg Trakls Dichtung Georg Trakls Werk lebt von den Bezügen zu anderen Dichtern. In diesem Sachverhalt, der ihn kaum von seinen Zeitgenossen unterscheidet, macht sich gleichwohl eine Spannung bemerkbar, die gerade für sein Schreiben charakteristisch ist: Durch die Bezugnahme zu unterschiedlichen Vorbildern rückt er in eine Tradition ein, zugleich aber bleibt er in seiner eigenen Zeit ein Solitär, der sich kaum mit anderen Autoren vergleichen lässt: »Trakl fällt aus nahezu allen Rahmen; es ist schwer, ihn einzuordnen« (Görner 2014, 20). Die Bindung an die Tradition der europäischen Lyrik der Moderne seit Baudelaire kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Trakl in ihr eine Ausnahmestellung einnimmt. Die Forschung hat die Verbundenheit Trakls mit der Tradition oft unterstrichen und meist als eine Form der Abhängigkeit beschrieben. »Die Abhängigkeit Trakls etwa von Novalis, Hölderlin, Lenau oder Rimbaud ist unbestritten« (Denneler 1984, 35). Wesentliche Formmerkmale, die seine Dichtung kennzeichnen, scheint Trakl

A. Geisenhanslüke (*)  Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Goethe-Universität Frankfurt a. M., Frankfurt a. M., Deutschland E-Mail: [email protected]

weniger aus sich selbst heraus gewonnen als vielmehr der Tradition entlehnt zu haben. Die Faszination für die Lyrik von Hölderlin und Novalis, von Lenau und Heine, den französischen Symbolismus, aber auch den Göttinger Hainbund, macht sich auf unterschiedliche Weise bemerkbar, in direkten Entlehnungen wie in poetischen Korrespondenzen: Poetische Korres­pondenzen, wie sie sich seit Baudelaires Pro­grammgedicht »Correspondances« als sprach­magisch aufgeladenes System von Ähnlichkeiten bemerkbar machen, Entlehnungen, die bis zu wörtlichen Zitaten Rimbauds führen, die Trakl in seine Dichtungen einträgt und sich so zu eigen macht. Unmöglich ist es, die ganze Bandbreite der Auseinandersetzung Trakls mit der deutschsprachigen wie der französischen Dichtung, aber auch der geistesgeschichtlichen Tradition von der Bibel bis zu Kierkegaard, Nietzsche und Dostojewskij im Detail nachzuzeichnen. Vielmehr soll im Folgenden anhand einiger besonders aussagekräftiger Beispiele – der kritischen Rezeption Nietzsches und Dostojewskijs, dem Rückgang auf Novalis und Hölderlin sowie der Anverwandlung lyrischer Formen des Symbolismus von Baudelaire bis zu Verlaine und Rimbaud – herausgearbeitet werden, wie intensiv die Auseinandersetzung Trakls mit der Tradition gewesen ist, wie wenig sie sich aber auch darin erschöpft. Nietzsche und Dostojewskij, Novalis und Hölderlin, Baudelaire, Verlaine

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_6

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und Rimbaud sind auch für andere Dichter der Zeit wie Stefan George oder Rainer Maria Rilke wichtige Bezugsgrößen gewesen. Die Singularität Trakls lässt sich nicht aus seinen Rückbezügen zu anderen Dichtern oder Philosophen ableiten, auch nicht aus deren eigenwilliger Synthese in seinem Werk, sondern allein aus der Einzigartigkeit der dichterischen Verfahren Trakls, zu deren Bestandteil auch der Rückgriff auf Vorbilder gehört, die in der mitunter gewaltsamen Aneignung durch Trakl zugleich eine neue Kontur gewinnen.

Zwischen Anlehnung und Verwerfung: Nietzsche und Dostojewskij Auf den Einfluss Nietzsches und Dostojewskijs auf Trakl hat die Forschung oft hingewiesen. Stichwörter wie die Erfahrung vom Tod Gottes und der daraus resultierende Nihilismus haben der literarischen Epoche, in der Trakl lebte und arbeitete, einen Rahmen gegeben. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass das Werk Nietzsches und Dostojewskijs auch Spuren in dem Trakls hinterlassen hat. Im Fall Nietzsches gilt das allerdings mit zwei Einschränkungen: Zum einen scheint die Auseinandersetzung mit Nietzsche vor allem für den frühen Trakl von Bedeutung gewesen zu sein und im späteren Werk kaum noch eine Rolle gespielt zu haben. Zudem lassen sich wenig direkte Entlehnungen aus seinem Werk festmachen. Mayer betont vor diesem Hintergrund »das wenig Greifbare, das vergleichsweise sehr viel weniger Manifeste seiner Rezeption Nietzsches« (Mayer 2009, 89) und macht damit auf eine fundamentale Unbestimmtheit aufmerksam, die dem Vergleich anhaftet. Dennoch lassen sich Grundzüge der Traklschen Dichtung auf eine plausible Weise mit der Figur Nietzsches in Verbindung bringen, vor allem mit der frühen Geburt der Tragödie, der Trakl die Bedeutung der Musik in der Antike (am Beispiel der griechischen Tragödie) wie der Moderne (am Beispiel der Oper Wagners) entnehmen

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konnte, eine Wendung zur Musik, die in der musikalischen Form der eigenen Dichtung wie auch in der häufigen Erwähnung musikalischer Formen in ihr zum Ausdruck kommt. Darüber hinaus hat Klessinger nachzuweisen versucht, dass Trakls Gedicht »Untergang« auf doppelte Weise auf Nietzsches Zarathustra zurückgehe: im Titel, der auf die paradoxe Dialektik von Aufgang und Untergang bei Nietzsche verweise, wie sie in der These vom Untergang des Menschen als Aufgang des Übermenschen zum Ausdruck komme, und in dem Verweis auf die »Mitternacht« (ITA II, 369), mit der das Gedicht endet, als dem Tiefpunkt der geschichtlichen Erfahrung, aus dem heraus bei Nietzsche zugleich ein Neuanfang konstruiert werden soll (vgl. Klessinger 2007, 31). Nietzsches Diagnose des Nihilismus scheint damit in wesentlichen Zügen die apokalyptische Vision der eigenen Gegenwart vorwegzunehmen, die auch Trakls Werk bestimmt. Mayer hat diese Assoziationen, die sich um den Einfluss Nietzsches auf Trakl ranken, kritisch aufgenommen, um zu einem anderen Fazit zu kommen. Er sieht »Strukturen einer Nietzsche-Distanzierung« (Mayer 2009, 91) am Werk, die sich bis zu einer Verwerfung ausweite: »Trakl erweist sich gerade dadurch als ein guter Nietzsche-Leser, dass er schon Momente einer Kritik, einer Überwindung, womöglich einer Verwerfung erarbeitet, die schließlich anderweitig aufgegriffen werden« (ebd., 91). Trakl mag die Diagnose Nietzsches teilen, in einer heillosen Welt zu leben, die der Erlösung bedarf. Was er nicht teilt, ist die anvisierte Therapie: Vom Übermenschen, dem Willen zur Macht und anderen Grundbegriffen Nietzsches ist bei Trakl nicht die Rede. Trakl ist kein Parteigänger Nietzsches, sondern ein kritischer Leser seines Werkes, der aus ihm Inspirationen gewinnt, ohne sich doch seiner Philosophie ganz zu verschreiben. Ähnliches gilt für die Auseinandersetzung mit Dostojewskij. Auf der einen Seite steht eine tiefgehende Affinität: Die Drohung des Nihilismus stiftet einen gemeinsamen Horizont, in dem sich Dostojewskij und Nietzsche auf unter-

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schiedliche Weise bewegen: Nietzsche als mutwilliger Zerstörer des Christentums, Dostojewskij als sein Bewahrer und Erneuerer. So kann es auch nicht verwundern, dass Trakls Dostojewskij-Verehrung parallel zu der Bewunderung Nietzsches schon durch seine Jugendfreunde früh überliefert ist. Aber auch hier gehen die Bezüge selten über Andeutungen hinaus. Dementsprechend erkennt Klessinger vor allem in den allgemeinen Themen des Bösen, der Sünde und der Schuld Verbindungen zwischen Trakl und Dostojewskij, die sich dann in Gedichten wie »Verwandlung des Bösen«, »Sonja« und »Die Verfluchten« genauer nachweisen lassen (vgl. Klessinger 2007, 59). So entlehnt Trakl den Namen Sonjas, der in der Schlusszeile von »Die Verfluchten« auftaucht und dem Gedicht »Sonja« den Titel gegeben hat, Dostojewskijs Verbrechen und Strafe, um wie auch an anderen Stellen in seinem Werk eine Frauengestalt im Zeichen der Stille und der Unschuld zu inszenieren: »Sonja lächelt sanft und schön« lautet die Schlusszeile von »Die Verfluchten«; »Sonjas Leben, blaue Stille«, »Sonjas weißes Leben«, »Sonjas Schritt und sanfte Stille«, »Sonjas weiße Brauen« (ITA III, 41 f.) die Folge, die das Gedicht bestimmt. So eindeutig der Bezug auf Dostojewskij damit gegeben ist, so uneindeutig ist doch die Frage beantwortet, wie bestimmend sein Einfluss für die Darstellung der Frauenfigur Sonja über den Namen hinaus ist: Auch unter dem allgemeinen und ebenso vieldeutigen wie vielkommentierten Attribut der Schwester lassen sich ähnliche Gestaltungsmerkmale der Frauenfiguren in Trakls Werk im Zeichen der Unschuld und Stille finden. Nietzsche und Dostojewskij verkörpern somit einen Bezugspunkt von Trakls Schreiben, der gewiss nicht zu gering zu achten ist. Sie umreißen einen geistesgeschichtlichen Horizont, in dem sich auch Trakls Schreiben auf eine für die gesamte Zeit der Jahrhundertwende typische Art und Weise bewegt. Aber die Affinität bewegt sich eher im Raum der Korrespondenzen als dem der direkten Entlehnungen. Das ist im Fall der im engeren Sinne poetischen Einflüsse auf Trakl anders.

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Zwischen Romantik und Moderne: Novalis und Hölderlin Trakls Dichtung bewegt sich zwischen zwei Polen: Der eine ist die deutschsprachige Dichtung, die als Einflusslinien den Göttinger Hainbund, Novalis, Hölderlin, Heine, Lenau, aber auch Büchner und andere umfasst. Den anderen bildet die im engeren Sinne französische Lyrik der Moderne. Innerhalb der deutschsprachigen Lyrik kommt nach übereinstimmender Meinung der Forschung Novalis und Hölderlin eine ausgezeichnete Bedeutung zu. Das hat schon Kaiser festgehalten: »Manches an seinem Werk deutet auf Hölderlin, manches auf Novalis zurück; gibt es einen legitimen Erben beider, ist er es« (Kaiser 1991, 579). Kaiser spricht Trakl als Erben von Novalis und Hölderlin an, da beide die Modernität präfigurieren, die Trakl dann in seinem Werk epochemachend umsetzt. Dennoch sind auch der Reichweite der Rezeption von Novalis und Hölderlin bei Trakl gewisse Grenzen gesetzt. Auf die Verwandtschaft zwischen Trakl und Novalis wurde vielfach hingewiesen. So stellt noch Görner fest, »dass Trakl in Novalis einen mit verwandten Problemen behafteten ›Bruder‹ erkennt« (Görner 2014, 65). Das mache sich nicht zuletzt in dem im Nachlass befindlichen Gedicht »An Novalis« bemerkbar, das vom »heilige[n] Fremdling« (ITA III, 311) spricht. Nun ist die Rede vom Fremdling aber mehrdeutig: Sie kann den Fremdling auf Erden meinen, der Novalis Trakl zufolge wohl auch gewesen ist. Vor diesem Hintergrund wäre der romantische Dichter wie etwa die historische Figur Kaspar Hauser eine Identifikationsfigur, und das Gedicht schiene die tröstliche Aussicht zum Ausdruck zu bringen, dass die Dichtung von Novalis, die hier programmatisch in der Anspielung auf die blaue Blume angesprochen wird, das kurze Leben des Dichters selbst überdauere. Zentral erscheint vor diesem Hintergrund der Zusammenhang zwischen der »Klage« und den »Schmerzen«, mit denen das Gedicht endet: Es gibt sich als ein Trauergesang zu erkennen und nimmt damit ein wesentliches

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Moment der romantischen Dichtung auf. Trakl scheint diese Klage in einer reflexiven Wendung nun auf Novalis selbst zu beziehen, der als Fremdling in »dunkler Erde ruht«. Die Dunkelheit des Grabs und die Dunkelheit der Rede, die als Anagramm der Erde lesbar ist, verbinden sich zu einer Charakterisierung der romantischen Dichtung, die ganz im Zeichen der Identifikation mit Novalis zu stehen scheint. So gibt sich das Gedicht bereits durch den Titel als eine Widmung, eine Hommage an Novalis zu erkennen. Andererseits aber kann das Gedicht, wie Klessinger herausgearbeitet hat, aber auch als eine Antwort auf Novalis verstanden werden, die zugleich eine Absage an die Prämissen seiner dichterischen Arbeiten formuliert. Klessinger macht diese Auffassung an der unterschiedlichen Haltung beider Dichter zum Thema der Erlösung fest: »Trakls Projektion einer Erlösungssehnsucht in einen Zustand ewiger Ruhe liest sich als radikale Absage an Novalis’ Poetik« (Klessinger 2007, 154). Ein »Fremdling« wäre Novalis dann auch für Trakl selbst: Nicht umsonst stellt er ihn nicht in seinen Lebenszusammenhängen, sondern von Beginn an als einen Toten dar. Inwiefern in diesem Kontext von einer Erlösungssehnsucht und einem Zustand ewiger Ruhe zu sprechen ist, bliebe dann aber zu diskutieren: Von einer Erlösung verrät das Gedicht wenig, was nicht zuletzt als Schlusswort bleibt, sind die »Schmerzen«, die auch die Dichtung nicht aufheben kann, sondern denen sie allenfalls Ausdruck verleihen kann. Die Affinität zwischen Trakl und Novalis beruht demzufolge auf dem für beide zentralen Thema der dichterischen Verarbeitung der Todeserfahrung und der damit verbundenen Dunkelheit, der schon Novalis in seinen Hymnen an die Nacht eine epochemachende Gestalt gegeben hat. Die Bestimmung der Dichtung als Klagegesang, die den Heinrich von Ofterdingen und die Hymnen an die Nacht leitet, findet bei Trakl so eine konsequente Fortsetzung. Nicht als »entromantisierte Romantik« (Friedrich 1956, 58), wie Hugo Friedrich es wollte, tritt die Dichtung der Moderne bei Trakl in Erscheinung,

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sondern als deren kritische Reflexion im Medium des modernen Gedichts. Das verbindet den Rückgriff auf Novalis mit dem auf Hölderlin. Anders als im Fall von Novalis schien es lange Zeit so, als würde es kaum direkte Adressierungen an Hölderlin geben. Aber das hat sich im Februar 2016 geändert: In einer HölderlinAusgabe aus Trakls Besitz, die bei der Auflösung einer Privatbibliothek auftauchte, fand sich ein mit dem Namen »Hölderlin« betiteltes handschriftliches Gedicht (DuB 304), wobei die Initialen G.T. und das Jahr 1911 unter dem Gedicht keinen Zweifel am Urheber und der Datierung lassen. Nicht untypisch für das Frühwerk Trakls ist das Gedicht in der Folge von zwei vierzeiligen Strophen mit vierhebigem Jambus und dem umklammernden Reim noch relativ konventionell gehalten. Die Schlussverse der ersten Strophe sind zudem leicht verändert in das frühe Gedicht »Melancholie des Abends« eingegangen: »Das Wild kommt zitternd aus Verstecken, / Indes ein Bach ganz leise gleitet« (ITA I, 442), heißt es dort. Auch in diesem Fall scheint das Gedicht in ähnlicher Weise wie im Fall von »An Novalis« auf eine grundlegende Affinität zwischen Trakl und Hölderlin hinzudeuten. Sie bleibt zunächst aber noch auffällig unbestimmt. In der ersten Strophe ist vom Dichter noch nicht die Rede: Das Gedicht erschöpft sich in den Bildern einer herbstlichen Naturidylle, die erst die zweite Strophe durch den Verweis auf den »Wahnsinnn« – ein signifikanter Verschreiber Trakls – aufbricht. Die Rede von Schönheit, von Glanz und Trauer und vom frommen Schauer zielt in die Richtung einer Sakralisierung der Figur Hölderlins, die für die Zeit nicht untypisch ist: »ein edles Haupt«, das mit dem Wahnsinn der Verdüsterung anheimgefallen ist, so lautet die wie die Form relativ konventionell ausgefallene Bestimmung Hölderlins. Formal knüpft das Gedicht kaum an die großen freirhythmischen Texte des Vorbilds an. Eher ließe es sich schon mit den spätesten Texten Hölderlins aus dem Turm vergleichen, denen eine ähnliche Tendenz zur schlichten Ästhetisierung im Zeichen einer brüchigen Idylle ablesbar ist. Es ist die

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Darstellung einer zerbrechlichen, gefährdeten Idylle, die Trakl Hölderlin abliest, ohne allerdings die Radikalität der Form aufzunehmen, die dessen Spätwerk kennzeichnet. Vielmehr scheint das Gedicht »Hölderlin« gerade von einer ästhetischen Rücknahme der Innovationen bestimmt, die Hölderlins Werk so unverwechselbar machen. Über die konventionelle Schilderung des Dichters als eines mit Wahnsinn geschlagenen edlen Gemüts reicht Trakls Text kaum heraus. Die Auseinandersetzung mit Hölderlin im Werk Trakls ist allerdings komplexer, als es das frühe Hölderlin-Gedicht vermuten lässt. Die Forschung ist daher ausführlich auf die Nähe wie die Distanz zu Hölderlin eingegangen, die in Trakls Gedichten zum Ausdruck kommt. »Sein poetischer Begleiter heißt nun mehr und mehr Hölderlin, dessen Unstetheit sich in seiner eigenen spiegelt« (Görner 2014, 110), hält Görner im Blick auf die dichterische Entwicklung Trakls fest. Kaiser stellt insbesondere die Wendung zu freirhythmischen Gedichten in den späten Gedichten Trakls in den Kontext Hölderlins, nicht ohne auf bedeutsame Differenzen hinzuweisen: Es sei »Hölderlin, dem Trakls Freie Rhythmen am nächsten stehen. Doch im Anklang an Hölderlin fehlt bei Trakl nicht nur die odische Anrede, sondern auch Hölderlins harte Fügung« (Kaiser 1991, 595). Kaiser betont daher eher die Differenzen beider Dichter: »Wo Hölderlin Sätze hypotaktisch verkeilt, zusammengehörige Satzteile auseinanderreißt und durch Zeilenbrechung und Interpunktionen isoliert, in Inversionen den Satzbau verdunkelt, ohne ihn zu zerstören, wo Hölderlin begründet, folgert, einräumt, ausschließt und allenfalls in dieser Anstrengung die Sätze auseinanderbrechen, da reiht Trakl lose Satz an Satz, Satzteil an Satzteil, Wort an Wort, löst den syntaktischen Zusammenhalt; bringt durch Parataxe und Betonungsregularität die Rede zum harmonischen Schwingen« (ebd., 596). Kaiser hält damit gute Argumente parat, um auf der Unterschiedlichkeit der dichterischen Verfahren zu bestehen, die Hölderlins und Trakls Texte bestimmen. Dennoch ist gerade in den spätesten Gedichten

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Trakls wie etwa dem fast schon testamentarisch anmutenden »Grodek« eine Annäherung an das Vorbild Hölderlins spürbar. So sind Melancholie und Herbst, die Trakl früh mit Hölderlin in Verbindung gebracht hat, in »Grodek« ebenso präsent wie das erotisch besetzte Bild der Schwester, welches das Spätwerk bestimmt. Im Vergleich zum Hölderlin-Gedicht von 1911 ist jedoch die formale Veränderung aufschlussreich, die sich inzwischen ereignet hat: Bestimmt ist es durch die Folge von vier Aussagesätzen, die wie bereits das Hölderlin-Gedicht mit einem fast idyllischen Naturbild anheben und mit der Anrufung des Schmerzes enden. In »Grodek« hat Trakl die konventionelle Form der frühen Gedichte jedoch hinter sich gelassen; er greift auf freie Rhythmen zurück und verzichtet auf Strophenaufteilung wie auf den Reim. Durch die häufigen Anklänge an einen katelektischen Daktylus rückt das Gedicht zugleich in die Nähe des Hexameters, um im Anklang an die Hymnik der Antike eine archaische Welt des Krieges zu beschwören. Eines der hervorstechenden Merkmale des Gedichts sind daher auch die Archaismen in der Folge Krieger – Gott – Schwester – Hain – Helden – Klage – Altäre. Den modernen Krieg stellt Trakl wie eine antike Schlachtszene dar, die Natur wird zur Wohnstätte eines zürnenden Gottes, der das Blutvergießen verantwortet. Der Kriegsschauplatz des Waldes erscheint zugleich als ein Ort des Klangs, die Waffen tönen wie in Hölderlins Rede vom Waffenklang der Natur aus »Wie wenn am Feiertage« – »Die Natur ist jetzt mit Waffenklang erwacht« (Hölderlin 1975–2008, VIII, 551), heißt es dort –, während die zerbrochenen Münder der sterbenden Krieger den Ausdruck stummer Klage bilden. In dem Auffangen des Zerbrechens der Welt und des Ich, welche die Erfahrung des Krieges bedeutet, findet Trakl als Dichter des Schmerzes auch formal zu Hölderlin zurück – allerdings zu einem anderen Hölderlin als dem, der in seinem Frühwerk präsent war. Nicht das von Wahnsinn geschlagene Haupt steht im Mittelpunkt von »Grodek«, sondern die konzentrierte Darstellung von Klage und Schmerz, die auch das Spätwerk Hölderlins leitet.

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Zwischen dem Fremden und dem Eigenen: Trakl und die französische Lyrik der Moderne (Baudelaire – Verlaine – Rimbaud) Der hymnische Ton von »Grodek« verweist nicht nur auf Hölderlin. Noch etwas anderes fällt auf: die extensive Farbgebung, mit der Trakl dieses wie viele seiner Gedichte versehen hat. Sie geht kaum auf den Einfluss Hölderlins zurück, auch nicht auf die blaue Blume des Novalis, sondern verdankt sich vielmehr dem Einfluss der französischen Lyrik, insbesondere dem Rimbauds. In mancherlei Hinsicht erscheint Trakl, der literaturhistorisch oft dem deutschen Expressionismus zugeordnet wird, wie ein versprengter Vertreter des französischen Symbolismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Vor diesem Hintergrund ist der Einfluss der französischen Lyrik der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf Trakl kaum zu überschätzen. In der Direktheit der Anspielungen und Umformungen übertrifft er den Einfluss, den Novalis und Hölderlin auf Trakls Werk ausgeübt haben, bei weitem. Dementsprechend häufig ist der Einfluss der französischen Lyrik auf Trakl von der Forschung hervorgehoben worden. Er ist zunächst verbunden mit dem Namen Baudelaire. Wie Iehl deutlich gemacht hat, verfolgt bereits der junge Trakl eine Ästhetik des Hässlichen, die zu wesentlichen Teilen Baudelaire entlehnt ist. »Baudelaire fournit au jeune Trakl le décor du mal et de la laideur, il lui transmet des vertiges de la décadence, l’initie au monde de la mélancolie« (Iehl 1995, 10). Nicht nur die Ästhetik des Hässlichen, mehr noch das Thema der Melancholie entnimmt Trakl dem Werk Baudelaires. Wie Görner herausgestellt hat, ist in diesem Zusammenhang die Vermittlung durch die Baudelaire-Übersetzungen Georges entscheidend: »Dichtungen Baudelaires hatte Trakl in Gestalt von Umformungen durch Stefan George kennengelernt« (Görner 2014, 46). Wie George, so übersetzt Trakl Baudelaires »Spleen« mit Trübsinn und nähert ihn damit der präzisen Bestimmung der Melancholie an, die Baudelaires Werk insgesamt be-

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stimmt. Gedichte wie »Chant d’Automne«, aber auch die vier unter dem Titel »Spleen« versammelten Melancholiegedichte aus den Fleurs du mal haben so ihre Spuren bei Trakl hinterlassen. Nicht nur als trüber Gemütszustand erscheint die Melancholie bei Baudelaire, sondern als Sargdeckel, der über der Stadt Paris hängt: »Quand le ciel bas et lourd pèse comme un couvercle/Sur l’esprit gémissant en proie aux longs ennuis« (Baudelaire 2008, 74), so beginnt das letzte der Spleen–Gedichte. Baudelaire kennzeichnet die Melancholie damit als die Erfahrung einer entleerten Zeit, aus der heraus der allen Idealen entsagende Dichter der Moderne seine Inspiration schöpft. In Gedichten wie »Melancholie« (I) nimmt Trakl diese Bewegung der Dissolution auf: Die »dunklen Augen«, die das Gedicht einleitend aufruft, sind »aufgelöst in braunen Laugen«, die Bildkompositionen »Nymphische Hände« und »Verfallne Lippen« (ITA II, 193) rufen das Moment des Zerfalls auf, das schon Baudelaires Dichtung bestimmt. Deutlicher noch als im Fall Baudelaires sind die Anklänge an Verlaine. Mit ihm geht es um die »Rezeption der sogenannten ›Décadence‹-Literatur, und zwar im Zeichen des antibürgerlichen Protests« (Finck 1995, 50). Die antibürgerliche Geste, die den deutschen Expressionisten oft nachgesagt wird, geht im Fall Trakls ganz auf das französische Vorbild zurück. Wie Finck zeigt, hat Trakl Verlaine nicht nur das Schlüsselmotiv des Schweigens entnommen. »Rondel« gibt sich in seiner musikalischen Form ebenso als Verlaine-Gedicht zu erkennen wie »Verfall« (II) als Aufnahme der »Crépuscule du soir mystique« (ebd., 54 f.). Noch ein anderes Gedicht aber erweist sich in diesem Zusammenhang als besonders aufschlussreich: »Die ausdrücklichste Identifizierung mit Verlaine geschah vermittels eines Dritten, Kaspar Hauser« (ebd., 57). Trakls »Kaspar Hauser Lied« variiert Verlaines »Gaspard Hauser chante« schon im Titel, und so wie Verlaine in einfacher Liedform die Stille des Waisenkindes in den einleitenden Versen »calme orphelin, / Riche de mes seuls yeux tranquilles« (Verlaine 1962, 279) darstellt, so greift auch Trakl auf das Bild der

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Stille z­ urück: »Stille fand sein Schritt die Stadt am Abend; / Die dunkle Klage seines Munds: / Ich will ein Reiter werden« (ITA III, 325). Trakl zitiert ein überliefertes Wort des Kaspar Hauser und gibt dem Gedicht damit einen anderen Impuls als Verlaine. Wo Verlaine im letzten Vers im Anklang an den auch für Trakl wichtigen Villon darum bittet, für Kaspar Hauser zu beten, da wird das Waisenkind, wie schon Kaiser herausgearbeitet hat, für Trakl zu einer »Identifikationsfigur« (Kaiser 1991, 582). Das unterstreicht auch Görner: »Wie Kaspar Hauser sah sich Trakl als Findling am Rande der Selbstzerstörung« (Görner 2014, 269). Das Bild Kaspar Hausers gerinnt in der Projektion der eigenen Lebensproblematik zur Allegorie des eigenen Lebens, die es zugleich in eine Gruppe mit semiautobiographischen Gedichten wie »Helian«, »An den Knaben Elis« oder »Sebastian im Traum« stelle. Damit wird das »Kaspar Hauser Lied« trotz der Anklänge an Verlaine ganz zu einem Trakl-Gedicht: Kein Lied wie bei Verlaine liegt mehr vor, sondern eine vielfach gebrochene Form, der es Finck zufolge in einer Form der kreativen Imitation »um den progressiven Abbau der rationalen Sprachstruktur, um die Emanzipation des Vieldeutig-Suggestiven und Klanglichen« (Finck 1995, 61) geht. Im Rekurs auf das Vorbild Verlaines gewinnt Trakl zugleich seine Eigenständigkeit. Das gilt in ähnlicher Weise für »den entscheidenden Einfluß« (Grimm 1959, 304) Rimbauds, den Trakl als Lyriker empfangen hat. Er geht weit über Korrespondenzen hinaus und reicht bis hin zu direkten Zitaten, die Eingang in Trakls Gedichte gefunden haben. »Trakl hat das bizarre Labyrinth dieser Dichtung bedenkenlos als Steinbruch benutzt« (ebd., 312), kommentiert Grimm die Praxis der unvermittelten Aneignung Rimbauds durch Trakl. Wie im Falle Baudelaires und Verlaines, so gilt auch im Fall Rimbauds, dass Trakls Rückgriff durch Übersetzungen vermittelt ist. »Trotz stupender Französischkenntnisse dürfte Trakl vor allem über die 1907 im Insel Verlag erschienenen Übertragungen von Rimbauds Dichtung durch K.L. Ammer wichtige Anregungen für sein eigenes Schaffen bezogen

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haben, auch durch Stefan Zweigs Essay über Verlaine (1905) und sein Vorwort zu den Rimbaud-Übersetzungen« (Görner 2014, 23). Colombat hat vor diesem Hintergrund darauf hingewiesen, dass die Rimbaud entlehnten Formeln »un double traitement, la traduction, puis l’adaptation en vue de l’intégration« (Colombat 1995, 66) erfahren haben. Die Übersetzung wie Adaptation Rimbauds ist besonders augenfällig in der Farbgebung der Traklschen Gedichte. Sie geht unmittelbar auf Rimbauds berühmtes Gedicht »Voyelles« (»A Noir, E blanc, I rouge, U vert, o bleu«; Rimbaud 1972, 53) zurück. Wie schon Mautz herausgearbeitet hat, sind es drei Momente, die Trakl Rimbaud entnehmen kann: »Loslösung der Farbe vom sinnlich wahrgenommenen Gegenstand« (Mautz 1957, 207), »relative Abstraktion auch von der unmittelbaren Sinnesqualität einer Farbe als solcher« (ebd., 208), »Subjektivierung des Bedeutungscharakters der Farbe« (ebd., 209). Trakl stellt sich so in die unmittelbare Nachfolge der Sprachmagie Rimbauds. Dafür sprechen zum Beispiel wörtliche Entlehnungen aus Gedichten wie »Enfance«, die Eingang in Gedichte wie »De profundis« (II) oder »Psalm« (I) gefunden haben. So verdankt sich die ungewöhnliche Syntax in »Psalm« (I) Ammers wörtlicher Übersetzung von »Enfance«, die Trakl ungebrochen in sein Gedicht aufgenommen hat. Was auf den ersten Blick wie eine direkte Entlehnung aussieht, ist dennoch mehr als ein Diebstahl aus dem ›Steinbruch‹ Rimbauds. Die wörtliche Übertragung des französischen Satzbaus erzeugt in der deutschen Sprache einen Fremdheitseffekt, der das Unheimliche, das Trakls Versen innewohnt, nur noch unterstreicht. Schon im Titel geben sich »De profundis« (II), der sechste Bußpsalm, und »Psalm« (I) als Texte zu erkennen, die mit der Tradition der christlich vermittelten Totenklage spielen und diese zugleich blasphemisch konterkarieren: »Die Gedichte ergehen ins Leere; sind darin Gegenpsalme« (Kaiser 1991, 613). Gegenpsalme sind »De profundis« (II) und »Psalm« (I), da sie die Hoffnung, im Gebet von Gott erhört zu werden, ins Gegenteil verkehren: »Schweigsam über der Schädelstätte öffnen sich Gottes goldene Augen« (ITA

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II, 25), heißt es am Ende von »Psalm« (I). An die Stelle des erlösenden Wortes tritt die Erfahrung von Einsamkeit und Zerfall, eine Erfahrung, die Trakl als Lyriker den Vorbildern Baudelaires, Verlaines und Rimbauds entnehmen konnte, in deren unmittelbarer Nachfolge er steht. Das tut der Größe seiner Dichtung keinen Abbruch: Erst aus der Auseinandersetzung mit den französischen Vorbildern gewinnt Trakls Dichtung eine eigene Gestalt.

Trakl und der Rhythmus der Moderne Umso überraschender ist die Tatsache, dass Trakl in Friedrichs Standardwerk Die Struktur der modernen Lyrik so gut wie abwesend ist. Friedrichs Einschätzung, die nach mehr als 60 Jahren sicherlich einer aktualisierenden Überarbeitung bedürfte, macht so vergessen, dass Trakl zu den großen europäischen Lyrikern der Moderne zählt, der nicht nur auf zahlreiche Einflüsse aus der biblischen, deutschsprachigen, slawischen und französischen Literatur zurückgreift, sondern selbst zu einer Quelle von Anregungen für die auf ihn aufbauende Tradition geworden ist. Die Gegenpsalme, die »De profundis« (II) und »Psalm« (I) in seinem Werk markieren, konnten von Celan in Gedichten wie »Psalm« oder »Tenebrae« aufgenommen werden. Mayröcker hat auf die Sprachmagie Trakls ebenso zurückgegriffen wie Beyer, der in dem Gedicht »Verklirrter Herbst« eine Variation des Trakl-Gedichtes »Verklärter Herbst« vorgelegt hat. Die besondere Bedeutung Trakls in der modernen Lyrik hat Kling unterstrichen. Seine eigene Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg greift in besonderer Weise auf Trakl zurück. Bis in die Farbgebung hinein knüpft das Langgedicht »Die Modefarben 1914« aus dem Band Fernhandel an Trakl an: »ab herbst war dann/das kleine schwarz natürlich/angesagt« (Kling 2020, II, 273), lautet der lakonische Kommentar zu dem Beginn des Ersten Weltkrieges. Dementsprechend eindeutig fällt auch die Einschätzung Trakls im Vergleich etwa zu George und Rilke aus. Kling erscheint »Trakl ungleich moderner, als Dichter und Dichtertyp« (Kling 2020, IV, 193). Die Moderni-

A. Geisenhanslüke

tät Trakls konnte Friedrich nur schwer fassen, da er fast ausschließlich mit negativen Kennzeichen arbeitet: »Desorientierung, Auflösung des Geläufigen, eingebüßte Ordnung, Inkohärenz, Fragmentarismus, Umkehrbarkeit, Reihungsstil, entpoetisierte Poesie, Zerstörungsblitze, schneidende Bilder, brutale Plötzlichkeit, dislozieren, astigmatische Sehweise, Verfremdung« (Friedrich 1956, 22) sind die Begriffe, an denen er sich orientiert. Sie alle sind auch bei Trakl zu finden. Aber sie geben keinen Aufschluss über die Faszinationskraft, die bis heute – und das vielleicht in wachsendem Maße – von Trakls Dichtung ausgeht. Diese beruht viel eher auf positiven Begriffen wie der Bildlichkeit und der Musikalität der Traklschen Sprache. Schon Wetzel spricht Trakl »ein besonders hohes Maß an Musikalität« (Wetzel 1972, 11) zu, das sich insbesondere in den vielen Wiederholungsstrukturen der Verse niederschlage. Was Trakl oft zum Vorwurf gemacht wurde, der Hang zur Wiederholung weniger Wörter und Bilder, erweist sich so als musikalisches Prinzip, als der Rhythmus, der seine Gedichte zu lebendigen Formen bestimmt. »Trakls poetisches Verfahren ist ein, paradox gesagt, offen zutage liegendes Mysterium« (Görner 2014, 301), hält Görner zum Abschluss seiner Studie zu Trakl fest. Das Mysterium Trakls lässt sich durch die Bezüge zu anderen Dichtungen sicherlich nicht vollständig auflösen. Der Rückbezug insbesondere auf die französische Lyrik der Moderne erweist sich aber dennoch als fester Bestandteil der Traklschen Verskunst und dem damit verbundenen Rhythmus der Moderne.

Literatur Baudelaire, Charles: Œuvres complètes. Nouvelle édition. Texte etabli par Claude Pichois. Paris 2008. Colombat, Rémy: Les poèmes hallucinés de Trakl. Quelques aspects de la contamination rimbaldienne. In: Rémy Colombat/Gerald Stieg (Hg.): Frühling der Seele. Pariser Trakl-Symposion. Innsbruck 1995, 65– 80. Denneler, Iris: Konstruktion und Expression. Zur Strategie und Wirkung der Lyrik Trakls. Salzburg 1984. Finck, Adrien: Über Trakl und Verlaine. In: Rémy Colombat/Gerald Stieg (Hg.): Frühling der Seele. Pariser Trakl-Symposion. Innsbruck 1995, 49–64.

6  Trakls lyrische Einflüsse und Intertexte Friedrich, Hugo: Die Struktur der modernen Lyrik. Von der Mitte des neunzehnten bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts. Reinbek bei Hamburg 1956. Görner, Rüdiger: Georg Trakl. Dichter im Jahrzehnt der Extreme. Wien 2014. Grimm, Reinhold: Georg Trakls Verhältnis zu Rimbaud. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 9 (1959), 288–315. Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe. Hg. von D. E. Sattler. Frankfurt a. M. 1975– 2008. Iehl, Dominique: Trakl et Baudelaire. In: Rémy Colombat/Gerald Stieg (Hg.): Frühling der Seele. Pariser Trakl-Symposion. Innsbruck 1995, 9–20. Kaiser, Gerhard: Geschichte der deutschen Lyrik von Heine bis zur Gegenwart. Frankfurt a.M. 1991, 574–634. Klessinger, Hanna: Krisis der Moderne. Georg Trakl im intertextuellen Dialog mit Nietzsche, Dostojewskij, Hölderlin und Novalis. Würzburg 2007.

79 Kling, Thomas: Werke in vier Bänden. Hg. von Marcel Beyer in Zusammenarbeit mit Frieder von Ammon, Peer Trilcke und Gabriele Wix. Berlin 2020. Mautz, Kurt: Die Farbensprache der expressionistischen Lyrik. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 31 (1957), 198– 240. Mayer, Mathias: Nietzsche-Verwerfungen bei Georg Trakl. In: Thorsten Valk (Hg.): Friedrich Nietzsche und die Literatur der klassischen Moderne. Berlin 2009, 87–100. Rimbaud, Arthur: Œuvres complètes. Édition établie, présentée et annotée par Antoine Adam. Paris 1972. Verlaine, Paul: Œuvres poétiques complètes. Texte établi et annoté par Yves-Gérard Le Dantec. Paris 1962. Wetzel, Heinz: Klang und Bild in den Dichtungen Georg Trakls. Göttingen 1972.

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Trakl und der Expressionismus Peter Sprengel

Im Wandel der Zeit Jede Aussage über Trakl und den Expressionismus hat der Historizität und Unschärfe des Epochenbegriffs und dem Wandel der Maßstäbe Rechnung zu tragen, dem die Rezeption literarischer Werke unterworfen ist. Die legendäre Ausstellung »Expressionismus«, mit der das Deutsche Literaturarchiv in Marbach 1960 die lange Reihe seiner Literaturausstellungen eröffnete, widmete Trakl die erste von vier den »großen Lyrikern« vorbehaltenen Vitrinen (Zeller 1960, 90). In einem kurz zuvor veröffentlichten Bericht zur Expressionismus-Forschung heißt es: »Kein Dichter hat nach dem Krieg eine so breite, immer zunehmende Beachtung gefunden wie Georg Trakl. Kein Werk expressionistischer Dichtung hat so viel Untersuchungen, Interpretationsversuche, Diskussionen, Scharfsinn und Tiefsinn auf sich gezogen wie das Georg Trakls« (Brinkmann 1959, 133). Zwölf Jahre später dagegen beginnt in derselben Zeitschrift ein Überblick zur Trakl-Forschung merklich ernüchtert mit der Feststellung: »Kaum versucht man noch, Trakl lediglich im Rahmen des Expressionismus – als typischen oder wichtigs-

P. Sprengel (*)  Institut für deutsche und niederländische Philologie, Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected]

ten Repräsentanten expressionistischer Lyrik – zu sehen, zumal immer noch ungeklärt ist, was denn Expressionismus als dichtungsgeschichtliches Phänomen oder als Bewegung sei« (Kemper 1971, 496). Zu Lebzeiten Trakls verstand man unter Expressionismus, von Ausnahmen wie Kurt Hiller abgesehen, eher ein Phänomen der Malerei als der Literatur. Kasimir Edschmid, der das 1917 mit seiner resonanzreichen Berliner Rede »Expressionismus in der Dichtung« grundlegend änderte, führt in seinem Katalog von Vertretern der neuen »Bewegung« Trakl an fünfter Stelle der Lyriker an, eingereiht zwischen Paul Zech und Johannes R. Becher (die heute weit unter ihm gehandelt werden) und mit einer etwas zweifelhaften Charakterisierung: »Da ist das süße Farbspiel, aus Verwesung das Göttliche mit krankhafter Schönheit suchend, bei dem Tiroler Georg Trakl, der die Natur mit elegischen Gesichten nie gesehener Schönheit erfüllt« (Anz/ Stark 1982, 53). Auch abgesehen vom fragwürdigen Herkunfts-Etikett, lässt sich ein gewisser Widerspruch gegenüber vorausgehenden Bestimmungen des Expressionismus in derselben Rede nicht verleugnen: »Die neue Kunst ist daher positiv. Weil sie intuitiv ist. Weil sie, elementar empfindend, willig aber stolz sich den großen Wundern des Daseins hingebend, frische Kraft hat zum Handeln und zum Leiden« (Anz/ Stark 1982, 48). Von derartiger ›frischer Kraft‹ hat der Salzburger Dichter offensichtlich nicht

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_7

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viel mitbekommen; Edschmid konzediert das selbst, wenn er Trakls Interesse an Verwesung und Krankheit anspricht und damit indirekt seine Prägung durch die Décadence signalisiert. In anderer Hinsicht allerdings entspricht Edschmids TraklPorträt einem Kernpunkt seiner ExpressionismusDefinition, nämlich in der visionären Ausrichtung (»Gesichte nie gesehener Schönheit«). »Ihnen entfaltete das Gefühl sich maßlos«, hatte sein Essay an früherer Stelle den Expressionisten attestiert und vier kurze Sätze folgen lassen, die im Erstdruck jeder einen eigenen Absatz bilden: »Sie sahen nicht. Sie schauten. Sie photographierten nicht. Sie hatten Gesichte« (Anz/Stark 1982, 46). Drei Jahre nach Edschmid ist die Kanonisierung Trakls im Sinne der neuen Bewegung schon praktisch abgeschlossen. In den beiden wichtigsten resümierenden expressionistischen Lyrikanthologien – in Kurt Pinthus’ Menschheitsdämmerung. Symphonie jüngster Dichtung (1920) und in Die Botschaft. Neue Gedichte aus Österreich (1920) – ist Trakl mit zahlreichen Gedichten prominent vertreten. So lange man vom Expressionismus in der Literatur spricht, so lange gibt es aber auch Hinweise darauf, dass Trakl nicht als ›normaler‹ Vertreter der Epochenströmung aufgefasst wurde. Dieses Bewusstsein hat in der Trakl-Forschung der 1950er und 1960er Jahre bisweilen zu eigenartigen argumentativen Verrenkungen geführt. So sieht eine Berner Dissertation Trakl vom Expressionismus durch die Passivität getrennt, in der er Chaos und Zerstörung erleide; gleichzeitig wird ihm ein »Mehr als der Expressionismus« attestiert, weil sein kompromissloses Scheitern die Möglichkeit »neuer menschlicher Existenz« eröffne (Kaufmann 1956, 82 f.). Für Walter Falk dagegen gehört das vom Dichter selbst veröffentlichte Œuvre mehrheitlich noch gar nicht dem Expressionismus an. Dieser beginne bei Trakl erst nach den 1913 bei Kurt Wolff erschienenen Gedichten, die Falk nämlich gerade aufgrund des Reihungsstils – dazu unten mehr – als ›impressionistisch‹ gelten (vgl. Falk 1961). Als eine Art ›Super-Expressionist‹ wird Trakl hinwiederum vom Heym-Forscher Karl Ludwig Schneider gewürdigt, da sich die »Grundspannung der ganzen expressionistischen Epo-

P. Sprengel

che« in seiner Landschaftsgestaltung mit seltener Vollständigkeit abbilde: »Einerseits […] haben die Autoren dieser Bewegung in ihren Dichtungen den Untergang der alten Zeit angekündigt, ersehnt oder wie Trakl erlitten. Andererseits versuchten sie, die Utopie einer besseren Zeit und eines neuen Menschen zu entwerfen. […] Trakl zeigt beide Seiten der Entwicklung in seinem Werk, und das scheint mir ein Zeichen dafür zu sein, daß er nicht nur oberflächlich vom Expressionismus berührt war, sondern stärker als mancher andere Expressionist in der Grundspannung der Epoche stand« (Schneider 1967, 108). Das Nach- und Nebeneinander der beiden von Schneider hervorgehobenen Tendenzen sollte die Expressionismus-Forschung der Folgejahre zunehmend beschäftigen. Für die besonders im Frühexpressionismus dominierende kultur-, sozial- und religionskritische Dimension hat Silvio Vietta in der Erfahrung der IchDissoziation ein neues Zentrum ausgemacht, für das auch Trakls Lyrik eindrucksvolle Belege liefert (Vietta/Kemper 1975, 45, 144). Die epochale Bedeutung, die ihm der Theorie-Teil des gemeinsam mit Hans-Georg Kemper verfassten Expressionismus-Buchs zuweist, wird zusätzlich an der Häufigkeit deutlich, mit der Trakl (als prominenter Lyriker) direkt neben Kafka (als prominenter Erzähler) gestellt wird (Vietta/ Kemper 1975, 121, 160, 181). Der exponierte Stellenwert, den ihm diese Gemeinschaftsarbeit als Kronzeuge der expressionistischen Dichtung zuweist, gipfelt jedoch in der Detailanalyse von Trakls Gedicht »Geburt« auf mehr als vierzig – von Kemper verfassten – Seiten (Vietta/ Kemper 1975, 229–285). Darin sind auch kursorische Ausblicke auf andere Lyriker der Zeit enthalten; Trakl ist aber der Einzige, der als repräsentatives Beispiel für die Entwicklung der expressionistischen Lyrik einer Mikro-Analyse gewürdigt wird. Dieser späte Höhepunkt der germanistischen Trakl-Rezeption und der Akzeptanz der Achse Trakl-Expressionismus bildet aber auch schon einen Umschlagspunkt, schließt die beginnende Peripetie in sich. Denn bereits Vietta gesteht sein Unbehagen angesichts des Begriffs ›Expressionismus‹ und der in ihm enthaltenen

7  Trakl und der Expressionismus

ideologischen Implikationen (Vietta/Kemper 1975, 25). Dazu gehört auch jene fragwürdige Sonderstellung als vermeintlich speziell deutsches Phänomen, die die Zusammenhänge der internationalen Moderne um 1900 zu verdecken droht. Während gerade ein britisches Handbuch Trakl weiterhin unbeirrt als Kronzeugen des ›German Expressionism‹ in Anspruch nimmt (vgl. Donahue 2005), mahnen deutsche Einführungsbände zu Stilrichtung und Epoche die überfällige Umschichtung neuerdings schon in relativierenden Ausführungen zur »Problemgeschichte der expressionistischen Moderne« (Krause 2008, 61) oder zum Konnex von »Expressionismus und Moderne« (Anz 2002, 1) an. Als Paradigma des Expressionismus spielt Trakl hier wie dort keine exzeptionelle Rolle mehr. Eine rezente Literaturgeschichte zur deutschsprachigen Moderne verzichtet sogar ganz auf ein eigenes Kapitel zum Expressionismus (vgl. Willems 2015). Demgemäß kann eine ambitionierte Untersuchung zur Unverständlichkeit in der Kurzprosa um 1900 zwar auf Texte Trakls eingehen, dabei aber ganz ohne das Etikett ›expressionistisch‹ auskommen (vgl. Baßler 1994).

Der ›Einsame‹ zwischen den Fronten Der Expressionismus-Begriff, der bisher Verwendung fand, war wesentlich stilistisch oder weltanschaulich bestimmt und entsprang einer postumen Außenschau auf das Werk. Es gibt aber noch eine andere Ebene, auf der nach Trakls Zugehörigkeit zum Expressionismus gefragt werden kann, und das ist seine Selbstverortung im literarischen Feld, ablesbar etwa an den von ihm selbst gewählten Publikationsorten, seinen Selbstaussagen und paratextuellen Signalen. Hier ergibt sich ein gespaltenes, nähere Differenzierung erforderndes Bild. An den zentralen Zeitschriften des Berliner Expressionismus (Die Aktion, Der Sturm) hat Trakl nicht den geringsten Anteil. Sein erster und zu Lebzeiten einziger Gedichtband erscheint jedoch in der für die Durchsetzung des Expressionismus in Deutschland absolut vorrangigen Reihe Der jüngste Tag des Leipziger Kurt Wolff Ver-

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lags. In der zugegebenermaßen wesentlich bescheideneren österreichischen Expressionismus-Szene ist Trakl von Anfang an hochgradig präsent: durch Beteiligung an der wichtigsten einschlägigen Zeitschrift Der Ruf und der von ihrem Herausgeber Robert Müller organisierten Sammlung Die Pforte. Eine Anthologie Wiener Lyrik (1913). Aus medien- und institutionsgeschichtlicher Perspektive lässt sich somit feststellen: »Da Trakl in diesen Unternehmungen bestens verankert ist, muss er in diesem Sinn zum Expressionismus gezählt werden« (Michler 2016, 378). Freilich ist Trakls Zugehörigkeit keine bedingungslose. Zur patriotischen Kriegsnummer der Zeitschrift Der Ruf 1912 steuert er mit »Trompeten« ein Gedicht bei, dessen zweite Hälfte geradezu als Distanzierung vom Krieg gelesen werden kann; auch legte er Wert darauf, dass sein Beitrag nicht direkt neben einem kriegstreiberischen Text zu stehen kam (vgl. Michler 2016, 382, 386–388). Nach Karl Kraus’ Bruch mit Werfel und dem expressionistischen Lager wollte er am liebsten seine Gedichte aus der Pforte zurückziehen. Im Kraus-Freund Ludwig von Ficker, dessen Bekanntschaft ihm Müller vermittelte, fand Trakl schließlich seinen wichtigsten Förderer und Herausgeber: Kein Brenner-Heft fortan ohne einen Beitrag Trakls! Allerdings wird man die Innsbrucker Zeitschrift schon aufgrund ihrer Tirol-Bezüge und ihrer konservativen Kulturkritik kaum zum Spek­trum der expressionistischen Avantgarde rechnen (vgl. Klettenhammer 1990). Eine ähnliche Ambivalenz im Verhältnis zum Expressionismus lässt sich auch an den Widmungen einzelner Gedichte ablesen, mit denen Trakl recht großzügig umging; sie gelten neben persönlichen Weggefährten (Erhard Buschbeck) und Entdeckern (Karl Borromäus Heinrich) vorrangig Ficker und Kraus, dem von diesem hochgeschätzten Architekten und Jugendstil-Kritiker Adolf Loos und der von Kraus als einzige Lyrikerin des Berliner Expressionismus anerkannten Else Lasker-Schüler. Der Dichter, der sich gern in der Figur Kaspar Hausers oder des ›Einsamen‹ spiegelte, achtete also peinlich genau auf die Sichtbarkeit seines Standorts in der literari-

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schen Landschaft – freilich nicht so sehr als typischer Expressionist denn als treues Mitglied der Kraus/Ficker-Partei.

Reihungsstil Wenn Trakl trotz solcher Zurückhaltung und eines überwiegend lokalen oder regionalen Publikationsverhaltens in kürzester Zeit postum zum prominenten Exponenten der expressionistischen Lyrik aufsteigen konnte, so ist das nur zu erklären mit einer Reihe auffälliger, in Kritik und Forschung denn auch hinlänglich beachteter Übereinstimmungen oder Analogien. An erster Stelle ist dabei sicher der sogenannte Simultan- oder Reihungsstil zu nennen, der sich in der Großstadtlyrik der Berliner Zeitschrift Die Aktion ab 1912 durchsetzt und unter anderem in Alfred Lichtensteins Gedicht »Die Nacht« hervortritt: Verträumte Polizisten watscheln bei Laternen. Zerbrochne Bettler meckern, wenn sie Leute ahnen. An manchen Ecken stottern starke Straßenbahnen, Und sanfte Autodroschken fallen zu den Sternen. Um harte Häuser humpeln Huren hin und wieder, Die melancholisch ihren reifen Hintern schwingen. Viel Himmel liegt zertrümmert auf den herben Dingen … Wehleidige Kater schreien schmerzhaft helle Lieder. (Lichtenstein 1989, 44) Dass es sich bei dieser Aneinanderreihung disparater Stadt-Wahrnehmungen nicht um ein ›impressionistisches‹ Verfahren handelt, deutet sich schon in verwandten lyrischen Äußerungen Lichtensteins an wie dem Anfang seines Gedichts »Punkt«: »Die wüsten Straßen fließen lichterloh / Durch den erloschnen Kopf« (ebd., 80). Im Äußeren dokumentiert sich offenbar der Zustand des Inneren, ein spezifisches Zerbrechen der Subjektivität, das sich auch signalhaft in einzelnen Stichworten des oben zitierten Gedichts verrät (zerbrochne, melancholisch, schmerzhaft). Trotz der unüberhörbaren – für

P. Sprengel

Trakl durchaus untypischen – Signale von Ironie und Komik künden die Verse Lichtensteins von einer ähnlichen Verzweiflung, wie sie sich im zeitlich unmittelbar vorausgehenden, ungleich bekannteren Gedicht »Weltende« von Jakob van Hoddis ausspricht: Mitgeteilt wird die Befindlichkeit einer Generation nach Nietzsche, der der christliche Himmel und der metaphysische Horizont – damit aber auch die Fähigkeit zu einer ganzheitlichen oder totalisierenden Gestaltung – verlorengegangen bzw. »zertrümmert« sind. Angesichts der Brisanz und Aktualität, die der additive Duktus insbesondere in der Großstadtlyrik expressionistischer Zeitschriften 1912 gewann, erscheint es mehr als verständlich, dass ein sensibler Lektor wie Heinrich schon Ende desselben Jahres Trakls Gedichte für den Münchner Albert Langen Verlag anzuwerben versuchte und der Leipziger Kurt Wolff Verlag sich im folgenden Frühjahr den ersten Gedichtband des jungen Österreichers sicherte. Denn offenkundig zeichnet sich Trakls Lyrik des Zeitraums 1910–1912 durch eine ganz ähnliche Strukturierung aus, werden hier immer wieder verschiedene Elemente oder Eindrücke, denen jeweils ein eigener Vers gehört, zu vierzeiligen Strophen verbunden. Man vergleiche die zweite Strophe aus »In einem verlassenen Zimmer«: Lichterloh die Büsche wehen Und ein Schwarm von Mücken schwingt. Fern im Acker Sensen mähen Und ein altes Wasser singt. (ITA I, 265) Oder die Schlussstrophe von »Musik im Mirabell«: Ein weisser Fremdling tritt ins Haus. Ein Hund stürzt durch verfallene Gänge. Die Magd löscht eine Lampe aus, Das Ohr hört nachts Sonatenklänge. (ITA I, 250) Dass Trakl diese Dichtungsform als seine persönliche Errungenschaft ansah (also keineswegs bewusst von anderen übernommen hatte), ergibt sich aus seiner heftigen Reaktion auf eine Gedichtlesung Ludwig Ullmanns im Juli

7  Trakl und der Expressionismus

1910. Trakl glaubte sich – und insbesondere sein Gedicht »Der Gewitterabend« – vom neugewonnenen Wiener Bekannten plagiiert und äußerte sich in einem Brief an Freund Buschbeck empört über die Nachahmung seiner »bildhafte[n] Manier, die in vier Strophenzeilen vier einzelne Bildteile zu einem einzigen Eindruck zusammenschmiedet.« Allerdings fehle der Imitation »das Lebendige« (ursprünglich hatte Trakl geschrieben: »das Fieber, die Glut«), das »sich eben diese Form schaffen mußte« (ITA V.1, 126). Der Alleinvertretungsanspruch, den der Lyriker auf seine »heiß errungene Manier« erhebt (ebd.), bezeugt die Bewusstheit, mit der Trakl das Prinzip der Reihung in seinen Gedichten einsetzt. Er reflektiert es sogar in diesen selbst, etwa im vorletzten Vers von »Verklärter Herbst«: »Wie schön sich Bild an Bildchen reiht –« (ITA II, 50). Das Gelingen seiner Technik sieht er allerdings an individuelle emotionale, quasi organische Voraussetzungen gebunden (Fieber, Glut, Leben), die dazu beitragen, dass sich das Heterogene der isolierten Elemente zu einem »einzigen Eindruck« zusammenschließt. Wer die obenstehenden Gedichtzitate prüft, wird Trakls Anspruch im Wesentlichen bestätigen können, auch wenn die Einheitlichkeit des Eindrucks möglicherweise unterschiedlich zustande kommt – durch prästabilierte Harmonie der (ohnehin ähnlichen) Einzeleindrücke im ersten Beispiel, durch vage Andeutung eines handlungsmäßigen Zusammenhangs im zweiten. Die Empfindung einer umfassenden lyrischen Verbundenheit unterscheidet Trakls Komposition in jedem Fall von der bizarren Willkür, mit der die gleichzeitige Großstadtlyrik des Frühexpressionismus Unzusammengehöriges, ja eigentlich miteinander Unverträgliches kollagiert.

Verfall und Zivilisationskritik Wo Trakl diesen zeitgenössischen Bestrebungen am weitesten entgegenkommt, nämlich in dem Gedicht »Vorstadt im Föhn«, tritt eine weitere Gemeinsamkeit mit seinen Dichterkollegen in der deutschen Hauptstadt markant hervor: nämlich die obsessive Vorliebe für Verfalls-

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erscheinungen und ihre abstoßenden oder ekelerregenden Elemente. Man erinnere sich nur der dritten Strophe: Am Kehricht pfeift verliebt ein Rattenchor. In Körben tragen Frauen Eingeweide, Ein ekelhafter Zug voll Schmutz und Räude, Kommen sie aus der Dämmerung hervor. (ITA I, 573) Eine ähnliche Kombination der Motive Frau – Tod – Ratten liefert Gottfried Benns Gedicht mit dem ironischen Titel »Schöne Jugend«; in der Krebsbaracke und auf der Anatomie bleibt nach der Diagnose des preußischen Dichterarztes wenig von den Schönheitsidealen und der angeblichen Beseeltheit des Menschen übrig. Auch in Georg Heyms Lyrik treten Wasserleichen und Wasserratten, Berlinbild und Ratten eng zusammen: »Wie eine schwarze Schar von grossen Ratten, / so stehn die Schirme vor des Bahnhofs Mund« (Heym 1993, 351). Heym teilt mit Trakl nicht nur das Schicksal des frühen Todes, sondern auch die Intensität der Rezeption von Arthur Rimbauds Poesie in der maßgeblichen Übersetzung von Karl Anton Klammer (Pseudonym K.L. Ammer). Rezipiert werden dabei nicht nur ein spezifisches lyrisches Vokabular und eine Motivwelt, die von der Stilisierung des Todes bis zur Evasion in exotische oder mythische Welten reicht, sondern auch die Vorstellung vom ›wilden‹, in die Institutionen der zivilisierten Welt nicht integrierbaren Dichter, wie sie in den biographischen Angaben Ammers enthalten war (vgl. Krüger 1993). Angesichts dieser Gleichartigkeit der Voraussetzungen kann es kaum wundern, dass sich einzelne Gedichte Trakls und Heyms in Bildsprache und Thematik fast spiegelbildlich berühren. Dem oben zitierten Trakl-Gedicht »Vorstadt im Föhn« kommt Heyms Gedicht »Die Vorstadt« auf nachgerade unheimliche Weise nahe (wir zitieren die ersten fünf von insgesamt elf Strophen): In ihrem Viertel, in dem Gassenkot, Wo sich der große Mond durch Dünste drängt, Und sinkend an dem niedern Himmel hängt, Ein ungeheurer Schädel, weiß und tot,

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Da sitzen sie die warme Sommernacht Vor ihrer Höhlen schwarzer Unterwelt, Im Lumpenzeuge, das vor Staub zerfällt. Und aufgeblähte Leiber sehen macht. Hier klafft ein Maul, das zahnlos auf sich reißt. Hier hebt sich zweier Arme schwarzer Stumpf. Ein Irrer lallt die hohlen Lieder dumpf, Wo hockt ein Greis, des Schädel Aussatz weißt. Es spielen Kinder, denen früh man brach Die Gliederchen. Sie springen an den Krücken Wie Flöhe weit und humpeln voll Entzücken Um einen Pfennig einem Fremden nach. Aus einem Keller kommt ein Fischgeruch, Wo Bettler starren auf die Gräten böse. Sie füttern einen Blinden mit Gekröse. Er speit es auf das schwarze Hemdentuch. Die Übereinstimmung hinsichtlich der »Funktion des Häßlichen« in der Lyrik Trakls, Benns und Heyms (vgl. Eykman 1985) findet allerdings eine Grenze in der romantisierenden Tendenz, mit der Trakl den Erscheinungsformen des Verfalls vor allem in der Natur immer wieder auch positive ästhetische Reize oder spirituelle Werte abgewinnt – wie in den Gedichten »Verklärter Herbst« oder »Die Heimkehr«: Des Herbstes goldner Odem, Abendwolke – Reinheit! (ITA IV.2, 243)

Abstraktion und Synästhesien Die Tendenz zur Abstraktion in der modernen Kunst, die zu Anfang des 20. Jahrhunderts vor allem in der bildenden Kunst hervortrat und sich mit Richtungsbegriffen wie Kubismus und Futurismus verband, wurde in der deutschen Zeitschriftenlandschaft des Expressionismus zunächst und am entschiedensten von Herwarth Waldens Zeitschrift Der Sturm aufgegriffen. Hier wurde mit den Dichtungen August Stramms und seiner Nachfolger auch am konsequentesten ein Dichtungskonzept gepflegt,

P. Sprengel

das im Zeichen der ›Wortkunst‹ eine Auflösung grammatischer Strukturen und eine partielle Desemantisierung betrieb, die freilich letztlich im Dienst ›expressionistischer‹ Ausdruckssteigerung stand. Trakl selbst war, wie schon bemerkt, an den Aktivitäten der Berliner Zeitschrift und Galerie nicht direkt beteiligt; dennoch ist nicht zu übersehen, dass seine Dichtung vor allem in ihren letzten Phasen von 1912 bis 1914 ähnliche Entwicklungen durchmacht, nämlich eine tendenzielle Aufweichung syntaktischer Zusammenhänge und eine Emanzipation des Worts von seiner lexikalischen Referenz verfolgte. Wiederkehrende Figuren wie »blaues Wild« haben Vergleiche zur Malerei des »Blauen Reiters« nahegelegt, insbesondere zu den Tierbildern Franz Marcs; Roland Mönig stellt einschlägige Überlegungen unter die Überschrift »Christus als blaues Wild« (Mönig 1996, 77–99). Petra Renkel dagegen fokussiert auf den für Wassily Kandinsky und die von ihm beeinflusste Theoriebildung im Sturm zentralen Begriff des »inneren Klangs« und spürt den synästhetischen Implikationen einer derartigen ›musikalischen‹ Kunst- bzw. Dichtungsauffassung nach, u. a. durch den Aufweis lautsymbolischer und rhythmischer Mittel in Trakls Lyrik (vgl. Renkel 1994, 85–87). Auch wenn die Gebundenheit des Dichters an die referentielle Sprache eine so weitgehende Abstraktion wie in Kandinskys fortgeschrittensten Bildexperimenten nicht erlaube, sieht sie in Trakls später Lyrik – in Anlehnung an die Programmatik des Malers – »reine Seelenvibrationen« oder »gegenstandslose Vibrationen« ausgelöst (Renkel 1994, 89, 91). Die Nähe von Trakls komplexem Altersstil zu Abstraktionstendenzen in der bildenden Kunst macht eine Doppelseite der Zeitschrift ZeitEcho vom Januar 1915 bewusst, die Trakls Gedicht »Die Nacht« (allerdings unter Verzicht auf den Titel) mit Paul Klees Graphik »Der Tod für die Idee« kombiniert (vgl. Sprengel 1994). Der Leser/die Leserin kann in der Graphik eine Illustration des Gedichts sehen, die sogar den damals erst kurz zurückliegenden Tod des Dichters im Krieg miteinbezieht; umgekehrt findet er/sie die Tendenz zur Kristallisierung, die Klees

7  Trakl und der Expressionismus

Gestaltung bestimmt, im Schluss des Gedichts (»Ein versteinertes Haupt«: ITA IV.2, 260) bereits ausgesprochen. Die düster-gewalttätige Metaphorik des Textes bekommt durch den Publikationsort und die an verbreitete Ideologeme des Kriegsbeginns (kritisch?) anknüpfende Titelgebung der Klee-Graphik einen prophetischen und je nach Standpunkt des Publikums kriegsaffirmativen oder warnenden Charakter – eine Form der Vieldeutigkeit, die in dieser extremen Zuspitzung erst durch die Hinwendung des Expressionismus zur Abstraktion möglich wurde.

Gottnähe oder -ferne Der eingangs genannte Forschungsbericht Brinkmanns äußert sich spöttisch über Interpreten der 1950er Jahre, die Trakls Gedichte im Sinne katholischer Frömmigkeit verstanden wissen wollten. Über Eduard Lachmanns Zugang zu diesen Texten etwa heißt es: »Er ist immer froh, wenn eine Glocke vorkommt oder eine Kirche, ein Kloster vielleicht sogar« (Brinkmann 1959, 137). Diese Freude gewährt der Lyriker seinem Publikum in der Tat häufig, es mangelt nicht an Kreuz und Abend, Dornenbogen, Heiligen und Nonnen. Die Frage ist nur, ob wir in diesem dichten Netz von Bezügen auf Kirchliches und biblische Modelle eine Art Glaubensbekenntnis, eine säkulare Adaption oder vielmehr eine Verabschiedung bzw. einen Widerruf der christlichen Botschaft unter dem für die ganze expressionistische Generation prägenden Einfluss von Nietzsches Religionskritik sehen dürfen oder müssen. Schon die Dichtung der Jahrhundertwende zeichnet sich ja – um nur Rainer Maria Rilke oder Gerhart und Carl Hauptmann zu nennen – durch eine verstärkte Behandlung christlicher Motive aus; die Expressionisten steigern diese Tendenz noch durch direkte Anlehnung an religiöse Modelle, wie etwa im sogenannten expressionistischen Verkündigungsdrama Georg Kaisers. Die Frage des Glaubens und seiner Inhalte bleibt dabei durchaus prekär; innerhalb der expressionistischen Lyrik widerstreiten etwa die unflätigen Absagen

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der »Morgue«-Gedichte des Pfarrersohns Benn an den christlichen Jenseitsglauben den messianischen Erlösungshoffnungen, in denen sich (nicht nur) die frühen Gedichte Bechers und Werfels ergehen. Trakl erweist sich also mindestens als Expressionismus-affin, wenn er sich wiederholt die Psalmen des Alten Testaments zum Vorbild nimmt und an zahllosen Stellen auf die Passionsgeschichte anspielt. Vielleicht kann man – ein oben angeführtes Diktum Schneiders zur Grundspannung der Epoche abwandelnd – in ihm geradezu einen Prototyp der expressionistischen Literatur erkennen, insofern er ihre einschlägigen Extreme (Erlösungssehnsucht und atheistische Verzweiflung) in seinen Texten zusammenführt, und zwar so, dass beide Pole darin gültig ausformuliert sind. Am eindrucksvollsten geschieht das wohl in seinem Kraus gewidmeten »Psalm« (I) mit dem bemerkenswerten – eine Reihe apokalyptischer Bilder abschließenden oder aufwiegenden – Schlussvers: »Schweigsam über der Schädelstätte öffnen sich Gottes goldene Augen« (ITA II, 25). Der bereits erwähnte christliche Interpret Lachmann konstatiert triumphierend ein Bekenntnis zu Golgatha und zum Passionsgedanken: »Vor dem letzten Vers muß auch ein ästhetisches Urteil kapitulieren« (Lachmann 1954, 137 f.). Man könnte dagegen ins Feld führen, dass frühere Fassungen desselben Gedichts keineswegs mit einem – die vorausgehenden Bilder des Schreckens gleichsam tilgenden – gläubigen Aufschwung enden (vgl. ITA II, 21, 23); auch war es in jedem Fall ein ästhetischer Produktions- und Reflexionsprozess, der die ungewöhnliche Formulierung hervorbrachte. Deren näheres Verständnis wird von Kemper u. a. mit Bezug auf die dialektische Theologie Karl Barths und mit Betonung auf dem Schweigen Gottes diskutiert. Gültig bleibt jedenfalls sein abschließender Kommentar: »Trakls radikale, hermetische Poesie provoziert ein solches religiöses Fragen […], aber sie führt mit ihren Fragen zugleich in die Krise, sie ›richtet‹ die traditionelle Heilsbotschaft, und an den ›goldenen Augen‹ ihrer ästhetischen Ambiguität sieht sich ein religiöse Wahrheit Suchender blind« (Kemper 1998, 169).

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P. Sprengel Klettenhammer, Sieglinde: Georg Trakl in Zeitungen und Zeitschriften seiner Zeit. Kontext und Rezeption. Innsbruck 1990. Krause, Frank: Literarischer Expressionismus. Paderborn 2008. Krüger, Eva: Todesphantasien. Georg Heyms Rezeption der Lyrik Baudelaires und Rimbauds. Frankfurt a. M. et al. 1993. Lachmann, Eduard: Kreuz und Abend. Eine Interpretation der Dichtungen Georg Trakls. Salzburg 1954. Lichtenstein, Alfred: Dichtungen. Hg. von Klaus Kanzog und Hartmut Vollmer. Zürich 1989. Michler, Werner: Avantgarde, Krieg, Trompeten. Formund Gattungsstrategien bei Georg Trakl und im österreichischen Expressionismus. In: Uta Degner/Hans Weichselbaum/Norbert Christian Wolf (Hg.): Autorschaft und Poetik in Texten und Kontexten Georg Trakls. Salzburg/Wien 2016, 377–391. Mönig, Roland: Franz Marc und Georg Trakl. Ein Beitrag zum Vergleich von Malerei und Dichtung des Expressionismus. Münster 1996. Renkel, Petra: »Das Wort ist ein innerer Klang.« Abstraktionstendenzen in der expressionischen Kunst zwischen Wassily Kandinsky und Georg Trakl. In: Thomas Eicher/Ulf Bleckmann (Hg.): Intermedialität. Vom Bild zum Text. Bielefeld 1994, 77–94. Schneider, Karl Ludwig: Zerbrochene Formen. Wort und Bild im Expressionismus. Darmstadt 1967. Sprengel, Peter: Kristallisierung: Trakl, Klee und der Krieg. Zur Frage des Bild-Text-Bezugs im Zeit-Echo. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 68 (1994), 549–561. Vietta, Silvio/Kemper, Georg: Expressionismus. München 1975. Willems, Gottfried: Geschichte der deutschen Literatur V: Moderne. Wien/Köln/Weimar 2015. Zeller, Bernhard (Hg.): Expressionismus. Literatur und Kunst 1910–1923. München 1960.

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Trakls Religion Ulrike Tanzer

Die Forschung hat sich seit Beginn der 1950er Jahre intensiv mit Trakls Verhältnis zur Religion auseinandergesetzt. So etwa der Schriftsteller und Brenner-Mitarbeiter Josef Leitgeb, der die Sprachwelt Trakls 1951 wie folgt beschrieb: »Wir begegnen in ihr einer Landschaft eigenen Gepräges, einer Landschaft außerhalb aller geschichtlichen Zeit […]. Sie gleicht in manchen Zügen jener der Bibel, wenn auch ihr Grundcharakter dem Land um Salzburg entstammt. Sie ist auf die Urelemente zurückgeführt: Wald, Bäume auf dem Hügel, Himmel, Weiher, Vogelflug« (Leitgeb 1951, 37). Meist ist in der Literatur verallgemeinernd vom Christentum die Rede, ohne die spezifische Situation Trakls als Mitglied einer protestantischen Minderheit in einer zutiefst katholischen Umgebung näher in den Blick zu nehmen. Die zahlreichen intertextuellen Anspielungen, die sich in den Gedichten finden, schöpfen aus beiden Konfessionen, der genauen protestantischen Bibelkenntnis und der vielfältig ausgeprägten katholischen Tradition. Beide Welten waren Trakl vertraut, zu beiden entwickelte er ein ambivalentes Verhältnis. Der biographisch-soziokulturelle

U. Tanzer (*)  Brenner-Archiv, Universität Innsbruck, Innsbruck, Österreich E-Mail: [email protected]

Kontext ist von großer Bedeutung. Leitgebs Ansinnen, Trakls Lyrik als zeitlos zu interpretieren, hat Alfred Doppler eine deutliche Absage erteilt (vgl. Doppler 1987, 109).

Der konfessionelle Hintergrund der Familie Trakl Georg Trakl stammte väterlicherseits aus einer deutschsprachigen protestantischen Bürgerfamilie aus Ödenburg (Sopron); sowohl Valentine Götz, die erste, früh verstorbene Frau seines Vaters, als auch Maria Halik, Georg Trakls Mutter, kamen aus böhmischen Zuwandererfamilien, waren katholisch getauft und konvertierten im Zuge der Eheschließung zum Protestantismus (vgl. Weichselbaum 2014, 8–10). (Von katholischer Seite wäre eine gemischt-konfessionelle Ehe bis zum Erscheinen des Codex iuris canonici 1917 zwar unerlaubt, aber gültig gewesen.) Im überwiegend katholischen Salzburg gehörte die Familie Trakl zu den ca. 1200 Mitgliedern der evangelischen Kirchengemeinde aus Stadt und Umgebung, einer religiösen Minderheit. Das 1861 unter Kaiser Franz Joseph I. erlassene Protestantengesetz gewährte den Protestanten in Österreich eine nahezu vollständige Gleichberechtigung. Die Salzburger Gemeinde, die zunächst von Oberösterreich aus seelsorglich betreut wurde, erwarb im Zuge der Stadterweiterung ein Grundstück am Ufer der Salz-

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_8

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ach und ließ nach Plänen des aus Württemberg stammenden Baumeisters Jakob Götz eine Kirche im Stil des Historismus erbauen (1867). Georg Trakl wurde, wie seine Geschwister, von Pfarrer Heinrich Gottlieb Aumüller getauft und konfirmiert. Er besuchte zwar nicht die evangelische Schule, nahm aber dort am Religionsunterricht teil. Von einer profunden Kenntnis der Bibel kann also ausgegangen werden. Der aus Coburg stammende Aumüller war die prägende Gestalt des Protestantismus in Salzburg. Gemeinsam mit seiner Frau Lina von Mühlholz leistete er Aufbauarbeit und gründete zahlreiche Gemeinden, die später selbständig wurden. Der »Los-von-Rom-Bewegung«, die der evangelischen – wie auch der altkatholischen – Kirche einen starken Zuwachs bescherte, stand der liberal gesinnte Aumüller äußerst kritisch gegenüber. Einer der Hauptproponenten der national-politischen Strömung, der Arzt Theodor Georg Rakus, zog 1907 mit seiner Familie nach Salzburg. Pfarrer Aumüller legte aufgrund der schweren Auseinandersetzungen mit der Gemeinde sein Amt vorzeitig nieder und übersiedelte nach Traunstein, wo er am 13. Mai 1913 starb. Ein Ehrengrab am Salzburger Kommunalfriedhof und eine Reliefbüste in der Christuskirche erinnern an ihn (vgl. Eltz 2013, 59–61).

Ritus-Kritik: Trakl und der Salzburger Katholizismus Ernst Hanisch und Ulrike Fleischer beschreiben in ihrer kulturhistorischen Studie über Salzburg in den Jahren Georg Trakls vor allem das katholische Umfeld, das in Salzburg durch die historische Einheit von Landesfürst und Bischof, die bis zur Säkularisation dauerte, besonders prägend war. Die Kirche hatte ihr landesfürstliches Vermögen an den Staat zwar verloren, die Klöster, allen voran St. Peter und Nonnberg, besaßen ein beträchtliches Grundvermögen. 1900 wurde der gebürtige Tiroler Domkapitular Johann Baptist Katschthaler, Professor für Dogmengeschichte und Apologetik an der Universität Innsbruck und Direktor des Priesterhauses, zum Erzbischof gewählt. Er vertrat eine offen-

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sive Haltung des politischen Katholizismus, trat für die Wiedererrichtung einer (katholischen) Universität in Salzburg ein und förderte die Kirchenmusik. Die von ihm 1906 einberufene Salzburger Provinzialsynode wandte sich gegen Reformkatholizismus und religiöse Toleranz und verurteilte moderne Strömungen wie Materialismus, Protestantismus, Liberalismus und Wissenschaft (vgl. Hanisch/Fleischer 1986, 150 f.). 98 % der Salzburger Bevölkerung waren katholisch, die Zahl des Klerus noch verhältnismäßig hoch: 440 Weltpriester, 120 Ordensgeistliche und 880 Nonnen. Jährlich wurden etwa 14 Priester neu geweiht. Der Klerus besetzte wichtige politische und gesellschaftliche Positionen – so saß der Erzbischof etwa im Landtag und im Herrenhaus (vgl. ebd., 152), und war im alltäglichen Leben auch optisch präsent. Die Kirchenkritik, die sich in Trakls Frühwerk findet, z. B. in »Gesang zur Nacht« und »Die tote Kirche«, lässt sich nicht nur auf den Einfluss Friedrich Nietzsches zurückführen, sondern auch auf den zeitgenössischen Antiklerikalismus, der nicht nur in liberalen und nationalen Kreisen anzutreffen war. Trakl beklagt die Entleerung des religiösen Ritus; der »Raum« der Kirche sei »heimgesucht« von Entwertung. Der Geistliche wird im Gedicht als »jämmerliche[r] Priester« vor »schlechten Betern mit erstarrten Herzen« bezeichnet (ITA I, 91). Laut Rüdiger Görner übertrifft diese Ritus-Kritik, die übrigens bereits bei den Propheten des Alten Testaments zu lesen ist, an »Radikalität alles, was dazu um 1910 auffindbar ist« (Görner 2014, 59). Georg Trakl wuchs im barock-katholisch geprägten Zentrum der Stadt auf. Im Umfeld des Wohnhauses der Familie Trakl am Waagplatz 2, »Schaffnerhaus« genannt (heute Waagplatz 1a), befinden sich gleich mehrere römisch-katholische Kirchen und Klöster, die mit den Residenzen und Plätzen das barocke Ensemble der Altstadt bilden: Die kleine St. Michaels-Kirche zwischen dem Waag- und dem Residenzplatz, die älteste bis heute bestehende Kirche in der Stadt Salzburg, grenzt direkt an das Wohnhaus am Mozartplatz/Waagplatz, das der Vater Tobias Trakl 1893 erwarb. Dazu kommen der Dom, die Kathedrale der römisch-katholischen

8  Trakls Religion

Erzdiözese Salzburg und damit Metropolitankirche der Kirchenprovinz Salzburg, sowie die Stiftskirche und das Benediktinerkloster St. Peter, die Franziskanerkirche samt Kloster und die Kollegienkirche (Universitätskirche). In Sichtweite des Wohnhauses sind die Benediktinerinnenabtei Nonnberg und auf der gegenüberliegenden Seite der Salzach das Kapuzinerkloster auf dem Kapuzinerberg. Im dichterischen Werk finden sich etliche Stellen, die auf diese topographischen Bezüge wie »Am Mönchsberg« oder im autobiographisch geprägten Gedicht »Sebastian im Traum« verweisen. Ebenso finden sich die Figur des Mönchs, des Novizen und der Nonne (vgl. Weichselbaum 2016). Im Gedicht »Sommerdämmerung« (aus dem Nachlass, geschrieben im Sommer 1910) heißt es etwa: »Und Mönche tauchen aus den Kirchentoren / Und schreiten im Unendlichen verloren« (ITA I, 391). Neben diesen biographischen Bildquellen sind für die Gestalt des Mönchs auch literarische Vorbilder zu nennen, etwa die Gestalt des Aljoscha aus Dostojewskijs Die Brüder Karamasow, der sich zunächst für ein Leben im Kloster entscheidet, aber dann – auf Rat seines Lehrers – doch in der Welt verharrt. Oder Rainer Maria Rilkes Stundenbuch, dessen erster Teil den Titel Vom mönchischen Leben trägt (erschienen 1905). Hier findet sich die Gestalt des Mönchs als Idealbild des Künstlers. Die meisten Belegstellen für den »Mönch« finden sich in den Jahren 1912–1914. Das Mönchische ist mehrfach konnotiert, wie etwa im Gedicht »Der Heilige«. Asketisches Leben wird mit triebhafter Sexualität konfrontiert, als Wunschvorstellung imaginiert und zugleich kritisiert. Der Einfluss von Charles Baudelaires Les Fleurs du Mal ist denkbar (vgl. Weichselbaum 2016, 120), zugleich greift Trakl hier gängige antiklerikale Topoi auf. In der Forschungsliteratur wird auf den Einfluss der streng katholischen Gouvernante Marie Boring aus dem Elsass hingewiesen. Gebetsformeln wie »Die Stunde unseres Absterbens« (ITA II, 422) in den »Rosenkranzliedern« lassen vermuten, dass Trakl mit der katholischen Frömmigkeitspraxis vertraut war. Wolfgang Braungart hat auf diese motivischen Bezug-

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nahmen aufmerksam gemacht, insbesondere auf die Formen der Marienverehrung, auf Sünde und Schuld, Leidensgeschichte und Opfergeschehen (vgl. Braungart 1996). Er betont im Besonderen aber das zyklische Formbewusstsein des Katholizismus, das sich in der Literatur wiederfindet. In Trakls »Rosenkranzliedern«, einem Binnenzyklus aus Gedichte (1913), sieht Braungart ein gutes Beispiel »für die strukturelle Analogie zwischen rituellem und ästhetischem Zyklus« (ebd., 22). Der Zyklus ist dreiteilig und evoziert mit dem Titel das rituell-strenge Rosenkranz-Gebet, thematisch um Sterben und Tod gruppiert (›Karfreitagskind‹; ›Nähe des Todes‹; ›Stunde unseres Absterbens‹). Zahlreiche Anspielungen und Evokationen lassen sich bis in sprachliche Formeln hinein festhalten, zugleich werden aber auch Abweichungen sichtbar, wie etwa das Widmungsgedicht »An die Schwester«, nicht an Maria (vgl. ebd., 22). Braungarts Deutung des Rosenkranz-Gebets als Bewältigungsstrategie für herausfordernde Lebenssituationen greift zu kurz. Der Rosenkranz ist von der Idee her eine Form der Meditation, die aber als Universalgebet eingesetzt wurde, war es doch eines der wenigen Gebete, dessen Bestandteile Katholikinnen und Katholiken auswendig konnten. Mit seinen Überlegungen, die »beiden elementaren kulturanthropologischen ­ Kategorien des Rituals und des Zyklus mit Literatur« zu verbinden, hat Braungart die Frage des Katholizismus für Trakl neu gestellt, zunächst auf der Ebene motivischer Bezugsrahmen, in Anspielungen und Zitaten (Thomas, »Sebastian im Traum«, Tabernakel, Weihrauch, Dornen, Dornenbusch, Dornenhecke, Dornenkrone, Nonne, Mönche, Engel, »Ich bin vollbracht«, »uns dürstet«, »Erbarme dich unser/ Herr!«) und der meist Schmerz, Leid und Tod konnotierenden Bezugnahmen vieler Gedichttitel auf rituelle Gattungen, Sprechakte, sonstige rituelle Handlungen, auf »die frommen Bräuche […] und Feste (»Psalm« [I], »Confiteor«, »Rosenkranzlieder«, »De profundis« (II), »Karfreitag«, »Allerseelen«, »­Passion«, »Bitte«) […]« (ebd., 26 f.). Die Aufzählung, die hier in extenso wiedergegeben wurde, zeigt aber ein Grundproblem Braungarts

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auf. Die zyklische Organisation der Texte Trakls weist zwar auf den katholischen Bedeutungszusammenhang hin, die intertextuellen Bezüge sind aber nicht so eindeutig fassbar. Das wiederkehrende Motiv von Brot und Wein (vgl. ebd., 22 f.) etwa ist nicht nur auf die katholische Eucharistie zu reduzieren. Dies gilt auch für Motive aus dem Alten Testament (Dornen, Dornenbusch, Dornenhecke) oder der Passion (»Ich bin vollbracht«, »uns dürstet«). Trakls »völlige Destruktion jeder religiösen Sinngebung« (ebd., 27) ist also nicht auf die katholische Konfession zu beschränken, sondern trifft das Christentum insgesamt.

Trakls Stilisierung zum christlichen Dichter Zweifellos war Trakls persönliches Verhältnis zur Bibel und zum Christentum intensiv, zugleich aber – wie bereits angedeutet – voller Spannungen. Auch in Gedichten wie »Die Bauern« und »Drei Blicke in einen Opal« werden leere christliche Rituale mit der übermächtigen Triebhaftigkeit konfrontiert. Durch den Kontakt mit der Innsbrucker Zeitschrift Der Brenner, an der Trakl seit 1912 auf Einladung des Herausgebers Ludwig von Ficker mitarbeitete, entstand ein neues Interesse am Christentum. Im Brenner wurden nicht nur weltanschauliche und religiöse Fragen diskutiert, sondern auch früh das Bild Trakls als christlicher Dichter gepflegt. Die Gegenüberstellung mit dem Schriftsteller und Zivilisationskritiker Carl Dallago ist hier essentiell. Dallago hatte im Jahr 1900 seine bürgerliche Existenz als Kaufmann in Bozen aufgegeben und seine Familie verlassen. Er lebte seitdem zurückgezogen und in einfachsten Verhältnissen auf dem Land. Für die Gründung und Linie der Zeitschrift war er – gemeinsam mit dem Herausgeber Ficker – tonangebend: So war er es, der das Geleitwort zum ersten Heft des Brenner verfasste (vgl. Unterkircher 2010). Ein Streitgespräch zwischen Dallago und Trakl im Hause Ficker, das Hans Limbach aufgezeichnet hat, zeigt die völlig konträren Positionen (vgl. Limbach 1926). Der Gastgeber bleibt dabei auf-

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fällig im Hintergrund. In diesem Gespräch wird die religiöse Einstellung Trakls deutlich. Er bekennt sich zur Überraschung Dallagos, der an ihm einen mönchischen Habitus zu erkennen glaubt, zum Protestantismus (»›Ich bin Protestant‹, antwortete Trakl dumpf. ›Pro – te – stant?‹ fragte D. gedehnt – ›hätte ich allerdings nicht gedacht!‹«). Die Ausführungen zeigen Trakl zudem als gläubigen Christen (»›So glauben Sie also auch, daß alles Heil von ihm komme? Sie verstehen das Wort ‚Gottes Sohn‘ im eigentlichen Sinne?‹ ›Ich bin Christ‹ – antwortete Trakl«), der auf den Berichterstatter Limbach einen tiefen Eindruck hinterlässt (ebd., 106). Einen weiteren Höhepunkt stellt in diesem Zusammenhang die Ludwig von Ficker gewidmete Studie Eduard Lachmanns Kreuz und Abend. Eine Interpretation der Dichtungen Georg Trakls dar (vgl. Lachmann 1954). Bereits im Geleitwort betont der Herausgeber und Ficker-Vertraute Ignaz Zangerle, dass weder literaturwissenschaftlicher Positivismus noch biographische Detailkenntnis viel zum Verständnis Trakls beitragen würden. Einzig »christliche Grundkategorien« wie das verlorene Paradies, die Auferstehung und die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen können einen Schlüssel zu Trakls visionärer, ja »prophetischer« Dichtung bieten, nur durch sie könne Trakl »verstanden« werden (ebd., 7 f.). Obwohl Lachmann die Mehrdeutigkeit der Gedichte Trakls festhält, sucht er den konkreten Wortsinn und kommt zum Schluss, dass in den Gedichten Trakls »eine auf der christlichen Heilswahrheit beruhende Deutung der in Gottesferne versunkenen Welt« (ebd., 10) gesehen werden kann. Eine seiner Quellen scheint Limbachs Erinnerungstext zu sein. Diese christliche Trakl-Deutung wurde von Literaturwissenschaftlern wie Richard Brinkmann und Walther Killy scharf kritisiert. »Literaturwissenschaft«, so Brinkmann, »ist in keinem Fall christliche oder katholische Theologie, und diese Theologie ist auch nicht ihr methodischer Ausgangspunkt« (Brinkmann 1959, 136). Killy vertrat in seinen einflussreichen Trakl-Studien – mit Blick auf Lachmann (vgl. Killy 1967, 21) – die Ansicht, dass der »nach greifbarer Bedeutung verlangende Tiefsinn«

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(ebd., 3) sich damit abfinden müsse, dass »große Dichtung großes (und bitter ernstes) Spiel sein könne« und gleichwohl oder eben deshalb keinen »destillierbaren ›Sinn‹« (ebd., 21) ergebe. Mit seiner Darstellung und Deutung der komplexen Entstehungsprozesse der Gedichte Trakls sowie der Einsicht in deren Vieldeutigkeit und Hermetik entzog Killy solcher Sinndeutung den Boden. Alfred Doppler konnte mit seinen Arbeiten neue Akzente in der Debatte setzen. Er beschreibt die Themen Trakls ab 1912 mit »paradiesischer Mensch, der Sündenfall, die Passion, die Ankündigung der Endzeit und des Gerichts« (Doppler 1987, 111). Die Spannung zwischen Heil und Unheil, zwischen Verklärung und Verfall sei nach Doppler immer präsent und bleibe unaufgelöst. Die letzten Gedichte Trakls weisen starke Bezüge zur Sprache und zu den Bildvorstellungen der Apokalypse auf. Gedichte wie »Das Gewitter«, »Die Nacht« und »Die Schwermut«, alle im Frühsommer 1914 in Innsbruck entstanden, zeichnen Bilder von endzeitlich anmutenden Naturkatastrophen, von Krieg und Schrecken. In der Schlussvision erscheint am Himmel als »großes Zeichen« (Offb 12,1) die rettende, Erlösung verheißende Frauengestalt, »ein Weib, mit der Sonne umkleidet, und der Mond unter seinen Füßen und auf seinem Haupt ein Kranz von zwölf Sternen.« Bei Trakl heißt es in »Die Schwermut«: »Erglänzt mit Sternen / Über zerbrochenem Männergebein / Die stille Mönchin« (ITA IV.2, 227).

Bibelsprache Die Forschung hat zahlreiche ›Elemente der Bibelsprache‹ (vgl. etwa Doppler 1987) im literarischen Oeuvre Georg Trakls festgestellt; zu nennen sind etwa biblische Anspielungen in Wörtern, Begriffen, Figuren, Motiven und Gattungsformen. Die Grenze zwischen »Anspielungen an die Bibel im engeren Sinne und an das christliche Gedankengut und entsprechende Einrichtungen, die auf die Theologie und die mittelalterliche Frömmigkeit zurückgehen«, ist fließend (Esselborn 2009, 277). Die Bedeutung lässt sich nicht immer ein-

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deutig festlegen, ein Beispiel dafür ist die Formel »Brot und Wein«. Wenn es heißt: »denn geheiligt ist Brot und Wein / Von Gottes Händen« (»Gesang des Abgeschiedenen«, ITA IV.1, 162) oder »Gottes Brot und Wein« [frühe Textstufe zu »Ein Winterabend«, ITA III, 412]), ist wohl das von Jesus vor der Passion eingesetzte Abendmahl gemeint. Im »Mahl« der Bauern heißt es, an das alltägliche Essen anspielend: »Und sie schenken den Wein und sie brechen das Brot« (»Die Bauern«, ITA I, 477). Die Mehrdeutigkeit ist immer gegeben, auch in den materiellen Vorstufen »Ähren« und »Reben«. Dazu kommt, dass Trakl auch Hölderlins große Elegie »Brot und Wein« zitiert (z. B. in »Abendmuse«), in der an das Abendmahl Jesu wie auch an Dionysos, den antiken Gott des Weines, erinnert wird. Hans Esselborn hat eine systematische Zusammenstellung der zahlreichen Bezüge zur Bibel vorgelegt, wörtliche Zitate und zentrale Begriffe, biblische Figuren und Motive sowie strukturelle Entsprechungen behandelt (vgl. Esselborn 2009, 277–285). Diese Analyse zeigt, dass wörtliche Zitate von Bibelstellen selten vorkommen, etwa im Gedicht »Heiterer Frühling«, wo sich in der letzten Strophe ein Wort Jesu, allerdings in paraphrasierter, verkürzter und rhythmisierter Form findet: »Wahrlich! Ich werde immer bei euch sein« (ITA I, 453; vgl. die Worte Jesu an seine Jünger vor der Himmelfahrt: »Und siehe ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende« [Mt 28,20]). Dabei handelt es sich offensichtlich um einen Ausspruch auf einem Grabstein (»Und leise rührt dich an ein alter Stein«). Das Bibelzitat wird indirekt eingeführt und als altertümliche Auferstehungshoffnung relativiert. Der wichtigste biblische Name oder Begriff ist der Gottes. Der tabuisierte Name Jahwe findet bei Trakl keine Verwendung. Der Ausdruck erscheint meist in einer Genitivmetapher, meist in gebräuchlichen biblischen Verbindungen. Am wichtigsten ist die Verbindung »Gottes Zorn« (»Rasend peitscht Gottes Zorn die Stirne des Besessenen« [»An die Verstummten«, ITA III, 351]), die eindeutig den strafenden Gott hervorruft. Gottes belebender Geist erscheint dagegen in der archaischen Form von ­ »Gottes

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blauer Odem weht« in »Geistliches Lied« (ITA I, 503), aber auch als kritische Kraft von Karl Kraus (»[W]eißer Hohepriester der Wahrheit, / Kristallne Stimme, in der Gottes eisiger Odem wohnt« [ITA II, 470]). Die ähnlich gelagerte biblische Metapher des Windes findet sich in Formulierungen wie etwa »seine Stimme verschlang Gottes Wind« (»Traum und Umnachtung«, ITA IV.1, 75) und »Gottes einsamer Wind« (»Elis«, ITA II, 455; auf einer früheren Textstufe »Gottes eisiger Odem« [ITA II, 452]). Einige wenige Anspielungen betreffen Gott den Schöpfer. Von größerer Bedeutung sind hingegen die zahlreichen Stellen, in denen es um gelingende und misslingende Kommunikation mit Gott geht, ein zentrales Thema der Bibel und speziell der Psalmen. Bis auf eine Ausnahme im »Kaspar Hauser Lied«, in dem Gott spricht, ist ansonsten »Gottes Schweigen« (»De profundis« [II], ITA II, 121) oder die Abwesenheit Gottes (»Und schwarz schwankt Gottes Himmel und entlaubt«, [»Trübsinn«, ITA II, 95]) zentral. Neben den Psalmen sind die Bezüge zum Buch Kohelet von großer Bedeutung. Das Motiv der Vergänglichkeit (»Es ist alles eitel und haschen nach Wind« [Koh 12,8]), das in der Literatur und Kunst des Barocks immer wieder und auf unterschiedliche Weise aufgegriffen wurde, findet sich bei Trakl im Verfall der Natur und im Untergang des Menschen dargestellt.

Biblische Figuren Auch im Figurenrepertoire finden sich eindeutige Hinweise auf die Bibel, auf Eva oder Rahel im Gedicht »Der Spaziergang«. (Die Figur der Ruth wäre hier naheliegender gewesen.) Das frühe Prosastück »Maria Magdalena« beschreibt nicht nur die Passion Jesu, sondern auch die Legende der bekehrten Sünderin. Damit wird auf eine der zentralen Figurationen des Weiblichen (vgl. Klettenhammer 1996, 195) bei Trakl angespielt. Neben der Figur der Schwester ist es die Figur der Dirne, die immer wieder ins Zentrum des Interesses rückt. Die Gedichte »Sonja« und »Afra« stehen in diesem

U. Tanzer

Zusammenhang. Sonja geht auf Trakls Dostojewskij-Lektüre zurück, Afra auf ein »Heiligen-Legenden-Buch«. Im Falle der Maria Magdalena folgt zudem eine Überblendung mit der Figur der Salome, die in der Kunst der Jahrhundertwende zum Sinnbild der männermordenden femme fatale avancierte. Der verführerisch-rauschhafte Tanz wird der christlichen Askese gegenübergestellt. Maria findet ebenfalls häufig Erwähnung, weniger in biblischen Szenen als in der Tradition katholischer Volksfrömmigkeit. Karl-Josef Kuschel hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Mariengestalt auch unter »psychopathologischem Aspekt« von Schriftstellern (etwa Rainer Maria Rilke, Georg Trakl, Kurt Tucholsky und Otto F. Walter) gespiegelt wird, ein Faktum, das »viel zu wenig […] in Theologie und Kirche« (Kuschel 1999, 430 f.) Berücksichtigung finde. In Trakls Gedicht »Blutschuld« sieht Kuschel »eine Situation der Verstörung eingefangen – und zwar in Form eines Gebetes an Maria« (ebd., 430). Das frühe Gedicht aus dem Jahr 1909 wird häufig als Beweis für den Inzest zwischen Georg Trakl und seiner Schwester Grete angeführt. Die weitaus wichtigste biblische Figur ist Jesus. Sie wird allerdings nicht namentlich genannt, sondern etwa mit dem Ausdruck »Heiland« umschrieben (vgl. »Die Nonne betet wund und nackt / Vor des Heilands Kreuzespein« [»Romanze zur Nacht«, ITA I, 492]). Ob der Begriff »Helian« auf das altsächsische Heliandlied anspielt, ist umstritten, einerseits wird eine Nähe suggeriert, gleichzeitig aber zurückgenommen. Wie in »Sebastian im Traum« wird auch im Text »Helian« auf Szenen aus dem Leben Jesu angespielt: auf die Geburt mit der Anbetung der Hirten, die Passionsgeschichte, die Auferstehung und die Begegnung in Emmaus. Dies geschieht indirekt, durch Wörter oder symbolische Details, der Schwerpunkt liegt auf dem Leiden und der Überwindung des Todes. Die Motive werden in neue, überraschende, oft blasphemisch wirkende Zusammenhänge gebracht, wie etwa »Weihrauch strömt von rosigen Kissen / Und der süße Gesang des Auferstandenen« (»Abendländisches Lied«, ITA III, 420).

8  Trakls Religion

Psalmenpoetik Strukturelle Beziehungen des Werks Trakls zur Bibel zeigen sich vor allem in den spezifischen Gattungen religiöser Texte wie Psalmen und Gebete und in biblischen Mustern. Zu nennen wäre hier etwa das biblische Schema der Abfolge von Schuld, Sünde, Buße und Erlösung, wie dies mehrfach im Neuen Testament zu finden ist. Drei Texte Trakls sind als Psalmen betitelt. Gott ist im Text zwar gegenwärtig, wird aber nicht direkt angesprochen, sondern scheint als fern und unerreichbar. »Psalm I«, »De profundis« (II) und »Helian« bilden den Übergang von den Reimgedichten zu den freirhythmischen Texten der sogenannten mittleren Phase. Der Einfluss Rimbauds und Hölderlins wurde vielfach beschrieben, ebenso evident ist der Bezug zur Poetik der Psalmen, die von allen literarischen Genres der Bibel zweifellos »die stärkste literarische Wirkung« entfaltet haben (Hell/Wiesmüller 1999, 158). Die religiöse Sprache bietet ein umfassendes Repertoire an Formen des Lobens und Preisens, aber auch des Klagens. Für Trakl wie für andere Dichterinnen und Dichter zwischen 1910 und 1920 wird der Klagepsalm zur »Folie für ihre Emphase des krisenhaften Weltzustandes« (ebd., 166). Mit dem Titel »De profundis« weckt Trakl etwa Assoziationen zum Psalm 130, im Gedicht selbst wird diese Erwartungshaltung allerdings irritiert. Mit den Mitteln der Montage setzt Trakl neben literarischen Versatzstücken, vor allem von Rimbaud, Anspielungen an die Psalmen, aber auch an Szenen des Alten und Neuen Testaments (die Geschichte von Ruth, die Dornbuschszene, das Gleichnis von den klugen Jungfrauen und das Weihnachtsevangelium) ein. Im Kontrast zum biblischen Psalm gibt es allerdings keinen Dialog mehr mit Gott, selbst in der Situation der Gottesferne, sondern nur mehr »Gottes Schweigen«. Gott wird nicht mehr in der Hoffnung auf Erlösung angerufen, sondern die »tödliche Verlassenheit von Gott« (Esselborn 2009, 284) wird beschrieben. Die religiöse Heilsordnung ist zerbrochen.

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Das Werk Trakls ist so vielstimmig wie komplex – neben den zahlreichen literarischen und mythologischen Anspielungen vermittelt die Dichte an biblischen Bezugnahmen eine zusätzliche ästhetische wie auch ethische Dimension. Ob die Abwesenheit Gottes, wie sie etwa in einem Gedicht wie »De profundis« beschrieben wird, auch die Existenz Gottes im Sinne Nietzsches bezweifelt, dies hat die christliche Trakl-Rezeption in der Tradition Ludwig von Fickers beschäftigt. Die Gedichte sind ambivalent und lassen keine Rückschlüsse auf weltanschauliche Haltungen zu (vgl. Mayer 2016). Die Frage nach Georg Trakls Verhältnis zur Religion ist letztlich nicht abschließend zu beantworten.

Literatur Braungart, Wolfgang: Zur Poetik literarischer Zyklen. Mit Anmerkungen zur Lyrik Georg Trakls. In: Károly Csúri (Hg.): Zyklische Kompositionsformen in Georg Trakls Dichtung. Szegeder Symposion. Tübingen 1996, 1–27. Brinkmann, Richard: Expressionismus-Probleme. Die Forschung der Jahre 1952–1958. In: Deutsche Vierteljahrs­ schrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 33 (1959), 104–181. Doppler, Alfred: Elemente der Bibelsprache in der Lyrik Georg Trakls. In: Hans Weichselbaum (Hg.): TraklForum 1987. Salzburg 1987, 109–117. Eltz, Lieselotte von: Pfarrer Heinrich Aumüller. In: Tilmann Knopf (Hg.): 150 Jahre Evangelische Pfarrgemeinde Salzburg. Salzburg/Wien 2013. Esselborn, Hans: Intertextualität zur Bibel bei Georg Trakl. In: Maria Kłańska/Jadwiga Kita-Huber/Pawel Zarychta (Hg.): Der Heiligen Schrift auf der Spur. Beiträge zur biblischen Intertextualität in der Literatur. Dresden/Wrocław 2009, 274–289. Görner, Rüdiger: Georg Trakl. Dichter im Jahrzehnt der Extreme. Wien 2014. Hanisch, Ernst/Fleischer, Ulrike: Im Schatten berühmter Zeiten. Salzburg in den Jahren Georg Trakls 1887– 1914. Salzburg 1986. Hell, Cornelius/Wiesmüller, Wolfgang: Die Psalmen – Rezeption biblischer Lyrik in Gedichten. In: Heinrich Schmidinger (Hg.): Die Bibel in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts. Bd. I. Mainz 1999, 158–204. Killy, Walther: Über Georg Trakl. Göttingen 31967. Klettenhammer, Sieglinde: Figurationen des Weiblichen in der Lyrik Georg Trakls. In: Károly Csúri (Hg.): Zy-

96 klische Kompositionsformen in Georg Trakls Dichtung. Szegeder Symposion. Tübingen 1996, 189–215. Kuschel, Karl-Josef: Maria. In: Heinrich Schmidinger (Hg.): Die Bibel in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts. Bd. II. Mainz 1999, 413–434. Lachmann, Eduard: Kreuz und Abend. Eine Interpretation der Dichtungen Georg Trakls. Salzburg 1954. Leitgeb, Josef: Die Sprachwelt Georg Trakls. In: Wort im Gebirge 3 (1951), 7–39. Limbach, Hans: Begegnung mit Georg Trakl. In: Erinnerung an Georg Trakl. Innsbruck 1926, 103–109. Mayer, Mathias: »Gutes und Böses bereitet«. Zum Verhältnis von Ethik und Wahrheit bei Georg Trakl. In:

U. Tanzer Uta Degner/Hans Weichselbaum/Norbert Christian Wolf (Hg.): Autorschaft und Poetik in Texten und Kontexten Georg Trakls. Salzburg/Wien 2016, 295–307. Unterkircher, Anton: Der Brenner (1910–1954). Eine Chronologie. In: Zeitmesser. 100 Jahre »Brenner«. Hg. vom Forschungsinstitut Brenner-Archiv. Innsbruck 2010, 227–269. Weichselbaum, Hans: Georg Trakl. Eine Biographie. Salzburg/Wien 2014. Weichselbaum, Hans: Die Figur des Mönchs bei Georg Trakl. In: Uta Degner/Hans Weichselbaum/Norbert Christian Wolf (Hg.): Autorschaft und Poetik in Texten und Kontexten Georg Trakls. Salzburg/Wien 2016, 117–131.

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Trakls Unverständlichkeit Robert Matthias Erdbeer

Arkanpoetik und Divination – Die Krise der Hermetik Wer sich, wie einst Walther Killy, von der Dichtung Sinn und Orientierung erhofft, der hat mit Georg Trakl auf die falsche Amsel gesetzt: »Elis, wenn die Amsel im schwarzen Wald ruft, / Dieses ist dein Untergang« (HKA I, 26). Die Prophezeiung, die der große Dunkelmann der Avantgarde in seiner Klage »An den Knaben Elis« sendet, wendet sich, so scheint es, auch an jene Künftigen, die sich zur Deutung Traklscher Textur berufen fühlen. Als Herausgeber der Werke Trakls hatte Killy sich der Aufklärung des Phänomens verschrieben und in seinem Trakl-Buch die Mühsal dieses Auftrags eingestanden (vgl. Killy 1967). Denn verstanden hatten schon die Zeitgenossen nichts. Berühmt geworden sind die Eingeständnisse von Wittgenstein bis Rilke, die bei aller vorgetragenen Begeisterung an Trakls Texten gern bekennen: »Ich verstehe sie nicht« (Wittgenstein, zit. nach von Ficker 1986–1996, II, 53). Auf der Suche nach dem passenden Verlag für Trakls Lyrik formuliert sein Förderer und späterer Verleger Ludwig von Ficker ein entsprechendes Ausschlusskriterium. Es heißt Ver-

R. M. Erdbeer (*)  Germanistisches Institut, Universität Münster, Münster, Deutschland E-Mail: [email protected]

ständlichkeit. »Ficker sagt«, so kolportiert der Trakl-Freund Karl Röck, »der Langen Verlag sei für Trakls Gedichte nicht günstig. Denn das sei doch ein so anderes Publikum. Seine Gedichtbücher seien alle im Rahmen des Verständlichen…« (ITA VI, 131). Der nüchterne Befund, der auf die Marktnische der Traklschen Produkte zielt, ist nicht nur das Ergebnis einer Rezeptionserfahrung. Er beruht vielmehr auf der intimen Kenntnis ihres Herstellungsprozesses, der schon bald zum Skandalon der Trakl-Forschung, ja der Hermeneutik selbst geworden ist. Tatsächlich stellt der Feinstoff dieser Lyrik, der mit ›Fassungen‹ und ›Varianten‹, ›Stufen‹ und ›Entwürfen‹ nicht mehr zureichend beschrieben werden kann, den Rahmen des Verständlichen schlechthin in Frage, den Kontext seiner möglichen Verstehbarkeit. Der Kontext dieser möglichen Verstehbarkeit ist die für die Jahrhundertwende typische Tendenz zum Dunklen, die von Gotthart Wunberg so bezeichnete Triade aus »Hermetik – Änigmatik – Aphasie« (Wunberg 1989). Das synästhetische Zusammenspiel exotischer Lexeme, ihre Entsemantisierung und das vielbeschriebene Verstummen, das nicht wenig sprach- und klangmächtig gewesen ist, hat selbst bereits eine paradigmatische Grenze markiert. Sie unterscheidet nicht mehr das Verständliche vom Unverständlichen, den Sinn vom Un-Sinn, sondern zielt auf den ›Diskurs Verständlichkeit‹. Verstehen und Verstehbarkeit entziehen sich dem

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_9

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Diskursiven – dem Diskurs im Sinne eines Aushandlungsprozesses – und befördern damit eine neue Art der Aufmerksamkeit. Verstehen gilt hier nicht mehr länger als Diskursverstehen, sondern wird als Einstimmung in eine Semio­ sphäre evozierten, potentiellen oder verborgenen Sinns konzipiert. Ein Sprachkonzept, das nichts mehr zu verstehen, aber alles ›neu zu sehen‹ aufgibt, ist mit den Begriffen der Rhetoriktradition – obscuritas, dissimulatio und emulatio – kaum zu erfassen und auch nicht mehr zutreffend als Individual-, Epochen- oder Altersstil bzw. als Kalkül der Überbietung solcher Stile abzubilden: Seine Unverständlichkeit ist nicht mehr auf die Dunkelheiten des poetischen Bestandes rückführbar. Die Unverständlichkeit der Traklschen Gedichte ist vor diesem Hintergrund zunächst kein Novum. Unverständlichkeit als symbolistische Verrätselung und Metareferenz moderner Lyrik war den Zeitgenossen wohlvertraut, die Sprachkrise als produktionsästhetisches Kalkül der Décadence bekannt. Es gibt bereits ein ausgefeiltes Unverständlichkeitsprofil der literarischen Moderne, als Trakl zu schreiben beginnt. Diskurshistorisch liegt dem Zug zum Dunklen, dem sich Trakl scheinbar zugesellt, ein doppelseitiges Modell zugrunde, das den Anspruch, autonom zu sein, mit einer neuen Form der Heteronomie verknüpft. Das Lebenswissen der ästhetischen Kulturkritik entwirft sich als ein Gegenwissen, das aus überlieferten wie aktuellen religiösen, künstlerischen, philosophischen und wissenschaftlichen Diskursen synkretistisch abgeleitet wird. Im Avantgarde-Gewand behauptet dieser Neueinsatz sowohl die Exklusivität der Eingeweihten, als auch deren Anspruch, weltanschaulich führend und kulturpolitisch produktiv zu sein. Mit diesem selbstgesetzten Auftrag reiht sich der ästhetische Diskurs in eine größere Bewegung ein, die als ›Geheimlehre für viele‹ die Kultur- und Kunstdebatten ihrer Zeit bestimmt. Sie ist ein esoterisches Modell. Die Esoterisierung, die um die Jahrhundertwende nicht nur weltanschaulich-religiöse, sondern auch sozialpolitische und wissenschaftliche Debatten zunehmend bestimmt (zum Beispiel in der Anthroposophie und in der Neuauflage

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der Naturphilosophie), befördert im poetischen Diskurs die produktionsästhetische Erwartung, durch Metaphern, Chiffren und Symbole werde eine höhere Erkenntnis zu gewinnen sein. Die Aufladung des tropischen, uneigentlichen Sprechens der Rhetoriktradition zum Generator eines neuen, eigentlichen Sprechens, stellt dabei vom diskursiven auf erlebendes Erkennen um. Die Umstellung wird auch vom philosophischen Diskurs der Zeit flankiert, so etwa im Symbolbegriff des Neukantianismus oder auch in Heideggers Verkehrung der Konzepte Eigentlichkeit/Uneigentlichkeit (vgl. Henschen 2010, 245– 269). Ob mystische Erleuchtung, Teilhabe am ›neuen Sehen‹ oder Einweihung in ein Geheimsystem – beglaubigt wird die Existenz des höheren, primären Sinnes durch ein Kohärenzversprechen, das wie einst in der Genieästhetik in der Sensitivität, Intuition und geistigen Gestaltungskraft der quasi-magischen Akteure angesiedelt ist. Ästhetizisten, Theosophen oder Pataphysiker sind keine Zweifler, wenn es um die Wahrheit ihrer eigenen Konzepte und um deren intendierte Wirkung geht. Schon Hofmannsthals berühmter Chandos-Brief, das Manifest der Sprachkritik, ist Ausdruck höchster Eloquenz und ›Sprachmagie‹; das synkretistische Konstrukt der Theosophen, das die Vielgestaltigkeit geheimen Wissens feiert, operiert als zentralistisch-klassifikatorisches Ordnungsmodell. Die Ausdruckskrise, die hier aufgerufen wird und sich als ›Rede am Rande des Schweigens‹ geriert, ist ein beredtes, wenn nicht redseliges Schweigen, das den Topos des NichtSagbaren zum Anlass seiner virtuosen, mystisch oder parawissenschaftlich motivierten Steuerungsmodelle nimmt. Auch rezipientenseitig ruht das neugewonnene Prophetentum auf einem Kompetenzverdacht, der Geist und Hand, Inspiration und Produktion als Ausdruck einer höheren Gewissheit, Ordnung und Verwaltung denkt. Denn Unverständlichkeit ist konsumierbar, wenn sie sich als intendierte oder simulierte einer höheren Instanz und ihres kompetenten Mediums, des Dichters oder Predigers erweisen, also ausweisen kann. Wird diese Leistung fraglich, dann verwandelt sich der inspirierte Text zum Pathogramm.

9  Trakls Unverständlichkeit

Entsprechend und im Einklang mit der diskursiven Lage hat die frühe Trakl-Forschung den opaken Zuschnitt der Gedichte Trakls entweder als Ausdruck eines souveränen, weil der höheren Erkenntnis fähigen poeta vates ausgegeben oder zum Produkt eines pathologischen Geistes erklärt. In kühneren Entwürfen wurde dieser ›Topos Dunkelheit‹ dann an die Forschung selbst zurückgespielt als Ausdruck einer Abweichungsästhetik, die der mangelnden Bestimmung des Konzepts ›Verständlichkeit‹ geschuldet sei. »Die Gründe« für die konstatierte Dunkelheit, so Gebhard Rusch und Siegfried J. Schmidt in ihrer Untersuchung zum »Voraussetzungssystem Georg Trakls«, lägen darin, »daß die Verstehensanforderungen der TraklPhilologen offenbar unerfüllbar sind«, dass die »Verstehenserwartungen sich implizit am Phantom ›der Normalsprache‹ orientieren« und die »Verstehensbedingungen offenbar nicht in gewünschtem Maße erfüllt werden können«. ›Verstehen‹ werde hier, so die Kritik, »als ein entdeckender, rekonstruktiver Vorgang aufgefaßt, nicht als ein konstruktiver, dynamischer Prozeß« (Rusch/Schmidt 1983, 259). Die Lösung, die dann auf der Basis linguistisch-strukturaler Analysen angeboten wird, ist allerdings ernüchternd: Trakls Lyrik weise einen im Vergleich zu den Erwartungsschemata der Rezipienten »geringeren Grad der Kommunikativität« auf (ebd., 284). Tatsächlich kolportiert der Seher Trakl selbst bereits ein Kommunikationsproblem, das nicht allein die Rezeption des Geschauten betrifft. Es gipfelt in der wiederum von Röck berichteten berühmten Selbstaussage, man könne »sich überhaupt nicht mitteilen«, »auch nicht in Gedichten« (ITA VI, 89). Das ist um so tragischer, wenn man mit Werner Michler Lyrik als das prominente »Botschafter-Medium« der Avantgarden versteht (Michler 2016, 381). Auch ist das überlieferte Bonmot weit mehr als ein Verweis ins Symbolistisch-Paradoxe und auch mehr als ein poetologisches Kalkül. Es annonciert ein Produktionsproblem, das, einmal öffentlich geworden, nicht nur das ›Voraussetzungssystem‹ erschüttert, sondern mit dem hermeneutischen Diskurs auch die Hermetik selbst in Frage stellt. Erschüttert wird damit zugleich der gegenüber

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den Akteuren des Geheimen, Unaussprechlichen und Unverständlichen bestehende, die hermeneutische Aktion rechtfertigende Kompetenzverdacht. Hermetik ist nicht einfach Unverständlichkeit, sie darf zwar dunkel, doch sie muss auch kalkulierbar sein. Als esoterische Codierung eines nur für Eingeweihte zugänglichen Wissens setzt sie dessen Dekodierbarkeit, die Möglichkeit des künftigen Verstehens voraus. Sie kann, wie eine Offenbarungsreligion, die Dauer und den Weg dorthin strategisch offenhalten, ihr Arkanum aber, ihren Kernbestand an ethisch-epistemischen Prämissen, muss sie als stabiles und entsprechend unverhandelbares Ziel des hermeneutischen Begehrens markieren. Auch epistemologisch ist die Rückbindung an höhere Gehalte für die Leistung der Hermetik wesentlich. Selbst wenn man annimmt, das Arkanum müsse leer sein, um für die dynamischen Besetzungen des esoterischen Begehrens auffüllbar zu bleiben, darf es doch nicht selbst als leer erscheinen, sondern muss als Ort der Wahrheit oder Weisheit, als Bestimmungsgrund und kosmischer Bezug des Menschseins oder auch als Quell des Guten und des Schönen inhaltlich bezogen sein. Auf dieser Basis operieren die auf das Arkanum deutenden Symbole, Chiffren und Metaphern, die wie in der Alchemie zugleich als Anweisungen dazu dienen, wie das hermeneutische Verfahren anzuwenden sei. Um selbst zu Schlüsseln des Verschlüsselten zu werden, müssen diese Chiffren also Fremdbezüglichkeit behaupten. Ihre ars combinatoria darf nicht als autonom erscheinen, sondern muss als dechiffrierbar ausgewiesen sein. Der Reiz des kryptographischen Verfahrens liegt auch für die (noch) nicht Eingeweihten in der einheit- und gemeinschaftstiftenden Gewissheit, dass der Code im Grundsatz zu entschlüsseln ist, dass seine Zeichen auf die Wahrheit zeigen, dass die Einweihung sich daher lohnt bzw. man durch Zulassung zum inner circle das soziale Kapital der Eingeweihten auch schon vor der künftigen Erleuchtung konsumieren kann. Vor allem aber liegt der Reiz in den Verfahren der ästhetischen Verdunklung selbst, in ihrer Aufschiebefunktion, die durch die Bildprogramme und Metaphern den Prozess der Einweihung ver-

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längert – ein Verfahren, das die Kunst (im formalistischen Verständnis) mit dem esoterischen Erleben teilt. (So folgt der Formalismus der ›erschwerten Form‹ im Sinne Šklovskijs auch dem esoterischen Kalkül arkaner Kunst [vgl. Šklovskij 1969]). Im Rahmen dieses Partizipationsmodells bewegt sich schon der frühe hermeneutische Diskurs bei Schleiermacher, wenn er sein Verfahren der »Komparation«, der detaillierten philologischen Kritik und ihrer Einbindung in ein Vergleichssystem, um den Aspekt der Immersion bereichert: der Einfühlung in einen und der Teilhabe an einem anders nicht verfügbaren ästhetisch-religioiden Erkenntnisprozess (Schleiermacher 1993, 169 f.). Der Optimismus, der sich hier zum Ausdruck bringt und die Geschichtlichkeit des hermeneutischen Verfahrens überformt, wird auch in Gadamers berühmtem Credo deutlich, dass »die Sprache eine Mitte« sei, »in der sich Ich und Welt zusammenschließen oder besser: in ihrer ursprünglichen Zusammengehörigkeit darstellen […]. Das Verstehen findet dann freilich nicht in einer technischen Virtuosität […] Genüge. Es ist vielmehr echte Erfahrung, d. h. Begegnung mit etwas, das sich als Wahrheit geltend macht« (Gadamer 1990, 478, 492 f.). Da die (historische) Vergleichung und mit ihr der Kontext selbst noch »keine Einheit« des Verstehens stiften können, kommt bereits bei Schleiermacher diese Aufgabe dem immersiven, kongenialen Zugriff zu. »Divination« als hermeneutische Methode, derzufolge »man sich selbst gleichsam in den andern verwandelt, das Individuelle unmittelbar aufzufassen sucht« (Schleiermacher 1993, 169 f.), erscheint hier auf der Ebene der Einrückung in ein Bedeutungsspektrum, das erlebnishafte Züge trägt. Hier ist der Weg zur Preisgabe der philologischen, grammatisch-›technischen‹ Verstehensarbeit gleichsam angelegt, der angesichts der dichterischen Präferenz des Alogischen, Schwer- und Unverständlichen um 1900 einen hermeneutischen Ausweg markiert. Da Trakls Werk die Grenzen dessen, was im literarischen Diskurs als inkommensurabel gelten darf, noch einmal anders zieht, wird dieser Weg des divinierenden Verstehens schon bald zum bevorzugten Zugang.

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Die Ontologisierung des Verstehens und der Lehre des Verstehens, die in Trakl einen ersten Prüfstein hat, setzt, so die These, eine Krise der Hermetik und in deren Folge eine Neubestimmung des hermetischen Diskurses voraus. Sie reagiert auf die vom literarischen Diskurs erzeugte Revision der abendländischen Hermetik-Tradition im Kontext einer neuen Dunkelheit, die seit dem späten 19. Jahrhundert zunehmend an Popularität gewinnt (vgl. Waldschmidt 2011). Der Trend zur Asemantik, zur semantischen Verkapselung ist dabei keineswegs nur eine Folge der kulturhistorischen Emphase, wie sie etwa im Mysterien-Kult der Münchner Kosmiker gefeiert oder im GeorgeKreis mit explizit kulturkritischer Intention verbunden wird (vgl. Stottmeister 2014; Erdbeer 2016). Sie lässt sich auch als diskursive Reaktion auf die vergleichbare Verkapselung der wissenschaftlichen, gewerblichen und administrativen Sondersprachen deuten, die den öffentlichen Raum durchdringen, ungewöhnliche Thesauren liefern und vermittelnde Instanzen nötig machen, etwa das Vermittlungsfeld der Para- und Populärwissenschaft. Die wissenschaftskompensatorischen Diskurse reagieren hier auf zwei Entwicklungen: den Trend zur Hypothese als dem Vorläufigen, Erst-noch-zuErweisenden, und den Versuch, dem wachsenden Bereich des Ungewissen durch die stetige Verbesserung der Instrumente (Termini, Geräte, Medien) beizukommen. Auch die Kunst entwirft – als Avantgarde – ein ›Fachvokabular‹, das den Charakter von formalen, nicht mehr allgemeinverständlichen, doch um exakte Wiedergabe der Erfahrung oder Wahrnehmung bemühten Sprachen gewinnt (vgl. Erdbeer 2010). Sie etabliert damit ein den exakten Wissenschaften vergleichbares Distinktionspotenzial. Carl Einstein, Advokat und Kritiker der dichterisch erzeugten ›Primärwirklichkeit‹, hat den sozialen Nexus dieser Sondersprachen auf den Punkt gebracht: »Die wachsende Hypothesenhaftigkeit der Wis­ senschaften wurde durch stärkere Gläubigkeit beglichen. Gleich Feticheuren oder Auguren bildeten die Intellektuellen technische Geheimsprachen, um unübersteigliche Hürden gegen die Neugier des Publikums aufzurichten. Man dis-

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tanzierte sich um jeden Preis und schloß sich ab, um die gewünschte Überlegenheit zu wahren. Einen der Ausbildung der wissenschaftlichen Geheimsprache analogen Vorgang beachtet man auch in den Künsten. Literaten wie Maler bildeten ihre private Formsymbolik« (Einstein 1973, 82). Als Sprachskepsis verkleidet unternimmt die neue Dichtung eine scharfe Revision des eigenen Expertenstatus, die im Modus ihrer melancholischen, existentiellen oder aktivistischen Emphase und im Wettbewerb mit anderen Diskursen eine ›Optimierung‹ der poetischen Vertextung betreibt. Für Trakls Werk hat Killy diesen Zug zur Expertise früh vorweggenommen, wenn er Trakl zum Poeten eines konstruktivistischen Dichtungsmodells promoviert: »Die wirr erscheinenden Entwürfe bewahren den Vorgang der Abstimmung auf. Eine moderne Poesie ist konstituiert [...], deren einziges bedeutendes Beispiel bei uns zulande Trakl ist« (Killy 1967, 50). Im Falle Trakls übernimmt die literarische Kritik und Forschung also einen Habitus, der in der esoterischen, der hermeneutischen und nicht zuletzt der literarischen Debatte selbst entwickelt, ja zum Ausweis von Bedeutsamkeit geworden war. Die Interpretation wird zur Adoration. So hat sich Walter Benjamin die kosmischesoterischen Fragmente Alfred Schulers »zum verborgenen Anstaunen kommen lassen« (Benjamin 1978, II, 516), so hat Rilke Trakls Lyrik rezipiert: »ergriffen, staunend, ahnend und ratlos« (zit. nach von Ficker 1986–1996, II, 91). Unverständlichkeit, die unerschließbar ist, kann aber nicht nur nicht, sie braucht auch gar nicht erst erschlossen zu werden; die Bedeutung, die in ihr verborgen liegt, ist durch das Wesen des Poeten selbst verbürgt. Der Laie wird vor ihr ergriffen staunen, der Experte sein Ergriffensein begreifen wollen; folglich sieht die hermeneutische Expertenrede oft wie die hermetische Expertenrede aus. Die Adoration wird zur Imitation. Wer Trakl deuten will, muss Trakl werden – noch die Vorstellung der Editoren, erst der Nachvollzug der Textgenese könne zum Verstehen seiner Texte führen, spielt mit diesem Immersionskalkül. So formuliert der Ko-Herausgeber der Innsbrucker Trakl-Ausgabe, Eberhard

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Sauermann, die Überzeugung, dass ein Leser, »der den Gang der Gedichtentwicklung Schritt für Schritt verfolgen« kann, auch »den Sinn dieser Texte selbst nachschaffend auslegen« könne (Sauermann 2005, 446). Die Bedeutung dieses Mitvollzugs für die Erschließung der Arkanpoetik haben auch Killy und Szklenar betont: »Erst indem der Vorgang des Dichtens begreiflicher wird, werden die Gedichte begreiflich. Es gibt vielleicht keinen neueren Dichter von Rang, bei dem die Genesis der Poesie so sehr die Poe­ sie selbst erschließt« (HKA II, 35). Es fragt sich freilich, ob die hier geforderte Prozesshermeneutik die Erwartungen erfüllen kann. Im Kontext der beschriebenen diskurshistorischen Gemengelage war der Immersionsgedanke ein den Texten Trakls durchaus angemessenes Erkenntnismodell. Es gründet in der schöpferischen Clairvoyance des Dichters, seiner Zuverlässigkeit als Medium und seiner den exakten Wissenschaften kongenialen Ernsthaftigkeit. Die dunkle Schau des Sehers Trakl figuriert damit als Gegenstück zum Ulk des DADA-Priesters, der den hohen Ton des Tiefsinns parodieren oder – wie die Helden Robert Müllers und Carl Einsteins Bébuquin – durch Überdehnung ins Groteske, Selbstironische und Subversive unterwandern will. Die Trakl-Welt und ihre Hermeneutik waren also Teil des ernsten, auf Erweiterung der Wahrnehmung bedachten esoterischen Erkenntnisprofils. Umso bedeutsamer ist die Erschütterung, die mit der Edition der handschriftlichen Überlieferungen Trakls Einzug hielt. Der Killy-Schock, der für die Trakl-Forschung leitend wird, ist Folge dieses Einblicks ins poetische Arkanum – und der Ahnung, das Arkanum könnte ohne Botschaft sein.

Willkür, Kontingenz, Kalkül – Der Killy-Schock Vom Sinn zum Verfahren Wie sehr die Aufdeckung der ungezählten Neuansätze und semantisch widersprüchlichen Ersetzungen in Trakls Produktionsprozess den her-

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meneutischen Diskurs verunsichert, zeigt Walther Killys Auseinandersetzung mit der durch die Arbeit an der Trakl-Edition gewonnenen Textwirklichkeit. Von »Nichtbezogenheit« und »Auseinanderfall« derselben tief beeindruckt (Killy 1967, 13), lässt der Hermeneut die Varianten selber sprechen – »Mönchin schließ mich in dein Dunkel« hatte Trakl kurzerhand durch »Nymphe zieh mich in dein Dunkel«, »bittrem« mit »süßem« ersetzt (HKA I, 416 f.; HKA II, 427) – und konstatiert »eine bemerkenswerte Unsicherheit, wenn wir mit Hilfe des handschriftlichen Befundes ein inhaltliches Verstehen begründen wollen« (Killy 1967, 43). In der Tat verstößt die Traklsche Ersetzungskunst hier gegen zwei zentrale Grundannahmen des Verstehens, die der Trakl-Nichtversteher Wittgenstein wie folgt formuliert: »Wir reden vom Verstehen eines Satzes in dem Sinne, in welchem er durch einen andern ersetzt werden kann, der das Gleiche sagt; aber auch in dem Sinne, in welchem er durch keinen andern ersetzt werden kann. […] Im einen Fall ist der Gedanke des Satzes, was verschiedenen Sätzen gemeinsam ist; im andern, etwas, was nur diese Worte, in diesen Stellungen, ausdrücken. (Verstehen eines Gedichts.)« (Wittgenstein 2019, 440 f., Nr. 531.) Wenn aber weder die von den Ersetzungen tangierte Einheit des Gedankens, noch die Individualität der Form die lyrische Semiose steuern, dann, so Killy konsterniert, lässt sich auch analytisch nicht mehr viel gewinnen: »Die Wirkung der Gedichte beruht weitgehend darauf, daß die erinnernde Wahrnehmung die verwandten und verwandelten Bilder erkennt, ehe sich ein analytisches Vermögen ihrer zu bemächtigen trachtet. Es führt zu nichts […]« (Killy 1967, 75). Wo Sinn und Deutung waren, macht sich jetzt ein Algorithmus geltend, der, wie beispielhaft in Trakls »Helian«, die Bilderfolgen regiert. Er ist nicht hermeneutisch aufschließbar, denn »diese Abfolge […] zu allegorisieren ist sinnlos. Sie mag ›Bedeutung‹ haben, aber diese Bedeutung steht eben in der Verwirklichung des ›Musters‹ und auf keine andere Weise geschrieben« (ebd.). Wo Symbole oder Chiffren auch ihr Gegenteil bedeuten können,

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wird nun der Begriff ›Bedeutung‹ selbst – entrückt in einfache Anführungszeichen – zum uneigentlichen Begriff. Statt seiner soll die Musterfüllung jetzt die (immer noch erhoffte) »wunderbare Einheit« stiften, die zwar »wahrgenommen, nicht aber als Ganzes inhaltlich begriffen werden kann« (ebd., 74). Für Killy selbst führt diese Einsicht gar zum Widerruf der eigenen Erkenntnistechnik; hermeneutisches Entscheiden wird im Angesicht der Traklschen Hermetik als geradezu schuldhaft erlebt: »Alle definitiven Festlegungen, von der Art, wie ich selber sie mir vor Jahren auch habe zuschulden kommen lassen, die Behauptung etwa silbern gleich sinnlich schuldhaft und so weiter, irren, denn fast immer wird sich auch der Gegensatz silbern gleich unschuldig aufrechterhalten lassen« (ebd., 91). Die conversio, die hier bekenntnishaft vollzogen wird, hat ihre tiefere Bedeutung in der Preisgabe der hermeneutischen Bedingungen, die mit den nun verworfenen Fixierungen verbunden waren: eines ganzheitlichen Zugangs zur vorausgesetzten Sinnhaftigkeit. Hier ist es dann, so Killy konsequent, »geboten, auf ›Interpretation‹ zu verzichten« (ebd., 74). Vor der Einbindung der Handschriften ins hermeneutische Geschehen war die Dichtung Trakls ein zwar dunkles, aber der Erhellung fähiges Objekt. Vom symbolistischen Diskurs vertraute Chiffren waren prinzipiell, d. h. als Menge möglicher Bedeutungen, vom Ganzen her ermittel- oder doch verhandelbar: als Ausdruck etwa einer religiösen Sinngewissheit oder – umgekehrt – als Folge eines psychobiographisch motivierten Sinnverlusts (vgl. die Forschungsberichte in Thauerer 2007 und Kemper 1971). Und wem die Dunkelheit dann doch zu unergründlich schien, der konnte sie durch die vermeintliche ›Klarheit der Form‹ kompensieren (vgl. etwa Dietz 1959; eine tabellarische Übersicht über den Dunkelheitsdiskurs der frühen Trakl-Forschung findet sich in Rusch/Schmidt 1983, 244–251). Formbewusstsein als semantisches Kalkül war ja ein wesentliches Element der Fin-de-Siècle-Dichtung, das dann die Emphatische Moderne aufgegriffen hat. So mögen »Adler, Lamm und Pfau« in Hofmannsthals berühmtem »Lebenslied«, das – so

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der Dichter selbst – bereits den Zeitgenossen als Modell für »völlige Unverständlichkeit« galt (Hofmannsthal zit. nach Exner 1964, 19), zwar als Symbole dunkel sein, als Textlexeme sind sie klar bestimmbar; Hofmannsthal erwägt nicht ›Prater, Kamm und Tau‹. Die Unverständlichkeit der Traklschen Lexeme wiederum liegt nicht in ihrer metaphorischen und polysemischen Natur, noch in der esoterischen Verdunklung des Geheimen oder in der symbolistischen Verrätselung zum »elaborate cryptogram« (Hamburger zit. nach Exner 1964, 27). Sie ist vielmehr die Folge mangelnder Verlässlichkeit. In Trakls Dichtung zeigt sich ein Problem der Geltung, das die Ebene der Form, der literarischen Signifikanten selbst betrifft und allenfalls mit mittelalterlichen Handschriften und Autorkonzeptionen dekonstruktivistischer Natur verglichen werden kann: Es ist nie sicher, ob die Abschrift mit der Intention zusammentrifft, ob dasteht, was dastehen soll. Der hermeneutische Diskurs, die Lehre vom Verstehen, beruht auf Textsicherheit. Die Sicherung des Textbestandes ist ein editorisches Projekt. Sein Grundkonsens besteht darin, die Vorstufen und Varianten eines Textes als genetische Momente einer Produktion zu fassen, die in der finalen Fassung – einem Werk – zum Abschluss kommt. Die Produktionsästhetik, die hier eingefangen wird, erfordert also eine Produktionsästhetik zweiten Grades, eine Editionsphilologie, die selbst als hermeneutisches Verfahren in Erscheinung tritt. Es ist – vor allem anderen – die Unverständlichkeit der Traklschen Gedichte, die den konkurrierenden historisch-kritischen Gesamtausgaben zum erklärten Anlass wird, der Trakl-Forschung eine zuverlässige Entscheidungsbasis vorzulegen. Dieser Anspruch freilich wird nicht nur von Killys Forschung unterlaufen, die im Widerspruch zu seiner auf ›vollendete‹ Textfassungen zielenden Ausgabe steht (vgl. Kemper 2009, 6). Denn auch die durchgehend faksimilierte und auf maximale Transparenz der Textgenese zielende Innsbrucker Ausgabe muss zwischen Text- und Sinnerkenntnis trennen, wenn ihr mediales Aufklärungsverfahren die semantische Verdunklung nicht erhellen, sondern explizit bewahren will: »Wir wol-

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len mit der neuen Trakl-Ausgabe […] nicht die ›primäre Dunkelheit‹ von Trakls Gedichten aufheben« (Sauermann 1997, 255). Die Abwendung der editorischen Verfahren vom Projekt der Interpretation ist selbst ein Interpretationsentscheid. Da er den Sinn nicht länger in der Textgestalt vermutet, delegiert er dessen Herstellung an die Benutzer, ohne darzustellen, was die Nutzung dieser Edition dann motivieren soll. Der Auftrag an die Edition, als Möglichkeitsbedingung einer neuen, gleichsam postmimetischen und -hermeneutischen Verstehenspraxis aufzutreten, kann der ketzerischen Frage Vorschub leisten, ob sich, wenn der Sinn nicht mehr im Text bzw. in der Textgestalt begründet ist, die minutiöse Darstellung der Traklschen Texturgenese überhaupt noch lohnt. Dies allerdings liegt weniger an Trakls Textverfahren oder gar an einer Fehlentwicklung in der Editionsphilologie, es weist vielmehr auf eine Schwachstelle des hermeneutischen Projekts als solchem. Illustriert wird dies durch die von den Herausgebern beklagte faktische Verweigerung der Trakl-Forschung, die bemerkenswerte editorische Leistung auch interpretatorisch fruchtbar zu machen. Der Grund für diese Abstinenz betrifft bei Killy/Szklenar die Entscheidung, Trakls Handschriften als Vorstufen der letztlich als verbindlich angesetzten Druckversion zu deuten, sprich: als überwundene Optionen abzuwerten, während umgekehrt die Aufwertung der Varianten in der Innsbrucker Ausgabe die Proliferation von nie gedruckten, doch als eigenständig angenommenen Gedichten fördert und durch sie die Auflösung des Werks bedingt. Um nämlich »das Moderne an Trakls Art zu dichten erkennbar zu machen«, müsse man, so Sauermanns Konzept der Editionsgenetik, »seine Texte als Prozeß« verstehen (Sauermann 2005, 444). Das genetische Modell der Variantendarstellung scheint allerdings für eine hermeneutische Teil-Ganzes-Relation so wenig attraktiv zu sein wie sein ›futurisches‹, auf eine end-gültige Fassung hin entwickeltes Pendant, weil die edierten Zustände in ihm nur temporär stabil erscheinen, weil mit der ›präsentischen‹ Momentaufnahme kein Text-Leser-Pakt und somit auch kein Werkanspruch verbunden werden kann (vgl. Kemper 1970, 110 und 124). ›Präsentisch‹ meint

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hier nicht zuletzt die Mitverhandlung der kompositorischen Umgebung einer Variante, was den Auftrag impliziert, »für jede Textstufe den gesamten Kontext erneut abzudrucken« (Sauermann 2005, 447). Es ist nicht der Autor, sondern der Editor, der den Text erstellt und autorisiert. Mit diesem Fokus auf die Medialität der Dichtungen – nach Gunter Martens ist die »Textdynamik« ein »eigenes ästhetisches Medium« (Martens 1990, 400) – verwirklicht die genetische Methode, die ja als Verstehenshilfe angetreten war, bereits das theoretische Konzept der fluktuierenden Signifikanten, noch bevor es sich im Cybertext als mediale Form zur Geltung bringt. So führt die obsessive Autorschaft, die Trakls immer neue Varianten zeigen, paradoxerweise den Tod ihres Autors herbei. Die Interpretation wird dabei von der Sinnerschließung auf die ›objektive Darstellung‹ gerade dieses Umstands, also die dynamische Gestalt des Traklschen Verfahrens umgestellt. Dies schränkt zugleich die Möglichkeit poetologischer Lektüren, die ja ebenfalls Allegoresen einer intendierten, von den Texten selbst vollzogenen Kontrolle wären, deutlich ein. Hält man gleichwohl an einer Vorstellung vom intendierten Ganzen fest, z. B. um die Kontingenzerfahrung nicht als Willkür oder bloßes Spiel zu denunzieren, kann die Intention im Grunde nur in dieser unbegrenzten literarischen Semiose selbst vermutet werden, in der Unterstellung: ›Dieser Text will unverständlich sein‹. Er offenbart sich seinen Interpreten dann als »Resultat einer bewussten künstlerischen Regie […], die eine stringente Gedankenführung gezielt dissimuliert und damit Hermetik erzeugt« (Neymeyr 2002, 534). Die Unverständlichkeit der Traklschen Textur erweist sich so – wie im romantischen Diskurs – als produktionsästhetisches Kalkül (vgl. Kremer 2009) und kann als solches auch verstanden werden: Unverständlichkeit ›an sich‹, ihr Hintergrund, Zustandekommen und Verfahren, wird zum Gegenstand der hermeneutischen Beschäftigung. Sie zieht damit die Konsequenz aus Killys antihermeneutischer Bemerkung: »[d]iese Poesie will nicht eigentlich inhaltlich verstanden sein« (Killy 1967, 34).

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Die radikalste Antwort auf die Neubestimmung des hermetischen Verfahrens gibt das Unverständlichkeitsmodell der sog. Tübinger Schule. Es reiht die Dichtung Trakls ein ins Paradigma der Emphatischen Moderne, die – so die diskurshistorische Vermutung – ihr hermetisches Verfahren aus den Entsubjektivierungspraktiken des historiographischen Historismus, des philosophischen Positivismus und der naturwissenschaftlichen Beschreibung gewinnt (vgl. Baßler/Brecht/Niefanger/Wunberg 1996). Der Historismus wird nach dieser Lesart ›technisch‹, nämlich als Verfahren einer Autonomisierung, Neukombination und Katalogisierung kleinster Teile aufgefasst und damit auch für die diskurshistorische Debatte einsetzbar (vgl. Erdbeer 2001). Die neue Unverständlichkeit erscheint so als ästhetisches Kalkül, das durch die Isolierung einzelner Lexeme und die Apodiktik ihrer Setzung eine ›asemantische Textur‹ erzeugen und dieselbe dann als Offensive gegen den semantisch kontrollierten Text ins Feld führen kann: »Das ganze Geheimnis der modernen Lyrik besteht seither darin, ein Arretieren neuer positiver semantischer Bezüge in ihren Texten zu vermeiden« (Baßler 1996, 203). Trakl kann als Kronzeuge für diese These schwerlich überboten werden: Da, so Moritz Baßler, »Trakls lyrische Sprache nicht mehr über Referenzen Sinn herstellt« und »keine semantisch ausgezeichneten Stellen in dieser homogenen Textur markiert sind«, bleiben alle Deutungen »gleich problematisch« (ebd., 215). Baßler zieht dabei die Konsequenz aus einer Einschätzung, mit der schon Wolfgang Preisendanz die Traklsche Textur als amimetisches Verfahren beschrieb: »Trakls Sprachbilder sind nicht mehr als Anwendung auf eine außersprachliche gegenständliche Realität zu interpretieren, auch nicht als Anweisung auf eine gegenständliche Realität, an der Ungegenständliches zum Vorschein kommt« (Preisendanz 1966, 486). Auch werde hier »kein irgendwie geartetes reflexives Verhältnis eines Sprechenden zu seinem Sprechen« deutlich; eine »Subjekt-Objekt-Spannung« bestehe »so wenig wie eine Dialektik der Subjektivität«, weshalb auch »kein klarer Unterschied zwischen meta-

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phorischem und nicht-metaphorischem Sprechen auszumachen« sei (ebd., 242 und 486). Die Trakl-Forschung ist auf diesen Ansatz wiederholt zurückgekommen: Die »Osmose zwischen eigentlichem und uneigentlichem Sprechen« werde unterstützt durch ein Verfahren der syntaktischen »Eigencodierung«, das v. a. über uneindeutige Appositionen funktioniere (»Ein goldner Kahn / Schaukelt, Elis, dein Herz am einsamen Himmel« [ITA II, 455]) und geheimsprachlichen Konventionen ähnlich sei (Mengaldo 2017, 56; vgl. Christen 2017). Die programmatische Verweigerung der Sinngenese ist, so Baßler, weder Zu- noch Unfall, sondern ein Kontroll- und Steuerungsverzicht, genauer: die Verschiebung der semantischen Kontrollfunktion vom Text auf seinen Kontext, auf die ihn umgebende Diskurssituation. Gesteuert wird auf diese Weise der Verzicht auf die Bereitstellung interner Sinnkohärenz. Aus diesem Grund bezieht sich auch die »Kommentarbedürftigkeit moderner Kunst« im Ganzen »nicht auf die Notwendigkeit einer hermeneutischen Paraphrase, sondern auf die Notwendigkeit einer diskursiven Einbettung, die Direktiven zum Status des Kunstgebildes vorgibt. Die ›Implikation der Sinnerwartung, die mit jedem Sprachgebilde [...] gegeben ist‹ [Adorno], findet sich nicht mehr im Kunstwerk als entschlüsselbare Aussage, sondern das diskursive Umfeld legt fest, wie das an sich Unverständliche ›gemeint‹ ist« (Baßler 1996, 204). Der Sinn erweist sich somit als Funktion des Textverfahrens, das Verfahren als Ermöglichungsbedingung eines sinnerzeugenden Diskursmilieus, das wiederum die Reichweite des hermeneutischen Diskurses bestimmt (vgl. Schumacher 2015). Die Kunst der Interpretation vollzieht hier also jene antihermeneutische, diskurspragmatische Wende, welche Wittgenstein – vielleicht als Folge seines Trakl-Nichtverstehens – am Gebrauch des Wortes ›verstehen‹ erklärt. So liege die Bedeutung des Begriffs in den »Gebrauchsarten von ›verstehen‹ […]. Frage dich: Wie führt man jemand zum Verständnis eines Gedichts, oder eines Themas? Die Antwort darauf sagt, wie man hier den Sinn erklärt« (Wittgenstein 2019, 441).

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Von der Textur zum Diskurs Es liegt in der Natur der Sache und des menschlichen Verstehens, dass die Aufgabe des hermeneutischen Prozesses nicht allein dem Kontext überlassen werden kann. Die Trakl-Forschung reagiert auf das Verhältnis zwischen Text und Kontext daher durch zwei Strömungen, die sich entlang der Frage scheiden, ob die Direktive des vermeinten Sinnes, seine Rationalität, als immanentes Textgeschehen oder als den Text erläuternde, habituelle Kontextposition verstanden werden soll. Von beiden Polen aus wird also Aufklärung darüber angekündigt, wie genau die diskursive Lage durch die Texte Trakls oder wie die Texte Trakls durch den diskursiven Horizont gesteuert und gedeutet werden. Ein Klassiker der immanenten Lesart ist Hans-Georg Kempers Studie Über Georg Trakls Entwürfe. Ihr gegen Killys Unverständlichkeitsmodell gerichtetes Verfahren, das sich selbst als strukturale Hermeneutik versteht, setzt auf die grundsätzliche Deutbarkeit der Traklschen Textur. »[N]ie oder kaum«, so Kemper, überschreite Trakl »die Grenze zum Unsinn, zur absoluten Unverstehbarkeit.« Stattdessen würden die »Erwartungen des Lesers […] zur Umdisposition genötigt«, und der Umstand, dass eine solche »Korrektur« überhaupt möglich sei, lasse »auch die Frage nach dem Gehalt als beantwortbar erscheinen« (Kemper 1970, 179). Diese Frage allerdings sei nicht durch »Kontextdetermination« allein zu lösen, weil der Kontext selbst in hohem Grade der Erklärung bedarf (ebd., 33). Auch gilt, worauf Jörg Schuster hingewiesen hat: »Wenn wir wissen, wie bestimmte Subjekte zu einer bestimmten Zeit den Text verstanden haben, bedeutet das nicht, dass wir den Text verstehen« (Schuster 2017, 168). Kempers Lösungsvorschlag liegt darin, den diskursiven Horizont der Trakl-Dichtung über die Kompositionsprinzipien der Entwürfe zu erhellen, sprich, die immanente Logik ihrer fluktuierenden Textur zu ermitteln. Diese Logik aber ist, so Kempers These, eine Logik des Experiments: An die Systemstelle der sprachlichen Semantik tritt das »Spielerisch-Experimentierende«, das auf Kontraste setzt und deren

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»­ Antithetik« mit assoziativen Analogien er­gänzt (Kemper 1970, 22 und 45). So lässt sich überzeugend zeigen, dass in Trakls Werk ein aus Kontrast- und Klangerfordernissen revidiertes Einzelbild zugleich die Revision der Textumgebung nach sich zieht, wobei die eigentliche Arbeit dieser nachgelagerten Restrukturierung gilt. Da klangliche Äquivalenz im Sinne Jakob­ sons semantische Äquivalenz erzeugt, muss stets darauf geachtet werden, dass die angestrebte Antithetik in der Klangstruktur des ›Wohllauts‹ nicht verloren geht. Da aber auch die Klangstruktur durch die Kontrastsemantik nicht gefährdet werden darf, zieht jede Änderung des lyrischen Entwurfs die Neujustierung des gesamten Textabschnitts nach sich – mit Einschluss solcher Stellen, die bei nichtsystemischer Betrachtung durchaus als gelungen gelten und, sofern dies nötig wird, auch reaktiviert werden können. Trakls Korrekturprogramm scheint also einer Rationalität zu folgen, die der Vorstellung von einer pathographischen bzw. arbiträren Textgenese klar zuwiderläuft und Fragen nach den Grundprinzipien seines Logos stellt. Die »Seelenkryptographie« (Kemper 1970, 210) ist ein Strukturmodell. Die »Strenge« dieses Vorgangs ist bereits von Heidegger beschrieben und vom Eindruck des Chaotischen, der Willkür oder Kontingenz der Traklschen Entwürfe unterschieden worden (Heidegger 2018, 71). Kemper wiederum hat Trakls »Formelhaftigkeit der Bilder« als Produkt des »äußerst bewußt, rational ordnenden und berechnend-experimentierenden ›Organisator[s]‹« beschrieben (Kemper 1970, 74, 99), als Kontrollverfahren, das Károly Csúri dann in seiner Studie über Trakls Konstruktionsprinzipien mittels kognitiver Schemata und Skripte auf den Begriff bringen will. Auch Csúri geht dabei vom »Topos« und »Problem der Verständnisschwierigkeit« aus, die ganz im Sinn der Abweichungsästhetik in »der radikalen Abkehr« Trakls »von den Konventionen der Normalsprache und den gewohnten Bildkompositionen der herkömmlichen Dichtungssprachen« begründet sei (Csúri 2016, 11). Für Csúri geht es hier um nichts Geringeres als um die Grundprinzipien Traklscher Textur und ihrer »meta-

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phorische[n] Abbildung«, gestützt von der Erwartung, dass »der große semantische Reichtum Trakl’scher Gedichte auf eine geringe Zahl von Konstruktionsprinzipien und ihre Kombinationen zurückgeführt werden kann« (ebd., 24 f.). Im Gegensatz zum Degenerationsmodell der Sprachauflösung wird hier ein Systemmodell der größtmöglichen Art postuliert: »Über die poetologische Rolle der [Traklschen] Schemata lässt sich dann sprechen, wenn sich die Einzelschemata zu einem System zusammenschließen, das den globalen Aufbau der fraglichen Textwelt festlegt« (ebd., 22). Die wissenschaftliche Lektüre wiederum muss die »poetologisch mögliche Welt«, (ebd., 19), die den Zusammenhalt des Sinn-Systems beglaubigen und deuten soll, erst ›konstruieren‹. Wie im digitalen Spiel und seiner Storyworld begegnen sich bei Csúri »Grundschema« und »Grundgeschichte«, Programmierung und Emplotment in der Weise, dass die angestrebten Konstruktionsprinzipien nicht allein im Sinne von »syntaktischen Strukturen«, sondern als »ab­ strakt-semantische Kategorien […] den globalen Aufbau der Textwelten bestimmen« (ebd., 361 und 364). Folgt man Csúri, sind es also Topoi, die – als »Ich-Spaltung« zum Beispiel oder in der »Unheils- und der Heilsgeschichte« (ebd., 45 und 361) – Denk-, Struktur- und Deutungsmuster mit Handlungskonzepten verbinden. Ähnlich Csúri unternimmt auch Stephan Jaeger eine ›Oberflächenlektüre‹ der Trakl-Textur. Verworfen wird dabei das Referenz-Problem, die Frage also, wie die Traklschen Lexeme auf die Wirklichkeit der diskursiven Kontexte und der durch sie markierten Lebenswelt bezogen sind. Schon Preisendanz hat für die Texte Trakls den »Impuls« bestritten, »einen durch Wörter und Begriffe benannten Vorstellungskomplex und eine ihm zuzuordnende außersprachliche Realität zu verbinden« und stattdessen eine »Relation« aus bloßen Vorstellungskomplexen erkannt. Bei Trakl, könnte man auch sagen, ist ein poetischer Nominalismus am Werk, der lediglich die »Möglichkeit von Gegenständlichem« als Potenzial seiner Sprache erwägt (Preisendanz 1966, 251). Nach Jaeger wird bereits die Möglichkeit, die Modellierung eines Wirklichkeitsbezugs (und mit ihr des Prinzips ›Verständ-

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lichkeit‹) im hermeneutischen Modell zu replizieren, durch die Sprecherposition des lyrischen Subjekts so subvertiert, dass nicht entscheidbar sei, ob in der Traklschen Textur ein souveräner »äußerer Beobachter ein Weltmodell entfaltet«, oder ob ein involviertes lyrisches »Subjekt sich selbst in den Bewegungen des Textes verfängt […]. Beide Möglichkeiten gehen nicht ineinander auf« (Jaeger 2001, 197 und 216; vgl. Esselborn 2015). So endet die Strukturlektüre im hermeneutischen Patt. Gerade weil sie die Lektüre bremst und die Semiose öffnet, löst die Korrekturdynamik Trakls ein Verfahren der Verfremdung aus, das »Trakls strukturelles Dichten« (Vietta/Kemper 1994, 253) auch für metastrukturale Positionen anschlussfähig macht. Die Dauerstörung des semantischen Prozesses setzt so eine hermeneutische Bewegung frei, die auf der Mikroebene des Textes Inseln von Sinn generiert. Entsprechend hat auch Norman Ächtler mit Bezug auf Blumenberg und Luhmann die Erkenntnisleistung der semantischen Störung betont. So könnten »Störungen im Zusammenhang sozialer Kommunikation […] als Stabilisatoren« gelten, die »eine fortgesetzte Neujustierung der Parameter von Verständigung nach sich ziehen«. Die »Unverständlichkeit eines Ausdrucks« würde dann »von Seiten des Empfängers tendenziell als auf den gegebenen Kontext bezogene uneigentliche Bezeichnung erachtet«, als Metapher etwa, die dann selbst als »Initialakt für einen hermeneutischen Prozess« funktioniert (Ächtler 2014, 335 und 339). Der Störer Trakl wäre somit selbst sein erster Hermeneut. Da dieser sich »bedingungslos dem Darzustellenden unterzuordnen« hat (so Trakl selbst an Buschbeck 1911 [HKA I, 486]), das Zielobjekt jedoch ein unaussprechliches Arkanum ist, kann dessen Darstellung nur als Prozess der permanenten Selbstberichtigung vollzogen werden. Trakls Dichtung ist ein post-production-Prozess. Weil aber auch die ›post-poetische‹ Diktion der Wahrheit nicht gewachsen ist und sich in ›atopischer Metaphorik‹ aufschiebt (vgl. Ächtler 2014, 343), kann die Korrekturbewegung niemals abgeschlossen werden; jeder Abbruch der Bewegung würde

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ein dezisionistischer sein. Der Traklsche Ersetzungsdrang kassiert somit die Apodiktik seiner Setzungen und deren Geltungsanspruch; er erscheint – wie man in Anlehnung an eine Wendung Gerhard Falkners sagen könnte – als TraklReparatur. Die ›Tüftelei‹ und Serienbildung nach dem »Baukasten«-Prinzip (Kemper 2009, 9) befördert also eine strukturale Deutung, provoziert jedoch auch eine existentialontologische Variation. Nach Heidegger zielt Trakls Autokorrekturprogramm gerade nicht darauf, die Wahrheit mittels immer besser angepasster Varianten freizulegen – eher arbeiten die Korrekturen der Verdunklung zu (vgl. Mengaldo 2017, 62 f.); es sei vielmehr sein Auftrag, ihren Ort im dichterischen Œuvre anzuzeigen, und zwar dadurch, dass es zwischen dem semantischen Kontrast und seiner klanglichen Entstörung einen ›Wohllaut höherer Art‹ inszeniert (vgl. Firmage 1991). Die Selbstanzeige, die auf das Arkanum weist, erhält dann von der Deutung einen Namen zugesprochen, der zugleich das post-poetische Verfahren beschreibt. »Dichten heißt: nach-sagen, nämlich den zugesprochenen Wohllaut des Geistes der Abgeschiedenheit« (Heidegger 2018, 66). Die Sprache Trakls wird »zur nachsagenden, wird: Dichtung. Ihr Gesprochenes hütet das Gedicht als das wesenhaft Ungesprochene« (ebd., 67). Mehrdeutigkeit (und mit ihr Unverständlichkeit) als Modus dieses ›Nachsagens‹ erscheint somit als Kehrseite der entzogenen Eindeutigkeit. Es ist kein arbiträres, sondern ein gerichtetes Verfahren und als solches passgenau zu seinem Gegenstand. Auch Heidegger sieht hier die Konkurrenz zum Darstellungskalkül exakter Wissenschaft: »Die einzigartige Strenge der wesenhaft mehrdeutigen Sprache Trakls ist in einem höheren Sinne so eindeutig, daß sie auch aller technischen Exaktheit des bloß wissenschaftlich-eindeutigen Begriffes unendlich überlegen bleibt. […] Der strenge Einklang der mehrstimmigen Sprache, aus der Trakls Dichtung spricht, und dies heißt zugleich: schweigt, entspricht der Abgeschiedenheit als dem Ort des Gedichtes« (ebd., 71 f.).

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Die Selbstanzeige annonciert somit kein Thema, sondern ein Modell, das sich als ›Muster‹ (Killy) oder Matrix der Gedichte zu erkennen gibt und ihren Algorithmus bestimmt (vgl. schon den Hinweis Preisendanz’, »daß hier ein Modell konstituiert ist, das […] unabhängig von […] subjektiven Bedingungen gelten soll« [1966, 245]; weiterhin Cheie 2004; Csúri 1995; Erdbeer 2022). Mit Blick auf das Modellsein dieser Matrix kann der Ontologe schließlich die Behauptung wagen, alle großen Dichter dichteten »nur aus einem einzigen Gedicht. […]. Das Gedicht eines Dichters bleibt ungesprochen. Keine der einzelnen Dichtungen, auch nicht ihr Gesamt, sagt alles. Dennoch spricht jede Dichtung aus dem Ganzen des einen Gedichtes und sagt jedesmal dieses« (Heidegger 2018, 33). In den Korrekturen spricht sich Trakl gleichsam selber nach und scheidet sich zugleich von der Bedeutung seiner Matrix ab. Die hermeneutische Aktion – das Nachsagen des Nachsagens – gilt nunmehr der Erfahrung jenes leitenden Gedicht-Modells, das alle Einzeltexte (und entsprechend alle Korrekturen) einer Dichtung ordnet und organisiert. Begleitet wird die hermeneutische Aktion von der Erwartung, dass sich das Arkanum im Modell der dichterischen Sondersprache sinnlich, wenn auch als entzogenes, erleben lässt – im ›Läuten‹ eines Sinns. Verstehen ist hier also keine rationale, an der Referenz der Zeichen orientierte rekonstitutive, sondern eine miterlebende, empathische Aktion – Erleben des Modells. Im rezeptionsästhetischen Verständnis lässt sich das GedichtModell als Partitur begreifen, die zu immer neuen Realisationen Anlass gibt. Ihr Signum ist die Musikalität der Traklschen Diktion. Verstehen wäre dann – mit Heideggers Begriff – ein ›Hören‹, welches dem ›Erörtern‹ vorgelagert ist: »Die Abgeschiedenheit holt das Hören zuvor in ihren Wohllaut ein, damit dieser das Sagen, worin er nachverlautet, durchläute« (Heidegger 2018, 67). Ziel der hermeneutischen Aktion ist nunmehr die Erschließung dieser Partitur aus den konkreten Aufführungen, dem ›Geläute‹. Freigelegt (remodelliert) wird eine Steuerlogik, die – von Anton Webern als »Gesetz der Faßlichkeit« bezeichnet – das spezifisch musika-

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lische Verstehen bestimmt (Webern 1960, 18). Die Fasslichkeit der musikalischen Komposition ist dabei durch den »Grad der Dichte des innermusikalischen Beziehungsgeflechts garantiert« (Gerber-Wieland 2002, 176). Die Uneindeutigkeit der linguistischen Semantik wird so gleichsam durch die Kohärenz der musikalischen Semantik aufgefangen – mit Adorno ausgedrückt, durch ihre ›begriffslose Synthesis‹ (vgl. Methlagl 1996, 62 f.; Braungart 2000) –, die ihrerseits mit Hilfe entsemantisierter literarischer Lexeme entsteht. Zum Ausdruck kommt damit das Unsagbare als Ergebnis einer Arbeit, die man sich, so Webern, nur dann sparen könne, wenn man ›es in Worten sagen könnte‹ (vgl. Webern 1960, 17). Nach der Logik dieser höheren Semantik kann die amimetische Textur auch hermeneutisch wieder Wohllaut werden, weil sie epistemisch tätig wird und auf die Reintegration des Ganzen zielt. Denn »Faßlichkeit erschöpft sich nicht in der Funktion der Mitteilbarkeit, sondern über die Faßlichkeit wird das Erkennen der Gesetzmäßigkeiten der allgemeinen Natur in der spezifischen Form der Musik als menschlicher Natur offengelegt« (Gerber-Wieland 2002, 178). So ist die Traklsche Hermetik nicht nur ontologisch ausgedeutet, sondern auch anthropologisch flankiert.

Strukturverstehen und Diskurskritik – Die Trakl-Reparatur Wer also aus den Texten Trakls (und nicht nur aus ihrem Kontext) Sinn gewinnen möchte, ist auf die Verbindung strukturaler und diskurshistorischer Aspekte dieser Texte angewiesen, resp. muss erklären können, wie diskurshistorische Strukturen und Verfahren dichtungsrelevant geworden sind (und umgekehrt). Es wird, in Anlehnung an Preisendanz, zu untersuchen sein, ob »Auslegung und Beschreibung des Textes« sich »überhaupt noch integrieren lassen«, und auf welche Weise »sich bei Trakl das Verhältnis von Strukturanalyse und Deutung so verzweifelt schwierig gestaltet« (Preisendanz 1966, 228). Die neuere und neueste Trakl-Forschung hat seit Gunther Kleefelds ­Studien zum

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Problem von Pathogenesis und Poetologie bei Trakl diesen Weg beschritten und versucht, auch die ästhetische Potenz nicht-literarischer Diskurse für die Analyse Traklscher Verfahrenskunst in Anspruch zu nehmen. Kleefelds Ziel, »den unfruchtbaren Antagonismus von psychopathologischer und rein ästhetischer Textbetrachtung aufzuheben« (Kleefeld 1985, 11), schließt auch die formalästhetische Kritik an biographisch motivierten Deutungsansätzen mit ein. Indem er konzediert, dass der »hermetische Charakter solcher Sprachgebilde«, wie sie Trakl schafft, »nicht einfach ihr Symptomcharakter« sei (ebd., 6), gibt Kleefeld den Reduktionismusvorwurf gegenüber biographischen Lektüren an die formalistische Kritik zurück: Sie ignoriere ein zentrales Feld der poetischen Sinnkonstruktion. Er selbst schließt an den editorischen Prozessgedanken an, den Sauermann vertritt, doch ohne dessen hermeneutische Enthaltsamkeit zu teilen: »Die Lyrik Trakls in ihrer Dunkelheit zu verstehen, das heißt vor allem, ihren Entstehungsprozeß zu begreifen. […] Die poetologischen Äußerungen Trakls machen indessen sofort klar, daß der Entstehungsprozeß seiner Lyrik nicht zu reduzieren ist auf den Prozeß ihrer sprachlich-technischen Herstellung, wie er durch das Handschriftenmaterial dokumentiert ist« (ebd., 10). Was Kleefeld dann am psychoanalytischen Diskurs mit Verve erprobt, kann auch für andere diskurshistorische Entwürfe gelten, die das Grundproblem ›Verständlichkeit‹ aus zeitgenössischen Debatten, Theorien und Modellen mit den Sinnbearbeitungsverfahren Trakls in Verbindung bringen. Biographische Aspekte treten dabei in die Mitte zwischen außerliterarischem Diskurs und dichterischem Werk, um den ästhetischen Verarbeitungsprozess aus einer diskursiv vermittelten ›Privatheit‹ oder – modellistisch ausgedrückt – aus einer Steuerungsfunktion des Schöpfers abzuleiten, die sich zwischen den Diskursen und der selbsterzeugten Text-Welt vollzieht. Auch Jaeger spricht von einer impliziten »Widerständigkeit« des »emotional beteiligten, im Text involvierten, wahrnehmenden Subjekt[s]« und dessen »irritierende[r] Kombination« mit einer »deskriptiven, von

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außen kontrollierten und anschaulichen Sprache«. Hierin zeige sich ein »Grundprinzip des sogenannten ›dunklen Traklschen Tons‹« (Jaeger 2001, 203 f., 206 f. und 210). Es macht indessen einen Unterschied, ob der Diskurs als analytische Methode oder als Objekt der Interpretation zum Einsatz kommt. Wenn das methodische Verfahren nämlich den Bedeutungsraum auf Grundprobleme des Diskurses einschränkt, statt dieselben als Verhandlungsmasse der poetischen Befragung aufzufassen, dann wird die vermeintliche Erhellung oft genug durch Allegorese erzielt. Dann reduziert das Teilsystem ›Diskurs‹ die Unverständlichkeit des Teilsystems ›hermetische Lyrik‹, indem es ein Analogon zum dunklen Text erzeugt und – gleichsam in Vertretung – dessen Dunkelheit strategisch aufklärt. Ob das dunkle Korrelat jedoch tatsächlich als Modell des lyrischen Pendants fungieren, also Eigenschaften mit ihm teilen und der Analyse offenbaren kann, ist schwerlich nachzuweisen, denn der jeweilige Leitdiskurs wird hier bereits als Movens des poetischen Diskurses eingetragen, sprich: vorausgesetzt. Die Unverständlichkeit ist also schon beseitigt, bevor die analytische Arbeit beginnt. Wird der Diskurs jedoch als Gegenstand der unverständlichen poetischen Diktion verhandelt, als ihr Thema oder Zielobjekt, dann kann er nicht mehr ohne weiteres als Richtschnur eines hermeneutischen Prozesses gelten. Text und Kontext unterliegen nun derselben Sinn-Kontingenz. Die Trakl-Forschung hat das hermeneutische Dilemma dieser Doppelkontingenz durch immer leidenschaftlichere Exkurse in die Abgründe der diskursiven Umwelten zu kompensieren versucht. Entstanden sind auf diese Weise aufschlussreiche Untersuchungen zum Prophetismus in der literarischen Moderne, zum Drogenrausch im Frühexpressionismus oder auch zum esoterischen Komplex aus Okkultismus, Zahlenmystik und Theosophie. Der Charme der Ansätze und ihre Überzeugungskraft liegt nicht zuletzt darin, die Unverständlichkeit der literarischen Textur als Extension und Argument im Rahmen einer größeren Kulturdebatte aufzufassen, die – als exoterische – sich ihrer ­eigenen

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›geheimen‹ Traditionen zu versichern versucht. Ob »Rauschtraum« (Kemper 2014), mystisches Verstummen oder »gnostisches Artistenevangelium« (Kleefeld 2009, 191) – mit Blick auf Trakls Werk bleibt stets die Frage, ob und inwiefern die Texte und die außerliterarischen Diskurse überhaupt in einem hermeneutischen Verhältnis zueinander stehen, ob die psychophysiologischen und weltanschaulichen Momente die ästhetischen Prozesse steuern oder – umgekehrt – von diesen zu bedeutungsevozierenden Momenten promoviert worden sind. Ist es die Droge selber, die da redet, oder ihr strategisch nachgetragener ›ästhetischer Abglanz‹? »Trakls zum Teil manisch anmutende Arbeit an seinen Entwürfen könnte […] Ausdruck eines solchen Drogen-Abglanzes, ja auch eines Drogen-Ersatzes gewesen sein, woraus sich eine gewisse Reziprozität von Drogenrausch und poetischer Drogenverarbeitung ergeben haben könnte« (Kemper 2014, 35). Trakls Dichten wäre dann die Fortsetzung des Rauschs mit künstlerischen Mitteln – doch es könnte auch der Ausdruck einer zahlenmystischen Spekulation gewesen sein. Kleefeld etwa eruiert hier für den Helian eine »Siebenersumme« (H = 8 +  E = 5 + L = 12 + I = 9 + A = 1 + N = 14 = 49), die auch die Wahl des titelgebenden Namens erklärt: »Die Zahl des Namens »Helian« ist die potenzierte Sieben […]. Das Gedicht ist, Titel mitgerechnet, aus 1078 Silben gebaut. Die Zahl zerlegt sich bequem in 98 + 980, dann in die hochinteressanten Summanden 49 + 49 + 490 + 490, also in Siebenerpotenzen und deren Erhöhung. Folgt auch der ganze Gedichtband dem Gesetz der Sieben? Die 49 Gedichte sind, mit Titeln, aber ohne Widmungen gezählt, gebaut aus 6321 Wörtern, erneut eine Siebenerzahl. Zu dieser Summe gelangt man auf ähnlichem Wege wie eben. Statt der Addition 49 + 49 nehme man die Multiplikation 49 × 49 = 2401. Man füge sodann 70 × 7 = 490 hinzu. Man gebe sich damit aber nicht zufrieden und erhöhe dieses Produkt weiter: 7 × 70 × 7 = 3430. Die Addition ergibt 2401 + 490 + 3430 = 6321« (Kleefeld 2009, 44 f.).

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Man darf wohl dankbar sein, dass Trakl bei solch fortgeschrittenem Berechnungsaufwand überhaupt noch ein Gedicht zu Papier gebracht hat. Die Fülle textueller Varianten wird hier um die Fülle der numerischen ergänzt, wobei die Strenge ihrer esoterischen Kombinatorik ihrem literarischen Pendant kaum nachzustehen scheint. Die Hermeneutik-Parodie, die hier vermutet werden könnte, weist tatsächlich auf ein Grundproblem des hermeneutischen Verfahrens hin: Die angebotene Erklärung, so ab­ strus sie zunächst scheinen mag, wird umso vorstellbarer, je mehr Kontextelemente sich zu ihrer Unterstützung finden lassen. In der Tat: Die Gematrie – die zahlenhermeneutische Erschließung eines Textes – ist als kabbalistisches Verfahren in der esoterischen Moderne ebenso beliebt wie alchemistische Transmutationsideen oder Konzepte der Androgynie. Diskurshistorische Lektüren führen somit ihren Texten die sozialen Energien wieder zu, die in der selbstbezüglichen ästhetischen Verdichtung uneindeutig oder unsichtbar geworden sind. Sie können Aufschluss geben über einen auch poetologisch relevanten Habitus, bei Trakl etwa (wie bei zahlreichen Performern der Jahrhundertwende) einer selbstentworfenen »exzeptionellen Autorschaft«, die, folgt man Gabriela Wacker, im »Propheten-Modell des stellvertretenden Leidens« einen »kathartischen Reinigungsakt« evoziert (Wacker 2013, 272 und 262). Dem »Leidend-Genießen« Hofmannsthals entspräche so das ›Leidend-Verkünden‹ Trakls, das bei gänzlich anderem Thesaurus auf vergleichbar ›wohllautende‹ Auswege aus der hermetischen Verdichtung setzt. Nun spricht zwar nichts dagegen, dass der Text im hermeneutischen Verfahren an semantischer Komplexität gewinnt – es bleibt jedoch die Frage, ob er dadurch verständlicher wird. Diskursstrategisch unterläuft die Multiplikation der möglichen Bedeutungsräume die konkrete Schließung der Textur zum Sinn. Mit Wacker ausgedrückt: »Prophetische Zeichen« sind »(fast) deutungslos« (ebd., 296). Auch die Beobachtung, dass Trakls Werke »eine hermeneutische Lesart auf der Textoberfläche herausfordern« (Jaeger 2001, 221), heißt keineswegs,

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dass eine solche auch mit Aussicht verfolgt werden kann. Auch Wackers Vorschlag, die Propheten-Figur als »Schnittstelle sowohl für die hermeneutischen als auch für die (post-)strukturalistischen Ansätze« der Trakl-Forschung in Anspruch zu nehmen, da in ihr das »Autonom-Werden der Lexeme […] mit dem Bild des sprachdienlichen Propheten« zusammenfalle, kann nach eigenem Bekunden keine Klarheit stiften, denn der »Transzendenzbezug bei Trakl« bleibe »nebulös«. Dies gelte auch für die Rollenfigur. Durch Elis’, des Propheten »paradoxe Aura eines undeutlich-bedeutungsschwangeren Zeichens« »bleibt der Rezipient gegenüber seinem Gesamtbild im Unklaren« (Wacker 2013, 313, 401 und 321). Entsprechend muss auch Jaeger konstatieren: »Der Versuch und Zwang der Vollführung lyrischen Ausdrucks führt gar nicht zu der Frage, ob Sinnzentren oder konstruiertes Spiel dominieren.« Trakls Werk, so seine These, sei gekennzeichnet durch einen »mangelnden Wirklichkeitsbegriff« (Jaeger 2001, 245 f.). Selbst wenn es Trakl also um die genuin »poetische Gestaltung eines metaphysischen Wahrheitsanspruchs« geht (Kemper 2014, 149), so lässt sich über dessen Inhalt letztlich keine belastbare Aussage treffen. Auch dann nicht, wenn man dem Ästheten das Motiv attestiert, dem Künstlerischen »eine quasireligiöse konsolatorische Funktion« abzuringen (Kemper 2009, 14): »Hermetik resultiert hier nicht aus einem artistischen Anspruch, sondern aus einer existentiellen Problematik: aus einem bedrohlichen Beziehungs-, Wahrnehmungs- und Sprachverlust, durch den die Grenze zum Verstummen überschritten wird« (Neymeyr 2002, 546). Belastbares lässt sich dagegen über die Diskurse sagen, die der Dichter seiner Suche unter- oder auferlegt. Wer dennoch etwas über seine Texte sagen will, ist mit der Undurchsichtigkeit der Weise konfrontiert, wie diese sich auf die zitierten literarischen und außerliterarischen Diskurse beziehen. Trakls Arbeit mit Diskursen ist – im alten Sinn des Worts – nicht diskursiv: »Versuche, die Hermetik der Gedichte […] durch eine ›Dialogizität‹ mit literarischen Prätexten aufzubrechen oder zu relativieren, bereichern

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ihre Vieldeutigkeit bestenfalls mit einer weiteren Leseweise und gelangen selbst für diese wegen geringer und uneindeutiger markierter Bezüge bzw. wegen schwieriger Ab- und Eingrenzbarkeit und unsicherer Zuordnung des Prätextbefundes selten zu präzisen Ergebnissen und überzeugender Evidenz« (Kemper 2009, 18). Was sich gleichwohl erweisen lässt, ist die poetische Bezugnahme auf strukturelle Kopplungen, die mit der übernommenen Diskurssemantik auch Aspekte des ihr zugehörigen Verfahrens importieren – etwa das dem mystischen Diskurs entlehnte »Prinzip einer Gleichzeitigkeit von Tautologie und Paradoxie« (Wacker 2013, 339). Schon Clemens Heselhaus hat mit Bezug auf Preisendanz darauf verwiesen, »daß es bei Trakl lyrische Schemata gibt, die entliehen sind und dann wieder poetisch werden« (Preisendanz 1966, 487). Man könnte hier von einer Resemantisierung des Verfahrens sprechen, die – als Hermeneutik in der Krise der Hermetik – Gründe für die Wahl und Zurichtung des adaptierten Diskursmaterials eruiert. Hermetik als Diskurs der Unverständlichkeit ist für die Dichtung attraktiv, nicht, weil er über das Geheime Aufschluss gäbe, sondern weil die esoterischen Diskurse Meister darin sind, Bedeutungsschwere, Essentialität und Überzeitlichkeit effektvoll zu bebildern und zugleich als Einheit einer Tradition zu simulieren. Trakls Unverständlichkeit – so könnte man vermuten – ist als Textmodell der möglichen Bedeutungsfülle (des Arkanum) auch ein Simulat der Unverständlichkeitsdiskurse, die ihr dezidiert ästhetisches Profil mit Wirkund Handlungsinteressen verbinden. Trakl läutert sie gewissermaßen zum semantischen ›Geläute‹ einer Rede, die sich an Versatzstücken, an »Requisten« solcher diskursiver Simulate berauscht (ebd., 255). Der Gestus des Sakralen bringt dabei ein Korrelat zu jener Objektivität hervor, die für das Selbstverständnis der modernen Wissenschaftsdiskurse symptomatisch ist; die Auslöschung des Selbst im quasi-mystischen Erleben trifft sich mit der Auslöschung des wissenschaftlichen Subjekts in der exakten Forschung. Preisendanz hat diese Technik als »Verdinglichung« bezeichnet, die in Trakls Werk

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die Essentialität des lyrischen Subjektmodells durch Funktionalität ersetzt: Die »Art und Ordnung« seiner Bilder hätten »ihren ›Seinsgrund‹ [...] nur mehr als Sprachfiguren, deren Sinn nicht mehr die Natur oder eine persönliche Situation, sondern nur ihre Funktion auf der Ebene des Gedichts erläutern kann« (ebd., 241). Der Dichter entpragmatisiert und entsubjektiviert hier also auch, was von der dunklen Rede der Naturphilosophie und der modernen Esoterik aufgestellt und gegen den modernen Wissenschaftsdiskurs behauptet wurde: das authentische Erleben eines hermeneutisch autonomen Individuums und die Gewissheit einer höheren Erkenntnis, die sich im Erleben offenbart. Die Unverständlichkeit der leitenden Diskurse wird hier also gleichsam selbst verdinglicht: zum Diskurskonstrukt der Gegenwart. Die Trauer, die aus Trakls Zeilen rinnt, wie schwerer Honig aus den hohlen Waben, ist dann nicht zuletzt die Trauer über das Geschäft mit einer Unverständlichkeit, die nur aus Simulaten des Arkanen besteht. Der Dichter grämt sich, weil er die Diskurse nicht als solche sprechen und zur Wirksamkeit befördern, sondern nurmehr als Zitate präsentieren kann: »Wie geschliffene Edelsteine leuchten die Worte des Traklschen Thesaurus […] vor allem deshalb, weil sie selbst bereits Artefakten entstammen. Der Steinbruch, dem Trakl sein Wortmaterial entnimmt, ist kein geringerer als die poetische Tradition des Abendlandes […]« (Baßler 1999, 134). Von der Wahrheit und Wahrhaftigkeit des Darzustellenden, dem Trakl sich ja unterwerfen wollte, bleibt die Wahrheit des Diskurszitats, mit Preisendanz gesprochen: das »Zitieren einer schon gereimten Welt« (Preisendanz 1966, 489), in welcher »die Beziehungen zwischen den Dingen […] nur kraft der Sprache bestehen« (Waldschmidt 2011, 290). Die Sprachwelt freilich stiftet dadurch ihren eigenen, ›postreferentiellen‹ Sinn: »Der Anspruch, dass sich in der Sprache eine Welteinheit mitteile, wird nun, in Ermangelung der realen Entsprechung, auf die Sprache selbst und die von ihr geschaffenen Vorstellungswelten übertragen, die nun als in der Sprache wiedergefundene Kompensation zu einem in der Welt verlorenen Zusammenhang auftreten. […] Im

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Bereich rein sprachlicher Bezüge, in einer Sprache losgelöst von jeder Referenz, sind Einheitsstiftungen, Geschlossenheit und Herstellen von Zusammenhängen im emphatischen Sinne wieder möglich« (ebd., 295). Die Leistung liegt dabei vor allem in der Resakralisierung der hermetischen Verdinglichung, die nun – als zeitgemäße Form der Unverständlichkeit – den »postästhetizistische[n]« Text modelliert (Michler 2016, 385). Die Unverständlichkeit, die hier erzeugt wird, ist ein Konstruktionsentscheid, der sich als solcher nicht nur in den Korrekturen zu erkennen gibt, und der, wie Werner Michler feststellt, »einige der impliziten Vertragsartikel aufkündigt, auf denen Literatur überhaupt beruht« (ebd., 386). Er zeigt sich exemplarisch an Trakls berüchtigtem ›oder‹, mit dem er – etwa in der Wendung »Hinter ihm steht sein toter Bruder, oder er geht die alte Wendeltreppe herab« (»Psalm« [I], HKA I, 55) – einen Umschlagsbruch im zu entfaltenden Motiv etabliert. Noch eindrucksvoller zeigt das ›oder‹ im Gedicht »Trompeten«, »dass poetische Notwendigkeiten nicht alternativlos sind«, vor allem aber, dass »der Dichter als Konstrukteur über sie verfügt«. Als Kontingenzsignal erweckt das ›oder‹ dann den heiklen, nämlich relativistischen Eindruck, »eine poetologische Erzeugungsregel sei denkbar, der zufolge ein Szenario auch nur deshalb aufgebaut werden könne, um dann, als legte man einen Schalter um, durch ein anderes mit anders gelagerten semantischen Valeurs substituiert, ergänzt oder ausbalanciert zu werden: eine gleichsam innere Verdopplung des Reihungsprinzips […]« (Michler 2016, 386). Mit ihr ist das Verfahren der Ersetzung selbst zum Werk geworden, eingewandert ins ›futurische‹ System der Einzeltexte, das die Existenzbehauptungen schon im Moment der Setzung wieder einkassiert: »Es ist ein Licht, das der Wind ausgelöscht hat« (»Psalm« [I], HKA I, 55). Damit aber stellt der Traklsche Konstruktivismus auch die Vorstellungen dessen, was ein hermeneutisches Verfahren leisten kann, zur kritischen Disposition. Mit Blick auf Trakls Neuentwurf der literarischen Hermetik wird sich

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auch das hermeneutische Interesse wesentlich den Auftrag geben, »die Bedingungen dieser Unverständlichkeit immer besser zu verstehen« (Kemper 2009, 28). Verständlich werden wird dann freilich weniger das Unverständliche als dessen Unverständlich-Sein. Mit epistemischer Emphase lässt sich daraus gar das Signum eines neuen Schönheitsideals gewinnen: »Unverständlichkeit wird verständlich als Bedingung der Schönheit des modernen Gedichts« (ebd., 29).

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Teil III

Werk: Produktion, Publikation, Überlieferung

Zur Überlieferung, Konstitution und Edition des Werks

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Anton Unterkircher

Zu Trakls Lebzeiten gab es im Wesentlichen drei Bezugspunkte, die für die weitere Überlieferung seines Werkes von Bedeutung waren: Seine Familie in Salzburg, wo er trotz nicht erfüllter Erwartungshaltung in beruflicher Hinsicht doch immer wieder Zuflucht und Hilfe fand; sein Freund Erhard Buschbeck, mit dem er am meisten Briefe wechselte und der sich besonders um die Publikation seines Frühwerks bemühte und Ludwig von Ficker, in dessen Zeitschrift Der Brenner er von 1912 bis 1914 nicht nur regelmäßig publizierte, sondern bei dem er auch Familienanschluss fand. Folglich haben sich bei Buschbeck, der Familie in Salzburg und in der Redaktion des Brenner die meisten Handschriften und Typoskripte angesammelt. Die Familie übergab ihren Bestand dem Museum Carolino Augusteum in Salzburg: Er wird als Sammlung Maria Geipel-Trakl bezeichnet. Ludwig von Ficker verkaufte sein Redaktionsarchiv samt dem Teilnachlass von Georg Trakl an die Republik Österreich, mit dem 1964 das BrennerArchiv an der Universität Innsbruck begründet wurde. Seither konnte der Trakl-Bestand noch um einige Manuskripte und Briefe angereichert werden. Die Sammlung von Erhard Busch-

A. Unterkircher (*)  Brenner-Archiv, Universität Innsbruck, Innsbruck, Österreich E-Mail: [email protected]

beck wurde nach dem Tod von dessen Lebensgefährtin Lotte Tobisch zum Großteil an die Georg Trakl Forschungs- und Gedenkstätte in Salzburg übergeben, die sich mit weiteren Funden und Ankäufen des Trakl-Biographen Hans Weichselbaum zu einem dritten gewichtigen Sammelzentrum von Trakl-Autographen und -Materialien entwickelt hat. Hinzu kommen die Briefe Trakls an den Kurt Wolff Verlag in The Beinecke Rare Book and Manuscript Library, Yale University, New Haven, Connecticut. Seit der Fertigstellung der HKA 1969 gibt es die Bezeichnung »Sammlung S« für alle jene Einzelstücke, die sich in Privatbesitz oder auch in öffentlichen Einrichtungen befanden oder noch immer befinden. Die damals hergestellten Fotografien dieser Stücke liegen im Forschungsinstitut Brenner-Archiv. Dazu gehört unter der Nummer S. 71 beispielsweise die Satzvorlage für den Band Gedichte in The Houghton Library, Harvard University, Cambridge, Massachusetts. Mit dem Erscheinen der HKA 1969 wurde also das ›Gesamtwerk‹ Trakls erstmals vorgestellt, das eben nicht nur aus den zwei schmalen Bänden Gedichte und Sebastian im Traum und den sonstigen Veröffentlichungen zu Lebzeiten, vor allem im Brenner, besteht, sondern auch aus all dem, was die Herausgeber Walther Killy und Hans Szklenar mit »Nachlaß« bezeichneten. Die ITA konnte, wenn auch mit einem anderen Editionskonzept, darauf aufbauen und mit Akribie und philologischer Genauigkeit auch die seit-

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_10

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her noch aufgetauchten Materialien dokumentieren. Mit diesen großen Recherche- und Editionsanstrengungen konstituieren die Fragmente, Entwürfe, Sammelhandschriften, Typoskripte, Sonderdrucke und Drucke somit das Werk, soweit es eben noch auffindbar ist. Dazu gehören auch Abschriften von fremder Hand, etwa solche von Ludwig von Ficker, aber auch von Arthur Langen aus den Jahren 1910/11, von Ilse Demmer 1933 und Felix Brunner 1937, die, manche als Abschrift von der Abschrift, ebenfalls im Brenner-Archiv liegen. Zum Werk gehören im weiteren Sinne auch die Briefe Trakls, sieht man von jenen geschäftlichen ab, bei denen sich Trakl nicht ungern bei den Formulierungen helfen ließ. Nicht jeder Satz in seinen Briefen ist als literarisch zu werten, doch finden sich in fast allen einzelne Passagen oder Formulierungen, die über den Mitteilungscharakter weit hinausgehen, die für sich gesehen der Qualität seiner Verse nicht nachstehen und die manchmal, ebenso wie die Verse, intertextuelle Bezüge aufweisen. Man denke hier nur an den ›Verzweiflungsbrief‹ an Ficker von Anfang April 1914 (ITA V.2, 583). Erst 2020 wurde wieder ein wichtiger Fund präsentiert: Ein nicht abgeschickter Brief von Trakl an Adolf Loos, der eine bedeutende poetische Selbstaussage zum damals in Fertigstellung befindlichen Buch Sebastian im Traum enthält (DuB 567 f.). Rund 200 Seiten ›autorisiertem‹ Text stehen somit rund 300 Seiten Text aus dem »Nachlass« (ohne die Briefe) gegenüber, wie sich an der neuen Ausgabe Dichtungen und Briefe von Weichselbaum ablesen lässt. Dass Trakl die »Sammlung 1909« für nicht veröffentlichungswürdig hielt, sie aber von seinem Freund Buschbeck auch nicht energisch genug zurückforderte (ITA V.1, 150), gehört ebenso zur Konstitution seines Werkes wie die Tatsache, dass in der Redaktion des Brenner Texte von ihm unveröffentlicht liegen geblieben sind, die wohl zum Zweck der Publikation übergeben worden waren. Es gibt jedenfalls keine Hinweise, die dagegensprechen würden. Doch kann in dem einen oder anderen Fall natürlich eine Übergabe nur an Ficker als Privatperson erfolgt sein und manches Blatt tatsächlich nicht

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zur Veröffentlichung bestimmt gewesen sein. Aber auch bei jenen Texten, die im Brenner erschienen sind, wurde nicht in jedem Fall alles nach Trakls Wunsch gedruckt. Abgesehen von den Satzfehlern, die der Herausgeber hie und da übersah, hat er eben doch – in seinem Sinne – ›Korrekturen‹, vor allem bei der Zeichensetzung, vorgenommen. Neben der Publikation von den Texten im Brenner verdienen die zwei im Kurt Wolff Verlag erschienenen Bände die Hauptbeachtung. Auf Anregung von Karl Kraus erhielt Trakl vom Kurt Wolff Verlag Anfang April 1913 ein Veröffentlichungsangebot. Doch es gab bald Schwierigkeiten: Der Verlag wollte vorerst auf Vorschlag des Lektors Franz Werfel nur eine Auswahl in der Reihe »Der jüngste Tag« herausbringen. Unter Mithilfe von Ficker protestierte Trakl energisch dagegen (vgl. ITA V.2, 401 f.). Als Kompromiss erschien die gesamte Sammlung als Doppelnummer 7/8 in dieser Reihe im Juli 1913. Der Band Gedichte erschien in zweiter Auflage 1917, erweitert um ein Inhaltsverzeichnis, allerdings auch schon wieder mit ein paar verderbten Stellen. Anfang März 1914 bot Trakl dem Kurt Wolff Verlag aufgrund der vertraglichen Vereinbarung seinen neuen Gedichtband Sebastian im Traum an. Das Manuskript wurde angenommen und Ende Mai der Satz begonnen. Anfang Juni nahm Trakl noch beträchtliche Textänderungen vor: Er nahm Gedichte heraus, schickte neue und stellte auch noch um. Zum selben Zeitpunkt bekam er vom Verlag den fertigen Satz zugesandt, auf dem er dann diese gravierenden Änderungen eintrug. Nach neuesten Erkenntnissen (vgl. Unterkircher 2021) gab es für diesen zweiten Gedichtband drei Korrekturvorgänge, wohingegen beim Band Gedichte es entgegen der bisherigen Annahme nur einen einzigen gab. Die Durchführung der letzten Korrekturen in Sebastian im Traum hat Trakl nicht mehr zu Gesicht bekommen. Obwohl der Band Ende Juli 1914 fertig gesetzt war, erschien er kriegsbedingt erst Anfang 1915 (in zweiter Auflage 1917). (Zur Editionsgeschichte von Trakls Werken vgl. ITA I, 26–28; HKA II, 7 f.; Sauermann 2005; Zwerschina 1990).

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Im August 1915 äußerte Georg Heinrich Meyer, der kriegsbedingt die Vertretung des Kurt Wolff Verlags übernommen hatte, gegenüber Ficker die Bitte, die Texte aus dem BrennerJahrbuch 1915 in die noch auf Lager befindlichen Exemplare von Sebastian im Traum einfügen zu dürfen (vgl. Meyer an Ficker, 21.8.1915). Es ist keine Stellungnahme Fickers dazu bekannt, aber das Vorhaben wurde nicht umgesetzt. Im September 1917 berichtete Adolf Loos bei einem Zusammentreffen mit Ficker und Karl Röck in Innsbruck von dem Plan Albert Ehrensteins, eine Gesamtausgabe von Trakl zu veranstalten. Diese sollte nicht nur die in den beiden Gedichtbänden publizierten Texte, sondern auch Unveröffentlichtes und eine »biographische wie ästhetisch-kritische Einleitung des Herausgebers« enthalten. »Kurz, es drohte eine schon recht stark historisierende, und das hieß in diesem Falle: einsargende Ausgabe«, die auch Licht auf den Herausgeber werfen sollte (Röck 1926, 179). Ehrenstein, selbst Mitarbeiter des Brenner und literarischer Beirat beim Kurt Wolff Verlag, hatte mehrere Nachrufe auf Trakl verfasst und 1915 auch die hinterlassenen Papiere von Trakl bei Ficker eingesehen (vgl. Ehrenstein an Ficker, 6.12.1915). Doch offenbar fand das Vorhaben Ehrensteins nicht die Zustimmung Fickers. Dieser hielt dagegen Karl Röck für »berufen«, die erste Gesamtausgabe von Trakls Werk zu veranstalten (Röck 1926, 179). Er intervenierte daher bei Loos und kündigte die Sendung einer »Zusammenstellung der Gedichte Trakls« an, die »mit so gründlicher Gewissenhaftigkeit und Berücksichtigung aller irgendwie entscheidenden Gesichtspunkte (wie sie uns auch noch aus persönlichen Rücksprachen mit Trakl in Erinnerung sind) besorgt [ist], daß ich Sie bitten möchte, Wolff zu bestimmen, er möge diese und keine andere Anordnung der Gesamtausgabe zugrunde legen« (Ficker an Loos, 24.9.1917). Die Anfang 1919 erschienenen Dichtungen sind stark von der Handschrift des Herausgebers Röck geprägt, der im Mai 1919 Ficker ein Exemplar »in Freundschaft und Dank für innigen Anteil und Beistand bei der Anordnung dieses Buches« widmete

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(Bibliothek Fickers, Sign. IV-8). Wie die Anteilnahme und der Beistand Fickers ausgesehen hat, lässt sich nicht mehr näher bestimmen. Doch druckte er in der Erinnerung an Georg Trakl einen Bericht von Röck ab, in dem dieser seine Prinzipien der Gliederung der Traklschen Gedichte darlegt, die trotz ihrer Versponnenheit zumindest eine gewisse Zustimmung bei Ficker gefunden haben müssen: Verkürzt gesagt klassifiziert Röck die Gedichte nach dem »Metrum«, kombiniert sie dann nach den darin vorhandenen »Lebenssphären oder Schauplätzen« und ordnet sie schließlich zu Siebener Zyklen in drei Teilen an (Röck 1926, 180 f.). Trotz dieser eigenwilligen, den beiden Gedichtbänden entgegenstehenden Zusammenstellung und auch einiger Fehler – Röck hatte beispielsweise die fehlerhafte zweite Auflage der Gedichte benützt und in die Orthographie und Zeichensetzung eingegriffen – galt diese Ausgabe lange als »kanonisch« (HKA II, 23; vgl. Szklenar 1966). Der Band Erinnerung an Georg Trakl, herausgegeben von Ludwig von Ficker 1926, hat einige editorische Relevanz, wurden hier nicht nur drei in dieser Fassung bisher nicht bekannte Gedichte, sondern auch eine beträchtliche Anzahl an Briefen publiziert. 1938 erwarb der Otto Müller Verlag auf Anregung durch Ficker die Trakl-Rechte von Kurt Wolff. Dort erschien die dritte Auflage von Die Dichtungen. Röcks Anordnung sanktionierte Ficker weiterhin: Dessen »Auswahl und Zusammenstellung« sei diejenige, »in der Trakl selbst seine Dichtungen der Nachwelt hinterlassen wollte« (Ficker an Buschbeck, 19.4.1938). Ein von Röck geplantes Vorwort bezeichnete er hingegen als »hirnrissig« und versah den Band mit den Lebensdaten, die er für die Erinnerung an Georg Trakl zusammengestellt hatte. Da der Band in Innsbruck gedruckt wurde, übernahm Ficker auch die Korrekturarbeiten (Ficker an Buschbeck, 29.8.1938). Erst in der vierten Auflage von 1939 wurde beispielsweise das Gedicht »Menschliches Elend« (ursprünglich »Menschliche Trauer«) in jener Fassung abgedruckt, die Trakl noch in seinem allerletzten Brief an Ficker mitgeteilt hatte; in der achten Auflage von 1955

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ist im Vorwort von der Korrektur von »Druckfehlern und Textentstellungen« die Rede (Trakl 1955, 7). Unter anderem war »Menschliches Elend« irrtümlich wieder in der früheren sechsstrophischen Fassung abgedruckt worden; ab der zwölften Auflage (1965) wurde der Text nach der im Entstehen begriffenen HKA revidiert. 1939 gab Erhard Buschbeck im Otto Müller Verlag die frühen Werke Trakls unter dem Titel Aus goldenem Kelch. Die Jugenddichtungen heraus. Diese Ausgabe enthält vier Prosatexte, das Drama »Blaubart«, die »Sammlung 1909« und einzelne Gedichte von 1908 bis 1912. Die originale »Sammlung 1909« ist wahrscheinlich 1945 beim Brand des Burgtheaters vernichtet worden. Ein im Nachlass Buschbeck aufgetauchtes Korrekturexemplar ermöglichte zumindest die Umbenennung eines Gedichttitels: »Wintergang in a-Moll« wurde zu »Wintergesang in aMoll« (DuB 305 u. 587). Die ITA zweifelt an der Authentizität des Druckes und schätzt die 1933 angefertigten Abschriften von Ilse Demmer als verlässlicher ein (ITA I, 28). Ficker hatte Bedenken, diese frühen Arbeiten in den Band Die Dichtungen aufzunehmen, hielt aber eine Sonderausgabe mit dem Vermerk von »Trakl als unreif verworfen« für sinnvoll und von literarhistorischem Interesse (Ficker an Buschbeck, 18.11.1938). Auch dieser Band wurde in Innsbruck gedruckt und von Ficker redaktionell betreut. 1948 bis 1951 verantwortete Wolfgang Schneditz im Otto Müller Verlag eine Gesamtausgabe in 3 Bänden: Bd. 1: Die Dichtungen, sechste Auflage (1948), Bd. 3: Nachlaß und Biographie (eigentlich: Gesammelte Werke 3, 1949); Bd. 2: Aus goldenem Kelch, zweite, erweiterte Auflage (1951). Band 1 und 2 folgten Röck bzw. Buschbeck, in Band 3 wurde von Schneditz neues Material eingebracht, etwa »Psalm« (I), auch Briefe und Lebensdokumente. Doch mit seiner wenig sorgfältigen Arbeit erregte Schneditz den Unmut Fickers (vgl. Ficker 1954). 1959 wurde dieser dritte Band durch die zweite, erweiterte und von Ignaz Zangerle besorgte Auflage der Erinnerung an Georg Trakl. Zeugnisse und Briefe ersetzt.

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Historisch-kritische Ausgabe (HKA) »Wenn irgendein Werk, so bedurfte dasjenige Trakls philologischer Fürsorge. Es ist unter ungünstigen Bedingungen entstanden und überliefert« (HKA II, 7). So begründen die Herausgeber der HKA, Walther Killy und Hans Szklenar, ihr Unternehmen. Sie heben besonders hervor, dass viele Gedichte »aus einem einzigen Kern« hervorgehen, deren Bilder immer wieder neu variiert und kombiniert werden. »Man hat gesagt, daß es sich beim Werk dieses Dichters schließlich – ursprünglich – um EIN Gedicht handle« (ebd., 8). Diese These hatte Martin Heidegger 1952 bei einem Trakl-Vortrag vorgestellt, bei dem auch Ficker anwesend war. Ficker stimmte zu und über alle ideologischen Untiefen hinweg entwickelte sich über das Thema Trakl eine Freundschaft (vgl. Flatscher 2004). Die Herausgeber der HKA orientierten sich bei der Umsetzung an Friedrich Beißners Großer Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe und an Hans Zellers Ausgabe der Gedichte Conrad Ferdinand Meyers. Die in diesen Ausgaben konzipierten Methoden versuchten sie der »Entstehungsweise der Traklschen Poesie anzupassen« (HKA II, 8). Doch wird eingeräumt, dass sich zur Abfolge der Variationen »selten« sichere Aussagen treffen lassen (ebd., 34; vgl. Killy 1967, 55 f., 73 f., 82 f.). Die Ausgabe widmen die Herausgeber dem inzwischen verstorbenen Ludwig von Ficker, »die er gewünscht, gefördert und erwartet hat« (HKA II, 9). Die Idee dazu hatte Killy schon 1957 entwickelt (vgl. Killy an Ficker, 15.1.1957), die Handschriften Trakls wurden bereits 1958 bei Ficker erstmals gesichtet. Die HKA grenzt sich klar von der Gesamtausgabe Röcks ab, deren Anordnung sie nicht folgt, weil sie der von Trakl aufgewendeten Sorgfalt für die Bände Gedichte und Sebastian im Traum den Vorrang gibt, die sich im Briefwechsel mit dem Kurt Wolff Verlag manifestiert (HKA II, 23). Abweichende frühere oder spätere Fassungen werden in der Abteilung »Nachlaß« wiedergegeben. Die eigene Rubrik »Veröffentlichungen im Brenner 1914/15« sollte andeuten,

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»daß ein neues, drittes, durch den Tod abgebrochenes Gedichtbuch im Werden war«. Es folgen die »Sonstige Veröffentlichungen zu Lebzeiten«, nach den Gattungen Lyrik, Prosa und Drama und innerhalb chronologisch angeordnet, »im wesentlichen frühe Arbeiten«. Unter der Rubrik »Nachlaß« erhält die »Sammlung 1909« eine Sonderstellung, da hier die Reihenfolge nach der von »Trakl getroffenen Anordnung« bestehen bleiben musste (HKA II, 23). Es folgen die Abteilungen »Gedichte 1909–1912«, »Gedichte 1912–1914«, »Doppelfassungen zu Teil I–III«, »Gedichtkomplexe«, »Fragmente«, »Dramen«, »Aphorismen und Widmungen« und in einem eigenen Kapitel die »Briefe«. Die Gegenbriefe, Dokumente und Lebenszeugnisse finden sich – ebenso wie der umfangreiche Apparat – in HKA II. In Sachen Rechtschreibung werden alle Schreibungen belassen, »die die Lautgestalt berühren«, »zeitgenössisch üblich waren oder von Trakl bevorzugt wurden«. »Orthographische Fehler« und Tippfehler wurden hingegen »stillschweigend korrigiert«, ebenso Fehler in Drucken oder Abschriften (HKA II, 24 f.). Satzzeichen werden ergänzt, wenn »der deutliche Wille des Autors« erkennbar war oder um das Lesen zu erleichtern. Immerhin wird Trakl eine »Willkür« in der »Arbeitsweise« zugesprochen, die keine »Kriterien für die Ergänzung der Satzzeichen gewährt« (HKA II, 25). Ficker war in diesem Punkt nicht für »sklavische Pietät«, und zwar aus dem Grund, weil »Trakl seinerzeit seine Verse für den ›Brenner‹ in Druck gab, meine Interpunktions-Korrekturen da und dort, die ich nie ohne sein Einverständnis vornahm, gerne billigte« (Ficker an Buschbeck, 14.9.1939). Ficker nahm auch bei jenen posthum veröffentlichten Texten solche Eingriffe im ›Sinne‹ von Trakl vor. Die »Autorisierung« ist aber schon bei manchen noch zu Trakls Lebzeiten im Brenner erschienenen Texten nicht gesichert, doch kann man in jenen Fällen, in denen Trakl den Druck im Brenner als Vorlage für die Buchpublikation verwendet hat, zumindest von einer ›Autorisierung‹ im Nachhinein sprechen. Ficker hat sicherlich in ebenso ›gutem Glauben‹ beim Druck in den Text von »Grodek« ein-

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gegriffen: Er hat am Schluss der Verse 8 und 15 Beistriche eingefügt (vergl. ITA IV.2, 338). Die Änderung von »Düstrer« zu »Düster« in Vers 4 kann hingegen auch ein übersehener Satzfehler sein. Die HKA berichtigt in diesen Fällen Ficker nach der Handschrift. Doch immerhin sah Ficker keinen Anlass, »tötlichen Waffen« in »tödlichen Waffen« zu korrigieren, wie es in der HKA geschehen ist (HKA I, 167) und seither in allen darauf aufbauenden Ausgaben, auch noch in DuB (dort 168), nachzulesen ist. Denn »tötlichen« als simplen Fehler abzutun, widerspricht eindeutig dem Vorhaben, der ›Lautgestalt‹ treu bleiben zu wollen. Die Texte in eine chronologische Abfolge zu bringen, stellte für die Herausgeber eine besondere Herausforderung dar, da Trakl kaum Texte, auch nicht seine Briefe, datierte. In der HKA werden vor allem die Ergebnisse der entstehenden Dissertation von Jutta Nagel über die Chronologie von Trakls Dichtungen benutzt. Eine Arbeit allerdings, die nie erschienen ist, was den Weg zu mancher Datierung nicht mehr nachvollziehbar macht. Mit der HKA wurde zweifellos ein Meilenstein in der Trakl-Edition gesetzt. Aber diese Ausgabe – die zweite Auflage von 1987 enthielt nur einen rund 30-seitigen Nachtrag – ist bei aller Güte für die damalige Zeit heute schlicht und einfach veraltet. Kemper vermerkt in seinem Nachwort zur Reclam-Ausgabe, die sich auf die HKA stützt, dass die Forschung »von dem erweiterten Textangebot nur zögernd, sporadisch-marginal […] kaum über bereits bekannte Aspekte hinaus […] Gebrauch gemacht hat. […] Die Entwürfe erwecken den Eindruck von Altvertrautem, nämlich von der kaleidoskopischen Abwandlung von Bildern und Motiven, wie sie inhaltlich und strukturell aus den endgültigen Gedichten Trakls bereits zuvor zum großen Teil bekannt waren« (Kemper 1984, 270). Die Reclam-Ausgabe von 1984 ist immer noch lieferbar. Der Textband der HKA, der 1972 auch als Taschenbuch bei dtv erschien, konnte sich hingegen nicht durchsetzen. Seit dem Beginn der 1980er Jahre gab es am Forschungsinstitut Brenner-Archiv und am Innsbrucker Institut für Germanistik grundlegende

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Forschungen zur Chronologie der Dichtungen und Briefe Trakls. Auf dieser Basis begann 1995 die von Eberhard Sauermann und Hermann Zwerschina herausgegebene Innsbrucker Ausgabe zu erscheinen, die nach vielen Verzögerungen durch die wirtschaftlich prekäre Lage des Verlags Stroemfeld/Roter Stern erst 2014 abgeschlossen werden konnte. Zwerschina schrieb jene Arbeit, die Jutta Nagel nie fertigstellen konnte (vgl. Zwerschina 1990; Sauermann 1990).

Innsbrucker Trakl-Ausgabe (ITA) Während die HKA die Ausgabe letzter Hand bevorzugt, legt die ITA das Hauptaugenmerk auf die Genese und eben nicht auf die »Repräsentation der Endprodukte von Trakls künstlerischem Schaffen«. Die Genese ist daher »nicht rückwärtsgewandt von der ›Fassung letzter Hand‹ her rekonstruiert, sondern von der ersten Niederschrift an, sodaß jede Textstufe in ihrem gesamten Wortlaut und Kontext sichtbar wird.« Die jeweilige Textstufe wird »für einen gewissen Zeitraum« als genauso gültig angesehen, wie etwa ein publizierter Text (ITA I, 12). Die Betonung der prinzipiellen Unabgeschlossenheit eines Werkes (ebd.) hat für Trakl, der lange an einem Werk gearbeitet hat und es auch nach dem Druck oftmals wieder neu bearbeitet hat, einiges Gewicht. So macht diese Ausgabe in einer bisher noch nicht dagewesenen Klarheit die Entstehungsprozesse nachvollziehbar. Die Faksimilierung aller Handschriften sollte die Nachprüfung der Transkriptionen und der editorischen Entscheidungen ermöglichen, was wegen der oft schlechten Qualität der Abbildungen nur begrenzt machbar ist. Ende Februar 2021 wurde zumindest der Innsbrucker Trakl-Bestand online gestellt (vgl. Gstrein/ Lobis/Schneider/Steinsiek/Stern 2021). Im Gegensatz zur HKA setzt die ITA durchgehend auf eine »absolute Chronologie« und verzichtet auf eine Gliederung nach Gattungen (ITA I, 12). Auch trennt sie Text, Apparat und den ausführlichen Kommentar nicht. Viel Aufwand wurde – und das noch teilweise ohne

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die jetzt vielfach digitalisierten Texte – für den Nachweis von Anspielungen und Zitaten betrieben, die die »poetische Verfahrensweise Trakls« wesentlich mitbestimmen: Manche Werke etwa von Verlaine, Rimbaud, Baudelaire, Maeterlinck und die Bibel hat Trakl als »Steinbrüche« verwendet (ebd., 15). Dass der Nachweis von Intertextualität besonders bei Trakls Arbeitsweise seine Grenzen hat, ist den Herausgebern voll bewusst. Einen besonderen Mehrwert bietet die ITA mit der Edition aller bis 2014 zugänglichen Briefe. Die chronologische Anordnung von Briefen und Gegenbriefen zu einem Gesamtbriefwechsel ist überzeugend, da sich viele Inhalte in der chronologischen Abfolge gegenseitig erhellen. Was die ITA allerdings trotz der hoch einzuschätzenden editorischen Gesamtleistung nicht erbracht hat: Einen einfach zu benutzenden, keine diakritischen Zeichen enthaltenden und damit leicht zitierbaren Text zu liefern. Dies ist wohl – neben dem Verschwinden aus dem Buchhandel wegen des Konkurses des Stroemfeld-Verlages von 2018 – mit ein Grund für die mangelnde Akzeptanz in der Trakl-Forschung. Die der Ausgabe beigefügten zwei Supplementbände, photomechanische Nachdrucke der Erstausgaben der Gedichte und Sebastian im Traum, können da nur ungenügend Abhilfe schaffen. So ist die Trakl-Forschung zum größeren Teil lieber bei den leichter zitierbaren Texten der HKA geblieben. Das Dilemma dabei ist, dass man damit oft auch beim Forschungsstand der HKA der 1960er Jahre verharrt und die neuesten Forschungsergebnisse übersieht, die in der ITA bis 2014 dokumentiert sind.

Dichtungen und Briefe (DuB) Doch die ITA hat eine entscheidende Forschungsfrage in den Raum gestellt, die noch nicht einmal in Ansätzen ausdiskutiert ist: Ab wann wird ein Trakl-Text zu einem selbstständigen Gedicht, auch bei teilweiser Textgleichheit? Wann bleibt er ein Entwurf, wann nur eine Vorstufe, ein Fragment? Diese Problematik legt die neue Ausgabe der Dichtun-

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gen und Briefe (DuB) erst so richtig offen: Sie folgt in den meisten Fällen der HKA, doch in anderen auch der ITA. Der allzu knappe editorische Bericht liefert aber kaum Begründungen für die jeweiligen Entscheidungen. Und das muss eine Leseausgabe eben auch nicht leisten. Dass die Texte Trakls »in möglichst umfangreicher Form« in dieser Ausgabe zu finden sind, aber »nicht jede Variante nachzulesen« ist (DuB 583), ist ebenfalls sehr offen formuliert. Dass sich die Anordnung der Texte an der HKA orientiert, wird damit begründet, dass damit »Trakls Wille« »mit den beiden von ihm zusammengestellten Gedichtbänden gewahrt« bleibe (ebd., 584). Ginge man konsequent nach diesem Prinzip, so müsste man den Band spätestens mit Trakls »sonstigen Veröffentlichungen zu Lebzeiten« auf Seite 219 enden lassen. Doch die Leseausgabe umfasst auch die riesige Textmenge »Nachlass« von nahezu weiteren 300 Seiten. Das geht über das Konzept einer Leseausgabe weit hinaus, erfüllt aber wegen der fehlenden Kommentierung die Ansprüche einer Studienausgabe nicht. Eine fundiert begründete Auswahl nach ästhetischen Maßstäben wäre eine Alternative gewesen. Denn viele TraklTexte sind eben auch nur Mittelmaß und ja in beiden historisch-kritischen Ausgaben bis auf jedes noch so kleine Fragment – dort natürlich zu Recht – vorgestellt worden. Wenn man sie in DuB liest und sich näher dafür interessiert, dann bleibt doch wieder nur der Griff zu diesen hochspezialisierten Ausgaben. Denn ein genetischer Prozess wie in der ITA, aber auch die Perspektive letzter Hand der HKA lässt sich anhand dieser Ausgabe kaum nachvollziehen. Doch präsentiert Weichselbaum in seiner Ausgabe bedeutende Neufunde: Die »Sammlung Richard Buhlig«, die im Zuge der Arbeiten an einer Biographie über Grete Trakl 2012 von Marty Bax im Bibliotheksarchiv der California State University Long Beach aufgefunden wurde, beinhaltet 15 Gedichte. Außerdem präsentiert die Ausgabe das 2016 im Antiquariatshandel aufgetauchte Gedicht »Hölderlin« (ebd., 304) und einen nicht abgeschickten Brief von Trakl an Adolf Loos, der eine der seltenen poetischen Selbstaussagen Trakls enthält (ebd., 567 f.).

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Ausgaben vs. Handschrift Insgesamt ist die Editionssituation von Trakls Werk trotz der großen Anstrengungen von zwei historisch-kritischen Ausgaben immer noch nicht befriedigend. Eine Hybrid-Edition – das gesamte Werk digital und eine kommentierte Studienausgabe mit gut begründeter Auswahl und einem soliden Kommentar – bleibt weiterhin ein Desiderat. Doch alle Editionen können – auch samt hochwertigsten Digitalisaten – nie ganz an die Originale herankommen, die in den zu Beginn genannten Institutionen aufbewahrt werden. Ein Archivbesuch lohnt sich nicht nur für hochspezialisierte Forscherinnen und Forscher, sondern eben auch für alle Literaturinteressierten. Ein Manuskriptblatt ist eben bei weitem mehr als nur sein Inhalt: Es ist ein dreidimensionales Objekt: Papierart, Schreibmaterial, Erhaltungszustand, der sprichwörtliche Kaffeefleck, Bearbeitungsspuren durch die Forschung und das Archivpersonal bestimmen es wesentlich mit. Die Handschrift lässt zwar nicht, wie man zu Trakls Zeiten noch glaubte, auf den Charakter schließen, aber immerhin in manchen Fällen auf Erregungs- oder Rauschzustände. Dazu kommt die Aura des ›Originals‹, die jeder Betrachter dazu imaginiert. So geschieht es jedenfalls beim wertvollsten Stück des Trakl-Teilnachlasses am Forschungsinstitut Brenner-Archiv: Trakls Brief an Ficker vom 27.10.1914, der die Gedichte »Klage« (II) und »Grodek« enthält und zugleich auch sein Testament ist. Diese Sammelhandschrift, archivarisch gesehen Werk, Brief und Lebensdokument in einem, hat, wie der Stempel auf dem dazu gehörigen Kuvert zeigt, die Zensur passiert und ist trotz der Kriegsereignisse unversehrt bei Ficker in Innsbruck angekommen. Mit der Veröffentlichung von »Grodek« im Brenner-Jahrbuch 1915 ist dieses zum bekanntesten Gedicht Trakls, somit Teil der Weltliteratur geworden. Was macht nun tatsächlich den Reiz des Originals aus? Es ist ein Dokument, das ›direkt‹ von Trakl an uns gekommen ist. Er hat das Briefpapier samt dazugehörigem Kuvert besorgt, dann die Gedichte darauf geschrieben, mit

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Bleistift, in einer Zelle der psychiatrischen Abteilung des Garnisonsspitals in Krakau, in der Konzentration vielleicht durch seinen an Delirium tremens leidenden Zimmernachbarn gestört, und er verfasst zum Schluss die ergreifenden und bewegenden Zeilen an Ficker. Bei aller Bedrücktheit präsentiert sich Trakl auch im Brieftext als Dichter: »Seit Ihrem Besuch im Spital ist mir doppelt traurig zu Mute. Ich fühle mich fast schon jenseits der Welt« (ITA V.2, 689). Mit dem zweiten Satz stellt er einen intertextuellen Bezug zu Rimbaud her. Dann folgt seine testamentarische Verfügung. Mit der Auffindung des Verlassenschaftsaktes von Georg Trakl ist erwiesen, dass dieser Brief tatsächlich als Testament zum Einsatz kam (vgl. Stockhammer 2014). Auch das vergilbte Kuvert beeindruckt mit der in der steilen Kurrentschrift verfassten Absenderadresse. Hier zeigen sich beim Faksimile am deutlichsten die Grenzen: Dies ist nur ein Blatt, während das Original-Kuvert sich öffnen lässt und damit die violette Innenfütterung sichtbar wird. Auch die Faltung des Briefblattes zeigt, wie es einmal im Kuvert Platz gefunden hat. Diese Sammelhandschrift hat verständlicherweise auch die hochspezialisierte Trakl-Forschung sehr beschäftigt. Denn es geht um die Reihenfolge, in der das Blatt beschrieben worden ist. Hat Trakl mit dem Brief angefangen oder mit den Gedichten? Welches Gedicht hat er zuerst hingeschrieben? Für die Reihenfolge hat die ITA die bisher stimmigste Erklärung geliefert. Wesentlich für die Argumentation ist der jedem Betrachter auffallende Wechsel von der lateinischen zur deutschen (Kurrent-)Schrift. Demnach hat Trakl mit »Klage« (II) begonnen, dann »Grodek« geschrieben und ist nach dem ersten Drittel wieder in seine gewohnte Kurrentschrift verfallen. Erst dann schrieb er den Brief an Ficker, und da er sich auf der letzten Seite des Doppelblattes befand, musste Trakl mit dieser Seite das Auslangen finden, was dazu führte, dass er seine Unterschrift nahezu »hineinquetschen« musste. Dass die lateinische Schrift »eine möglichst authentische Wiedergabe der Gedichte im Druck gewährleisten« sollte, ist hingegen nicht zwingend schlüssig (ITA IV.2, 333 f.). Denn Ficker

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und auch möglichen Setzern war Kurrent damals geläufig. Die Gefahr von Lese- oder Satzfehlern verringerte oder erhöhte sich bei einer Druckbeaufsichtigung durch Ficker deswegen nicht. Ficker selbst stellte im Nachhinein eine abenteuerlich klingende Vermutung an: »daß man nicht etwa aus den extremen gotischen Schriftzügen von der Spitalszensur (auf dem Umschlag steht ein Zensurstempel) auf die Idee eines wahnsinniggewordenen genialen Schreibers kommen hätte können« (Methlagl 2014, 59). 2016 hat Cornelia Ortlieb einen bemerkenswert neuen Blick auf dieses Blatt geworfen, das seine Geheimnisse der Forschung bisher nicht ganz preisgegeben hat, vielleicht auch nie preisgeben wird. Allerdings hat sie diesen Blick nur auf das Faksimile in der ITA gemacht. Denn hätte sie das Original eingesehen, wäre sie der so diffizilen Frage, wie und in welcher Reihenfolge denn nun dieses Blatt gefaltet und beschrieben worden ist, vielleicht doch nähergekommen, zumal diese Faltung auch vom dazugehörigen Kuvert mit abhängt. Aber die von Ortlieb angedeutete Denkmöglichkeit, dass Trakl – in Ermangelung einer Schreibmaschine – in lateinischer Schrift ›getippt‹ hat, ist bestechend (vgl. Ortlieb 2016, 197). Zu Trakls Schreibprozess gehörte eben auch, seine handschriftlichen Verse auf Maschine zu schreiben, was freilich nicht mit einer ›Fertigstellung‹ des Textes gleichzusetzen ist. Warum Trakl dann aber nach dem ersten Drittel von »Grodek« wieder in die Kurrentschrift verfallen ist, bleibt weiterhin ein Rätsel. Ein Blick auf das Original bleibt selbst nach zwei historisch-kritischen Ausgaben unerlässlich, wenn man zu neuen Erkenntnissen kommen will.

Literatur Erinnerung an Georg Trakl. Innsbruck 1926. Ficker, Ludwig von: Kommentierte Online-Edition des Gesamtbriefwechsels. Hg. von Markus Ender und Ingrid Fürhapter (bis 2018) unter der Leitung von Ulrike Tanzer. Alle Briefe von/an Ficker werden nach dieser Edition zitiert. Teile davon gingen 2021 online unter: http://www.ficker-gesamtbriefwechsel.net/. Ficker, Ludwig von: Das Vermächtnis Georg Trakls. Dem Herausgeber der Salzburger Gesamtausgabe von

10  Zur Überlieferung, Konstitution und Edition des Werks Trakls Dichtungen in einem Rückblick zugedacht. In: Der Brenner 18 (1954), 248–269. Flatscher, Matthias (Hg.): Martin Heidegger – Ludwig von Ficker: Briefwechsel 1952–1967. Stuttgart 2004. Gstrein, Silvia/Lobis, Ulrich/Schneider, Ursula/Steinsiek, Annette/Stern, Monika (Hg.): Look up statt Lockdown. Georg Trakl (2021), https://diglib.uibk.ac.at/ obvuibnl/nav/classification/5687566 (1.3.2021). Kemper, Hans-Georg: Nachwort. In: Georg Trakl: Werke - Entwürfe - Briefe. Hg. von Hans-Georg Kemper und Frank Rainer Max. Stuttgart 1984, 269–320. Killy, Walther: Über Georg Trakl. Göttingen 1967. Methlagl, Walter: Brenner-Gespräche. Aufgezeichnet in den Jahren von 1961 bis 1967. Hg. von Christine Riccabona, Ursula A. Schneider und Erika Wimmer (2014), https://www.uibk.ac.at/brenner-archiv/publikationen/links/brenner-gespraeche.pdf. Ortlieb, Cornelia: Sankt Thomasʼ Hand. Trakl und Wittgenstein über Gewissheit. In: Uta Degner/Hans Weichselbaum/Norbert Christian Wolf (Hg.): Autorschaft und Poetik in Texten und Kontexten Georg Trakls. Salzburg/Wien 2016, 193–212. Röck, Karl: Über die Anordnung der Gesamtausgabe von Trakls Dichtungen. In: Erinnerung an Georg Trakl. Innsbruck 1926, 177–198.

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Sauermann, Eberhard: Die Chronologie der Briefe Georg Trakls. In: editio 4 (1990), 205–228. Sauermann, Eberhard: Trakl-Editionen. In: Rüdiger Nutt-Kofoth/Bodo Plachta (Hg.): Editionen zu deutschsprachigen Autoren als Spiegel der Editionsgeschichte. Tübingen 2005, 433–456. Stockhammer, Harald: A 367/14 Bezirksgericht Hall in Tirol – Das Verlassenschaftsverfahren nach Georg Trakl. In: Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv 33 (2014), 109–125. Szklenar, Hans: Beiträge zur Chronologie und Anordnung von Georg Trakls Gedichten auf Grund des Nachlasses von Karl Röck. In: Euphorion 60 (1966), 222–262. Trakl, Georg: Die Dichtungen. Erste Gesamtausgabe. Anordnung und Überwachung der Drucklegung besorgt von Karl Röck. Leipzig 1919. Trakl, Georg: Die Dichtungen [1919]. Salzburg 81955. Unterkircher, Anton: Zum Briefwechsel von Georg Trakl und dem Kurt Wolff Verlag. Puzzle oder Patience? In: editio 35 (2021), 168–181. Zwerschina, Hermann: Die Chronologie der Dichtungen Georg Trakls. Innsbruck 1990.

Trakls Produktions- und Publikationspraxis

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Über Produktionspraxis kann man nur unter dem Vorbehalt reden, dass gerade für den kreativen Akt des Schreibens – und das gilt nicht nur bei Trakl – die Überlieferungslage besonders lückenhaft ist, per se sein muss, da der Produktionsvorgang im Kopf, besser in der Persönlichkeit, niemals erfasst und dokumentiert werden kann. Eindrücklich ist das in einem erst kürzlich aufgefundenen Brief Trakls an Adolf Loos formuliert, in dem er seine schriftstellerische Arbeit so charakterisiert: »in unsäglicher Mühsal langsam das reden, was die Seele will« (DuB 567). Dieser ›mühselige‹ Vorgang lässt sich mit dem Wenigen, was sich auf Papier erhalten hat, nur in Ansätzen erahnen. Immerhin ist durch die Arbeit der HKA und der ITA zumindest bei einzelnen Gedichten ein Weg von einem ersten Entwurf bis zur Publikation nachgezeichnet. Und doch ist – das hat die ITA eindrücklich belegt – mit einer Publikation die Arbeit an einem Werk nicht abgeschlossen. Am Gedruckten – etwa im Brenner – arbeitet Trakl weiter und publiziert es dann in stark veränderter Form in Sebastian im Traum. Als Beispiel ist das Gedicht »Abendland« (II) zu nennen, das im Brenner als fünfteiliges Langgedicht erschienen ist und dann

im Gedichtband nur mehr dreiteilig und um knapp zwei Drittel kürzer ist. Spätestens seit seinem Probedienst im Garnisonsspital in Innsbruck war das, was Trakl unter Arbeit verstand, seine künstlerische Arbeit. Die vergeblichen Versuche, danach noch im Arbeitsleben Fuß zu fassen, belegen es überdeutlich. Der »Wahrheit zu geben, was der Wahrheit ist« (ITA V.1, 174), »das reden, was die Seele will« (DuB 567), deuten die Spannweite und den hohen ethischen Anspruch an, der hinter seinem künstlerischen Bestreben stand. Dass nicht nur seine Gedichte zum »Bersten voll von Bewegung und Gesichten« (ITA V.1, 174) waren, sondern sein Inneres an den synästhetischen Bilderfluten ebenso zu zerbersten drohte, kann zu Recht vermutet werden und die Überlegung ist einleuchtend, dass Trakl mit den Rauschmitteln das »infernalische[] Chaos von Rythmen und Bildern« (ITA V.1, 131) dämpfen musste, um nicht davon förmlich zerrissen zu werden (vgl. De Felip 2016). Manche Depressionszustände, auch längere Phasen mit scheinbarer Unproduktivität waren die Folge, doch die unausgesetzte Arbeit an seinen Dichtungen war immer gegenwärtig.

Trakls Schreibverfahren A. Unterkircher (*)  Brenner-Archiv, Universität Innsbruck, Innsbruck, Österreich E-Mail: [email protected]

Trotz der angedeuteten Vorbehalte lässt sich doch einiges zu Trakls Arbeitsweise sagen. Er bringt irgendwann erste Zeilen zu Papier,

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_11

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korrigiert oft schon im selben Schreibvorgang, oder er nimmt die Arbeit daran – manchmal gar erst Jahre – später wieder auf, verfasst eine neue Version. Es kann aber auch sein, dass bestimmte Entwürfe und Fragmente nie über dieses Stadium hinauskommen, aber wiederum als Steinbruch für andere Gedichte genutzt werden. Die Spontanität, in gewisser Weise auch die Obsession, äußert sich oft in der Schreibunterlage: Das kann tatsächlich ein beliebiger ›Fresszettel‹ sein, ein schon in Teilen beschriebenes Blatt, Briefpapier von Gasthäusern, aber auch erhaltene Briefe und Postkarten werden weiterverwendet. Trakls Werk ist vom Wort-, Bild- und Motivbestand erstaunlich schmal und zudem voll von intertextuellen Bezügen. Es ist der meisterhafte Umgang damit, die »Repetition bzw. Variation von Motiven, aber auch von Lauten, Klängen und Rhythmen« (Kemper 1984, 301), die das Traklsche Werk besonders auszeichnen. Die These Martin Heideggers, Trakl habe im Grunde nur »an einem einzigen Gedicht« geschrieben, ist nicht ganz von der Hand zu weisen (vgl. Heidegger 2018, 33). Das enthebt die Trakl-Leser jedoch nicht der Aufgabe, jedes einzelne Gedicht, auf welcher Textstufe auch immer, als autonomes Kunstwerk zu sehen und zu interpretieren, wobei der Kontext in den beiden Gedichtbänden, besonders aber die zyklische Strukturierung in Sebastian im Trum, nicht aus dem Auge verloren werden darf. Es spricht viel dafür, dass Trakl am Beginn des Schreibvorgangs »nur vage das Ziel und den Weg dorthin« kennt (ITA I, 23) und dieses sich erst im Zuge der sprachlichen Arbeit konkretisiert. Daher gibt es zu Beginn oft auch keinen Titel, manchmal wird dieser überhaupt erst ganz zum Schluss fixiert. Damit muss man sich auch vom Denkmuster einer linearen Entwicklung der Texte Trakls verabschieden. Was aber gerade das genetische Modell der ITA eindrucksvoll zeigt, ist die Tendenz von anfangs zum Teil noch konkreten Wirklichkeitsbezügen hin zur Verknappung und Abstraktion, manchmal auch zur Verkehrung ins Gegenteil. Das kann so weit gehen, dass etwa in »Nähe des Todes« »heilig« zu »verrucht« wird (ITA I, 24). Gleichwohl erleichtert auch diese Darstellungsweise ein ›Ver-

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stehen‹ im semantischen Sinne nicht. Doch das genetische Modell macht zumindest in Teilen eindrücklich die Produktionsweise Trakls sichtbar. Zu diesem Vorgang gehört bei Trakl in besonderem Maße auch das Tippen eines Textes. Hermann Zwerschina ist es gelungen, 11(!) verschiedene Schreibmaschinen zu unterscheiden und zu lokalisieren (Zwerschina 1990, 23–33). Zwar ist auch mit der Maschinenschrift der Arbeitsvorgang nicht beendet, im Gegenteil: Viele dieser Typoskripte tragen wieder handschriftliche Korrekturen, die keineswegs nur Tippfehler betreffen. Es scheint aber tatsächlich so etwas wie ein ›erster‹ Druckversuch für Trakl gewesen sein und nicht von ungefähr bestanden seine eingereichten Manuskripte beim Kurt Wolff Verlag aus Typoskripten oder auf Blättern aufgeklebten Drucken. Dass auf Typoskripte aber auch wieder eine handschriftliche Fassung folgen konnte, versteht sich bei Trakls Arbeitsweise von selbst. Es besteht kein Zweifel, dass das Schreiben Trakls eigentliche Lebensarbeit war. Umso verwunderlicher ist es, dass er dem Produkt seiner Arbeit oft erstaunlich unbeteiligt gegenüberstand, selten ein Werk – selbst im engsten Freundeskreis – als gelungen bezeichnete. Der hohe ethische Anspruch bedingte wohl auch die prinzipielle Unabschließbarkeit seiner Texte mit. Noch in Sebastian im Traum fühlte er den Mangel, »jene Harmonie und Klarheit, die ein Gedicht erst zum Kunstwerk macht« (DuB 567). Diese Forderung ist beispielsweise im Gedicht »Ein Winterabend« erfüllt und so hat es Trakl wohl deswegen gewagt, dieses dem von ihm sehr geschätzten Kraus zu übermitteln. Dass diese Verse in »rasender Betrunkenheit und verbrecherischer Melancholie« entstanden sind (ITA V.2, 559), dass ihm beim Schreiben des Briefes und der Verse die Handschrift entgleitet, belegt nur umso eindrücklicher die ungemein präzise Spracharbeit Trakls. Denn die Verse selbst sind harmonisch und klar, eben ein Kunstwerk. Selbst wenn er offensichtlich nicht mehr selbst in der Lage war zu schreiben, weil es ihm schlecht ging, diktierte er noch seinen Freunden Karl Röck und Max von Esterle den Zyklus »Abendland« (II). Trotz Depressions- oder

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Rauschzuständen seit seiner Rückkehr aus Berlin litt das Geschriebene nicht darunter – was die Spontankorrekturen belegen, die sich nur dadurch erklären lassen, dass Trakl seinen Freunden doch aufmerksam über die Schulter geschaut hat (ITA IV.1, 231).

Trakls Ambivalenz gegenüber Veröffentlichtem Am Beginn von Trakls Schriftstellerkarriere im Jahr 1906 war die Reserve gegen die literarische Öffentlichkeit noch nicht absehbar, denn mit seinem ursprünglichen Hauptinteresse am Drama war ein enger Kontakt zum Publikum unabdingbar. In seiner ersten bekannten Publikation besprach er eine Aufführung von Karl Schönherrs Stück Familie im Salzburger Stadttheater (Salzburger Zeitung, 9.1.1906, 2  f.; ITA I, 49 f.). Schon einige Monate später, am 31.3.1906, wurde sein Einakter Totentag am Salzburger Stadttheater mit bescheidenem Erfolg uraufgeführt. Kurz darauf publizierte er seine erste Prosaarbeit »Traumland« (Salzburger Volkszeitung, 12.5.1906; ITA I, 65–68). Mit dem Durchfall seines zweiten Stücks, Fata Morgana, uraufgeführt am 15.9.1906, waren nicht nur seine dramatischen, sondern überhaupt seine Ambitionen, als Schriftsteller in der Öffentlichkeit zu reüssieren, geknickt. Sein erstes Gedicht »Aufforderung«, 1907 in einer Matura-Zeitung in Krems veröffentlicht, war wohl nur eine Gefälligkeit für einen ehemaligen Schulkollegen. Es folgten vorerst bis 1909 nur mehr vereinzelte Publikationen, die meisten davon in der Salzburger Zeitung. Das Einsenden von Manuskripten an verschiedene Redaktionen, das Kontaktieren von Kritikern, überließ er nun seinem Freund Erhard Buschbeck, der vor allem seit seinem Aufenthalt in Wien gute Kontakte zu journalistischen und künstlerischen Kreisen pflegte. Buschbeck brachte 1910/11 Gedichte in den Wiener Musik- und Literaturzeitschriften Der Merker und Ton und Wort unter. Der damals in Wien noch völlig unbekannte Autor Trakl kam somit, auch was die Namen der MitarbeiterInnen betraf, in ein pro-

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minentes künstlerisches Umfeld, das »stilmäßig dem Impressionismus, weltanschaulich dem Ästhetizismus verbunden« war (Klettenhammer 1990, 55). In einem Brief an seinen Freund legte Trakl ein Gedicht mit der Bitte bei, es an »irgend eine Zeitung« zu schicken, da der sich selbst »nie dazu aufraffen werde«. Und er fügte hinzu: »gib es womöglich unter einem anderen als meinen Namen heraus!« (ITA V.1, 84). Gegenüber Buschbeck, der Gedichte von ihm an die Zeitschrift Der Merker geschickt hatte, betont er, dass es ihn nicht mehr interessiere, »was mit ihnen geschehen wird« (ITA V.1, 118). Noch 1913 schrieb Trakl, Buschbeck möge das »Manuskript zweier Gedichte […] nach Belieben verwenden« (ITA V.1, 293). Das bedeutete aber nicht, dass er den dann veröffentlichten Texten völlig interesselos gegenübergestanden wäre. Trakls Ambivalenz gegenüber seinen Werken zeigt sich etwa, als sein Bekannter Ludwig Ullmann ein Gedicht von ihm plagiiert: Es könne ihm »als gänzlich Unbekanntem und Ungehörtem nicht gleichgiltig sein, vielleicht demnächst irgendwo das Zerrbild meines eigenen Antlitzes als Maske vor eines Fremden Gesicht auftauchen zu sehn« (ITA V.1, 126). Doch schon im nächsten Schreiben nimmt er den Vorwurf wieder zurück: »Es ist schon wieder ganz gleichgiltig. Was kann es mich kümmern ob jemand meine Arbeiten der Nachahmung für wert befindet« (ITA V.1, 131). Buschbeck bemühte sich weiterhin nach Kräften um die Unterbringung von Trakls Gedichten, rügte aber auch dessen Zurückhaltung in Sachen Eigenwerbung: Er solle sich in Kürschners Literaturkalender aufnehmen lassen, das würde die Unterbringung seiner Arbeiten wesentlich erleichtern. Trakl versprach zwar, dem Rat seines Freundes zu folgen, einen Eintrag im Kürschner veranlasste er aber nicht (ITA V.1, 84 u. 89). Doch war es ihm noch 1909 wichtig, in Kontakt mit Hermann Bahr zu kommen, von dem er sich nicht nur Publikationsmöglichkeiten, sondern auch eine Bestätigung und Ermunterung in seiner schriftstellerischen Arbeit erhoffte (vgl. ITA V.1, 100 f.). Herstellen musste diesen Kontakt wieder sein Freund. Wenn Buschbeck immer wieder Trakls Gedichte an

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Zeitungen und Zeitschriften versandte, so war es diesem laut eigener Aussage eigentlich egal, ob sie erschienen. Doch so weltfremd war Trakl nun wieder nicht, als dass er sich nicht schon im nächsten Satz für diese Aussage entschuldigte, da sie ja die Bemühungen seines Freundes konterkarierte (vgl. ITA V.1, 118). Schon kurze Zeit später äußerte er sich wieder im selben Sinne: »Wahrhaftig mich ekelt der Gedanke, bereits vor Eintritt in diese papierene Welt« (ITA V.1, 126). Die zwiespältige Haltung gegenüber Veröffentlichtem sollte er sein Leben lang beibehalten; die Gestalt dessen, was veröffentlicht wurde, blieb Trakl gleichwohl stets von höchster Bedeutung. Als in der Zeitschrift Ton und Wort das Gedicht »Die schöne Stadt« erschien, war es ihm nicht recht, dass es in der ersten Fassung publiziert worden war, er gab aber zu, dass er es versäumt hatte, die zweite Fassung zu schicken (vgl. ITA V.1, 146). Oder er hinterfragte, ob sein Gedicht »Trompeten« »nicht zu sehr aus dem Rahmen einer kriegerischen Nummer des Rufs« falle (ITA V.1, 243). Er glaubte zwar, dass es für den Zweck geeignet sei, hatte aber Angst, dass der Leser von der letzten Zeile seines Gedichts auf »die erste Zeile eines kriegerischen Gesanges von Paul Stephan hinübergleitet« (ITA V.1, 245).

Publikationspraxis I: Trakls Einzelpublikationen in Zeitschriften Die Veröffentlichung von Gedichten in der Zeitschrift Der Ruf brachte Trakl erstmals in ein expressionistisches Umfeld (vgl. Klettenhammer 1990, 117). Der Herausgeber, der »Akademische Verband für Literatur und Musik« in Wien verstand sich als Forum der Wiener Avantgarde und versuchte vermehrt junge Künstler zu fördern. Buschbeck war im Verband neben Ludwig Ullmann und Robert Müller bestimmend. Diese drei zeichneten auch als Einzelherausgeber der insgesamt fünf Ruf-Nummern. Die Herausgeber und Mitarbeiter des Rufs stammten aus dem Bürgertum, versuchten »sich aber durch ihre besondere Lebensform und ihre

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provokanten ästhetischen Programme« davon abzugrenzen (Klettenhammer 1990, 101). Dessen bedeutendster Vertreter, Robert Müller, stellte für Trakl den Kontakt zum Herausgeber des Brenner, Ludwig von Ficker, her. Schon im zweiten Ruf-Heft vom März 1912 und in den Brenner-Heften vom 15.4. und 1.5.1912 kam es zum gegenseitigen Inseratenaustausch. Müller hatte Ficker Anfang 1912 seine Mitarbeiterschaft angeboten, da ihm die »Polemiken gegen bürgerliche und literarische Mißzustände« im Brenner gefielen (Müller an Ficker, 19.1.1912, Zitation nach Ficker 2021). Und tatsächlich waren es gerade auch im Brenner wohlhabende Bürger, allen voran der Herausgeber Ficker, die ihre Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft anbrachten. Der Hauptmitarbeiter Carl Dallago, ehemals ein wohlhabender Kaufmann, hatte sich den Kampf gegen den Spießbürger auf die Fahnen geschrieben. Doch es war sicher nicht dieses Kämpferische, das Trakl anzog – es war zuerst wohl und vor allem das persönliche Moment, die Akzeptanz als Künstlerpersönlichkeit in der Familie Fickers und im Umkreis des Brenner, die Trakl hier auch eine publizistische Heimstatt finden ließ. Die Wechselwirkungen, wie also die Lyrik Trakls den weiteren Brenner bestimmte und welche in der Brenner-Gruppe diskutierten Themen sich wie auf seine Arbeiten auswirkte, bedarf immer noch einer näheren Erforschung, auch wenn dazu schon einschlägige Forschungen vorliegen (vgl. Methlagl/Sauermann/ Scheichl 1981; Klettenhammer 1990; Doppler 2001, v. a. 158–167 und 178–186; Forschungsinstitut Brenner-Archiv 2010). Trakl legte seine Gedichte vertrauensvoll dem Herausgeber vor, wie sich Ficker erinnerte: »›Schauen Sie, da hab’ ich wieder etwas geschrieben‹, und begann mit schlichter Stimme vorzulesen. Ich nahm dann die Manuskripte an mich und besorgte die Veröffentlichung im Brenner« (Methlagl 2014, 15 f.). Doch so einfach stellt sich dieser Vorgang wohl nur im Rückblick dar. Es gibt keine Quellen, die im Einzelfall das Einverständnis Trakls oder etwa eine Missstimmung im Falle einer Nichtpublikation belegen würden. Man kann sich also nur daran orientieren, was an Texten im

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Brenner tatsächlich erschienen ist. Am Fundus, den Ficker zur Verfügung hatte, lässt sich ablesen, dass er bei weitem nicht alle ihm vorliegenden Gedichte publizierte. Die Diskrepanz lässt sich am deutlichsten mit dem zeitgleich mit den Brenner-Publikationen entstanden Band Sebastian im Traum erkennen: Dieser enthält auch Gedichte, die Ficker nicht im Brenner gedruckt hat, obwohl sie ihm in Handschriften oder Typoskripten nachweislich zur Verfügung gestanden hätten. Wie weit die im Brenner von »Bibel und Christentum abgeleitete Ethik« (ITA I, 19) für oder gegen eine Publikation sprach, ist jedenfalls nicht so leicht auszumachen und bedarf noch einer genaueren Analyse. Ficker hat sich seinerseits, soweit eben bekannt, aber auch nicht in die Zusammenstellung von Sebastian im Traum eingemischt. Doch wären Trakls Gedichte in Buchform im Brenner-Verlag erschienen, wie es ja einmal kurzfristig am Plan stand, hätten sie sicher auch die Handschrift des Verlegers getragen. Nur an wenigen Beispielen lässt sich der Publikationsvorgang belegen. So übersandte Trakl aus Salzburg Ficker »die Manuskripte meiner letzten Gedichte«, »Nähe des Todes« und »Abendlied«, die dann postwendend in der nächsten Nummer des Brenner vom 15.2.1913 erschienen (ITA V.1, 313). Weiteres sagte er nicht dazu. Im Fall des Karl Borromäus Heinrich gewidmeten »Untergang« bat er nicht nur dezidiert um die Veröffentlichung, sondern wollte es bereits im »nächsten Hefte des ›Brenner‹« vom 1.3.1913 publiziert haben (ITA V.2, 327). Ebenso geschah es mit »Nachts im Traum«, das Trakl im Brenner vom 15.5.1913 veröffentlicht sehen wollte. (Warum ihm gerade dieses Gedicht »über alles teuer« war, sagte er hingegen nicht [ITA V.2, 421]). Im letzten Moment vor der Drucklegung erbat er auch noch die Titeländerung in »Nachts« und ließ in der dritten Zeile statt »den Sterbenden« »den Sinkenden« setzen (ITA V.2, 424), was seine unausgesetzte Arbeit am Text belegt. Im Falle des »Kaspar Hauser Lieds« war ihm die Widmung an Bessie Loos besonders wichtig, da er dies Adolf Loos bereits versprochen hatte. Der aus Fickers Sicht wohl unvorteilhafte Vorschlag

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einer Änderung des Schlusssatzes wurde hingegen nicht umgesetzt. Ficker hat hier Trakls Korrekturwunsch nicht ganz ernst genommen, denn er las die entsprechende Karte mit dem neuen Schlusssatz Paula Schmid vor, die diese als »verrückt« bezeichnete (ITA V.2, 524). Trakl scheint die Nichtberücksichtigung seines Einspruchs zumindest nachträglich akzeptiert zu haben, publizierte er das »Kaspar Hauser Lied« in der im Brenner gedruckten Fassung doch auch in seinem Band Sebastian im Traum.

Publikationspraxis II: Trakls Sammlungsprojekte und Gedichtbände Neben den Einzelpublikationen und schon vor seiner Mitarbeiterschaft am Brenner versuchte Trakl ein größeres Werk zu schaffen. Er stellte im Sommer 1909 die »Sammlung 1909« zusammen. Das Manuskript legte er abermals in die Hände von Buschbeck. Später befürchtete er gleichwohl, seine Schwester könnte Buschbeck um diese Sammlung angehen, »die ich dir einmal in einem Anfall von Kritiklosigkeit überlassen, […] um weiß Gott, welche phantastische Versuche damit zu unternehmen. Ich bitte Dich, nichts aus der Hand zu geben, da ich nicht dulden kann, daß ohne meine Zustimmung irgend etwas unternommen wird, wozu ich die Zeit noch nicht gekommen erachte. Am Liebsten wäre es mir allerdings wenn Du diese verfluchten Manuskripte mir zurückerstatten möchtest – Du könntest mir keine größere Liebe tun« (ITA V.1, 150). Buschbeck hat das bekanntlich nicht getan, weshalb diese Texte zumindest in Buchform und in Abschriften erhalten geblieben sind. Seit Herbst 1912 verfolgten Trakl und (wohl vor allem) Buschbeck das Projekt eines Gedichtbandes und es ist von einer Subskription die Rede, der Trakl skeptisch gegenüberstand (vgl. ITA V.1, 209). Immerhin ging er in Innsbruck bei seinen Freunden mit einem Subskriptionsbogen hausieren, aber mit aus seiner Sicht mäßigem Erfolg (vgl. ITA V.2, 212). Dafür arbeitete er intensiv an der Zusammenstellung des

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Manuskripts. Und doch will er es seinem Freund überlassen, »Änderungen in der Auswahl und Ordnung zu treffen«. Immerhin bittet er um ›Verständigung‹ darüber (ITA V.1, 231). Als er Buschbeck die Gedichtsammlung dann tatsächlich übersandte, ließ er noch am gleichen Tag zwei Korrekturen nachfolgen und fügte hinzu: »Falls Du eine andere Anordnung der Gedichte für angezeigt halten solltest, bitte ich dich sie nur nicht chronologisch vorzunehmen«. Es interessierte ihn dann doch, an welchen Verlag sich Buschbeck damit zu wenden gedachte; zugleich fragte er ihn, ob nicht die Gedichte »Die drei Teiche in Hellbrunn« und »Verfall« (II) herauszunehmen wären (ITA V.1, 266). Die Sorge um das Manuskript trieb ihn um: Nur wenig später schickte er schon wieder eine Korrektur und fügte hinzu: »Falls Du bei der Durchsicht der Gedichte irgend ein Bedenken haben solltest, schreibe es mir, bitte, da ich selbst nicht jene Sorgfalt aufgewendet habe, die wohl am Platz gewesen wäre« (ITA V.1, 273). Karl Borromäus Heinrich, erst seit kurzem mit Trakl bekannt und bald schon eng mit ihm befreundet, ersuchte Buschbeck am 12.12.1912 um Einsendung des Manuskripts an den Albert Langen Verlag, bei dem er Lektor war (ITA V.1, 277). Buschbeck reichte das Manuskript dort am 18.12. ein. Ende Jänner 1913 erhielt Heinrich das Manuskript zur Begutachtung, fügte ein paar Gedichte wieder ein, die Trakl zuvor schon entfernt hatte und schlug einen neuen Titel »Dämmerung und Verfall« vor. Trakl wusste mit großer Wahrscheinlichkeit von diesen Aktivitäten, jedenfalls von der Rücksendung des Manuskripts an den Verlag (ITA V.1, 305). Als von Langen nicht sofort Antwort eintraf, schrieb Trakl seinem Freund Buschbeck, dass Ficker gerne das Buch im Brenner-Verlag bringen würde (vgl. ITA V.1, 331). Trotz der Empfehlung von Heinrich wurden die Gedichte am 19.3.1913 abgelehnt und an Buschbeck zurückgeschickt (ITA V.1, 352 f.). Doch bei einer Besprechung von Ficker und Kraus bei dessen Lesung in München am 29.3. wurden Nägel mit Köpfen gemacht. Kraus schlug den Kurt Wolff Verlag vor, bei dem er damals selbst publizierte. Trakl erbat von Buschbeck schon am 31.3. das Manuskript zurück, da

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er es »noch einmal gründlich und gewissenhaft durchsichten« wolle (ITA V.1, 358). Wichtig war ihm dabei, jene von Heinrich eingefügten Gedichte, die er schon einmal ausgeschieden hatte, wieder herauszunehmen. Als es Schwierigkeiten mit dem Verlag gab, verließ sich Trakl diesmal stark auf seinen Mäzen Ficker, wie aus einem Schreiben an den Verlag hervorgeht, das in seiner Diktion eindeutig die Handschrift Fickers trägt und in letzter Konsequenz ein Zurückziehen des Manuskripts androhte (ITA V.2, 401 f.). Für den Fall, dass der Kurt Wolff Verlag nicht eingelenkt hätte, hatte Ficker schon ein weiteres Schreiben formuliert, das aber nicht mehr abgeschickt werden musste (ITA V.2, 708–710). Nach den neuesten Erkenntnissen zu Trakls Korrespondenz mit dem Kurt Wolff Verlag bekam Trakl nur einmal die Fahnen zu sehen, hatte also vorerst – auch mit Protektion von Ficker und Kraus – keine Sonderstellung im Verlag inne (vgl. Unterkircher 2021). Ganz anders verhielt es sich mit dem Manuskript des zweiten Gedichtbands Sebastian im Traum, das Kurt Wolff sofort akzeptierte. Auch Trakl war mit den angebotenen Bedingungen zufrieden, forderte dennoch sein Manuskript noch einmal zurück, um es umzuarbeiten und neu entstandene Gedichte einzufügen. Als ihm der schon fertige Satz vorlag, griff er noch einmal massiv in den Text ein, indem er mehrere Gedichte austauschte und neue hinzufügte. Der Verlag akzeptierte diese Änderungen offenbar und ließ ihm die zweiten Korrekturfahnen zukommen. Da es auch hier noch einige Änderungen und Umstellungen gab, schickte er noch einmal einen fertigen Satz, in dem Trakl immer noch mehrere sinnstörende Druckfehler fand (ITA V.2, 643). Die Mitteilung vom Verlag, dass die Druckfehler berichtigt werden würden, beruhigte ihn nicht. Anfang September, schon im Feld, richtete er an seinen Freund Ficker noch einmal die besorgte Anfrage, ob denn die Fehler »wirklich richtiggestellt wurden« (ITA V.2, 655). Trakl bekam keine Antwort mehr darauf. Das Erscheinen des Bandes erlebte er nicht mehr. Trakl war völlig ungeeignet, auch nicht gewillt, sich im Literaturbetrieb seiner Zeit zu bewegen

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oder sich gar anzubiedern. Die ›Marke‹ Trakl, jene des Schriftstellers, der stellvertretend für die Menschheit an den Untergangsszenarien vor dem Ersten Weltkrieg leidet, haben eindeutig Ficker, seine Zeitschrift und die Brenner-Runde kreiert.

Literatur De Felip, Eleonore: Spiegelbilder einer hohen Wahrnehmungsbegabung. Georg Trakls Gedichte Am Abend und Die Schwermut im Lichte der Kognitiven Poetik. In: Roman Mikuláš/Sophia Wege (Hg.): Schlüsselkonzepte und Anwendungen der Kognitiven Literaturwissenschaft. Münster 2016, 211–228. Doppler, Alfred: Die Lyrik Georg Trakls. Beiträge zur poetischen Verfahrensweise und zur Wirkungsgeschichte. Salzburg/Wien 2001. Ficker, Ludwig von: Kommentierte Online-Edition des Gesamtbriefwechsels. Hg. von Markus Ender und Ingrid Fürhapter (bis 2018) unter der Leitung von Ulrike Tanzer. Alle Briefe von/an Ficker werden nach dieser Edition zitiert. Teile davon gingen 2021 online unter: http://www.ficker-gesamtbriefwechsel.net/.

133 Forschungsinstitut Brenner-Archiv der Universität Innsbruck (Hg.): Zeitmesser. 100 Jahre »Brenner«. Innsbruck 2010. Heidegger, Martin: Unterwegs zur Sprache. Frankfurt a. M. 22018 (Gesamtausgabe I.12). Kemper, Hans-Georg: Nachwort. In: Georg Trakl: Werke Entwürfe - Briefe. Hg. von Hans-Georg Kemper und Frank Rainer Max. Stuttgart 1984, 269–320. Klettenhammer, Sieglinde: Georg Trakl in Zeitungen und Zeitschriften seiner Zeit. Kontext und Rezeption. Innsbruck 1990. Methlagl, Walter: Brenner-Gespräche. Aufgezeichnet in den Jahren von 1961 bis 1967. Hg. von Christine Riccabona, Ursula A. Schneider und Erika Wimmer (2014), https://www.uibk.ac.at/brenner-archiv/publikationen/links/brenner-gespraeche.pdf. Methlagl, Walter/Sauermann, Eberhard/Scheichl, Sigurd Paul (Hg.): Untersuchungen zum »Brenner«. Festschrift für Ignaz Zangerle zum 75. Geburtstag. Salzburg 1981. Unterkircher, Anton: Zum Briefwechsel von Georg Trakl und dem Kurt Wolff Verlag. Puzzle oder Patience? In: editio 35 (2021), 168–181. Zwerschina, Hermann: Die Chronologie der Dichtungen Georg Trakls. Innsbruck 1990.

Teil IV

Werk: Frühe Prosaarbeiten

»Traumland. Eine Episode« (1906)

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Claas Morgenroth

»Traumland. Eine Episode« entstand wahrscheinlich im Frühjahr 1906 und erschien am 12. Mai desselben Jahres im Salzburger Volksblatt (ITA I, 64; HKA II, 334). Es handelt sich um Trakls erste dichterische Publikation. In der Forschung hat man immer wieder versucht, den Prosatext mit Trakls Biographie und Familienkonstellation in Verbindung zu bringen. Konkrete Belege für eine autobiographische Kopplung gibt es allerdings nicht. Schon deshalb dürfte es ratsam sein, »Traumland« ästhetisch und kulturhistorisch zu lesen, also auf die künstlerische Transformation lebensweltlicher Erfahrung zu vertrauen, die Trakls Werk auszeichnet. Die kurze Erzählung setzt ein mit dem Gedenken an »jene kleine Stadt im Talesgrund«, die an die friedlichen Bilder deutscher Dörfer und Kleinstädte der Spätromantik denken lässt, in denen »Kaufleute und Handwerker« am Tage ›schaffen‹, um am Abend zum »Rauschen« eines »alten Stadtbrunnens« sich der Liebe zuzuwenden (ITA I, 65). Allerdings ist das Bild schon gestört durch die Erzählsituation, in der das erzählende Ich dem erlebenden Ich gegenübersteht (Blass 1968, 35 und 40). So wird Erinnerung zu

C. Morgenroth (*)  Lehrstuhl für Neuere deutsche Literatur, Technische Universität Dortmund, Dortmund, Deutschland E-Mail: [email protected]

Vergangenheit, Leben zu Tod, Wirklichkeit zu Traum. Eine Bewegung, die bei Trakl auch das Erinnerte ereilt, wie der rätselhafte letzte Satz des ersten Absatzes deutlich macht. Denn jede Vergegenwärtigung trägt das Zeichen des Vergangenen in sich: »Die Stadt aber scheint von vergangenem Leben zu träumen« (ITA I, 65). Die Poetik des Textes folgt dem Ordnungsprinzip des Traums, der Konstruktion eines geschlossenen Raums, eines Ganzen, das sich der fragmentierten Welt ästhetisch entgegenstellt. »Und sanft geschwungene Hügel, über die sich feierliche, schweigsame Tannenwälder ausdehnen, schließen das Tal von der Außenwelt ab. Die Kuppen schmiegen sich weich an den fernen, lichten Himmel, und in dieser Berührung von Himmel und Erde scheint einem der Weltraum ein Teil der Heimat zu sein« (ebd.). Die romantisierte Stadt und die poetische Kraft der Erinnerung verbinden sich zu einer kosmologischen Vision, die man durchaus antik und klassizistisch nennen kann. Hinzu kommt Trakls allegorisierende Sprache. Parallel zur Lage des Tals sitzt der Erzähler, dieser »Schulbube«, in einer »Dachstube«, träumend umgeben von »wunderlichen alten, verblaßten Bildern« (ebd.). Am Abend steigt er zum Onkel und zur »kranken Tochter Maria« hinunter, allerdings sitzt man »schweigend beisammen«. Damit ist Raum geschaffen für »allerlei verworrenes Geräusch« und den »starken, berauschenden Duft der Rosen« (ebd.). Die natürliche Ordnung von

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_12

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Himmel und Erde wird im Haus des Menschen wiederholt, an die Stelle der Sprache rückt die Sinnlichkeit (Geräusch und Duft). »[U]nd dann stand ich auf, sagte ›Gute Nacht‹ und begab mich in meine Stube hinauf, um dort noch eine Stunde am Fenster in die Nacht hinaus zu träumen« (ebd., 66). Aber was wird geträumt? Nichts erfährt man von den Träumen des Jungen, es sei denn, das Traumland wäre selbst ein Traum. Man kann Tal und Haus also wörtlich verstehen – oder metaphorisch. In diesem Fall wird aus der Summe der Motive, Figuren und Bilder eine Allegorie. Trakls artifizielle Konstruktion spricht für eine solche Lesart, zumal dann, wenn man die Rosen, das Mädchen, die schweren Düfte, die »Stille«, die »Dämmerstunde«, den »Abend« oder den »lauen Abendwind« (ebd., 65) als Zitate und Symbole einer allseits bekannten und hier durchaus kitschig vorgetragenen Welt liest, die nach einem Ausdruck für das Rätsel der menschlichen Existenz sucht. Gekreuzt wird es durch die Krankheit und die Zeichen des Todes. Der Erzähler ist verliebt in die »kranke Maria«, ja »berauscht« vom Glück. »Und ich stand auf und irrte, von unerklärlichen Gedanken überwältigt, ziellos umher und fühlte in Kopf und Herz einen dumpfen Druck, daß ich weinen hätte mögen« (ebd., 66). So mischt sich in die »blühenden Linden« und in das Liebesleben der Paare am Brunnen »eine leise Sehnsucht nach irgend etwas Unerklärlichem« (ebd.). Die Rede ist von »Marias großen, dunklen Augen«, in denen ein »seltsamer Schimmer« leuchtet. »Dann flüchtete ich mich in meine Dachstube hinauf, lehnte mich ans Fenster, sah in den tiefdunklen Himmel hinauf, in dem die Sterne zu erlöschen schienen und hing stundenlang wirren, sinnverwirrenden Träumen nach, bis der Schlaf mich übermannte« (ebd.). Die jugendliche Verwirrung rührt aus dem Widerspiel von Eros und Thanatos, von Thomas Mann (Der Tod in Venedig, 1911/12), Freud (Jenseits des Lustprinzips, 1920) und Schnitzler (Traumnovelle, 1925/26) zum Signum der Epoche gemacht. Führt man sich die grundlegenden Elemente des antiken Mythos vor Augen, kann man den Zusammenhang gut erkennen: Zu Tha-

C. Morgenroth

natos’ Geschwistern zählen hýpnos, der Gott des Schlafes, und die óneiroi, die Träume. Ihre Geschichte ist ausgesprochen verwickelt und durchaus widersprüchlich (dazu in aller Ausführlichkeit Ranke-Graves 1955; Hesiod 1991, V. 211–214 und 755–763), aber beide sind Kinder der Nacht. Bleibt Eros, der in den Orphischen Fragmenten dem »silbernen Ei« der »schwarzgeflügelten Nacht […] entschlüpft« und »das All in Bewegung setzt« (Ranke-Graves 1955, 25). Welche der antiken Quellen Trakl nun genau kannte, ist ungewiss, aber der Zusammenhang dürfte ihm bekannt gewesen sein, und sei es als kulturhistorisches Wissen der Epoche (vgl. Roscher 1884, 1344–1349). Die beiden Kräfte Eros und Thanatos bestimmen nun deutlich den Fortgang des Prosastücks und spiegeln sich in der Beziehung von Natur und Psyche. So heißt es weiter: »Im Garten habe ich im Gras gelegen und habe den Duft von tausend Blumen eingeatmet; mein Auge berauschte sich an den leuchtenden Farben der Blüten, über die das Sonnenlicht hinflutete […]. Ich vernahm das Gären der fruchtbaren, schwülen Erde, dieses geheimnisvolle Geräusch des ewigschaffenden Lebens. […] Damals auch war mir, als gehörte das Leben mir. Da aber fiel mein Blick auf das Erkerfenster des Hauses. Dort sah ich die kranke Maria sitzen […]. Und all’ mein Sinnen wurde wieder angezogen von dem Leiden dieses einen Wesens« (ITA I, 66 f.). Aus dem Zusammenstoß von Glück und Leid entsteht eine Art Einsicht und Übereinkunft, die das Verhältnis zwischen dem Erzähler und Maria bis zu deren Tod bestimmt. Trakl versieht dieses Einverständnis mit einer Umarmung der beiden Schatten. Zum Zeichen wird die ›gebrochene Rose‹, die das Ich Maria »in den Schoß« legt, und zwar nach Art der Hyperbel, der vielleicht wichtigsten rhetorischen Figur in »Traumland«. »Mir ist es, als hätte ich der kranken Maria tausend Rosen in den Schoß gelegt, als hätten unsere Schatten sich unzählige Male umarmt« (ebd., 67). Aus der Wiederholung der einzigartigen Geste erklärt sich schließlich auch der Untertitel des Prosastückes. »Nie hat Maria dieser Episode Erwähnung getan; aber gefühlt habe ich aus dem Schimmer ihrer großen leuch-

12  »Traumland. Eine Episode« (1906)

tenden Augen, daß sie darüber glücklich war« (ebd.). Was der Schuljunge nur fühlt, kann der Onkel in Worte fassen, durch eine eigentümliche Segnung, die die christliche Motivlinie (von Maria bis zur heiligen Stille des Abends) verlängert und zur Lehre des ›Traumlandes‹ macht. »Mein alter Onkel ließ uns still gewähren«, dann »sagte er zu mir mit einer leisen, gedankenvollen Stimme: ›Deine Seele geht nach dem Leiden, mein Junge.‹ Und dabei legte er seine Hand auf mein Haupt und schien noch etwas sagen zu wollen. Aber er schwieg. Vielleicht wußte er auch nicht, was er dadurch in mir geweckt hatte und was seither mächtig in mir auflebte« (ebd.). Die ›Episode‹ bezeichnet dem Wortlaut nach das ›Hinzukommende‹, in der Geschichte der Poetik »den Teil der Tragödie zwischen ganzen Chorliedern« (Aristoteles 1999, 37; allgemein Aichele 1971). So gesehen handelt es sich bei der Episode zwischen Maria und dem ErzählerIch um eine vermeintlich nebensächliche Geste, die zuerst zum Symbol der beiden Liebenden und daran anschließend zum Ausdruck für die Natur der menschlichen Existenz wird. Das »Traumland« ist eine Episode im Leben dieses Jungen zwischen Kindheit und Erwachsenenwelt, zugleich aber ist es ein Ort zwischen Himmel und Erde oder ein durch die Erinnerung immer wieder neu erlebtes Ereignis, das prophetischen Charakter besitzt. Man kann diese Kon­ struktion auch symbolistisch lesen, am Beispiel der Rose (Hinweise bei Esselborn 1981, 118 f.). Trakls Vorliebe für Arthur Rimbaud und Paul Verlaine spricht dafür. Etymologisch reicht das Bedeutungsfeld des griechischen symbolé resp. symbolikós vom ›Zusammentreffen‹ über den ›Vereinigungspunkt‹ bis zur – übertragen gesprochen – ›zerschnittenen Hälfte‹ (vgl. Gemoll 1908, 700 f.). Das erklärt, warum Maria nicht als Figur der Wirklichkeit zu verstehen ist, sondern als die Hälfte eines Symbols. »Eines Tages, da ich wiederum zum Fenster trat, an dem Maria wie gewöhnlich saß, sah ich, daß ihr Gesicht im Tode erbleicht und erstarrt war. […] mir war, als hätte sie keine Krankheit dahingerafft, als wäre sie gestorben ohne sichtbare Ursache – ein Rätsel« (ITA I, 67). Der Erzähler erkennt gleichwohl die Bedeutung der Szene und gibt seinen

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Teil, seine Hälfte dazu, um den Übertragungsweg zwischen Eros und Thanatos zu sichern. »Die letzte Rose habe ich ihr in die Hand gelegt, sie hat sie ins Grab genommen« (ebd.). So pathetisch Marias Ende erzählt wird, so nüchtern schließt das Stück. »Bald nach dem Tode Marias reiste ich ab in die Großstadt. Aber die Erinnerung an jene stillen Tage voll Sonnenschein sind in mir lebendig geblieben, lebendiger vielleicht als die geräuschvolle Gegenwart« (ebd.). Das Schlüsselwort ist ›lebendig‹. Wie das Ich einräumen muss, ist die Vergangenheit womöglich wirklicher, zumindest gegenwärtiger als das Leben im Hier und Jetzt. Wobei Trakl dem Schluss seines kurzen Prosastücks eine Ambivalenz mitgibt, die das Verhältnis von ›Heute‹ und ›Erinnerung‹, von erzählendem und erzähltem Ich betrifft. »Ich würde dort [gemeint ist das Tal und das Traumland] das nicht mehr finden, was nur in meiner Erinnerung noch lebendig ist – wie das Heute – und das wäre mir wohl nur eine unnütze Qual« (ebd., 68). So kann man sich fragen: Ist das Heute also nur lebendig als Erinnerung oder unterscheidet es sich von der Vergangenheit? Bedenkt man die Erzählsituation und den Rätselcharakter von »Traumland«, dann wird man vermuten dürfen, dass es allein diese Episode ist, die noch für ein gewisses Leben sorgt, das Ich also bereits weiß, dass seine Seele dem Leiden angehört. Der überladene Stil, die Romantizismen und klischeehaften Wendungen (man denke nur an das Motiv der Rose) dürften dazu beigetragen haben, dass der Text nicht die gleiche Aufmerksamkeit erhalten hat wie etwa die frühen Gedichte. Habitus, Sprache und Alter des Erzählers und ›Schulbuben‹ verführten dazu (und verführen noch immer), das Text-Ich mit Trakl gleichzusetzen. Hans Weichselbaum versteht die »Episode« darum als Erinnerung an einen Besuch in Ödenburg, der Heimatstadt des Vaters (vgl. Weichselbaum 2014, 14 f.). Mehrfach ist zu lesen, mit Maria sei eigentlich die Schwester Grete gemeint (vgl. Neri 1996, 140), gegebenenfalls auch die Mutter (ITA I, 64). Abseits solcher Spekulationen dürfte es interessanter sein, »Traumland. Eine Episode« als einen durchaus eigenständigen Versuch zu deuten, mit

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Hilfe einer verwickelten Motivik und der Anverwandlung antiker, christlicher und romantischer Mythologeme der Struktur des Traumes eine poetische Gestalt zu geben. Hinweise finden sich noch bei Regine Blass und mit Abstrichen bei Theo Hermans. Blass versteht Trakls frühes Prosastück als »Reflexion« zur Erkenntnisform der Erinnerung (Blass 1968, 41), die unmittelbar mit dem literarischen Anspruch von »Traumland« in Verbindung trete. »Der Kindheitszustand ist in die Vergangenheit projiziert. Darin kommt ein uraltes Thema der Dichtung zur Sprache: der Verlust der unmittelbaren Einheit des Menschen mit der Natur« (ebd., 49). Hermans deutet diesen Verlust als Entwicklung des ›Buben‹ zum (nihilistischen) Erwachsenen (vgl. Hermans 1982, 185 f.) und kombiniert seine Überlegungen mit Belegen aus Trakls »Aus goldenem Kelch. Maria Magdalena« (ITA I, 76–79), 1906 im Salzburger Volksblatt publiziert. Dort erzählt Marcellus Agathon auf dem gemeinsamen Weg auf Jerusalem zu von den »dunklen Traumbildern« der Liebe und des Begehrens. Wieder ist die Frau (Maria) ein ›Rätsel‹, das Leben ›dunkel‹, verschwindet der Mensch im Schweigen der Nacht (ebd., 76 f.). Marcellus’ Lebenslehre kann man daher als Problem von Trakls früher Prosa begreifen, dessen Auflösung dem Traum obliegt.

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»Gewiß! Die Dinge sind sehr schweigsam! Und die Menschenseele gibt ihre Rätsel nicht preis. Wenn man fragt, so schweigt sie« (ebd., 78).

Literatur Aichele, Klaus: Das Epeisodion. In: Walter Jens (Hg.): Die Bauformen der griechischen Tragödie. München 1971, 47–83. Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Übers. und hg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1999. Blass, Regine: Die Dichtung Georg Trakls. Von der Trivialsprache zum Kunstwerk. Berlin 1968. Esselborn, Hans: Georg Trakl. Die Krise der Erlebnislyrik. Köln/Wien 1981. Gemoll, Wilhelm: Griechisch-deutsches Schul- und Handwörterbuch [1908]. Erw. und verbesserte Auflage. München 91965. Hermans, Theo: The Structure of Modernist Poetry. London 1982. Hesiod: Theogonie. Werke und Tage. Griechisch und Deutsch. Aus dem Griechischen übers. von Albert von Schirnding. München/Zürich 1991. Neri, Matteo: Das abendländische Lied. Georg Trakl. Würzburg 1996. Ranke-Graves, Robert von: Griechische Mythologie. Quellen und Deutung [1955]. Aus dem Englischen übers. von Hugo Seinfeld. Reinbek b. Hamburg 111997. Roscher, Wilhelm Heinrich (Hg.): Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie. Erster Band, erste Abteilung: Aba-Evan. Leipzig 1884. Weichselbaum, Hans: Georg Trakl. Eine Biographie. Salzburg/Wien 2014.

»Aus goldenem Kelch. Barrabas« (1906)

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Christian Metz

Der Text entstand vermutlich im Mai oder Juni 1906; am 30. Juni 1906 wurde er im Feuilleton des Salzburger Volksblatts publiziert (vgl. ITA I, 69). Wer von Barrabas erzählt, richtet den Fokus auf eine Figur, deren Konturen traditionell unscharf bleiben. Im Neuen Testament ist Barrabas der verurteilte Verbrecher, der nach dem Willen des versammelten Volkes von Pontius Pilatus begnadigt wird, während Jesus im selben Zug zum Tod am Kreuz verurteilt wird. Alle vier Evangelien konstellieren dieses Parallelschicksal des allzumenschlichen »Mörder[s]« (ITA I, 71) – wie Trakl ihn tituliert – und des verkannten Gottessohnes (vgl. MT 27, 15–26; MK 15, 6–15; LK 23, 18; JOH 18, 39–40). Die Parallelmontage schließt eine spezifische Aufmerksamkeits- und Informationsökonomie ein. So verliert sich Barrabas im Raum des Unerwähnten, während alle Aufmerksamkeit Jesus’ Passionsweg gilt. Trakl verschiebt in seinen beiden »biblischen Transgressionen« (Pilipowicz 2017, 63–80) Fokus und Gewichtung. Darin liegt die Pointe seiner beiden Miniaturen »Barrabas« und »Maria Magdalena«, die gemeinsam

C. Metz (*)  Institut für Germanistische und Allgemeine Literaturwissenschaft, RWTH Aachen, Aachen, Deutschland E-Mail: [email protected]

unter dem Titel »Aus goldenem Kelch« firmieren. Diese Fokusverschiebung ist gekoppelt mit einer Peripetie: Barrabas’ Schicksal schlägt um vom Unglück ins Glück, vom sichergeglaubten Tod zum geschenkten Leben. Diese Wende verspricht dem Verbrecher, der etwa im ITA-Kommentar auch zum ›Freiheitskämpfer‹ avanciert (ITA I, 69), mehr als nur das ›bloße Leben‹, nämlich persönliche Freiheit und gesellschaftliche Anerkennung. Im Kontrast zum Leidensweg Jesu umrauscht Jubel den freigesprochenen Barrabas. Eine ausgelassene Feststimmung macht sich in den Straßen der Stadt breit. Trakl rhythmisiert seine Miniatur mit Dramenelementen – neben der Peripetie etwa auch mit der Anagnorisis (dem ›Erkanntwerden‹ Barrabas’ durch den Jüngling [ITA I, 71, Z. 25]). Im Untertitel bezeichnet er das Erzählstück als Phantasie: Von der Bibellektüre aus erschließt sich die Einbildungskraft einen eigenen Erzählraum. Erhalten bleibt in diesem Phantasiegelände allerdings die von Beginn angelegte Synchronizität (die dreifache Wiederholung von ›es geschah zu selben Stunde‹ markiert dies überdeutlich). Jesus’ Passion blitzt – als der andere Schicksalszug – exakt sieben Mal auf, um die Jubelphantasie zu erschüttern, beim letzten Mal sogar dezidiert als Erdbeben, das die Grundfesten der Erde und die »Kreatur« (das bloße Leben also) erzittern lässt (Z. 57). Synchronizität, Fokusverschiebung, Peripetie – das hinzukommende, vierte Charakteristikum ist

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das Erzählen entlang der funktionalen Differenz von Oberfläche und darunter verborgener Wahrheit. Barrabas’ Überleben mag wie ein Triumph wirken, darunter lauert jedoch die Bedrohung einer zweiten Peripetie: Das Glück wird sich als Untergang erweisen. Denn an einem anderen Ort »[z]ur selbigen Stunde ward das Werk der Erlösung vollbracht!« (Z. 58). Das Siegesgefühl wird sich – im Angesicht der wahren Vollendung – als Hochmut erweisen. So insinuiert es der Kreisschluss am Ende der Erzählung, der beide synchronen Handlungen in einem Moment vereint. Trakl entfaltet das Barrabas’sche Phantasma, alles sei an seinem Platz und damit sei die Welt in Ordnung, in fünf Sequenzen, die er polysyndetisch durch die Konjunktion »und« reiht. Auf die einleitende Engführung von Jesus’ Passion und Barrabas’ Triumph (Z. 1–7) folgt Barrabas’ Zug durch die Straßen Jerusalems (Z. 8–18), die Einladungsrede des namenlosen Jünglings vor dem Palast (Z. 19–34), der Festakt im Palast, der mit der zweiten Rede des Jünglings und dem Wechselgesang zwischen Volk und Elite seinen Höhepunkt erreicht (Z. 35–45; 46–55), bevor sich plötzlich die zweite Peripetie (Z. 56–58) vom irdischen Glück zum himmlischen Untergang andeutet, ohne letzteren indes auszuerzählen. Trakls Titel »Aus goldenem Kelch« spielt hierbei sowohl auf das letzte Abendmahl als auch Jesu Wendung ›lass diesen Kelch an mir vorübergehen‹ (MT 26,39; die Lutherbibel von 1912 übersetzt den Vers mit »ist’s möglich, so gehe dieser Kelch von mir«) an, um den irdischen Materialismus (des Luxusgutes) gegen das Versprechen himmlischer Erlösung auszuspielen. Während die einleitende Sequenz mit der dreifachen, jeweils leicht variierten Formel von »es geschah zur selbigen Stunde« den biblischen Sprachgestus imitiert, führt die höchst anschauliche Beschreibung von Barrabas’ Zug durch die Stadt dezidiert zeitgenössische Aspekte ein. Ausgehend von der Wendung »inmitten des Volkes« (Z. 6) gemeinsam mit der zweifachen Wiederholung von »und um ihn waren« inszeniert der Text seinen Protagonisten als Zentralgestirn. Um Barrabas kreisen zu-

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erst die Dirnen mit den roten Lippen, dann im weiteren Kreis die Männer, die »trunken blickten«. Umgeben ist er zudem vom wilden Strom des Geredes, das sich zum Ruf bündelt: »Es lebe Barrabas!« (Z. 14). Trakl zeigt, wie sich eine Masse, die den Mann im Zentrum »haschen will« (hierzu Kleefeld 1985, 182), ornamental formiert – und welches Ansteckungspotential in einer solchen Bewegung steckt: »Viele, die dem trunkenen Zuge begegneten, schlossen sich ihm an« (ITA I, 71, Z. 13). Augenfällig ist die als falsch gekennzeichnete Aufwärtsbewegung, die dieser Masse eingeschrieben ist: Barrabas trägt den Kopf »trotzig hoch«, die Lippen der Dirnen sind »aufgemalt«. Doch auch die nur aufgeschminkte Schönheit kann den wahren Charakter des Zuges nicht verbergen: Der gesamte Zug trägt den Charakter eines dionysischen Tumults (vgl. Kleefeld 2009, 74 f.), wild, sündig, schmutzig, gierig – so das Gegenbild zu Jesus’ Einzug nach Jerusalem nur eine Woche zuvor. Der Rückblick (ITA I, 71, Z. 15–18) kontrastiert die Anmutungen der beiden Triumphzüge. Rosen statt Palmzweige werden jetzt gestreut. Wer indes noch den Wahlspruch der Vorwoche auf den Lippen führt, wird geschlagen. Die beiden folgenden Sequenzen sind parallel konstruiert. Sie folgen einem doppelten Cursus: Das Versprechen des Jünglings stellt vor Augen, was passieren könnte. Die darauffolgende Palastszene löst dies Versprechen – Schritt für Schritt – ein. Hier wird Wort zur Tat. Erneut herrscht die Logik des Kreisschlusses, der zufolge vermeintlich alles am vorgesehenen Platz sei. Versprechen und Erfüllung sind verbunden durch den Topos des Grenzübertritts, mit dem sich Barrabas aus der Masse löst. Dieser Übergang von der Straße zum Palast folgt der berühmten Stufenleiter des Lebens: »Barrabas stieg die Marmorstufen empor, gleich einem Sieger« (Z. 35 f.) Der Aufstieg könnte eine Falle sein. Aber der Jüngling hält, was er verspricht; aus sieben Versprechen besteht seine Rede. Alle sieben stehen im direkten Kontrast zur Passionsgeschichte: Barrabas soll in weichste Kissen gebettet werden (im Kontrast zu Jesus Aufbahrung auf dem Totenbett). Frauen sollen seine Füße salben (als Gegenbild zur Sal-

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bung von Jesu Leichnam), Lautenmusik soll erklingen (als Kontrapunkt zu Klagegesang und Totenstille), ein kostbarer Kelch mit glühendem Wein soll ihm gereicht werden (kontrastierend mit dem essiggetränkten Schwamm, den Jesus am Kreuz erhält), im Wein soll als Garant dafür, dass der Jubel nicht im Nu des Augenblicks vergeht, eine Perle liegen. (Der irdische Schatz aus der Tiefe des Meeres sowie die Inszenierung seiner sexuellen Konnotationen stehen im Kontrast zu den himmlischen, geistigen Reichtümern irdischer Entsagung.) Als sechste und – so die Suggestion – gleichsam höchste Gabe bietet der Redner Barrabas die eigene Geliebte an (Liebes- statt Leidensgemeinschaft). Der in Aussicht gestellte Tanz, die Prophezeiung betörender Bewegung, bildet den Brückenschlag zur Erzählung »Maria Magdalena«, schwärmen dort doch die beiden Gesprächspartner noch immer von Magdalenas Tanzkünsten, die sie zelebrierte, bevor sie sich Jesus von Nazareth anschloss. Erotik, Genuss, Luxus und Verschwendung vs. Entsagung bilden auch hier die (ökonomischen) Grundthemen. Trakls Faszination an dieser Polarisierung führt bis zu seiner ausufernden Besprechung von Wildes Salome. Fehlt noch das siebte Versprechen. Antiklimatisch schließt es Barrabas’ Aufstieg wie die Rede ab: Barrabas soll mit einem Rosenkranz (dem metonymischen Gegenbild zum Dornenkranz Christi) geschmückt werden. Gerade weil diese Aussicht sich so leicht realisieren lässt, bildet sie das Scharnier zwischen Versprechen und Tat. Noch während er die Stufen zum Palast hochsteigt, wird er bekränzt. So schließt sich erneut ein Kreis: Dem zuvor isolierte Gefangenen wird jetzt nicht nur die Gunst des (Lumpen-)Volkes, sondern auch die der Elite zuteil. Trakl führt vor, wie gesellschaftliche Valorisierung funktioniert. Zwar erfüllen sich alle sieben Versprechen. Doch werden sie in verschobener Wertigkeit wahr: Als der Bekränzte in den Palast tritt, werden ihm umgehend Wein und Musik kredenzt. Er wird gesalbt und ja, auch die Geliebte sitzt auf seinem Schoß, aber der versprochene Höhepunkt ist das in diesem Aushandlungsprozess zwischen Jüngling, Barrabas und (indirekt) Jesus gerade nicht. Barrabas bleibt geladen als

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»Gast für heute« (Z. 31) – eine bedenkliche, zeitliche Einschränkung. Aber die Verlockung des Augenblicks ist zu groß: Falls Barrabas nicht nur ein Mörder, sondern – wie es der Kommentar geflissentlich angibt – auch ein Freiheitskämpfer gewesen sein sollte, so verrät dieser mit dem Erhalt der Gaben seine Haltung. Der Jubel über das gerettete Leben lässt ihn seine Prinzipien vergessen. Indem Barrabas den Kreis des Volkes verlässt und als Erwählter zu den Privilegierten überläuft, macht er seinen Frieden mit den Palästen. Trakl reizt diese Entwertung der Freiheitsidee aus. Als »des Einzigen Feinde und Verächter – Pharisäer und Knechte der Priester« (Z. 44 f.) sind sie auch als Profiteure der politischen Besatzung benannt. Ihr Reichtum begründet sich im Status quo. Mitten in die nach dieser Feststellung hergestellte Stille (Z. 46) und in totaler Fokussierung auf diesen Augenblick überreicht der Jüngling mit seiner zweiten Rede Barrabas den mit Wein gefüllten Becher – in den eine Perle geworfen wird. Irdisches Kunsthandwerk (Kristallglas und Goldkelch), Symbolik und Ritual des Erwähltseins (»und trank Barrabas zu« [Z. 50]) konstituieren den köstlichen Moment höchsten Genusses. Doch indem Barrabas zum Werkzeug wird, dessen sich die Reichen bedienen, unterläuft gerade diese Funktionalisierung (Barrabas ist nur ein Mittel zum Zweck) die Zugehörigkeit zu den Feierenden im Palast. Letztere stabilisieren ihre eigene Machtposition im Gestus von divide et impera. Dieses falsche Versprechen in der vermeintlichen Einlösung der (vorherigen) Versprechen durchweht auch den Moment vermeintlicher Vollkommenheit, wenn der Redner, die Feiernden im Palast sowie das Volk draußen auf der Straße in den Gleichklang einstimmen: »Der Nazarener ist tot! Es lebe Barrabas!« (Z. 51). Dreifach wiederholt Trakl die Formel und lässt so den einen Moment in drei Facetten zerfallen. Das Bild vom Kreisschluss erweist sich als Simulakrum. Das plötzliche Ende der Miniatur liegt seinerseits in der Konsequenz des Störmoments: Erneut mit der Formel »zur selbigen Stunde« eingeleitet, wiederum polysyndetisch mit »und« aufgereiht, erschüttert das (neutestamentarisch

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bezeugte) Erdbeben die »Grundfeste« wie jede »Kreatur«. Das Beben, dem sich niemand entziehen kann, kündigt an, dass alles erlebte Glück nur oberflächlicher Schein gewesen sein könnte, dass – anders als in Büchners Dantons Tod – doch nicht einfach so »alles fließt«, sondern der Fluss der Zeit sehr wohl ins Stocken gerät. Oder handelt es sich nur um eine einfache Koinzidenz von Kelchübergabe und Erderschütterung? Ist die Rede vom Vollbringen der »Erlösung« (Z. 58) nur leere Nachahmung der Aussage eines anderen? Nur – wie im falschen Kreisschluss – die Vorgabe einer bestehenden Ordnung? Oder noch unerschüttertes Einverständnis mit dem biblischen Wort? Dieses Urteil überlässt Trakls re-

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ligiös fundierte, scharfsinnige Gesellschaftskritik der Phantasie seiner Leser. So kommt das ambivalente Spiel von Oberflächenglanz und tieferer Wahrheit an seinen erzählerischen Endpunkt, ohne still zu stehen.

Literatur Kleefeld, Gunther: Das Gedicht als Sühne. Georg Trakls Dichtung und Krankheit. Eine psychoanalytische Studie. Tübingen 1985. Kleefeld, Gunther: Mysterien der Verwandlung. Das okkulte Erbe in Georg Trakls Dichtung. Salzburg 2009. Pilipowicz, Andrzej: Die Transgressionen der Bibelfiguren in der Prosa von Georg Trakl. Frankfurt a. M. 2017.

»Aus goldenem Kelch. Maria Magdalena« (1906)

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Kira Kaufmann

»Aus goldenem Kelch. Maria Magdalena« wurde zwei Wochen nach »Barrabas« im Salzburger Volksblatt vom 14.06.1906 als Feuilletonbeitrag veröffentlicht. Entstanden ist der Text vermutlich in den Monaten Juni/Juli desselben Jahres. In Stimmung und Atmosphäre wird neben Verweis auf den biblischen Stoff auf Parallelen zu Trakls Vorankündigung von Oscar Wildes Salome hingewiesen, wie der sinnverwirrende Mond zu Beginn und die ausführliche Beschreibung des lasziven Tanzes nahelegen (vgl. ITA I, 74). Wie zuvor »Barrabas«, so wurde auch »Maria Magdalena« mit dem Vorsatz »Aus goldenem Kelch« veröffentlicht (1939 wurden beide Texte dann von Erhard Buschbeck unter dem Obertitel »Aus goldenem Kelch« zusammengefasst). Unterstrichen wird hierdurch abermals der Bezug auf den biblischen Bedeutungsraum; bezieht sich der Titel doch fraglos auf die LutherÜbersetzung von Jeremias 51,7: »Ein goldener Kelch, der alle Welt trunken gemacht hat, war Babel in der Hand des HERRN; alle Heiden haben von ihrem Wein getrunken, darum sind die Heiden so toll geworden.« Rausch und Ekstase sind zentrale Momente beider Texte. Der Konflikt zwischen irdischer Körperlichkeit K. Kaufmann (*)  Institut für Germanistik, Universität Wien, Wien, Österreich E-Mail: [email protected]

bzw. lustvoller Erfahrung bei gleichzeitiger Vergänglichkeit scheint in der Euphorie des Rausches (durch Trank und Tanz) dispensiert, wird aber mit dem Topos der Überwindung des Todes durch die Wiederauferstehung Jesu konfrontiert. Zur Transzendierung des Lebens in der Kunst tritt also jene durch den Glauben. Interpretationen verweisen vor diesem Hintergrund auf die Scheinerlösung durch den weltlichen Genuss (vgl. Focke 1954, 206; Doppler 2001, 148). Bekehrung und wahre Erlösung bündeln sich in der Figur des Jesus von Nazareth, dessen Präsenz die beiden Texte verklammert und zugleich das die beiden titelgebenden Figuren Barrabas und Maria Magdalena verbindende Dritte bildet. Ein weiteres Motiv, das beide Texte begleitet, ist das des Rätsels, das in Verbindung mit der Schönheit hervortritt. Der Prosatext »Maria Magdalena« (ITA I, 76–78) trägt den Untertitel »Ein Dialog«. Dementsprechend szenisch gestaltet sich das Gespräch zwischen den beiden Protagonisten Agathon und Marcellus, »[v]or den Toren der Stadt Jerusalem« (Z. 1), wie es in regieartigen Anmerkungen heißt, bei einsetzender abendlicher Dämmerung. Agathon beginnt das Gespräch, indem er zur Rückkehr in die Stadt mahnt, Marcellus entgegnet, er habe an die Ferne gedacht und rät Agathon, sein Mädchen vor den Toren der Stadt nicht warten zu lassen. Agathon versteht nicht: »Warum sprichst du so zu mir?« (Z. 16). Von dieser Frage aufgefordert,

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hebt Marcellus an zu erzählen. »Die Schönheit des Weibes ist ein Rätsel« (Z. 18 f.), verrät Marcellus und spricht dabei selbst in Rätseln. Er berichtet von etwas, das er gesehen hat, er beschreibt den ausschweifenden Tanz einer Frau und wie sie einem, der sie ebenfalls tanzen sah, folgte. Diesen »seltsamen Propheten« (Z. 57), barfuß und in »härene[m] Gewand« (Z. 54), wollte Marcellus, als er durch Pilatus von der Kreuzigung erfuhr, sterben sehen, doch er kehrte um, denn er wollte nicht »jene draußen treffen«, vor dem Kreuz kniend (Z. 70). Auf Rückfrage Agathons heißt Marcellus sie beide schweigen und Agathon stimmt in dieses Gebot mit ein: »Wir wollen leben und nicht fragen« (Z. 87). Vielmehr will man dem Schönen huldigen und es preisen. Schließlich trennen sich die Wege der beiden Dialogpartner: Agathon kehrt zu Rahel, seiner Geliebten zwischen »früchteschwere[n]« Feldern und »gesegneten Äcker[n]« (Z. 96 f.) zurück, Marcellus geht »in Gedanken verloren« von dannen (Z. 114). Kurz vor der Verabschiedung erfragt Agathon noch den Namen des Propheten aus Marcellus’ Erzählung: »Was nützte es dir, das zu wissen!« (Z. 110), entgegnet dieser dem Fragenden, bevor er sich schließlich an den Namen erinnert: »Er hieß Jesus und war aus Nazareth!« (Z. 111). Während der Name des Propheten Jesus von Nazareth am Ende, einer exponierten Stelle des Textes, mehrmals auftaucht, fällt auf, dass der titelgebende Eigenname im Dialog konsequent ausgespart bleibt: Maria Magdalena erscheint allein in ihrer körperlichen Präsenz im Moment des Tanzes, dessen Beschreibung deutlich Raum gegeben wird. Der Gestalt der Maria Magdalena bleibt als Bezeichnendes ein weibliches Personalpronomen der dritten Person Singular vorbehalten: »Sie war die herrlichste Hetäre, ihr Leib war ein köstliches Gefäß der Freude, wie es die Welt nicht schöner sah« (Z. 46 f.). Der Eigenname weicht der deiktischen Qualität personaler Referenz, die Unbekannte ist dem Sehenden in ihrer lebendigen Schönheit ebenso faszinierend wie rätselhaft. Ein deutlicher Fokus wird im Prosatext auf das Sehen gerichtet: Mar-

K. Kaufmann

cellus sieht sie (vgl. Z. 29), die Dinge zu sehen scheint, die andere nicht in der Lage waren, zu sehen (vgl. Z. 37 f.). Zugleich sieht er, der Beobachter und Erzähler, wie sie liebt, tanzt und die Statue des Dionysos kränzt (vgl. Z. 46, 49, 51) – und wie sie schließlich von jemandem gesehen wurde: »Der ging vorbei und sah sie an – und war vorüber. Sie aber blickte nach Ihm« (Z. 55 f.). Der Prophet ruft sie mit den Augen, sie »sah zu ihm auf wie zu einem Gott« (Z. 59). Hier tritt Maria Magdalena als Magd Gottes in den Vordergrund, die Rolle der Dienerin wird allerdings im Dialog als Handlung aufgelöst, indem der Erzähler Marcellus in der Choreographie der Blicke die Gefolgschaft gleichsam abliest. Der neutestamentarische Stoff wird durch die Verschränkung epischer und szenischer Momente als Resultat einer geschickten Perspektivierung erkennbar, die Sehen und Wissen erst im Moment des Erzählens (im Dialog) zusammenführt. Das Sehen wurde für sie, die Tänzerin, zu Wissen, das durch die Wiederauferstehung Christi im neuen Glauben bestätigt wird. Der Zeuge Marcellus bereut, der Szene, der er ansichtig wurde, nicht selbst gefolgt zu sein: »Seine Augen würden vielleicht zu mir gesprochen haben« (Z. 67). Für Marcellus gibt es keine Erkenntnis, die Abwesenheit von Licht korreliert mit der einbrechenden Dunkelheit der Nacht. Am Ende resümiert er: »Und in mir ist es dunkel geblieben« (Z. 72). Der Bedeutung der Eigennamen in Trakls Werk wurde in der Forschung besondere Aufmerksamkeit zuteil (vgl. Klessinger 2016). So lohnt auch für »Maria Magdalena«, deren Name zwar ausgespart wird, die allerdings über die Erwähnung im Titel den gesamten Dialog als abwesende Anwesende rahmt, ein Blick auf die beiden Namen der Dialogpartner. Marcellus, der sich zu Beginn an das ferne Rom erinnert, gibt sich als Präfekt in Judäa unter Pontius Pilatus zu erkennen, Agathon trägt Züge einer Dichter-Figur. Der Name »Agathon« verweist auf den antiken griechischen Kulturraum, er ruft jenen Tragödiendichter in Erinnerung, zu dessen Ehren Platons Symposion stattfindet. Agathon

14  »Aus goldenem Kelch. Maria Magdalena« (1906)

verspricht, die Schönheit zu preisen, während Marcellus einsam und in Gedanken versunken in die Nacht schreitet. Zudem ist es Agathon, der zuletzt den Namen des Propheten erfragt. Die Konstellation, in welcher er auf Rahel trifft, deutet auf Fruchtbarkeit und lässt darauf schließen, dass er die Kunde vom Propheten namentlich in die Welt tragen wird. Um Marcellus hingegen wird es still und dunkel. In der Stunde der Dämmerung, an der Grenze von Tag und Nacht, vermag er von der beobachteten Begegnung zu erzählen, während Agathon auf die Gestirne, »zur großen Gelassenheit« (Z. 102), verweist und den übergeordneten Bedeutungsraum als zeichenhafte Präfiguration der kommenden Schöpfung (der Dichtung) anerkennt (vgl. auch »Sterne und Zeichen / versinken leise im Abendweiher« in »Elis«, ITA II, 455). In der Forschung wird der Text vor allem über die Figur der Maria Magdalena erschlossen, wobei die Auseinandersetzungen im Rahmen der stereotypen weiblichen Rollenzuschreibung operieren. Der Name »Maria Magdalena« ruft durch die beiden Elemente den gesamten Bedeutungsraum von Maria als Jungfrau und Mutter einerseits und Magdalena als Magd sowie Hure und Sünderin andererseits auf. Letzteres wird durch die geschilderte Plastizität ihrer Körperlichkeit im Moment des Tanzes intensiviert und findet sich auch in dem Vers »Ein strömend Blut von Magdalenens Lippen« in dem Gedicht »Die Kirche« (ITA II, 156). Im Neuen Testament ist Maria Magdalena eine jener galiläischen Frauen, die Jesus begleiten; auch ist sie bei Kreuzigung und Begräbnis zugegen (vgl. Matth. 27,56). Der religiösen Lektüre August Fockes zufolge vermag Maria Magdalena »das Schicksal der Liebe zu wenden«, sie verwandelt Fluch in »Frauensegen« (Focke 1954, 206). Doppler sieht in den in Aus goldenem Kelch veröffentlichten Prosastücken vorrangig eine Auseinandersetzung mit der Geschlechtsmystik Otto Weinigers (vgl. Doppler 2001, 150). In der Tanz-Szene biete Trakl »das gesamte poetische Inventar des Jugendstils auf, um ein dirnen­ haftes Weib zu schildern, das unverkennbar die Züge trägt, die Weiniger dem Typus der Dirne

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zuschreibt« (Doppler 2001, 148). Besondere Bedeutung käme in diesem Zusammenhang dem Vorgang des Vorbeigehens zu (vgl. ITA I, 76, Z. 53–55), denn hierdurch sei »die Lösung des Weiningerschen Grundproblems vollzogen« (Doppler 2001, 149). Nur mit dem Blick bewirke Christus die Erlösung von der Sexualität, Maria Magdalena verwandelt sich daraufhin zur asketischen Dienerin Gottes. Die Gedichte »Sonja« und »Afra« seien in ähnlicher Weise diesem Problemkomplex verschrieben (vgl. ebd., 149 f., 153). Liest man den Dialog »Maria Magdalena« ausschließlich als einen weiningerschen Gedanken »in poetischem Gewand« (Doppler 2001, 148), übersieht man, dass die titelgebende Protagonistin ausschließlich als diskursives Produkt der Rede – eben des Dialogs – greifbar wird. Die Figuration der Maria Magdalena erweist sich durch den dialogischen Prosatext offen als ein Konstrukt der Überlieferung. Zudem würde man sie als Wissende verkennen: Sie sieht, was andere nicht sehen können (vgl. ITA I, 76, Z 38 f.). Der Text handelt somit auch von der Möglichkeit gegenseitigen Erkennens über bestehende Zuschreibungen und Konventionen hinweg. Die daraus hervorgehende Schwierigkeit in der Sagbarkeit geschauter Schönheit ist nicht zuletzt ein poetologisches Problem. Der im Vorsatz aufgerufene ›goldene Kelch‹ ist gereichte Sprache und im Kontext des Turmbaus zu Babel auch Sprachverwirrung (dementsprechend befindet Marcellus: »Alles das ist sehr verwirrend!«; Z. 81). Sprache ist empfangene Gunst und unerträgliche Schönheit, aber auch außerordentlicher Geisteszustand: Aus dem fremdartigen Klang der Lyrik und den tänzerischen Bewegungen des enthusiasmierten antiken Dichters spricht ein Gott, der den Menschen besetzt hält (vgl. Schlaffer 2015). Die dichterische Inspiration kommt aus der Begeisterung. So ist in Platons Ion der Rhapsode vom Daimon »besessen« (vgl. Platon 1990, 15–19 [Ion, 533d–535a]). In rauschhafter Ekstase rezitiert er die lyrischen Dichtungen, als Künstler ist er ist ein Wesen zwischen göttlicher und menschlicher Sphäre. Die eigentümliche Spannung in

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Trakls »Maria Magdalena« entsteht durch die Konfrontation des antiken Eros mit dem christlichen Propheten als Erlöserfigur, der ohne Worte – nur mit Blicken – zu bewegen vermag. Rauschhafte Eindrücke, die das sprachliche Fassungsvermögen übersteigen, treffen auf eine neue, radikale Form der Sichtbarkeit, die das junge Christentum mit sich bringt. Marcellus wendet sich ab. Agathon hingegen schließt mit einem Verweis auf die Sterne, die ebenso sinnhaft wie rätselhaft sind. Das aus dem Sichtbaren gewonnen Wissen konkurriert mit der Schönheit des Nicht-Wissens, der Intuition, die das Lebendige begleitet; bei aller Körperlichkeit bleibt die Schönheit des Rätsels unberührt.

K. Kaufmann

Literatur Doppler, Alfred: Georg Trakl und Otto Weininger. In: Ders.: Die Lyrik Georg Trakls. Beiträge zur poetischen Verfahrensweise und zur Wirkungsgeschichte. Salzburg/Wien 2001, 146–157. Focke, Alfred: Georg Trackl. Liebe und Tod. Wien/München 1954. Klessinger, Hanna: Name und Welt. Wirklichkeitsbezüge in Georg Trakls Lyrik. In: Uta Degner/Hans Weichselbaum/Norbert Christian Wolf (Hg.): Autorschaft und Poetik in Texten und Kontexten Georg Trakls. Salzburg/Wien 2016, 271–283. Platon: Werke in acht Bänden. Griechisch-deutsch. Hg. von Gunther Eigler. Darmstadt 1990. Schlaffer, Heinz: Geistersprache. Zweck und Mittel der Lyrik. Stuttgart 2015.

»Verlassenheit« (1906)

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Kira Kaufmann

Anders als die zuerst erschienenen Prosatexte »Traumland«, »Barrabas« und »Maria Magdalena« wurde »Verlassenheit« nicht im Salzburger Volksblatt, sondern am 20.12.1906 in der Salzburger Zeitung veröffentlicht. Aufgrund dieser Abweichung vermutet man, dass er in der zweiten Hälfte des Jahres 1906 geschrieben wurde. Wie bereits die Mutmaßungen über die Entstehungszeit zeigen, ist über den Text nicht viel bekannt. Er wird der Jugenddichtung zugerechnet, im Vergleich zu den oben erwähnten, früheren Veröffentlichungen zeigt er eine besondere Eigenständigkeit in Stoff, Komposition und Motivik. »Verlassenheit« (ITA I, 100–102) gliedert sich in drei Teile, die mit Ziffern nummeriert sind. Jeder Teil endet mit der Wendung »Und alles durchdringt das Schweigen der Verlassenheit« (Z. 22, 43, vgl. 79 f.), wobei in der Emphase, die sich durch die Wiederholung ergibt, der Agens des Satzes in Bewegung gerät – es ist nicht mehr klar, ob das Schweigen alles oder nicht schließlich alles das Schweigen durchdringt. In drei Schritten wird die Dingwelt von diesem ›Allem‹ aufgerufen und gleichsam zum Leben erweckt: Die Szenerie bietet ein

K. Kaufmann (*)  Institut für Germanistik, Universität Wien, Wien, Österreich E-Mail: [email protected]

Schloss inmitten eines »schweigsamen Teiches« (Z. 5), es gibt uralte Bäume, im Hof eine Fontäne. Stille und Ruhe haben sich über das Gebäude und den angrenzenden Park gelegt, der im zweiten Abschnitt in den Fokus rückt. Der Park »erwacht […] aus schweren Träumen« (Z. 28) und gleicht als Ganzes einem »gigantische[n] Lebewesen« (Z. 25). Während die Flora ein unheimliches Eigenleben führt (»Blutbuchen«, »[b]leiche Lilien« sind wie tote Frauenhände; Z. 36, 41), besteht die eigentliche Bewohnerschaft aus der Fauna: Fledermäuse, Tauben und Schwäne bewegen sich durch die erstarrte, tot anmutende Schlossanlage. Nur in der Erinnerung erwacht der Park zum Leben und ruft nächtliche Begegnungen und Küsse, »rhythmische[] Bewegungen«, »verrückte Worte« und »verheißende[s] Lächeln« auf (Z. 32–34). Erst im dritten Teil betritt ein Mensch die Szene: Ein Graf sitzt in einem »rissigen Turmgemach« und blickt über die »Gipfel[] der Bäume« (Z. 48). Die nicht verortbare Position einer übergeordneten Erzählstimme wird somit in die Nähe einer beobachtenden menschlichen Instanz gerückt. Es kommt zu Wiederholungen: Wieder begegnen die Bäume, Wolken, und das Wasser der Teiche. Durch das mehrfache »Tagein! Tagaus!« (Z. 48, 55) wird das Vergehen der Zeit verdeutlicht, zugleich aber auch das Gleichmaß des Vergänglichen rhythmisch anzitiert, wodurch ein mystisch anmutendes In-Eins-Fallen der Gegensätze von Ruhe und Bewegung evoziert wird.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_15

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Das ebenso unmerkliche wie unerbittliche Vergehen der Zeit korreliert mit der Schönheit, die ebenso vergeht, also verschwindet. Doch nicht ›Vergänglichkeit‹, sondern ›Verlassenheit‹ lautet der Titel. Doppler verweist auf die leitmotivische Bedeutung der Verlassenheit in Nietzsches Zarathustra, der im Kapitel »Die Heimkehr« Verlassenheit von Einsamkeit unterscheidet, wobei die Einsamkeit dem Fremden Heimat sein kann (Doppler 2001, 16). Als eine die Vergänglichkeit konterkarierende Zeitdimension erweist sich die Vergangenheit. Sie klingt wie eine »traurige Melodie« (Z. 64), die Kraft der Erinnerung zu sprechen anhebt: »Auf alles, was ihn da sterbend umgibt, blickt der arme Graf wie ein kleines, irres Kind« (ITA I, 102, Z. 61 f.). Wenn es Abend wird – und es wird immer wieder Abend – liest er bei Lampenschein in den Büchern von der Herrlichkeit der Väter. Der Graf in seinem Schloss begegnet uns als Leser, der über der Lektüre die Gegenwart zum Verschwinden bringt: »Er liest mit fieberndem, tönendem Herzen, bis die Gegenwart, der er nicht angehört, versinkt« (Z. 67 f.). Im Lesen, umgeben von einer romantischen Szenerie, findet er ein Leben in einer entrückten Welt. Der Text endet mit Verweis auf den Sturm, der »um den Turm jagt, daß die Mauern in ihren Grundfesten dröhnen« (Z. 70 f.). Der Graf ist traurig und verlassen, nur die Wasserlilien »winken ihm zu, wie kleine, tote Frauenhände« (Z. 58 f.). Sehnsuchtsvoll blickt er durch das Fenster »in die Nacht hinaus« (Z. 74). Die Vision erscheint ihm »riesengroß traumhaft, gespensterlich! Und schrecklich« (Z. 75). Man hört den Sturm durch das Schloss und die Gänge rasen, bis mit dem Ende der Nacht auch das »verworrene Trugbild« (Z. 78) versinkt, als welches sich die Vision nun zu erkennen gibt. Doch die Vision kam nicht ohne Zutun, sondern vielmehr »wie ein heraufbeschworener Schatten« (Z. 79). Die gegenseitige Durchdringung von ›Allem‹ und ›Schweigen‹ spiegelt sich in den »tausendfach umschlungenen« Ästen des Parks (Z. 24) und korrespondiert mit einer Erzählsituation, die den lesenden Grafen sowohl als Produzenten sowie Rezipienten seiner Szenerie zu erkennen gibt.

K. Kaufmann

Die Traumszene wird in der Erinnerung, durch welche die Gegenwart zum Verschwinden gebracht wird, als dezidierte Gespensterszene hervorgehoben. Die Visionen der Nacht können durch den Verweis auf die eifrige Lektüre des Grafen als metafiktionale Chiffre einer intertextuellen Referenz ausgelegt werden: Hier wird im literarischen Text explizit gezeigt, dass gelesen wird. Den Grafen, selbst namenlos, überkommt dabei eine »namenlose Traurigkeit« (Z. 72). In der »gespensterliche[n]« (Z. 75) Vision von »Verlassenheit« gibt es Anklänge an die Schauerliteratur der Romantik; Bäume und Blumen erfahren allerdings erst mit der Dunkelheit der Nacht und durch die Kraft der Erinnerung eine unheimliche Verlebendigung. Diese enge Verknüpfung der Motive ›Verlassenheit‹ und ›Nacht‹ begegnet außerdem im Gedicht »Traumwandler«, das wahrscheinlich um 1908 entstand (ITA I, 151 f.), eine ähnliche Szene evoziert und mit einer Anrufung anhebt: »Wo bist du, die mir zur Seite ging, / Wo bist du, Himmelsangesicht? / Ein rauher Wind höhnt mir ins Ohr: du Narr! […] Und doch, und doch! Wie war es einst, / Bevor ich in Nacht und Verlassenheit schritt?« (Z. 1–6). Motive wie der Wind und das »traurige[] Lächeln« (Z. 11) (in »Verlassenheit« ist es das »feine[] verheißende[] Lächeln« [ITA I, 102, Z. 34]) sowie die vergangene Liebesszene werden aus der Erinnerung gehoben und durch den Traumwandler in einen Dialog gesetzt. Die einst ausgetauschten Worte und Rufe verklingen allerdings ungehört, da das Echo keine Botschaft zu übertragen vermag. Nur der Wind wiederholt höhnisch: »O Narr! O Tor!« (ITA I, 152, Z. 19). So bleibt das Gedicht ein lyrisches Selbstgespräch, das von den beiden Leitmotiven durchdrungen ist: So wird in »Nacht und Verlassenheit« geschritten (Z. 6), gerufen (Z. 12) und schließlich verblieben (Z. 17). In dieser dreimaligen Wiederholung korrespondiert das Gedicht »Traumwandler« mit den drei Abschnitten des Prosatextes »Verlassenheit«. Durch die triadische Struktur wirkt ein zyklisches Element, das die Dualität von Erwachen und Versinken (wie der Park), von Aufkommen und Dahinsterben (wie die Lilien), in ein abermaliges Er-

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wachen und Aufkommen führt. Durch Wiederholungen sowohl auf formaler als inhaltlicher Ebene wird ein unabschließbarer Prozess von Vergehen und Entstehen perpetuiert. Leben und Tod sind auf ewig und auch im einzelnen Augenblick erfahrenen Glücks unauflösbar miteinander verbunden. Die Poesie dient seiner abermaligen – wiederholbaren – Beschwörung im Moment der Lektüre. So wird in »Verlassenheit« ein für Trakl zentrales poetologisches Moment zur Entfaltung gebracht, das sich nicht zuletzt im lesenden Grafen verkörpert, der in seiner »namenlosen Traurigkeit« (ITA I, 102, Z. 72) immer wieder das eine erlebt: Flüchtiges kann durch das poetische Bild als Vergängliches gebannt

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und somit wieder und wieder aufs Neue beschworen werden.

Literatur Doppler, Alfred: Die Stufe der Präexistenz. In: Ders.: Die Lyrik Georg Trakls. Beiträge zur poetischen Verfahrensweise und zur Wirkungsgeschichte. Salzburg 2001, 44–59. Kemper, Hans-Georg: »Wer sind wir?« Trakls Erinnerung im Vexierbild poetischer Rauschträume. In: Uta Degner/Hans Weichselbaum/Norbert Christian Wolf (Hg.): Autorschaft und Poetik in Texten und Kontexten Georg Trakls. Salzburg/Wien 2016, 213–233. Wacker, Gabriele: Poetik des Prophetischen. Zum visionären Kunstverständnis in der Klassischen Moderne. Berlin/Boston 2013.

Teil V

Werk: Dramatisches I – Zu Trakls dramatischem Konzept

Trakls Versuche im Drama

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Bernhard Greiner

Trakls Versuche in der Gattung Drama waren nicht erfolgreich, weder in der Außenperspektive – zwei Einakter, die im Salzburger Stadttheater aufgeführt wurden, erfuhren eine nachdrückliche Kritik –, noch in der Perspektive des Autors: Die beiden Einakter und eine wahrscheinlich fertiggestellte »Don Juan«-Tragödie hat er vernichtet, zwei Szenen dieser Tragödie (in der zweiten Fassung nur eine) sind überliefert. Zu zwei weiteren Dramen sind jeweils zwei Szenen ausgearbeitet. Die nicht weit gediehenen dramatischen Versuche lassen fragen, wie weit die poetischen Orientierungen und Verfahren Trakls mit den Grundvoraussetzungen der Gattung Drama in Übereinstimmung gebracht werden können, wie weit sie diese neu bestimmen (z. B. den Status und das Verständnis von Dialogizität) und wie sich diese Versuche den Orientierungen der zeitgenössischen Theateravantgarde zuordnen, soweit hierzu, angesichts der schmalen Materialbasis, Aussagen möglich sind.

B. Greiner (*)  Deutsches Seminar, Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Tübingen, Deutschland E-Mail: [email protected]

Trakls Auseinandersetzung mit der dramatischen Form: ein erster Überblick Jeweils im Abstand von mehreren Jahren hat Trakl sich auch dem Drama zugewendet. Die journalistischen Arbeiten, mit denen er zuerst an die Öffentlichkeit getreten ist, sind Berichte zu Aufführungen im Salzburger Stadttheater. Der erste handelt von einer Tragödie eines heute wenig bekannten Dramatikers (Karl Schönherr), der zweite, der eine hohe Anteilnahme des Verfassers am Stück erkennen lässt, stellt Oscar Wildes einaktige Tragödie Salome vor (erschienen am 2.3.1906, Text in: ITA I, 53 f.). Trakl gibt eine eindringliche Nacherzählung der Handlung des Stücks, was gerechtfertigt ist, da eine deutsche Übersetzung erst seit 1903 vorlag, das Stück als skandalträchtig im Gerede, aber noch wenig bekannt war. Trakl betont die im Einakter erreichte Dichte des Geschehens und die ›Überwirklichkeit‹ der Figurenzeichnung, die diese in eine ›Sphäre der reinen Form‹ hinaushebe. Weiter rühmt er die Gegensätze umspannende Sprache des Stücks. Deutlich scheinen hier die Einakter Maeterlincks als Stilideal durch, ebenso Nietzsches Umschreibung des ›barbarisch Dionysischen‹ dessen ›Mischung von Wollust und Grausamkeit‹ in der Geburt der Tragödie, wenn Trakl den »rasenden Tanz« Salomes vor Herodes seinen Lesern vor Augen rückt sowie ihren »Blutrausch«, wenn sie die

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_16

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Lippen des abgeschlagenen Hauptes des Propheten küsst. Orientierungen seines einsetzenden eigenen poetischen Schaffens zeichnen sich hier ab. Am 31.3.1906 führte das Salzburger Stadttheater Trakls erstes fertiggestelltes Drama, den Einakter Totentag auf. Da Trakl nach der harschen Kritik dieses sowie seines ein halbes Jahr später aufgeführten zweiten Einakters die Manuskripte beider verbrannt hat, können Informationen über beide Stücke nur den Theaterrezensionen entnommen werden. Zu Totentag (vgl. ITA I, 55–59) wird eine starke Abhängigkeit von der Gedankenwelt der Dramen Ibsens (ausdrücklich genannt werden die Gespenster) und der Philosophie Nietzsches herausgestellt, ein Rezensent nennt auch Maeterlinck. Eine motivische Nähe zeigt Trakls Stück zu dessen berühmtem Einakter Die Blinden (1890), auch zur dramatischen Grundsituation dieses Stücks, die Maeterlinck als »Dialog des menschlichen Wesens mit seinem Schicksal« umschrieben hat (Maeterlinck 1898, 69). Im Mittelpunkt von Trakls Einakter steht der blinde Sohn eines Ehepaars, der bisher von seiner jüngeren Schwester gepflegt worden war, die nun aber ins Leben hinausdrängt, heiraten und das Haus verlassen wird. Das drohende Verlassen-Werden und Leben in Einsamkeit wecken im Blinden düstere Gedanken bis hin zur Phantasie, die Schwester zu töten. Wie Maeterlincks Einakter kennzeichnet auch Trakls Stimmungsbild Handlungsarmut, was die Rezensenten bemängeln, und eine elaborierte Sprache, was auch die sehr kritischen Rezensenten des Stückes diesem zugestehen. Eigenständig gegenüber Maeterlincks Einakter führt Trakl schon in diesem seinem ersten Drama den ›Schwester-Komplex‹ ein. Die Einwände gegen Trakls zweiten Einakter Fata Morgana (aufgeführt am 15.9.1906) waren grundsätzlich (ITA I, 80–82). Ein Wüstenwanderer gelangt zur Nachtzeit an einen schroffen Felsen, auf dessen Spitze er die ägyptische Kleopatra zu erkennen glaubt. Er steigt zu ihr auf, umarmt sie, aber alles war nur ein Traum, am Morgen stürzt er sich, ein elendes Ende in der Wüste vor Augen, vom Felsen zu

B. Greiner

Tode. Dem Stück fehle, so die Kritik, jegliche Dramatik, der Autor zeige eine Schwärmerei für Symbolik, wobei ausdrücklich auf Maeterlinck verwiesen wird. Vermerkt wird, dass die Grundidee des Einakters – die Erfahrung der Täuschung als Bestandteil der Lebenswanderschaft – für ein ›lyrisches Gedicht‹, nicht aber für eine ›dramatische Szene‹ reiche. 1907 hat Trakl an einer »Don Juan«-Tragödie gearbeitet, die er dem Jugendfreund Franz Bruckbauer laut dessen Zeugnis vorgelesen und anschließend verbrannt hat (vgl. ITA I, 128). Von einer neuerlichen Hinwendung zum Don Juan-Stoff sind eine Szene in zwei Fassungen und einige bruchstückhafte, nur indirekt übermittelte Verse eines Prologs überliefert. Die Szene zeigt im vorgestellten Umschlagen der Stimmung Don Juans eine große Nähe zu einem Brief Trakls an seine Schwester Hermine vom 5.10.1908, weshalb diese Szene auf die zweite Hälfte dieses Jahres datiert wird. Trakls längster überlieferter dramatischer Versuch stellt die Szenenfolge »Blaubart. Ein Puppenspiel« dar (2 Szenen und eine kurze Anrede an den Leser/Zuschauer). Das überlieferte Manuskript ist auf den 5./6.2.1910 datiert. Besteht die Hauptszene des »Don Juan«-Fragments aus einem Monolog des Helden, der seinen inneren Kampf zwischen wechselnden ›Gesichten‹ vorstellt, zeigt sich die Dialogizität im »Blaubart«-Puppenspiel potenziert, da hier die Hauptszene aus Wechselreden der beiden Hauptfiguren Blaubart und Elisabeth besteht, die zugleich jeweils für sich als in sich Gespaltene vorgestellt werden. Ein weiteres Feld der Dialogizität eröffnen beide Dramenfragmente durch die intertextuellen Bezüge zu anderen Bearbeitungen ihres Stoffes. Ein letztes Mal hat sich Trakl im Frühjahr 1914 dem Drama zugewandt. Der überlieferte Text besteht in der ersten Fassung aus zwei, in der zweiten Fassung aus einer Szene. Der Text zeigt eine große Nähe zu Bildern und Figurationen der Prosagedichte, die ebenfalls im Frühjahr 1914 entstanden sind, zum einen zu »Traum und Umnachtung«, dem abschließenden Teil des Bandes Sebastian im Traum, zum

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andern zu »Offenbarung und Untergang«, woraus wörtlich zitiert wird. Der überlieferte Text hat keinen Titel, in der HKA wird er »Dramenfragment« genannt, die ITA wählt als Titel die Szenenangabe der Textstufe 5 H: »In der Hütte des Pächters …«, Kemper den Namen der in die vorgestellte Familie einbrechenden Figur »Kermor« (vgl. Kemper 2014, 300). Eine zusammenhängende Handlung gibt das Dramenfragment nicht, der enge Bezug zu den Prosagedichten zeigt ein Experimentieren Trakls mit dieser Dichtungsart, insofern Teile der dort ergehenden Rede von ihrem Bezug zu einem lyrischen Ich abgelöst und verschiedenen Sprecherfiguren zugewiesen werden. Einen Weg auf die Bühne haben die drei überlieferten Dramenfragmente gemeinsam gefunden. Der Autor, Regisseur, Begründer und Leiter des Wiener Theaterensembles »Die Komödianten«, Conny Hannes Meyer, fügte sie unter dem Titel Blaubart. Montage und Bearbeitung von Fragmenten Georg Trakls zu einer Szenenfolge zusammen, die er, wie er schreibt, als »Spiel mit lebenden Puppen, als einen Alptraum« (Meyer 1992, 84) inszenierte. Das Stück, es hatte am 4.11.1964 in Meyers  »Theater am Börseplatz« Premiere, war erfolgreich. Nach dem Wechsel Meyers zum »Theater im Künstlerhaus« wurde die Produktion dort wiederaufgenommen (Premiere am 1.6.1975) und erzielte, so Meyer im Rückblick, einen »noch größeren Erfolg« (ebd.). Die drei dramatischen Texte Trakls sind nicht Fragmente als eigenständige Form wie etwa das romantische ›Fragment‹, sie werden vielmehr jeweils als Teil eines prätendierten Dramenganzen angezeigt. Allerdings stellen das »Don Juan«- wie das »Blaubart«-Fragment wohl die Schlüsselszene des anzusetzenden Dramas dar, das dieses verdichtet enthält. Ein Ausarbeiten der Hinführung zu dieser Szene und der Folgerungen aus ihr konnten dann wenig reizvoll erscheinen. Im letzten Fragment bleibt die Thematik des Stücks undeutlich, entsprechend auch die Stellung, die der vorliegenden Szene dort zukäme.

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Lyrisierung und Dialogkrise: »Don Juans Tod« im Licht der Dramentheorie Maeterlincks Das Dramenfragment »Don Juans Tod« eröffnet einen großen Spielraum intertextueller Bezüge, aus denen jedoch keine kohärente neue Auffassung der Don Juan-Figur, ihrer Handlungen und ihres Geschicks, abgeleitet werden kann. In seinem Monolog, der den Hauptteil des Fragments ausmacht, entfaltet Don Juan einen spannungsvollen Umgang mit seinen ›Gesichten‹, im Rekurs auf Signalworte und szenische Konstellationen, die aus anderen Texten zitiert sind (insbesondere Grabbes Don Juan und Faust-Tragödie sowie der Erdgeist- und der Szene des versuchten Selbstmordes des Goetheschen Faust), wobei von ihrem Gehalt am ursprünglichen Ort weitgehend abgesehen wird. (Zum Zitat als kompositionelles Formprinzip der Lyrik Trakls, insbesondere in Sebastian im Traum, vgl. Kemper 1984, 311–314.) So erklingen im »Don Juan«-Fragment viele literarisch generierte Stimmen, die aber keinen schlüssigen Vorstellungszusammenhang entstehen lassen. Die Dramatik einer sehr spezifischen Dialogizität zeichnet sich ab, einer Dialogizität, die die zitathaft aufgerufenen Stimmen und szenischen Vorstellungen einem Verfahren der Abstraktion von ihrer genuinen Vorstellungs- und Sinnverweisung unterzieht. Trakl entwickelt so auf dem Feld des Dramas ein künstlerisches Verfahren der Abstraktion, wie dies zeitgenössisch z. B. Franz Marc und Wassily Kandinsky in der Malerei unternommen und begründet haben (vgl. Marc 1978; Kandinsky 1912). Markant tritt das Verfahren der Abstraktion in Trakls Lyrik hervor. Sein vielbesprochener ›Reihungsstil‹ stellt Wörter und Bilder nebeneinander, deren semantischer Bezug nur mehr die in ihnen autonom enthaltenen Vorstellungskomplexe ausmachen, nicht Verweisungen auf hierdurch bedeutete Sachverhalte, Erfahrungen oder Wirklichkeiten im Kontext des jeweiligen Textes (hierzu Baßler 1999, 130–134;

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Kemper 2009). Eine Dramatik, die programmatisch gleichfalls auf das Verfahren der Abstraktion zielt, hat zeitgenössisch Maurice Maeterlinck entworfen, allerdings nicht auf dem Feld intertextueller Dialogizität, vielmehr – im Kontext der Ich-, Sprach- und Wahrnehmungskrise der Jahrhundertwende – in der Abkehr der Aufmerksamkeit von den Dialogen der Figuren, die die Handlung des Dramas tragen und bewegen, um die innere Stimme des Dramas vernehmbar zu machen, dessen »Dialog ›zweiten Grades‹« (Maeterlinck 1898, 75), in dem dessen »Seele« liege und sich mitteile: »[W]as die geheimnisvolle Schönheit der schönsten Tragödien ausmacht, liegt ganz gewiss in den seitab von der bündigen, sinnfälligen Wahrheit gesprochenen Worten. Sie liegt in den Worten, die einer tieferen Wahrheit entsprechen, einer Wahrheit, die der unsichtbaren Seele, welche das [dramatische] Gedicht trägt, unvergleichlich näher steht« (ebd., 74). Den dramentheoretischen Grundsatz, dass der handlungstragende Dialog der Nukleus des Dramas sei, hat die Theateravantgarde um 1900 umfassend erschüttert. Trakl zeigt sich in seinen dramatischen Versuchen dieser ›Dialogkrise‹ der Dramatik verbunden, ebenso den Strategien, Antworten hierauf zu finden, wie Lyrisierung der Diktion, neue Behandlung und Gewichtung des Monologischen, Betonen des vom Wort unabhängigen Theatralischen (klangliche, visuelle Ausdrucksformen), Situierung der Rede in Atmosphären des Traumes oder Rausches, die die Figur in ihrer Ichwelt isolieren. Den »Dialog zweiten Grades«, auf den es ankomme, bestimmt Maeterlinck als »Dialog des [menschlichen] Wesens mit seinem Schicksal [dialogue de l’être et de sa destinée]«. Er umschreibt das, was dieser Dialog vernehmen lasse, als »[d]as geheimnisvolle Lied des Unendlichen […], das Schicksal oder Verhängnis, das man innerlich empfindet, ohne sagen zu können, an welchen Anzeichen man es erkennt: – könnte man uns dies alles nicht durch irgendwelche Umformung der Figuren näher bringen, während man die Schauspieler entfernte?« (ebd., 69 f.).

B. Greiner

Als solch ein ›Lied des Unendlichen‹ erweist sich der Monolog Don Juans in Trakls Fragment. Es ist ein Lied dessen Rhythmik in der Folge dionysischer Entgrenzungen besteht, die als »Gesichte« erfahren werden. Diese waren »übermenschlich«, hielten »Wonneschauer« und »trunkene« »Entzückung« bereit: Attribute des Dionysischen. Abgelöst wurden sie von einem »schrecklichen Gesicht«, das als Sich-Verengen des Raumes bis hin zu einem ›Verschlingen‹ erfahren wird, d. h. als Implosion des Raumes und mit ihm aller Gestalt, entsprechend als »Wesenloses« (ITA I, 148 f.). Zwei Weisen des Grenzenlosen werden unterschieden, die eine ist in die andere umgeschlagen: eine Erfahrung des Grenzen- oder Gestaltenlosen als Fülle (»übermenschliche Gesichte«) – verdichtete Polymorphie –; und ein Grenzen- oder Gestaltenloses der Auflösung aller bestimmten Gestalt – A-Morphie. Beide Erfahrungen sind Gehalte dionysischer Entgrenzung. Als die Gewalt, die das Umschlagen der einen in die andere bewirkt, wird, mit der toten Donna Anna, das Einbrechen des Prinzips der Unterscheidung (hier lebendig – tot) in die Entgrenzungserfahrungen angezeigt. Diese Welt der Unterscheidung, die Welt des Apollinischen, transzendiert Don Juan erneut, nun aber zur anderen Seite des Unendlichen hin, der Implosion aller Gestalt. Diese versucht er neu in eine der Fülle umzuwandeln, die alle bestimmte Gestalt transzendiert – »Leben« –, indem er die gesamte Welt in sein Ich hereinnimmt, womit die Unterscheidung Ich – Nicht-Ich (Welt) aufgehoben ist. Trakls Dramenfragment »Don Juans Tod« entfaltet so als seinen ›inneren Dialog‹, als sein ›Lied des Unendlichen‹ im Sinne Maeterlincks, Vorgänge des Umschlagens verschiedener Erfahrungen und Gehalte des Dionysischen, wobei das Apollinische nur als Katalysator dieser Bewegung fungiert. Das Dramenfragment nimmt an den Bestrebungen der Theateravantgarde teil, die ›Krise des dramatischen Dialogs‹ zu überwinden (vgl. Bayerdörfer 1995), hier in einer selbständigen Aneignung der »Duplicität des Apollinischen und des Dionysischen« (Nietzsche 1999, I, 25).

16  Trakls Versuche im Drama

Maschinenmenschen: »Blaubart« als ent-literarisierte Form des Theaters Das Dramenfragment »Blaubart« zielt mit seinem Untertitel »Ein Puppenspiel« anstelle des zuerst gewählten »Tragödie« auf eine spezifische Art von Theater. Trakl zeigt hier ein Umformen der Figuren und Entfernen der [menschlichen] Schauspieler, wie dies Maeterlinck bedacht hatte (s. o.), um das ›innere Lied‹ eines Dramas vernehmbar zu machen. Entsprechend dem für seinen Essay ursprünglich geplanten Titel, »Un théâtre d’androïdes«, denkt Maeterlinck an Figuren in der Art von Maschinenmenschen. Für ein Theater solcher Figuren plädierte um die Jahrhundertwende auch der Regisseur und Theatertheoretiker Edward Gordon Craig: als Konsequenz seiner radikalen Unterscheidung von Drama als literarischem Werk und Theater. Die konstitutiven Materialien des Theaters seien Bewegung, Szenengestaltung und Stimme, nicht das literarische Wort. Da dieses durch den Schauspieler lebt, soll dessen Platz die unbelebte Figur einnehmen (vgl. Craig 1970, 66). Ziele sind ›Ent-Literarisieren‹ und ›Re-Theatralisieren‹ des Theaters (vgl. FischerLichte 1990, 163 u. 165). In diesem Horizont ist den Reden der Figuren in Trakls »Blaubart«Puppenspiel ein eigener Status zuzuweisen: als Sätze, die nicht aus der Innenwelt einer menschlichen Figur hervorgegangen, diesen vielmehr ›eingespeist‹ worden sind. Weiter ist dem Schauspieler als Puppe Distanz zu seiner Rolle auferlegt, hat er diese gerade nicht durch seine Persönlichkeit zu beleben. So prägen Verfahren der Abstraktion auch dieses Dramenfragment. Die Dramatik des Puppenspiels entfaltet sich unter diesen Bedingungen auf dem Feld interagierender Texte, nicht von Figuren und deren Handlungen. Dies geschieht auf vier Ebenen. Zum einen zeigt das »Blaubart«-Fragment eine vielstimmige Dramatik zwischen manifestem Text und Intertexten, wobei die Vielzahl und Divergenz der aufgerufenen Stimmen diese gerade aus ihrem ursprünglichen Bedeutungszusammenhang herauslöst, keinen polyphonen Blaubart-Hypertext, eher ein Rauschen der

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Stimmen der Blaubart-Dramen entstehen lässt: auch hier eine Dialogizität im Zeichen der Ab­ straktion. Zum anderen bestimmt das »Blaubart«-Fragment eine Dramatik zwischen den Redetexten der Figuren. Ihre Reden sind den Puppen vorgegeben, deren Abfolge gründet daher stärker auf der reinen Text- denn auf einer Sinnebene, z. B. in der Wiederaufnahme eines Stich- oder Reimwortes, eines Bildes oder in der Fortführung eines Sprachtones, etwa der Verführung oder in Aneignung kleiner Ausschnitte von Rollen anderer Stücke, z. B. Oberons, Titanias und Bottoms (Zettels) aus dem Midsummer Night’s Dream. Eine weitere dramatische Spannung baut das Puppenspiel auf dem Feld der Redeformen zwischen Dialog und Monolog auf. Redetexte scheinen einander zu antworten, zeigen den Sprechenden aber in seinem zitierten literarischen Text oder in Redeweisen jenseits bewusster Zustände gefangen. So ziehen die Reden der Puppen oft ›windschief‹ aneinander vorbei, in einem Raum gespenstisch ›böser Träume‹ (ITA I, 336 und 347). Seine radikalste Ent-Literarisierung vollzieht das Stück durch seine ›Dramatik der Wörtlichkeit‹, d. h. den Vollzug von Worten im Absehen von aller übertragenen Bedeutung. Als Zur-Tat-Werden-von-Worten wird das Wollust und Grausamkeit vereinende Herzstück der neuen Aneignung der Blaubart-Mythe, die »Blutbrautnacht« (ITA I, 335) präsentiert. Auf das literarische Vorbild tödlicher Wörtlichkeit, d. h. auf Kleists Penthesilea wird verwiesen, wenn eine Nebenfigur davon spricht, dass in der »Blutbrautnacht« das »Namenlose« vollbracht werde (ITA I, 335 f.). Bei Kleist befürchtet Prothoe, Achill werde eben dieses an der besiegten Penthesilea vollstrecken, d. h. sie bis zur Auflösung aller Gestalt zerfleischen. Zuletzt wird dies allerdings sie an ihm vollziehen und hierzu erklären, dass sie die metaphorische Rede mancher Liebenden, die »am Hals des Freundes« hängt, »[d]aß sie vor Liebe gleich ihn essen könnte« (Kleist 1988–2010, I/5, 188), »wahrhaftig Wort für Wort getan« habe (V. 2998).

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Blaubart erklärt Elisabeth, dass seine ›keusche Liebe‹ doch beinhalte, ihren ›Hals zu schlitzen‹ und ihr Geschlecht zu essen. Weiter vertraut er Elisabeth seine Verkehrung Gottes an. Habe dieser den Tod erlitten zur Erlösung der Menschen von den Sünden ihres triebhaften Handelns, so gebe der Teufel, d. h. er als dieser, zur Wollust den Tod. Auch das ist ein literarisches Wort, das ›Wort für Wort‹ vollzogen wird. Büchners Robespierre eignet sich die ihn verteufelnde Titulierung als eines »Blutmessias, der opfert und nicht geopfert wird« mit den Worten an: »Er [Christus] hat sie mit seinem Blut erlöst und ich erlöse sie mit ihrem eignen« (Büchner 1995, 90). Die »Tiefe« wiederum, in die Blaubart Elisabeth zerrt, ist die biblisch-literarische Tiefe des Psalms 130, den Luther in das Kirchenlied »Aus tiefer Not schrei ich zu Dir, Herr Gott erhör mein Rufen« umgeschrieben hat. In verkehrender Aneignung dieses Liedes taucht Blaubart nach seinem Mord an Elisabeth blutverschmiert aus der Tiefe auf und antwortet auf Elisabeths Ruf nach Rettung mit »Gott«, um daraufhin »wie niedergemäht vor einem Crucifix« niederzusinken (ITA I, 351).

Das »Kermor«-Fragment als Dramatik der Seele Dramatik ist im »Blaubart«-Fragment auf dem Feld von Texten situiert. Gleichwohl ist sie dem Ziel der Re-Theatralisierung des Theaters verpflichtet, da die Texte Maschinenmenschen oder Puppen zugeordnet, d. h. nicht auf eine Verkörperung durch Schauspieler ausgerichtet sind, die sie mit ihrer Innenwelt beleben würden. Eine wieder andere Situierung des Dramatischen zeigt das »Kermor«-Dramenfragment. Die vielen Selbstzitate, die Trakl hier vornimmt, gehen über eine bloße Auswahl aus dem Thesaurus der Lexeme und Bilder seiner Poesie hinaus, verweisen vielmehr auf Wortfügungen, Bildvorstellungen und Motive der Prosadichtungen »Traum und Umnachtung« (aus Sebastian im Traum) und »Offenbarung und Untergang«. Die zitierten Wortfügungen und Sätze sind jetzt aber

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nicht wie im Prätext auf eine einzelne Sprechinstanz bezogen, sondern verschiedenen Sprechern zugeordnet, werden damit von der übergeordneten Sprechinstanz des Fragments weggerückt und damit gegen-ständlicher. Die Sprechtexte begründen keinen kohärenten Handlungs- und Argumentationszusammenhang, eher eine gemeinsame Atmosphäre von Wahnsinn, verfluchtem Geschick, Tod und Untergang. Da die Reden der Figuren allenfalls vage auf eine außertextuelle Wirklichkeit verweisen, gewinnen sie gestische, damit stärker theatralische Qualität: Der Ton des Gesagten wird bedeutsam wie dessen Art, etwa als Klage, Anruf oder Verkündigung. In beiden Fassungen treten die Figuren Pächter, Sohn Peter und Tochter Johanna auf, in der ersten Fassung weiter eine zweite Tochter Maria (als Erscheinung), ein Wanderer und ein Mörder, in der zweiter Fassung tritt an die Stelle der letzteren die Figur Kermor. Die Dramatik des Fragments ist in der Welt des Träumens situiert. In der ersten Fassung (in der ITA die Textstufen 2 H, 3 H und 4 H) verweisen die Sprechenden viermal auf Träume, in der zweiten (Textstufe 5 H) nur einmal, wozu noch die Regiebemerkung »Johanna (traumwandelnd)« (ITA IV.2, 190) hinzutritt. Kermor spricht allerdings vier seiner sieben Redetexte »im Schlaf« und zwei im Zwischenzustand zwischen Wachen und Schlafen, er spricht mithin wesentlich Traumgesichte aus. In seinem Auftrittstext kündigt er an, »in süßen Schlummer« (ITA IV.2, 188) einzubrechen, am Ende verflucht Johanna ihn, weil er in ihren Schlaf eingebrochen sei (vgl. ITA IV.2, 190). So weist dieses Einbrechen primär auf ihren Schlaf, zeigt aber auch einen liminalen Zustand Kermors an. In der ersten Fassung des Fragments wird von Träumen gesprochen, in der zweiten wird der Vorgang des Träumens entfaltet, wobei dessen ontologischer Status unklar ist: Kermor bricht, selbst in Schlaf versinkend, in Johannas Schlaf ein, für die während der gesamten Szene die Regieanweisung ›traumwandelnd‹ gilt. So wird er zu ihrem Traum. Hat sich sein Traum damit in eine zweite Traumwelt geöffnet, also potenziert? Oder träumt er bloß, geträumt zu wer-

16  Trakls Versuche im Drama

den? Offenbar sollen die Grenzen zwischen verschiedenen Ebenen des Träumens verwischt werden. Deutlich ist, dass die Reden der Figuren sich auf ihre Innenwelt beziehen. Auch die Zeit- und Ortsbestimmungen, die der Pächter für diese Reden gibt, weisen hierauf: »Unser Tagewerk ist getan. Die Sonne ist untergegangen« (ITA IV.2, 181), es herrscht also Nacht. Alsbald ist von »Wahnsinn« die Rede (HKA I, 455), so klingt in ›Nacht‹ auch ›Umnachtung‹ an. In der zweiten Fassung blickt der Wahnsinn Kermor aus den Augen seines ›Rappen‹ an (ITA IV.2, 188). Der Nacht/Umnachtung wird das Innere des Hauses zugeordnet (»Laß uns ins Haus gehen« [ITA IV.2, 161] bzw. »Furchtbarer Gott, der eingekehrt in mein Haus« [ITA IV.2, 177]), es ist die Welt der offenbar von einem Fluch verfolgten Familie und, mit den traumartigen Vorstellungen, die die Figuren zur Sprache bringen, deren Innenwelt. Das »Kermor«-Fragment entfaltet eine Dramatik der Seele. Im Unterschied zur ›subjektiven Dramatik‹ in der Tradition Strindbergs (vgl. Szondi 1963, 44) ist sie nicht durch einen Gestus des Aufdeckens von Verborgenem bestimmt und nicht in einer Figur perspektiviert. Alle Figuren sprechen vielmehr aus ihrer jeweiligen Innenwelt heraus, wobei die Reden um die gemeinsamen Vorstellungsfelder Traum, Untergang und Umnachtung kreisen. Die so zur Sprache gebrachte Seelendramatik mag durch Rauschmittel befördert und geprägt sein, worauf die Formulierung »Erwachen aus braunem Mohn!« anspielt (ITA IV.2, 190). HansGeorg Kemper liest das »Kermor«-Fragment als »[d]ramaturgische Exposition eines Rauschträumers« (Kemper 2014, 300) und leitet aus diesem und den beiden anderen Dramenfragmenten Trakls eine »Ästhetik des Rauschtraumgedichts« ab (ebd., 304–310). Besondere Beachtung verdient in diesem Horizont die »sekundäre Bearbeitung« (Freud 1999, II/III, 492–512) der mitgeteilten Gesichte, in der zweiten Fassung des Fragments etwa die markante Klammer, die die Szene zusammenhält: Versinken in und Erwachen aus dem Schlaf bei Kermor, dessen Einbrechen in den Schlaf der weiblichen

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Figur und Verflucht-Werden aus diesem Grund durch die weibliche Figur. In der zweiten Fassung des Fragments wird ein mit Schuld und Fluch behaftetes Geschehen zwischen dem ›Fremdling‹ Kermor und der zur Familie gehörenden Johanna angedeutet. Die traumhaften Reden des Pächters und seines Sohnes erweitern die Stimmungsgehalte dieses Geschehens ins Universale: »Fluch durch finstere Jahre«, »O vergebliche Hoffnung des Lebens; o das versteinerte Brot«, »steinigster Acker« (HKA I, 458 f.). Ein apokalyptischer Ton wird angeschlagen, ohne Verweis auf einen ›neuen Himmel‹ und eine ›neue Erde‹, den die biblische Apokalypse bereithält. Der Sohn spricht von »stürzende[n] Sterne[n]« sieht »Höllenfratzen und die flammenden Schwerter der Engel« (HKA I, 458 f.), Kermor beschwört in seiner letzten Rede mit »Verwesung und Dunkel« den Übergang in das Gestaltenlose. Wird er vom Vater als »furchtbarer Gott« apostrophiert, der zur Zeit der ›Ernte‹ (»geerntet ist das Korn, gekeltert die Traube«) »eingekehrt in mein Haus« (HKA I, 459), dem in der ersten Fassung Johannas Ausruf »Tier brach ins Haus mit keuchendem Rachen. Tod! Tod!« (HKA I, 456) korrespondiert, so gibt es gegen diese Bilder des Dunkels, der Verwesung, der »schwarzen Wolke«, auf die Johanna-Figur bezogen, die vage Andeutung einer Gegenstimme durch die Verbindung dieser Figur mit dem Bild des Dornbuschs. Zwar sind diesem die Attribute »schwarzer Dorn« und ›Blut‹ zugeordnet, aber zugleich wird die Schwester (in der zweiten Fassung) als in ihm singend vorgestellt: »O die Schwester singend im Dornenbusch« (HKA I, 459). »Der Engel des Herrn« erscheint Moses »in einer feurigen Flamme aus dem Dornbusch«, der im Feuer brennt und doch nicht verzehrt wird (Ex. 3,2). Aus ihm wird der Herr zu Moses sprechen, ihn zum Führer der Kinder Israels berufen, der diese aus der ägyptischen Knechtschaft in das Gelobte Land führen soll (vgl. Ex. 3,10). Das Dramenfragment fügt die aufgerufenen Wörter, Bilder und Motive zu einem polyphonen Klangraum und einer dichten Atmosphäre des Untergangs. Wie diese Szene zu

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einem mehraktigen Drama fortgebildet werden könnte, ist schwer vorstellbar. Conny Hannes Meyers Ansatz, die drei Dramenfragmente Trakls zu einer Montage zusammenzuführen, erscheint als ein möglicher Weg, diese Fragmente auf die Bühne zu bringen, wobei die jeweils eigene Wortmusik der drei Fragmente akzentuiert werden könnte und sollte, sodass diese sich darböten als drei ›Sätze‹ eines Wortmusikstücks, vielleicht im Wechselspiel von Gesangsund Sprechrollen.

Literatur Baßler, Moritz: Wie Trakls »Verwandlung« gemacht ist. In: Hans-Georg Kemper (Hg.): Interpretationen. Gedichte von Georg Trakl. Stuttgart 1999, 123–141. Bayerdörfer, Hans-Peter: Der totgesagte Dialog und das monodramatische Experiment. In: Erika FischerLichte (Hg.): TheaterAvantgarde. Wahrnehmung – Körper – Sprache. Tübingen/Basel 1995, 242–290. Büchner, Georg: Dantons Tod. In: Ders.: Werke und Briefe. Münchner Ausgabe. Hg. von Karl Pörnbacher u. a. München 51995, 67–133. Craig, Edward Gordon: Der Schauspieler und die ÜberMarionette [1907]. In: Ders.: Über die Kunst des Theaters. Berlin 1970, 51–73 Fischer-Lichte, Erika: Geschichte des Dramas. Bd. 2: Von der Romantik bis zur Gegenwart. Tübingen 1990.

B. Greiner Freud, Sigmund: Gesammelte Werke. Hg. von Anna Freud, Ewald Bibring, Willy Hoffer und Lilla VeszyWagner. Frankfurt a. M. 1999. Kandinsky, Wassily: Über das Geistige in der Kunst. München 1912. Kemper, Hans-Georg: Droge Trakl. Rauschträume und Poesie. Salzburg/Wien 2014. Kemper, Hans-Georg: Nachwort. In: Georg Trakl: Werke - Entwürfe - Briefe. Hg. von Hans-Georg Kemper und Frank Rainer Max. Stuttgart 1984, 269–320. Kemper, Hans-Georg: »Und dennoch sagt der viel, der ›Trakl‹ sagt«. Zur magischen Verwandlung von sprachlichem ›Un-Sinn‹ in Traklschen ›Tief-Sinn‹. In: Károly Csúri (Hg.): Georg Trakl und die literarische Moderne. Tübingen 2009, 1–30. Kleist, Heinrich von: Sämtliche Werke. Brandenburger Ausgabe. Hg. von Roland Reuß, Peter Staengle und Ingeborg Harms. Frankfurt a.M./Basel 1988–2010. Maeterlinck, Maurice: Die Tragik des Alltags. In: Ders.: Der Schatz der Armen. Übers. von Friedrich von Oppeln-Bronikowski. Florenz 1898, 69–77. Marc, Franz: Aufzeichnungen auf Blättern in Quart ohne Titel über das Tierbild und über ›Das Groteske‹ [Winter 1911/12]. In: Ders.: Schriften. Hg. von Klaus Lankheit. Köln 1978, 99–100. Meyer, Conny Hannes: o. T. In: Adrien Finck/Hans Weichselbaum (Hg.): Antworten auf Georg Trakl. Salzburg 1992, 84f. Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München 1999. Szondi, Peter: Theorie des modernen Dramas. Frankfurt a. M. 1963.

Teil VI

Werk: Dramatisches II – Überlieferte dramatische Arbeiten

»Don Juans Tod« (1908)

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Clemens Özelt

Bei dem Fragment »Don Juans Tod« handelt es sich um den ältesten erhalten gebliebenen Dramentext Georg Trakls. Die 1906 in Salzburg aufgeführten Einakter Totentag und Fata Morgana wurden vom Autor vollständig vernichtet. Das Manuskript von »Don Juans Tod« hat Trakl nach Auskunft seines Mitschülers Franz Bruckbauer, der auch Mitglied im Dichterkreis »Minerva« war, verbrannt (ITA I, 128). Bruckbauers Erinnerung hält Ilse Demmer in ihrer Dissertation aus dem Jahr 1933 fest, die nicht nur für die Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte eine zentrale Quelle ist, sondern auch für die Textüberlieferung. Von der dreiaktigen Tragödie sind zwei Handschriften Trakls von Szenen aus dem dritten Akt sowie eine von Demmer angefertigte Teilabschrift des Prologs erhalten. Die Herausgeber der ITA datieren die Texte auf das Jahr 1908. Aufgrund der Überlieferungslage ist eine Rekonstruktion der Handlungsstruktur nicht möglich, gleichwohl zeigen die erhaltenen Szenen gemeinsame Strukturierungsmomente. Der lückenhafte Prolog eröffnet einen Raum der Gegensätze. Diese Oppositionen konfrontieren einfache Bewegungsrichtungen (»dahin-

C. Özelt (*)  Deutsches Seminar, Universität Zürich, Zürich, Schweiz E-Mail: [email protected]

sank, auferstanden«) und komplexe Sphären wie »Götterwelt« und das »Erdendasein[]«, die sich mit psychischen und existenziellen Zuständen verbinden (»Leben« / »Tod«, »eisigen Gipfeln« / »heisser Wahnsinn«, »Träume« / »Tat« [HKA I, 154 f., resp. ITA I, 150]). Diese Struktur korrespondiert mit der Anrede im Prolog. Eine nicht näher fassbare Sprechinstanz wendet sich an ein namenloses Du und präfiguriert so den »Zwiespalt deines Wesens« (ITA I, 150, V. 12), der als wesentliches Merkmal des Protagonisten eingeführt wird. Diese Figurenzeichnung setzen weitere antithetische Attribute fort: Der Angeredete ist »überwundner Sieger« (V. 14) sowie ein »Fremdgeborener und ein Qualbestimmter« (V. 13), wodurch der metadramatische Prolog auch einen Bogen vom Anfang zum Ende der Figur schlägt. Die Szenen aus dem dritten Akt setzen sich aus einem Dialog zwischen Don Juans Diener Catalinon und dem Hausverwalter Fiorello sowie einem Monolog Don Juans zusammen, der in zwei Fassungen überliefert ist. Die Diener-Szene eröffnet Catalinon »vor sich hinmurmelnd« (ITA I, 146); er reagiert auf ein Geräusch, das die Ankunft Fiorellos ankündigt. Die murmelnde Rede positioniert sich an der Grenze zwischen Denken und Sprechen, Monolog und Dialog und führt so den liminalen Handlungsort, Don Juans Schloss, ein: »Gib acht! Hier ist die Hölle – sagt’ ich Hölle? / Vielleicht des Himmels Eingang auch. Wer weiß! / Dem U ­ nfassbaren

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_17

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hascht das träge Wort / Vergeblich nach, das nur in dunklem Schweigen / An unsres Geistes letzte Grenzen rührte« (ITA I, 146, V. 7–11). Die Exposition des Schauplatzes schließt an die transzendente Rahmung des Prologs an und verbindet sich hier mit einer poetologischen Reflexion, die an die Grenzen der Sprache führt. Aus diesem Grund zählen die Verse zu den meistzitierten des Dramenfragments. Sie wurden auch wiederholt als Beleg dafür herangezogen, dass Trakl das Epochenphänomen der Sprachkrise mitgestaltet (vgl. Williams 1993, 140–171). In der Handlungslogik der ersten Fassung bereitet das Gespräch, das Fiorellos Ausruf »O namenloser Frevel!« (ITA I, 146, V. 28) bündelt, auf Don Juans Auftritt und seine Tat vor. In der zweiten Fassung sollte dagegen das (nicht mehr ausgeführte) Gespräch der Diener auf Don Juans Monolog folgen. Die »finstere Tat« (ITA I, 150, V. 12), die bereits der Prolog klanglich – in der möglicherweise ersten Abweichung vom Blankversschema – als Grenzüberschreitung ankündigt, konkretisieren beide Fassungen im Nebentext: »Don Juan erscheint in der Thür zur rechten Seite, durch die man in einem fahl erleuchteten Zimmer die Leiche der Donna Anna auf einem Ruhebett liegen sieht« (ITA I, 147, V. 52 f.). Die textstrukturierenden Gegensätze machen sich im Kontrast von Vorder- und Hinterbühne, Täter und Opfer, Leben und Tod bemerkbar. In dieser gespannten Atmosphäre klagt der Protagonist, dass die soeben erlebten »Wonneschauer« nun von »übermenschlichen Gesichten« (ITA I, 147, V. 59) überdeckt werden. Durch die Ekstase gerät Don Juan über sich, die alltägliche Wahrnehmung und das menschliche Leben hinaus. Seinen einleitenden Ausruf »Weg, schreckliches Gesicht!« (V. 55), wieder an der Grenze zwischen Monolog und Dialog, hat Eberhard Sauermann als mögliches Zitat aus Goethes Faust identifiziert. Faust spricht so die übermenschliche Gestalt des Erdgeists an, die ihn mit seiner irdischen Beschränktheit konfrontiert und dem Selbstmord nahebringt. Wie Faust überwindet auch Don Juan diese Schockerfahrung, indem er sich hörend der Außenwelt zuwendet. Die berühmten Verse

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»O tönet fort ihr süßen Himmelslieder! / Die Träne quillt, die Erde hat mich wieder!« (Goethe 1985 ff., I/7.1, 46) klingen bei Trakl am Ende der Szene als Versatzstücke nach: »Die Erde hält mich«, »Und tönend braut’s herein«, »bin wieder Welt« (ITA I, 148, V. 80, 83, 86). »Don Juans Tod« bestätigt intertextuell Friedrich Hebbels Diktum, »jeder Don Juan endet als Faust« (Hebbel 2017, I, 793), und setzt eine für das 19. Jahrhundert typische Engführung der beiden Figuren fort, die in Christian Dietrich Grabbes Don Juan und Faust ihren prominentesten Ausdruck gefunden hat. Das Drama zählt überdies zu den wenigen bekannten Stoffbearbeitungen, in denen Donna Anna stirbt. Die Suche nach möglichen Hypotexten hat in der Trakl-Forschung bislang zu wenig stichhaltigen Ergebnissen geführt. Der Name der Dienerfigur, die nicht Sganarelle oder Leporello, sondern Catalinon heißt, weist darauf hin, dass der Text nicht primär in der wirkmächtigen Tradition von Molières Dom Juan oder Wolfgang Amadeus Mozarts und Lorenzo Da Pontes Don Giovanni steht, sondern in der des Barockdramas El burlador de Sevilla von Tirso de Molina. Dafür sprechen auch Trakls rhetorische Rahmungen und der Umstand, dass er die Tendenzen einer aufklärerischen und romantischen Aufwertung der Don-Juan-Figur (vgl. Genette 1993, 474–476) nicht fortführt. In Nikolaus Lenaus Fragment gebliebenem Don Juan. Dramatische Szenen, dessen Einfluss auf Trakl man am häufigsten vermutet hat, taucht der Name Catalinon wieder auf. Johann Adam Stupp hat einen Monolog, in dem Lenaus Don Juan letale Vereinigungsphantasien mit Donna Anna entwickelt, als Vorlage für »Don Juans Tod« zu identifizieren versucht (vgl. Stupp 1968/69, 34 f.). Von der letztlich romantischen Fantasie eines gewaltsamen Liebestods bleibt bei Trakl aber nur der Zusammenhang von Sexualität und Brutalität. Der Hausverwalter Fiorello führt überhaupt von der Don-Juan-Tradition weg. Die bekannteste Dienerfigur dieses Namens stammt aus einem anderen in Sevilla spielenden Drama, nämlich aus Gioachino Rossinis und Cesare Sterbinis Oper Il barbiere di Siviglia.

17  »Don Juans Tod« (1908)

Mehr Berührungspunkte als mit einem Text der Stofftradition weist »Don Juans Tod« mit einem Drama auf, das Trakl zu Beginn des vermuteten Entstehungsjahres rezensiert hat: mit Monna Violanta von Gustav Streicher, dem wichtigsten Förderer der Salzburger Schaffenszeit. Trakls Besprechung einer Lesung des Stücks erschien am 16.2.1908 im Salzburger Volksblatt und stellt die aussagekräftigste dramenpoetische Äußerung des Autors dar. Monna Violanta wurde erst zwei Jahre später zusammen mit dem Versspiel Hofnarr und Fürst unter dem Titel Die Macht der Toten im Halkyone-Verlag publiziert. Das Stück ist wie »Don Juans Tod« ein Blankversdrama, das von einem Prolog eröffnet wird, und es handelt von den sexuellen Traumata der Hauptfigur, die die titelgebende Macht eines Toten vor Augen führen. Über die dramatische Dämonenbeschwörung schreibt Trakl beeindruckt, »man glaubt das Gespenst des Toten zu sehen« (ITA I, 111). Streichers Stück weist dabei dieselbe Dynamik wie Don Juans Monolog auf. Aus der Vertreibung der Gespenster schöpft die Titelfigur neue Lebenskraft, wie bereits die Allegorie des Todes im Prolog ankündigt: »So dringt, was tot, für Menschen tot geworden, / Wie Frühlingssäfte in das Mark des Lebens« (Streicher 1910, 10). Was Trakls Dramenfragment und seine Rezension von Streichers Stück zudem begrifflich verbindet, ist das auf Friedrich Nietzsche zurückgehende Schlagwort des Dionysischen. Das Finale von Monna Violanta nennt Trakl einen »dionysischen Gesang der Lebensfreudigkeit« (ITA I, 111), der Prolog von »Don Juans Tod« enthält das Textbruchstück »dionysisch Antlitz« (ITA I, 150, V. 2). Der Begriff zielt auf klangästhetische wie gattungspoetische Gestaltungsaspekte und führt auf eine textbestimmende Ambivalenz hin: auf die »Mischung von Wollust und Grausamkeit« (Nietzsche 1999, I, 32), die ein wesentliches Merkmal des Dionysischen ist. Der Vergleich von Trakl und Streicher erhellt ferner die Stellung der Texte im Kontext der Modernisierung des Dramas. Schon die Re-

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zensionen der beiden vernichteten Einakter Totentag und Fata Morgana halten die Handlungsarmut von Trakls Dramen sowie den Einfluss von Henrik Ibsen, insbesondere der Gespenster, und von Maurice Maeterlinck fest. Im Sinne Peter Szondis könnte man von zwei Krisenmodellen der traditionellen Dramatik sprechen, bei denen die Handlung als gegenwärtiges Geschehen von der Vergangenheit und vom Tod ausgehöhlt wird (vgl. Szondi 1999, 22–31 und 57–62). Der Ausdruck ›Gespenst des Toten‹ bündelt gewissermaßen diese Traditionslinien. Trakl nennt Monna Violanta überdies eine »Seelentragödie[], […] deren Handlung man nicht erzählen sollte, weil soviel dabei verloren geht« (ITA I, 110). »Don Juans Tod« ist eine genauso handlungsarme Seelentragödie, die die Konflikte der Hauptfigur über die ambigen Sprechmodi, die Figurenkonstellationen und die transgressiven Wortkulissen entfaltet. Diese Stellung entspricht auch den bisherigen Versuchen, »Don Juans Tod« diskursiv in die Stoffgeschichte einzuordnen. Beatrix Müller-Kampel betrachtet in ihren Arbeiten Trakls Drama als symptomatisch für ein im 19. Jahrhundert einsetzendes Misstrauen, das dem vitalen, geradezu omnipotenten Männlichkeitsbild der Tradition entgegengebracht wird. Don Juan kämpfe deshalb zur Jahrhundertwende »immer seltener mit äußeren Feinden wie gehörnten Ehemännern oder beleidigten Vätern und immer stärker gegen die eigene donjuaneske ›Natur‹ an« (Müller-Kampel 1999, 20). In Jürgen Wertheimers Studie Don Juan und Blaubart ist Trakl ein Kronzeuge für die These, dass Don Juan im Laufe des 19. Jahrhunderts von Blaubart als dem nun wichtigsten erotischen Serientäter abgelöst wird. Das listenreiche, aber stets improvisierte Vorgehen der Figur weiche der mörderischen Systematik Blaubarts, die auf der Grundlage von »Besitzsucht, Omnipotenzwahn und Pseudoästhetizismus« (Wertheimer 1999, 12) die patriarchale Macht aufrechtzuerhalten versucht. Die zahlreichen psychoanalytischen Deutungen der Don-Juan- wie der Blaubart-Figur haben in der Trakl-Forschung ferner ihren Niederschlag gefunden. Gunther Kleefeld beschreibt

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den zentralen Konflikt Don Juans als »Konflikt zwischen Ich und Es« (Kleefeld 1985, 276). In einer Motivanalyse kommt er zu dem Schluss, dass der »phantasierte, symbolisch inszenierte Gewaltakt inzestuöser Natur« (ebd., 254) sei. Die These ist insofern charakteristisch für die Deutungsgeschichte, als man bei der weiterführenden Interpretation des bruchstückhaft erhaltenen Texts noch häufiger auf biographische Erklärungsmuster zurückgegriffen hat. HansGeorg Kempers Lektüre des Dramas verbindet in ähnlicher Weise kulturhistorische und biographische Kontexte. Das Sprechen Don Juans sei nicht allein auf die theoretischen Überlegungen Nietzsches zurückzuführen, sondern »[d]ie ›Verrückung‹ der Sinne, Wahrnehmungen und Empfindungen der Figur spiegeln den Realitätsverlust des Drogenträumers« (Kemper 2014, 297). In der Forschungsgeschichte lässt sich ganz allgemein beobachten, dass die anfängliche Nichtbeachtung und Geringschätzung (Stupp 1968/69, 37) einem zunehmenden Interesse an einzelnen Formulierungen und Textabschnitten gewichen ist. Insgesamt hat die Überlieferungslage aber zu interpretatorischer Zurückhaltung geführt.

C. Özelt

Literatur Genette, Gérard: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt a. M. 1993 (frz. 1982). Goethe, Johann Wolfgang von: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. Hg. von Dieter Borchmeyer. Frankfurt a. M. 1985 ff. Hebbel, Friedrich: Tagebücher. Neue historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Monika Ritzer. Berlin/Boston 2017. Kemper, Hans-Georg: Droge Trakl. Rauschträume und Poesie. Salzburg 2014. Kleefeld, Gunther: Das Gedicht als Sühne. Georg Trakls Dichtung und Krankheit. Eine psychoanalytische Studie. Tübingen 1985. Müller-Kampel, Beatrix (Hg.): Mythos Don Juan. Zur Entwicklung eines männlichen Konzepts. Leipzig 1999. Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München 1999. Streicher, Gustav: Die Macht der Toten. Monna Violanta. Hofnarr und Fürst. Zwei Versspiele. Salzburg 1910. Stupp, Johann Adam: Beobachtungen zu Georg Trakls Fragment »Don Juans Tod«. In: Südostdeutsche Semesterblätter 22 (1968/69), 32–37. Szondi, Peter: Theorie des modernen Dramas [1956]. Frankfurt a. M. 231999. Wertheimer, Jürgen: Don Juan und Blaubart. Erotische Serientäter in der Literatur. München 1999. Williams, Eric: The Mirror & the Word. Modernism, Literary Theory, & Georg Trakl. Lincoln 1993.

»Blaubart« (1910)

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Clemens Özelt

»Blaubart« ist das geschlossenste Dramenfragment Georg Trakls, das trotz seines geringen Umfangs mehrfach aufgeführt wurde. Besondere Beachtung erfuhren die Wiener Inszenierungen von Conny Hannes Meyer 1964 im Theater am Börseplatz und von Cesare Lievi 1991 im Burgtheater. Das erhaltene Manuskript ist auf den 5. und 6. Februar 1910 datiert und weist zahlreiche Überarbeitungen auf. Die Herausgeber der ITA gehen davon aus, dass das Drama »wsch. unvollendet« (ITA I, 295) geblieben ist. Es greift wie »Don Juans Tod« einen bekannten Stoff der Weltliteratur auf und schließt auch strukturell bei seinem Vorgänger an: »Blaubart« beginnt mit einem Prolog, die Exposition erfolgt in einem Dienergespräch und im Mittelpunkt steht ein erotischer Serientäter, der am Ende eine Frau ermordet. Der Dialog zwischen Herbert und dem Alten führt teichoskopisch in die Welt des Verbrechens ein. Die beiden Untergebenen stehen am Fenster von Blaubarts Schloss, beobachten seinen Hochzeitszug und erwarten den nächsten Mord. Das Transgressive der Situation wird betont (»Tod vor der Schwelle« [ITA I, 337, V. 54; im Folgenden wird das Stück nur mit Verszählung zitiert,

C. Özelt (*)  Deutsches Seminar, Universität Zürich, Zürich, Schweiz E-Mail: [email protected]

die sich nach der Fassung in ITA I, 334–350 richtet]) und mit Unsagbarkeitstopoi (»Namenlose«, V. 37) belegt. Im Unterschied zu »Don Juans Tod« weisen die Diener die außerordentliche Tat als Teil einer wiederkehrenden Ritualhandlung aus (vgl. Neubauer-Petzoldt 2015, 145–155), für die der Begriff der »Blutbrautnacht« (V. 25) geprägt wird. Das aus drei Substantiven zusammengesetzte Kompositum mit seinen Lautwiederholungen am Anfang (b), in der Mitte (a, u) und am Ende (t) ist selbst Ausdruck des Seriellen, und auch der Name Blaubart geht phonetisch bezeichnenderweise darin auf. Durch die Bindung an Zyklen wie die Tagesund Jahreszeiten (Nacht, Frühling) nimmt das Geschehen Züge eines naturhaft sich vollziehenden Übergangsprozesses an. Der Alte und der Junge stehen ihm schockiert, aber hilflos gegenüber. Im ersten Entwurf plant Herbert eine vergebliche Mobilisierung der Dorfgemeinschaft, die Trakl aber wieder gestrichen hat. Der Alte bittet Blaubart um Gnade, der ihn mit den Worten »Du redest irr! Geh altes Kind!« (V. 96) zurückweist. Die physischen wie psychischen Verhältnisse, die Blaubart auf den Kopf stellt und ins Oxymoron bannt, zeigen eine verkehrte Welt. Die Sprache dient ihm der Manipulation und der Herrschaftsausübung: im sozialen Umgang wie bei der sexuellen Überwältigung. Blaubart versucht im Anschluss Elisabeth, ein fünfzehnjähriges Mädchen, mit ver-

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_18

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schiedenen verbalen und nonverbalen Rauschmitteln gefügig zu machen. Nachdem er einige Verse flüstert, ist die bis dahin verängstigte Elisabeth plötzlich »wie verzaubert« (V. 186). Sie entbrennt in Feuermetaphern vor sexuellem Verlangen, artikuliert exhibitionistische, masochistische und anthropophage Wunschphantasien, die bis zur Tötung reichen. Blaubarts Aufforderung »trink Wein!« (V. 107) beantwortet Elisabeth im Rausch mit »trink’ meine Glut / Bist du nicht durstig nach meinem Blut« (V. 165 f.). Auf den Vorgang der Transsubstantiation anspielend, verschwimmen sexuelle und religiöse Ekstase. Blaubart deutet später sein sexuelles Verlangen auch zur religiösen Opferung um: »Doch soll ich dich Kindlein ganz besitzen – / Muß ich, Gott will’s den Hals dir schlitzen!« (V. 229 f.). Das letzte Wort des Dramas spitzt die religiöse Dimension zu. Blaubart schreit zweimal »Gott!« (V. 251, 255) und antwortet damit Elisabeths Hilferuf: »Neigt niemand sich meiner grausen Not?« (V. 249). Der unreine Reim rekurriert auf Herberts anfängliches Stoßgebet »Gütiger Gott! / Hilf den Sündern aus ihrer Höllennot!« (V. 15 f.) und schließt so den Teufelskreislauf der Handlung. Der finale Ausruf wurde in der Forschung sehr unterschiedlich gedeutet: als Vollendung von Blaubarts idiosynkratischem Gottesdienst (vgl. Neubauer-Petzoldt 2015, 147), als Ausdruck seiner bipolaren Persönlichkeit (vgl. Kleefeld 1985, 152 f.) oder als blasphemische Verhöhnung des Opfers (vgl. Trakl 1949, 122). Der mit »Vorausnahme« überschriebene Prolog des Stücks weist noch über das Ende hinaus: »Beklagst du, Gerechter dies wirre Bild, / Das von Gelächter und Irrsinn zerwühlt / Glaub’ mir, bis wir uns wiedersehn / Wird mein Helde auf sittsameren Wegen gehn! / Amen!« (V. 1–6). Die captatio benevolentiae, die die Darstellungsform vor einer Gerechtigkeitsinstanz zu rechtfertigen versucht, erfolgt über den Ausblick in eine Zukunft, die der geschlossene Handlungsablauf des Tötungsrituals nicht motiviert. Der Bruch macht die unbestimmte Hoffnung zur Rezeptionshaltung. Die Akklamationsformel am Ende führt die diegetischen Sprünge vom Verfasser und dem Adressaten über den Protagonisten zu Gott

C. Özelt

und taucht die Gerechtigkeitsinstanz in ein religiöses Licht. Das abgesetzte »Amen« legt selbst einen Perspektivwechsel nahe und lässt an eine Kirchengemeinde denken, die hier respondiert. Spricht man die Formel hebräisch, griechisch oder lateinisch aus, ohne deutsche Erstbetonung und Schwa-Laut, reimt sich zudem »gehn« auf »Amen« und klingt harmonisch einer möglichen Heilszukunft entgegen. Im ersten Entwurf war die Vorausnahme noch mit »Zueignung« überschrieben, was man als Anspielung auf Goethes Faust verstanden hat. Die Knittelverse und Elisabeths Ausruf »Heinrich« (V. 177), der im Drama nicht weiter erklärt wird, deuten ferner auf diesen Intertext hin. Auch die Gattungsbezeichnung Puppenspiel ließe sich als entsprechender Fingerzeig verstehen – wenig plausibel ist dagegen, dass der Text für das Marionettentheater von Anton Aicher gedacht war, das 1913 seinen Betrieb aufgenommen hat (vgl. Fischer 1958, 156). Von Hans-Georg Kemper wurde die Angabe ›Puppenspiel‹ eine »Verfremdungshilfe« genannt, die sonst »keine weitere Unterstützung« (Kemper 2014, 298) im Text erfährt. Sie ist auch erst im Zuge der Überarbeitung an die Stelle von ›Tragödie‹ getreten. Die Zueignungen in Faust und »Blaubart« weisen keine Überschneidungen auf, vielmehr steht eine biographisch grundierte Rückschau dem religiösen Ausblick entgegen. In dieser Hinsicht ist eine Anspielung auf Herbert Eulenbergs zeitgenössisches Stück Ritter Blaubart naheliegender, dem eine »Warnung und Zueignung« vorangestellt ist. Dieser Prolog kündigt »rätselvolle Bilder« an – ähnlich dem ›wirren Bild‹ bei Trakl –, die aber nicht mit einer Rechtfertigung einhergehen, sondern mit der Distanzierung vom apollinischen Publikum: »Lest, hört dies nicht! Euch kann, will ich nichts geben. / Lebt mit Vernunft und Anstand ab das Leben!« (Eulenberg 1905, [o. S.]). Als strukturelle Gemeinsamkeit hat Monika Szczepaniak festgehalten, dass es in beiden Texten gegenüber den Stoffbearbeitungen des 19. Jahrhunderts zu einer deutlichen Sexualisierung der Sprache kommt (vgl. Szczepaniak 2005, 248–252).

18  »Blaubart« (1910)

Die Suche nach Hypotexten ist in der TraklForschung ergebnisarm geblieben. Am häufigsten wurde Maurice Maeterlincks Ariane et Barbe-Bleue angeführt. So plausibel der Einfluss des Autors auf Trakl ist, so wenig spricht für das Stück als Vorlage. Maeterlinck gestaltet in seinem Drama die Stofftradition tiefgreifend um. Die im Titel mitgenannte Ariane organisiert einen Aufstand gegen Blaubart und befreit dessen frühere Frauen, die nicht getötet, sondern gefangen genommen wurden. Das Agens der zentralen Frauenfigur und die Blutrünstigkeit der Handlung stehen einander geradezu diametral gegenüber. Die Stellen, die man bislang als mögliche Zitate identifiziert hat (ITA I, 296), sind zu unspezifisch, um sie von anderen Texten der Stofftradition (Perrault, Grimm) abzugrenzen. Aber man kann Anknüpfungspunkte zu einem zeitgenössischen Drama feststellen, mit dem sich Trakl im Vorfeld der Arbeit journalistisch auseinandergesetzt hat: zu Oscar Wildes Salome, das am 3. März 1906 im Salzburger Stadttheater aufgeführt wurde und das Trakl am Vortag in der Salzburger Zeitung angekündigt hatte. Salome ist zur Jahrhundertwende vermutlich das bekannteste Stück einer Übersprungshandlung, in der sich sexuelles Begehren in einen Tötungswunsch umkehrt. Trakl meint in seinem Artikel, Salome werde von einem »Blutrausch« (ITA I, 54) befallen, der auch in »Blaubart« den dramatischen Höhepunkt bildet. Die Motivgestaltung der beiden Texte (Wein, Mond, Taube, Lilie etc.) weist auffällige Parallelen auf, zudem ist der sprachliche Einfluss bis in einzelne Formulierungen hinein greifbar. Wenn bei Trakl der Mond »[w]ie eine besoffene Dirne stiert« (V. 103), so ist er bei Wilde in der Übersetzung von Hedwig Lachmann ein »betrunkenes Weib« und ein »wahnsinniges Weib, das überall nach Buhlen sucht« (Wilde 1903, 34 f.). Jochanaan weist Salome auf den »Flügelschlag des Todesengels« (ebd., 31) hin, Blaubart Elisabeth auf »des Todes Asrael Flügelschlag« (V. 218). Für die diskurshistorische Verortung des Dramenfragments ist der Zauberspruch, der Elisabeth in Ekstase versetzt, aufschlussreich.

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Blaubart flüstert zunächst: »Ist’s ein Affe, oder ist’s ein Stier / Ein Wolf oder ander reißend Getier / Hei lustig geschnäbelt zur Nacht – / Bis zweie nur mehr eines macht!« (V. 180– 183) und fügt den Vers »Und das ist drei!« (V. 184) an. Am Ende des Stücks wiederholt Blaubart den Vierzeiler, ersetzt aber den letzten Vers durch: »Und eins ist der Tod!« (V. 247). Richard Detsch hat die Rätselverse als Zitat aus Otto Weiningers Geschlecht und Charakter identifiziert (vgl. Detsch 1981, 169). Im Abschnitt »Das Weib und die Menschheit« bezieht Weininger seine sexual- und frauenfeindlichen Argumente auf eine Weissagung Jesu an die Jüngerin Salome: »so lang werde der Tod währen, als die Weiber gebären, und […] als bis aus zweien eins, aus Mann und Weib ein drittes Selbes, weder Mann noch Weib, werde geworden sein« (Weininger 1904, 468). Die Wiederholung in Trakls Text lässt das Geschehen als Versuchsanordnung Blaubarts erscheinen. Die Utopie einer höheren Vereinigung gelingt nicht, daher bahnt sich der Tod umso brutaler seinen Weg. Der erste Teil von Blaubarts Beschwörungsformel ist gleichfalls ein Zitat. In William Shakespeares A Midsummer Night’s Dream verabreicht der eifersüchtige Oberon seiner Gattin Titania einen Liebestrank mit den Worten: »The next thing then she waking looks upon – / Be it on lion, bear, or wolf, or bull, / On meddling monkey or on busy ape – / She shall pursue it with the soul of love« (Shakespeare 2016, 1060). Blaubart zitiert in umgekehrter Reihenfolge die genannten Tiere, betont dadurch das Animalische der Sexualität und weist eine pathologische Eifersucht als Triebfeder seines Verhaltens aus. Die Figur spricht also zugleich mit den Stimmen von Oberon, Jesus und Weininger und verschränkt mehrdeutig literarische, religiöse und philosophische Intertexte im Modus des dramatischen Zauberspruchs. Die bisherigen Interpretationen des Stücks halten überwiegend die Nähe zu »Don Juans Tod« fest und verlaufen in ähnlichen Bahnen. Die Superlative in den Analysen zeigen, dass vor allem die Übersteigung neue Akzente setzt. Peter von Matt betrachtet »Blaubart« als die »deutlichste, expliziteste Verdichtung genita-

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ler Sexualität in Trakls Werk« (von Matt 1982, 66), für Gunther Kleefeld ist der »sadistische Wunsch auf eine allmächtige Kontrolle« (Kleefeld 1985, 137) bestimmend und Jürgen Wertheimer spricht von »Extremismus im Binnenraum der christlichen Ehe« (Wertheimer 1999, 152). Das Thema der Ehe, als gesellschaftlich legitimierter Ort der Sexualität, hat die Lektüren um institutionenkritische und ritualtheoretische Zugänge erweitert (vgl. NeubauerPetzoldt 2015, 147). Eine politisch-historische Deutung ist interessanterweise der praktischen Theaterarbeit im Nachkriegsberlin erwachsen. Das kaum bekannte Drama schien Ernst Schröder für einen Neuanfang im Schauspielunterricht besonders geeignet – die Blutbrautnacht wurde »zur bösen Chiffre einer von uns allen durchlittenen Zeit« (Schröder 1966, 45) und der Prolog zum »allgemein gültigen Versprechen« (ebd., 35).

Literatur Detsch, Richard: Die Beziehungen zwischen Carl Dallago und Georg Trakl. In: Walter Methlagl/Eberhard Sauermann/Sigurd Paul Scheichl (Hg.): Untersuchungen zum »Brenner«. Salzburg 1981, 158–176.

C. Özelt Eulenberg, Herbert: Ritter Blaubart. Ein Märchenstück in fünf Aufzügen. Berlin 1905. Fischer, Johann Friedrich: Die Trakl-Handschriften im Salzburger Museum Carolino Augusteum. In: SMCA Jahresschrift 4 (1958), 147–168. Kemper, Hans-Georg: Droge Trakl. Rauschträume und Poesie. Salzburg 2014. Kleefeld, Gunther: Das Gedicht als Sühne. Georg Trakls Dichtung und Krankheit. Eine psychoanalytische Studie. Tübingen 1985. Neubauer-Petzoldt, Ruth: Blaubart als neuer Mythos. Von verbotener Neugier und grenzüberschreitendem Wissen. Würzburg 2015. Schröder, Ernst: Die Arbeit des Schauspielers. Aufsätze und Notizen. Zürich 1966. Shakespeare, William: The Norton Shakespeare. Based on the Oxford Edition. Ed. by Stephen Greenblatt, Walter Cohen, Suzanne Gossett, Jean E. Howard, Katharine Eisaman Maus, Gordon McMullan. New York/London 32016. Szczepaniak, Monika: Männer in Blau. Blaubart-Bilder in der deutschsprachigen Literatur. Köln 2005. Trakl, Georg: Nachlass und Biographie. Gesamtausgabe Bd. 3. Hg. von Wolfgang Schneditz. Salzburg 1949. von Matt, Peter: Die Dynamik von Trakls Gedicht. In: Horst Meixner/Silvio Vietta (Hg.): Expressionismus. Sozialer Wandel und künstlerische Erfahrung. München 1982, 58–72. Weininger, Otto: Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung. Wien/Leipzig 21904. Wertheimer, Jürgen: Don Juan und Blaubart. Erotische Serientäter in der Literatur. München 1999. Wilde, Oscar: Salome. Tragödie in einem Akt. Leipzig 1903 (frz. 1893).

Teil VII

Werk: Lyrische Dichtungen I – Werkästhetik

Zur Werkästhetik von Trakls Lyrik

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Elisabetta Mengaldo

Voraussetzungen Im Unterschied zu anderen deutschsprachigen Dichtern des 20. Jahrhunderts wie etwa Benn, Rilke oder Brecht, die neben ihrem lyrischen Werk zahlreiche ästhetisch-poetologische Bemerkungen in Form von Essays, Briefen bzw. nachträglich gedruckten Reden hinterlassen haben, wird Trakls Leserschaft in dieser Hinsicht enttäuscht. Bis auf einige knappe Äußerungen in Briefen bzw. durch überlieferte mündliche Aussagen, liegt keine konsistente ›Poetik‹ von Trakls Hand vor, die man als Begleitung für die Lyrikinterpretation verwenden könnte. So lässt sich beispielsweise keine eindeutige Position Trakls über das damals vehement debattierte erkenntnistheoretische Problem der Sprache festlegen – weder in Richtung Sprachermächtigung, wie bei vielen AvantgardeAutoren, noch in Richtung Sprachskepsis und -kritik, die seit der Jahrhundertwende und Hofmannsthals »Chandos-Brief« vor allem im österreichischen Milieu weit verbreitet war. Eine lakonische Selbstaussage in diese zweite Richtung hat Trakl jedoch wenige Wochen vor seinem Tod auf einem Ludwig von Ficker überreichten Zet-

E. Mengaldo (*)  Dipartimento di Studi Linguistici e Letterari, Università degli Studi di Padova, Padova, Italien E-Mail: [email protected]

tel gemacht: Sein Schreiben, sein »Gedicht« wird darin als »eine unvollkommene Sühne« (ITA IV.2, 323) bezeichnet. Damit ist vermutlich eine ästhetische Unvollkommenheit gemeint, die jedoch aus einer moralischen ›Schuld‹ herrührt, mit poetischen Mitteln deshalb nur mangelhaft abzubüßen ist. Das Bekenntnis zur individuellen Schuld (etwa beim häufig angedeuteten Inzestmotiv) vermischt sich bei Trakl zunehmend mit dem nach dem Ende der Belle Époque verbreiteten zivilisationskritischen Diskurs sowie mit dem Motiv vom kollektiven Verfall und Untergang der abendländischen Kultur. Ähnliches vermittelt eine von Hans Limbach überlieferte Äußerung des Dichters aus dem Anfang des Jahres 1914 im Hause von Ficker. Auf die Frage von Carl Dallago, ob er keine Freude am Leben habe oder ob ihm wenigstens sein Schaffen irgendeine Form von Befriedigung bereite, erwiderte Trakl: »Doch […] aber man muß gegen diese Befriedigung mißtrauisch sein« (Limbach 1926, 106). Misstrauen nicht nur gegenüber der eigenen literarischen Begabung, sondern vor allem gegenüber jedem ästhetizistischen Credo scheint daher die wichtigste poetologische Auffassung des späten Trakl und seiner »Wendung vom Ästhetischen zum Ethischen« (Doppler 2001, 25) gewesen zu sein. Somit distanzierte er sich sowohl von der Ästhetik des ›L’art pour l’art‹ als auch vom in den frühen Jahren entscheidenden Einfluss Friedrich Nietzsches, insbesondere der Geburt der Tragödie.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_19

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Bis auf diese spärlichen Selbstaussagen sind Trakls Leserinnen und Leser, Forscherinnen und Forscher nun also auf sein schmales, aber dichtes lyrisches Werk angewiesen, um eine spezifische Traklsche Ästhetik bzw. Poetik ansatzweise zu rekonstruieren. Dieses Unterfangen wird zudem von der hermetischen Obskurität dieser Dichtung erschwert, einer Obskurität, die spätestens seit dem berühmten Diktum Walther Killys zu Beginn seiner Studie Über Georg Trakl (»Die Sprache dieses Dichters ist dunkel« [Killy 1967, 5]) zum Topos der Trakl-Forschung geworden ist (vgl. auch Wetzel 1968, 11; sowie, in der poststrukturalistischen Variante, Baßler 1996). Wenn nicht immer von Obskurität die Rede ist, wird jedoch häufig die NichtMitteilbarkeit bzw. die Privatheit in den Vordergrund gestellt. So beginnen die Herausgeber der Innsbrucker Ausgabe den Absatz »Charakteristika des Traklschen Schreibens« im »Editorischen Bericht« mit den Worten: »Trakl schreibt nicht primär zum Zweck, anderen etwas mitzuteilen« (ITA I, 20). Die rätselhafte Hermetik von Trakls Dichtung entsteht zum einen durch eine insistierte sprachliche Unbestimmtheit, die auch an Trakls Neigung liegt, den semantischen sowie den syntaktischen Ballast abzuwerfen; zum anderen durch den Aufbau einer Art Privatsprache, die einen selbstreferenziellen, gleichsam codierten Sprachraum eröffnet und eine konnotative Aufladung der Motive mit sich bringt. Seine Metaphorik ist umso faszinierender, je dunkler sie wirkt. Auf Trakls Dichtung sind für moderne Lyrik gängige aber nicht immer trennscharfe Begriffe wie »absolute Metapher« bzw. »Chiffre« (Killy 1967; Esselborn 1981) angewendet worden; je subjektiver die Codierung ist, umso schwieriger wird die Auffindung des tertium comparationis und daher die Übertragung der Metapher ins Bekannte. Diese klangvollmelancholische, geheimnisvolle Sprache provoziert beim Leser stets einen Deutungstrieb bei gleichzeitiger Sinnverweigerung. Dennoch sind immer wieder Gegenstimmen laut geworden, die hinter den rätselhaften und ambivalenten Klangbildern eine kohärente semantische Struktur aufgespürt und Deutungsansätze vorgeschlagen haben. Der erste Versuch zur Überwindung von

E. Mengaldo

Killys hermeneutischem Pessimismus wurde von Hans-Georg Kemper unternommen, der anhand der zwar häufig widersprüchlichen aber doch von Varianzregelmäßigkeiten gekennzeichneten Textgenese semantische und kompositorische Strukturen erkannt hat (vgl. Kemper 1970, s. dazu weiter unten; vgl. auch Csúri 2016, der die aus der kognitiven Linguistik entnommenen Begriffe ›Konstruktionsprinzip‹ und ›Schemastruktur‹ auf Trakls Gedichte anwendet). Aus den beiden oben genannten Umständen – dem fast vollständigen Fehlen eigener ästhetisch-poetologischer Äußerungen sowie der Obskurität seiner Lyrik – folgt im Falle Trakls die Notwendigkeit, eine Definition seiner Ästhetik in erster Linie auf die Beobachtung von Schreibverfahren und textgenetischen Tendenzen zu gründen. Letztere sind von wesentlicher Bedeutung, insofern Trakl zweifellos zu den ›Papierarbeitern‹ gezählt werden kann, deren Ideen und Sprachschöpfungen, im Unterschied zu denen der ›Kopfarbeiter‹ (etwa Kafka), sich hauptsächlich auf dem Papier und mitten im Schreibakt ereignet und materialisiert haben (zu dieser Unterscheidung vgl. Plachta 2006, 46–58). Für die für Trakls Poetik und Ästhetik ebenso wichtige Untersuchung des kulturhistorischen Kontexts (etwa die Frage nach Trakls Zugehörigkeit zum lyrischen Expressionismus), der intertextuellen Beziehungen (v. a. zum französischen Symbolismus, zur deutschen Romantik und zu Hölderlin) sowie der Motive und Diskurse sei auf die entsprechenden Beiträge in diesem Handbuch verwiesen; im Folgenden wird deshalb nur punktuell auf diese Aspekte eingegangen. Auf umfassende Lektüren von einzelnen Texten wird aus demselben Grund ebenfalls verzichtet und auf die Einzelinterpretationen verwiesen.

Trakls poetische Entwicklung Die Entwicklung von Trakls lyrischer Schreibweise wird meist in vier Phasen eingeteilt. Die erste Schaffensphase fällt mit den Gedichten der von ihm selbst zusammen-

19  Zur Werkästhetik von Trakls Lyrik

gestellten aber postum veröffentlichten »Sammlung 1909« sowie mit weiteren unveröffentlichten Gedichten aus den Jahren 1909–1910 zusammen, von denen viele in der 1939 von Erhard Buschbeck besorgten Sammlung Aus goldenem Kelch abgedruckt wurden. Diese frühen lyrischen Versuche stehen im Zeichen von Décadence, Jugendstil und Symbolismus, namentlich v. a. von Baudelaire, Hofmannsthal, Stefan George und dem frühen Rilke (vgl. hierzu Kemper 1995, 278–293). Außerdem werden hier die Weichen gestellt für die endgültige Absage an die Erlebnisdichtung, welche die frühe Lyrik Trakls dennoch noch sehr stark prägt (vgl. Esselborn 1981). Der zum Ausdruck kommende metaphysische Pessimismus verdankt sich zwar dem Einfluss Nietzsches, kontrastiert jedoch gleichzeitig mit der die Geburt der Tragödie kennzeichnenden ästhetischen Rechtfertigung des Daseins. Diese Haltung Trakls soll bei allen poetologischen Unterschieden bis in die späten Texte hinein beibehalten werden – die Grunderfahrung des Leidcharakters der Welt, die keineswegs durch eine Ästhetisierung des Lebens verdrängt werden kann, und die später um das Problem der untilgbaren individuellen (und kollektiven) Schuld erweitert wird. So werden in diesen frühen Gedichten Leben und Wirklichkeit oft als illusorisch beschrieben, wobei barocke Bühnenmetaphorik (»Confiteor«: »Der Menschheit heldenloses Trauerspiel, / ein schlechtes Stück«, außerdem das Gedicht mit dem Titel »Naturtheater« [ITA I, 215 und 208]), das ebenfalls nietzscheanische Motiv der Maske und der Verstellung (»Verfall« [I]: »Verlorner Sinn vergangener Zeiten / Blickt aus den steinernen Masken her«; »Confiteor«: »Und da von jedem Ding die Maske fiel« [ITA I, 223 und 215]) sowie die meist auf Baudelaire zurückgreifende symbolistisch-dekadente Semantik der Krankheit (»kranke Blumen« in »Von den stillen Tagen« und »Dämmerung« [I] [ITA I, 212 und 217]) häufig vorkommen. Hauptthema der Sammlung ist die Innerlichkeit des inflationär auftretenden lyrischen Ichs, das »seine eigene poetische Welt im Medium von ›Rausch‹ […] und ›rieselnden Träume[n]‹ erschafft« (Kemper 1995, 281; vgl. etwa den Anfang von »Er-

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matten«: »Verwesung traumgeschaffner Paradiese« [ITA I, 206]) und als ein Außenseiter dargestellt wird, dem das ›echte‹ Leben entflieht. In »An einem Fenster« wird dies an das der Erlebnisdichtung häufig eignende, in der späteren Lyrik Trakls jedoch kaum noch vorhandene Motiv des Fensters gekoppelt, das die Trennung von Ich und Leben »da draussen« symbolisiert (»Ich träume und träum’ und das Leben flieht, // Das Leben da draussen – irgendwo / Mir fern durch ein Meer von Einsamkeit!« [ITA I, 170]). Die hierfür verwendeten Begriffe und Symbole klingen aber meist epigonal und dekorativ und die dargestellten, ins Pathetische gesteigerten Erlebnisse wirken wie durch die Literatur gefiltert. Manche Komposita wollen kühn sein, wirken aber holprig und konstruiert (etwa »erinnerungsdunkel« in »Drei Träume«, »todesnächtig« in »Von den stillen Tagen« [ITA I, 233 und 212]). Die wichtigste Trope ist – bei den symbolistischen Einflüssen kaum überraschend – die insbesondere den Geruchsinn involvierende Synästhesie (»Farbiger Herbst«: »Eine Wolke von welken, gebleichten Düften« [ITA I, 248]). Dem symbolistischen Stil (man denke an die Lyrik Hofmannsthals, paradigmatisch ist hierfür das Gedicht »Erlebnis«) entspricht schließlich die Tendenz, dem plötzlichen Wechsel Übergangsstimmungen und Verben des Hinübergleitens vorzuziehen, insbesondere die ubiquitären ›schimmern‹ (etwa »schimmernde Gärten« in »Drei Träume«; »Da schimmert aus verworrenen Gestalten / Ein Frauenbild« in »Andacht« [ITA I, 233 und 290]) und ›flimmern‹ (»Flimmern Falter, berauscht und irr« in »Sonniger Nachmittag«; »Schwindet flimmern, wie ein Trug« in »Am Friedhof« [ITA I, 268 und 270]). Das Metrum ist fest und traditionell (vier- bzw. fünfhebiger Trochäus bzw. Jambus) und das die spätere Sammlung Gedichte kennzeichnende Formmerkmal der Bilderreihung ist in diesen frühen Texten bereits angelegt. An der Überarbeitung der letzten Strophe von »Farbiger Herbst« im Übergang zum in Gedichte veröffentlichten Text (unter dem veränderten Titel »Musik im Mirabell«) lässt sich die Weiterentwicklung von Trakls lyrischer Sprache exemplarisch nachvollziehen (dazu

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auch Doppler 2001, 61–63). Auf einer ersten Textstufe lautete die letzte Strophe so: »Opaliger Dunst webt über das Gras, / Eine Wolke von welken, gebleichten Düften, / Im Brunnen leuchtet wie grünes Glas / Die Mondessichel in frierenden Lüften« (ITA I, 248). In der Fassung aus Gedichte lautet sie hingegen: »Ein weißer Fremdling tritt ins Haus. / Ein Hund stürzt durch verfallene Gänge. / Die Magd löscht eine Lampe aus, / Das Ohr hört nachts Sonatenklänge« (ITA I, 250). In der Überarbeitung gibt Trakl die jugendstil-ornamentale und symbolistische Ästhetik auf, in der sich traumhafte Bilder mit krankhaft-berauschenden Gerüchen zu einer Art totaler Synästhesie vermengen. Die ebenfalls typisch symbolistische Metaphernbildung, bei der der Bildspender häufig ein Artefakt ist (»opalig«, »grünes Glas«), wird von einer attributarmen, raschen Folge von parataktischen Sätzen abgelöst, in der sich der strenge syntaktische Parallelismus als formale Entsprechung einer aneinanderreihenden statt hierarchisierenden Wahrnehmungsweise erweist. Das lyrische Subjekt ist weiterhin abwesend, wird allerdings metonymisch durch ein Sinnorgan vertreten (»Das Ohr hört nachts Sonatenklänge«), das außerdem in der Aktion des Hörens einen Zusammenhang mit dem neuen Titel »Musik im Mirabell« herstellt. Von ähnlichen Kohäsionsverfahren wird Trakl immer mehr Gebrauch machen. Aber auch die metonymische Verschiebung des Subjekts auf es vertretende Körperteile soll künftig zu einem Hauptmerkmal seiner Ästhetik werden. Ähnliches gilt für die Unterdrückung der Konjunktion »wie«, welche die Vergleichsoperation expliziert: Analogien werden später ambivalenter – meist durch Appositionen – formuliert. Die zweite Schaffensphase wird mit den zwischen Ende 1910 und Anfang 1913 verfassten, oft mehrfach überarbeiteten Texten identifiziert, deren große Mehrheit in die Sammlung Gedichte (1913) aufgenommen wurde. Hierbei schafft Trakl trotz der zweifellosen Nähe zur neuen expressionistischen Ästhetik eine originelle poetische Sprache, deren Hauptkennzeichen sich wie folgt zusammenfassen las-

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sen (vgl. hierzu Doppler 2001, 15–43; sowie Kemper 1995): 1. Reduzierung bis Eliminierung des lyrischen Ichs, das sich nicht mehr als aktiv beobachtende und erlebende Instanz inszeniert, sondern zum anonymen Registrierapparat zahlreicher, schnell aufeinanderfolgender Eindrücke wird. Dafür werden Landschaften und Gegenstände häufig beseelt (»Eisige Winde im Dunkel greinen« in »Die Ratten« [ITA I, 399]; »Die Sterne weiße Traurigkeit verbreiten« in »Dämmerung« [II] [ITA II, 56]). Das lyrische Subjekt wird jedoch nicht einfach getilgt, sondern häufig ›versteckt‹ und auf das ›Du‹ (etwa »Abendmuse«, »Melancholie des Abends«) bzw. auf metonymische Vertretungen (häufig die Stirn, etwa in »In einem verlassenen Zimmer«) verlagert; oder es wird durch Figurationen des Ichs (wie den »weiße[n] Fremdling« aus »Musik im Mirabell«) dargestellt, die eine Art Vorstufe späterer Figurationen wie Sebastian (»Sebastian im Traum«), Orpheus (»Passion«) und der Abgeschiedene (»Gesang des Abgeschiedenen«) darstellen. Diese Phänomene sind der mehrfach betonten modernen Krise des Subjekts geschuldet, die Hugo Friedrich auch – wohl etwas zu undifferenziert – für die moderne Lyrik diagnostiziert hat, wobei er nicht so sehr von Entsubjektivierung, sondern in Anlehnung an José Ortega y Gasset eher vom »Erkalten« und »Abhärten« des Subjekts gesprochen hat (Friedrich 1956, 169; vgl. auch Vietta/Kemper 1975, 40– 49; zum lyrischen Subjekt bei Trakl vgl. Esselborn 1981, 145–226 und Mengaldo 2016). 2. Konsequent eingesetzter parataktischer Reihungsstil, der die Simultaneität des Disparaten und die dissoziierte Wahrnehmung wiedergibt (vgl. Vietta/Kemper 1975, 30–40). In einer seiner seltenen poetologischen Aussagen hat es Trakl als seine »bildhafte Manier« bezeichnet, »die in vier Strophenzeilen vier einzelne Bildteile zu einem einzigen Eindruck zusammenschmiedet« (ITA V.1, 126). Dem Verzicht auf logische Subsumierung des Wahrgenommenen entspricht im Satzbau die tendenziell asyndetische Parataxe (Nebensätze sind höchst selten) und, auf der metrisch-rhythmi-

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schen Ebene, das seltene Vorkommen von (starken) Enjambements: Metrische und syntaktische Einheit fallen meist in eins, sodass jeder Vers einen selbständigen Satz enthält. 3. Das Metrum ist wie in den Jugenddichtungen meist fest und besteht in jambischen bzw. trochäischen Vier- bzw. Fünfhebern. Mit Gedicht- und Strophenformen aus anderen Traditionen hat Trakl kaum experimentiert. Einzige (aber selten vorkommende) Ausnahmen sind das Sonett (»Traum des Bösen«, die letzten Textstufen von »Verfall« [II], in Sebastian im Traum auch »Afra«), der Alexandriner (»Abendmuse«) sowie der Hexameter (der unregelmäßig und insbesondere in der späteren Produktionsphase in Einsatz kommt). 4. Begrenzung des Wortschatzes auf wenige, immer wiederkehrende Motive, die unterschiedlich komponiert werden zu miteinander verwandten Texten. In Gedichte kommen etwa folgende Leitmotive vor, die in Sebastian im Traum mit teilweise verschobener Bedeutung beibehalten bzw. um weitere ergänzt werden: die ›elegische‹, klagende Amsel (vgl. Mengaldo 2013); das oft rauschende Rohr; der häufig mit der Kindheit und/oder mit dem Tod assoziierte Holunder; sich senkende bzw. hebende Lider (häufig alliterierend mit dem Adverb ›leise‹ verknüpft); die Stirn (meist eine Metonymie für das Denken); die runden Augen (meist ein Requisit der Unschuldigen wie Helian, Elis, in dieser Phase auch noch die Schwester); der Wald bzw. häufiger der Waldsaum, Symbol jener ›Schwelle‹, die Heideggers Interpretation von »Ein Winterabend« in Unterwegs zur Sprache in die Hand spielte (vgl. Heidegger 2018, 23–25). Im Unterschied zu den ersten beiden Aspekten, die Trakl mit dem lyrischen Expressionismus gemeinsam hat, ist die Begrenzung und Wiederholung der Motive sehr spezifisch und trägt zum unverwechselbaren ›Trakl-Ton‹ bei. Solche mit musikalischen Strukturen (vgl. Doppler 2001, 112–134) verwandte Repetition durch Variation prägt von nun an Trakls Stil und bringt dreierlei gewichtige, miteinander zusammenhängende Folgen mit sich: Tendenz zur Autonomisierung des Wortschatzes, der sich immer weniger auf die Wirklichkeit beziehen lässt; Zunahme der

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semantischen Konnotation auf Kosten der Denotation; ein geschlossenes semantisches Bezugssystem, in dem die Motive miteinander und unter den Texten selbst korrespondieren. Dritte Schaffensphase: Bereits in Gedichte, namentlich in den ab Herbst 1912 verfassten Texten (etwa »De profundis« (II), »In ein altes Stammbuch«, »An den Knaben Elis«, »Abendlied«) lassen sich jedoch zahlreiche Änderungen an der lyrischen Sprache, am Wortschatz bzw. an den Motiven sowie an syntaktischen und rhythmischen Schreibverfahren beobachten, die eine weitere ästhetische Entwicklung ankündigen. Diese neue Entwicklung eröffnet Trakls dritte Schaffensphase, die sich erst in Sebastian im Traum (1914 zusammengestellt, 1915 postum veröffentlicht) vollkommen entfaltet und sich durch folgende Merkmale auszeichnet: 1. Die rasche reihungsstilmäßige Abfolge unterschiedlicher Bilder geht zur tendenziellen Wiederholung eines kleineren Wortschatzes über, die sowohl eine kompositorische (textuelle Kohäsion) als auch eine semantische (Privatcodierung) Folge hat: Die rätselhafte Assoziierung weniger Bilder, deren Zusammenhang in der normalen Semantik nicht unmittelbar gegeben ist, verleiht ihnen eine neue, geheimnisvolle Verwandtschaft. Die Dinge und ihre Beziehungen werden zu Versatzstücken einer inneren Landschaft und einer Topographie der Existenz, so z. B. die Amsel, das blaue Tier, die Höhle, der Holunder, usw. Es entstehen eine semantische Eigencodierung und ein System privater Intertextualität. 2. Zum intertextuellen Netz und zur privaten Codierung trägt auch das zyklische Kompositionsverfahren bei, das in der Struktur von Sebastian im Traum offensichtlich wird (vgl. Csúri 2016). 3. Während in Gedichte eine Neutralisierung der Zeitabfolge durch Bilderreihung dominiert, ist Sebastian im Traum durch häufige Tempuswechsel und durch finale Zeitabfolgen charakterisiert: »An die Stelle der Simultaneität tritt somit die Perspektivierung von Zeit und Geschichte« (Kemper 1995, 310). So signalisiert z. B. der plötzliche Wechsel von Präsens zu Präteritum in »Frühling der Seele« (II)

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(»Schwester, da ich dich fand an einsamer Lichtung / Des Waldes« [ITA III, 383]) den Einbruch der Geschichte in die idyllische Zeit der Unschuld (vgl. dazu Stieg 1995). Der Dichtung wird somit eine reflexive Rolle zuteil: Sie formt in gewisser Weise die Vergangenheit um und aktualisiert sie. Beschreibung verwandelt sich in Evokation. Ein weiteres Indiz dieser reflexiven, ja teilweise geschichtsphilosophischen Wende (die bereits in »Psalm« [I] ablesbar ist) sind die häufigen ›aber‹, die außerdem den in dieser Phase entscheidenden Hölderlin-Einfluss sichtbar machen (vgl. Böschenstein 1978): »Er aber war ein kleiner Vogel im kahlen Geäst« (»Sebastian im Traum«, ITA III, 232); »Ihm aber folgte Busch und Tier« (»Kaspar Hauser Lied«, ITA III, 325); »Jener aber ging die steinernen Stufen des Mönchsberg hinab« (»An einen Frühverstorbenen«, ITA III, 403); etc. 4. Zunahme an literarischen Anspielungen und Zitaten, wobei in dieser Phase der ›elegische‹ Hölderlin den symbolistischen Rimbaud dezidiert ablöst (s. dazu Böschenstein 1978). Auch werden (versteckte) Zitate als Teil eines komplexen Kompositionsverfahrens bewusst eingesetzt, wofür einige Interpreten von Montage-Technik sprechen (vgl. Doppler 1971). 5. Weitere Entwicklung der Farbmetaphorik, insbesondere der Synästhesien, und damit einhergehende Tendenz zur Abstraktion in der Verwendung von Farbworten. 6. Auf der syntaktischen Ebene ersetzt der hypotaktische Satzbau häufig die für den Reihungsstil typische Parataxe – ein weiteres Indiz der zunehmenden Reflexivität dieser Lyrik, die zudem durch die Häufung von Motiven des Denkens, der Erinnerung und des Schweigens markiert ist (s. dazu weiter unten). 7. Auflockerung der metrischen Formen: Die Gedichte in freirhythmischen Langzeilen bzw. Alternierung von Lang- und Kurzzeilen lösen meist die metrischen Gedichte und den Reihungsstil ab. Der daktylische Rhythmus und die Annäherung an den klassisch-hölderlinischen Hexameter erweist sich dabei als das formale Pendant des in vielen Gedichten dominierenden elegischen Tons (exemplarisch dafür sind

E. Mengaldo

»Frühling der Seele« (II) und »Gesang des Abgeschiedenen« aus dem letzten Teilzyklus von Sebastian im Traum). Enjambements, auch sehr starke (etwa diejenigen, die Verb und Subjekt trennen oder die über die Strophengrenze hinweg eingesetzt werden), sind nun zur Regel geworden (vgl. dazu Wetzel 1968, 64–83). Die letzte Schaffensphase wird gemeinhin mit den späten Gedichten in Kurzzeilen (»Das Gewitter«, »Das Herz«, »Der Abend«, »Die Nacht« usw.) identifiziert, die Trakl kurz vor dem Kriegsausbruch verfasst hat und die 1915 im Brenner postum veröffentlicht worden sind. Mit Blick auf die formale Gestaltung scheint hier jedoch eine stärkere Differenzierung angebracht. Wie sich einigen Gedichten und Gedichtentwürfen entnehmen lässt, hat Trakl in den letzten Monaten vor seinem Tod auch andere Formate und Stile ausprobiert und kehrt dabei teilweise auch zum festen Me­ trum (etwa in »Klage« (I), in »Nachtergebung« und im Entwurf »Anblick«) zurück. Poetologisch, thematisch und stilistisch bemerkenswert sind etwa die Entwürfe »An Luzifer« (den ein Trakl sonst fremder negativ-titanischer Gestus prägt), »Nimm blauer Abend …«, »Schwärzlich versank …« sowie das hölderlinisch anmutende »Lebensalter« – den Titel hat Trakl vom gleichnamigen Gedicht Hölderlins übernommen, während die »wilden / Rosen« (ITA IV.2, 316) offensichtlich von »Hälfte des Lebens« inspiriert sind. Abgesehen von diesen Entwürfen und von einigen der ebenfalls 1915 im Brenner veröffentlichten Gedichte (v.  a. Trakls – sieht man von zwei Überarbeitungen ab – allerletztem Gedicht »Grodek«) prägen die apokalyptischen Kurzzeilen die Ästhetik und Poetik der letzten Monate. Ob diese Gedichte und deren Metaphorik womöglich die Kriegszerstörung antizipatorisch symbolisieren, mag dahingestellt bleiben; gewiss stellen sie eine apokalyptisch-rauschhafte Selbstvernichtung des lyrischen Subjekts dar (etwa durch den in »Der Schlaf« metaphorisch umschriebenen Drogenrausch). Hier weichen der sanft-elegische Ton und die ›weiche Fügung‹ der Langzeilen einer finsteren Ästhetik, der ›har-

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ten Fügung‹ und jenem »rapideren Gefälle der Syntax«, das Paul Celan 1960 in seiner »Meridian«-Rede für die moderne Dichtung diagnostiziert hat – eine Dichtung, die eine »starke Neigung zum Verstummen« aufweise (Celan 1990 ff., XV.1, 44). Diese Gedichte, deren Verse oft aus einem einzigen Nominalsyntagma bestehen, sind ganz auf der vertikalen Achse aufgebaut, sodass der Leser von Zeile zu Zeile ›hinabstürzen‹ muss wie in einer rauhen Berglandschaft. Nun dominiert der Blick von oben, und die sanfte, elegische Amsel wird dementsprechend vom über den Berggipfeln schwebenden, traurig-erhabenen Adler (»Ihr wilden Gebirge, der Adler / Erhabene Trauer« [»Das Gewitter«, ITA IV.2, 148]) abgelöst. Außer dem Satzbau machen Verben von plötzlicher und gewaltsamer Bewegung (»erjagen«, »stürzen«, »stürmt« [»Die Nacht«, ITA IV.2, 259 f.]) den neuen zerklüfteten Stil dieser negativen Hymnen aus, der das formale Pendant der neuen, zerrissenen inneren Landschaft darstellt – etwa »wilde Zerklüftung«, »graue Türme«, »rauhe Farnen, Fichten«, »Gletscher« (»Die Nacht«, ITA IV.2, 259 f.); »Ihr wilden Gebirge«, »steinerne[] Öde«, »die Schluchten«, »schneeige[n] Gipfel« (»Das Gewitter«, ITA IV.2, 148 f.); die dreifache onomatopoetische Alliteration »stürzende[] Städte[] / Von Stahl« (»Der Schlaf«, ITA IV.1, 24). Mit dieser apokalyptischen Ästhetik geht auch ein neues, gewaltiges Auftauchen des lyrischen Subjekts einher, was auch in der rauschhaften Prosa von »Offenbarung und Untergang« offensichtlich wird (vgl. dazu Görner 2014, 260–266). Es handelt sich dabei weder um den frühexpressionistischen Wahrnehmungsapparat noch um die erinnernd-elegische Instanz der mittleren Phase, sondern um ein verstörtes und abgehärtetes Ich, das sich paradoxerweise in der Negativität affirmiert, indem es sich zum Nichts – dem Tod – bekennt und versucht, dieses poetisch zu gestalten. Um auf Trakls Schreibverfahren und Arbeitsweise näher einzugehen, werden im Folgenden einige formalästhetische Aspekte – auch mithilfe der Textgenese – unter die Lupe genommen.

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Strategien der Wiederholung: Klangfiguren und Semantik Klangfiguren und insbesondere Alliterationen gehören zum Grundbestand lyrischen Schaffens und waren im Symbolismus und Jugendstil besonders beliebt. Auch bei Trakl sind solche Stilmittel durch seine ganze Lyrikproduktion hindurch vertreten; insbesondere Alliterationen sind in der mittleren Schaffensphase inflationär vorhanden (etwa in »Seele des Lebens«, »Im Winter« (I), aber auch noch in der letzten Prosadichtung »Offenbarung und Untergang«). Mit der Zeit entwickelt er jedoch ein raffiniertes Verfahren bei der Einsetzung von lautähnlichen Termini, das mit der schon besprochenen Wortschatzreduktion zusammenhängt und in der wiederholten Assoziation derselben alliterierenden Wörter besteht. Diese Verbindung etabliert eine netzwerkartige (weil in mehreren Texten auftauchende) und rätselhafte, in der alltäglichen Semantik nicht gebräuchliche Verwandtschaft, die sich anhand des Äquivalenzprinzips nach Jakobson und Lotman (s. Jakobson 1974; Lotman 1972) beschreiben lässt. Das Wort ›Schweigen‹ wird z. B. oft mit ›schwarz‹ zu einer Synästhesie assoziiert: »Eine schwarze Höhle ist unser Schweigen« (»An den Knaben Elis«, ITA II, 433); »Am Abend: Schritte gehen durch schwarzes Land / Erscheinender in roter Buchen Schweigen« (»Verwandlung«, ITA II, 42); »Ein Schweigen in schwarzen Wipfeln wohnt« (»Im Winter« [I], ITA I, 376); und dergleichen mehr. Ein ähnlicher Fall ist die Assoziation Mund / Mond, die nicht nur durch Alliteration, sondern auch mithilfe eines Minimalpaars konstruiert wird. Kemper hat in diesem Verfahren zurecht die »semantische Reduktion« der konnotativen Nuancen auf ein beiden Wörtern gemeinsames Merkmal erkannt (Kemper 1970, 55–66), eine Reduktion, die allerdings jedem Metaphorisierungsprozess eigen ist, in dem Bildspender und Bildempfänger durch ein ihnen gemeinsames tertium comparationis (im Falle Mund / Mond wohl die runde Form) unter Ausblendung weiterer semantischer Merkmale

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miteinander assoziiert werden. Ein weiteres häufiges, oben bereits erwähntes ›lautsemantisches‹ Paar ist leise / Lider, etwa in »Abendmuse« (»Von Lüften trunken sinken balde ein die Lider / Und öffnen leise sich zu fremden Sternenzeichen« [ITA II, 46]), in »Unterwegs« (II) (»Deine Lider sind schwer von Mohn und träumen leise auf meiner Stirne« [ITA II, 481]) oder in »Menschliches Elend« (»Und Lider flattern angstverwirrt und leise« [ITA II, 466]). Es besteht in Trakls Lyrik also ein starker Zusammenhang zwischen Motivbildung und Lautähnlichkeit, mit anderen Worten: zwischen der Signifiant- und der Signifié-Ebene. Leitmotive werden nicht nur durch phonetische Verwandtschaft bekräftigt, sondern teilweise sogar erst dadurch generiert (vgl. dazu Wetzel 1968, 108– 116; sowie Mengaldo 2013). Davon zeugt in zahlreichen Fällen die Korrekturarbeit. Der Schluss des Gedichts »Hohenburg« lautet: »Also zittert im Dunkel der Fremdling, / Da er leise die Lider über ein Menschliches aufhebt« (ITA III, 302). In der Vorstufe waren die entsprechenden Zeilen so geändert worden (das in der ITA verwendete Zeichen √ steht für eine Sofortkorrektur): »Also friert der Fremdling / Da er steinern die St√ (→ Lider) über ein Antlitz im Dunkel hebt« (ITA III, 301). In der zweiten Zeile wollte Trakl hinter »steinern« vermutlich »Stirn« hinschreiben (Stein / Stirn ist ein weiteres solcher wiederkehrender Paare), hat das Wort jedoch nicht mehr ausgeführt und stattdessen »Lider« geschrieben. In der folgenden Korrekturstufe (ITA III, 302) hat er sodann »steinern« durch das mit »Lider« alliterierende Adverb »leise« ersetzt. Die Beibehaltung der Lautähnlichkeit und die Rekurrenz (denn die beiden Wörter werden bei Trakl oft assoziiert) bestimmen bei der Korrekturarbeit häufig den semantischen Gehalt: Die semantische Verbindung leise / Lider ist in erster Linie einer Ähnlichkeit auf der Signifikantenebene geschuldet. Trakl arbeitet bis ins letzte Detail an der inneren Kohäsion seiner Texte. Kemper hat von einander bedingenden »semantischen Formeln« (häufig wiederkehrenden Bildern) und »kompositorischen Schablonen« (Motivkomplexen,

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nach denen sich ein ganzes Gedicht strukturiert [Kemper 1970, 72 f.]) gesprochen. Eine weitere kompositorische Funktion der Rekurrenz derselben lautähnlichen Wörter besteht demnach in der Schaffung von semantischer Kohäsion innerhalb eines Textes. So befinden sich alliterierende Paare nicht immer nur in derselben Zeile, sondern auch weiter voneinander entfernt innerhalb desselben Textes, außerdem werden konnotativ besetzte Signalwörter (z. B. ›schweigen‹) gerne am Anfang und Ende eines Gedichts wiederholt. Diese Streuungstechnik verstärkt die suggerierte Verwandtschaft zwischen semantisch unterschiedlichen Termini und festigt gleichzeitig den inneren Zusammenhang des Textes. In »An den Knaben Elis« taucht das Paar schwarz / Schweigen in der bereits oben zitierten Zeile »[e]ine schwarze Höhle ist unser Schweigen« auf. Das Farbwort wird aber ein paar Zeilen später wiederholt: »Auf deine Schläfen tropft schwarzer Tau«. In »Seele des Lebens« tritt sowohl das Paar Schweigen / schwarz (zusammen mit anderen ›schw‹-Wörtern) als auch das Paar leise / Lider auf: »Es wohnt im Wald sein weites Schweigen« und »Der Schwester Mund in schwarzen Zweigen flüstert«; »Ein Tier tritt leise aus den Baumarkaden, / Indes die Lider sich vor Gottheit weiten« (ITA I, 508). In der vorletzten Zeile wird schließlich »Schweigen« wiederaufgenommen (»Die Seele auch in engelhaftem Schweigen«). Trakl schafft somit eine Verbindung, die sowohl kompositorischer als auch semantischer Natur ist: zwischen Anfang und Ende des Textes und zwischen den ineinandergreifenden Ebenen von Natur und Mensch. Das Schweigen des Waldes zu Beginn korrespondiert mit dem Schweigen der Seele am Schluss.

Strategien der Ambivalenz: Satzbau Trakls lyrische Sprache besticht zunächst aufgrund ihrer kombinatorischen Wortkunst, d. h. (um beim Wortschatz der strukturalen Linguistik zu verbleiben) auf der phonetischen bzw. semantischen vertikalen Achse der Selektion und der dadurch geschaffenen, oft verschlüsselten sym-

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bolischen Assoziationen und Analogien. Seine Schreibweise zeichnet sich jedoch auch durch eine akribische Arbeit am Satzbau aus, d. h. an der syntagmatischen Achse der Kombination, bei der ebenfalls Techniken der Verschlüsselung, Verfremdung und »kontrollierten Ambivalenz« (Mengaldo 2017, 52) zum Einsatz kommen. Dazu gehören einige Verfahren, darunter: 1) ein eigentümlicher Gebrauch des Artikels; 2) die Nominalsyntax (insbesondere die Verbellipse); 3) Verdichtung durch Analogien und Appositionen. 1. In Die Struktur der modernen Lyrik hat Hugo Friedrich die These aufgestellt, dass der Einsatz des bestimmten statt des unbestimmten Artikels ein wichtiges Indiz bei der Bestimmung der ›Modernität‹ von Lyrik sei. In allen Fällen nämlich, in denen die Standardsprache den unbestimmten Artikel vorsehen würde, erzeuge der Einsatz des bestimmten Artikels eine »Verfremdung des Vertrauten«, denn das normalerweise durch den unbestimmten Artikel signalisierte Neue werde somit als schon bekannt dargestellt: »Indem die Determinante ihm den Schein des Bekannten gibt, erhöht sie die Desorientierung, macht das isolierte, herkunftslose Neue noch rätselhafter« (Friedrich 1956, 161). Abgesehen davon, dass nicht die gesamte moderne Lyrik nach solchen antirealistischen Verfremdungsverfahren funktioniert und diese demnach nicht als ausschließliche Kriterien für Modernität gelten sollen, muss dieser Befund im Falle Trakls etwas ausdifferenziert werden. Erstens gilt Trakl auch als »Meister des unbestimmten Artikels« (Görner 2014, 149). Dieser markiert nicht selten eine Epiphanie, den Einbruchs des Neuen in das seinerseits vom bestimmten Artikel begleitete Bekannte zu deuten: »Ein weißer Fremdling tritt ins Haus« (»Musik im Mirabell«, ITA I, 250); »Stille begegnet am Saum des Waldes / Ein dunkles Wild« (»Geistliche Dämmerung«, ITA III, 76). Zweitens nimmt die häufige Ablösung des unbestimmten durch den bestimmten Artikel in den Gedichten ab Ende 1912 zwar rasant zu, sie geht jedoch meist mit der Bildung des oben erwähnten privaten Bezugssystems einher: Je mehr ein Motiv Teil des Traklschen semantischen Netzes wird,

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desto häufiger wird es vom bestimmten Artikel begleitet. Diese Tendenz lässt sich etwa beim mit dem Elegischen verbundenen Motiv der Amsel beobachten (Kursivierungen von E.M.): »Elis, wenn die Amsel im schwarzen Wald ruft« (»An den Knaben Elis«, ITA II, 433); oder beim mit der Kindheit assoziierten Holunder: »Voll Früchten der Holunder« (»Kindheit« (II), ITA III, 30). Gleiches gilt auch für das »Saitenspiel«: Dieses Motiv tritt im Laufe von Trakls lyrischer Produktion immer mehr im Zusammenhang mit der Dichtung Hölderlins auf. So gesehen ist es kaum ein Zufall, dass es mit zunehmender Tendenz vom bestimmten Artikel begleitet wird. So liest man im frühen »Kleines Konzert«: »Gottes Odem / Weckt sacht ein Saitenspiel im Brodem« (ITA I, 537); im späteren »Helian« dagegen, in dem sich die Hölderlin-Zitate und -Anspielungen häufen, heißt es: »Wo vordem der heilige Bruder gegangen, / Versunken in das sanfte Saitenspiel seines Wahnsinns« (ITA II, 261). In der Textgenese ist eine solche Tendenz gut nachvollziehbar: Im Gedicht »Verfall« (II) hat Trakl etwa im Übergang von einer Textstufe zur nächsten »Ein Vogel« in »Die Amsel« korrigiert (ITA II, 228) und damit nicht nur vom Allgemeinen zum Besonderen gewechselt, sondern sich auch für den bestimmten Artikel entschieden. In all diesen Fällen realisiert Trakl demnach nicht so sehr (um Friedrichs These nochmals aufzugreifen) eine »Verfremdung des Vertrauten«. Vielmehr werden damit eine Art emotionale Aneignung des Gegenstands und der Rückgriff auf das ›Bekannte‹ erzielt – auf all das, was bekannt ist, weil es Teil des selbstreferenziellen Bedeutungsnetzes ist, das innerhalb von Trakls lyrischer Welt entstanden ist und dessen Fäden sich durch zahlreiche Texte hindurch als Variationen bestimmter Motive spannen. 2. Nominalsyntax, d.  h. die Konzentration auf das Substantiv durch das Weglassen des Prädikats (Verbellipse), sowie die Nominalisierung von Adjektiven und Verben gehören zum Grundbestand moderner, vor allem expressionistischer Lyrik – man denke etwa an die von August Stramm errichteten ›Türme‹ von Substantiven bzw. an Gottfried Benns pro-

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grammatisches Diktum »Worte, Worte – Substantive!« (Benn 1986–2003, VI, 26). Nun hängen Poetik und Praktik des Nominalstils bei diesen expressionistischen Dichtern, ähnlich wie beim Reihungsstil, häufig mit der bereits erwähnten dissoziierten Wahrnehmung aufgrund der Beschleunigung der modernen Welt – insbesondere in der Großstadt – zusammen. Ein solcher mittlerweile zum Topos der Forschung gewordenen Befund lässt sich nicht ohne Weiteres auf Trakl übertragen, der, im Unterschied zu den meisten Avantgardedichtern seiner Zeit, keine Faszination für die moderne Technisierung und Beschleunigung verspürte (vgl. Görner 2014, 18). Bis auf einige Fälle von verbelliptischem Stil in den Kriegsgedichten (etwa beim Beginn von »Menschheit«: »Menschheit vor Feuerschlünden aufgestellt, / Ein Trommelwirbel, dunkler Krieger Stirnen, / Schritte durch Blutnebel« [ITA II, 110]), ist diese Neigung bei ihm auf andere Gründe zurückzuführen. Zunächst einmal handelt es sich um eine allgemeine Tendenz zur Theatralisierung und zur Bildung einer »szenische[n] Sprache« (Esselborn 1981, 119), die, zuerst realistisch, mit der Zeit einem starken Symbolisierungs- und Verinnerlichungsprozess unterzogen wird. So entnimmt Trakl die szenischen Elemente zwar der Wirklichkeit, montiert sie aber zu einer inneren Bühne zusammen. Sehr typisch sind elliptische Gedichtanfänge (etwa diejenigen, die einen Spaziergang beschreiben), von der aus sich die lyrische Reflexion entfaltet: »Entlang an Gärten, herbstlich, rotversengt« (»Verwandlung«, ITA II, 42); »Wanderschaft durch dämmernden Sommer / An Bündeln vergilbten Korns vorbei« (»Abend in Lans«, ITA III, 208) etc. Später, ca. ab Ende 1912, entspricht der elliptische Stil der zunehmenden sprachlichen Verdichtung und der Reduzierung auf das Wesentliche, die sich als weitere Zeichen der »für diese Schaffensphase konstitutive[n] Komplementarität von lyrischem Gesang und meditativer Stille« (Kemper 1995, 310) deuten lassen. Dieser Prozess wird in den ›apokalyptischen‹ Gedichten der letzten Monate vollzogen, in denen die Zerstörung sich auch durch die grammatische Demontage des vollendeten Satzes äußert. »Der Schlaf« be-

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steht etwa aus 13 Versen mit einer einzigen finiten Verbform in V. 11 (»Aufflattern weiße Vögel am Nachtsaum« [ITA IV.1, 24]). Das Weglassen des Prädikats, d. h. des Tempus und Tätigkeit bzw. Geschehen ausdrückenden Satzteils, trägt zu jener Abstraktion und Verabsolutierung bei, die die späteste, visionäre Lyrik Trakls kennzeichnet. In ähnliche Richtung gehen die ›absoluten‹ Komparative, bei denen das Vergleichsobjekt fehlt (»der Mönche edlere Zeiten« [»Abendlied« ITA II, 341]; »Da die Seele kühlere Blüten träumt« [»Anif«, ITA III, 331]; »stolzere Trauer« [»Grodek«, ITA IV.2, 338]) sowie die Nominalisierung von Adjektiven (›ein Rot‹, ›ein Fremdes‹, ›ein Krankes‹) und Verben, insbesondere in den Formen Gerundium (›ein Träumendes‹, ›Strahlendes‹) und Perfekt (›Ungebornes‹, ›Der Abgeschiedene‹, ›Verwestes‹). 3. Die Trakl-Forschung hat mehrfach auf die Verkomplizierung des Satzbaus durch die Zunahme an hypotaktischer Syntax hingewiesen (vgl. etwa Kemper 1995, 310). Man hat es bei Trakl jedoch nicht nur mit syntaktischer Verkomplizierung, sondern auch mit syntaktischer Ambivalenz zu tun. Dazu zählen zuerst Appositionen, die Sätze bzw. Satzteile derart miteinander ins Verhältnis setzen, dass dadurch eine Erläuterung bzw. Einschränkung des Gesagten statt – wie im Reihungsstil – eine gleichgültige Aneinanderreihung oder Häufung der Bilder entsteht. Diese Mittel der Umverteilung der poetischen Information auf mehreren Ebenen gehören ebenfalls zur zunehmenden Reflexivität von Trakls Lyrik ab Ende 1912. Befremdlich ist, dass die logisch-syntaktischen Verhältnisse dabei oft unklar bleiben, dass durch diese Verfahren also Ambivalenz ad hoc konstruiert wird. Die letzte Strophe von »Winterdämmerung« lautet: »Kirche, Brücken und Spital / Grauenvoll im Zwielicht stehen, / Blutbefleckte Linnen blähen / Segel sich auf dem Kanal« (ITA I, 498). Die minimale Interpunktion sowie die elliptische Syntax (Wegfall der Konjunktion ›wie‹) lassen unklar werden, ob die Linnen es sind, die wie Segel anschwellen oder andersherum, was also Bildempfänger und was Bildspender ist. Trakl verbleibt auf der »Schwelle zwischen metaphorischer Gleichsetzung und Serialisierung von

19  Zur Werkästhetik von Trakls Lyrik

Bildern« (Mengaldo 2017, 55). Eine solche Ellipse der Vergleichspartikel wird Gottfried Benn in seiner späteren Zeitdiagnose und gleichzeitig Programmschrift Probleme der Lyrik (1955) als eines der Anzeichen moderner Lyrik ansehen: »Das zweite Symptom ist das WIE. Bitte beachten Sie, wie oft in einem Gedicht ›wie‹ vorkommt. Wie, oder wie wenn, oder es ist, als ob, das sind Hilfskonstruktionen, meistens Leerlauf. […] Dies Wie ist immer ein Bruch in der Vision, es holt heran, es vergleicht, es ist keine primäre Setzung. […] [A]ls Grundsatz können Sie sich daran halten, daß ein Wie immer ein Einbruch des Erzählerischen, Feuilletonistischen in die Lyrik ist, ein Nachlassen der sprachlichen Spannung, eine Schwäche der schöpferischen Transformation« (Benn 1986–2003, VI, 18). In der berühmten Apposition aus »Elis« (»Ein goldener Kahn / Schaukelt, Elis, dein Herz am einsamen Himmel« [ITA II, 455]) ist die unauflösbare Zweideutigkeit auch morphologischer Natur, denn der Satz lässt sich entweder als elliptische Analogie (wieder ohne ›wie‹) mit »schaukeln« als intransitivem Verb oder aber als Transitivsatz mit »Kahn« als Subjekt und »Herz« als Akkusativobjekt deuten. Dass diese Ambivalenz konstruiert ist, beweist erneut ein Blick in die Textgenese, denn dieser Zweizeiler lautete ursprünglich: »Ein Kreuz ragt Elis / Dein Leib auf dämmernden Pfaden« (ITA II, 454), und war syntaktisch eindeutig.

Literatur Böschenstein, Bernhard: Hölderlin und Rimbaud. Simultane Rezeption als Quelle poetischer Innovation im Werke Georg Trakls. In: Hans Weichselbaum/Walter Weiß (Hg.): Salzburger Trakl-Symposion. Salzburg 1978, 9–27. Baßler, Moritz: Die Textur der modernen Lyrik. In: Ders., Christoph Brecht/Dirk Niefanger/Gotthart Wunberg (Hg.): Historismus und literarische Moderne. Tübingen 1996, 197–234. Benn, Gottfried: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe. Hg. von Gerhard Schuster und Holger Hof. Stuttgart 1986–2003.

185 Celan, Paul: Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Rolf Bücher und Axel Gellhaus. Frankfurt a.M. 1990 ff. Csúri, Károly: Konstruktionsprinzipien von Georg Trakls lyrischen Textwelten. Bielefeld 2016. Doppler, Alfred: Bemerkungen zur poetischen Verfahrensweise Georg Trakls. In: Wolfgang Frühwald/ Günter Niggl (Hg.): Sprache und Bekenntnis. Hermann Kunisch zum 70. Geburtstag. Berlin 1971, 349– 359. Doppler, Alfred: Die Lyrik Georg Trakls. Beiträge zur poetischen Verfahrensweise und zur Wirkungsgeschichte. Salzburg 22001. Erinnerung an Georg Trakl. Zeugnisse und Briefe. Salzburg 21959. Esselborn, Hans: Georg Trakl. Die Krise der Erlebnislyrik. Köln/Wien 1981. Friedrich, Hugo: Die Struktur der modernen Lyrik. Hamburg 1956. Görner, Rüdiger: Georg Trakl. Dichter im Jahrzehnt der Extreme. Wien 2014. Heidegger, Martin: Unterwegs zur Sprache. Frankfurt a. M. 22018 (Gesamtausgabe I.12). Jakobson, Roman: Aufsätze zur Linguistik und Poetik. München 1974. Kemper, Hans-Georg: Georg Trakls Entwürfe. Aspekte zu ihrem Verständnis. Tübingen 1970. Kemper, Hans-Georg: Nachwort. In: Georg Trakl: Werke - Entwürfe - Briefe.. Stuttgart 21995, 269–320. Killy, Walther: Über Georg Trakl. Göttingen31967. Limbach, Hans: Begegnung mit Georg Trakl. In: Erinnerung an Georg Trakl. Innsbruck 1926, 101–109. Lotman, Jurij Michailovi: Die Struktur literarischer Texte. München 1972. Mengaldo, Elisabetta: »Sanft ist der Amsel Klage«. Motivstrukturen bei Georg Trakl. In: Prospero. Rivista di Letterature Straniere XVIII (2013), 41–63. Mengaldo, Elisabetta: »Ein Schatten bin ich…«? Die Entwicklung des lyrischen Subjekts bei Trakl. In: Uta Degner, Hans Weichselbaum, Norbert Christian Wolf (Hg.): Autorschaft und Poetik in Texten und Kontexten Georg Trakls. Salzburg/Wien 2016, 310–328. Mengaldo, Elisabetta: Semantische Codierung und syntaktische Ambivalenz in der modernen Lyrik. Zu Verschlüsselungsverfahren bei Georg Trakl. In: Uta Degner, Martina Wörgötter (Hg.): Literarische Geheimund Privatsprachen. Würzburg 2017, 49–65. Plachta, Bodo: Editionswissenschaft. Stuttgart22006. Stieg, Gerald: Frühling der Seele. In: Ders./Rémy Colombat (Hg.): Frühling der Seele. Pariser Trakl-Symposion. Innsbruck 1995, 163–170. Vietta, Silvio/Kemper, Hans-Georg: Expressionismus. München 1975. Wetzel, Heinz: Klang und Bild in den Dichtungen Georg Trakls. Göttingen 1968.

Teil VIII

Werk: Lyrische Dichtungen II – Gedichte (1913)

Zum Aufbau der Sammlung

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Erik Schilling

Trakls Band Gedichte erschien im Juli 1913 im Leipziger Verlag Kurt Wolff. Zuvor waren Publikationen im Brenner-Verlag sowie im Verlag Albert Langen angedacht gewesen, unter dem Titel »Dämmerung und Verfall«. Doch obwohl Ludwig von Ficker und Karl Kraus für den Band geworben hatten, kam die Publikation dort jeweils nicht zustande. Wolff hingegen hatte im April 1913 Gedichte Trakls in der Zeitschrift Der Brenner gelesen und Trakl um eine Auswahl seiner Gedichte für eine Sammlung gebeten. Die Sammlung sollte die einzige bleiben, die zu Lebzeiten Trakls veröffentlicht wurde; sein zweiter Gedichtband Sebastian im Traum erschien 1915 postum ebenfalls bei Wolff. Der Band Gedichte umfasst 49 Texte, darunter als wohl bekannteste »An den Knaben Elis«, »Melancholie« (I), »De profundis« (II), »Vorstadt im Föhn«, »Psalm« und »Helian«. Was die Komposition des Bandes anbelangt, war Trakl lange Zeit unentschlossen; einzig eine chronologische Reihenfolge der Gedichte schloss er dezidiert aus (vgl. Görner 2014, 122 f.). In der finalen Gestalt wird ein Zusammenhang eher durch Motive

E. Schilling (*)  Institut für Deutsche Philologie, LudwigMaximilians-Universität München, München, Deutschland E-Mail: [email protected]

sowie sprachlich-formale Kontinuitäten erzeugt als durch eine explizite Gliederung oder thematische Gruppierungen. Insgesamt ist für den Band etwas kennzeichnend, das man als ›Evozieren einer Stimmung‹ beschreiben kann – wobei ›Stimmung‹ mit Hans Ulrich Gumbrecht als habitualisierte Primärerfahrung zu verstehen ist, die in der Rezeption wahrgenommen werden kann (vgl. Gumbrecht 2011, 32). Nur wenige Gedichte widmen sich einem konkreten Geschehen. Beispiele hierfür sind »Die junge Magd«, das einige Szenen aus dem Leben der genannten Magd schildert, oder »Die Raben«, das drei verschiedene Situationen darstellt, in denen Raben auftauchen. Die meisten Gedichte des Bandes hingegen entwerfen die Stimmung einer bestimmten Situation (etwa der des frühen Abends), in der schlaglichtartig verschiedene Elemente perspektiviert werden, die unverbunden nebeneinander stehen. Beispielsweise richtet ein Gedicht wie »Im roten Laubwerk voll Guitarren …« den Blick nacheinander auf Mädchen, alte Menschen, Waisen, Fliegen, Frauen, ein einzelnes Mädchen (»[d]ie Kleine, die mir lang gefallen« [ITA I, 482]), Spatzen sowie einen Hungrigen. Die sich ergebende Stimmung ist eine des frühen Abends in einem beliebigen Dorf, in dem verschiedene Schicksale nebeneinander existieren und in dieser Existenz ziellos geworfen scheinen.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_20

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Beispiele für konkrete Motive, die sich durch den ganzen Band der Gedichte ziehen, sind die Stadt, der Abend sowie Verfall und Tod. Das Motiv von Stadt oder Dorf spielt u. a. in den Gedichten »Die schöne Stadt«, »De profundis« (II), »Vorstadt im Föhn«, »Ein Herbstabend« oder »Im Dorf« eine zentrale Rolle. Dabei werden einzelne Situationen im Dorf ausschnitthaft präsentiert. Gemeinsam ist diesen Situationen erstens, dass sie weitgehend unverbunden nebeneinanderstehen, also nicht narrativ eine Geschichte erzählen, sondern deskriptiv gestaltet sind, und zweitens, dass in der scheinbar harmlosen Dorfidylle der Abgrund des Verderbens und des Verfalls lauert: »Aus den braun erhellten Kirchen / Schaun des Todes reine Bilder« (ITA I, 405), heißt es in »Die schöne Stadt«, und die »Knaben spielen wirr von Träumen« (und nicht etwa kindlich-unbeschwert). In »Vorstadt im Föhn« ist die »Stätte öd und braun«, die »Luft von gräulichem Gestank durchzogen«, die Hütten sind »[g]educkt«, die Pfade »wirr verstreut« (ITA I, 573). Deutlich wird, dass Trakl das Dorf nicht als ländlich-idyllische Szenerie interessiert, etwa im Sinne Bruegelscher Genremalerei, sondern hinter den Fassaden die Abgründe aufdeckt – wobei diese Abgründe keine der Moral sind, sondern solche der conditio humana: Gewalt, Schicksalsschläge oder der Tod. Der Abend mit seiner spezifischen Stimmung ist sowohl mit dem Motiv des Dorfes als auch demjenigen des Verfalls eng verbunden. Konkret auf das Dorf bezogen, steht er für eine täglich wiederkehrende Szenerie und damit für eine Art ›Endlosschleife‹, eine Form der Unentrinnbarkeit, die das Leben kennzeichnet. Doch nicht nur die verschiedenen Betätigungen im Dorf neigen sich dem Ende zu, auch metaphorisch ist das Motiv des Abends mit demjenigen des (Lebens-)Endes verbunden. Am Abend »[e]rscheinen unsere bleichen Gestalten vor uns« (ITA II, 340 f., Textstufen 6 H und 7 D), der Abend ist die Zeit der Melancholie (»Melancholie des Abends«), »[v]erflossen ist das Gold der Tage« (ITA II, 53). Der Abend ist insofern der für Trakl wichtigste Moment des Tages, als es sich bei ihm um einen ambivalenten Moment des ›nicht mehr‹ und des ›noch nicht‹ han-

E. Schilling

delt. Der anbrechende Abend steht nicht mehr für die Produktivität und Klarheit des Tages, er steht aber auch noch nicht für die Ruhe und Dunkelheit der Nacht. In seiner liminalen Situation (zum Konzept vgl. Schilling 2018) hat der Abend Anteil am Tag und an der Nacht, es handelt sich um einen Moment des in beide Richtungen Offenen. Gleichzeitig ist im spezifischen Verständnis, wie Trakl es in der Sammlung der Gedichte entwirft, dieses Offene ein Offensein hin zum Verfall. Die Knaben und Mädchen, die in den Gedichten auftauchen, stehen nicht nur auf der Schwelle zum Erwachsenenleben, sondern auch bereits auf der Schwelle zum Tod, wenn von »blasser Kinder Todesreigen« (ITA I, 228) die Rede ist. Verfall und Tod sind das prägende Motiv der Sammlung. Pointiert formuliert Rüdiger Görner: »Trakls Gedichte zeugen vom Wirken der Toten und des Todes« und stehen dabei für eine »beispiellose[] Verfallsradikalität« (Görner 2014, 136 f.). Die Omnipräsenz des Verfalls beginnt bei explizit gewählten Gedichttiteln (»Verfall«). Sie reicht über die Schilderung konkreter Verfalls-Szenarien, etwa in der Natur (»[d]as Laub fällt rot vom alten Baum« [ITA I, 250]), oder – noch nachdrücklicher – im Bereich des menschlichen Lebens (»[u]nd dort verwest die Mutter mit dem Kind« [ITA I, 472]). Angedeutet wird der Verfall auch in scheinbar harmlosen Alltagshandlungen, die angesichts der Allgegenwart des Motivs ebenfalls auf dieses hin transparent werden (»[d]ie Magd löscht eine Lampe aus« [ITA I, 250]). Neben diesen Motiven greifen die Gedichte Symbole der christlichen Tradition auf, um sie neu zu funktionalisieren. Wolfgang Braungart spricht von einer »ganz tiefgreifende[n], strukturelle[n] Bedeutung der Auseinandersetzung mit der Religion« (Braungart 2000, 550) für das Werk Trakls. Das Ich ist dissoziiert (vgl. von Matt 1982, 69) und sehnt sich deswegen nach »einer rituellen, objektiven ästhetischen Ordnung« (Braungart 2000, 554), aus der es jedoch herausgefallen ist. Entsprechend sind die Symbole des Christentums ihrer Bedeutung beraubt und der Ambiguität anheimgegeben (vgl. Heidegger 2018, 72). So verbindet etwa die

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Geste des Mönches, der in den Leib des Elis »die wächsernen Finger taucht« (ITA II, 433), nicht nur, wie Esselborn ausführt (vgl. Esselborn 1991, 215), eine erotische mit einer mörderischen Komponente, sondern bezieht darüber hinaus die Geste des ungläubigen Thomas ein – und setzt damit die Elis-Figur mit Christus gleich. So kann in »Elis« eine Hinwendung zu einer subjektiv überformten Metaphysik gestaltet werden. Zwar »sagt sich Trakl am Schluß von allen metaphysischen und religiösen Heilsversprechungen los« (Kemper 1998, 165). Und doch ist das Christentum der Hintergrund, vor dem er seine Dichtung entwickelt. Formal spielen in den Gedichten traditionelle Muster eine wichtige Rolle. Zahlreiche Gedichte sind als Sonette gestaltet (z. B. »Verfall« [II], »In der Heimat«, »Ein Herbstabend«), auch liedhafte Elemente herrschen vor, wobei diese teils auf die Tradition des Volksliedes verweisen (»Romanze zur Nacht«, »Abendlied«), teils auf diejenige des Geistlichen Liedes (»Geistliches Lied«, »Rosenkranzlieder«). Als Entsprechung zur parataktischen Struktur der Darstellung sind vielfach Parallelismen als Strukturelement mehrerer Verse prägend (»Der Mörder lächelt bleich im Wein, / Die Kranken Todesgrausen packt. / Die Nonne betet wund und nackt« [ITA I, 492]). Was Trakl in Gedichte formal erstmals erprobt, ist die poetische Form des Langgedichts. »De profundis« (II), »Psalm« (I) oder »Helian« etwa »zeigen deutlich die Tendenz zum episch sich entfaltenden Gedicht« (Görner 2014, 128). Die meisten dieser Langgedichte zeichnen sich dadurch aus, dass sie auf Metrum und Reim verzichten; allenfalls einzelne rhythmische Gliederungselemente lassen sich nachweisen. Mit den kürzeren Gedichten gemein haben sie, dass sie verschiedene poetische Bilder aufrufen, die weitgehend unverbunden nebeneinanderstehen. In »Psalm« (I) etwa sind dies ein Stoppelfeld, ein Weiler, finstere Dörfer, eine Heide mit jeweils einzelnen Szenen; das Ganze wird überspannt von »Gottes Schweigen« und dem Klang »kristallne[r] Engel«. Wesentliches Strukturelement dieser Einzelperspektiven und ihrer Zusammenfügung im Langgedicht sind die

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»Es ist«-Formulierungen. Sie ermöglichen es, den Blick unvermittelt und wechselnd auf verschiedene Aspekte zu richten. Die dadurch entstehende Parataxe zeigt eine Welt, in der die Dinge zusammenhanglos nebeneinander existieren und (scheinbar) nichts miteinander zu tun haben, etwa am Beginn von »Psalm« (I): »Es ist ein Licht, das der Wind ausgelöscht hat. / Es ist ein Heidekrug, den am Nachmittag ein Betrunkener verläßt. / Es ist ein Weinberg, verbrannt und schwarz mit Löchern voll Spinnen« (ITA II, 24). Was bleibt, ist Schweigen (vgl. dazu Petit 1995; Klessinger 2007). Dieses verlässt sich nicht – wie später etwa bei Celan – auf die erhoffte Kommunikation mit einem Gegenüber, auf das das Gedicht ›zuhält‹, sondern gestaltet eine »radikale Stille« (Kemper 1998, 168). Und dennoch scheint selbst dieses radikale Schweigen von der Sehnsucht nach Kommunikation erfüllt: Gleich mehrere Gedichte der Sammlung thematisieren die Hoffnung auf ein Gespräch. Allen voran formuliert »Psalm« (I): »Schweigsam über der Schädelstätte öffnen sich Gottes goldene Augen« (ITA II, 25). Dieses Wechselspiel von Schweigen und (möglichem oder zumindest ersehntem) Sprechen ist Teil der Ambiguität, die Trakls Lyrik insgesamt kennzeichnet.

Literatur Braungart, Wolfgang: Zwischen Protestantismus und Katholizismus. Zu einem poetischen Strukturprinzip der Lyrik Georg Trakls. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 119 (2000), 545–563. Esselborn, Hans: »Blaue Blume« or »Kristallene Tränen«? Trakl’s Poetology and Relation to Novalis. In: Eric Williams (Hg.): The Dark Flutes of Fall. Critical Essays on Georg Trakl. Columbia 1991, 203–232. Görner, Rüdiger: Georg Trakl. Dichter im Jahrzehnt der Extreme. Wien 2014. Gumbrecht, Hans Ulrich: Stimmungen lesen. Über eine verdeckte Wirklichkeit der Literatur. München 2011. Heidegger, Martin: Unterwegs zur Sprache. Frankfurt a. M. 22018 (Gesamtausgabe I.12). Kemper, Hans-Georg: Zwischen Dionysos und dem Gekreuzigten. Georg Trakl und der Expressionismus. In: Wolfgang Braungart/Gotthard Fuchs/Manfred

192 Koch (Hg.): Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden. Bd. 2: Um 1900. Paderborn/ München/Wien/Zürich 1998, 141–169. Klessinger, Hanna: Krisis der Moderne. Georg Trakl im intertextuellen Dialog mit Nietzsche, Dostojewskij, Hölderlin und Novalis. Würzburg 2007. von Matt, Peter: Die Dynamik von Trakls Gedicht. IchDissoziation als Zerrüttung der erotischen Identität.

E. Schilling In: Horst Meixner/Silvio Vietta (Hg.): Expressionismus. Sozialer Wandel und künstlerische Erfahrung. München 1982, 58–72. Petit, Marc: Le Silence dans la poésie de Georg Trakl. In: Rémy Colombat/Gerald Stieg (Hg.): Frühling der Seele. Pariser Trakl-Symposion. Innsbruck 1995, 197–222. Schilling, Erik: Liminale Lyrik. Freirhythmische Hymnen von Klopstock bis zur Gegenwart. Stuttgart 2018.

»Die Raben« (1909/10)

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Mario Zanucchi

Obwohl das Gedicht »Die Raben« die Sammlung Gedichte eröffnet (Trakl 1913, S. 5) und somit eine exponierte und programmatische Stellung besitzt, hat die Forschung es seltsamerweise eher vernachlässigt (Bayerthal 1926, 15; Kossat 1939, 41; Lachmann 1954, 130; Cellbrot 2003, 27–29). Der unaufhaltsame, dämonische Leichenzug der Raben, die über das unschuldighilflose Land fliegen, um Schrecken und Unheil zu verbreiten, intoniert das Leitthema von Trakls Poetik und stellt seine gesamte Sammlung unter das finstere und triumphale Signum des Bösen. Bedeutsam ist das Gedicht auch in anderer Hinsicht, denn es repräsentiert einen geradezu klassischen Schulfall für die Problematiken der intertextuellen Trakl-Kommentierung. Insbesondere lässt sich daran der noch rudimentäre Zustand der intertextuellen Erschließung von Trakls Lyrik aufzeigen. Der HKA zufolge (II, 55) entstand das Gedicht »frühestens im August 1909, spätestens in der ersten Hälfte Juli 1910« die ITA (1, 392) dagegen verlegt die Entstehung auf die erste »JuniHälfte« vor. Veröffentlicht wurde der Text Ende 1912 / Anfang 1913 in der Anthologie Salzburg,

M. Zanucchi (*)  Deutsches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Freiburg, Deutschland E-Mail: [email protected]

die laut HKA im Januar 1913, laut ITA dagegen schon im Dezember 1912 erschien. Die aus dem Buhlig-Nachlass aufgetauchte Version des Gedichts (Weichselbaum 2016, 416) ist eine Abschrift der Salzburger Fassung von der Hand von Trakls Schwester Grete. Mit einigen Änderungen wiederaufgelegt wurde der Text in der Sammlung Gedichte, die er eröffnet. Auffallend gegenüber der in der Salzburg-Anthologie publizierten Fassung sind Unterschiede in Interpunktion und Orthographie sowie Änderungen im Wortlaut in V. 1 (»die lodernden Wälder« / »den schwarzen Winkel«), 3 (»den Büschen« / »der Hirschkuh«), 5 (»O! Wie sie die träge« / »O wie sie die braune«) und 6 (»die Erde« / »ein Acker«) auf. Der folgenden Analyse liegt die Fassung der Sammlung Gedichte zugrunde. Der Text besteht aus drei vierzeiligen Strophen mit meist vierhebigem Metrum (V. 5 und 7 sind fünfhebig), umarmendem Reim (abba cddc effe) und regelmäßig wechselnden Kadenzen: Die umschließenden Verse enden weiblichstumpf, die umschlossenen dagegen männlichklingend. Gliedern lässt sich das Gedicht in drei Sequenzen, die sich mit den drei syntaktischen Perioden des Textes decken. Während die beiden Einleitungsperioden nur jeweils zwei Zeilen umfassen, erstreckt sich die dritte Periode in einem weitausladenden polysyndetischen Gefüge über die gesamte zweite und dritte Strophe, die auch durch das Strophenenjambement von V. 8/9 miteinander verbunden werden.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_21

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Die metrische Gestaltung entspricht dieser Dreiteilung. Metrisch setzt das Gedicht daktylisch-trochäisch ein. Dieses schwere Metrum, das den ominösen und bedrohlichen Flug der Raben umschreibt, setzt sich durch eine – von einem Enjambement unterstützte – Synaphie in V. 2 fort, sodass beide Anfangsverse zu einer Einheit verschmelzen (»Über den schwarzen Winkel hasten / Am Mittag die Raben mit hartem Schrei«). Auch der zweite Teil bildet durch die synaphische Verbindung von V. 3 und 4 eine metrische Einheit, die sich aber vom ersten Teil durch das jetzt steigende jambisch-anapästische Metrum absetzt (»Ihr Schatten streift an der Hirschkuh vorbei / Und manchmal sieht man sie mürrisch rasten«). Die dritte Partie ist metrisch komplexer. Sie ›zitiert‹ zunächst das fallende und das steigende Metrum des ersten und des zweiten Teils, allerdings ohne Doppelsenkungen und auf streng alternierende Weise, und differenziert somit metrisch die anfängliche Beschreibung der Raben von der Reflexion über sie (»O wie sie die braune Stille stören, / In der ein Acker sich verzückt«). In den Folgeversen treten dann erneut Doppelsenkungen auf. Einzig die beiden jambischen Abschlussverse sind streng alternierend und von keinen Doppelsenkungen beschwert. Auch durch das Enjambement von V. 11/12 unterstützt, geben sie das schnelle Entfliegen der Vögel metrisch wieder (»Und schwinden wie ein Leichenzug / In Lüften, die von Wollust zittern«). In der ersten Sequenz des dritten Teils, welche die V. 5–7 umfasst, entweiht das Krächzen der Raben die friedliche Stille der Felder. Diese Partie wird auch metrisch in ihrer Einheit durch die Fünfhebigkeit des Anfangs- und Schlussverses (V. 5 und 7) markiert. Die zweite Sequenz, das misstönende Gekrächze der Raben um eine Tierleiche, ist jambisch-anapästisch und umfasst die V. 8 und 9, die durch Synaphie und Strophenenjambement miteinander verbunden werden (»Und manchmal kann man sie keifen hören // Um ein Aas, das sie irgendwo wittern«). Die dritte und letzte, jambisch-anapästische Sequenz schließlich setzt sich aus den drei letzten Versen zusammen. Während V. 10 mit zwei

M. Zanucchi

Doppelsenkungen das Ausbreiten der Flügel ausmalt, erreicht Trakl durch die schnelleren jambischen Vierheber der beiden Abschlussverse einen Akzelerationseffekt, der dem Davonfliegen der Raben in der Luft entspricht. Wie bereits in der christlichen Ikonographie (Braunfels 1971) erscheinen auch bei Trakl die harmlosen Schwarzgefiederten als unglücksschwangere und teuflische Vögel. Besonders das Mittelalter hatte die aasfressenden Kolkraben (corvus corax) zu Hexenbegleitern und Teufelstieren stigmatisiert. Diese ominöse symbolische Aura schreibt ihnen auch Trakl zu. Schon die erste Strophe führt sie als dämonische Wesen ein. Das Detail des »schwarzen« Winkels, worüber sie fliegen, evoziert auch ihr schwarzes Gefieder, das durch die späteren sch-Alliterationen im Gedicht klanglich präsent bleibt (»Schrei«, »Schatten«, »streift«). Ihr disharmonischer, unheilverkündender Schrei (»harter Schrei«) hallt ebenfalls im Rest des Gedichts in den »ei«-Assonanzen nach (»streift«, »vorbei«, »Weib«, »keifen«, »Leichenzug«). Als satanische Kreaturen bedrohen die Raben ein christlich konnotiertes Tier wie die Hirschkuh (V. 3), die in der Bibel als das fromme unter den wilden Tieren gilt – in Psalm 42,2 symbolisiert die nach Wasser schmachtende Hirschkuh das Verlangen des Christen nach der Nähe Gottes. Die Hindin ist auch das Attribut des hl. Ägidius, der eine gejagte Hirschkuh schützte (Detzel 1896, 37). Dass die Raben aber nicht nur das tierische, sondern auch das vegetative und das menschliche Leben bedrohen, zeigt die zweite Strophe. Ihr Krächzen zerstört die Stille des ernteschweren Ackers (V. 6–7), das mit einer Personifikation als schwangere Frau vorgestellt wird, und gefährdet somit auch das ungeborene Leben. Bei der synästhetischen Metapher »braune Stille« handelt es sich zugleich um eine Hypallage, da das Farbadjektiv »braun«, das als Attribut der Stille auftritt, von dessen Bezugswort »Acker« gelöst und neu zugeordnet wird. Schließlich entweihen die Raben in der dritten Strophe als Leichenfresser (»Aas«, V. 9) auch noch das bereits tote Leben. Charakterisiert die »Leichenzug«-Metapher die Raben erneut als Todes-

21  »Die Raben« (1909/10)

vögel, so lässt die Evokation der »Wollust« in den Lüften im Abschlussvers die Unheilverkünder auch zum Sinnbild von Ausschweifung und Sünde werden. Am Ende des Gedichts entschwinden die Raben ebenso unvermittelt, wie sie aufgetaucht sind. Ihr abruptes Entfliegen wird durch die Veränderung der anaphorischen Formel »Und manchmal« (V. 4 und 8) eingeleitet, die von iterativ zu ingressiv wird (»Und plötzlich«, V. 10). Nicht nur solche durch Konjunktionen eingeleitete Zeitbestimmungen, sondern auch das jähe Davonfliegen im Gedichtschluss erinnern stark an Rilke, in dessen Neuen Gedichten – die Trakl nachweislich besaß – sich häufig, und zwar bevorzugt am Gedichtende, eine pointierte Umschlags- und Verwandlungsdynamik vollzieht. Der plötzliche Fortflug der Raben könnte Rilkes »Flamingos«-Sonett nachgebildet sein (Rilke 1996–2003, I, 575), dessen Oktave übrigens im Reimschema mit Trakls Gedicht übereinstimmt und in dessen letzter Strophe die Vögel ebenso abrupt wie Trakls Raben »ins Imaginäre« schreiten (bei Trakl: »In Lüften«, V. 13). Auch die Selbstreflexivität, die dem Acker zugeschrieben wird (»sich verzückt«, V. 6), erinnert an die ästhetische Selbstgenügsamkeit der Flamingos (»verführen sie […] / sich selber«, V. 8–9). Das markante Strophenenjambement in Trakls Gedicht übrigens gehört zum festen Bestand von Rilkes Formenrepertoire und wird in den »Flamingos« sogar zweimal (in V. 4/5 und wie bei Trakl in V. 8/9) eingesetzt. Von Rimbauds ganz andersgeartetem RabenGedicht wiederum könnte Trakl die Überschrift seines Textes sowie die Wendung »mit hartem Schrei« (»mit heiserm Schrei«, Rimbaud 1907, 180) übernommen haben. Intertextuell scheint das Gedicht auch Trakls Lektüre der spätromantischen Dichtungen Wolfgang Müller von Königswinters zu bezeugen. In dessen Herbstblättern findet sich ein Rabengedicht, das den Flug der Raben mit einem Leichenzug parallelisiert (»Da schreitet ernst und trüb ein Leichenzug, / Ein graues Bild im grauen Nebeltage; / Hoch durch die Lüfte schwirrt der Raben Flug, / Am Boden hör ich dumpfe

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Liederklage«; Königswinter 1868, XI, 39). In einem anderen Gedicht aus demselben Zyklus, wo der Reim »Schrei« / »vorbei« fällt, wird der Zug der Wandervögel nach dem Süden mit dem winterlichen »Norden« des lyrischen Ich kontrastiert: »Zuweilen gellt ihr lauter wilder Schrei. / Sind es des Winters langgezogne Klagen? / Ziehn sie mit einem Jubelruf vorbei, / Daß rauschend sie zum Süd die Schwingen schlagen? // Ich weiß es nicht, doch ahnend fühl ich schon / Den Geist im Winter meines Nords ermüden: / Es lockt ein Märchen mit Syrenenton / Der ewigblühnde sonnenvolle Süden.« (ebd., VII, 37). Indem Trakl die Raben nach Norden ziehen lässt, betont er deren winterlich-unheimliche Dimension. Der Reim »wittern« / »zittern« ist bei Lenau häufig belegt (z. B. in »Der traurige Mönch« oder in »Stimme der Glocken«). Auch die abschließende Verknüpfung der Raben mit der Sphäre der Wollust könnte von Lenau angeregt worden sein: »An manchem Herzen jetzt die Geier zehrend haften, / Wie noch vor einem Tag die heißen Leidenschaften« (Lenau 1989–2004, II, 25, »Auf meinen ausgebälgten Geier«).

Literatur Bayerthal, Ernst: Georg Trakls Lyrik. Analytische Untersuchung. Frankfurt a. M. 1926. Braunfels, Sigrid: Art. ›Rabe‹. In: Lexikon der christlichen Ikonographie. Bd. 3. Rom u. a. 1971, 488–491. Cellbrot, Hartmut: Trakls dichterisches Feld. Freiburg i. B. 2003. Detzel, Heinrich: Christliche Ikonographie. Ein Handbuch zum Verständnis der christlichen Kunst. Zweiter Band: Die bildlichen Darstellungen der Heiligen. Freiburg i. B. 1896. Königswinter, Wolfgang Müller von: Gedenk verschollner Tage! Erinnerungsbuch. Hannover 31868. Kossat, Ernst: Wesen und Aufbauformen der Lyrik Georg Trakls. Hamburg 1939. Lachmann, Eduard: Kreuz und Abend. Eine Interpretation Georg Trakls. Salzburg 1954. Lenau, Nikolaus: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Hg. von Helmut Brandt, Gerard Kozielek, Antal Mádl, Norbert Oellers, Hartmut Steinecke, András Vizkelety, Hans-Georg Werner und Herbert Zeman. Wien 1989–2004. Rilke, Rainer Maria: Werke. Kommentierte Ausgabe. Hg. von Manfred Engel, Ulrich Fülleborn, Dorothea

196 Lauterbach, Horst Nalewski und August Stahl. Frankfurt a. M./Leipzig 1996–2003. Rimbaud, Arthur: Leben und Dichtung. Übertr. von K. L. Ammer [Ps. von Karl Klammer], eingeleitet von Stefan Zweig. Leipzig 1907.

M. Zanucchi Weichselbaum, Hans: Unbekannte Gedichte und Prosa Georg Trakls entdeckt. In: Uta Degner, Hans Weichselbaum und Norbert Christian Wolf (Hg.): Autorschaft und Poetik in Texten und Kontexten Georg Trakls. Salzburg/Wien 2016, 405–423.

»Musik im Mirabell« (1909/12)

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Frieder von Ammon

Eine erste handschriftliche Fassung dieses Gedichts entstand im August 1909 unter dem Titel »Farbiger Herbst« und wurde von Trakl in die »Sammlung 1909« aufgenommen. Ende September / Anfang Oktober 1912 begann er mit einer Überarbeitung dieser Fassung, da diese seinen Maßstäben offenbar nicht mehr genügte. Dennoch konnte er sich, anders als bei einigen anderen Gedichten, nicht dazu entschließen, die überarbeitete Fassung mit Blick auf eine Veröffentlichung in der Halbmonatsschrift Der Brenner an deren Herausgeber Ludwig von Ficker zu schicken. Ende November / Anfang Dezember 1912 fertigte Trakl unter dem Titel »Musik in Mirabell« dann eine maschinenschriftliche Reinschrift des in der Zwischenzeit weiter überarbeiteten Gedichts an, die er über Erhard Buschbeck (zusammen mit weiteren Gedichten) dem Münchner Albert Langen-Verlag zukommen ließ, der eine Veröffentlichung jedoch ablehnte. Erstmalig gedruckt wurde das Gedicht 1913 – nunmehr unter dem bekannten Titel – in Trakls erstem, im Leipziger Kurt Wolff Verlag erschienenen Gedichtband. Bei einem Vergleich der handschriftlichen ersten und der gedruckten zweiten Fassung

F. von Ammon (*)  Institut für Deutsche Philologie, LudwigMaximilians-Universität München, München, Deutschland E-Mail: [email protected]

zeigt sich, dass die zweite Strophe und vier weitere Verse (2, 3, 9, 10) abgesehen von der Interpunktion im Lauf des Überarbeitungsprozesses unverändert geblieben sind. An den anderen hat Trakl im Hinblick auf semantische, metrische, interpunktorische und orthographische Gesichtspunkte bis zuletzt gearbeitet. Die vierte Strophe wurde vollständig neu geschrieben (vgl. ITA I, 241–250; HKA I 60–62). Das Gedicht weist einige formale Auffälligkeiten auf. Sie beginnen mit dem Titel, der nicht nur – in Form eines jambischen Dreihebers – durchrhythmisiert, ja -metrisiert, sondern auch in anderer Hinsicht überaus klangvoll gestaltet ist: Die beiden äußeren Worte alliterieren und offenbar wurden auch die Vokale sehr bewusst platziert, sodass sich eine elaborierte klangliche Struktur ergibt. Insofern referiert der Titel auf Musik und praktiziert sie zugleich mit den Mitteln der Sprache. Dazu passt auch seine Doppeldeutigkeit: Es bleibt offen, ob die im Titel genannte Musik sich auf die im Text thematisierten musikalischen Phänomene bezieht oder vielleicht auch auf die (Sprach-)Musik des Gedichts selbst. Dazu passt des Weiteren, dass der Übergang zwischen Titel und Text fließend gestaltet ist, da der jambische Rhythmus des Titels im ersten Vers bruchlos fortgesetzt wird. Solche und weitere Techniken einer »Musikalisierung der Sprache« (Doppler 2001, 112) lassen sich im gesamten Text beobachten: So wird das (verbreitete)

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Strophenschema, bestehend aus vier mit Kreuzreim verbundenen Versen, denen metrisch ein jambischer Vierheber mit abwechselnd betonter und unbetonter Endung zugrunde liegt, streng durchgehalten; die einzige Abweichung davon ist eine bewusst gesetzte gegenmetrische Rhythmisierung in Vers 14 (»verfallene«): ein eingeschobener daktylischer Versfuß, der mit dieser Normabweichung auf den Verfall der Gänge verweist. Auffällig ist ferner die gehäufte Verwendung von Alliterationen und Assonanzen, die sich in Form von teilweise langen Wortketten durch den Text ziehen. Ins Auge bzw. Ohr stechen vor allem die Assonanz-Ketten mit den Diphthongen ›au‹, ›ei‹ und der Doppelassonanz ›a-e‹. Zudem verweisen die »Sonatenklänge« im letzten Vers des Textes in Form einer Ringkomposition zurück auf den Titel. Neben der ausgeprägten Musikalität des Gedichts ist seine Farbigkeit hervorzuheben, auf die der Titel der ersten Fassung (»Farbiger Herbst«) noch ausdrücklich verwiesen hatte und die sich in der Häufung teilweise differenzierter Farbwörter und Farbigkeit evozierender Formulierungen zeigt. Analog zur ›Musikalisierung‹ könnte man hier von einer ›Kolorisierung‹ sprechen. Im Hinblick auf seine syntaktische Struktur ist das Gedicht betont einfach gehalten: Es besteht aus kurzen, parataktischen Sätzen im Präsens, die meist mit der Einheit des Verses kongruieren, sodass sich ein reihender Gestus ergibt. Dazu trägt auch bei, dass sechs (von 16) Versen anaphorisch mit dem unbestimmten und vier weitere mit dem bestimmten Artikel beginnen. Der Reihung liegt – abgesehen von dem Strophenschema und einer groben Orientierung am zeitlichen Ablauf eines Tages – kein eindeutiges übergeordnetes Prinzip zugrunde. Die Folge der Einzelsätze wirkt deshalb eher traumhaft als rational kontrolliert. Eine weitere formale Auffälligkeit ist die (scheinbare) Subjektlosigkeit des Gedichts, in dem an keiner Stelle ein ›Ich‹ explizit in Erscheinung tritt. Als eine Art Wahrnehmungsinstanz ist es implizit aber dennoch vorauszu-

F. von Ammon

setzen. Wo diese Instanz zu lokalisieren ist und wie also ihre Perspektive zu bestimmen wäre, bleibt jedoch unklar: möglicherweise in dem »Raum« hinter dem »offne[n] Fenster«. Wo dieser Raum sich befindet, etwa in dem Schloss, das an den (im Titel, aber nur dort und außerdem eher assoziativ aufgerufenen) Salzburger Mirabellgarten angrenzt, bleibt ebenfalls unbestimmt. Klarer konturiert sind hingegen Jahres- und Tageszeit: Wie erwähnt, scheint das Gedicht sich grob am Ablauf eines beliebigen Tages im Herbst zu orientieren und endet entsprechend in der Nacht. Insgesamt bietet es atmosphärische Momentaufnahmen aus einer herbstlichen, dem Verfall geweihten und gerade darin als reizvoll erkennbar gemachten Szenerie, die zugleich aber von befremdlichen und latent bedrohlichen Elementen durchsetzt ist. Neben den intermedialen Bezügen auf die Musik weist der Text eine Vielzahl intertextueller Bezüge auf, die alle jedoch unspezifisch – eher Anklänge oder Entsprechungen als Zitate – sind und unmarkiert bleiben (vgl. ITA I, 243). Im Vordergrund stehen dabei Bezüge auf die symbolistische französische und die ästhetizistische deutsche Lyrik der frühen Moderne, in die sich Trakl auf diese Weise einschreibt (Zanucchi 2016, 632–648): Angeführt werden können Paul Verlaine u. a. mit seiner poetologischen Formel »De la musique avant toute chose« (Verlaine 1962, 326) und Arthur Rimbaud mit verschiedenen Texten (u. a. »Le dormeur du val«, »Tête de faune«), aber möglicherweise auch Stefan Georges Gedicht »Komm in den totgesagten Park und schau…« Zu solchen Einzeltextreferenzen kommen (ebenfalls unmarkierte) Systemreferenzen: So verweisen das Wort »verfallene« und auch einige weitere Wörter und Bilder (der »alte[] Garten«, der »Marmor«, der »Faun«) auf die Topoi der Décadence-Literatur. Nimmt man all diese Bezüge zusammen, kann »Musik im Mirabell« als ein einschlägiger, wenn auch etwas verspäteter Beitrag zur Fin de siècle-Lyrik aufgefasst werden, der den idiosynkratischen Stil von Trakls späteren Gedichten in Ansätzen aber bereits erkennen lässt.

22  »Musik im Mirabell« (1909/12)

Rezeptionsgeschichte »Musik im Mirabell« gehört zu den bekanntesten Gedichten Trakls. Neben der im Vergleich zu anderen Trakl-Texten relativ leichten Zugänglichkeit hat dazu auch die Tatsache beigetragen, dass das Gedicht 1985 auf einer Tafel im Salzburger Mirabellgarten angebracht wurde. Auf diese Weise wurde es einem internationalen Publikum bekannt. Im Hinblick auf die produktive Rezeption des Gedichts sind mehrere Vertonungen zu nennen (Winkler 1998) sowie Ulla Hahns Text »Trakl Notizen, Salzburg im Sommer 2013«, der für eine Publikation anlässlich von Trakls hundertstem Todestag im Jahr 2014 geschrieben wurde. In diesem Text wird »im Spiegel des Dichters finsterer Unglück-Seligkeit« das gegenwärtige Liebesglück der Autorin in rhythmisierter Prosa beschrieben (Hahn 2014, 31), bevor der Text dann abrupt in düstere, das Ende der Liebe ausmalende Verse im Stil Trakls übergeht. In der Forschungsdiskussion hat »Musik im Mirabell« bisher keine besondere Rolle gespielt. Eine biographische Interpretation des Gedichts bietet Weichselbaum (2009, 223  f.), Görner liest es im Kontext mit anderen ›Salzburg-Gedichten‹ Trakls und seinem (gemalten) Selbstporträt (2014, 89–113, 178 f.). Zuletzt wurde es im Rahmen des Gesamtwerks (Millington 2019, 46–53) sowie einer an ›Lyrik im Raum‹ inte-

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ressierten Lyrikforschung behandelt (Klimek 2020).

Literatur Doppler, Alfred: Die Lyrik Georg Trakls. Beiträge zur poetischen Verfahrensweise und zur Wirkungsgeschichte. Salzburg/Wien 2001. Görner, Rüdiger: Georg Trakl. Dichter im Jahrzehnt der Extreme. Wien 2014. Hahn, Ulla: Trakl Notizen, Salzburg im Sommer 2013. In: Trakl und wir. Fünfzig Blicke in einen Opal. Hg. und mit Nachworten sowie einer Zeittafel versehen und Mirko Bonné und Tom Schulz. München 2014, 31 f. Klimek, Sonja: Raum in der Lyrik – Lyrik im Raum. Zur Installation von Gedichten Georg Trakls in der Stadt Salzburg. In: Claudia Hillebrandt/Sonja Klimek/ Ralph Müller/Rüdiger Zymner (Hg.): Grundfragen der Lyrikologie. Bd. 2: Begriffe, Methoden und Analysedimensionen. Berlin/Boston 2020, 543–560. Millington, Richard: The Gentle Apocalypse. Truth and Meaning in the Poetry of Georg Trakl. Rochester (NY) 2019. Verlaine, Paul: Œuvres poétiques complètes. Texte établi et annoté par Yves-Gérard Le Dantec. Paris 1962. Weichselbaum, Hans: Georg Trakls Weg in die literarische Moderne. In: Károly Csúri (Hg.): Georg Trakl und die literarische Moderne. Tübingen 2009, 219– 234. Winkler, Bettina: Zwischen unendlichem Wohllaut und infernalischem Chaos: Vertonungen von Georg Trakls Lyrik. Salzburg/Wien 1998. Zanucchi, Mario: Transfer und Modifikation – Die französischen Symbolisten in der deutschsprachigen Lyrik der Moderne (1890–1923). Berlin 2016.

»Die schöne Stadt« (1911/13)

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Philipp Theisohn

Eine erste Druckfassung des Gedichts erschien im Mai 1911 in der »Zeitschrift für Musik und Literatur« Ton und Wort, die Satzvorlage ist nicht überliefert (ITA I, 401). Die weiteren Überarbeitungen, an deren Ende die Veröffentlichung in Gedichte steht, verändern Interpunktion, Orthographie und in einigen Versen, insbesondere in der dritten Strophe auch den Wortlaut. Hinsichtlich des Aufbaus – 28 Verse, sieben Strophen – treten im Laufe der Überarbeitungen keinerlei Abweichungen auf. In seiner metrischen Gestaltung – vierhebiger Trochäus mit durchgängig weiblicher Kadenz – scheint das Gedicht auf den ersten Blick unauffällig. Die aus der rhythmischen Schwere erwachsende Stimmung wird dabei gestützt durch das Reimschema, das den Paarreim der Mittelverse durch einen identischen Reim umschließen lässt. Verstärkt wird hierdurch der Eindruck einer Stasis, einer stetigen Rückkehr ins Immergleiche, ein Eindruck, der sich insbesondere dort aufdrängt, wo sich dieser Gleichlauf vermeintlich auch auf Struktur und Semantik des gesamten Verses ausdehnt, namentlich in der vierten Strophe (»Mädchen stehen an den Toren« / »Und sie warten an den Toren«, ITA I, 405).

P. Theisohn (*)  Deutsches Seminar, Universität Zürich, Zürich, Schweiz E-Mail: [email protected]

Apostrophiert wird somit ein der Zeit enthobener locus amoenus, als der zumindest in der Letztfassung zweifelsfrei die Stadt Salzburg identifiziert werden kann. (Dort referenziert der neunte Vers »Rösser tauchen aus dem Brunnen« eindeutig den Salzburger Residenzbrunnen.) Die Bebilderung dieses Ortes, die im Abschreiten von »[a]lte[n] Plätzen« (Strophe 1) und »braun erhellten Kirchen« (Strophe 2), im Passieren von Brunnen (Strophe 3), Toren (Strophe 4) und Gärten (Strophe 6) erfolgt, zielt gleichwohl nicht auf das Idyll, sondern auf dessen unmerkliche Verrückung. Formal entspricht dieser Verrückung die leichte Störung des Metrums in den Versen 14 und 25, die jeweils der dritten Hebung zwei Senkungen folgen lassen und damit die harmonisierende Faktur des Gedichts ins Bewusstsein treten lassen. (Die Annahme, dass diese momenthafte Aufhebung der Stasis ein Trakls Arbeit am Gedicht begleitender Gedanke gewesen sein könnte, ließe sich auch durch die erst auf der vorletzten Textstufe auftretende Variation des vierten Verses untermauern, die »Unter schwülen Buchen Schweigen« in »Unter schwülen Buchen Zweigen« verwandelt und damit bereits in der Eingangsstrophe die contrainte des identischen Reimes aufkündigt; ITA I, 405.) Die Stimmung, in der die »schöne Stadt« sich abzeichnet, ist somit als eine artifizielle markiert. Wer sich in der Stadt bewegt, in ihr Subjekt wird – wie die Nonnen in Vers 3 und die

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Knaben in Vers 11 –, der bewegt sich »[t]raumhaft« bzw. »wirr von Träumen«. Wer in ihr nur als stilles Bild erscheint, wie die Mädchen der vierten Strophe, der ist Teil des Traums und schaut »scheu ins farbige Leben«. In der Offenlegung des oneirophrenen Charakters des Ortes, der sich mit jeder Strophe von Neuem öffnet und schließt, löst sich das Gedicht auch sukzessive vom Sujet der städtischen Konkretion und macht sich als Medium einer Prozessualisierung von Wirklichkeit bemerkbar. ›Impressionistisch‹ ist »Die schöne Stadt« nur insofern zu nennen (schon Lachmann zeigt sich in diesem Punkt reserviert; Lachmann 1954, 69), insofern der Text in actu die Verfahren offen ausstellt, mit denen (ein mit Ausnahme von Keyserling in deutscher Sprache ohnehin nur spärlich existierender) literarischer Impressionismus arbeitet: Die Personifikation des Dinglichen (»Blütenkrallen drohn aus Bäumen«), die Autonomisierung des Akzidentiellen, des körperlichen Details (»Ihre feuchten Lippen beben«; »Silbern flimmern müde Lider«) und des Klanglichen (»Zitternd flattern Glockenklänge«; »Hoch im Blau sind Orgelklänge«). Letzteres – die musikalische Spur, der die Verse folgen – ist freilich für die Deutung des Gedichts entscheidend, rührt doch der Eindruck der ›Einkapselung‹ der schönen Stadt nicht zuletzt daher, dass sich das Gedicht selbst seinen Ursprung dort gibt. 23 Verse benötigt es, bis es zur ›Geburtsstätte‹ des Gesanges vordringt, denn »junge Mütter« erst sind es, die singen. Die Lyrik ruht am Grund dieser Welt. Aus ihr geht die Versammlung des Ortes in der Schwüle hervor, von ihrem Sprechen her entfalten sich das Lachen, das Singen ›heller Instrumente‹, die »Orgelklänge« »[h]och im Blau«, der »Marschtakt« und die »Glockenklänge«. All dies ist zu durchschreiten, um beim Gesang der Mütter, beim eigenen Ursprung wieder anzulangen. Konstatieren ließe sich folglich, dass das Gedicht auf der Makroebene die Mikroebene spiegelt: Den in den Strophen sich abschließenden Bildern entspräche eine Gesamtkomposition, in der die lyrische Stimme am Ende wieder an ihrem Ausgangspunkt anlangt. Allerdings endet das Gedicht nun nicht mit der sechsten Strophe.

P. Theisohn

»Leise« ist der Gesang der Mütter, und wie man mit Blick auf die Situierung des Wortes in Trakls Werk folgern kann, besitzt auch hier das ›leise‹ eine Bewegungsqualität. »Das Leise ist das Entgleitende«, wie Heidegger durchaus zutreffend beobachtet (Heidegger 2018, 39). Und so gleitet dieser Gesang nicht nur, von »Fremden« ›belauscht‹, durch eine Stadt zurück, die er dabei zugleich erstehen lässt. Er schwindet auch zum Ende dahin und ›haucht‹ von seinem Ursprungsort her ›heimlich‹ in die Schlussstrophe aus. Der Gesang von der ›schönen Stadt‹ ist ein vergänglicher Gesang. Er verzehrt sich, schon »flimmern müde Lider« – Insignien des Traumes, aber auch der Erschöpfung des Träumenden. Nicht übersehen darf man zudem, dass die schöne Stadt nicht zuletzt aus Prätexten gebaut ist. Neben den einmal mehr aufscheinenden Spuren der Klammerschen Rimbaud-Übersetzung in Vers 17 (»durch deine blonden Arme zittern Glockenklänge« heißt es dort im Prosagedicht »Antike«, Rimbaud 1921, 228) und dem in der symbolistischen Lyrik recht präsenten Weihrauch hat Aurnhammer jüngst einen bislang noch ungesehenen intertextuellen Bezug ausfindig machen können (Aurnhammer 2022, 136–145). So ziert Stefan Georges Hymnen (1892) eine Aufschrift, deren letzter Vers »Spielt durch ein Jahr der Traum in Blau und Gold« lautet (George 1966–1969, II, 10). Über Trakls zweiten Vers »Tief und Blau und Gold versponnen« (eine »[t]raumhaft« durchmessene Versponnenheit) ließe sich somit eine poetologische Bezugnahme Trakls auf George kon­ struieren; ein Verdacht, der wiederum durch den »Teer« erhärtet werden könnte, der sich auch in Georges Übertragung von Baudelaires »La Chevelure« findet (»Am öl des kokosbaums am bisam und am teer«, George 1966–1969, XIII/ XIV, 38 f.). Die eigentliche, strukturelle Referenz verortet Aurnhammer jedoch in Georges »Hochsommer«, das – bei freierer Stropheneinteilung – ebenfalls 28 Verse besitzt und ebenfalls, mit Ausnahme der jeweiligen Schlussverse, von einem vierhebigen Trochäus getragen wird. Tatsächlich erinnert die sechste Strophe von »Die schöne Stadt« sehr an die erste Strophe von »Hochsommer«: Auch dort »tönen« »[a]us den

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Gärten Klänge«, auch dort »[w]iegen sich die stolzen Schönen« (George 1966–1969, II, 36); in der zweiten Strophe findet man »kinder flink im spiel« (ebd., 37), die an die in Trakls dritter Strophe spielenden Knaben denken lassen. Indessen zeigt sich gerade mit Blick auf George die Reflexivität von Trakls Dichtung. Die bei George waltende Entsubjektivierung des Textraumes und die Verselbständigung der sinnlichen Empfindung stehen ganz im Dienst einer Feier des Schönen, der »galante[n| leere«. Diese Feier setzt voraus, dass der Ton der Dichtung herrscht: In der ersten Zeile endet ein Ton »auf den altanen«, in der zweiten aber erheben sich schon von neuem »klänge« aus den Gärten und halten vor bis zum Ende, an dem sich »Sanfte takte« sich dem »sanften kirren« »einer kleinen/Pompadur« vereinen. »Die schöne Stadt« – hier ist Aurnhammer zuzustimmen – antwortet George. Das Gedicht forciert aber nicht nur die im »Hochsommer« ausgestellte »Heterogenität und rauschhafte Übermacht der ästhetisch-erotischen Reize« (Aurnhammer 2022, 144). Es entleert vielmehr dessen Galanterie, indem es die lyrische Stimme an einen prekären Ort verrückt,

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nicht auf einem verklungenen Ton gründet, sondern selbst in den letzten beiden Strophen verklingen lässt. Der Georges Frühwerk zurecht attestierte impressionistische Stil wird hierdurch bei Trakl in seiner Mechanizität durchsichtig. Mag sich die Bildlichkeit auch durchaus verblüffend ähneln, so schaut sie in Trakls Gedicht zurück: Es sind »des Todes reine Bilder«, die man nicht sieht, weil sie selbst sehen. Ihnen gehört das Auge, in dem die »schöne Stadt« erscheint.

Literatur Aurnhammer, Achim: Stefan George in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts. Aneignung – Umdeutung – Ablehnung. Berlin/Boston 2022. George, Stefan: Gesamt-Ausgabe. Düsseldorf/München 1966–1969. Heidegger, Martin: Unterwegs zur Sprache. Frankfurt a. M. 22018 (Gesamtausgabe I.12). Lachmann, Eduard: Kreuz und Abend. Eine Interpretation der Dichtungen Georg Trakls. Salzburg 1954. Rimbaud, Arthur: Leben und Dichtung. Übertragen von K.L. Ammer. Leipzig 21921.

»An den Knaben Elis« (1913)

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Gabriela Wacker

Das Gedicht »An den Knaben Elis« (HKA I, 84) entstand im April 1913 auf der Hohenburg und erschien erstmals am 1. Mai desselben Jahres im Brenner, bevor es in den Zyklus Gedichte (1913) aufgenommen wurde (ITA II, 427). Das Gedicht stellt eine Art Requiem auf eine fiktive Kunstfigur, einen Nachruf auf einen verstorbenen Knaben namens Elis dar. In diesem freirhythmischen Gedicht tritt Elis als bereits Verstorbener wie eine Art Traumbild auf, was emphatisch und elegisch beklagt wird: »O, wie lange bist, Elis, du verstorben« (ITA II, 433; alle Zitationen und Versangaben in der Folge nach dieser Fassung). Indem Elis wiederholt durch eine Sprechinstanz angerufen wird, erfährt die fiktive Figur eine Beglaubigung und Charismatisierung (vgl. Wacker 2013, 332). Diese Formen der Dialogisierung verleihen dem Gedicht mit reimloser Strophenform einen odischen Grundcharakter (vgl. Heselhaus 1954, 393). Es besteht aus insgesamt sechs Versgruppen mit jeweils drei Versen und einem freistehenden Vers. Elis’ kindlich-unschuldiger, romantischer und androgyner Charakter wird dadurch hervorgehoben, dass seine Lippen »die Kühle des blauen Felsen-

G. Wacker (*)  Deutsches Seminar, Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Tübingen, Deutschland E-Mail: [email protected]

quells« trinken, er »mit weichen Schritten in die Nacht« geht und »die Arme schöner im Blau« regt. Sein Leib ist ferner in eine Hyazinthe verwandelt, wie das Werk des heiligen, von Trakl verehrten Dichters Novalis im Widmungsgedicht »An Novalis« (ITA III, 311, Textstufe 2 H) in eine blaue Blume (vgl. Marson 1975/1976, 371). Obgleich Elis sich in einer idyllischen Natur geradezu anmutig bewegt, ist sein Auftritt zugleich in ein apokalyptisch-prophetisches und dionysisches Szenario des Untergangs eingebettet,  das durch den drohenden Ruf der »Amsel im schwarzen Wald« in der ersten Strophe eingeläutet wird. Für Elis’ Passion und sein Martyrium sprechen seine stigmatisierten Körperteile, vornehmlich die blutende Stirn und der schwarze Tau auf seinen Schläfen. Die Toten-Klage gewinnt über die dargestellte Körperpoetik einen besonders authentischen, unmittelbaren Charakter. Es ist auffallend, wie fragmentiert diese Figur erscheint (vgl. Rainer 1980, 407), wenn sie im Wesentlichen über eine detailgetreue Beschreibung einzelner Körperteile vorgestellt wird (trinkende Lippen in V. 3, eine blutende Stirn in V. 4, weiche Schritte in V. 7, regende Arme in V. 9, mondene Augen in V. 11 und der Leib wie eine Hyazinthe in V. 13). Dadurch wird eine Kenntnis ihrer ganzen Gestalt suggeriert, die indes nebulös und unbestimmt bleibt. Elis’ gezeichneter Leib scheint durch die blutende Stirn überdies Legenden ›zuzulassen‹, d. h. sie zu erinnern und zu erzählen (V. 5 f.)

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_24

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und mutet dadurch selbst wie ein »Archiv von Legenden« (Wacker 2013, 327) an. Bedeutsam ist ferner das Motiv der Vogelschau als Teilbereich der Mantik, die den visionären und magischen Charakter der Figur unterstreicht. Verunreinigt (eventuell mit homoerotischer Konnotation, vgl. Kemper 1998, 155; Esselborn 2006, 179) oder auch (im Horizont des Märtyrerhaften) beglaubigt wird dieser beredte Leib des Knaben durch die Berührung eines Mönches (V. 14), eine weitere »Identifikationsfigur für den Dichter« (Esselborn 2006, 179) oder gerade ihr Gegenspieler. Im Kontrast zur beredten Körperpoetik wird »unser Schweigen« erwähnt, das gleichsam ein »sanftes Tier« hervorbringt, ein Hinweis auf die Gefährdung durch das Triebhafte. Wer sich hinter der mythenumwobenen Sagengestalt Elis verbirgt, ist in der Trakl-Forschung umstritten. In intertextueller Perspektive lassen sich diverse »Erinnerungsspuren« (Wacker 2013, 325) ausmachen: Diskutiert werden etwa eine im Nordwesten der Peloponnes liegende Landschaft Elis, die in Hölderlins »Der Einzige« und seinem Hyperion Gestalt gewinnt, und Verlaines geliebte, frühverstorbene Cousine Elisa als Namensgeberin (ITA II, 428). Erwogen wurde ferner eine Anspielung auf den Namensvetter Elis Fröbom, einen schwedischen Bergwerksarbeiter im 17. Jahrhundert, der als Protagonist in E.T.A. Hoffmanns Erzählung Die Bergwerke zu Falun (1818) und Hugo von Hofmannsthals Versdrama-Fragment »Die Bergwerke zu Falun« (1906) auftritt (vgl. Heselhaus 1954, 388–389 und 395). Elis kann aufgrund seiner Verwandlung in die Blume Hyazinthe ferner als Nachfahre des Hyazinth aus Novalis‘ Märchen Hyazinth und Rosenblütchen (vgl. Marson 1975/1976, 373), aber auch des Novalis selbst mit Blick auf sein Dichtergedicht betrachtet werden (vgl. Pfisterer-Burger 1983, 95 f.). Die im Namen angezeigte Verschmelzung von Novalis und Elis zur Kunstfigur »Neu-Elis« (Marson 1975/1976, 373) oder »Nov-Elis« (Wacker 2013, 306 f.) verweist auf den prägenden Einfluss des Romantikers auf Trakls Dichtungsverständnis. So wird Elis in Anverwandlungen der mythischen Gestalten des Endymion als

G. Wacker

Figur des ewigen Schlafs (vgl. Heselhaus 1954, 387) und des Hyakinthos als in eine Blume verwandelter Jüngling (vgl. Marson 1975/1976, 372) beschrieben. Überdies kann in Elis ein Verweis auf den prominenten Propheten des Alten Testaments namens Elijas (vgl. Finck 1974, 465) gesehen werden, denn mündlich wird aus dem Brennerkreis überliefert, Elis sei eine Verkürzung des Prophetennamens Elisa (vgl. Heselhaus 1954, 387). Erkennt man in Elis Züge einer visionären prophetischen Knabengestalt, lässt sie sich im Blick auf Trakls Seher-Autorpoetik in die Tradition berühmter Seher-Dichter wie Hölderlin, Novalis, Nietzsche und Rimbaud und deren visionärer Figuren einreihen. Allgemeiner gehalten wird hinter der mythologisierten Knaben- und Heilsgestalt Elis ferner ein androgynes Wesen mit selbstzerstörerischen Sehnsuchtstendenzen zur Ganzheit (vgl. Kleefeld 2009, 111), ein »in den Untergang gerufene[r] Fremdling« (Heidegger 2018, 50), eine Verkörperung des Zustands der Kindheit (vgl. Hermand 1959, 229) und der verlorenen Reinheit (vgl. ebd., 231) sowie allgemein eine Elysiumsvorstellung (vgl. Meyknecht 1935, 32) vermutet. Sein Name lässt sich umgekehrt gelesen auch von lateinisch »sile!« und als Anagramm gelesen »leis« (Kemper 1970, 192) herleiten. Zuletzt wird Elis als »mantischer Rauschträumer« charakterisiert (Kemper 2014, 227 f.). Elis und die anderen Traklschen Figuren Sebastian, Kaspar Hauser und Helian werden als »Evokationen lyrischen Daseins« (Pfisterer-Burger 1983, 8), als Medien der »Selbstbegegnung« (Killy 1960, 7) und als »Sinnbilder von Trakls eigener Existenz« (Heselhaus 1954, 388) interpretiert. Der vorgestellten »Doppelnatur von romantischer Naturverbundenheit und märtyrerhaften Leiden« (Wacker 2016, 169) entspricht auch die Elis-Figur im »Elis«-Gedicht, das drei Monate später folgte. Hier wie dort lässt sich Elis näher als Grenzgänger zwischen zwei gegensätzlichen Welten beschreiben, in seiner Doppelgestalt ist er als »Lichtkörper« ein »Wunschbild einer traumhaften und verklärten Daseinsweise« und als »Nachtkörper« verkörpert er »den Frühverstorbenen, den Leidenden und Duldenden« (Pfisterer-Burger 1983,

24  »An den Knaben Elis« (1913)

104). Letztlich ist er »Ruhender« und »Leidender« zugleich (Rainer 1980, 410). Diskutiert werden kann, ob man ihn in poetologischer Perspektive als »Evokation der Stille« (Kemper 1970, 190) versteht oder als Medium einer besonderen »(Leidens-)Sprache, wie es im Topos der prophetischen Leidensmänner und deren ›Sprach-Passion‹ verankert ist« (Wacker 2013, 316). Dem Gestus radikaler Sprachskepsis diametral entgegengesetzt verkörpert die Elis-Figur, die einen Dornbusch in Erinnerung an die biblische Mose-Geschichte mit ihren »mondenen Augen« ertönen lässt, dank ihrer stark ausgeprägten Körperpoetik und Gebärdensprache die »Wiederbelebung einer Ursprache« (Wacker 2013, 317). Diese, an der Grenze zwischen Apollinischem und Dionysischem angesiedelt, reicht in ihrem Ausdruckspotential von der blutenden Stirn über die sich im Blau regenden Arme und die Identifizierung seines Leibs als Hyazinthe bis zum Mahnmal seiner von schwarzem Tau bedeckten Schläfen. Insbesondere die letzten Verse »Auf deine Schläfen tropft schwarzer Tau, // Das letzte Gold verfallener Sterne« markieren den Trakl-typischen Schwebezustand zwischen »Erlösungshoffnung und ihrer Negierung« (Kemper 1997, 256). Demnach lässt sich Elis als »Grenzfigur zwischen Nähe und Ferne, Fragment und Ganzheit, Leben und Tod, Idylle und Passion, Sagen / Tönen und Schweigen, Legende und Zukunftsvision, Dichter und Prophet« (Wacker 2013, 331) näher charakterisieren. Das hier vorgestellte »Martyrium des Dichters« (Kleefeld 2009, 191) ermöglicht letztlich erst »das aus Leiden geschaffene Lied« (Rainer 1980, 409), das Gedicht. Einen »poetischen Rückblick auf die Elis-Gestalt« (Esselborn 2006, 176) enthält das Gedicht »Abendland« (II) aus dem Frühjahr 1914 (vgl. Bergengruen 2006, 267–268).

Literatur Bergengruen, Maximilian: Untergang der »Mondnacht«. Umschreibungen in Trakls »Abendland«. In: Ders./ Davide Giuriato/Sandro Zanetti (Hg.): Gestirn und Literatur im 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main 2006, 261–276.

207 Esselborn, Hans: »Blaue Blume« or »Kristallene Tränen«? Trakl’s poetology and relation to Novalis. In: Eric Williams (Hg.): The dark flutes of fall. Critical essays on Georg Trakl. Columbia 1991, 203–232. Esselborn, Hans: Trakls Knabenmythos. In: Harald Hartung (Hg.): Gedichte und Interpretationen. Bd. 5: Vom Naturalismus zur Jahrhundertwende. Stuttgart 2006, 176–184. Finck, Adrien: Georg Trakl. Essai d’interprétation. Lille 1974. Heidegger, Martin: Unterwegs zur Sprache. Frankfurt a. M. 22018 (Gesamtausgabe I.12). Hermand, Jost: Der Knabe Elis. Zum Problem der Existenzstufen bei Georg Trakl. In: Monatshefte 51 (1959), 225–236. Heselhaus, Clemens: Die Elis-Gedichte von Georg Trakl. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 28 (1954), 384-413. Kemper, Hans-Georg: Georg Trakls Entwürfe. Aspekte zu ihrem Verständnis. Tübingen 1970. Kemper, Hans-Georg: Gestörter Traum. Georg Trakl, »Geburt«. In: Silvio Vietta/ders. (Hg.): Expressionismus. München 61997, 229–285. Kemper, Hans-Georg: Zwischen Dionysos und dem Gekreuzigten. Georg Trakl und der Expressionismus. In: Wolfgang Braungart/Gotthard Fuchs/Manfred Koch (Hg.): Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden. Bd. 2: Um 1900. Paderborn/ München/Wien/Zürich 1998, 141–169. Kemper, Hans-Georg: Droge Trakl. Rauschträume und Poesie. Salzburg/Wien 2014. Killy, Walther: Über Georg Trakl [1960]. Göttingen 31967. Kleefeld, Gunther K.: Mysterien der Verwandlung. Das okkulte Erbe in Georg Trakls Dichtung. Salzburg/ Wien 2009. Klessinger, Hanna: Krisis der Moderne. Georg Trakl im intertextuellen Dialog mit Nietzsche, Dostojewskij, Hölderlin und Novalis. Würzburg 2007. Marson, Eric Lawson: Whom the Gods Love. A new Look at Trakl’s Elis. In: German Life and Letters 29 (1975/76), 369–381. Meyknecht, Werner: Das Bild des Menschen bei Georg Trakl. Münster 1935. Pfisterer-Burger, Kathrin: Zeichen und Sterne. Georg Trakls Evokationen lyrischen Daseins. Salzburg 1983. Rainer, Ulrike: Georg Trakls Elis-Gedichte. Das Problem der dichterischen Existenz. In: Monatshefte 72 (1980), H. 4, 401–415. Thauerer, Eva: Ästhetik des Verlusts. Erinnerung und Gegenwart in Georgs Trakls Lyrik. Berlin 2007. Wacker, Gabriela: Knaben-Kult. Maximin und Elis als auto(r)fiktionale Schöpfungsmythen bei George und Trakl. In: Uta Degner/Hans Weichselbaum/Norbert Christian Wolf (Hg.): Autorschaft und Poetik in Texten und Kontexten Georg Trakls. Salzburg/Wien 2016, 161–191. Wacker, Gabriela: Poetik des Prophetischen. Zum visionären Kunstverständnis in der Klassischen Moderne. Berlin/Boston 2013.

»Der Gewitterabend« (1910)

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Daniel Carranza

Dem Gedicht »Der Gewitterabend« – entstanden im Juni 1910 und in der zweifachen Überarbeitung zum Druck nur noch geringfügig abgeändert – kommt eine werkbiographische Sonderstellung zu, insofern es den Ausgangspunkt einer Auseinandersetzung bildet, in deren Verlauf sich Trakl ausnahmsweise einmal poetologisch äußert. Ludwig Ullmann, literarischer Leiter des Wiener »Akademischen Verbandes für Literatur und Musik«, war in Besitz einer Abschrift des Textes gekommen und hatte seinerseits Trakl ein Gedicht vorgelesen, das Trakl als eine peinliche Nachbildung empfand (ausführlich hierzu Weichselbaum 1994, 84 f.; Weichselbaum 2009). Gegenüber Erhard Buschbeck beschwerte sich Trakl im Juli 1910 in einem Brief: »Nicht nur, daß einzelne Bilder und Redewendungen beinahe wörtlich übernommen wurden […] [, es] sind auch die Reime einzelner Strophen und ihre Wertigkeit den meinigen vollkommen gleich, vollkommen gleich meine bildhafte Manier, die in vier Strophenzeilen vier einzelne Bildteile zu einem einzigen Eindruck zusammenschmiedet, mit einem Wort bis ins kleinste Detail ist das Gewand, die heiß errungene Manier mei-

D. Carranza (*)  Department of Germanic Languages & Literatures, Harvard University, Cambridge, USA E-Mail: [email protected]

ner Arbeiten nachgebildet worden. Wenn auch diesem ›verwandten‹ Gedicht das lebendige Fieber fehlt, das sich eben gerade diese Form schaffen mußte, und das ganze mir als ein Machwerk ohne Seele erscheint…« (ITA I, 408). Trakl bedient sich einer poetischen Bildlichkeit zweiter Ordnung, um die Authentizität seiner poetischen Technik, die oft als »Reihungsstil« bezeichnet wird, gegenüber Ullmanns sklavischer Nachahmung zu charakterisieren: Im Gegensatz zu dessen »Machwerk ohne Seele«, das nur ein äußeres »Gewand« oder eine »Maske« bleibt (ebd.), ist Trakls »bildhafte Manier« ebenso von innen beseelt wie sein »Antlitz[]« (ebd.) und lässt das Nebeneinander von vier »Bildteilen« in jeder Strophe zu einem einzigen »Eindruck« verschmelzen. Trakl beschreibt seine poetische Technik somit als einen affektiven Habitus (eine »heiß errungene Manier«), der das Pathologische um der schöpferischen Vitalität willen umwirbt (»das lebendige Fieber«). »Der Gewitterabend« besteht aus vier Strophen, die jeweils vier Zeilen in einem trochäischen Tetrameter mit weiblicher Kadenz enthalten. Die erste Strophe beginnt mit einer Apostrophe: »O die roten Abendstunden!«. Hier kehrt das »O« des Apostrophs in der »roten« Farbe dieser Tageszeit wieder. Trakl mobilisiert eine durchkomponierte phonetische Konfiguration, die sublexikalische semantische Assoziationen im ganzen Gedicht zu erzeugen vermag, besonders am Anfang. Insbesondere die Kon-

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_25

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sonanz hat die Funktion, Verszeilen als eigenständige, kohärente Sinneinheiten zu konsolidieren: f flimmert durch die Zeile »Flimmernd schwankt am offenen Fenster«, während w sich durch die dritte Zeile »Weinlaub wirr ins Blau gewunden« windet. Diese Muster sind jedoch nicht ausschließlich als Klangeffekte auf der phonologischen Ebene des kodifizierten, differenzierten Zeichens oder Phonems zu verstehen, sondern auch auf der phonetischen Ebene der artikulatorischen Lautgebärden. Es ist also nicht nur eine andere Konsonanz, die die zweite und dritte Zeile klanglich zusammenfügt, sondern eine gestische Umwandlung des stimmlosen labiodentalen Frikativs f in den stimmhaften labiodentalen Frikativ v. Obwohl die erste Strophe auf ihrer wörtlichen semantischen Ebene nur visuelle Eindrücke vermittelt, wird beim Vorlesen ein implizites Gestenskript von Artikulationen ausgeführt, das den Akt der Lautbildung und seine klanglichen Auswirkungen in den Vordergrund des Bewusstseins des (Vor)Lesers stellt. Neben den phonetischen Mustern und den geskripteten Lautgebärden leitet die erste Strophe auch ein anderes Strukturmuster im Gedicht ein, nämlich die Semantisierung des Fensters als Grenze zwischen dem Innen und dem Außen in der zweiten Zeile jeder Strophe. Auf der Ebene ihres semantischen Inhalts etablieren die zweite und dritte Zeile das Fenster als eine offene Grenzzone, die Sinneskanäle und ontologische Unterscheidungen in einen Zustand flimmernden Schwankens bringt. »Weinlaub« und »Blau« sind also »wirr« ineinander »gewunden« in einer Art von hieròs gámos zwischen Erde und Himmel am Fenster: das au des »Weinlaubs« der Erde wird mit dem »Blau« des Himmels geteilt. Die – im gesamten Gedicht – einzige Beschwörung eines Innenraums findet sich in der vierten Zeile: »Drinnen nisten Angstgespenster«. Diese »Angstgespenster« benennen die affektive Tonalität des Gedichts: Lesen lässt sich dieses, als ob jene »Angstgespenster« durch das offene Fenster freigesetzt wurden und sich nun als Projektionen der Angst in ansonsten gleichgültigen Naturphänomenen wieder-

D. Carranza

finden. (So, wie analog in »Musik im Mirabell« der »Feuerschein« im Raum »trübe Angstgespenster« ›malt‹; ITA I, 250.) Das Gedicht selbst reflektiert die anthropologischen Möglichkeitsbedingungen der personifizierenden Metaphern in der zweiten und dritten Strophe. Die zweite Strophe setzt die Verwendung phonetischer Muster als Konsolidierungsmittel der Verszeile fort: (s)t und G wiederholen sich in »Staub tanzt im Gestank der Gossen«. Eine akustische Invokation des Fensters folgt auf die primär visuelle der ersten Strophe: »Klirrend stößt der Wind in Scheiben«. Wenn das Fenster in der ersten Strophe als eine Art »offenes« Auge fungierte, das für die verschwommenen visuellen Eindrücke von Rot und Blau empfänglich war, so übernimmt es in der zweiten Strophe die Funktion eines Trommelfells. Das ganze Gedicht hindurch registriert das Fenster den Verlauf des Sturms als eine Art vibrierende Membran, die für die heftigsten Sinneseindrücke aus der Außenwelt offen ist. In der zweiten Strophe wird auch die erste ›echte‹ Metapher verwendet: »Einen Zug von wilden Rossen / Blitze grelle Wolken treiben«. Entscheidend ist hier, dass das Gedicht das Wort »wie« auslässt, das das Gleichnis explizit etabliert hätte. Die Verschiebung des Verbs bis zum Ende des Satzes und der Strophe erzeugt eine weitere Spannung und Zweideutigkeit, die erst ganz am Schluss aufgelöst wird. Wie in der ersten Strophe vereinen sich jedoch auch hier irdische und himmlische Welten, nun allerdings in der Sprache der metaphorischen Äquivalenz und nicht mehr in der visuellen Wahrnehmung: Die gewaltsam zerstreuten Wolken des Himmels werden als rasende Pferde der Erde imaginiert. Die dritte Strophe intensiviert die gewaltsamen Einbrüche der zweiten. Das wirre Winden des W-Phonems bahnt sich seinen Weg durch die zweite und dritte Strophe, von »dem Wind« in den Fensterscheiben zu den »wilden Rossen« der »Wolken«, von den Wolken zum »Weiherspiegel«, der »[l]aut zerspringt«. War das Fenster vorher durchsichtig (erste Strophe) oder akustisch klappernd (zweite Strophe), so wird es nun von »Möven« bewohnt, die »schrein

25  »Der Gewitterabend« (1910)

am Fensterrahmen« (sie schreien, obgleich sie in Trakls Werk doch einige Male erscheinen, nur an dieser einzigen Stelle). Das offene Fenster als semiotische Grenze zwischen Innerem und Äußerem hat sich im Laufe des Gedichts immer mehr zu einem Schwellenraum ausgeweitet, der selbst bewohnt werden kann. Die zweite Metapher im Gedicht bewegt sich somit jenseits aller Gleichnishaftigkeit: »Feuerreiter sprengt vom Hügel / Und zerschellt im Tann zu Flammen«. Der Bildspender des Pferdes wird in der zweiten Strophe verwendet, um die Wolken darzustellen, die vom Blitz getrieben werden, aber jetzt hat sich der Bildempfänger in den Blitz selbst verwandelt. Der »Feuerreiter« dient hier auch als intertextuelle Anspielung auf Mörikes Anti-Ballade »Der Feuerreiter« (1823/24). Die vierte Strophe weicht von den vorangegangenen drei ab: Das Fenster ist verschwunden, eine Abwesenheit, die ein grenzenloses Ineinander von Innen und Außen, von subjektiver Innerlichkeit und meteorologischer Landschaft signalisiert. Zum ersten Mal wird hier auch der Mensch adressiert – als lautgebendes Wesen –, wiederum durch eine zeileninterne Konsonanz: »Kranke kreischen im Spitale«. Zugleich wird eine Inversion der Sphären vollzogen: Wurde der Himmel zuvor als flammender Boden unter dem Sturm rasender Rosse imaginiert, so verwandelt sich der nächtliche Boden der Stadt nun in einen von Vögeln bewohnten Himmel: »Bläulich schwirrt der Nacht Gefieder«. In diesem Schwirren von Federn weichster Textur erreicht das Gedicht den Gipfel der Synästhesie: Die Genitivkonstruktion der Metapher (»der Nacht Gefieder«) löst die Nacht in einen dreifachen Sinneseindruck auf, der gleichermaßen visuell, akustisch und taktil ist, eine Art absoluter Empfindung ohne objektives Korrelat.

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Aufgrund der häufigen Platzierung von Verben am zweiten Wort jeder Zeile fungiert in »Der Gewitterabend« das erste Wort oft als Adverb, das verschiedene Sinneskanäle synästhetisch miteinander verschränkt oder den einen zu einem Effekt zweiter Ordnung des anderen macht: »Flimmernd schwankt«; »Klirrend stößt«; »Laut zerspringt«; »Bläulich schwirrt«; »Glitzernd braust«. Nun, da die »roten Abendstunden« der blauen »Nacht« gewichen sind, endet das Gedicht »mit einem Male« in einer plötzlichen Beschwörung des »Regens auf die Dächer nieder«. Das Gedicht hat das architektonische Element des Fensters konsequent eingesetzt, um die sensorischen Eindrücke des Gewitters entlang einer horizontalen Achse zu chaotisieren, die nach und nach das Äußere und das Innere, den Himmel und die Erde, das Visuelle, das Akustische, das Taktile und das Olfaktorische miteinander verschränkt. Indem es sich auf die vertikale Achse beruft, die durch »die Dächer« und die Bewegung des Regens »nieder« angedeutet wird, suggeriert das Gedicht ein ›Bestürmen‹ des Ichs, dargestellt als die räumliche Begrenzung eines Hauses, einer von »Angstgespenster[n]« geplagten Innerlichkeit. Erreicht wird durch diese Überschneidung von horizontaler und vertikaler Achse aber die totale Aussetzung, Permeabilität und damit Verwundbarkeit menschlicher Konstruktionen und Abwehrmechanismen im Angesicht des Sturms.

Literatur Weichselbaum, Hans: Georg Trakl. Eine Biographie mit Bildern, Texten und Dokumenten. Salzburg 1994. Weichselbaum, Hans: Georg Trakls Weg in die literarische Moderne. In: Károly Csúri (Hg.): Georg Trakl und die literarische Moderne. Tübingen 2009, 235–248.

»Traum des Bösen« (1911/12)

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Philipp Theisohn

Das vermutlich im Dezember 1911 oder im Januar 1912 entstandene Sonett (Zwerschina 1990, 239) war ursprünglich für den Abdruck im Brenner vorgesehen, fand stattdessen aber dann seinen Platz in Trakls erster Sammlung Gedichte (1913). Mahrholdt zufolge lautete der ursprüngliche Titel »Traumsonett« (Mahrholdt 1926, 81). In der vorliegenden Korrekturfahne für den Brenner besitzt das Gedicht noch keinen Titel. Die Überschrift »Traum des Bösen«, über welche sich ein Bezug zu K.L. Ammers Übertragung von Verlaines Gedicht »Cauchemar« unter dem Titel »Böser Traum« herstellen lässt (Verlaine 1907, 12), wurde von Trakl dort handschriftlich nachgetragen. Nach dem Erstabdruck hat Trakl das Gedicht weiter überarbeitet: Das Franz Zeis von Trakl selbst überreichte Exemplar der Gedichte weist neben zwei kleineren Abänderungen in den Versen 7 und 12 auch eine völlige Neufassung der ersten Strophe auf. Eine weitere Korrektur des Anfangsverses findet sich schließlich (zusammen mit einer Überarbeitung von »Menschliches Elend«) in Trakls letztem Brief an Ludwig von Ficker vom 27. Oktober 1914 (ITA V.2, 694–701), sodass »Traum des

P. Theisohn (*)  Deutsches Seminar, Universität Zürich, Zürich, Schweiz E-Mail: [email protected]

Bösen« tatsächlich auch das Schlussstück des Werks bildet. Das Sonett ist nahezu regelhaft gestaltet. Fast durchgängig – mit zwei Ausnahmen – wird es durch den fünfhebigen Jambus mit weiblicher Kadenz bestimmt. Die beiden Quartette folgen dem Reimschema abba – abba, die Terzette variieren hingegen die Reimfolge von cdd zu dcc, wobei sich die Vokalität der Reime vom ersten zum zweiten Terzett entrundet (»Bösen« – »lesen«, »verwesen«; »düster«, »Geflüster« – »Geschwister«). Angesichts der formalen Strenge fällt den beiden metrischen Störmomenten im Auftakt – das »Schwarz« in Vers 8 einerseits, das »Aussätzige« in Vers 13 andererseits – eine gesteigerte strukturelle Bedeutung zu. So markiert die durch die schwere und assonante Doppelhebung am Eingang bestimmte Zeile »Schwarz ragt der Kirchen trauriges Gepränge« (ITA I, 515) nicht nur die Zäsur zwischen Quartetten und Terzetten, indem sie eine Verlangsamung des Verslaufs erzwingt. Wieder aufgenommen wird im »Schwarz« auch die Farblichkeit der »schwarzen Zimmer[n]« des zweiten Verses. Der Rahmen der sich in den ersten beiden Strophen ausfaltenden Vorstellungen wird somit geschlossen. Die Lichtlosigkeit der Zimmer, die eine Schau der blitzenden und farbigen Welt durch die Fenster erst möglich macht, ist zum Schwarz des Außenraums geworden. Während die Quartette noch mit einer ganzen Reihe an

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Farbadjektiven aufwarten – neben der Schwärze »braungoldne Klänge«, »rote Kittel« und »goldne[r] Glanz« – kennen die Terzette nur noch die beiden Helligkeitswerte »bleich« und »düster«. Die gegen das Metrum sich wendende Hebung »Schwarz« markiert somit auch die Grenze der Farbskala – und damit auch eine imaginative Grenze. Anders verhält es sich mit der zweiten Abweichung vom Metrum, dem spondeisch anlautenden »Aussätzige« in Vers 13. Tatsächlich handelt es sich hierbei nicht nur um einen metrischen Bruch, sondern auch um ein Enjambement – das einzige in diesem Gedicht –, um einen Vers, der in seiner syntaktischen Funktion ganz durch die vorausgehende Zeile »Des Vogelfluges wirre Zeichen lesen« bestimmt wird. Zum einen wird damit die grundsätzlich asyndetische Struktur des Gedichts aufgebrochen, wie es freilich auch bereits in Vers 3 geschieht. Dort trennt der Zeilenumbruch jedoch den Hauptsatz (»Ein Liebender erwacht in schwarzen Zimmern«) sauber von der folgenden adverbialen Bestimmung (»Die Wang’ an Flammen«). In Vers 13 wird hingegen das Subjekt des vorangehenden Verses überhaupt erst eingeführt; die Aussätzige[n] sind somit tatsächlich ›aus dem Satz gefallen‹. Auch diese Deviation wird im Folgenden noch interpretatorisch geltend zu machen sein, denn sie verbindet sich tatsächlich mit dem Gestus der Deutung selbst. Zunächst jedoch wäre der durch den Titel annoncierte Modus des Traumes näher zu bestimmen. Ins Auge fällt dabei die gegenläufige Inszenierung des Traums als ein Erwachen im Nachhall: Der Ursprungslaut – der Gongschlag – ertönt diesseits des Gedichtes, das seinerseits somit als ein Notat der abebbenden Schallwellen gelesen werden muss. Erst aus dieser Nachzeitigkeit heraus fallen im zweiten Vers Träumen und Wachen in eins, wird der »Liebende« als ein verschobenes Subjekt kenntlich, das sowohl Traumvorstellungen empfängt wie es zugleich selbst erträumtes Medium ist. Die Situierung des »Liebenden« entspricht dabei jener Verortung, die Trakls Dichtung grundsätzlich der Figur zukommen lässt: So erkennt »Abendland« (II) in der »Nacht / Die Wohnung des Liebenden« (ITA

P. Theisohn

IV.1, 246), in »Abendspiegel« wiederum »welken still die Stunden / Des Liebenden« am »offenen Fenster« (ITA II, 464). Die Gestalt konstituiert das Feld der nächtlichen Schau. Was sie liebt, interessiert dabei vorerst weniger als die Wahrnehmung, zu der sie die Liebe befähigt: Der erhöhte, distanzierte Blick, den zugleich – wie Hölderlins ›Liebenden‹ (Hölderlin 1975– 2008, V, 474) – der ›Abgrund hat‹ und der »des Lebens / Flug« durchquert, um am Ende wieder in die Schwärze zurückzukehren. Mit dem Wechsel von ›schwarz‹ zu ›bleich‹ führt das erste Terzett sodann den »Geist des Bösen« ein. Positioniert ist dieser als Erkanntes wie Erkennendes, Durchschautes wie Schauendes und es läge nahe, dieser Ambivalenz auch zu folgen. Zu entscheiden wäre dann, ob die Hellsicht des Liebenden hier immer noch waltet und der »Geist des Bösen« somit zum eigentlichen Objekt des Traumes avanciert, als dessen »Masken« die Bilder der Vor- und Folgezeilen enthüllt werden. Zugleich spräche die metrisch annoncierte Zäsur zwischen Quartetten und Terzetten aber auch dafür, dass die letzten sechs Verse des Gedichts enthüllen, was den ersten acht zugrunde liegt. Dann wäre der »Geist des Bösen« das eigentliche Subjekt des Traumes, der Liebende wiederum selbst nur eine seiner Masken, durch welche die Traumbilder des Bösen in die Sprache treten und der »Traum des Bösen« folglich als genitivus subiectivus zu lesen. Indessen bewegt sich auch dieses Gedicht durch die Bildfelder, aus denen Trakls Dichtung als Ganze sich konstituiert und deren Gesetzmäßigkeiten nicht ignoriert werden können. So umgibt den »Geist des Bösen« etwa eine inverse Vorstellungslogik, die im Werkkontext der Sammlung Sebastian im Traum weiter ausgearbeitet wird und ihn an ein ›Erscheinen im Verborgenen‹ bindet: In »An die Verstummten« schaut er »[a]us silberner Maske« (ITA III, 351); in »Sebastian im Traum« erscheint er »[i]m Schatten des Nussbaums« (ITA III, 233). Schon Heidegger hat darauf aufmerksam gemacht, dass der »Geist des Bösen« nicht vom Bösen, sondern nur vom Geist her essentialisiert werden kann. Qualifiziert ist das Böse dabei als eine spezifische Form, eine Absonderung, Verein-

26  »Traum des Bösen« (1911/12)

zelung des Geistes, als »der in die Verblendung weglodernde Aufruhr des Entsetzenden« (Heidegger 2018, 56). Der Geist ist böse, weil er maskiert, verschattet erscheint, weil er sich nicht mehr unverstellt zurückführen lässt in die Wirklichkeit des Liebenden. Umgekehrt wird im Licht des neunten Verses der Trauminhalt der Vorzeilen erkennbar als ein Prozess jener Verselbständigung des Geistes ins Böse. Konzediert man, dass Trakls Dichtung an prominenter Stelle die »heiße Flamme des Geistes« beschwört (ITA IV.2, 337), dass mithin der Geist in der Flamme eine figurative Entsprechung findet, die freilich – wie etwa in der Bitte »An Luzifer« – auch stets neu gefügt werden muss (ITA IV.2, 35 f.) und folglich kein identisches Verhältnis darstellt, so erschließt sich der dritte Vers »Die Wang’ an Flammen, die im Fenster flimmern« von Neuem. Vom Antlitz des Liebenden entfaltet sich das poetische Feld hin zu den Masken des Bösen, die »Flamme ist des Bleichsten Bruder«, wie es in der »Verwandlung des Bösen« heißt (ITA III, 287). Das Böse erweist sich dabei nicht als eine schlichte »Verkleidung« des Guten (Neri 1996, 54), sondern vielmehr als ein Distanzierungsphänomen. Beim Erwachen des Liebenden steht dessen Blick noch in einem engen metonymischen Verhältnis zum Geist, durch dessen Flamme hindurch das Leben erscheint. Im Laufe der ersten beiden Strophen verzehrt der Geist die Welt, vernichtet – nimmt man die Spur auf, die von jener seltsamen Zusammenführung von »Mönch«  und »schwangres Weib« über das »Schimmern« »roter Kittel« bis zum Gepränge der Kirchen führt – ihr Transzendenzpotenzial und hinterlässt verbrannte Schwärze. Der »Traum des Bösen« wäre somit auch als die Imagination eines Prozesses, nämlich der Genese des Bösen zu lesen. Mit den Terzetten ist dieser Prozess abgeschlossen. Der »Geist des Bösen« erscheint, ein nicht mehr zu benennender »Platz«, im Grunde bereits Leerstelle, »verdämmert grauenvoll und düster« – das ist die finale Eindunkelung. Nun jedoch folgt ein Drittes, nämlich die Rede, die in Vers 11 als »Geflüster« sich zu regen beginnt. Zu bestimmen ist nur, dass sich

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diese Rede nicht im Zentrum befindet, sondern »auf Inseln« verortet, mithin zerstreut ist. Jene Archipelagisierung der Rede verbindet den Vers mit den beiden Folgezeilen, mit den »Aussätzigen«, in denen sich dreierlei vereint: Stigma, Verbannung und Todesverfallenheit. Im »Traum des Bösen« werden die Aussätzigen nun nicht nur metrisch ›ausgesetzt‹, sondern zugleich auch noch in eine hermeneutische Position gerückt: Aussätzig sind die Ornithomantiker, die Zeichendeuter, und es ist ihr ›Geflüster‹, das sie ankündigt, das sich aber nicht mehr mit dem Gedicht verbindet, sondern insular bleiben muss. ›Wirr‹, unverständlich erscheinen ihnen die Verse – und doch sind sie mit ihnen in dieser Unverständlichkeit verbunden, in ebenjener Weise, in der auch der »Geist des Bösen« mit der Welt des »Liebenden« verbunden ist. (Ganz analog werden im Übrigen auch in Hofmannsthals »Manche freilich …« [1895] die Leben derjenigen, die »Vogelflug und die Länder der Sterne« kennen, an die »Wurzeln des verworrenen Lebens« gefesselt; Hofmannsthal 1979, I, 26). Die Stimme der Deutung, die den Sinn des Traumes vergeblich zu fassen versucht, ist in ihrer Exzentrik selbst ein Effekt jener Verzehrung des liebenden Blicks hin zum Bösen. Abgesondert blickt sie in das Dunkel, aus dem sie stammt, und nicht einmal ihr eigenes Sein und Werden ist ihr noch gewiss, sondern bleibt an ein »vielleicht« geknüpft. Die Verwesung, die in Trakls Werk als Topos allgegenwärtig ist (so etwa in »Ruh und Schweigen«, in »Kleines Konzert«, in »In den Nachmittag geflüstert« und natürlich in »Grodek«), steht hierbei nicht nur für den Eintritt in einen postmortalen Prozess, sondern markiert vielmehr die Gegenwart in ihrer Abgestorbenheit. Wie der verstorbene Knabe Elis, dem angeraten wird, »dunkle Deutung des Vogelflugs« zu ›lassen‹ (ITA II, 432), sind auch die aussätzigen Exegeten bereits aus dem Leben des Gedichtes geschieden. Sie selbst sind tote Zeichen, an denen sich allenfalls noch materielle Prozesse vollziehen können. Gerade hierin aber würden sie wieder eins mit der Dichtung, fiele das »aussätzige Antlitz« von ihnen (»Passion«, ITA IV.1, 117). Erst nämlich im Gedanken des

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›Verwesens‹ wird der Interpretation die entscheidende Erkenntnis zuteil, die sie ihre eigene Stellung begreifen lässt: Unter den in ihrer asyndetischen Fügung verschlossenen Versen ist etwas im Gange; der Tod ist Geschehen. Aus seiner Jenseitigkeit heraus stiftet er semantische Bewegung, Form – die Ahnung, dass dem opaken Zustand der Sprache etwas vorausliegt, das sich verstehen ließe, wäre man nicht zu spät gekommen. Jener Spätheit gehört dann auch die Schlusszeile, von der das gesamte Gedicht her grundiert ist: »Im Park erblicken zitternd sich Geschwister.« Wenn auch bisweilen der Versuch unternommen wird, die Geschwister mit den Aussätzigen zu identifizieren (Dembeck 2018, 357), so wirft solch eine Gleichsetzung zwangsläufig die Frage auf, worin denn die Aussätzigen den Geschwistern gleichen sollen. Situiert sind sie in einer Szene des Sündenfalls: Wie sich Adam und Eva im Garten Eden ›erkennen‹, so ›erblicken‹ sich die Geschwister im Park. Auch hierbei handelt es sich gleichwohl um keine triviale Analogie, sondern um einen aus Trakls Werk herauszuarbeitenden Topos. Bereits in Trakls vermutlich bereits 1906 entstandenem Prosastück »Verlassenheit« ist der »Park« ein Ort, in den »[n]iemand […] mehr […] einzudringen vermag« und der sich darüber in »ein einziges, gigantisches Lebewesen« verwandelt hat (ITA I, 100), das manchmal »aus schweren Träumen« erwacht und sich an Vergangenes erinnert: etwa »an Menschen, die zierlich galant, voll rhythmischer Bewegungen unter seinem Blätterdache dahinwandelten, die sich süße, verrückte Worte zuraunten, mit feinem verheißenden Lächeln« (ebd., 101). Dann »versinkt der Park wieder in seinen Todesschlaf« (ebd.) und die Träume verstellen und verschieben diese Erinnerung. An die Stelle der Liebenden treten die Geschwister, tritt ein sündhaftes, inzestuöses Begehren (Kleefeld 1985, 255), das bereits um die mit ihm einhergehende Sterblichkeit, die Vertreibung aus dem Paradies weiß. Denn ›gezittert‹ wird bei Trakl in Todesnähe: In der »Verwandlung des Bösen« zittert das blaue Tier, bevor es vom Priester »hingeschlachtet« wird (ITA III, 273), im »Gesang zur Nacht« zittern die

P. Theisohn

Blumen »in Todeskühle« (ITA I, 115), in »Die Raben« aber zittern die Lüfte »von Wollust«, nachdem der Schwarm sie »wie ein Leichenzug« durchzogen hat (ITA I, 395). Überblendet werden somit in der Schlusszeile zum Ersten der Traum als imaginärer Prozess einer Absonderung des Geistes und seiner Verwandlung ins Böse; zum Zweiten die Liebe als ein Begehren in Sünde, aus dem das ›grauenhafte Verdämmern‹ des Platzes – und der Park wäre auch so ein Platz – zwangsläufig folgen muss; zum Dritten schließlich die Auslegung des Gedichtes selbst, die von einem ›ausgesetzten‹, weil durch den Sündenfall aus dem Leben gerückten Ort aus erfolgen muss. Die Korrelation der drei Aspekte bleibt offen; in ihrer intrikatesten Verknüpfung führen sie die Interpreten des Gedichtes selbst in den Traum zurück und lassen sie zu Erträumten, zu Figurationen des Bösen werden.

Zu den Varianten Die Abänderung der ersten Gedichtzeile, die mit Trakls letztem Brief an Ficker vorgenommen wurde, ist recht konsistent in die obenstehende Deutung zu integrieren: An die Stelle des Gongs tritt ein ›Sterbeglöckchen‹, der Traum gerät darüber zum Todesschlaf (was sich wieder zum Motiv des »Parks« fügt, wie es oben kontextualisiert wurde). Schwieriger verhält es sich mit der komplett veränderten ersten Strophe, die Trakl im August 1913 in Franz Zeis’ Exemplar der Gedichte notiert hatte. Um die Revision zu verstehen, empfiehlt es sich jedoch, mit der überschriebenen Halbzeile der zweiten Strophe zu beginnen. Gestrichen wurde »rote Kittel schimmern«, eingefügt wurde hier von Trakl »Flucht aus leeren Zimmern« (ITA I, 513). Nötig wird diese Abänderung, weil Trakls Nachbearbeitung des Gedichts die in der Ursprungsfassung etablierte Raumordnung auflöst: Führte in der gedruckten Fassung noch der Weg vom geschlossenen zum offenen Raum, so wird in der Überarbeitung der geschlossene Raum samt Inventar in den offenen Raum konsequent hineingedrängt. Die »Flucht aus leeren Zimmern« beschreibt tat-

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sächlich die raumsemantische Bewegung der Neufassung. Deren Zimmer sind tatsächlich ›leer‹, da niemand mehr in ihnen ›wohnt‹. Verschwunden ist das Leben in den Wänden, aus der gefügten Ordnung des Zimmers ersteht eine bloße »Flucht«. Niemand schläft hier mehr ein und niemand erwacht hier: An die Stelle der lautlichen Transition, des Gongschlags, tritt in der ersten Zeile jetzt das Motiv des Korridors, der »kalkgetünchten, kahlen Gänge« (ITA I, 513). Das Adjektiv »kalkgetüncht« ist in Trakls Dichtung vornehmlich sakralen und mortifizierten Räumlichkeiten vorbehalten: Am Ende von »Offenbarung und Untergang« brennt im »kalkgetünchte[n] Gemach« »ein Leuchter«, bevor die Erde dort »einen kindlichen Leichnam« auswirft (ITA IV.2, 71); in der Schlusszeile von »Die Kirche« findet sich wiederum »Der Engel Ruh in kalkgetünchten Räumen« (ITA II, 156). In der Variantenstrophe zu »Traum des Bösen« wird die Matrix von Liegen und Schlafen / Erwachen jedoch raumsemantisch gestört: Die »kalkgetünchten […] Gänge« sind nicht allein keine »kalkgetünchten Räume« mehr, sondern sie verdrängen auch die Intimität der »schwarzen Zimmer[]« und tilgen dabei nicht zuletzt den »Liebenden«. (Was dafür spricht, dass es sich beim »Liebenden« um kein primäres, geschweige denn ein tragendes Bewusstsein des Gedichtes handelt.) Die räumliche Ordnung der Ursprungsfassung, die vom gefügten in den offenen Raum führte, wird jedoch nicht ganz aufgegeben: So schimmern »Gebein und Schatten durch ein Durchhaus« (ITA I, 513) und verraten Trakl als Leser der Ammerschen Rimbaud-Übertragung, die eine »vieux passage« in den Illuminations als »Durchhaus« übersetzt (Rimbaud 1907, 225) und somit das Offene zugleich als Geschlossenes imaginiert. Entsprechendes gilt für die »leeren Zimmer«, die bereits keine Zimmer mehr sind, sondern zu Fluchten verwandelte Räume – und gilt auch für die »Paläste«, die nun im ersten Terzett »grauenvoll und düster«

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»dämmern« (ITA I, 512; die diplomatische Umschrift ist hier nicht ganz korrekt), sich dort im Dunkel auflösen, wo sich zuvor der »Platz« befand. Dieser ist nun als »Ein alter Platz« in die zweite Zeile der Neufassung gerückt, verschattet von den »schwarzen Trümmern« der Sonne. Die dunkle Sonne ist ein variierendes Motiv in Trakls Dichtung; auch in »Entlang« will die Sonne »schwarz erscheinen« (ITA III, 37), in »Traum und Umnachtung« wird die »verfallene Scheibe der Sonne« betrauert« (ITA IV.1, 74) und in »Grodek« sind es die »goldnen Ebenen / Und blauen Seen, darüber die Sonne / Düstrer hinrollt« (ITA IV.2, 338). Mit Blick auf die überschriebene Strophe jedoch erscheinen die schwarzen Trümmer der Sonne als die Überreste des braungold tönenden Gongs – und umgekehrt der Gong in der Ursprungsfassung als eine verklingende Sonne.

Literatur Dembeck, Till: Expressionistische Lyrik als Kulturpolitik. In: Politische Literatur. Begriffe, Debatten, Aktualität. Hg. von Christine Lubkoll, Manuel Illi und Anna Hampel. Stuttgart 2018, 343–366. Heidegger, Martin: Unterwegs zur Sprache. Frankfurt a. M. 22018 (Gesamtausgabe I.12). Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe. Hg. von D. E. Sattler. Frankfurt a.M. 1975– 2008. Hofmannsthal, Hugo von: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Hg. von Bernd Schoeller. Frankfurt a. M. 1979. Kleefeld, Gunther: Das Gedicht als Sühne. Georg Trakls Dichtung und Krankheit. Eine psychoanalytische Studie. Tübingen 1985. Mahrholdt, Erwin: Der Mensch und Dichter Georg Trakl. In: Erinnerung an Georg Trakl. Innsbruck 1926, 21– 82. Neri, Matteo: Das abendländische Lied – Georg Trakl. Würzburg 1996. Rimbaud, Arthur: Leben und Dichtung. Übertragen von K.L. Ammer, Leipzig 1907. Verlaine, Paul: Gedichte von Paul Verlaine. Eine Anthologie der besten Übertragungen. Hg. von Stefan Zweig, Berlin/Leipzig 21907. Zwerschina, Hermann: Die Chronologie der Dichtungen Georg Trakls. Innsbruck 1990.

»Geistliches Lied« (1911/12)

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Sabine Gruber

Die erste Fassung des Gedichts ist vermutlich um die Jahreswende 1911/12 entstanden (Zwerschina 1990, 177). Trakl überarbeitete diese erste Textstufe geringfügig und fertigte anschließend eine Abschrift an, in der er einen kehrreimartigen kürzeren Vers analog zu den Versen 5, 16 und 22 (in der Abschrift 5, 17, 23) einfügte (»Klang und Schein«, ITA I, 503). Darüber hinaus veränderte er die ursprünglichen Verse 13 und 23 terminologisch: In Vers 13 ersetzte er »Wenn der Hahn« durch »Und der Hahn«, in Vers 23 »Müdes in den Schlaf« durch »Kinder in den Schlaf«. (Zur Textgenese vgl. ITA I, 500– 503.) Die Abschrift war Grundlage für den Erstdruck in den Gedichten. Eine lediglich in der Interpunktion veränderte weitere Fassung erschien noch im selben Jahr in der Weihnachtsausgabe der Reichspost (ITA I, 500). In der ersten Fassung von 1911/12 fällt die zweite Strophe noch durch einen, später ergänzten, fehlenden Vers aus dem Rahmen der vier sonst sechszeiligen Strophen. Im Erstdruck sind dagegen alle Strophen sechszeilig: Auf vier trochäische, gleichmäßig alternierende Vierheber folgt ein trochäischer Zweiheber. Ein wei-

S. Gruber (*)  Deutsches Seminar, Eberhard Karls Universität Tübingen, Tübingen, Deutschland E-Mail: [email protected]

terer trochäischer Vierheber bildet den Strophenschluss. Dem umarmenden Reim auf -ein / -eht in den Versen eins bis vier folgt ein ebenfalls mit den Versen eins und vier reimender Paarreim auf -ein. Der umarmende Reim wie der Paarreim ist in allen Strophen derselbe. Einige Verse weisen unreine Reime auf. Der scheinbar nicht auf den vierten Vers reimende erste Vers der zweiten Strophe reimt sich, wenn man vom gesprochenen österreichischen Deutsch ausgeht, durchaus. Neben den Endreimen erhöhen Assonanzen (Strophen 2 und 3) und Alliterationen (Strophen 3 und 4) die Klangwirkung des Gedichts (vgl. Bolli 1978, 70 f.). Der kürzere Vers in der jeweils 5. Zeile jeder Strophe stimmt zwar in keiner der Strophen wörtlich überein, erinnert durch seine in allen Strophen gleiche Funktion als eine Art verkürztes Echo der vorhergehenden Zeile aber dennoch an einen Kehrreim. Ein lyrisches Ich fehlt in dem durch den Reihungsstil geprägten Gedicht. In Vers 7 (»Hör’ im Dorf«) wird ein lyrisches Du adressiert. Der Titel kann zwar als intertextueller Verweis auf Novalis’ »Geistliche Lieder« gelesen werden, ruft jedoch zugleich die Tradition von nicht an den kirchlichen Gemeindegesang gebundenen, meistens etwas freier gestalteten geistlichen Liedern auf, die gelegentlich als ›geistliche Volkslieder‹ bezeichnet werden, obwohl dieser Terminus aufgrund seiner Unschärfe von der Hymnologie wie der Volksliedforschung abgelehnt wird (Jenny 1989, 603). Es ist nicht

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nur der Titel, der das Gedicht in eine musikalische – und zugleich in eine religiöse – Tradition stellt, auch im Text werden immer wieder Klänge erwähnt, die sich zum Teil mit optischen Eindrücken zu Synästhesien verbinden: der Wind, das Stimmengewirr eines dörflichen Festes, eine Orgel, ein krähender Hahn, ein knarrendes Gitter, ein Rosenkranzgebet (der zuvor erwähnten Mädchen?), schließlich der Gesang eines Engels. Das nur zu erahnende Geräusch des als »Gottes [...] Odem« bezeichneten starken Windes, der das Blumenbeet in wechselnden Mustern flattern lässt, ist in der ersten Strophe mit der Farbe Blau assoziiert, die Orgel in der zweiten Strophe mit der goldenen Farbe, die in der mittelalterlichen Ikonographie das Zeichen der Anwesenheit Gottes ist, das Rosenkranzgebet in der dritten Strophe mit der für die Unschuld stehenden Farbe Weiß. Die Farben Gold und Blau finden sich in den Gedichten auch in »Rondel« und »Die schöne Stadt«, Weiß und Gold auch in »Frauensegen«. Das Gedicht erweckt den Eindruck, als würde eine Instanz, die nicht als lyrisches Ich hervortritt, die Eindrücke aus der umgebenden Natur und eines bukolisch wirkenden Alltagslebens, das offenbar stark von religiösen Praktiken bestimmt ist, durch die geöffnete Tür eines Gartensaales beobachten. Außen- und Innenraum sind dabei nicht leicht zu unterscheiden. So liegt es zwar nahe, dass die Mädchen in Strophe drei die Kirche zum Rosenkranzgebet betreten, die Worte »kommen auch herein« könnten sich jedoch auch auf ihr Eintreten in den Gartensaal beziehen. Darüber hinaus gehen Alltagswelt und Religion, Irdisches und Überirdisches, zumindest für die kurze Dauer des Gedichts, eine nicht klar definierte Verbindung ein. Wie auch andere der Gedichte ist das »Geistliche Lied«, durchzogen von Verweisen auf die Bibel und die christliche religiöse Tradition: Gottes Odem, das Kreuz, die Orgel, die goldene Farbe, Brot und Wein, der krähende Hahn, das Rosenkranzgebet, Maria, die weiße Farbe, der betende Bettler, der Hirt und schließlich der singende Engel. Zum Teil sind die Verweise ambig, und es bleibt in der Schwebe, ob z. B. der krähende Hahn an den biblischen Verrat des Petrus erinnern soll, und

S. Gruber

ob sein Krähen »zum letzten« sich auf die Apokalypse oder doch nur auf die Abendzeit bezieht. Die nicht explizit erwähnte Tageszeit könnte der späte Nachmittag oder der frühe Abend sein, denn es wird noch gearbeitet (V. 8) und in der Kirche findet ein Rosenkranzgebet statt (V. 16– 18), was in vielen Gemeinden am frühen Abend üblich ist. Die Mäharbeiten eines Gärtners (V. 8) verweisen darüber hinaus auf den Spätsommer oder Frühherbst als Jahreszeit. Rund um die Kirche könnte sich, wie bei alten Dorfkirchen üblich, ein Friedhof befinden, worauf das Kreuz »im wilden Wein« (V. 6) und der tief ins Gebet versunkene und wie tot wirkende Bettler »am alten Stein« in Vers 19 f. hindeuten. Die vermutlich zum Rosenkranzgebet in die Kirche gehenden Mädchen könnten als leise Anspielung auf die Feminisierung der Religion seit dem 19. Jahrhundert gelesen werden. Auch die von dem Engel in den Schlaf gesungenen Kinder in der letzten Zeile, durch die Trakl bei der Überarbeitung des Textes »Müdes« ersetzte, lassen an Darstellungen von Kindern mit ihren Schutzengeln aus dem späten 19. Jahrhundert denken. In »Geistliches Lied« verbinden sich in einer heiteren und bukolischen Szenerie disparate akustische und optische Eindrücke zu einer für kurze Zeit dauernden und mit religiösen und musikalischen Assoziationen verbundenen Harmonie (vgl. Zehetmeier 1987, 75). Das Gedicht steht insofern in der Tradition geistlicher Lieder als es strophisch, gereimt und von der religiösen Praxis einfacher Dorfbewohner geprägt ist. Die vielfältigen, im Gedicht aufgerufenen Klänge verstummen am Ende: der Bettler betet so still an einem Grab, dass er wie verstorben wirkt, und die Kinder versinken im Schlaf. Auch die durch den Wind bedingte heftige Bewegung, mit der die erste Zeile einsetzt, kommt am stilllebenartigen Schluss zur Ruhe.

Forschungsdiskussion und Rezeption In der Forschungsliteratur wird die musikalische Wirkung des Gedichts betont, die, so Bolli, »Bedeutung so sehr zurück« treten lässt, dass »tren-

27  »Geistliches Lied« (1911/12)

nende Grenzen […] aufgehoben« und »Gegensätze […] verwischt« (Bolli 1978, 71) werden, sowie die sich zum Ende des Gedichts hin steigernde Harmonie der Gegensätze (Zehetmeier) und die zahlreichen Verweise auf die religiöse Tradition (Klein 1974, Lachmann 1954). Eine von Zehetmeier nahe gelegte biographische Verbindung der im Gedicht beschriebenen Szenerie mit der Villa Ludwig von Fickers in Mühlau (Zehetmeier 1987, 74), ist angesichts der vermutlichen Entstehung des Textes einige Monate vor der ersten Begegnung Trakls und von Fickers im Mai 1912 unwahrscheinlich. Dass dieses einerseits sehr klangvolle und andererseits Klänge thematisierende Gedicht wie auch andere Texte Trakls wiederholt vertont wurde, überrascht nicht. Friedrich Hol­ laender vertonte das »Geistliche Lied« bereits im Jahr nach seinem Erstdruck im Rahmen seiner Sechs Lieder (Opus 3, 1914). Weitere Vertonungen stammen u. a. von Winfried Zillig (Fünf Lieder nach Texten von Georg Trakl für

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tiefe Singstimme und Kammerorchester, 1954), Willi Leininger (7 Lieder nach Gedichten von Georg Trakl für Bariton und Klavier) und Harry Unger (Georg Trakl. Vertonungen, 2014).

Literatur Bolli, Erich: Georg Trakls ›dunkler Wohllaut‹. Ein Beitrag zum Verständnis seines dichterischen Sprechens. Zürich/München 1978. Jenny, Markus: Kirchenlied I. Historisch (bis 1900). In: Gerhard Krause/Gerhard Müller (Hg.): Theologische Realenzyklopädie, Bd. 18, Berlin/New York 1989, 602–629. Klein, Johannes: Kampf um Gott in der deutschen Dichtung. Witten/Berlin 1974. Lachmann, Eduard: Kreuz und Abend. Eine Interpretation der Dichtung Georg Trakls. Salzburg 1954. Zehetmeier, Winfried: Georg Trakl (1887–1914). Geistliches Lied. In: Rudolf Riedler (Hg.): Wem Zeit ist wie Ewigkeit. Dichter, Interpreten, Interpretationen. München u. a. 1987, 73–76. Zwerschina, Hermann: Die Chronologie der Dichtungen Georg Trakls. Innsbruck 1990.

»Die Bauern« (1911)

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Philipp Theisohn

Entstanden ist das Gedicht im letzten Viertel des Jahres 1911, bis zum Abdruck in Gedichte wird es zweimal durch Trakl leicht überarbeitet Im Wortlaut ändert sich dabei nur der erste Vers. Obgleich Trakl sich innerhalb der modernen Dichtung insbesondere durch seine Vorliebe für ländliche Szenerien abhebt, so trifft man die Gestalt des Bauern fast nirgends an. Außer in »Die Bauern« erscheint sie nur noch in »Im Dorf«, im »Dezembersonett« und in »De profundis« (I); um den durch Hölderlin nobilitierten »Landmann« ist es nur wenig besser bestellt. So belegt noch das Gedicht selbst die nicht vollzogene Inventarisierung der ›Bauern‹, insofern das Lemma außerhalb des Titels nicht mehr auftaucht, sondern »Knechte und Mägde« an dessen Stelle treten. Gerade im Gegensatz zur ›Magd‹, der in Trakls Werk eine hohe Prominenz zukommt und die mit dem ruralen Vorstellungsraum fest verwachsen scheint, stellt der Bauer keine distinkte, etablierte Figuration dar. Dementsprechend reflektiert das Gedicht vor allem anderen die wesenhafte Konstitution und Verfertigung dessen, was es im Titel »Die Bauern« nennt, auf und aus den es umschließenden semantischen Feldern.

P. Theisohn (*)  Deutsches Seminar, Universität Zürich, Zürich, Schweiz E-Mail: [email protected]

Auffällig erscheint dabei zunächst, dass die ersten vier der insgesamt fünf Strophen sich als Zeit ein Intervall, nämlich den Mittag suchen, an dem die auf dem Feld Arbeitenden zum gemeinsamen Mahl zusammenkommen. Erst die fünfte Strophe sieht die Knechte und Mägde wieder bei der Landarbeit im »Ährengebraus« (ITA I, 477, Zitation im Folgenden nach dieser Textstufe). Begründet wird das Bäuerliche jedoch zunächst aus der Abwesenheit von Arbeit, aus einem Unterbruch, in dem sich nicht nur die wesenhafte Verfassung der Gestalten, sondern auch die Landschaft, in der diese angesiedelt sind, zeigen kann. Das Feld geht der Gestalt voraus, bringt diese erst hervor. So eröffnet das Gedicht mit Farbabstrakta (»Vorm Fenster tönendes Grün und Rot«), von denen durch die Verdunkelung ›schwarzverräuchert‹ der ›niedere Saal‹ sich abtrennt, in dem erst in der dritten Zeile »die Knechte und Mägde beim Mahl« gezeigt werden. Die räumliche Dichotomie von ›drinnen‹ und ›draußen‹ hält sich durch und wird auch im Weiteren deutungsbestimmend: Außerhalb des Saals wartet auf die beim Mittagsmahl Weilenden eine diffundierende, instabile Landschaft. »Die Äcker flimmern in einem fort / Und der Himmel bleiern und weit«, heißt es in der zweiten Strophe, und die Rückkehr in dieses Flimmern, unter den bleiernen Himmel verbindet sich in der Schlussstrophe wiederum mit dem Eintritt in ein »Grauen« – das man bei Trakl in Doppelkonnotation als

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Farbverlauf wie als ›Grauenvolles‹ lesen muss – und ein meerhaft erscheinendes, »tosende[s] Ährengebraus«. Der Dynamik jenes verschwommenen, fluiden Feldes ist die Szenerie innerhalb des Saales entgegengesetzt. ›Tönt‹ und ›tost‹ es vor dem Fenster, so zeichnet sich der Binnenraum hingegen durch Klanglosigkeit aus: Nur »ein karges Wort« durchbricht bisweilen das »tiefe[] Schweigen«, die »Mägde lauschen blöd und verstummt«, selbst das Gebet des Knechtes wird »eintönig« gesprochen. Geräuschhaft erscheinen demgegenüber die Tiere; zuvorderst ist es der Fliegenschwarm, dessen Summen in der dritten Strophe die Stille durchdringt. Der Vorstellungsraum, dem die Fliegen in Trakls Dichtung entstammen, ist der Raum der Verwesung, den sie auch etwa in »Menschliches Elend« (ITA I, 466) und in »De profundis« (I) (ITA I, 418) eröffnen und dem sich auch die »[f]ratzenhaft« im Herd flackernde »Glut« zuordnen lässt. (So glüht auch in »Die drei Teiche von Hellbrunn«, in deren Anfangszeile bereits »das Fliegengeschmeiß« um Blumen »taumelt«, in der Tiefe »der Verwesung Glut«; ITA I, 186.) Verbunden sind die Fliegen darüber hinaus jedoch mit dem Hinfälligen, Tierisch-Körperlichen überhaupt. Zieht man das zeitnah entstandene »Im roten Laubwerk voll Guitarren …« als Deutungsfolie hinzu, in dem in »gelben Dünsten Fliegen summen« (ITA I, 482), während sich die »Alten« »blöd umschlingen«, so wird erkennbar, dass das mit den Fliegen verknüpfte semantische Feld sich in »Die Bauern« neu konstituiert: Die ›blöd‹ konnotierte Lust im Verfall zieht über dem Lauschen der Mägde auf, »durchweht« mit dem »tierische[n] Dunst die Stube«, und ruft eine »Gier« hervor, die jedoch nicht ausagiert wird, sondern in den Blicken verharrt. Beherrschen die Fliegen als Stimmungs- und Lautträger somit die statische Konstellation des Saals, so wird diese durch das Krähen des Hahnes am Ende der vierten Strophe aufgebrochen. In jeder Hinsicht markiert der Hahnenschrei eine Schwelle: Er ertönt »unter der Tür«, zugleich folgt ihm unmittelbar die Schlussstrophe, die »wieder ins Feld« führt. Vor allem aber beschließt er die Reihe der religiösen Reminiszen-

P. Theisohn

zen, die das Gedicht durchzieht, die in der ersten Strophe beim Abendmahl (»Und sie schenken den Wein und sie brechen das Brot«) beginnt (vergl. Kleefeld 1985, 189) und über das Gebet des Knechtes bis eben zum Krähen des Hahns führt, das Petrus’ Verleugnung Christi (»In dieser Nacht, ehe der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen«, Matth 26,34) aufruft. Diese Reminiszenzen sind durchaus stark zu lesen: Wie dem Hahnenschrei der Evangelien das dreimalige Verleugnen des Erlösers vorausgeht, so durchläuft Trakls Gedicht drei Strophen, ehe in der vierten der Hahn kräht. Angezeigt wäre darin aber, dass die Zitation der Eucharistie und deren Negation in eins fallen. Die Entleerung des Rituals, der im ›bleiernen‹ Himmel wie in der ›Eintönigkeit‹ des gesprochenen Gebets angezeigte Transzendenzverlust resultiert aus einer zeitlichen Konkreszenz: Trennt in der biblischen Vorlage Abendmahl und Verleugnung die Nacht (deren Ende der Hahnenschrei markiert), so ist die Zeit von Trakls Bauern der ›Mittag‹. Alludiert wird in ihm nicht so sehr der in Nietzsches Zarathustra verkündete »grosse Mittag«, an dem der Mensch erkennen wird, »dass er ein Hinübergehender sei« (Nietzsche 1999, IV, 102); bleiben die Bauern doch stets im »tiefen Schweigen der Mittagzeit« gefangen, aus ihrer Heillosigkeit scheint kein Weg mehr zu führen. Vielmehr klingt hier ein Hölderlinscher ›Mittag‹ an, an dem »im falben Kornfeld / Das Wachstum rauscht, an geradem Halm, / Und den Naken die Ähre seitwärts beugt« (Hölderlin 1975–2008, VIII, 981). Jenes ›Rauschen‹ des Korns kehrt bei Trakl wieder – und in das Rauschen führt der Weg der ›Bauern‹ zurück, wenn sie den Saal verlassen. Mehr als dies: Die Bauern entstammen diesem mittäglichen Geräusch, dem sie das Mittagsmahl entzieht. Hier kommt nun die Metrik ins Spiel. Bleiben sich Hebungszahl und Reimschema das gesamte Gedicht hindurch gleich (vierhebig, Schweifreim, durchgängig männliche Kadenz), so variiert die Verteilung der Hebungen beständig. Als dominant erweist sich dem lautlichen Eindruck nach ein daktylischer Versfuß, der aber – mit Ausnahme des dritten Verses, und dort katalektisch – nie in Reinform

28  »Die Bauern« (1911)

erscheint. Eindeutig aufzulösen wären noch der vierte Vers (als Anapäst) und der zehnte (als Trochäus); mit Blick auf das gesamte Gedicht weisen keine aufeinanderfolgenden Verse ein identisches Metrum auf – bis eben auf die beiden letzten: »Und klirrend schwingen ein und aus / Die Sensen geisterhaft im Takt.« Zwei gleichlaufende jambische Verse, in denen die Einpassung der »Knechte und Mägde« in den ›Takt‹ des sie umtosenden Ährenfeldes vollzogen und in der Wiederholung bestätigt wird. (Vgl. hierzu bereits Hellmich 1971, 111.) Indessen: Sie selbst kommen in diesem Gleichlauf gar nicht mehr vor, »geisterhaft« schwingen die Sensen. Dort also, wo die Zeit ungebrochen, als »Wiederkehr des Gleichen« fortläuft, müssen zunächst die Körper verschwinden, geopfert, zu Geistern werden. Dort, wo sie sich zeigen, gestalthaft werden, bleiben sie asynchron, fallen sie aus Rhythmus und Rede. Noch das »Blut«, das im zwölften Vers »ihre Schläfen hämmert«, zerfällt in Adoneus und Chorjambus, fügt sich nicht dem metrischen Gleichmaß. Verworfenheit ist das Resultat metrischer Verunreinigungen wie zeitlicher Verschiebungen; die jambische Erlösung der beiden Schlusszeilen aber hebt in rhythmischer Klarheit nicht nur das Mittagsmahl, sondern auch die um es Versammelten auf. In der ihm eingeschriebenen Zeitlichkeit bleibt der durch das Gedicht eröffnete und in sich gespaltene Raum somit ambivalent: Die Stasis des Mittags mündet direkt in das unaufhaltsam fortschreitende Mähen der Sensen, der vielleicht deutlichsten Konkretion dessen, was Csúri »den gleichermaßen zermalmenden grauen Gram des Alltags« genannt hat (Csúri 2016, 78). Ausgesprochen ist damit aber keine Folge, sondern ein Stillstand im Werden, ein Verharren in der Zeit der Ernte. In dieser ›Gleichzeitigkeit‹, der Überlagerung zweier Zeitkonzepte stellt das Gedicht zugleich just jene »wechselseitige Verdeckung« aus (Cellbrot 2003, 71), die Trakls Bewegung zwischen anderen ›Feldern‹, nämlich dem kognitiven und dem semiotischen Feld ausmacht. Mit Blick auf die von Lobsien erarbeiteten Interferenzen des ›literarischen Feldes‹, in deren

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Folge einzelne Segmente poetischer Texte einer steten »Oszillation zwischen Ent- und Resemantisierung« unterworfen sind (Lobsien 1988, 138), eben: im Lotmanschen Sinn zu ›rauschen‹ beginnen (vergl. Lotman 1981, 118– 121), wäre zu konstatieren, dass »Die Bauern« diese Störungsmomente nicht nur inszeniert, sondern auch durchleuchtet. Beide Sphären, das tosende Feld und der ins Schweigen getauchte schwarz verräucherte, aber phänomenal sich ausdifferenzierende Saal, gehören zusammen. Das aber, was ›im Feld‹ – im poetischen Feld – sich nur noch als eine gespenstische, menschenverschlingende Dynamik ausnimmt, wird dort, wo man den Takt der Worte einzudämmen versucht, nicht anschaulicher, sondern verdunkelt sich, entzieht sich einer stringenten Logik: metrisch wie heilsgeschichtlich. Wird draußen, inmitten der Ähren, ersichtlich, dass sich in Trakls Dichtung stets das »Naturhafte wie das Metaphysische, oder vorsichtiger gesagt: Sinnliches und Nichtsinnliches überlagern« (Cellbrot 2003, 71), so lässt der Blick in den Saal der »Knechte und Mägde« offenbar werden, dass hier »weder ein Naturbild noch ein transzendentes metaphysisches Geschehen« vorliegt. Natur wie Eschatologie bleiben stets Effekte der Interferenz, im Moment der Klärung verflüchtigen sie sich in »ein karges Wort«. Versteht man aber die Mittagszeit des Gedichts als anwährend, die Dichotomie von ›draußen‹ und ›drinnen‹ als die zweifache Perspektivierung einer poetisch gegebenen Gleichzeitigkeit, so erklärt sich hierüber auch die eingangs konstatierte Absenz der »Bauern« innerhalb des Gedichtes. Gerade die existenzielle Verortung in jenem geisterhaften, dynamisch wogenden und klingenden Jenseits des Feldes ist es nämlich, die die »Knechte und Mägde« erst zu »Bauern« werden lässt. Dafür spräche nicht zuletzt eine bemerkenswerte Parallelstelle in »De profundis« (I), das den fünften Vers von »Die Bauern« – »Im tiefen Schweigen der Mittagzeit« – bereits vorprägt, diesem jedoch den Vers »Im Acker mähen die Bauersleut’« voransetzt (ITA I, 418). Im selben Schweigen, in dem sich Knechte und Mägde

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im spracharmen, triebhaften Diesseits des Saales zum Mittagsmahl setzen, sind die Bauern ungebrochen am Werk – und erst, indem das Gedicht wieder in ihre Sphäre zurückkehrt, die Körper mit »Grauen« packt, holt es seinen Titel wieder ein.

Literatur Cellbrot, Hartmut: Trakls dichterisches Feld. Freiburg i. B. 2003. Csúri, Károly: Konstruktionsprinzipien von Georg Trakls lyrischen Textwelten. Bielefeld 2016.

P. Theisohn Hellmich, Albert: Klang und Erlösung. Das Problem musikalischer Strukturen in der Lyrik Georg Trakls. Salzburg 1971. Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe. Hg. von D. E. Sattler. Frankfurt a.M. 1975– 2008. Kleefeld, Gunther: Das Gedicht als Sühne. Georg Trakls Dichtung und Krankheit. Eine psychoanalytische Studie. Tübingen 1985. Lobsien, Eckhard: Das literarische Feld. Phänomenologie der Literaturwissenschaft. München 1988. Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte. Üs. von Rolf-Dietrich Keil. München 21981. Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München 1999.

»Verklärter Herbst« (1912)

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Philipp Theisohn

»Verklärter Herbst«, aller Wahrscheinlichkeit nach entstanden im September 1912, wurde erstmals im dritten Jahrgang des Brenner im November 1912 abgedruckt. Alle drei Druckfassungen (neben dem Abdruck im Brenner in Trakls erster Sammlung Gedichte und ein Abdruck in der Weihnachtsnummer der Reichspost 1913) weichen von den vorgängigen Vorstufen im zweiten Vers ab, insofern sie das daktylische »goldenem« in »goldnem« korrigieren. Alle weiteren Abweichungen zwischen den Textstufen sind orthographischer Natur. Die ostentative Regelhaftigkeit – durchgängig jambischer Versfuß, vierhebig, Kreuzreim, wechselnd männliche und weibliche Kadenz – verschafft dem Gedicht einen liedhaften Charakter, der sich zum vordergründigen Herbstidyll der Bildsprache fügt. Nicht zuletzt die Gestalt des ›Landmanns‹ (V. 5) legt Hölderlins »Der Herbst« (1837) als direkte Referenz nahe, wobei zu bedenken ist, dass mit dem Landmann in Hölderlins Dichtung – so in der Hymne »Wie wenn am Feiertage …« (um 1800) – auch die elaborierten poetologischen Metaphern der Dichtung als Ackerbau, des Verses als

P. Theisohn (*)  Deutsches Seminar, Universität Zürich, Zürich, Schweiz E-Mail: [email protected]

Pflugfurche etc. verknüpft sind (vergl. Ronzheimer 2020, 59 f.). Tatsächlich lassen sich in Hölderlins »Herbst« nicht wenige der Trakls Gedicht stützenden Lemmata aufspüren: Neben dem »Landmann, der am Pfluge sich gezeiget« und nun sieht, »wie das Jahr sich frohem Ende neiget«, so zeigt sich dort auch der Herbst »mit einem goldnen Tage« (Hölderlin 1975–2008, IX, 122). Vor allem aber ist auch bereits bei Hölderlin die poetische Selbstreflexion ins Gedicht miteingewoben und just mit ebenjenem Wort verknüpft, das auch in »Verklärter Herbst« den Rekurs auf das eigene Sprechen ausstellt: mit dem »Bild«. (Hölderlins dritte Strophe endet mit der Zeile »In solchen Bildern ist des Menschen Tag vollendet«; ebd.) Bevor diese Fährte jedoch aufgenommen werden kann, ist das Offensichtliche festzuhalten: Das Gedicht inszeniert eine Passage. Jede Strophe besitzt einen Bewegungsträger: Die erste Strophe den »Einsamen«, der auf ›Fahrt‹ ist (und dem die Wälder entsprechend »Gefährten« sind), die zweite Strophe den »Vogelzug«, der »auf der Reise« grüßt, die dritte Strophe ein bereits verschwundenes Subjekt, das »[i]m Kahn den blauen Fluss hinunter« treibt. Die Szenen der Ernte (V. 2), der stillen Waldlandschaft (V. 3), des abendlichen Geläutes (V. 5) werden nicht stillgestellt, sondern sind als eine zu durchlaufende Bildfolge inszeniert, der auf der anderen Seite die Stasis der existenziellen Aussage »Es ist« (V. 5, 9) entgegensteht.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_29

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Diese gegenläufige Dynamik aber gilt es interpretatorisch aufzuschließen. Bemerkenswert erscheint bereits der Eingang. »Gewaltig« ist ein Wort, dem man bei Trakl häufig begegnet; an prominenter Stelle im »gewaltige[n] Schmerz« in »Grodek« (ITA IV.2, 338), gewaltig »dröhnt« auch »die Glocke im Tal« (»Die Nacht«, ITA IV.2, 260), »bäumt sich ein schwarzes Pferd« (»Landschaft«, ITA III, 160), »umfängt« den Abge­schiedenen »die kühle Bläue und die leuchtende Neige des Herbstes« (»Gesang des Abgeschiedenen«, ITA IV.1., 162). Verstanden werden kann das ›Gewaltige‹ dabei zunächst als das Einfinden in jene ›waltende‹ Kraft, die bei Heidegger das »Seiende im Ganzen« heißt (Heidegger 1983, 159). Hier wird nicht Gewalt gebraucht, sondern versammelt, etwas gefügt, das nicht dem lógos folgt, sondern diesen vielmehr ›überwältigt‹. In Trakls Werk finden sich diese Momente der Überwältigung immer wieder. So »[s]inkt gewaltig das weisse Haupt am Waldsaum hin« (»Wind, weisse Stimme …« ITA III, 156), »[g]ewaltig schweigen die Mauern rings« (»Ein Knabe mit zerbrochener Brust …«, ITA IV.1, 230) und »[g] ewaltig ist das Schweigen im Stein« (»Nachtlied«, ITA II, 388). In dieser Gewalt gründet auch dieses Gedicht, diese Gewalt schließt das Jahr in seiner poetischen Vollendung in sich, ›verklärt‹ sie, wie die Abendglocken, die »noch zum Ende frohen Mut« geben, wie die in Alliteration »wunderbar« schweigenden »Wälder«. »Gewaltig endet so das Jahr« – und die Latenz der Gewaltsamkeit klärt sich doch nicht ohne das »so«, eine rätselhafte Deixis, die auf einen Vorgang verweist, der Diesseits des Gedichts zu liegen scheint. Die Frage nach jenem »so« – das »wie?« – weist dabei auf den Akt der Poiesis selbst: Es ist der Vers, mit dem das Jahr so endet. Jener erste Vers des Gedichtes scheint ebenso abgeschlossen zu sein wie das Jahr, das er erspricht, und wie der Satz, den er trägt; ein Satz, der dann freilich im zweiten Vers eben doch fortgesetzt wird. Ganz analog gebaut ist die zweite Strophe, die in der Rede des Landmanns ebenfalls im ersten Vers eine Welt zu fixieren versucht: »Es ist gut« – auf was aber zielt

P. Theisohn

dieses »Es«? Wie im ersten Vers das »so«, so findet auch das »Es« keinen Halt in den Versen, sondern bringt vielmehr eine Ordnung zur Sprache, der es als Silbe selbst angehört und die es gerade deswegen auch nicht zu bestimmen vermag. »Es«, das kann meinen: eine Fügung des Seins, das Gedicht selbst, das in der Aussage »Es ist gut« in der Vollendung sich stillzustellen versucht – denn man kann über diesen Satz eigentlich nicht hinaus. Und dennoch ist die Dichtung gezwungen, ihm etwas hinzuzusetzen, die Abendglocken, mit denen das Ende zunächst um zwei Zeilen verrückt wird, den Vogelzug sodann, der aus der guten Ordnung hinausführt. Auch die dritte Strophe wiederholt den Gestus des Innehaltens: »Es ist der Liebe milde Zeit.« Erneut eine Deixis, erneut ein »Es«, dessen Bezug offen bleibt. »Es« meint nicht minder die Zeit des Gedichts als die (Jahres-)Zeit, den Herbst; eine Zeit, die im Vers eingeschlossen ist und die sich wieder in einen Satz einfindet, über den nicht hinausgegangen werden kann, ohne dass man das in ihm Ausgesprochene zerbricht. Das Vergehen dieses Augenblicks wird getragen vom Adjektiv: Die »milde Zeit« der Liebe ist es, die hier waltet, und in der ›Milde‹ aufgerufen ist eine Abnahme von Intensität, ein Verklingen, so wie in der »milden Lampe«, zu der man in »In den Nachmittag geflüstert« wie »im Träume« einkehrt, bereits das Verlöschen ausgesprochen ist (ITA II, 151). Diese Zeit kann nicht bleiben, sie zerrinnt mit den Folgezeilen, und wieder ist es die strenge Logik der Dichtung, die sich an ihr vollziehen muss. Der Text fließt weiter, nach unten, »hinunter«, und in der vorletzten Zeile gewahrt sich das Gedicht nun auch in seiner Verklärung: »Wie schön sich Bild an Bildchen reiht«. Ausgedrückt ist hier das Prinzip der szenischen Sequenz, das sich in jeder Strophe gegen die Stasis der Eingangszeile durchsetzt. Verbunden ist es gleichwohl hier mit einem Diminutiv, bei Trakl nicht eben häufig zu finden, es sei denn in den »Apfelbäumchen« in der »Verwandlung des Bösen« (ITA III, 281) oder auch dem roten »Fischlein im Weiher« in »Entlang« (ITA III, 38). An dieser Stelle erschließt sich sein Sinn keineswegs mit »allenfalls melancholisch verbrämter Ironie« (Knobloch 2008, 26),

29  »Verklärter Herbst« (1912)

sondern über die dem Gedicht eignende Dynamik des Vergehens. Das angefügte »-chen« schwächt die Bildfolge ab; auf das Bild folgt kein weiteres Bild, die Reihe der Szenen ist nicht endlos zu denken, sondern in stetig abnehmender Leuchtkraft, Prägnanz, Größe. Wie die »milde Zeit«, so verliert sich auch die Spur der Bilder nach und nach, der Geviertstrich überbrückt schließlich die Reihe bis an ihr Ende: »Das geht in Ruh und Schweigen unter.« Ein viertes Mal begegnet man in dieser Schlusszeile der numinosen Deixis. Was nämlich »in Ruh und Schweigen« untergeht, erklärt sich nicht über die Vorverse, denn auch wenn sowohl »Bild« wie »Bildchen« dem Genus nach potenzielle Bezugswörter sein könnten, scheiden sie syntaktisch als solche aus. Tatsächlich kann »Das« nur summarisch bezogen sein: auf die Aussage der vorletzten Zeile, die Reihe der Bilder und Bildchen, die in den Untergang mündet – oder auf die Reihe der Bilder und Bildchen, die das Gedicht selbst darstellt. Somit würde auch hier das Pronomen »Das« auf eine Ordnung verweisen, deren Teil es selbst ist; es verkündet den eigenen Untergang. Die Einmündung des Gedichtes in »Ruh und Schweigen« ist freilich nicht einsinnig. So ist die Wendung – er mag sie von Hölderlin haben (»Auf den Tod eines Kindes«, Hölderlin 1975– 2008, IX, 80) – bei Trakl stehend, man findet sie auch in »Abendmuse« (ITA II, 46) und als Titel des gleichnamigen Gedichts (ITA III, 245– 252). Als Hendiadyoin, das ›eines durch zwei‹ sagt, ist »Ruh und Schweigen« freilich wiederum jene Struktur eingeschrieben, die das Gedicht beherrscht: An die Stelle der Ruhe tritt die Beredt-

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heit, an die Stelle des Schweigens tritt die Rhetorik, das ›eine Wort zuviel‹, das die Sprache immer noch weiter in den Untergang treiben lässt. Auf der anderen Seite sind »Ruh« wie »Schweigen« auch bereits an anderer Stelle des Gedichts aufgerufen, nämlich im dritten Vers »Rund schweigen Wälder wunderbar«. Derjenige, der dort in »Ruh und Schweigen« eintritt, mit ihnen schreitet, ist der »Einsame«. In »Der Herbst des Einsamen«, entstanden im Juni/ Juli 1913, sieht man diesen ein weiteres Mal als Bildner am Werk, auch dort ruht dann »des Landmanns ruhige Geberde«, tönt der »Flug der Vögel […] von alten Sagen«, »[g]ekeltert ist der Wein« und »milde Stille« ist »[e]rfüllt von leiser Antwort dunkler Fragen« (ITA III, 25). Der »Einsame« ist Träger jenes Bewusstseins, das um die Verklärung des Herbstes weiß und diese doch als notwendige betreibt, über dessen dunklem Grund die Bilder aufsteigen und versinken. Er ist der Gewaltige, der das Auseinanderstrebende, Vergehende im Schweigen noch einmal sammelt, für einen Moment aufhält. Zu ihm kehrt das Gedicht in seinem letzten Vers zurück.

Literatur Heidegger, Martin: Einführung in die Metaphysik. Frankfurt a. M. 1983 (GA 40). Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe. Hg. von D. E. Sattler. Frankfurt a. M. 1975– 2008. Knobloch, Hans-Jörg: Endzeitvisionen. Studien zur Literatur seit dem Beginn der Moderne. Würzburg 2008. Ronzheimer, Elisa: Poetologien des Rhythmus um 1800. Berlin/Boston 2020.

»Im Winter« (I) (1910)

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Claas Morgenroth

Entstanden ist das Gedicht im Juni 1910. Trakl hat es bis zum Jahr 1912 mehrfach überarbeitet und dabei die Interpunktion, die Orthographie und den Wortlaut verändert (ITA I, 372 f.). In Trakls erster Lyriksammlung steht »Im Winter« (I) zwischen »Winkel am Wald« und »In ein altes Stammbuch«, also in der kompositorischen Mitte. Die Bildelemente sind typisch für Trakls Poesie. Die Raben und Dohlen, der Wald, der Acker, der Weiher, die Jäger, das Feuer und die Hütte, der Mond und das Tier, die Spuren der Menschen. Das gilt auch für die Geräuschwelt: die Glocke, das Flattern der Vögel, die stumme Landschaft, respektive die Farben (gelb, weiss, grau). Die intertextuellen Anspielungen führen zu Paul Verlaines »Winter«-Gedicht sowie zu Friedrich Hölderlin (»Winter«, »Menons Klagen um Diotima«, »Der Archipelagus«) (vergl. ITA I, 373), die Motive zu Pieter Bruegel d. Ä. und dessen Ölgemälde »Die Jäger im Schnee« (Kemper 1999, 49). Die Metaphorik bringt dabei konnotativ komplexe Paarungen hervor, die aus der Jahreszeit ein Stimmungsbild des vereinsamten und verletzten Menschen machen – Trakls Lebensthema. Bemerkenswert ist, dass diese beiden Ebenen, das Winterbild (Denotat) und seine

C. Morgenroth (*)  Lehrstuhl für Neuere deutsche Literatur, Technische Universität Dortmund, Dortmund, Deutschland E-Mail: [email protected]

übertragene Bedeutung der Vereinzelung (Konnotat), sich mit gleicher Kraft entwickeln. Das macht die Qualität des Gedichtes aus. Die drei Strophen enthalten je vier Zeilen. Diese Regelmäßigkeit setzt sich auf der Satzebene fort. Strophe eins und zwei beginnen mit zwei kurzen Sätzen und enden mit einem syndetischen Enjambement (›und‹) in den Zeilen drei und vier. Die dritte Strophe kehrt die Regel um. Die Anaphern in den Versen 1 und 2 sowie 5 und 6 unterstreichen die Struktur der poetischen Wiederholung, zu der in gleicher Weise die ausgestreuten Alliterationen (»Ein Schweigen in schwarzen Wipfeln wohnt«) und Assonanzen (»Dohlen kreisen über dem Weiher«) gehören (ITA I, 376). Metrum und Rhythmus sind etwas schwerer zu erschließen. Die äußeren und inneren Reimpaare folgen einem vierhebigen Jambus, mit Ausnahmen im dritten Vers der ersten Strophe und dem Schlusssatz des Gedichtes. Der Akzent wechselt dort auf die erste bzw. die ersten beiden Silben, die Alternation wird gebrochen. Dazu kommen Daktylen in den Versen zwei und zehn. »Im Winter« (I) orientiert sich also an der traditionellen Liedform, sorgt aber zugleich für pointierte Kon­ traste. Das lässt sich auch an den syntaktisch-semantischen Parallelen erkennen. Erde (›Acker‹) und Himmel stehen einander gegenüber (V. 2 und 3), dergleichen die Bewohner (Vogel und Mensch, V. 3 und 4). Dabei schafft die Verknüpfung (›und‹) nur eine Verbindung unter den

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Satzteilen, a­nsonsten verstärkt sie den Abstand der Paare: »Dohlen kreisen über dem Weiher / Und Jäger steigen nieder vom Wald«. Auch in der zweiten Strophe werden die Satzgrenzen gekreuzt, durch Klänge und Licht. Die dritte Strophe verbindet die Ereignisse zu einer – großzügig gesprochen – Handlung. Zum verblutenden Wild kommen die Raben, die »plätschern in blutigen Gossen«. Das »Rohr« gehört zum »Weiher« und taucht in Trakls Gedichten häufiger auf (Wetzel 1971, 499 f.). Eine interessante Korrespondenz gibt es etwa zu »Ein Frühlingsabend« (II), entstanden 1912. Dort heißt es auf der vierten Textstufe: »Durch das vergilbte Rohr bricht scheu ein Wild« (ITA II, 179). Das abschließende Asyndeton, die unverbundene Aufzählung »Frost, Rauch, ein Schritt im leeren Hain«, gibt drei verschiedene Eindrücke wieder, die nun gleichwohl ein Bild erzeugen. »Im Winter« (I) erweist sich damit als ein paradigmatisches Beispiel für Trakls poetische Formsprache, die vermeintlich isolierte Motive aneinanderreiht, um sie durch semantische und syntaktische Korrespondenzen zusammenzuführen. In der Forschung hat man dieses Prinzip der gegenstrebigen Fügung als »frühes Zeugnis des expressionistischen Reihungsstils« verstanden (Kemper 1999, 43). Das Ich der Erlebnislyrik werde durch eine »konstruktive Schlichtheit« ersetzt; an die Stelle des Menschen trete die formbildende Kraft isolierter Bilder (Kemper 1999, 45; dazu auch Walzel 1916; Denneler 1984; Esselborn 1981). Die Einsicht in die Komplexität der Form ist den strukturalistischen und linguistischen Ansätzen der Trakl-Rezeption zu verdanken, die das Zusammenspiel zwischen den Ebenen des poe­tischen Textes (wenn auch diskutabel) bis zur Lautsymbolik der Silben untersucht haben (allgemein Philipp 1971, konkret Kemper 1999, 48– 55). Dies vor Augen bieten sich zwei Lesarten an. Eine erste besinnt sich auf die ästhetische Schönheit der Poesie, das vollendete Arrangement der sprachlichen Ebenen. Eine zweite versteht die differenziert angeordneten Brüche des Gedichts als Ausdruck eines gleichermaßen ›gebrochenen‹ lyrischen Ichs, des paradigmatischen Subjekts der Moderne.

C. Morgenroth

Beide Lesarten lassen sich am Schreibprozess des Gedichtes selbst nachvollziehen. Die sechs erhaltenen Textstufen zeigen, dass Trakl »Im Winter« (I) über die Jahre formal präzisiert hat. Das gilt vor allem für die letzte Zeile. Im ersten Entwurf heißt es noch: »Und traumhaft klirrt das Eis im Hain«. Daraus wird »Und eisig« bzw. »Und schwärzlich klirrt der leere Hain« (ITA I, 375). Erst am Ende des Überarbeitungsprozesses findet Trakl zum Asyndeton und zum Rhythmuswechsel der Druckfassung, also zu einem Schlussbild, das die anwesende Abwesenheit des Menschen in der Welt zur Anschauung bringt: »ein Schritt im leeren Hain«. Diese »ichlose Wiedergabe der Natur« führt zu einer »Entpersönlichung« des Gedichts, die Trakls Beitrag zur modernen Lyrik ausmacht (Walzel 1916, 272, 276; Kemper 1999, 44). Der zerrissene Mensch steht vor einer toten oder gemarterten Welt, die er mühsam wieder zusammenzufügen versucht – wenn auch nur in der Sprache. Diese Sprache wiederum gehorcht einer strengen Form, die dem Menschen kaum Platz lässt. Er verschwindet. Zurück bleibt das Gedicht, und man kann sich fragen, ob es sich dabei um eine heroische Geste autonomer Kunstproduktion handelt oder um eine Kapitulation des Individuums.

Literatur Denneler, Iris: Konstruktion und Expression. Zur Strategie und Wirkung der Lyrik Georg Trakls. Salzburg 1984. Esselborn, Hans: Georg Trakl. Die Krise der Erlebnislyrik. Köln/Wien 1981. Kemper, Hans-Georg: Form-(De-)Konstruktion: Poetische Malerei im Reihungsstil. In: Ders. (Hg.): Interpretationen. Gedichte von Georg Trakl. Stuttgart 1999, S. 43–59. Philipp, Eckhard: Die Funktion des Wortes in den Gedichten Georg Trakls. Linguistische Aspekte ihrer Interpretation. Tübingen 1971. Walzel, Oskar: Schicksale des lyrischen Ichs [1916]. In: Ders.: Das Wortkunstwerk. Mittel seiner Erforschung. Leipzig 1926, S. 260–276. Wetzel, Heinz: Konkordanz zu den Dichtungen Georg Trakls. Salzburg 1971.

»Kleines Konzert« (1912)

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Mario Zanucchi

Entstanden ist »Kleines Konzert« im ersten Quartal 1912. Zusammengesetzt aus fünf Strophen mit umarmendem Reim und durchgehend weiblichen Kadenzen, entspricht seine formalästhetische Faktur dem Reihenstil des mittleren Werkes, den Trakl selbst in einem Brief als seine »bildhafte Manier« charakterisiert, »in vier Strophenzeilen vier einzelne Bildteile zu einem Eindruck« zusammenzuschmieden (HKA I, 478). Das Metrum ist der hyperkatalektische jambische Vierheber, der lediglich an zwei Stellen anapästisch gelockert wird: in Vers 8 (»goldene Wälder«), um das Schweigen der breiten Waldlandschaft einzufangen, und in Vers 12 (»Aussätzigen winkt«), um durch die Doppelsenkung die Spannung zwischen Krankheit und ersehnter Heilung wiederzugeben. Der ›Konzert-Charakter‹ von Trakls Gedicht ergibt sich zunächst aus den Klängen, die – mit Ausnahme der ersten Strophe – in fast jeder Strophe evoziert werden. Es sind sowohl Naturlaute als auch musikalische Töne: das Singen der Grille, der taktmäßige Klang der Sensen auf den Feldern, das »Saitenspiel«, das Gott in einem Teich weckt, Geigenklänge, das Quietschen der Ratten, in der fünften Strophe schließ-

M. Zanucchi (*)  Deutsches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Freiburg, Deutschland E-Mail: [email protected]

lich überlagern sich verhallende Stimmen im Streit mit einem Schlussakkord von Flötenklängen. Die synästhetische Verbindung dieser Klangtextur mit Farbwerten lässt ein synästhetisches Konzert von Klängen und Farben entstehen, das unter dem maßgeblichen Einfluss Wassily Kandinskys steht. Bereits Albrecht Weber (1954/1955), Christa Saas (1981) und Barbara Neymeyr (2001) haben im Zusammenhang mit Trakl auf Kandinsky hingewiesen, ohne aber die Frage nach einem eventuellen Einfluss des russischen Malers auf den Dichter zu vertiefen. Im Folgenden soll daher Trakls Dialog mit Kandinskys Theorie des »Farbentons« in »Kleines Konzert« erstmalig rekonstruiert werden.

Trakls unerforschter Dialog mit Wassily Kandinsky Sein synästhetisches Konzept entwickelte der russische Künstler in Auseinandersetzung mit Wagners Konzept des Gesamtkunstwerks (Saas 1981) und mit Maeterlincks symbolistischer Poetik (Gorceix 1998) in der Schrift Über das Geistige in der Kunst. Die 1912 datierte Erstausgabe von Kandinskys Abhandlung erschien beim Piper-Verlag schon im Dezember 1911, und dies fügt sich gut zur Entstehungszeit von Trakls Text im ersten Quartal von 1912. Kandinsky lenkt den Fokus vor allem auf das, was

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er die psychische Wirkung von Farben nennt. Er beschreibt sie als eine »seelische Vibration« (Kandinsky 1912, 45), die sich bei höher entwickelten Menschen synästhetisch entfaltet und einen »inneren Klang« (ebd.) auslöst. Die psychische Farbenwirkung folgt dem Gesetz der synästhetischen Assoziation, sodass Farben Klänge evozieren, Düfte entfalten sowie Glätte oder Härte hervorrufen können: »Manche Farben können unglatt, stechend aussehen, wogegen andere wieder als etwas Glattes, Samtartiges empfunden werden, so dass man sie gern streicheln möchte. (Ultramarinblau dunkel, Chromoxydgrün, Krapplack.) Selbst der Unterschied zwischen Kälte und Wärme des Farbtons beruht auf dieser Empfindung. Es gibt ebenso Farben, die weich erscheinen (Krapplack) oder andere, die stets als harte vorkommen (Kobaltgrün, grünblau Oxyd), so dass die frisch aus der Tube ausgepreßte Farbe für trocken gehalten werden kann. Der Ausdruck ›duftende Farben‹ ist allgemein gebräuchlich. Endlich ist das Hören der Farben so präzis, dass man vielleicht keinen Menschen findet, welcher den Eindruck von Grellgelb auf den Basstasten des Klaviers wiederzugeben suchen oder Krapplack dunkel als eine Sopranstimme bezeichnen würde« (Kandinsky 1912, 47–48). In Trakls »Kleines Konzert« zeigt sich die Kandinsky-Nachfolge an der bereits erwähnten, systematischen Kombination von Klängen und Farben, aber auch an deren Assoziation mit sensorischen und olfaktorischen Empfindungen, die das synästhetische Spektrum zusätzlich erweitern. So werden das Rot mit der Wärme der Morgensonne und das Grün mit der Hitze des Nachmittags (»glüht«, V. 9) verbunden. Ihnen gegenüber steht die nächtliche Kühle des Violetts. Die stechende Wirkung des Gelben assoziiert Trakl mit der Härte der Sensen, während das Blau, das den Geruch von Milch evoziert, sich als ›duftende Farbe‹ im Sinne Kandinskys erweist. In seinem Gedicht konzentriert sich Trakl auf die von Kandinsky im Kapitel »Formen und Farbensprache« besprochenen Grundfarben und profitiert auch entscheidend von Kandinskys Charakterisierungen der jeweiligen Farbwirkungen.

M. Zanucchi

Der von den warmen Farben ausgelöste Eindruck zentrifugaler Bewegung hin zum Betrachter, den Kandinsky nachdrücklich hervorhebt, betont auch Trakl in der ersten Strophe seines Gedichts. Im Zentrum steht die vom Rot ausgelöste emotionale Erschütterung, die Trakl durch die wiederholt variierte Du-Apostrophe (»dich«, »deine«, »Du«, »dein«) akzentuiert. Für den russischen Maler stellt das Rote eine zurückgestaute, geballte Energie-Konzentration dar, die im Unterschied zu Gelb nicht in actu verausgabt wird, sondern in potentia bleibt und daher auf den Betrachter wie ein Potential wirkt, das Ahnungen und Erwartungen weckt: »Das Rot, so wie man es sich denkt, als grenzenlose, charakteristisch warme Farbe, wirkt innerlich als eine sehr lebendige, lebhaftem unruhige Farbe, die aber nicht den leichtsinnigen Charakter des sich nach allen Seiten verbrauchenden Gelb besitzt, sondern trotz aller Energie und Intensität eine starke Note von beinahe zielbewußter immenser Kraft zeugt« (Kandinsky 1912, 82 f.). Weiter heißt es: »Das helle warme Rot […] erweckt das Gefühl von Kraft, Energie, Streben, Entschlossenheit, Freude, Triumph (lauter) usw.« (ebd., 83). Über das kalte Rot urteilt Kandinsky: »Dieses Aktive […] läßt eine Ahnung, ein Erwarten eines neuen energischen Aufglühens wie etwas, was in sich zurückgezogen hat, was aber auf der Lauer liegt und die versteckte Fähigkeit in sich birgt oder hatte, einen wilden Sprung zu machen« (ebd., S. 85). Auch bei Trakl symbolisiert das Rot eine Energieballung, die »auf der Lauer liegt« und sich bald in eine Tat entladen wird. Umschrieben wird die emotionale Wucht der roten Erschütterung durch die Reimlosigkeit des Anfangsverses, der den umarmenden Reim aufhebt, durch die zahlreichen Verbformen (»erschüttert«, »scheint«, »fühlst«, »sich bereiten«) sowie – klanglich – durch die ü-Assonanzen (»erschüttert«, »fühlst«, »verrückt«). Der nach Kandinsky »grenzenlose« (ebd., 82), da noch potentielle Charakter des Roten zeigt sich durch seine Lösung vom Gegenstandsbezug und seine Substantivierung (»Ein Rot«). Auch das Fehlen der Präposition »in«, welche die Farben entlang der Raum- oder Zeitachse verortet und sonst in jeder Strophe vorkommt, betont die Nicht-

31  »Kleines Konzert« (1912)

Lokalisierbarkeit und die nur innerliche Dimension des roten Farbtons. Einen Übergang zur Konkretion scheint der letzte Vers der ersten Strophe im Bild der erwogenen Tat anzudeuten. Auch darin zeigt sich der Einfluss Kandinskys, der in seinem Traktat dieselbe Metapher wählt, um den Übergang vom reinen Potenzial (Rot) zum »Anfang der Bewegung des Ausstrahlens« (Orange) zu beschreiben: »Es ist einem von seinen Kräften überzeugten Menschen ähnlich und ruft deswegen ein besonders gesundes Gefühl hervor« (ebd., 85 f.). Die nächste Strophe präsentiert das Gelb als das Sich-Ausströmen der im Rot noch zurückgehaltenen Energie. Dies kommt durch das »Strömen« der »gelben Felder« und das Schwingen der Sensen zum Ausdruck, als Verbrauchen der vorher zurückgestauten Kräfte (ebd., 76). Wiederholt spricht Kandinsky in seinem Traktat von dem »sich nach allen Seiten verbrauchenden Gelb« (ebd., 76, 83). »Das Zerstreuen der Kraft in die Umgebung« ist für ihn die Haupteigenschaft des Gelb (ebd., 75). Diese energetische Dimension betont Trakl durch nicht weniger als fünf Verbformen (»strömen«, »hörst«, »Singen«, »Schwingen« und »schweigen«). Den ›verschwenderischen‹ Charakter des Gelben bringt übrigens bereits Kandinsky in Verbindung mit dem Herbst: »Es ist auch wie die tolle Verschwendung der letzten Sommerkräfte im grellen Herbstlaub« (ebd., 76–77). Der russische Maler betont auch die aggressive Wirkung der gelben Farbe, von ihr »wird das Auge gestochen«, heißt es bei ihm wörtlich (ebd., 74). Gerade diese Aggressivität umschreibt Trakl durch das Schwingen der Sensen, welche auch den Tod mit evozieren. Unterstrichen wird der gelbe Chromatismus mit Hilfe der symbolistischen audition colorée durch die g-Alliteration (»gelbe«, »Grillen«) und die ä-Assonanzen (»Felder, Mäher«, »Einfältig«, »Wälder«). Die fortschreitende emotionale Abkühlung vom roten zum gelben Farbton zeigt sich bei Trakl an der Dämpfung der Du-Apostrophe, die jetzt nur einmal vorkommt (»Kaum hörst du noch der Grillen Singen«). Später entfällt sie bei den kalten Farben und weicht einem unpersönlichanonymen Duktus (»Man hört«).

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Auch in der nächsten Strophe wird der grüne Farbton durch Assonanzen (»grünen«, »Tümpel«, »glüht«) und Alliterationen (»grünen«, »glüht«, »Gottes«, »Genesung«) vergegenwärtigt. Die gelbe Dynamik kommt allerdings zum Stillstand. Bereits das Bild vom Schweigen der Wälder in der gelben Strophe ist offenbar als Schwellenvers hin zur grünen Erstarrung zu verstehen. Durch den Übergang von den warmen zu den kühlen Farben nimmt die emotionale Farbwirkung ab und die Depersonalisation des Duktus zu. Die Du-Anrede, die in der roten und gelben Strophe präsent war, entfällt jetzt. Die in der grünen Strophe herrschende Stagnation entspricht exakt Kandinskys Charakterisierung dieser Farbe. Grün ist für Kandinsky die Vernichtung der diametralen Gegensätze Gelb und Blau und Symbol des Innehaltens, des Stillstands: »Absolutes Grün ist die ruhigste Farbe, die es gibt: sie bewegt sich nach nirgend hin und hat keinen Beiklang der Freude, Trauer, Leidenschaft, sie verlangt nichts, ruft nirgend hin« (ebd., 78). Gerade die von Kandinsky hervorgehobene ›Unbeweglichkeit‹ des Grüns (ebd., 79) kehrt auch bei Trakl in der Assoziation dieser Farbe mit stagnierenden Gewässern wieder. Kandinsky spricht bei Grün gar von einem kränklichen Zustand, von »paralysierte[n] Kräfte[n]« (ebd., 75) und dies dürfte wohl auch der Grund für Trakl gewesen sein, das Grün in Verbindung mit dem Heilungswunder von Beth Saida zu bringen. Während Kandinsky das Blau als Farbe der neuen Malerei, als Symbol überirdischer Vergeistigung und konstruktivistische Überwindung der Natur auffasst, erhält es in Trakls Gedicht eine unheimliche Konnotation und wird zur Farbe der Entfremdung von der Natur und des zivilisatorischen Verfalls (dazu schon Neymeyr 2001, 257–258). Hierfür symptomatisch ist bereits seine Assoziation mit Dädalus. Sie ist die mythologische Figuration der hybriden technischen Grenzüberschreitung, die den tödlichen Absturz des Ikarus nach sich zieht. Die Entfremdungserfahrung zeigt sich auch in der sukzessiven Verengung des Blicks, von der freien Natur hin zu den geschlossenen Räumen, die jetzt dominieren. Durch das schwarze Bild der

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»Ratten« erzielt Trakl eine Verdunkelung des Blauen, die zum Violetten der nächsten und letzten Strophe überleitet. Im Viola findet die chromatische Antiklimax des Gedichts ihr Ende. Mit diesem Farbton assoziiert Trakl Hässlichkeit (»scheußliche Tapeten«), Disharmonie (der qualitativ unreine Reim »Tapeten« / »Flöten«), Depravation (»Hader«), Asozialität (»Narziß«) und Tod (»Endakkord«). Darin folgt er erneut Kandinsky. »Violett«, schreibt er, »ist also ein abgekühltes Rot im physischen und psychischen Sinne. Es hat deswegen etwas Krankhaftes, Erlöschtes (Kohlenschlacken!), hat etwas Trauriges in sich« (Kandinsky 1912, 86). Trakls Assoziation des Violetten mit Narziss erklärt sich auch daraus, dass Violett laut Kandinsky »die Neigung hat, vom Menschen sich weg zu bewegen« (ebd., 86). Den von Kandinsky unterstrichenen Todescharakter des Violetten betonen das »Sterben« der dunklen Stimmen sowie die »Endakkorde« der Flöten, die Narziß’ Tod suggerieren, begleitete man mit diesem Instrument doch den elegischen Trauergesang (vgl. etwa Archilochos 2003, 56 f. [58]). Die zentripetale, in die Isolation hinführende Bewegung des Violetten wird auch an der Raumästhetik sichtbar. Gemessen an den sich ausströmenden gelben Feldern symbolisiert die Schenke die Absonderung, die Kandinsky mit den kalten Farben verbindet. Die Streitszene hält das Scheitern der zwischenmenschlichen Interaktion, das feindliche sich einander Abstoßen der Individualitäten fest. Am Ende steht die selbstverliebte Beziehungslosigkeit des Narziss. Wie in der blauen Strophe akzentuiert die Präposition »in« (»Im Krug«, »Im Hader«, »im Endakkord«) die den kalten Farben eigentümliche Tendenz zur Individuation und Vereinsamung. Dem Abschlussvers fehlt das Prädikat, was die Beziehungslosigkeit und Weltabgewandtheit der Narziss-Figur erneut unterstreicht. Im Hinblick auf seine intertextuelle Faktur erweist sich »Kleines Konzert« auch als Polyphonie der dichterischen Stimmen, welche Trakls Lyrik anhaltend geprägt haben. Zahlreiche Reime (»Sonne« / »Wonne«, »Felder«

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/ »Wälder«, »Singen« / »Schwingen«, »Verwesung« / »Genesung«) sind auch bei Nikolaus Lenau belegt. Die Lenau-Lektüre überlagert sich mit Verlaine – der Reim »Farben« / »starben« stammt aus einem Verlaine-Gedicht, das Trakl in »Drei Teiche in Hellbrunn« bereits verwertet hatte, nämlich »Mon rêve familier«, in Hermann Hesses Übersetzung: »Und ihre Stimme ist dunkelfarben, / Wie Stimmen von Geliebten, die uns starben« (Verlaine 1907, 11). Auch das kaum hörbare Singen der Grillen ist nicht an Hölderlin angelehnt, wie in der ITA vermutet wird (ITA I, 533), sondern evoziert einen Vers aus Verlaines »Sommer«: »In dieser starren Ruh verstummten selbst die Grillen« (Verlaine 1907, 88). Aus demselben Verlaine-Gedicht hat Trakl übrigens auch die Formel »im grünen Tümpel« übernommen: »Im grünen Tümpel nur im Schatten jener Espen« (ebd.). Hölderlin-Reminiszenzen sind ebenfalls präsent, wie die Wendung »Dädalus’ Geist« nach Hölderlins Gedicht »An Zimmern« (Hölderlin 1905, 305, V. 8) und das »Saitenspiel« aus der Elegie »Brod und Wein« (ebd., 235) belegen, das Trakl mit Rimbauds Prosagedicht »Beth-Saïda« über das Heilungswunder am Teich Betesda (Joh 5, 2 ff.) kombiniert (Rimbaud 1907, 47–48). Den Titel »Kleines Konzert« hat Trakl offenbar aus Rimbauds Prosagedicht »Ouvriers« (in der deutschen Übertragung »Arbeiter«) entwickelt: Dort finden sich »Endakkorde von Kammerkonzerten« (Rimbaud 1907, 23). Vernehmbar sind schließlich auch vereinzelte Anklänge an die frühverstorbene Wiener Dichterin Lisa Baumfeld, eine Schülerin Hofmannsthals, deren gesammelte Gedichte 1900 postum erschienen waren. Von ihr adaptiert Trakl nicht nur die ›rote Erschütterung‹ aus dem Gedicht »Lebensblut«, sondern auch die ›grüne Stille‹ der Nachmittagsstunden aus dem Gedicht »JuliNachmittag«. Die Verse »Aus den schweigenden Tapeten / Seh’ ich Blumenkelche treten« aus Baumfelds »Nachmittag« (Baumfeld 1900, 40) schließlich lieferten die Vorlage für die Verse 17 f.: »Im Krug an scheußlichen Tapeten / Blühn kühlere Violenfarben«.

31  »Kleines Konzert« (1912)

Literatur Archilochos: Gedichte. Hg. und übers. von Rainer Nickel. Düsseldorf/Zürich 2003. Baumfeld, Lisa: Gedichte. Mit einem Vorwort von Ferdinand Gross. Wien 1900. Gorceix, Paul: Une rencontre: W. Kandinsky und M. Maeterlinck. In: Gilbert Merlio/Nicole Pelletier (Hg.): Munich 1900 site de la modernité/München 1900 als Ort der Moderne. Bern 1998, 237–248. Hölderlin, Friedrich: Gesammelte Werke. Bd. 2: Gedichte. Hg. von Paul Ernst. Jena 1905. Kandinsky, Wassily: Über das Geistige in der Kunst, insbesondere in der Malerei. Mit acht Tafeln und zehn Originalholzschnitten. München 31912. Neymeyr, Barbara: Lyrisch-musikalische Kadenzen. Zur poetischen Figuration der Dekadenz in Trakls Ge-

237 dicht »Kleines Konzert«. In: Hofmannsthal-Jahrbuch 9 (2001), 241–259. Rimbaud, Arthur: Leben und Dichtung. Übertragen von K. L. Ammer, eingeleitet von Stefan Zweig. Leipzig 1907. Saas, Christa: Kandinsky und Trakl. Zum Vergleich der Abstraktion in der modernen Kunst und Lyrik. In: Gerald Chapple/Hans H. Schulte (Hg.): The turn of the century. German literature and art, 1850–1915. The McMaster Colloquium on German Literature (2). Bonn 1981, 347–375. Verlaine, Paul: Gedichte von P. V. Eine Anthologie der besten Übertragungen. Hg. von Stefan Zweig. Berlin/ Leipzig 21907. Weber, Albrecht: Klang und Farbe bei Trakl. In: Wirkendes Wort 5 (1954/1955), 215–224.

»Menschheit« (1912)

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Mario Zanucchi

Verfasst wurde »Menschheit« laut der Chronologie von Karl Röck nach »Verwandlung« und vor »Drei Blicke in einen Opal« (ITA II, 106). Überliefert ist eine handschriftliche Reinschrift, die vermutlich Ende September / Anfang Oktober 1912 in Salzburg entstand. Auf den Erstdruck im Brenner folgte die Publikation in der Sammlung Gedichte. Vom Druck weicht die Reinschrift geringfügig ab. Zu vermerken sind zum Ersten die unterschiedliche Interpunktion im Titel (»Menschheit.« / »Menschheit«) sowie in Vers 1 (»aufgestellt.« / »aufgestellt,«), 3 (»schellt« / »schellt,«) und 9 (»Ölbaumzweigen.« / »Oelbaumzweigen,«), wo auch die abweichende Orthographie hervorzuheben ist; zum Zweiten der unterschiedliche Wortlaut in Vers 4 (»Und Fratzen gaukeln aus zerstampften Hirnen.« / »Verzweiflung, Nacht in traurigen Gehirnen:«) und 5 (»Evas« / »Hier Evas«). Der folgenden Analyse wird die in der Sammlung Gedichte abgedruckte Fassung (ITA II, 110) zugrunde gelegt. Wiewohl im Druckbild stichisch, d. h. ohne Strophengliederung, besteht das Gedicht aus zwei Fünfzeilern, die am Reimwechsel erkennbar sind (ababa cdcdc). In jeder der beiden Sequenzen enden die geraden Verse weib-

M. Zanucchi (*)  Deutsches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Freiburg, Deutschland E-Mail: [email protected]

lich-stumpf, die ungeraden dagegen männlich-klingend. In der ersten Sequenz herrscht rhythmische Gegenläufigkeit. Nur die geraden Verse sind jambisch gestaltet, während die ungeraden daktylisch-trochäisch sind. Vers 1 und 5 sind durch einen daktylischen Auftakt beschwert (»Menschheit vor Feuerschlünden aufgestellt«; »Hier Evas Schatten, Jagd und rotes Geld«), während Vers 3 gar zwei Daktylen zu Beginn aufweist (»Schritte durch Blutnebel; schwarzes Eisen schellt«). Im Unterschied zur rhythmischen Instabilität des ersten Teils zeichnet sich die zweite Sequenz durch ein regelmäßiges jambisches Metrum aus, das dem dort entworfenen heilsgeschichtlichen Horizont entspricht. Formalästhetisch bedeutsam sind auch die zahlreichen Alliterationen – »Schritte […] schwarzes […] schellt« (V. 3), »zwölf an Zahl« (V. 8), »schrein im Schlaf« (V. 9), »Thomas taucht« (V. 10) – sowie der Binnenreim »Licht durchbricht« (V. 6). In »Menschheit« kommt die Technik des Zeilenstils zum Einsatz, allerdings in einer radikalisierten Form, die selbst die Verseinheit zerrüttet. So zählt Vers 5 nicht weniger als drei disparate, asyndetisch aneinandergereihte Bilder auf. Die Versfragmentierung spiegelt die Zerstörung jeden kohärenzstiftenden Sinnzusammenhangs durch den Krieg wider. Bereits das Incipit zeigt die Degradierung der »Menschheit« zum Objekt der Kriegsmaschinerie. Das Verbum »aufstellen« wird in der Regel auf

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_32

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­ eschütze bezogen. Bei Trakl sind es dagegen G die Menschen, die – zu Kampfmaschinen objektiviert – »aufgestellt« werden, und zwar vor den Artilleriestücken, als ›Kanonenfutter‹ und ›Menschenmaterial‹. Der »Trommelwirbel« verkündet den Angriff, assoziiert jedoch auch metaphorisch das Trommelfeuer der Geschütze (Buck 2010, 204), während das Detail der »Stirnen« die geistigen Auswirkungen der Schlacht auf den mentalen Zustand der Soldaten hervorhebt. Die Forschung hat bisher übersehen, dass Trakl den ersten Gedichtteil genau nach den Phasen eines Angriffsgefechts sequenziert: Anmarsch, Annäherung und Sturm. Auf den vom Trommelwirbel verkündeten Anmarsch der Truppen folgt ihre Annäherung an die feindlichen Linien, die sich im Pulverdampf des Artilleriefeuers (»Blutnebel«) vollzieht. Die nächste Phase des Angriffs bildet den Sturm, der akustisch durch den sinistren Klang der Waffen (»schwarzes Eisen schellt«) evoziert wird. Darauf folgte in der ursprünglichen Fassung in Vers 4 ein drastisches Bild, das die vom Krieg hinterlassenen seelischen Wunden, die traumatischen Auswirkungen der Schlacht auf das Bewusstsein der Kämpfenden benennt: »Und Fratzen gaukeln aus zerstampften Hirnen« (ITA II, 109). Dieser Vers, der mit erstaunlicher expressiver Wucht die psychischen Traumatisierungen der im Kampf eingesetzten Soldaten reflektiert, scheint auf intertextueller Ebene eine Heine-Stelle (»In meinem Hirne gaukeln minder heitere Farben als damals«, Heine 1973–1997, IX, 45) mit Rimbaud (»zu einem rauchenden Gewirr zerstampft«, Rimbaud 1907, 152) zu kombinieren. Die spätere Fassung dämpft die groteske Expressivität des ursprünglichen Bildes durch abstrakte Umschreibungen (»Verzweiflung. Nacht«) und mildernde Adjektivierung (aus »zerstampft« wird »traurig«), legt aber immer noch den Fokus auf das psychische Schlachtfeld, die traumatischen Kriegsneurosen: »Verzweiflung. Nacht in traurigen Gehirnen«. Der Doppelpunkt am Ende des vierten Verses leitet Trakls kulturkritische Diagnose ein. Diese macht die Gründe und Triebkräfte namhaft, die für die Katastrophe des Kriegs verantwortlich

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sind: Versuchung und Verführung (»Evas Schatten«), Aggression und Gewalt (»Jagd«), Machthunger und Gewinnsucht (»rotes Geld«) (Buck 2010, 207). Markant ist der symbolische Farbengebrauch: Deutete vorher das »schwarze« Eisen den todbringenden Charakter der Waffen an, so evoziert jetzt das »rote« Geld das Blut, das an den Kriegsprofiten klebt. Befangen in dieser selbstzerstörerischen Spirale kann sich die Menschheit Trakl zufolge nicht von selbst erlösen, sie bedarf des göttlichen Heils, des transzendenten Einbruchs der Gnade, den der zweite Gedichtteil festhält. Nach den Zäsuren und Bildbrüchen der ersten Partie wirkt die zweite weniger fragmentarisch, wie die sich über zwei Verse erstreckende Abendmahlszene belegt. Das Gewölk der menschlichen Geschichte wird vom Licht der Eucharistie durchbrochen. Die christlichen Zentralsymbole von »Brot und Wein« verweisen auf das letzte Abendmahl, das Jesus mit den zwölf Aposteln vor seinem Kreuzestod feierte. Das »sanfte«, friedliche Schweigen der Szene steht im markanten Gegensatz zum tödlichen Lärm des Schlachtgetümmels. Andererseits bindet gerade die Leidensdimension der biblischen Bilder in den Versen 9 und 10 (»Nachts schrein im Schlaf sie unter Ölbaumzweigen; / Sankt Thomas taucht die Hand ins Wundenmal«) den zweiten an den ersten Teil zurück und verleiht dem menschlichen Leid seinen allegorisch-figuralen Sinn. Der strukturelle Aufbau selbst von Trakls Gedicht beruht auf der figuralen Korrespondenz zwischen den Leiden der Menschheit und dem Selbstopfer Christi. Das Gedicht setzt bei der »Menschheit« an und endet bei dem ›Menschensohn‹. Eingedenk einer jahrtausendalten allegorischen Tradition setzt der intellectus spiritualis des Dichters die Leiden der Menschheit mit dem Passionsweg Christi in Beziehung. Beide verweisen aufeinander. Dies erklärt auch die genaue Korrespondenz zwischen Vers 4 und Vers 9. Die »Verzweiflung« und die »Nacht« in den »traurigen Gehirnen« der Soldaten entsprechen auf figuraler Ebene der von den Aposteln verbrachten Nacht – ihr Schrei ist Ausdruck derselben »Verzweiflung«. Trakl schreckt an dieser Stelle vor einer Modifikation der ent-

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sprechenden biblischen Passagen über den Schlaf der Apostel nicht zurück, um eben eine solche figurale Korrespondenz zwischen Christi Passion und der menschlichen Geschichte zu etablieren. Es erübrigt sich fast zu betonen, dass in der biblischen Passionsgeschichte über den Schlaf der Apostel auf dem Ölberg von Schreien nirgendwo die Rede ist. Die Schreie der Apostel in Trakls eigener ›Passionsgeschichte‹ weisen nicht nur auf Christi Kreuzestod voraus, sie präfigurieren auch die Schreie der Frontverwundeten und lassen Trakls Verklammerung profaner und biblischer Geschichte deutlich werden. Anhand des Apostels Thomas, der vom Auferstandenen aufgefordert wurde, seine Finger auszustrecken und in seine Wunden zu legen (Joh 20,19–29), rekapituliert der letzte Vers schließlich den für das Verständnis des Gedichts zentralen Konnex zwischen Glauben und Leidenserfahrung. Die Konfrontation mit Christi Blutzeugnis (das in Reimstellung exponierte »Wundenmal«), das auf das Grauen des Krieges figural vorausweist, wird bei Thomas de facto zur ›Schule des Glaubens‹. Dem pervertierten militärischen Heroismus stellt Trakl somit einen ›christlichen Heroismus‹ entgegen, der sich dem Leiden der Menschheit stellt und dieses auf sich nimmt. Vor dem Hintergrund dieser figural-allegorischen Geschichtsdeutung ist die im zweiten Teil geschilderte Passion Christi Präfiguration und Urbild der Kriegspassion, die der erste Teil erzählt. Trakls figurale Hermeneutik besitzt auch eine poetologische Dimension. Thomas’ Hand, die in die Wunden Christi taucht, präfiguriert zugleich die Hand, die in Trakls Gedicht die Apokalypse des Krieges erkundet und erschreibt (Buck 2010, 210). Dies bedeutet nichts Geringeres als einen Anspruch auf sakrale, göttlich beglaubigte Autorschaft. So präsentiert sich Trakls »Menschheit« als ein drittes, poetisches Testament, das sowohl auf das Alte (»Evas Schatten«) als auch auf das Neue Testament Bezug nimmt und sie figural fortsetzt. In intertextueller Hinsicht bestätigt sich die Relevanz der Bibel für Trakls Lyrik. Auch die christliche Ikonographie spielt eine Rolle. Von einer tatsächlichen Wundberührung ist im

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Johannesevangelium (Joh 20,19–29) nämlich nicht die Rede, da Johannes nach der Konfrontation mit dem Auferstandenen auf den ursprünglich verlangten haptischen Beweis verzichtet. Erst die bildende Kunst, etwa Duccio di Buoninsegnas Szene Der ungläubige Thomas aus dem Altarretabel des Sieneser Doms (1308–1311) oder Caravaggios Ungläubiger Thomas (1601– 1603, Potsdam), führte die Szene der Wundberührung ein und lieferte somit die Vorlage für die Schlusszeile von Trakls Gedicht. Intertextuell bedeutsam ist ferner Trakls Dialog mit Rimbaud und insbesondere sein Widerlegungsversuch von Rimbauds Religionskritik. Von Rimbauds Sonett »Das Elend« (»Le Mal«) übernahm Trakl offensichtlich die Zweiteilung seines Gedichts, das wie Rimbaud das Theodizee-Problem aufwirft und auf die Schilderung des Kriegselends die Reflexion über Gottes Verantwortung folgen lässt. Während eine solche Konstellation bei Rimbaud der demonstrativen Widerlegung der Theodizee dient, versucht Trakl, gerade durch die figurale Verklammerung des menschlichen und des göttlichen Leidens den Gottesglauben zu retten. In Rimbauds Sonett erscheint der christliche Gott als eine kalte, für die Schreie der Menschen taube Himmelsmacht, die über dem Schlachtgetümmel der Welt thront und sich an den Gebetsopfern weidet (Rimbaud 1907, 152). Trakl dagegen rückt durch die Darstellung der Passionsgeschichte Christi gerade die Solidarität Gottes mit den Leidenden, seine Nähe im Leiden in den Vordergrund. Bezeichnend für Trakls ›Entlastung‹ Gottes ist auch, dass die bei Rimbaud Gott unterstellte Geldgier (»Pfennig«) jetzt auf die Menschen umgewidmet wird (»rotes Geld«). Die Konsequenz ist allerdings eine fast restlose Vermenschlichung Christi, die auch dessen Erlösung vom Tod, die soteriologische Perspektive in den Schatten stellt. Somit läuft Trakls Figuralpoetik de facto nicht nur auf eine Sakralisierung des menschlichen Leids, sondern auch auf eine Ohnmachtserklärung Gottes hinaus. Gerade darin liegt die Modernität und Brüchigkeit von Trakls poetischem Christentum. Von Christi sühnendem Heilsereignis, der Auferstehung, evoziert Trakl nur das »Wundenmal«, die leibliche

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und gänzlich irdisch-menschliche Erfahrung des Leidens. Neben Rimbaud scheint ferner der intertextuelle Dialog mit Lenau für Trakl signifikant zu sein. Das Kompositum »Blutnebel« übernimmt Trakl aus einem Gedicht von Leo Greiner in dessen 1911 erschienener Lenau-Ausgabe (Lenau 1911, s. p. [463]: »Muß ich sehen so unselige Schlacht, / füllt das Feld Blutnebel mir und Nacht«). In Lenaus antinapoleonischem Gedicht »Auf meinen ausgebälgten Geier« wird Napoleon als »Jäger« (Trakl: »Jagd«) apostrophiert, der die »Menschheit« als Wild durch das Dickicht der Bajonette treibt (Lenau 1989– 2004, II, 23). Auch Lenaus Versepos Johannes Ziska (Bilder aus dem Hussitenkriege) scheint bei Trakl Spuren hinterlassen zu haben. So verrät die Metapher von der »Nacht in traurigen Gehirnen« (V. 4) Lenaus Prägung: »Hüben lenkt die Nacht des Leibes, / Drüben Geistesnacht die Krieger« (Lenau 1989–2004, II, 301). Auch bei Lenau durchbricht im dritten Gesang ein plötzliches Licht das dunkle Gewölk – es ist ein Blitz, der den Kämpfenden Orientierung in dem vom Gewitter verfinsterten Tal bietet (ebd., 295) – und auch dort folgt auf die Schlacht die Evokation des Abendmahls. So dürstet es im siebenten Gesang Ziska und seinen Kampfgenossen nach dem Kelch des »Abendmahls«, das bei Lenau übrigens wie bei Trakl in Reimstellung erscheint: »Tigerhaft gereizten Durstes / Schmachten Zista’s Kampfgenossen / Nach dem Kelch des Abendmahles, / Den die Priester streng verschlossen« (ebd., 302).

M. Zanucchi

Schließlich zeigen sich in »Menschheit« auch die Spuren von Trakls Hölderlin-Lektüre, vor allem in V. 7: »Es wohnt in Brot und Wein ein sanftes Schweigen«. Die christlichen Zentralsymbole von »Brot und Wein« verweisen zugleich auf Hölderlins gleichnamige Elegie, und auch die unpersönliche Konstruktion ist Hölderlinscher Provenienz (vgl. »Der Archipelagus«: »es wohnt, wie im Orkus / Ohne Göttliches unser Geschlecht«, Hölderlin 1975–2008, III, 182).

Literatur Buck, Theo: Georg Trakl: »Menschheit« (1912). In: Ders.: Streifzüge durch die Poesie: von Klopstock bis Celan. Köln/Weimar/Wien 2010, 201–230. Heine, Heinrich: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Hg. von Manfred Windfuhr. Hamburg 1973–1997. Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe. Hg. von D.E. Sattler. Frankfurt a. M./Basel 1975–2008. Lachmann, Eduard: Kreuz und Abend. Eine Interpretation der Dichtungen Georg Trakls. Salzburg 1954. Lenau, Nikolaus: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Hg. von Helmut Brandt, Gerard Kozielek, Antal Mádl, Norbert Oellers, Hartmut Steinecke, András Vizkelety, Hans-Georg Werner und Herbert Zeman. Wien 1989–2004. Rimbaud, Arthur: Leben und Dichtung. Übertr. von K. L. Ammer [Ps. von Karl Klammer], eingeleitet von Stefan Zweig. Leipzig 1907. Werner, Barbara: Erlösungsmotive in der Dichtung Georg Trakls. Frankfurt a. M. 1959. Wild, Ariane: Poetologie und Décadence in der Lyrik Baudelaires, Verlaines, Trakls und Rilkes. Würzburg 2002.

»De profundis« (II) (1912)

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Ulrich Kittstein

Das Gedicht entstand Ende September oder Anfang Oktober 1912. Während eine erste Niederschrift, die zunächst den Titel »Herbstlied« vorsah, den der Verfasser dann durch »Psalm« ersetzte (Abb. 33.1), lediglich fünf unregelmäßige Versblöcke aufweist (ITA II, 120 f.), stellt die zweite, nun »De profundis« überschrieben, im Wesentlichen bereits die endgültige Gedichtgestalt her (ITA II, 121 f., Zitation des Gedichtes im Folgenden nach dieser Fassung). Dabei fügte Trakl insbesondere die Motive der Hirten, des Dornenbuschs und des schweigenden Gottes ein und verstärkte damit die Anspielungen auf die biblisch-religiöse Sphäre. Spätere Abschriften bringen nur noch kleine Korrekturen, die überwiegend Orthographie und Zeichensetzung betreffen (ITA II, 122 f.). Der Text erschien am 15.12.1912 in der Zeitschrift Der Brenner und im folgenden Jahr in Trakls Band Gedichte. Nachdem er 1919 von Kurt Pinthus in seine Sammlung Menschheitsdämmerung und damit in den Kanon expressionistischer Lyrik aufgenommen worden war, fand er auch Eingang in zahlreiche weitere Anthologien. Heute gehört er zu den bekanntesten Gedichten des Autors.

U. Kittstein (*)  Philosophische Fakultät, Universität Mannheim, Mannheim, Deutschland E-Mail: [email protected]

»De profundis« (II) ist repräsentativ für eine Phase von Trakls lyrischem Schaffen, in der er zunehmend auf Reime, regelmäßige metrische Strukturen und eine feste Stropheneinteilung verzichtete. Wie dem Text ein strenges äußeres Formgerüst fehlt, so vermisst man auch eine kohärente Bildwelt und klare Raumvorstellungen, und das lyrische Ich, das erst im zwölften Vers explizit hervortritt, sorgt allenfalls partiell für eine einheitliche Perspektive. Immerhin lassen sich die sechs Versgruppen leicht zu drei Einheiten von wachsendem Umfang ordnen: Während der einleitende Vierzeiler noch isoliert steht, sind die beiden folgenden Abschnitte durch die Gestalt der »Waise« und die letzten drei durch das Ich miteinander verbunden. Die vielfältigen intertextuellen Bezüge des Gedichts wurden in der Forschung gründlich untersucht. Unter den zahlreichen Texten und Diskursen, die man als Bezugspunkte angeführt hat, ragen drei hervor: die biblisch-christliche Vorstellungswelt, das Werk Arthur Rimbauds, das Trakl in der Übersetzung von K. L. Ammer (d. i. Karl Klammer) las, und die Gesamtheit von Trakls lyrischer Dichtung, die einen begrenzten Kosmos poetischer Bilder entfaltet, an dem »De profundis« (II) teilhat: So gut wie alle sinntragenden Wörter des Werkes begegnen auch in anderen Texten des Autors, wo ihr Bedeutungshorizont allerdings nicht weniger interpretationsbedürftig ist.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_33

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Abb. 33.1  Manuskript von »De profundis (II)«, Textstufe 2 H; Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Nachlass Ludwig von Ficker.

Die Beziehung zur Bibel stellt schon der Titel her, der den lateinischen Anfang des Psalms 130 (nach Luthers Zählung) zitiert: »Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir.« Im Alten Testament eröffnet diese Wendung ein Gebetslied, in dem der bedrängte Mensch Gott um Hilfe anfleht und der Erhörung gewiss ist. Trakls Verse fügen sich in eine ganze Reihe moderner lyrischer Werke ein, die den »De profundis«-Gestus aufgreifen, um existenzielle Krisenerfahrungen zu gestalten, und zu denen u. a. Rimbauds »Mauvais sang« gehört. Trakl selbst hatte bereits 1909 oder 1910 ein Gedicht mit dem Titel »De profundis« geschrieben, zu dem der spätere Text aber sonst keine Bezüge aufweist. Die für Trakl untypischen Langzeilen von »De profundis« (II) bilden möglicherweise eine formale Eigenart der biblischen Psalmen nach. Dennoch werden die von der Überschrift geweckten Erwartungen zunächst nicht eingelöst,

U. Kittstein

denn der Sprachgestus des Gedichts ist nicht der eines Gebets. Die ersten drei Verse evozieren einige natürliche und kulturelle Phänomene, mit denen sich durchweg eine trostlose, herbstliche Atmosphäre von Einsamkeit, Düsternis, Bedrohung und Verfall verbindet. Aufgrund der reihenden Benennung, unterstrichen durch das anaphorische »Es ist«, das Trakl aus Rimbauds »Enfance« übernommen hat, den parallelen syntaktischen Bau und den strengen Zeilenstil, bleiben die einzelnen Versatzstücke zudem völlig isoliert, statt sich etwa in ein Landschaftsbild einzufügen. Erst der Ausruf im vierten Vers fasst diese Fragmente zu einem einheitlichen Eindruck zusammen. Dadurch kommt zugleich indirekt ein lyrisches Ich als beobachtende und fühlende Instanz ins Spiel, sodass die triste Welt der ersten Zeilen rückblickend auch als Spiegel eines tief melancholischen Seelenzustands begriffen werden kann. Auf den statischen Bildkomplex des ersten Abschnitts folgt im zweiten eine erzählende Partie, deren stärker ausgeprägter sprachlichsyntaktischer und inhaltlicher Zusammenhang sich formal in einigen Enjambements ausdrückt. Die Stimmung verändert sich ebenfalls schlagartig, wozu wiederum die harmonisch-weiche Lautgestaltung mit ihren zahlreichen Diphthongen, Assonanzen und W- und S-Alliterationen passt. Die mit dem bestimmten Artikel eingeführte »sanfte Waise« ist eher Typus als Individuum: Züge mehrerer biblischer Gestalten, vor allem der ährenlesenden Rut aus dem Alten Testament und der Jungfrau Maria, verschmelzen in einem kindlich-frommen, in seiner Unschuld fast tiergleichen Wesen, das sich vertrauensvoll der Begnadung durch Gott öffnet. Die ersehnte unio mystica mit dem »himmlischen Bräutigam«, gekleidet in das Bild einer sexuellen Vereinigung, wäre der Inbegriff von Heil und Erlösung. Umso krasser fällt der Kontrast zu der folgenden Versgruppe aus, in der die Trägerin dieser Sehnsucht als verwester Leichnam aufgefunden wird. Wieder häufen sich Bibelanspielungen, die nun aber buchstäblich pervertiert sind: Die Hirten treffen nicht das Jesuskind in der Krippe an, sondern eine entstellte Tote, die auf makabre Weise mit dem »süßen Leib« Christi im Abendmahl über-

33  »De profundis« (II) (1912)

blendet wird, und der »Dornenbusch«, in dem Gott sich im Buch Exodus offenbart hat, ist jetzt der Ort, wo alle transzendenten Hoffnungen scheitern. Erst ab dem vierten Abschnitt spricht ein lyrisches Ich von sich selbst, wobei es allerdings – unter Anspielung auf Motive aus Rimbauds »Larme« – nur die eigene Auflösung angesichts der radikalen metaphysischen Obdachlosigkeit thematisieren kann. Während in der jüdisch-christlichen Tradition, z. B. in den Psalmen, die erlösende Rede Gottes, die dem leidenden Menschen antwortet, eine zentrale Rolle spielt, nimmt Trakls Ich ausgerechnet in einem »Hain«, wo das Numinose eigentlich präsent sein sollte, »Gottes Schweigen« tief in sich auf. Unter dem Eindruck dieser existenziellen Erfahrung fühlt es sich zum wesenlosen »Schatten« degradiert und auch aus der menschlichen Gemeinschaft ausgestoßen. Alles, was das Individuum ausmacht, erstarrt oder wird zerstört: der Geist (»Stirne«), das Gefühl (»Herz«) und nicht zuletzt die Sprache (»Mund«). Die letzte Versgruppe führt mit der öden »Heide« erneut eine symbolische Landschaft ein und ergänzt die Ich-Dissoziation des Sprechers mit dem Bild der zu Unrat und Staub zertrümmerten Sterne durch eine apokalyptische Szenerie: Die von Gott verlassene Welt scheint buchstäblich zusammenzustürzen. Die beiden Schlussverse sorgen zwar für eine gewisse Offenheit, aber es bleibt zweifelhaft, ob die »Engel« hier noch ein Erlösungsversprechen verkörpern. Wie so oft bei Trakl treten sie nicht als Mittler zwischen irdischer und himmlischer Sphäre auf, denn ihr wort- und richtungsloses ›Klingen‹ enthält keine Botschaft mehr; ihre »kristallne« Substanz lässt neben Reinheit auch undurchdringliche Härte assoziieren, und das »Haselgebüsch« erscheint in anderen Texten

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Trakls, etwa in »Verwandlung des Bösen« und »Stunde des Grams«, als Ort der Trauer oder des Todes. Die in der Forschung gelegentlich vertretene These, das Gedicht erzähle verdeckt von einem Lustmord, dem die »Waise« zum Opfer falle und als dessen Urheber das lyrische Ich anzusehen sei, reduziert Trakls komplexe Bildersprache auf eine allzu vordergründige Dimension. Keine verborgene narrative Struktur, sondern das zentrale Erlebnis der Gottverlassenheit und ihrer Folgen fügt die disparaten Textteile, deren Heterogenität den Zerfall von Ich und Welt spiegelt, zu einer Einheit zusammen. Von der Konstellation des biblischen Psalms ist hier nur der in trostlose Tiefen gestürzte Mensch übriggeblieben, während sich das transzendente Gegenüber verschließt. So gestaltet »De profundis« (II) die Signatur jenes »gottlosen, verfluchten Jahrhunderts«, als das Trakl seine eigene Epoche auffasst (ITA V.2, 451).

Literatur Hammer, Anette: Lyrikinterpretation und Intertextualität. Studie zu Georg Trakls Gedichten »Psalm I« und »De profundis II«. Würzburg 2006, 300–393. Kohnen, Joseph: Zu Georg Trakls »De profundis«. In: Publications du Centre Universitaire de Luxembourg/ Études romanes 6 (1992), 113–128. Kux, Manfred: »De profundis« – aus dem Abgrund. In: Gedichte und Interpretationen. Bd. 5: Vom Naturalismus bis zur Jahrhundertmitte. Stuttgart 1983, 167–174. Meurer, Reinhard: Gedichte des Expressionismus. Interpretationen. München 1988, 70–78. Thauerer, Eva: Ästhetik des Verlusts. Erinnerung und Gegenwart in Georg Trakls Lyrik. Berlin 2007, 7–59. Vajda, Karl: Hermeneutische Glossen zu Georg Trakls »De profundis«. In: Ernö Kulcsár Szabó (Hg.): Spielarten der Sprache. Transgressionen des Medialen in der Literatur. Budapest 2004, 289–302.

»Vorstadt im Föhn« (1911/12)

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Björn Hayer

Nachdem ihm Trakl eine erste, mittlerweile verschollene Version des Gedichts offenbar in den Weihnachtsferien 1911/12 gezeigt hatte, erhielt Erhard Buschbeck eine erste Umarbeitung von »Vorstadt im Föhn« noch im Januar 1912 brieflich. Über Robert Müller, Buschbecks Kollegen im »Akademischen Verband für Literatur und Musik« in Wien, dürfte der Text später an Ludwig von Ficker gegangen sein. Nachdem der Text im Brenner vom 1. Mai 1912 veröffentlicht wurde, schnitt ihn Trakl aus und fügte handschriftliche Änderungen (Textstufe 2 H) ein. Schließlich erschien die darauf basierende dritte Textstufe in Gedichte. Trakl kommentiert seinen Text im Brief an Buschbeck als »zum Bersten voll von Bewegung und Gesichten« (ITA I, 569). In der Tat ist das Gedicht, das als erstes Eingang in den Brenner fand, Ausweis von sprachlicher Dynamik sowie der »zwischen Verklärung und Untergang changierenden enigmatischen Bildwelt« (Klettenhammer/Lughofer 2016, 11). Diese geht vor allem auf die agency der Umgebung zurück, die sich in mehreren Personifikationen ausdrückt. Entworfen wird zunächst ein morbid-finsteres Bild der titelgebenden

B. Hayer (*)  Institut für Germanistik, RPTU Landau, Landau, Deutschland E-Mail: [email protected]

Urbanität, das sich in der ersten Versgruppe auf unterschiedlichen Sinnlichkeitsebenen niederschlägt. Evoziert wird die Tristesse dabei vor allem durch das semantische Feld des Ekels (»Ein ekelhafter Zug voll Schmutz und Räude«), das sich insbesondere über die Rede vom »Gestank« oder vom – möglicherweise in biographischer Hinsicht auf den Innenhof von Trakls Geburtshaus hinweisenden (vgl. Weichselbaum 2014, 21) – »Rattenchor« konstituiert (ITA I, 573). Verbunden ist der Ekel mit einem Körperlichkeitsdiskurs. Neben den »Eingeweiden« in Körben fällt vor allem die Dominanz der Farbe Rot auf, die sich mithin an das »Blut« und das Schlachthaus knüpft. Ferner ist der Dramaturgie des Gedichts eine Steigerung inhärent. So »schwillt« inmitten der von Enge gezeichneten Straßen »Geheul« an, bis sich in der Mitte des Textes ein metaphorischer Ausbruch ereignet: »ein Kanal speit plötzlich feistes Blut«. (Auch hier eröffnet sich ein Realbezug, nämlich der zum Schlachthaus in der Salzburger ElisabethVorstadt, das seine Abwasser tatsächlich in die Salzach fließen ließ.) Den hyperbolischen Gesamtduktus komplementieren insbesondere mehrere Hendiadyoin wie »öd und braun«, »Durcheinander und Bewegung« oder »Schmutz und Räude«. Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, dass Trakl die Stadt in eine dunkle Seelenlandschaft überführt, die sich jedoch nicht mehr auf ein spezifisches Ich rückbeziehen lässt.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_34

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Stattdessen »verweisen sie [die Bildelemente] [...] immer mehr aufeinander und entsprechen selbst dem Prozess der Verwandlung« (Mengaldo 2017, 64), die sich vornehmlich ab der zweiten Hälfte des Gedichts abzeichnet. Folgen ab der vierten Versgruppe zunächst stillere Impressionen (»kriecht«, »Flüstern«), so scheint auch die Bildlichkeit einen neuen Raum zu erschließen. Geraten im »Schlaf« träumerische Zustände in den Vordergrund, so wecken sie zugleich Erinnerungen an eine vermeintlich bessere Vergangenheit. Mit dem Vers »Aus Wolken tauchen schimmernde Alleen« hellt sich die Stimmungslage infolge positiv besetzter Bildelemente letzthin auf. Obgleich die »kühnen Reiter« auf die apokalyptischen Reiter des Johannesevangeliums hinweisen könnten, lassen sie sich auch als Figuren der Erneuerung deuten, was auch durch positive Attribute wie »schimmernd[]« oder »schön[]« vermittelt wird. Die Wechselbewegung zwischen Auf- und Untergangsstimmung äußert sich dann wiederum im Kontrast zu den havarierenden Schiffen. Ihnen gegenüber stehen wiederum in der Schlusspointe die »rosafarbene[n] Moscheen«. Fasst man den Wahrnehmungsfluss des Textes insgesamt ins Auge, so fällt auf, dass er im Profanen seinen Anfang nimmt und sukzessive in die metaphysische Sphäre übergeht. Diese Tendenz verweist bereits auf die Brenner-Texte der Jahre 1914/15, an denen sich eine »mythische Steigerung ins Monumentale beobachte[n]« (Kemper 1995, 318 f.) lässt. Insbesondere die Betonung des Gotteshauses am Ende weckt trotz aller Menetekel die Assoziation spiritueller Erlösung. Die Hoffnung im Bild der bizarr, irreal anmutenden Moschee wird von Ott gedeutet als »Hinwendung zu einem imaginierten Jenseits« (Ott 2016, 96) und gibt zugleich Trakls Verständnis der Poesie zu erkennen, die sich von Physischem entgrenzt und einen Einblick in neue, versteckte, metaphysische Welten gewährt (vgl. Millington 2020, 232): Seine »Gedichte sind geprägt von einem mangelnden Wirklich-

B. Hayer

keitsbegriff trotz Wahrnehmung dieses Äußeren. Dies führt zur Verfremdung, zur Verwandlung in innere Wahrnehmung, zum Versuch, durch Poesie der ins Fließen geratenen, unbeständigen Wirklichkeit doch noch Halt zu geben« (Jaeger 2009, 81). Diese poetologische Dimension wird ebenso durch das dem Gedicht inhärente inter- und metatextuelle Verweisgeflecht bestärkt. Die letzte Strophe alludiert nicht zuletzt Rimbauds »Délires, Départ« und Baudelaires »Le Voyage«: Gemeinsam ist den Gedichten die Eröffnung eines arkanen Raums, worunter sich auch die konkrete Erwähnung des islamischen Gotteshauses im Himmel findet. Trakls Bezugnahme liest sich dabei zum einen als Hommage an die Décadence-Begründer, zum anderen als subtiler Wunsch nach Rettung in Sprache und Literatur.

Literatur Jaeger, Stephan: Intensität statt Hermetik: Zur Theorie von Textbewegungen in Trakls Lyrik am Beispiel der Gedichte »Siebengesang des Todes« und »An die Verstummten«. In: Károly Csúri (Hg.): Georg Trakl und die literarische Moderne. Tübingen 2009, 77–98. Kemper, Hans-Georg: Nachwort. In: Ders./Frank R. Marx (Hg.): Georg Trakl: Werke - Entwürfe - Briefe. Stuttgart 1995, 269–320. Klettenhammer, Sieglinde/Lughofer, Johann Georg: Vorwort der Herausgeber. In: Dies. (Hg.): Georg Trakl. Interpretationen – Kommentare – Didaktisierungen. Wien 2016, 35–50. Mengaldo, Elisabetta: Semantische Codierung und syntaktische Ambivalenz in der modernen Lyrik. Zu Verschlüsselungsverfahren bei Georg Trakl. In: Uta Degner/Martina Wörgötter-Peck (Hg.): Literarische Geheim- und Privatsprachen. Würzburg 2017, 49–65. Millington, Richard: The Gentle Apocalypse. Truth and Meaning in the Poetry of Georg Trakl. Rochester (NY) 2020. Ott, Herta Luise: »Am Kehricht pfeift verliebt ein Rattenchor…« Einige Anmerkungen (nicht nur) zu Georg Trakls Gedicht Kleines Konzert. In: Sieglinde Klettenhammer/Johann Georg Lughofer (Hg.): Georg Trakl. Interpretationen – Kommentare – Didaktisierungen. Wien 2016, 83–101. Weichselbaum, Hans: Georg Trakl. Eine Biographie. Salzburg 2014.

»Die Ratten« (1910)

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Sébastien Fanzun

Drei Strophen zu je vier vierhebigen Versen, in einfachen Kreuzreimen, mit einer unspektakulären Versionsgeschichte – das Gedicht entstand im Juni 1910, die Textstufen bis zum Abdruck in Gedichte weichen nur minimal voneinander ab – im Rücken: Vielleicht ist es diese Einfachheit at first sight, die die Forschung immer wieder dazu verleitet hat, mit Rattengeschwindigkeit über das erste Wort des ersten Verses hinwegzuhuschen und damit den vielbeschworenen ›Ort‹ von Trakls Dichtung – zumindest für diesen Fall – zu verkennen. Übersetzungen machen die Sache meist nicht besser, die »In the courtyard« oder ähnlich übertragen; denn der Gedichtanfang setzt die Szene eben nicht »Im Hof«, sondern »In Hof«– was die Möglichkeit zumindest eröffnet, dass es sich hier nicht um die architektonische Einrichtung eines Hofs handelt, sondern um einen Ortsnamen. Zum Beispiel: Hof bei Salzburg, vierzehn Kilometer östlich von Salzburg, 1348/1349 erstmals, 1527–1582 ein weiteres Mal von der Pest verwüstet. Die Pest aber ist die Handschrift von yersinia pestis, eines Erregers, der – durch die gleichzeitigen Bemühungen Kitasato Shibasaburos, Alexandre Yersins und Paul-Louis Si-

S. Fanzun (*)  Professur für Literatur- und Kulturwissenschaft, ETH Zürich, Zürich, Schweiz E-Mail: [email protected]

monds entdeckt und mit dem Rattenfloh als zoonotischem disease vector kausal verknüpft – die Ratte zum ausgehenden 19. Jahrhundert noch einmal aufs diskursive Tablett bringt. Während der architektonische Hof, selbst wo er nicht explizit Innenhof ist, immer Schließung und Umzäunung impliziert und – in der k. u. k. Doppelmonarchie sicher nicht zuletzt – Zentralität und Macht, markiert das toponymische »Hof« etwas Anderes: Ein Da-Draußen, nicht im Zentrum, aber auch nicht weit davon entfernt, in einer gefährlichen Halbdistanz, »Im Osten«, wie ein anderes Gedicht Trakls heißt, aber nicht im fernen. Jeder Hof in Salzburg ist ein Ort, aber Hof bei Salzburg ist etwas Anderes, Unheimlicheres: ein Vorort; ein mit dem Ort selbst metonymisch verbundenes Außen, das immer droht, seine Katastrophen ins Zentrum eindringen zu lassen, irgendeinen Erreger einzuschleppen. Was geschieht nun in Hof? Die ersten drei, rhythmisch ruhigen Verse (Zitation im Folgenden nach ITA I, 399) bestimmt optisch das Weiß des »herbstliche[n] Mond[s]«, der die Dächer »phantastische Schatten« werfen lässt, und akustisch das »Schweigen in leeren Fenstern«. Mit dieser Stille brechen – »leise« – die Ratten, die im vierten Vers auftauchen. »Pfeifend« nämlich huschen sie herum und führen ein synästhetisches Moment ein, das die säuberlichen phänomenologischen Trennungen des schweigenden Helldunkels erschwert: Ein »gräulicher Dunsthauch wittert / Ihnen nach aus dem

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Abort«. In der letzten Strophe steigert sich ihr Pfeifen zu einem »[K]eifen«, als sie in »Haus und Scheunen« eindringen und – so darf man annehmen – sich mit »Gier« über die darin gelagerten »Korn und Früchte[]« hermachen. »Eisige Winde« künden im letzten Vers einen Winter an, von dem unklar bleibt, ob die Ratten ihn nur verschlimmern oder selbst mitgebracht haben. In der Forschung ist die Häufung von Zischlauten und Doppelkonsonanten – in der ersten Strophe etwa »scheint«, »weiss«, »Schatten«, »Schweigen« – bemerkt und der Rhythmus »durch die häufigen, aber nicht regelmäßig verteilten dreisilbigen Versfüße« als »schnell und hektisch« charakterisiert worden (zuletzt etwa durch Ott 2016, insbes. 89). Das Gedicht zeichnet also, Geschwindigkeit evozierend, die Bewegung der Ratten, die den Abort verlassen und ins Haus und in die Scheunen eindringen. Es lässt aber offen, wie sich Hof und Abort zueinander verhalten; es lässt offen, welcher Unterschied zwischen Vorort und Abort besteht. Oder genauer: welche Entfernung zwischen ihnen liegt. Das den vierten Vers eröffnende »Da« hat sowohl eine zeitliche wie eine örtliche Dimension (eine Doppelfunktion, die für ein derart kinematographisches Gedicht unerlässlich ist). Hof ist der Ort, an dem die Ratten aufsteigen. Hingegen eröffnet das »hier und dort«, das im fünften Vers angibt, wo die Ratten »huschen«, Bewegungsachsen, die auch aus Hof hinausführen könnten. Dadurch wiederum könnten »Haus und Scheunen, / Die von Korn und Früchten voll«, als Ziel der Ratten auch außerhalb Hofs liegen, und der Abort, aus denen ihnen jener »gräuliche[] Dunsthauch« nach weht, wäre Hof selbst. In der Tat taucht der »Mond«, der im ersten Vers Hof illuminiert, just dann wieder auf, als es darum geht, den Abort zu inszenieren: »dem Abort, / Den geisterhaft der Mondschein durchzittert«. Der Vor- wird so zum Abort – und tatsächlich teilen sich diese beiden -orte die funktionalen Eigenschaften, ausgelagert, aber verbunden zu sein, notwendig nahe, aber immer auch gefährlich nahe, und Quelle unbestimmter Erreger, vom Zentrum in einer import- und exportkonformen Halbdistanz

S. Fanzun

gehalten. In der Bewegung der Ratten, vom Gedicht gerade genügend im Dunkeln gehalten, um Ursprung und Ziel nicht exakt bestimmen zu lassen, fallen sie möglicherweise ineinander. Ursprung und Ziel der Rattenbewegung sind auch deswegen offen, weil die Ratten sich an Signifikantenketten entlanghangeln. Zwischen den Zeilen und Gedichten graben sie Tunnels. Sie dringen aus dem Abort, aber der Abort ist nicht ganz Ort und also nicht Ursprung, sondern selbst schon das Zeichen eines Durch- oder Eindringens: »Wörter wie Gestank und Abort dringen bei [Trakl] in die Lyrik ein«, hatte etwa Walter Muschg schon 1961 befunden (Muschg 2009, 652). In der Überarbeitung der Textgestalt für das Erscheinen in Gedichte (1913) betont Trakl den Durchzugscharakter des Aborts, indem er ihn nicht länger von Mondschein »umzittert« sondern »durchzittert« sein lässt (vgl. ITA I, 399). Importiert ist der Begriff des ›Aborts‹ (so die ITA I, 398) von Rimbaud, genauer: aus zwei Gedichten (»Les premières communions« und »Les poètes de sept ans«) in ihrer deutschen Übersetzung – die als Übertragungen ebensolche unanständige Zwischenorte bedeuten wie Ab- und Vororte, sind sie doch zwar deutschsprachig und Lyrik, aber nicht Teil der deutschsprachigen Lyrik. Wie der Signifikant »Abort« aus dem Vorort einer RimbaudÜbersetzung ins Haus der deutschsprachigen Lyrik eindringt, in einer Transgression, die dem Handlungsablauf im Gedicht »Die Ratten« gewissermaßen vorausgeht, führen andere Vektoren wiederum aus dem Gedicht hinaus: Tatsächlich befindet sich »Die Ratten« in der Erstausgabe der Gedichte (1913) direkt nach »Vorstadt im Föhn«, benachbart jenes andere Gedicht wie ein Vorort einen Ort benachbart (oder eine [Rimbaud-]Übersetzung ein Original), und tatsächlich sind es just die Ratten, die den Abstand dazwischen bereits überwunden haben und im anderen Gedicht als »Rattenchor« wieder – oder bereits – auftauchen (vgl. ITA I, 573). Es sind wohl auch solche Phänomene, die den britischen Philosophen Nick Land in einer der ungewöhnlichsten und nennenswertesten Interpretationen von »Die Ratten« als einem

35  »Die Ratten« (1910)1

»vermin-core for an entire pattern of infestation« sprechen lassen (Land 2011, S. 192). In der Tat verleiht »Die Ratten« dem Etikett Trakls als einem Dichter der Transgression noch einmal eine spezifische Schattierung. Wenn auch ›morbide‹ Motivik aufblitzt, ist es doch nicht die Überschreitung moralisch-ästhetischer Grenzlinien durch gezielte lexikalische Provokation, die in diesem Gedicht – und eben: durch es hindurch – bestimmend ist, sondern die im Wortsinn exzentrische Position einer Sprache, die vom Vor- und Abort (aus) spricht, und sich mit allem alliiert, was aus ihm heraus die Stabilität eines Zentrums – und die Einheit eines Werks – bedroht. Die Stabilität des einzelnen Gedichts wird unterwandert durch das pfeifende »[H]u­ schen […] hier und dort« (V. 5) »von etwas, das […] ein Wort zu sein schien, das aber

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eher einer riesigen Ratte ähnelte, mit durchdringenden Augen, mit glänzenden Zähnen, ein allmächtiges Tier« (Blanchot 1987, 25).

Literatur Blanchot, Maurice: Thomas der Dunkle. Aus dem Französischen von Jürg Laederach. Frankfurt a. M. 1987. Land, Nick: Spirit and Teeth. In: Ders.: Fanged Noumena. London 2011, 175–201. Muschg, Walter: Von Trakl zu Brecht. In: Julian Schütt (Hg.): Walter Muschg. Die Zerstörung der deutschen Literatur und andere Essays. Zürich 2009, 621–692. Ott, Herta Luise: »Am Kehricht pfeift verliebt ein Rattenchor«. Einige Anmerkungen (nicht nur) zu Georg Trakls Gedicht Kleines Konzert. In: Sieglinde Klettenhammer/Johann Georg Lughofer (Hg.): Georg Trakl. Interpretationen, Kommentare, Didaktisierungen. Wien 2016, 83–102.

»In den Nachmittag geflüstert« (1912)

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Erik Schilling

»In den Nachmittag geflüstert« schildert – wie der Titel es andeutet – die Stimmung eines Nachmittags. Dabei bezeichnet der Nachmittag nicht nur die Tageszeit, sondern korrespondiert auch mit der Jahreszeit, die schon im ersten Vers als »herbstlich« angegeben wird. Das Gedicht besteht aus vier Strophen zu je vier Versen. Sie sind gleichmäßig als trochäische Vierheber gebaut, ein umarmender Reim umschließt einen Paarreim; die Kadenz wechselt von männlich im umarmenden zu weiblich im Paarreim. Auffällig ist, dass jeweils die letzten beiden Verse einer Strophe mit einem Enjambement zusammengebunden sind. Auf diese Weise ergibt sich eine Gliederung innerhalb der einzelnen Strophen, die zwei parataktisch nebeneinandergestellte Aussagen in den ersten beiden Versen einer hypotaktischen Aussage in den letzten beiden Versen gegenüberstellt. Man kann darin einen Anklang an die Form des Sonetts mit seiner typischen Struktur aus These, Antithese und Synthese sehen. Insgesamt aber – so resümiert Ruth E. Lorbe ihre Analyse der formalen Aspekte des Gedichts – treten »Grammatik und logische Satzkonstruktion […] hinter den domi-

E. Schilling (*)  Institut für Deutsche Philologie, LudwigMaximilians-Universität München, München, Deutschland E-Mail: [email protected]

nierenden Klang-Rhythmus-Elementen zurück« (Lorbe 1968, 25). Erster Textzeuge ist eine von Trakl zwischen dem 29. September und 5. Oktober 1912 angefertigte maschinelle Reinschrift des Gedichts. Trakl übergibt sie Ludwig von Ficker, dem sie als Satzvorlage für einen Probedruck der Halbmonatsschrift Der Brenner dient. Den Probedruck überarbeitet Trakl anschließend handschriftlich, wobei er das erste Wort des sechsten Verses zweimal verändert (von »Lichter« zu »Flammen« zu »Schmerzen«; ITA II, 150). In der am 1. November veröffentlichten Ausgabe des Brenners lautet der sechste Vers noch einmal komplett anders: Trakl hat den Vers von »Schmerzen trüb im Blut verglimmen« zu »Und ein weißes Tier bricht nieder« umgeändert. Entsprechend werden auch die reimenden »Stimmen« im darauffolgenden Vers zu »Lieder[n]« (ITA II, 150 f.). Der Druck des Textes im Brenner dient schließlich als Satzvorlage für den Band Gedichte. Inhaltlichen Veränderungen unterliegen in der gesamten nachvollziehbaren Textgenese nur die Verse 6 und 7 (vgl. ITA II, 146–151). Die erste Strophe beschränkt sich ganz auf das Evozieren der herbstlichen NachmittagsStimmung. Die Sonne scheint zwar noch, doch sie scheint »dünn und zag«, und »das Obst fällt von den Bäumen«. Die Zeit dehnt sich in einen »langen Nachmittag«, der Raum vervielfältigt sich zu »blauen Räumen«. Die zweite

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Strophe durchbricht die Ruhe des Nachmittags harsch: »Sterbeklänge von Metall« lassen sich als Schuss im Zuge einer Jagd deuten, denn »ein weißes Tier bricht nieder« (dies gilt für die in Gedichte abgedruckte Fassung). Zum Tode des Tieres parallelisiert wird eine Aussage über nicht mehr singende Mädchen: Ihre »rauhe[n] Lieder / Sind verweht im Blätterfall«. Ruhe und Lied sind verklungen, es bleibt der metallische Schuss. Die dritte Strophe ändert die Perspektive: Nun werden nicht länger äußere Geschehnisse geschildert, sondern es wird – in einer ambivalenten Formulierung – ein Blick in eine Innenperspektive geboten: »Stirne Gottes Farben träumt«. Was, wie unten im Detail auszuführen ist, als metaphysisch-mystisches Bild erscheinen könnte (Einblick in das Denken Gottes und / oder Einblick in die mystische Schau eines Individuums), wird in den folgenden Versen partiell revidiert, wenn von »Wahnsinn«, »Schatten« und »Verwesung« die Rede ist. Die vierte Strophe schließlich leitet vom Nachmittag in den Abend über. Nun bricht die »Dämmerung« an, deren beruhigende Wirkung durch Wein, Gitarrenklänge sowie eine »milde[] Lampe« unterstrichen wird. Gleichzeitig aber klingt die Gitarre traurig, und die Einkehr – nach Hause oder in eine Herberge – erfolgt »wie im Traume«. Insgesamt also entwerfen die vier Strophen nicht nur ein Herbstpanorama, sondern bieten auch einen Ausblick auf das Absterben von Natur und Mensch, das dem Herbst im Winter folgt. Hans-Ulrich Treichel sieht darin die »Erfahrung eines herbstlichen Tages, der sich der Nacht nähert, wie sich das Leben dem Tode nähert, und das lyrische Ich doch noch einmal davonkommen, es ›einkehren‹ läßt und rettet vor Wahnsinn, Verderben oder Tod« (Treichel 2000, 154). Eduard Lachmann nennt das Gedicht einen typischen »Trakl-Nachmittag« (Lachmann 1954, 155). Eine metaphysische Perspektive wird einbezogen, doch sofort revidiert, indem sie als Teil eines ›Wahns‹ apostrophiert ist. Vor diesem Hintergrund wird in der letzten Strophe der Realitätsstatus des Gedichts insgesamt frag-

E. Schilling

würdig: Wo verläuft die Grenze zwischen Realität und Traum? Von Anfang an entwickelt das Gedicht Züge eines Traums. Die Stille etwa ist nicht einfach nur da, sondern sie »wohnt«, ist also personifiziert – so wie sie ein träumendes Bewusstsein wahrnehmen mag. Das Tier, das gejagt wird, ist nicht irgendeines, sondern »ein weißes«, und als solches überdeterminiert: Das die Farbe Rot aufrufende Blut aus früheren Gedichtfassungen ersetzt Trakl in späteren durch das »weiße[] Tier«. Gerade die Nicht-Farbe ›Weiß‹ wird hier symbolisch: Sie ist zum einen »Gottes Farben« am Beginn der dritten Strophe entgegengesetzt, womit der Mensch – in der Manier von Rilkes zweiter »Duineser Elegie« – in der Mitte zwischen der Farblosigkeit des Tieres und der AllFarbigkeit Gottes situiert wäre. Zum anderen verweist das Weiß kanonisch auf Reinheit und Unschuld, was innerhalb des Gedichts wiederum einen Kontrast bildet: zum vorangehenden Vers und dessen Gewaltszene. Die Farbelemente werden in der zweiten Hälfte der zweiten Strophe weitergeführt. Den nun genannten Mädchen ist das Adjektiv ›braun‹ beigegeben. Akzeptiert man den oben gemachten Vorschlag, von einem durch Farben strukturierten Dreischritt zwischen der reinen (weißen) Welt des Tieres und der umfassenden (allfarbigen) Welt Gottes auszugehen, dann stünde das Braun der Mädchen tatsächlich in der Mitte: als eine konkrete Farbe, die dem Menschen beigegeben ist – ebenso wie die blauen Räume am Ende der ersten Strophe sowie die schwarze Verwesung am Ende der dritten, die später in »Grodek« wörtlich wieder aufgenommen wird. Als Weiterführung der Traumelemente können die verwehten Lieder der Mädchen angesehen werden. Sie waren einmal real-klanglich präsent, sind es in der Gegenwart aber nur noch als Erinnerung, quasi im Traum (zur Verbindung von Erinnerung und Melancholie bei Trakl vgl. Neymeyr 2002). Ganz konkret genannt wird der Traum sodann in den Strophen 3 und 4, einmal verbal als Aktivität der Stirn (»Stirne Gottes Farben träumt«), einmal als Substantiv im letzten Vers des Gedichts. Wie

36  »In den Nachmittag geflüstert« (1912)

stark das Traumelement in diesen beiden Strophen gemacht wird, zeigt die Ambivalenz des Genitivattributs »Gottes«. Es lässt sich sowohl auf »Farben« als auch auf »Stirne« beziehen. Im ersten Fall handelt es sich um einen Menschen, dessen Stirn (metonymisch für Gehirn) die Farben Gottes träumt. Im zweiten Fall handelt es sich um die Stirn Gottes, die – ganz allgemein – Farben träumt. Im ersten Fall würde also ein Blick in das Bewusstsein eines Individuums geboten, im zweiten Fall ein Blick in das Bewusstsein Gottes. Fortgeschrieben wird die Ambivalenz durch »des Wahnsinns sanfte Flügel«, die im nächsten Vers hinzutreten. Auch dieser Wahnsinn ist ambivalent – als Wahnsinn des konkreten Individuums, dessen Wahrnehmung das menschliche Maß übersteigt und damit göttliche Dinge erkennt, sowie – selbstreflexiv attestiert – als Wahnsinn der Hybris, sich in die Position Gottes zu versetzen. Unabhängig davon, wie man die Überführung des Traumes in den Wahnsinn und die grammatikalische Zuordnung konkret versteht, lässt sich festhalten, dass das Gedicht hier sukzessive die Realitätsebenen verschwimmen lässt. Im letzten Vers der letzten Strophe wird dies dann explizit resümiert: »Kehrst du wie im Traume ein«, heißt es abschließend. Freilich verweist das Vergleichswort »wie« darauf, dass die Differenzierung der Realitätsebenen nun wieder eindeutig möglich ist: Es handelt sich nicht um einen Traum, sondern um eine Wahrnehmung ›wie in einem Traum‹. Und dennoch ist mit dem Du (das Pronomen taucht als einziges im gesamten Gedicht und erst hier im letzten Vers auf) etwas passiert: Die Welt ist transparent geworden auf ein ›Dahinter‹ – auf Ebenen der Wahrnehmung, die sich vom rein mimetischen Bild des Herbstnachmittags, wie es in der ersten Strophe entworfen wird, fundamental unterscheiden. Es handelt sich um die Wahrnehmung

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außergewöhnlicher Merkmale in der Natur (das weiße Tier), der Erinnerung (an die verwehten Lieder), übersinnlicher Elemente (Gottes Farben) sowie – in Form einer im Gedicht experimentell durchgespielten Form der Hybris – gar der Wahrnehmung der Perspektive Gottes, wie sie mit dem ambivalenten Genitivattribut angedeutet wird. Was vordergründig als Traum oder Wahnsinn erscheint, ist damit tatsächlich sehr viel mehr als das: ein Tiefer-Blicken, das hinter den oberflächlichen Erscheinungen andere Strukturen erkennt. Das Gedicht ist damit fundamental von Ambivalenz geprägt. Dies beginnt auf der grammatikalischen Ebene, wenn der Bezug des Genitivattributs in doppelter Hinsicht möglich ist, und reicht bis zu der Frage, welcher Realitätsstatus im Gedicht insgesamt entworfen wird. Ist das Gedicht ›realistische‹ Schilderung eines Herbstnachmittags oder Traum; ist es biographisches Erlebnis oder Einbildung eines Wahnsinnigen; ist der Verfall wirklich oder zu großen Teilen imaginiert? Der Nachmittag lässt sich als Übergangsphase beschreiben, als eine Art von Gratwanderung zwischen den jeweiligen Extremen, ohne dass sich entscheiden ließe, welcher Grad von Realität bei der Gratwanderung tatsächlich beansprucht ist.

Literatur Lachmann, Eduard: Kreuz und Abend. Eine Interpretation der Dichtungen Georg Trakls. Salzburg 1954. Lorbe, Ruth E.: Lyrische Standpunkte. Interpretationen moderner Gedichte. München 1968. Neymeyr, Barbara: Trakls lyrische Quintessenz. Poetologische Décadence-Reflexion und Hermetik in seinem Gedicht »Helian«. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 121 (2002), 529–547. Treichel, Hans-Ulrich: Das fremde Tier. In: Marcel ReichRanicki (Hg.): Hundert Gedichte des Jahrhunderts. Mit Interpretationen. Ausgewählt von Marcel ReichRanicki. Frankfurt a. M./Leipzig 2000, 154 f.

»Psalm« (I) (1912)

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Ulrich Kittstein

Im September 1912 schrieb Trakl zunächst neun Verse nieder, die keinen Titel tragen, aber offenbar als abgeschlossenes Gedicht gelten sollten (ITA II, 20). Bald darauf entstand in einem zweiten Anlauf ein sehr viel umfangreicheres Werk, das nunmehr »Psalm« überschrieben ist und mit vier Gruppen zu je neun Zeilen zuzüglich eines separaten Schlussverses auch bereits die äußere Gestalt aufweist, die das Gedicht fortan behielt (ITA II, 20 f.). Der Text der ersten Niederschrift wurde dabei in überarbeiteter Form als dritter Versabschnitt eingefügt, der in eine apokalyptische Ankündigung mündet: »Es ist der Untergang, dem wir zutreiben« (V. 27). Passend dazu betont diese Version des Werkes vor allem in der vierten Zeilengruppe das Thema der metaphysischen Verlassenheit noch stärker als die finale Fassung. Der verkürzte Einzelvers am Schluss zitiert hier Kohelet 1,2: »Wie eitel ist alles!« (V. 37). In einem weiteren Typoskript, das dann zweimal handschriftlich korrigiert wurde, veränderte Trakl vor allem den dritten und den vierten Abschnitt tiefgreifend und stellte damit schon weitgehend den definitiven Wortlaut des Gedichts her (ITA II, 22 f.).

U. Kittstein (*)  Philosophische Fakultät, Universität Mannheim, Mannheim, Deutschland E-Mail: [email protected]

Mehrere Anläufe brauchte er allerdings, um den endgültigen Schlussvers zu finden, nachdem zwischenzeitlich die Formulierungen »Immer über der Schädelstätte tanzen magne­ tene Monde« bzw. »grinsende Monde« erwogen worden waren. Und erst für den Druck wurde V. 27 so umgeformt, dass er nicht mehr den unvermeidlichen »Untergang« ankündigt (ITA II, 24). Alles in allem dokumentieren die verschiedenen Textstufen, wie sorgfältig Trakl an dem Sprachund Bildmaterial des »Psalms« gearbeitet hat, dessen irritierende Heterogenität demnach mit kunstvoller Bewusstheit hergestellt worden ist. Das Gedicht erschien am 1.10.1912 im Brenner mit einer Widmung an den Wiener Schriftsteller und Publizisten Karl Kraus, den Trakl im Sommer in Innsbruck kennengelernt hatte. Kraus revanchierte sich mit einer kleinen Reflexion über »Siebenmonatskinder« und Menschen, die nur die Sehnsucht kennen: »Zurück in deinen Leib, o Mutter, wo es gut war!«, worauf Trakl wiederum mit dem Dank für »einen Augenblick schmerzlichster Helle« reagierte (ITA II, 17). 1913 wurde »Psalm« (I) in Trakls Band Gedichte aufgenommen. Die Psalmen des Alten Testaments sind Lob-, Klage- und Bittgesänge, die sich unmittelbar an den Herrn richten. Auch Trakls Gedicht thematisiert die Beziehung des Menschen zur transzendenten Dimension, übernimmt aber weder die unmittelbare Anrede an Gott noch die unerschütterliche Erlösungs- und Heilsgewissheit. Es fügt

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_37

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sich in eine stattliche Reihe moderner lyrischer Psalm-Texte ein, in denen Autoren von Else Lasker-Schüler über Bertolt Brecht bis zu Ingeborg Bachmann, Paul Celan oder Peter Huchel in Auseinandersetzung mit den biblischen Mustern eine tiefe weltanschauliche Verunsicherung und den Mangel eines intakten Gottesbezugs reflektieren. Während es zu einem ebenfalls »Psalm« überschriebenen Gedicht, das Trakl im Mai 1914 schrieb, sonst keine auffallenden Parallelen gibt, ist »Psalm« (I) thematisch eng mit dem fast zeitgleich entstandenen »De profundis« (II) verwandt, für das vorübergehend derselbe Titel in Betracht gezogen wurde. Außerdem gehören viele Motive des Textes, darunter die Schwester, die Engel und das Haselgebüsch, zum festen Bestand von Trakls lyrischem Kosmos. Die dichten intertextuellen Bezüge von »Psalm« (I) betreffen neben der biblischchristlichen Sphäre insbesondere Gedichte Arthur Rimbauds wie »Enfance«, die Trakl in der von K.L. Ammer (d. i. Karl Klammer) vorgelegten Übersetzung las und denen er verschiedene motivische Versatzstücke sowie das Stilmittel der anaphorischen »Es ist«-Reihung verdankte. »Psalm« (I) gehört zu den freirhythmischen, reimlosen Gedichten, die Trakl seit dem Sommer 1912 vermehrt schrieb, nachdem er zuvor metrisch regulierte Reimstrophen bevorzugt hatte. Der Text ist überwiegend in einem strengen Zeilenstil abgefasst. Es dominieren Hauptsätze, die gelegentlich durch Relativsätze zur näheren Bestimmung ergänzt werden und häufig syntaktisch parallel gebaut sind. Dieser Struktur korrespondiert auf der inhaltlichen Ebene eine Montage unterschiedlicher, meist ganz nüchtern präsentierter Einzelbilder, von denen die meisten ein metaphorisches Verständnis nahezulegen scheinen, ohne sich aber befriedigend in eine ›eigentliche‹ Bedeutung übersetzen zu lassen. Einen übergreifenden Sinnzusammenhang zu erkennen oder auch nur die einzelnen Versabschnitte als semantische Einheiten zu begreifen, fällt auf den ersten Blick schwer. So kann der Charakter des Werkes zunächst am ehesten negativ umschrieben werden: Es gibt keine klar konturierte Sprecherfigur – von einem Ich ist nie die Rede –, keine einheitliche Raumkonzeption und keine nachvollziehbare Zeitordnung.

U. Kittstein

Lediglich die zweite Hälfte des ersten Abschnitts hebt sich als eine relativ geschlossene Partie, deren innerer Zusammenhang auch durch einige Enjambements unterstrichen wird, von ihrem Umfeld ab. Eine stimmige poetische Schilderung, die exotistische Topoi zitiert, entwirft die Vision einer »Insel der Südsee«, gekennzeichnet durch erfüllte Sinnlichkeit, das Erlebnis von Gemeinschaft und eine Harmonie des Menschen mit der beseelten Natur und mit dem Göttlichen. Der abschließende Stoßseufzer »O unser verlorenes Paradies« hebt jedoch die zeitliche und räumliche Ferne und die Unerreichbarkeit dieses utopischen Orts hervor. Er lässt dabei ausnahmsweise eine emotionale Beteiligung der anonymen Sprechinstanz erkennen und weitet seine Klage zugleich durch die Verwendung der ersten Person Plural zu einer Feststellung von allgemeiner Gültigkeit aus. Vor diesem Hintergrund kann man das gesamte Gedicht als Spiegel einer Welt nach der Vertreibung aus dem Paradies lesen, die im Zeichen von Sünde, Entfremdung und Gottferne nicht mehr als sinnvolle Einheit erfahren wird. Tatsächlich erscheinen die zahlreichen religiösen Anspielungen in »Psalm« (I) durchweg fragmentarisch und gebrochen. Das beginnt bereits mit den ersten Versen: Das »Licht«, traditionelles Symbol des Lebens, der Erkenntnis und der göttlichen Gnade, ist »ausgelöscht«, der »Weinberg« (des Herrn?) liegt verwüstet da. Die »Engel«, die später auftreten, sind selbst dem Verfall anheimgegeben und offenkundig keine Träger einer himmlischen Erlösungsbotschaft, und die »Kirche« wirkt mit ihrer düsteren Aura nicht mehr wie ein Ort des Heils. Auch das Leitmotiv der Kinder, das den Text durchzieht und Assoziationen an Unschuld und Reinheit wachruft, in Vers 30 aber in eine makabre Desillusionierung mündet, fügt sich in diesen Rahmen ein. Andere Passagen berühren die Frage nach der Präsenz des Mythischen in der Gegenwart, wobei eine ähnliche Skepsis anklingt: Die »Nymphen« sind aus ihrer Heimat verschwunden, und der »Sohn des Pan« taucht in der modern verfremdeten »Gestalt eines Erdarbeiters« und obendrein nur noch schlafend auf. Obwohl kein sprechendes Ich hervortritt, begegnen im Gedicht verschiedene männliche Fi-

37  »Psalm« (I) (1912)

guren, die sich als Masken oder Facetten einer solchen Instanz deuten lassen. Vom Wahnsinnigen über den Fremden, den Studenten (oder Doppelgänger) und seinen toten Bruder bis hin zu dem jungen Novizen und dem weißen Magier sind sie allesamt mit Tod oder Ich-Zerfall verbunden. Auch zwischenmenschliche, familiäre Bindungen verschwimmen im Ungewissen. In den ersten vier Versen des dritten Abschnitts werden sie in eine Schilderung von »bösen Träumen« verlagert, in denen die Beziehungen zwischen der Schwester, dem Studenten und seinem Bruder ebenso uneindeutig und beängstigend verfremdet wirken wie die Identität der Personen selbst. Nur vereinzelt weckt der Text einmal ungebrochen positive Assoziationen, etwa durch die »Genesende[n]« in Vers 17, denen die folgende Zeile aber bezeichnenderweise sogleich die Ankündigung neuer »blutige[r] Seuchen« gegenüberstellt. Und gerade die letzte Versgruppe, eingeleitet durch ein Bild, das an das Ende der menschlichen Lebensfahrt erinnert, und abgeschlossen durch mehrere Unterwelt- und Grabesmotive, verstärkt die Aura von Verfall, Niedergang und Tod noch einmal spürbar. Umso überraschender kommt die Wendung, die der isolierte und dadurch besonders hervorgehobene Schlussvers bringt. Hatte die VanitasKlage der früheren Fassung lediglich noch einmal das barock anmutende Panorama einer sinnentleerten, hinfälligen Welt zusammengefasst, so ereignet sich nun eine echte Epiphanie, die allerdings ihrerseits ambivalente Züge trägt. Der Ausdruck »Schädelstätte« spielt auf den Hügel Golgota an, wo Christus gekreuzigt wurde, bezeichnet hier aber wohl auch die ganze moderne irdische Wirklichkeit, so wie sie im Text

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als Schauplatz des Leidens und des Todes entworfen wird. »Gottes […] Augen« vermitteln demgegenüber einerseits eine durch das Attribut »golden« noch intensivierte Hoffnung auf Erlösung; andererseits »öffnen« sie sich »[s]chweigsam«, womit dieser Gott – wie in »De profundis« (II) – gerade jene Kommunikation verweigert, die in der jüdisch-christlichen Tradition seine gnädige Hinwendung zu den Menschen ausdrückt. Daher muss offenbleiben, ob der Schlussvers nun doch noch eine Heilserwartung ausspricht oder nicht eher bildhaft die unerreichbare Ferne eines gänzlich teilnahmslos gewordenen deus absconditus inszeniert.

Literatur Colombat, Rémy: Georg Trakls »Psalm«: Existenzkrise und »Illumination«. In: Hans-Georg Kemper (Hg.): Gedichte von Georg Trakl. Interpretationen. Stuttgart 1999, 62–79. Dietz, Ludwig: Die lyrische Form Georg Trakls. Salzburg 1959. Doppler, Alfred: »Psalm« von Georg Trakl. In: Ders.: Die Lyrik Georg Trakls. Beiträge zur poetischen Verfahrensweise und zur Wirkungsgeschichte. Wien/ Köln/Weimar 1992, 56–67. Fühmann, Franz: Vor Feuerschlünden. Erfahrung mit Georg Trakls Gedicht. Rostock 1982. Hammer, Anette: Lyrikinterpretation und Intertextualität. Studie zu Georg Trakls Gedichten »Psalm I« und »De profundis II«. Würzburg 2006. Thauerer, Eva: Ästhetik des Verlusts. Erinnerung und Gegenwart in Georg Trakls Lyrik. Berlin 2007. Witting, Gunther: Literarische Sprachverwendung. Zur Frage der Kohärenz von Georg Trakls »Psalm«. Konstanz 1975. Zwerschina, Hermann: Georg Trakls »Psalm (I)«: genetische Interpretation. In: Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv 16 (1997), 21–30.

»Verfall« (II) (1909/12)

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Frieder von Ammon

Das Gedicht ist unter dem Titel »Herbst« kurz vor dem 10. Juni 1909 entstanden und wurde von Trakl in die ›Sammlung 1909‹ aufgenommen. Ende September / Anfang Oktober 1912 kam es zu einer ersten Überarbeitung, zu einer weiteren Ende November / Anfang Dezember, als Trakl die Satzvorlage für einen Gedichtband zusammenstellte, der unter dem Titel »Dämmerung und Verfall« im Münchner Albert Langen-Verlag erscheinen sollte. Wie aus seinem Brief an Erhard Buschbeck vom 3.– 6. Dezember hervorgeht, war sich Trakl jedoch unsicher, ob das Gedicht in den Band aufgenommen werden sollte. Buschbeck sprach sich dafür aus. Nachdem der Albert Langen-Verlag eine Publikation des Bandes abgelehnt hatte, wurde das Gedicht – nunmehr unter dem Titel »Verfall« – zuerst 1913 in Trakls erstem, im Leipziger Kurt Wolff Verlag erschienenen Band Gedichte gedruckt. Die Unterschiede zwischen der handschriftlichen ersten und der gedruckten zweiten Fassung des Gedichts betreffen neben zwei lexikalischen Änderungen lediglich Orthographie und Interpunktion (vgl. ITA I, 224–228; HKA II, 112 f.). F. von Ammon (*)  Institut für deutsche Philologie, LudwigMaximilians-Universität München, München, Deutschland E-Mail: [email protected]

Das Gedicht ist ein Sonett. Es folgt der italienischen und damit der in der deutschsprachigen Lyrik seit der Romantik gängigen und auch in der Moderne noch verwendeten Variante dieser Form. Entsprechend sind die 14 in zwei Quartette und zwei Terzette gegliederten Verse jambische Fünfheber mit durchgängig unbetonter Endung, das deutsche Äquivalent des italienischen Endecasillabo. Die einzige gegenmetrische Rhythmisierung (das dreisilbige Wort »rostigen«) lässt sich auf das an dieser Stelle beschriebene Schwanken des Weins am Gitter beziehen und ist insofern bedeutungstragend. Auch im Hinblick auf das Reimschema erlaubt sich Trakl eine Abweichung, indem er die Reimworte des ersten Quartetts im zweiten nicht aufgreift. Dies ist in der Sonettdichtung der Moderne allerdings nicht unüblich. Ganz der älteren Sonetttradition entspricht hingegen die starke (nicht nur) inhaltliche Zäsur nach dem zweiten Quartett. Insgesamt hat sich Trakl also durchaus an die strengen Regeln der Sonettform gehalten und auf diese Weise seine formale Souveränität und Vertrautheit mit der Tradition unter Beweis gestellt. Auch sonst ist das Gedicht formal kunstvoll gestaltet, zumal im Hinblick auf die Ebene des Klangs. So gibt es etwa eine Vielzahl an Alliterationen und Assonanzen, die oftmals längere Wortfolgen bilden und dem Gedicht vor allem in den Quartetten auf diese Weise einen besonderen Wohlklang verleihen. Nach der Zäsur

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_38

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entsteht dann jedoch der Eindruck einer Verdunkelung des Klangbilds, der durch die Häufung der Vokale ›a‹ und ›u‹ herbeigeführt wird. Das Gedicht ist an einem Herbstabend situiert, den das Subjekt in einem »dämmervollen Garten« erlebt, der sich offenbar in der Nähe einer oder mehrerer Kirchen befindet. Zunächst stehen positive, religiös grundierte Wahrnehmungen im Vordergrund: so das »Frieden« evozierende Glockenläuten und die in die Ferne »[e]ntschwinden[den]« Zugvögel, deren Formationen prägnant mit »Pilgerzügen« verglichen werden. Diese Wahrnehmungen führen zu einem Gefühl der Zeitlosigkeit (»Und fühl der Stunden Weiser kaum mehr rücken«), das mit der Vorstellung verbunden ist, auch aus der räumlichen Ordnung heraustreten und »über Wolken« den Vögeln folgen zu können. Trakl greift hier den bis in die Antike zurückreichenden Topos des Dichterflugs auf: In Betrachtung der »wundervollen Flüge[]« der Vögel gelingt es auch dem Ich, im Sinn eines inspirierten Dichtens zu ›fliegen‹. Das Gedicht hat also eine metapoetische Dimension, und es liegt nahe, es selbst als das Ergebnis des Dichterflugs aufzufassen. Nach dem zweiten Quartett kommt es zu der erwähnten inhaltlichen und klanglichen Zäsur: Die Wahrnehmung des Ichs richtet sich jetzt auf die negativen Aspekte des Herbstes, den titelgebenden »Verfall«. Entsprechend verdüstert sich alles: An die Stelle des Glockenläutens tritt die Klage einer Amsel, an die der »Pilgerzüge[]« der »Todesreigen«, an die des Himmels der Brunnen und an die des Gartens der Wald. Das Gefühl der Zeitlosigkeit wird durch das Bewusstsein der Endlichkeit ersetzt. Auch die Bewegungsarten und Farben sind von der Verdüsterung betroffen: Aus dem Hinwandeln wird das Schwanken, aus dem Hellen das Dunkle. Auf diese Weise entsteht – in scharfem Kontrast zu den Quartetten – in den Terzetten eine Szenerie herbstlichen Verfalls, dem allerdings ebenfalls ein ästhetischer Reiz beigemessen wird. Das Gedicht weist eine Vielzahl intertextueller Bezüge auf, die jedoch nicht markiert sind und sich auch nicht zu Zitaten verdichten; eher sind es Allusionen, bei denen nicht zu entscheiden ist, ob es sich um intendierte Verweise

F. von Ammon

oder durch Thema und Stil bedingte Ähnlichkeiten handelt. Anzuführen ist zum einen Hölderlins »Abendphantasie« (wo die Verbindung von Abend, Glockenläuten und Frieden bereits begegnet) und möglicherweise auch »Hälfte des Lebens« (mit einer verwandten Kontrastdramaturgie und poetologischen Dimension), zum anderen die symbolistische französische Lyrik der frühen Moderne in Gestalt verschiedener Gedichte Baudelaires, Rimbauds und Verlaines (vgl. ITA I, 225; Zanucchi 2016, 632–648). Der Titel des Gedichts verweist zudem auf eines der zentralen Schlagworte der Jahrhundertwende: Décadence. In der Tat könnte »Verfall« als eine exemplarische poetische Gestaltung dieses Begriffs verstanden werden.

Rezeptionsgeschichte »Verfall« (II) zählt zu den bekanntesten Gedichten Trakls, wozu seine im Vergleich zu anderen Texten Trakls relativ leichte Zugänglichkeit beigetragen hat. Außerdem wurde es wiederholt vertont (Winkler 1998) und von späteren Autorinnen und Autoren aufgegriffen. Breiten Raum nimmt es zum Beispiel in Franz Fühmanns (für die Trakl-Rezeption zumal in der DDR zentralem) Essay Vor Feuerschlünden. Erfahrung mit Georg Trakls Gedicht ein (Fühmann 1982, 111–127). Die Wirkungen dieses Essays reichen bis zu Lutz Seilers Roman Kruso (2014). Ein weiteres Beispiel ist Nora Bossongs im Zusammenhang des Trakl-Jahrs 2014 entstandenes Gedicht »Verfallsstudie« (Bossong 2014), in dem einige Motive sowie die Sonettform aus Trakls Gedicht übernommen, aber aktualisiert wurden (die Form etwa wurde umgedreht, zudem wurden ihr die Reime fast völlig entzogen). Hier ist demnach auch die Sonettform im Verfall begriffen. In der Forschung hat das Gedicht bisher keine besondere Rolle gespielt. Nach einer vor allem die intratextuellen Bezüge zum Werk Trakls fokussierenden Lektüre (Korte 2000) wurde es zuletzt einer kognitiven Analyse unterzogen (Komlosi/Knipf 2009).

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Literatur Bossong, Nora: Verfallsstudie. In: Mirko Bonné/Tom Schulz (Hg.): Trakl und wir. Fünfzig Blicke in einen Opal. München 2014, 37. Fühmann, Franz: Vor Feuerschlünden. Erfahrung mit Georg Trakls Gedicht. Rostock 1982. Komlosi, László I./Knipf, Elisabeth: Leitpfade oder Vorstellungen und die Brücken zwischen begrifflichen Fragmenten: Eine kognitive Analyse des Gedichts »Verfall« von Georg Trakl. In: Károly Csúri (Hg.):

263 Georg Trakl und die literarische Moderne. Tübingen 2009, 123–139. Korte, Hermann: Georg Trakl: »Verfall«. In: Lyrik des 20. Jahrhunderts (1900–1945). Interpretation. München 2000, 60–63. Winkler, Bettina: Zwischen unendlichem Wohllaut und infernalischem Chaos: Vertonungen von Georg Trakls Lyrik. Salzburg/Wien 1998. Zanucchi, Mario: Transfer und Modifikation – Die französischen Symbolisten in der deutschsprachigen Lyrik der Moderne (1890–1923). Berlin 2016.

»Abendlied« (1913)

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Elisabetta Mengaldo

»Abendlied« hat Trakl wahrscheinlich Anfang Februar 1913 verfasst, denn dem Brief an Ludwig von Ficker vom 5.-7. Februar 1913 fügte er »die Manuskripte meiner letzten Gedichte« (ITA V.1, 313) bei: »Nähe des Todes« (das zweite Gedicht der »Rosenkranzlieder«) und eben »Abendlied«. Beide Texte wurden im Brenner-Heft vom 15. Februar 1913 veröffentlicht. Die erste Niederschrift des Gedichts befindet sich auf dem Ms. G 72–79 zusammen mit Entwürfen der Gedichte »Untergang«, »Nähe des Todes« und »Kindheit«, mit denen es einige thematische Gemeinsamkeiten aufweist. Laut Killy und Szklenar geht das Gedicht aus dem Komplex »Lange lauscht der Mönch dem sterbenden Vogel am Waldsaum…« hervor (HKA II, 120), während Sauermann und Zwerschina die Konvolute G 59–65 und G 72–79 als »Steinbruch« für mehrere, in denselben Wochen entstandene Gedichte bezeichnen, darunter »Abendlied« (ITA II, 342). Killy hat die in den Konvoluten versammelten Gedichte und Gedichtfragmente zudem mit dem »Helian«-Komplex in Verbindung gebracht (vgl. HKA II, 126; sowie Killy 1967, 69 f.); und tatsächlich lassen sich auf G 59–65 diverse Textstufen  des

E. Mengaldo (*)  Dipartimento di Studi Linguistici e Letterari, Università degli Studi di Padova, Padova, Italien E-Mail: [email protected]

»Helian« (6H, 7H, 8H) ausmachen (vgl. ITA II, 495). Im Unterschied zu vielen anderen Manuskripten, die von einer mühseligen, ja quälenden Textgenese zeugen, weisen die das Gedicht »Abendlied« enthaltenden Textzeugen wenige Korrekturen auf. Bei der allerersten Niederschrift hat Trakl, bis auf eine Sofortkorrektur in V. 6 (alle Versangaben in der Folge nach ITA II, 340 f.), nur in Vers 9 und im letzten Vers etwas geändert. Im Übergang von der ersten Niederschrift zum Typoskript, das er an Ficker für die Veröffentlichung im Brenner geschickt hat, hat Trakl die – wohl metrisch-rhythmisch motivierte – Korrektur in V. 8 (von »Frühlingswolken« zu »Frühlingsgewölke«) angebracht. Während der Arbeit an der Satzvorlage für Gedichte hat er die mit »Abendlied« bedruckte Seite des Brenner-Heftes auf ein Blatt geklebt und hierin eine einzige handschriftliche Korrektur (»Schatten« zu »Gestalten« [V. 2.]) vorgenommen. In dieser Form erschien das Gedicht als viertletzter Text in Trakls erster veröffentlichter Sammlung Gedichte (1913). Zur mutmaßlichen Entstehungszeit von »Abendlied« hat Trakl auch »An den Knaben Elis«, »Psalm« (I), »De profundis« sowie »In ein altes Stammbuch« verfasst. All diese Gedichte stellen eine ästhetisch-poetologische Zäsur in Trakls Produktion dar und eröffnen die neue ›sanft-elegische‹ Schaffensphase. Auch »Abendlied« fügt sich in diese sanfte, harmonische, im wahrsten Sinne des Wortes lyri-

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_39

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sche Sprache ein, in der sich Stille und Wort abwechseln und in der eine »elegische Wiederkehr der Vergangenheit« (Esselborn 1981, 191) vollzogen wird. Dazu fügen sich die metrisch-rhythmischen Eigenschaften dieses Textes. Anders als in den Reihungsstilgedichten haben die Verse hier keinen binären (trochäischen bzw. jambischen) Rhythmus, sondern nähern sich durch die Einführung von Daktylen und das Überwiegen von langgedehnten Zweizeilern (erste, dritte, vierte und sechste Strophe) dem ternären elegisch-hölderlinischen Rhythmus, das sich im Hexameter realisiert. Zwar hat Trakl weder regelrechte Elegien noch Gedichte in reinen Hexametern geschrieben. Viele Texte der mittleren Schaffensphase enthalten allerdings zahlreiche Hexameter bzw. hexameter-ähnliche (daktylische) Verse, die sich als das ideale me­­ trisch-rhythmische Pendant der elegisch-meditativen Stimmung erweisen (so Wetzel 1968, 91). Auch »Abendlied« weist eine daktylische Tendenz auf, Vers 8 (»Frühlingsgewölke steigen über die finstere Stadt«) ist sogar ein perfekter Hexameter. Bemerkenswert ist dabei, dass Trakl hier von »Frühlingswolken« zu »Frühlingsgewölke« korrigiert und somit durch die Einfügung einer unbetonten Silbe (»ge-«) den durch die metrische Regel gebotenen rhythmischen Parallelismus in den beiden Halbzeilen hergestellt hat: zwei Daktylen und ein Trochäus; zwei Daktylen und ein katalektischer Vers (mit einem Trochäus statt einem Daktylus am Schluss). Auffällig ist die minimalistische Farbsemantik dieses Textes, die sich umso überraschender ausnimmt, insofern Trakl – vielen expressionistischen Malern darin ähnlich – meist die ganze Farbpalette einschließlich der grellen Farben verwendet. Die Szene in »Abendlied« ist jedoch nur von drei Farben und deren für Trakl typischer Wiederholung auf Distanz dominiert: »dunkel« (V. 1 und 13) bzw. »finster« (V. 8), »weiß« (V. 4 und 14) sowie »grau« (V. 7). Alle in »Abendlied« auftretenden Motive haben kaum noch realistische Konturen und deskriptive Funktionen, sondern besitzen eine symbolisch-beschwörende Kraft. Im allerersten Zweizeiler taucht ein Subjekt in der ersten Per-

E. Mengaldo

son Plural (»wir«) auf. Dieses wird in der zweiten und dritten Strophe wieder erwähnt, die alle in einer Art historischem Präsens schweben. In der vorletzten Strophe spaltet sich das »wir« in zwei Subjekte (ein »ich« und ein »du«) auf, was mit dem einzigen Tempuswechsel (von Präsens zu Präteritum) des Gedichts einhergeht: An dieser Stelle bricht das vergangene Ereignis in das narrative Präsens ein, das die Kindheitserinnerungen vergegenwärtigt hatte – die »wenn«-Konjunktionen in V. 1 und 3 sind nämlich als temporal und imperfektiv (»immer wenn«) zu lesen (so auch Csúri 2016, 37). In der allerletzten Strophe bleibt nur das »du«, während das »ich« verschwindet bzw. metonymisch in »die Seele« verlagert wird. Der »dunkle Wohllaut« der »die Seele heimsucht« legt nahe, dass hier von Dichtung als Beschwörungsakt, vom lyrischen Ich und dessen Inspiration die Rede ist, die in der Lage ist, die verlorene, mit »du« angeredete, weibliche (»du Weiße«) Gestalt heraufzubeschwören. Anstelle der erinnerten Vergangenheit tritt deren poetische Evokation auf. Die Frage, wer mit diesem »du« gemeint ist, lässt sich nicht eindeutig beantworten, einige Indizien weisen allerdings auf eine Ähnlichkeit mit der in anderen Gedichten besungenen Figur der Schwester hin: Das Adjektiv »schmal« ist Attribut der Schwester in der mit starken autobiographischen Zügen gefärbten Prosa »Traum und Umnachtung« (»die schmale Gestalt der Schwester« [ITA IV.1, 73]) sowie im kurz vor »Abendlied« verfassten Gedicht »An die Schwester« (»dein schmales Lächeln tönt« [ITA II, 281]). Aber vor allem der Bezug auf die gemeinsame ›süß-traurige‹ Kindheit erhärtet diesen Verdacht. Die »runden Augen« sind schließlich ein häufiges Attribut der Kindlich-Unschuldigen, oft bereits zum Tode geweihten Gestalten, »die eine Vorstellung vom Traumland der Kindheit und der Präexistenz vermitteln« (Doppler 2001, 47), etwa Elis (»ein Ruhender mit runden Augen« [ITA II, 454]), der Frühverstorbene (»die runden Augen in der braunen Kühle des Herbstes« [ITA III, 403]) und vor allem Helian (»Und die runden Augen folgen dem Flug der Vögel« [ITA II, 260]), bei

39  »Abendlied« (1913)

dem sie das »gerechte Anschauen« (ITA II, 260) symbolisieren. So scheint die weibliche Figur / Schwester im »Abendlied« auch der Schar der Reinen zu gehören, wird jedenfalls keineswegs mit dem Inzest-Motiv in Verbindung gebracht, wie es in einigen Jugenddichtungen (etwa »Blutschuld«), implizit in »Passion« und schließlich in »Traum und Umnachtung« geschieht. Vielmehr funktioniert sie hier als Medium der durch die Dichtung transfigurierten Erinnerung und gleichzeitig als verlorenes Liebesobjekt, das durch das Dichten heraufbeschworen wird. Dieses recht romantische Motiv der Liebe als Medium der Dichtung und der Dichtung als Medium der »visionären Vergegenwärtigung einer vergangenen Liebesszene« (Esselborn 1981, 190) gestaltet Trakl jedoch auf eine originelle Weise um, denn weder dem Dichten noch der beschworenen Kindheit werden nur positive und idyllische Züge verleihen. Die Kindheit ist traurig und süß zugleich (V. 5); die dichterische Inspiration wird als quälendes Ereignis bezeichnet, das die Seele »heimsucht« (V. 13), dessen »Wohllaut« als »dunkel« beschrieben wird und somit einem existenziellen Bereich angehört, der zwischen Melancholie (zu deren topischen Elementen die Dunkelheit bzw. Schwärze zählt, aber auch das ›Süß-Traurige‹), Hermetik und Buße situiert ist. Hat Trakl in seinen letzten Lebenstagen seine Lyrik als »unvollkommene Sühne« (ITA IV.2, 323) bezeichnet, so ließen sich die in V. 9 genannten Mönche womöglich als Figurationen des Ichs als Büßers deuten. Die heraufbeschworenen Bilder schweben zwischen Erinnerung und Tod – eine für diesen Text konstitutive Ambivalenz. Einerseits werden die beiden Figuren als »Erstorbene« (V. 6) bezeichnet, andererseits ruhen sie als solche »unterm Hollundergebüsch« – und der Holunder ist bei Trakl häufig ein Requisit der Kindheit (vgl. Csúri 2016, 37). Einerseits verwandelt die Korrektur in V. 2 die »Schatten« (die mit Verstorbenen assoziiert werden können) in neutralere »Gestalten«, andererseits entsprechen die dominanten schwarz-weißen Farben wiederum eher dem Todesbereich. Eine mögliche Auflösung der Ambivalenz bietet V. 4. Trinken hier nämlich die beiden Figuren »die weißen Wasser

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des Teichs«, die in der nächsten Zeile durch Apposition (ein bei Trakl typisches syntaktisches Mittel) mit der »Süße unserer traurigen Kindheit« gleichgesetzt werden, lässt sich der Akt des Trinkens in Anlehnung an den Mythos des Flusses Lethe als Quelle des Vergessens deuten: Wer vom Wasser der Lethe trinkt, verliert die Erinnerung an das vergangene Leben vor dem Eingang ins Totenreich, auf den im Gedicht gleich zu Beginn die Wanderung »auf dunklen Pfaden« anspielt. In der durch die Apposition in der zweiten Strophe entstandenen semantischen Verdichtung wird die süß-traurige Kindheit (die Vergangenheit) gleichsam gekostet und damit vergessen und in der darauffolgenden Zeile erscheinen die beiden Figuren nicht umsonst als »Erstorbene« und der Holunder, unter dem sie ruhen, als Requisit einer vergangen-vergessenen Kindheit. Am Schluss kommt der ›dunklen Dichtung‹ die Funktion zu, die Vergangenheit heraufzubeschwören und somit die ›weiße‹ weibliche Gestalt neu zu beleben. Dabei kommt ein typisch Traklsches Verfahren zur Geltung, nämlich die Wiederholung von Attributen (in diesem Fall Farbwörter) zum Zweck der inneren Kohäsion des Textes und des Aufbaus von Korrespondenzen. So bezieht sich das Adjektiv »dunkel« in der ersten Zeile auf die »Pfade« und in der vorletzten auf den »Wohllaut«: Die Landschaft wird durch die melancholische dichterische Inspiration verinnerlicht und damit in eine Topographie der Existenz verwandelt. In diesem Zusammenhang ist die Variante in der letzten Zeile kein Zufall. Hier stand zuerst als letztes Wort »Umnachtung«, zunächst mit dem Attribut »fromm« (»in des Freundes frommer Umnachtung«) – wodurch eine Verbindung mit den Mönchen aus V. 9 gestiftet wurde –, dann als Zwischenlösung »einsam«, schließlich »herbstlich«. Nach der letzten Adjektivkorrektur hat Trakl auch das Substantiv geändert und die endgültige Version (»in des Freundes herbstlicher Landschaft«) aufgeschrieben. Damit hat er erstens eine symbolische Korrespondenz zwischen erlebt-erinnerter und geistiger Landschaft und zwischen Textanfang und -schluss geschaffen (und dafür die Assoziation zwischen

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»dunkler Wohllaut«, »heimsuchen« und »Umnachtung« aufgegeben bzw. geschwächt). Die Steigerung vom »Abend« der ersten Zeile zur geistigen Umnachtung wird von einem symbolischen Parallelismus ersetzt: Wie zu Beginn der Abend implizit der Nacht vorangeht, so geht in der Schlusszeile der Herbst dem Winter voraus, der aber nicht explizit erwähnt wird. Durch das Adjektiv »herbstlich« wird vielmehr die Verbindung zur melancholischen Dunkelheit des Wohllauts wiederhergestellt und gleichzeitig semantisch umgestaltet. So ist die dichterische Inspiration jetzt nicht mehr »dunkel«, weil sie mit dem Wahnsinn (»Umnachtung«) assoziiert wäre, sondern weil sie mit dem herbstlich-melancholischen, ja elegischen Element versehen ist, das über das Verlorene klagt und

E. Mengaldo

gleichzeitig dessen Vergegenwärtigung im Gedicht überhaupt ermöglicht.

Literatur Csúri, Károly: Konstruktionsprinzipien von Georg Trakls lyrischen Textwelten. Bielefeld 2016. Doppler, Alfred: Die Lyrik Georg Trakls. Beiträge zur poetischen Verfahrensweise und zur Wirkungsgeschichte. Salzburg 22001. Esselborn, Hans: Georg Trakl. Die Krise der Erlebnislyrik. Köln/Wien 1981. Killy, Walther: Über Georg Trakl. Göttingen 31967. Wetzel, Heinz: Klang und Bild in den Dichtungen Georg Trakls. Göttingen 1968. Wölfel, Kurt: Entwicklungsstufen im lyrischen Werk Georg Trakls. In: Euphorion 52 (1958), 50-81.

»Drei Blicke in einen Opal« (1912)

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Erik Schilling

Das Gedicht »Drei Blicke in einen Opal« ist eines der längeren in der Sammlung der Gedichte. Es besteht aus drei nummerierten Abschnitten zu je drei Strophen à vier Versen, also insgesamt 36 Versen. Hans Esselborn spricht von einem »Kleinzyklus« (Esselborn 1996, 91). Im Unterschied zu den anderen Langgedichten der Sammlung ist »Drei Blicke in einen Opal« metrisch regelmäßig gebaut und gereimt. Die Verse bestehen fast durchgängig aus sechs Jamben und lehnen sich damit an den Alexandriner an, wobei die Mittelzäsur nur selten markiert ist. Der Reim ist umarmend, wobei in allen drei Strophen eines Abschnittes der außenstehende (also umarmende) Reim gleich ist (abba acca adda etc.). Das Gedicht ist dem österreichischen Schriftsteller Erhard Buschbeck gewidmet, der mit Trakl und dessen Schwester eng befreundet (und mit letzterer zeitweise auch liiert) war. Erste Erwähnung findet das Gedicht so auch in einem Brief von Trakl an Buschbeck, welcher auf den 6. Oktober 1912 datiert ist; die Entstehung wird zwischen dem 26. September und diesem Zeitpunkt angesetzt. Die erste bekannte Fassung des Gedichts stammt aus einem Brief

E. Schilling (*)  Institut für Deutsche Philologie, LudwigMaximilians-Universität München, München, Deutschland E-Mail: [email protected]

vom 1.–7. November desselben Jahres, in dem Trakl Buschbeck die Satzvorlage des Textes für den Sammelband Salzburg schickt. In einer ersten Überarbeitung übernimmt Trakl – nebst anderen Änderungen – anschließend die von der Redaktion des Sammelbandes vorgeschlagenen Korrekturen. Weitere Überarbeitungen folgen im April 1913. »Drei Blicke in einen Opal« sollte durch den Kurt-Wolff Verlag im Band Gedichte veröffentlicht werden. Die letzten Umarbeitungen, bevor Trakl den Text Anfang Mai an Kurt Wolff übersendet, betreffen ausschließlich den zweiten Teil des Gedichts (vgl. ITA II, 129–145). Die Kohärenz des Gedichts wird weniger durch Narration als vielmehr durch Motive, Farben und Bilder hergestellt. Es beginnt mit einer Rahmensetzung: »Blick in Opal« (ITA II, 144; die weitere Zitation mit Versangabe nach dieser Textstufe). Dieser Einstieg ist hoch relevant, weil er die Bedingungen für alles im Folgenden Gesagte festlegt: Es handelt sich bei allem nicht zwangsläufig um eine ›reale‹ Beobachtung, sondern um etwas, das ›gebrochen‹ (im Opal) wahrgenommen wird. Unterstrichen wird dieser mediale Vorbehalt durch den »Zwillingsspiegel«, der ebenfalls auf die Möglichkeit einer besonderen visuellen Wahrnehmung oder gar Täuschung aufmerksam macht (zum Spiegel-Motiv bei Trakl vgl. z. B. Webber 1990, 36–56). Dies gilt zusätzlich, weil das Reimwort »-spiegel« sich (bestimmte dialektale Färbungen aus-

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_40

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genommen) nur unrein auf »-hügel« reimt und damit den Täuschungsverdacht auch akustisch betont. Diese mediale Brechung wird im ganzen Gedicht nicht mehr aufgehoben. Allenfalls den letzten Vers kann man als partielle Revidierung der Perspektive verstehen, weil neben den visuellen Eindruck (»Blick in Opal«) ergänzend nun ein akustischer tritt: »Und eine Abendglocke singt nach altem Brauch«. Doch insgesamt gilt: Das Gedicht ist keinesfalls mimetisch zu verstehen, sondern als Darstellung einer unter besonderen Voraussetzungen wahrgenommenen Welt. Diese Welt nun ist durch typische Elemente von Trakls Lyrik gekennzeichnet: Alle drei Abschnitte spielen am Abend (»abendlicher Quellen Kühle«; »sinkt ein Abend«; »eine Abendglocke singt«), der Herbst als Jahreszeit wird explizit genannt, das Geschehen spielt in einem Dorf bzw. in dessen Nähe. Darüber hinaus ist die Gestaltung durch Farben zentral für den Zusammenhang des Gedichtes: In allen drei Abschnitten sind graue Elemente zu beobachten (»graue[] Wolken«; »Gebein […] morsch und grau«; »Grau härtet sich der Himmel«), die weiteren Farben decken das ganze Spektrum von Trakls Palette ab (gelb, blutbefleckt, bleich, schwarz, golden, rosig, blau, purpur, rotgolden). Dabei ermöglichen manche Formen der Farbgebung intertextuelle Bezüge zu anderen Gedichten der Sammlung, etwa »Gottes goldene[r] Schrein« zu »Gottes goldene[n] Augen« aus »Psalm« (I) (ITA II, 25). Was das Gedicht stärker noch als die genannten Aspekte zu einem einheitlich durchkomponierten Text macht, ist die Auseinandersetzung mit theologischen (insbesondere christlichen) Fragen (zu Elementen der Bibelsprache bei Trakl allgemein vgl. Doppler 2001, 82–87). Dies wird sowohl im Text aufgebaut als auch bereits vom Titel her vorgegeben. Zunächst zum Text: Der erste Abschnitt des Gedichts nähert sich dem Göttlichen sukzessive über die Figuren an, die auftreten. »Singende Pilger« machen den Anfang. Ihnen folgt im nächsten Vers »[d]es Einsamen Gestalt«, die mit einem »bleiche[n] Engel« gleichgesetzt wird, also eine weitere Stufe des Göttlichen als Denkrahmen ein-

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bezieht. Mit »Satyrn« und »schlanke[n] Weiblein« wird am Beginn der dritten Strophe ein weiterer göttlicher Referenzpunkt einbezogen: die Antike mit Wesen, die ähnlich ambivalent zwischen Menschlichem und Göttlichem stehen wie der Einsame, der als Engel beschrieben wird. Der Einsame kehrt in zahlreichen weiteren Gedichte der Sammlung wieder, etwa als einsam Wandelnder in »Allerseelen«, als Entgleitender in »Seele des Lebens« oder als Gefährte des Herbstes in »Verklärter Herbst«. Als weitere Mittlerfiguren folgen sodann »Mönche der Wollust bleiche Priester, / Ihr Wahnsinn schmückt mit Lilien sich schön und düster«. Wegen der fehlenden Strukturierung durch ein Komma bleibt offen, ob »der Wollust bleiche Priester« als Apposition zu den Mönchen zu denken ist oder ob sowohl »Mönche der Wollust« als auch »bleiche Priester« auftreten. In jedem Fall aber wird ihnen Wahnsinn zugeordnet – die direkte Verknüpfung wird durch eine Überarbeitung Trakls sichtbar, im Zuge derer er »Ein Wahnsinn« durch »Ihr Wahnsinn« ersetzt (vgl. ITA II, 140 und 142). Ihre Wollust und ihr Wahnsinn stehen so in harschem Kontrast zur schmückenden Reinheit der Lilien – was das Gedicht selbst auch in der Beiordnung von »schön und düster« betont. (Zu einer solchen Parallelisierung von Erotik und Religion vgl. Braungart 2000.) Diese wird erneut klanglich unterstrichen: durch den unreinen Reim »Priester – düster«, der die ›Schönheit‹ des Reimes einerseits andeutet, diese aber durch seine Unreinheit selbst wieder ›verdüstert‹. Das geschilderte wilde Treiben kulminiert im letzten Vers des ersten Abschnitts im Blick auf »Gottes goldene[n] Schrein«. »Drei Blicke in einen Opal« entwirft also ein Bild religiöser Vorstellungen aus unterschiedlichen kulturellen Bereichen, die jeweils korrumpiert sind. Einzig »Gottes goldenem Schrein« wohnt eine gewisse Erhabenheit inne, die ihn unempfindlich zu machen scheint gegenüber den Geschehnissen auf der Erde (vgl. erneut den Schlussvers von »Psalm« [I]: »Schweigsam über der Schädelstätte öffnen sich Gottes goldene Augen« [ITA II, 25], der eine vergleichbare Deutung entrückter Distanz Gottes zulässt).

40  »Drei Blicke in einen Opal« (1912)

In den Abschnitten 2 und 3 des Gedichts werden die Gedanken des ersten Abschnitts variiert und vertieft. In der finalen Fassung des Textes endet die erste Strophe des zweiten Abschnitts mit dem Vers »Gebein steigt aus dem Erbbegräbnis morsch und grau« – eine Umarbeitung des vorherigen Wortlauts: »Kadaver faulen unter Brücken morsch und grau« (vgl. ITA II, 142 und 144). Durch die Abänderung können die aus dem Grab entstiegenen Toten des zweiten Abschnitts mit Schilderungen aus dem dritten Abschnitt verknüpft werden, wodurch die Tradition der Totentanzdarstellungen der Frühen Neuzeit aufgerufen wird: Wie am Tag des Jüngsten Gerichts entsteigen die Toten ihren Gräbern, versammeln sich aber nicht vor Christus, sondern tanzen einen »mitternächtlichen Tanz«. Denkt man an solche Totentanz-Darstellungen, etwa an die berühmte (heute verlorene) Variante in der Lübecker Marienkirche, so fügen sich weitere Elemente des zweiten Abschnitts ins Bild: das »Bogenfenster«,  der Heilige mit seinen »Wundenmalen«, die Purpurfarbe der Kardinäle, die blutige Dornenkrone. Doch die christlichen Attribute sind dem Verfall anheimgegeben: Erwähnt werden »eiternde Wunden« anstelle der Seitenwunde Christi; die Mädchen umschlingen »wie Gift den Leib des Herrn«, nicht wie Maria Magdalena trauernd am Fuße des Kreuzes; der Dornenstrauch ist nicht Symbol Gottes, aus dem Moses die Tafeln der Zehn Gebote empfängt, sondern »Ungeheuer / Und […] schwarz[]«. Bernhard Böschenstein spricht von einer »Häufung grell verzerrter christlicher Greuelszenen« (Böschenstein 2006, 284). Auf diese Weise zieht sich durch das gesamte Gedicht eine Ambivalenz in Bezug auf die religiösen Symbole. Sie haben ihre Würde und ihre historische Relevanz nicht vollständig eingebüßt, sind aber in vielerlei Hinsicht korrumpiert. Ihr Wert schimmert an vielen Stellen durch die ›schwarze‹ Gegenwart hindurch, als goldenes Attribut Gottes, als schöner Schmuck der Lilien, als Abendglocke, die »nach altem Brauch« singt (zu einer Interpretation der – nicht unähnlich zu verstehenden – singenden Abendglocke in »An einen Frühverstorbenen« vgl. Heidegger 2018, 64 f.). Doch im Vordergrund stehen Elemente

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des Niedergangs: Wollust, Einsamkeit, Leere, Fieber, Fratzen, Wahnsinn. Was also gilt – was bleibt am Ende von Trakls Gedicht? Ein Blick auf den Titel kann helfen, die Frage zu beantworten. Der Titel lässt sich als intertextuelle Referenz auf die symbolistische Lyrik verstehen, die für Trakl prägend ist, etwa auf die Rolle, die der Opal in Charles Baudelaires Blumen des Bösen spielt. (Zum Symbolismus bei Trakl vgl. Zanucchi 2016; zur Bedeutung des Opals in Trakls frühen Gedichten vgl. Millington 2020, 51.) Insbesondere aber – und dies wird angesichts der Auseinandersetzung mit dem Christentum besonders deutlich – kann man den Opal vor dem Hintergrund von Gotthold Ephraim Lessings ›dramatischem Gedicht‹ Nathan der Weise und dessen Dreh- und Angelpunkt fassen: der Ringparabel. Eine der Änderungen, die Lessing gegenüber seiner Vorlage bei Boccaccio vornimmt, besteht darin, den Ring zu spezifizieren: »Der Stein war ein / Opal, der hundert schöne Farben spielte« (Lessing 1970–1979, II, 276) – und hier wird es für Trakls Gedicht interessant. Denn bei Trakl verweist nicht nur die Art des Steines explizit auf Lessings Ringparabel, auch die Dreizahl – bei Lessing der Söhne, bei Trakl der Blicke – wird aufgegriffen. Gleichzeitig beruht die Dreizahl auf einer Einheit: bei Lessing drei Söhne und ein Vater (bzw. drei Ringe und ein Ring, also drei Religionen und ein gemeinsamer Ursprung), bei Trakl ein Opal und drei Blicke in diesen. In beiden Fällen handelt es sich zudem um einen Text, der sich mit Religion auseinandersetzt. Und beide Texte landen bei einer Form der Versöhnung, die das Geschichtliche betont. Lessings Nathan dient die Ringparabel dazu, vor dem Sultan die Gleichwertigkeit der drei mosaischen Religionen zu behaupten, die »von Seiten ihrer Gründe nicht« zu unterscheiden sind, »[d]enn gründen alle sich nicht auf Geschichte?« (ebd., 278). Bei Trakl lässt sich der letzte Vers (»Und eine Abendglocke singt nach altem Brauch«) in diesem Sinne verstehen. Wenngleich das zuvor Geschilderte eine Vielzahl von Schrecken aufweist, besteht bei Trakl am Ende eine doppelte Hoffnung: Das Gedicht hat erstens – wie eingangs dargelegt – einen unklaren Realitätsstatus

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(es ist ein »Blick in Opal« und handelt von »[d] es Lebens Träumerei«), sodass nicht klar ist, ob die christlichen Elemente tatsächlich derart verfallen sind, wie das Gedicht es schildert, oder ob nicht untergründig eine gewisse Hoffnung auf ihr Fortdauern besteht. Diese Hoffnung wird zweitens dadurch unterstrichen, dass die Abendglocke den ›alten Brauch‹ einläutet, also exakt auf die Geschichtlichkeit verweist, die auch für Lessings Ringparabel entscheidendes Element der Religion ist. Es handelt sich bei »Drei Blicke in einen Opal« also um ein Gedicht, das – in verschiedenen Brechungen – nach dem Stellenwert der Religion in der Gegenwart fragt. Auf den ersten Blick erscheint die Religion in praktisch jeder Hinsicht als korrumpiert. Doch das Gedicht revidiert dies: Erstens sind die Elemente des Verfalls transparent auf eine Realität jenseits des Verfalls, die von diesem nicht betroffen ist. Zweitens macht es auf die Unsicherheit der eigenen Perspektive aufmerksam, die durch den Blick in den Opal gebrochen, zudem noch in drei Varianten angegeben ist. Und drittens bezieht es die Tradition mit ein, indem es auf Lessings Ringparabel aufruht und deren Plädoyer für die Wertschätzung von Geschichtlichkeit aufgreift.

E. Schilling

Literatur Böschenstein, Bernhard: Vom Morgen nach Abend. Filiationen der Dichtung von Hölderlin zu Celan. München 2006. Braungart, Wolfgang: Zwischen Protestantismus und Katholizismus. Zu einem poetischen Strukturprinzip der Lyrik Georg Trakls. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 119 (2000), 545–563. Doppler, Alfred: Die Lyrik Georg Trakls. Beiträge zur poetischen Verfahrensweise und zur Wirkungsgeschichte. Wien 2001. Esselborn, Hans: Wiederkehr und Ende. Zyklische und finale Strukturen in Gedichten Georg Trakls. In: Károly Csúri (Hg.): Zyklische Kompositionsformen in Georg Trakls Dichtung. Tübingen 1996, 87–106. Heidegger, Martin: Unterwegs zur Sprache. Frankfurt a. M. 22018 (Gesamtausgabe I.12). Lessing, Gotthold Ephraim: Werke. Hg. von Herbert G. Göpfert. München 1970-1979. Millington, Richard: The Gentle Apocalypse. Truth and Meaning in the Poetry of Georg Trakl. Rochester 2020. Webber, Andrew: Sexuality and the Sense of the Self in the Works of Georg Trakl and Robert Musil. London 1990. Zanucchi, Mario: Transfer und Modifikation. Die französischen Symbolisten in der deutschsprachigen Lyrik der Moderne (1890–1923). Berlin/Boston 2016.

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»Helian« (1913) Gabriela Wacker

Trakls längstes Gedicht »Helian« entsteht im Januar 1913 und erscheint im Februar desselben Jahres im Brenner. Als Druckvorlage dienen Trakl die Textstufen 5 T und 9 H (vgl. ITA II, 230). Die auf das Ende Dezember 1912 datierten Gedichte »Lange lauscht der Mönch …«, »Wo an schwarzen Mauern …« und »Jene singen den Untergang …« sowie das später entstandene Gedicht »Mit Schnee und Aussatz …« wurden als ›Steinbruch‹ für dieses Gedicht verwendet (ebd.). Früh wird diskutiert, »ob der gegliederte Einzeltext ›Helian‹ einen ›Grenzfall‹ zyklischer Dichtung darstellt« (vgl. Sauermann 1996, 170), denn in der ersten Reinschrift (Textstufe 5 T) wird der Eindruck von Abschnitten hervorgerufen, da Trakl die Seiten nicht ganz beschriftet. Zudem zeichnet Ludwig von Ficker die Initialen des jeweils ersten Verses der ersten Strophe jedes Abschnittes groß, woraufhin das Gedicht im Brenner mit entsprechenden Initialen in Abschnitte gegliedert erscheint (vgl. Sauermann 1996, 171). Die herausragende Stellung des Gedichts »Helian« (Textstufe 12 D, Zitation und Versangaben im Folgenden nach dieser Fassung in ITA II, 260–263) wird bereits dadurch ersichtlich, dass es die Sammlung Ge-

G. Wacker (*)  Deutsches Seminar, Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Tübingen, Deutschland E-Mail: [email protected]

dichte abschließt. Überdies wird es häufig als »Summe seines [Trakls] lyrischen Schaffens« (Wild 2002, 207) bezeichnet. Dass der Text für Trakl eine besondere Bedeutung hat, lässt sich auch an einer brieflichen Mitteilung gegenüber seinem Freund Erhard Buschbeck vom Januar 1913 ablesen, dem er schreibt, es sei »das teuerste und schmerzlichste, was ich je geschrieben« (HKA I, 501; ITA V.1, 300). Dem Bericht Heinrichs zufolge verlässt Trakl eigens Wien, da er sein prophetisches »Schicksalsgedicht« (Heinrich 1959, 102) nur in Innsbruck vollenden könne und er »dem gebieterischen Rufe der inneren Gesichte, die den ›Helian‹ beseelen, untertan« (Heinrich 1959, 102) sei. Das aus Langversen bestehende Gedicht mit einer zwischen Vers und Prosa angesiedelten Syntax besteht im Wesentlichen aus fünf Partien, die eine nicht real situierbare Szenerie mit Bildern aus verschiedenen Tages- und Jahreszeiten und einer Reihe von namenlosen Figuren und schemenhaften Orten vor Augen stellen. Der Titel mit dem wohlklingenden Kunstnamen »Helian« könnte auf den griechischen Sonnengott Helios (vgl. Böschenstein 1999, 84) verweisen, aber auch auf das Helle und Tönende (vgl. das mittelhochdeutsche Adjektiv ›hel‹) sowie auf die Sonnenblume (helianthus), die in der Sinnbildkunst der Frühen Neuzeit eine Allegorie des christlich gesinnten Menschen darstellt (vgl. Thauerer, 224 f.). Durch den Titel »Helian« wird bereits die zentrale Thematik des

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Gedichts angekündigt, die in einer programmatischen Verbindung von »Helios und Heiland« (Böschenstein 1999, 84) gesehen werden kann. Diese schlägt sich in einer das gesamte Gedicht durchziehenden Simultaneität von Idylle und Arkadien sowie Passion und Golgatha nieder (vgl. Böschenstein 1999, 84). Über die namentliche Verbindung zu Helios wird der Wandel vom Tag über den Abend zur Nacht bzw. der Wandel vom Sommer über den Herbst zum Winter in den Blick gerückt. Während zu Beginn des Gedichtes Bilder des Sommers und der Lebensfreude überwiegen – etwa in den Eingangsversen »In den einsamen Stunden des Geistes / Ist es schön, in der Sonne zu gehn / An den gelben Mauern des Sommers hin« (V. 1–3) oder pointiert im achten Vers »Sanfte Sonate, frohes Lachen« –, gefolgt von den ersten herbstlichen Eindrücken voller Ruhe und Friedfertigkeit (»Und friedlich reifen die Früchte in sonniger Kammer«, V. 19), verdunkelt sich die Szenerie zunehmend und lässt den Tod und die Zerstörung als Zielpunkte erkennen. In der ersten Partie könnte das Betrinken mit Wein (vgl. V. 7) den Einbruch des Dionysischen vorbereiten; es schließt sich im Folgenden eine großangelegte Ecce homo-Darstellung an, wonach das Gedicht mitunter als eine moderne Variation der Passion Christi gelesen werden kann. Noch greifbarer werden dieser Umschlag der Stimmung und die zunehmende Verdunkelung der Bilder bereits in der zweiten Partie, etwa in den Versen »Zur Vesper verliert sich der Fremdling in schwarzer Novemberzerstörung, / Unter morschem Geäst, an Mauern voll Aussatz hin« (V. 33 f.) und »Erschütternd ist der Untergang des Geschlechts« (V.  39), welche passend zum Einbruch des Abends und schließlich der Nacht und zum Wechsel der Jahreszeit vom Herbst zum Winter gestaltet sind. Während in der ersten Partie noch ein gnomisches »wir« verwendet wird, ist der Mittelteil des Gedichts mit einer Reihe an aus Trakls Œuvre bekannten Figuren bestückt (»Hirten«, ein »junge[r] Novize«, »Schwestern«, »der Mensch«, »der Fremdling«, »der heilige Bruder, »der tote Soldat«, »ein bleicher Engel«, »der Schläfer«, »die Knechte«, »ein Schäfer«,

G. Wacker

»Auferstandene«, »Aussätzige«, »Mägde«, »liebende[r] Hirte«, ein »Knabe« u. a.), bis am Ende des Gedichts Helian selbst ein einziges Mal namentlich genannt wird (V. 83) und den Abschluss des Gedichts die Figur des Enkels (V. 91) und des stillen Gottes bilden (V. 93). Es bleibt unklar, in welchem Zusammenhang die Figuren zueinanderstehen und ob die wiederkehrenden Figuren jeweils dieselben sind (vgl. Sauermann 1996, 172). Sie lassen sich versuchsweise motivischen Gruppen zuordnen, wonach die Hirten und ein Landmann zur bukolischfriedlichen Landschaft, der junge Novize, der Fremdling, Engel, Heilige u. a. zu den religiös aufgeladenen Figuren zu zählen sind, die Elemente der Passion aufrufen. Ferner sind sie als Spiegelungsgestalten, Perspektivfiguren oder Verwandlungen des Helian und damit auch als Reflexionsfiguren für das Dichtertum an sich lesbar (vgl. Böschenstein 1999, 93). Insbesondere der »junge Novize«, dessen »Stirne mit braunem Laub« bekränzt ist und dessen »Odem eisiges Gold trinkt«, erscheint geradezu als leidende und sich aufopfernde Dichterfiguration (V. 23 f.). Bereits ab der dritten Partie wird der Fokus nicht nur auf diese Einzelfiguren und deren Verhängnisse, sondern auf den »Untergang des Geschlechts« (V. 39) allgemein gerichtet, als dessen moderner KunstProphet Helian fungiert (vgl. Wacker 2013, 334). Die versinkenden Zeichen und Sterne, die auch im Gedicht »Elis« erwähnt werden (ITA II, 455: »Zeichen und Sterne / Versinken leise im Abendweiher«), sind der Symbolik der Offenbarung entlehnt (vgl. Offb 6,13; 12,4): »An den Wänden sind die Sterne erloschen / Und die weißen Gestalten des Lichts« (V. 85 f.). Während einerseits gleichwertige Aussagen im Gedicht im Sinne einer unvoreingenommenen und ›gerechten‹ Schau nebeneinandergereiht werden (vgl. Wacker 2013, 341), sind andererseits Steigerungen und Progressionen erkennbar. Zur ersten Partie des Sommers werden nachfolgend verschiedene Gegensätze genannt, die nicht nur assoziativ und über klangliche Assonanzen vermittelt sind (vgl. Böschenstein 1999, 87), sondern auch über

41  »Helian« (1913)

die abgewandelte Wiederholung von Motiven in Beziehung gesetzt werden können. Ein Beispiel ist das durch Variationen fortgeschriebene Motiv der Mauern (»gelbe[] Mauern des Sommers«, »rote[] Mauern«, »Mauern voll Aussatz«, »schwarze[] Mauern«). Bemerkenswert ist indes, dass neben dieser deutlich erkennbaren Zielrichtung auf Verfall, Tod und Untergang hin stets auch wieder Momente der Idylle und des friedfertig Schönen aufscheinen, sodass letztlich das Nebeneinander von Niedergang und dem Einbruch des Wahnsinns auf der einen Seite und einer von Schönheit und Harmonie geprägten Naturszenerie auf der anderen Seite die reizvolle Grundstruktur des Gedichts darstellt. Auch wenn der Einbruch des Untergangs letztlich zu dominieren scheint, wirkt die formvollendete ästhetische Klangstruktur des Gedichts geradezu wie ein Gegenakzent zum Untergangsszenario. Denn die vielen Zeichen des Verfalls (»Schweigen des verwüsteten Gartens« [V.  22], »Verfallen die schwarzen Mauern am Platz« [V. 43] u. a.), des einbrechenden Wahnsinns (»Versunken in das sanfte Saitenspiel seines Wahnsinns« [V. 36] u. a.) und des Todes (»Graburnen« [V. 16], »das Antlitz der teueren Toten« [V. 20] u. a.) stehen geradezu gleichgültig im Sinne von gleichwertig neben friedlichen Bildern (»Leise und harmonisch ist ein Gang an freundlichen Zimmern hin« [V. 27], »Schön ist der Mensch und erscheinend im Dunkel« [V. 30], »Sonnabends tönt in den Hütten sanfter Gesang« [V. 76] u. a.). Erkennbar wird das Nebeneinander von Schönheit und Verfall etwa, wenn man die vielen Anspielungen auf die Passion Christi und die wenigen anklingenden Momente einer christushaften Verklärung im Zeichen einer Auferstehung im Gedicht verfolgt. Zum Heiland besteht eine »figurale Analogie« (Böschenstein 1999, 84), u. a. durch den Hinweis auf den »liebenden Hirten« (V. 75) und den »Kidron« (V. 60) – so heißt der Bach, den Jesus auf dem Weg in den Garten Gethsemane überquert (vgl. Joh 18,1, Böschenstein 1999, 91). Weitere Anspielungen auf die Passion im Garten Gethsemane werden an einigen Stellen deutlich evoziert – so in den Versen »O wie einsam endet der Abendwind. / Er-

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sterbend neigt sich das Haupt im Dunkel des Oelbaums« V. 37 f.) und am deutlichsten in den Versen »Da die Knechte mit Nesseln die sanften Augen schlugen, / Die kindlichen Früchte des Hollunders / Sich staunend neigen über ein leeres Grab« (V. 54–56) –, während in einem späteren Vers wiederum inmitten der poe­ tischen Ausgestaltung der Verwesung »Auferstandene« erwähnt werden: »Am Abend begegnen sich Auferstandene auf Felsenpfaden« (V. 70). Die Todesszenerie »im Dunkel des Ölbaums« (V. 38) wird simultan zumindest ansatzweise durch ein aufscheinendes Auferstehungsszenario begleitet, welches mithilfe der Farbe Rosa akzentuiert wird, die bei Trakl durchaus eine »österliche Komponente einschließt« (Böschenstein 1999, 91–92), so auch im Vers »[…] Wind, der vom rosigen Hügel weht« (V. 73). Besonders eindrücklich ist in diesem Zusammenhang das Bild, das von Helian entworfen wird, der am Ende des Gedichts einmal namentlich genannt wird: »Da Helians Seele sich im rosigen Spiegel beschaut / Und Schnee und Aussatz von seiner Stirne sinken« (V. 83 f.). Die Reduktion Helians auf seine Seele verdeutlicht bereits, dass er sich in einem gleichsam postumen Zustand befindet. In diesen Versen kristallisiert sich das Prinzip des Nebeneinanders von Gegensätzlichem, das das gesamte Gedicht grundiert. Die narzisstisch anmutende Selbstbetrachtung im Spiegel lässt ein ambivalentes Mal von »Schnee und Aussatz« (V. 84) erkennen. Berücksichtigt man das biblisch verbürgte Motiv des Schnees als Reinheitssymbol und damit als Gegenpol zum Aussatz, verdeutlicht dies die Lesart einer paradoxen Zeichenkonstellation. Indes lässt sich die Zusammenstellung von Schnee und Aussatz auch als tautologische Figur verstehen, wenn man die biblische Mose-Geschichte von der aussätzig-weißen Hand (vgl. Ex 4,6 f.) oder Elisas Strafrede (vgl. 2. Kön 5,27) erinnert. Die mit dem doppelten Zeichen von Reinheit und Unreinheit, Unschuld und Schuld, Verklärung und Deformation des Körpers exponierte Stirn dient immer wieder zur Charakterisierung von Seherfigurationen bei Trakl. Unter Bezugnahme auf die Stirnsiegel in der Offenbarung, die als Zeichen der Differenz und damit als Unter-

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scheidungsmerkmal zwischen den Gerechten und Ungerechten fungieren (vgl. Offenbarung 22, 4), verschmelzen sie bei Trakl zu einer paradoxen Bezeichnung, mit Hölderlin gesprochen zu einem Zeichen der Einigkeit des Unterschiedenen. Die biblische Eindeutigkeit der Zuordnung der Zeichen wird bei Trakl demnach aufgebrochen und stattdessen eine Ambiguität betont, wenn der »Schnee« sowohl ein Kälteund Erstarrungs-Zeichen als auch ein ReinheitsZeichen vorstellt. Eine ähnliche Sichtweise auf den zentralen Körperteil der Stirn ist auch im »Elis«-Gedicht (Textstufen 6 D und 7 D) zu finden: »Blaue Tauben / trinken nachts den eisigen Schweiß, / der von Elis’ kristallener Stirne rinnt« (ITA II, 455). Die blutende Stirn in »An den Knaben Elis«, die mühevoll und einem Martyrium vergleichbar uralte Legenden vergegenwärtigt (ITA II, 433), verweist wie die Wendung vom »eisigen Schweiß« (ITA II, 455) in »Elis« auf den mühevollen Prozess des Dichtens (Rainer 1980, 411–412). Gleichzeitigkeit und Widersprüchlichkeit sind damit die das Gedicht durchziehenden Grundprinzipien. Zu diesen ausgestalteten Paradoxien gehört beispielsweise auch die Simultaneität von Lebendigem und Totem, wie es in den nachfolgenden »Elis«-Gedichten noch expliziter thematisiert wird, denn auch Elis kehrt als früh Verstorbener im Gedicht wieder und präsentiert hierbei seine vitale Seite. Bereits »die klangliche Nähe von Helian und Elis« (Böschenstein 1999, 84) verweist auf die Verwandtschaft dieser Figuren. Im »Helian« sind Vorwegnahmen der etwas später in den »Elis«-Gedichten gestalteten Kunstfigur Elis erkennbar, insbesondere in den Versen »Lasset das Lied auch des Knaben gedenken, / Seines Wahnsinns, und weißer Brauen und seines Hingangs, / Des Verwesten, der bläulich die Augen aufschlägt. / O wie traurig ist dieses Wiedersehn« (V. 77– 80) (vgl. Böschenstein 1999, 84). Vergleichbar der Bewegungs- und Tanzgebärde des Elis in »An den Knaben Elis« (»und du regst die Arme schöner im Blau«, ITA II, 433) und den Augen in »Elis« (»erscheinst du, Elis, ein Ruhender mit runden Augen«, ITA II, 454) heißt es bereits im »Helian«: »Schön ist der Mensch und er-

G. Wacker

scheinend im Dunkel, / Wenn er staunend Arme und Beine bewegt, / Und in purpurnen Höhlen stille die Augen rollen« (V. 30–32). Auch die prophetisch anmutenden Verse hinsichtlich des stufenweisen Niedergangs im »Helian« sind insofern ambivalent, als das prophetische Unheilszenario durch den Hinweis auf eine sublimierte Fülle des Goldes bereichert wird: »Erschütternd ist der Untergang des Geschlechts. / In dieser Stunde füllen sich die Augen des Schauenden / Mit dem Gold seiner Sterne« (V. 49–41). Die letzten Verse des »Helian« lassen ferner offen, ob die Umnachtung durch den sich steigernden Wahnsinn und den stufenweisen Verfall auch eine Art Auferstehung impliziert, zumal man die sich über den Untergehenden hüllenden Lider Gottes auch als eine Art Umhüllung und Schutzgeste verstehen könnte: »O ihr zerbrochenen Augen in schwarzen Mündern, / Da der Enkel in sanfter Umnachtung / Einsam dem dunkleren Ende nachsinnt, / Der stille Gott die blauen Lider über ihn senkt« (V. 90–93). Mit Blick auf die vielen Zeichen des Verfalls in diesem Gedicht lässt sich die hier vorgeführte poetologische Selbstreflexion auf das Dichtertum andererseits auch mit der Décadence in Verbindung bringen. Im »melancholischen Gestus der Erinnerung« (Neymeyr 2002, 529) wird dabei die »Situation des Schriftstellers mit dem Epochenschicksal« (Neymeyr 2002, 531) parallelisiert. Während einige grundlegende Studien zu Trakl die Autonomie semantischer Elemente der Traklschen Textur und die Unverständlichkeit der Traklschen Texte hervorheben (vgl. etwa Baßler 1999, 137–140), arbeiten sich andere an den zyklischen Strukturen ab. Ob die auffällig häufigen Zeitangaben im »Helian« als Elemente einer zyklischen Struktur zu deuten sind (vgl. Sauermann 1996, 173), bleibt diskutabel. Die im Gedicht aufgerufenen Jahreszeiten folgen offensichtlich dem Kreislauf der Natur (vom »Sommer« [V. 3] über den »Herbst« [V. 12] zum Winter [V. 59]), sind ferner dem Prinzip der Wiederholung verpflichtet, verbunden mit vielen Ortswechseln, wobei die Jahreszeiten in der Wiederholung nicht mehr expressis verbis ge-

41  »Helian« (1913)

nannt werden (vgl. Sauermann 1996, 173). Der natürliche Ablauf der Tageszeiten – vom Tag bis zur Nacht – wiederholt sich ebenfalls mehrmals und ist häufig mit einem Ortswechsel verbunden. Kreisbewegungen lassen sich in den Fortbewegungen der schemenhaften Figuren in den ebenfalls schemenhaft gezeichneten Orten erkennen (vgl. Sauermann 1996, 174). Diese Wiederholungen und Variationen im Bereich der Bewegungsmotive (etwa dem Sinken / Versinken von Wasser, Glockenspiel und Schnee und Aussatz) verbinden auch disparate Motive miteinander (vgl. Sauermann 1996, 175). Ferner lassen sich mit Blick auf Farbbezeichnungen ebenfalls zyklische Strukturen erkennen, da die fünf Abschnitte durch eine variierende Wiederholung von Farbwerten in Verbindung zueinander zu stehen scheinen. So kommt die Farbe Weiß häufig vor (weiße Sterne, das weiße Wasser, die weißen Wangen der Schwestern, die weißen Greise u. a.), ebenso die Farbe Rot (die roten Mauern, der rosige Hügel, der rosige Spiegel u. a.), die Farbe Schwarz (die schwarze Novemberzerstörung, die schwarzen Mauern, das schwarze Wasser, die schwarzen Münder u. a.), die Farbe Blau (die bläulichen Wasser, die bläulichen Augen des Knaben, die blauen Lider Gottes u. a.) und die Farbe Braun (der braune Wein, das braune Laub u. a.) sowie das Wortfeld ›Dunkelheit‹ (das dunkle Tor, die dunklen Kastanien und die dunkleren Tage des Einsamen u. a.) (vgl. Sauermann 1996, 175–176). Wie auch in anderen Gedichten verweisen die personalen Evokationen von Dichtergestalten nicht nur auf einen für Trakl einflussreichen Dichter, sondern sie lassen verschiedene Bezugsgrößen aufscheinen, etwa Hölderlin (vgl. Fiedler 1969) und Novalis zugleich, die gleichermaßen ›heilige Brüder‹ für Trakl sind: »Wo vordem der heilige Bruder gegangen, / Versunken in das sanfte Saitenspiel seines Wahnsinns« (V. 35 f.). Bereits der Titel lässt sich auch als eine Allusion auf Hölderlin verstehen, da er aus »Bruchstücken« seines Namens zusammengesetzt ist (vgl. Degner 2016, 100). Nimmt man Hölderlins »Nachtgesänge« im Vergleich mit Trakls »Helian« in den Blick, fällt auf, dass

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Trakl das »Stilprinzip der ›harten Fügung›« (ebd., 102) aufgreift, und zwar sowohl auf der »mikrostilistischen Ebene« (Ellipsen, Anakoluthe, Inversionen u. a.) als auch »in seiner größeren Struktur« (Perspektivwechsel, heterogene Bildfelder u. a.) (ebd., 102). Das passende Autorschaftsbild hierzu scheint der zerstückelte Orpheus und damit der »infirme Dichter« (ebd.) zu sein, der indes durchaus mit der fragmentierten Seherfigur vergleichbar ist. Dieser stellt hierzu keinen Gegensatz dar, da Seherfiguren bei Trakl wie Orpheus aus isolierten einzelnen Körperteilen bestehen und damit das Prinzip der Fragmentierung präsentieren. Ferner sind beide zur kontemplativen Schau bzw. zu einem gerechten Anschauen befähigt. In Anlehnung an Trakls Vorbild Arthur Rimbaud (vgl. Grimm 1959) werden – wie oben ausgeführt – thematisch die Bereiche »Arkadien und Golgatha« (Böschenstein 1999, 84) nebeneinandergestellt. Wie bei Hölderlin und Rimbaud werden antike und christliche Motive und Figuren aufgerufen, beispielsweise der »Sohn des Pan« (V. 5) und »ein bleicher Engel« (V. 45) und »ein eherner Engel« (V. 65). Auch in stilistischer Hinsicht lassen sich Einflüsse Rimbauds verzeichnen, etwa die auffällige Reihung von »Es ist«-Sätzen, die sich auch in Trakls in freien Langversen komponiertem Gedicht »Psalm« (I) finden (vgl. Böschenstein 1999, 85). Insbesondere das Motiv des Aussatzes lässt sich auf Rimbauds Bethesda-Szene beziehen. Während bei Hölderlin ein Durchgang durch (Christi) Tod zum eigenen Gesang in einen »Zukunftsglauben« (ebd., 91) mündet, scheinen Trakls Verse dies geradezu zu widerrufen oder zumindest in der Schwebe zu lassen. Betont man die motivische und sich in der sprachlichen Gestaltung des Gedichts niederschlagende spannungsreiche Gleichzeitigkeit des Disparaten (Antike – Christentum, Martyrium – Auferstehung, Arkadien – Golgatha, Verfall / Wahnsinn und Frieden / Ruhe, Nebeneinander – Progression) in diesem Gedicht, so scheint eine Offenheit des Schlusses im Sinne der Gleichzeitigkeit des Ungleichen durch.

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Andere Dichter, die sich ebenfalls für visionäre Figuren und Poetiken interessieren, zeigen sich fasziniert von diesem Gedicht, etwa Rainer Maria Rilke, da ihm das »Helian«-Gedicht nicht nur das »grenzenlos Wortlose« (von Ficker 1986–1996, II, 87) vorstellt, sondern er überdies in dieser rätselhaft prophetischen Figur die »linoshaft Mÿthische[n]« (ebd.) Gestalt Trakls zu erkennen vermeint.

Literatur Baßler, Moritz: Wie Trakls Verwandlung des Bösen gemacht ist. In: Hans-Georg Kemper: Gedichte von Georg Trakl. Stuttgart 1999, 121–141. Böschenstein, Bernhard: Helian. Arkadien und Golgatha. In: Hans-Georg Kemper (Hg.): Gedichte von Georg Trakl. Stuttgart 1999, 84–95. Degner, Uta: ›Infirme‹ Autorschaft. Trakls Helian als poetologischer Selbstentwurf: In: Uta Degner/Hans Weichselbaum/Norbert Christian Wolf (Hg.): Autorschaft und Poetik in Texten und Kontexten Georg Trakls. Salzburg/Wien 2016, 95–115.

G. Wacker Ficker, Ludwig von: Briefwechsel. 4 Bde. Hg. von Ignaz Zangerle, Walter Methlagl, Franz Seyr und Anton Unterkircher. Innsbruck 1986–1996. Fiedler, Theodore: Trakl and Hölderlin. A study in influence. Washington 1969. [Diss. [Masch.]]. Grimm, Reinhold: Georg Trakls Verhältnis zu Rimbaud. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift, N.F. 9 (1959), 288–315. Heinrich, Karl Borromaeus: Die Erscheinung Georg Trakls. In: Erinnerung an Georg Trakl. Zeugnisse und Briefe. Salzburg 21959, 91–110. Neymeyr, Barbara: Trakls lyrische Quintessenz. Poetologische Décadence-Reflexion und Hermetik in seinem Gedicht »Helian«. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 121 (2002), 529–547. Rainer, Ulrike: Georg Trakls Elis-Gedichte. Das Problem der dichterischen Existenz. In: Monatshefte 72 (1980), H. 4, 401–415. Sauermann, Eberhard: Zyklische Strukturen in Trakls »Helian«. In: Károly Csúri (Hg.): Zyklische Kompositionsformen in Georg Trakls Dichtung. Szegeder Symposion. Tübingen 1996, S. 169–187. Wacker, Gabriela: Poetik des Prophetischen. Zum visionären Kunstverständnis in der Klassischen Moderne. Berlin/Boston 2013. Wild, Ariane: Poetologie und Décadence in der Lyrik Baudelaires, Verlaines, Trakls und Rilkes. Würzburg 2002.

Teil IX

Werk: Lyrische Dichtungen III – Sebastian im Traum (1915)

Zum Aufbau des Zyklus Sebastian im Traum

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Marlen Mairhofer

Entstehung und Veröffentlichung Am 6.3.1914 sendet Georg Trakl, seiner »kon­ traktlichen Verpflichtung gemäß, […] das Manuskript eines neuen Gedichtbandes ›Sebastian im Traum‹« (ITA V.2, 573) an den Kurt Wolff Verlag in Leipzig. Die Veröffentlichung der Gedichte liegt zwar erst ein Jahr zurück, dennoch ist davon auszugehen, dass beinahe sämtliche der Texte in Sebastian im Traum – jedenfalls in einer ersten Fassung – ab April 1913 entstanden (vgl. Millington 2020a, 134 f.). Trakl ist in dieser Zeit nicht nur in Innsbruck, Salzburg und Wien, sondern auch auf Reisen in Venedig, am Gardasee und in Berlin (vgl. HKA II, 818). Das Erscheinen von Sebastian im Traum wird er nicht mehr erleben. Ein Missverständnis lässt ihn Ende August 1914 glauben, der Band sei bereits veröffentlicht. Schon auf dem Weg ins Feld bittet er Ludwig von Ficker von Wien aus am 26.8. brieflich, ihm ein Exemplar zukommen zu lassen. Anfang September 1914 teilt der stellvertretende Leiter Georg Heinrich Meyer dem Autor mit, dass der Verlag, dessen Gründer Kurt Wolff zu diesem Zeit-

M. Mairhofer (*)  Salzburg, Österreich

punkt selbst an der Front stehe, von einer Auslieferung des Buches vorerst absehen wolle: »Es jetzt zu versenden würde ich für verfehlt halten, denn momentan ruht der eigentliche Buchverlag […] und es wäre herz- und lieblos von uns, […] wenn wir das schöne Buch jetzt versenden würden« (ITA V.2, 673). Am 25.10.1914, weniger als zwei Wochen vor seinem Tod, bittet Trakl den Verlag von seinem Krankenbett in Krakau aus ein letztes Mal telegraphisch um Zusendung des Bandes; sie würde ihm »grosse Freude bereiten« (ebd., 680). Dazu kommt es nicht mehr; Meyer bleibt nur noch, Ludwig von Ficker am 11.11.1914 für die Verständigung über Trakls Tod zu danken und ihm mitzuteilen, dass Sebastian im Traum zu Weihnachten erscheinen solle: »Ich habe mich gefreut, daß es mir möglich war, Trakls Schwester noch ein Exemplar vorab für ihn fertig zu stellen« (ebd., 674). An Grete Langen-Trakl gehen mit 160 Mark auch der zweite Teil des Honorars von insgesamt 400 Kronen, das Trakl für den Band vereinbart hatte. Aus Geldnot hatte er eine Einmalzahlung einer prozentualen Beteiligung am Gewinn vorgezogen und die Hoffnung geäußert, der Verlag möge seinen Band als selbstständige Publikation herausgeben – und nicht etwa im Rahmen einer Serie (ebd., 592). Tatsächlich erscheint das Buch erst im Jahr 1915, mit dem Druckvermerk 1914. Freilich haben nicht nur der Ausbruch des Ersten Weltkriegs und dessen von Meyer angeführte Auswirkungen auf das Verlagswesen die Publi-

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_42

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M. Mairhofer

Abb. 42.1  Kurt Wolff an Trakl, 6.4.1914; Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Nachlass Ludwig von Ficker.

kation von Sebastian im Traum verzögert, sondern auch Trakls zahlreiche Änderungswünsche und Korrekturen, die er dem Verlag im Laufe des Frühjahrs 1914 übermittelt.

Entwicklung der Textgestalt Am 7.4.1914, vier Wochen nach der ersten Einreichung des Manuskripts, bittet Trakl »umgehend« (ebd., 589) um eine Rückmeldung vonseiten des Verlags und begründet die Dringlichkeit mit dem Wunsch, »einige umgehend nötige

Änderungen« (ebd.) vornehmen zu wollen (die ungeduldige Nachfrage überkreuzt sich dabei mit der Annahmebestätigung des Verlegers vom 6.4. [Abb. 42.1]). Am 16.4. nimmt Trakl den Honorarvorschlag Kurt Wolffs an, bittet aber im selben Brief um rasche Rücksendung des Manuskripts, um die bereits angekündigten Änderungen einarbeiten zu können, darunter, so Trakl, die Einfügung von fünf Gedichten, die während seines Berlinaufenthalts (Mitte März 1914) entstanden seien (es handelt sich dabei um das zunächst noch fünfteilige Gedicht »Abendland« [II]). Im Mai retourniert Trakl den Vertrag und

42  Zum Aufbau des Zyklus Sebastian im Traum

teilt dem Verlag mit, dass er nach Durchsicht der Druckproben eine »Antiqua Type« bevorzuge, »die ein ruhiges […] dem Wesen der Gedichte angemessenes Schriftbild gibt« (ebd., 604). Als Beispiel schickt er Korrekturbögen von Gedichten Albert Ehrensteins. Anfang Juni 1914 übersendet Trakl eine stark überarbeitete und gekürzte Fassung von »Abendland« (II) in der Hoffnung, das Gedicht sei aufgrund seiner Platzierung gegen Ende des Buches noch nicht gesetzt (vgl. ebd., 616). Die Modifikationen, die Trakl zwischen März und Juni 1914 vornimmt, reichen demnach von der globalen Struktur des Bandes über Fragen der Type und des Satzes bis hin zur Zeichensetzung. Der Aufbau des Buches verändert sich im Zuge dieses Prozesses grundlegend. In der am 6.3.1914 übergebenen Fassung ist Sebastian im Traum noch in drei statt in fünf Abschnitte geteilt. Diese erste Gliederung ist durch zwei Quellen belegt: das Tagebuch Karl Röcks, der von einer Dreiteilung des Bandes durch Prosastücke berichtet (Röck 1976, I, 181), sowie ein von Karl Borromäus Heinrich niedergeschriebenes Inhaltsverzeichnis (ITA VI, 205– 207). Röck berichtet, er habe Trakl treffen wollen, um den Aufbau von Sebastian im Traum zu besprechen, Trakl hätte das Manuskript aber bereits an den Verlag geschickt (Röck 1976, I, 181). Heinrichs handschriftliche Aufzeichnungen geben den zunächst vorgesehenen Aufbau des Bandes im Detail wieder. Hermann Zwerschina geht davon aus, dass es sich dabei um einen (von Trakl zunächst akzeptierten, bald darauf jedoch verworfenen) Gliederungsvorschlag Heinrichs handelt, Trakl sich also sowohl von Heinrich als auch von Röck Ideen für die Anordnung des Bandes erbeten hatte (Zwerschina 1990, 50). Eine andere Erklärung für die Überlieferung durch Heinrich ist, dass dieser das Inhaltsverzeichnis des Manuskripts vom 6.3.1914 abgeschrieben hat (eine These, die für Zwerschina weder belegt werden kann noch logisch erscheint). Er dürfte sich dabei in jedem Fall um die Gliederung handeln, die Trakl im März 1914 an den Verlag schickte (vgl. ebd., 49–51).

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Aufbau Heinrichs Aufzeichnungen zufolge ist Sebastian im Traum zunächst in drei titellose Abschnitte geteilt. Der erste enthält 25 Texte, der zweite 15, der dritte 9. Schon in dieser Version bildet »Kindheit« (II) den Auftakt der Sammlung; die Prosatexte »Verwandlung des Bösen«, »Winternacht« und »Traum und Umnachtung« beschließen je einen der Teile (für eine genaue Auflistung vgl. ITA VI, 205–207). Die 1915 erschienene Fassung von Sebastian im Traum teilt sich hingegen in fünf nach Einzeltexten benannte Zyklen. Auf Basis des Briefwechsels zwischen Trakl und dem Kurt Wolff Verlag sowie einigen nicht erhaltenen, aber als notwendig angenommenen Briefen, teilt Zwerschina die Entstehung von Sebastian im Traum in vier Phasen: Die erste Phase bezeichnet den Status des Manuskripts vom 6.3.1914, wie Trakl es an den Verlag schickte. Die Teilung des Bandes in fünf Zyklen müsse in einem (nicht erhaltenen) Brief vor dem 18.5. erfolgt sein, »da aus der späteren Korrespondenz ein entsprechender Wunsch Trakls nicht bekannt ist« (Zwerschina 1990, 56). Dieser »Brief X1« (ebd., 52) markiert die zweite Phase. Ein weiterer Brief vom 10.6.1914, der Streichungen und Neuordnungen enthält, bildet Phase drei. Phase vier betrifft die Entfernung eines erst in der vorhergehenden Phase eingefügten Gedichts (»Nachtseele«), für die Zwerschina einen verschollenen Brief Trakls nach dem 12.6.1914 annimmt. In der zweiten Überarbeitungsphase wird der erste Teil der ursprünglichen Gliederung auf zwei Zyklen aufgeteilt, die Gedichte »Am Abend« (I) und »Gericht« fallen weg. Teil zwei wird (unverändert) zu Zyklus drei, Teil drei zu Zyklus IV, »Traum und Umnachtung« zum eigenständigen, den Band beschließenden Zyklus. In den nunmehrigen Zyklus IV werden die Gedichte »Abendland« (II), »Gesang des Abgeschiedenen«, »Im Dunkel« und »In Hellbrunn« eingefügt. Was Trakls Änderungen an seinem Band verkompliziert, ist der Umstand, dass er manche Gedichte zwar für eine be-

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stimmte Zeit aus dem Band streicht, am Ende aber doch wieder in diesen aufnimmt. Dies wird besonders in der dritten Überarbeitungsphase deutlich, in der Trakl weitgreifende Änderungen an Zyklus IV vornimmt. Mit dem Brief vom 10.6. verschiebt er »Ein Winterabend« von Zyklus IV in Zyklus I, wo es »Trauer« ersetzt, das damit gestrichen wird. Aus dem Band entfernt werden außerdem »In Hellbrunn«, »Sommer«, »Sommersneige«, »Ausgang« und »Am Rand eines alten Brunnens«, wobei »Sommer« und »Sommersneige« schließlich doch in die publizierte Fassung aufgenommen werden. Trakl fügt in diesem Arbeitsschritt auch neue Gedichte ein: »Gesang einer gefangenen Amsel«, »Jahr«, »Nachtseele« und »Vorhölle«, wobei »Nachtseele« – wie oben erwähnt – in Arbeitsphase vier wieder gestrichen wird (vgl. ebd., 55–57). Trakls Brief vom 10.6. lässt keinen Zweifel an der Wichtigkeit der Änderungen: Er schreibt, dass ihm »außerordentlich daran liegen würde. Die betreffende Abteilung des Buches würde in dieser neuen Fassung unvergleichlich geschlossener und besser sein« (ITA V.2, 627). Im Juli übermittelt Trakl in zwei weiteren Briefen seine Korrekturen der Bürstenabzüge. Sie enthalten die Verbesserung eines falschen Wortlauts und eigenmächtig gesetzter Bindestriche sowie die Bitte, ein leeres Blatt zwischen die letzte Textseite und das Inhaltsverzeichnis zu setzen (ebd., 649). Rüdiger Görner interpretiert diese bewusst gesetzte Leerstelle am Ende des Buches als »Generalpause« und »Besinnungszone« (Görner 2014, 186). Angesichts der Fünfteilung des Bandes hält er es für nicht verfehlt, »von einer fünfaktigen lyrischen Tragödie zu sprechen« (ebd.). Der erste der Zyklen, der wie der Band den Titel Sebastian im Traum trägt, besteht aus vierzehn Gedichten in freien Rhythmen sowie dem Text »Verwandlung des Bösen«. Das titelgebende Gedicht bildet hier – im Gegensatz zu den anderen Zyklen, wo es jeweils als letzter (lyrischer) Text am Ende steht – den Mittelpunkt des Abschnitts. »Der Herbst des Einsamen« setzt sich aus acht überwiegend gereimten Gedichten (ungereimt ist lediglich das Eingangsgedicht »Im Park«) mit festem Metrum zusammen. »Siebengesang des Todes« ver-

M. Mairhofer

sammelt, wie schon der erste Zyklus, vierzehn freirhythmische Gedichte und den Prosatext »Winternacht«; »Gesang des Abgeschiedenen« umfasst elf freirhythmische Gedichte. Der Band schließt mit der Prosadichtung »Traum und Umnachtung«. Erster und dritter, zweiter und vierter Zyklus stehen in symmetrischem Verhältnis zueinander: »Sebastian im Traum« und »Siebengesang des Todes« beinhalten dieselbe Anzahl an Texten, in »Der Herbst des Einsamen« und »Gesang des Abgeschiedenen« stehen die Titelgedichte jeweils am Ende des Zyklus. Als Herausgeber der ersten Gesamtausgabe (Die Dichtungen von Georg Trakl, 1919) nimmt Karl Röck weitreichende Änderungen am Aufbau des Bandes vor, sodass sich die in Sebastian im Traum zusammengestellten Texte bei Röck auf zwei Teile aufteilen. Er gliedert Gedichte ein, die nach Drucklegung des Bandes im Brenner erschienen (Röck begreift sie als eigenen Zyklus, den er unter dem Titel »Offenbarung und Untergang« ans Ende des dritten Teils stellt), und orientiert sich in der Anordnung an chronologischen, thematischen und formalen Kriterien. Unter anderem platziert er die Titelgedichte in der Mitte ihres jeweiligen Zyklus und durchbricht die Chronologie, um exponierte Positionen wie Anfangs- und Schlussgedichte gezielt zu besetzen. In der Reihung der Zyklen dominiert der Entwicklungsgedanke. Ziel ist eine Vervollkommnung dessen, was Trakl selbst vorgelegt hatte. Röck legitimiert sein Vorgehen damit, dass seine nachträgliche Neuordnung der Gedichte (1913) die Zustimmung des Autors gefunden hatte, und geht davon aus, dass schon Trakls eigene Organisation des Sebastian im Traum an seine Ordnungskriterien angelehnt gewesen sei. In deren Zentrum steht Röcks sogenannte ›Morpharithmik‹, in der die Zahl sieben einen wesentlichen Stellenwert einnimmt, weswegen Röck sieben bzw. siebzehn Gedichte zu einem Zyklus zusammenstellt. »Gesang des Abgeschiedenen« zerfällt in sieben vor und sieben nach dem titelgebenden Gedicht platzierte Texte (vgl. Röck 1926, 176–198). Bis zum Erscheinen der HKA wurde Sebastian im Traum vielfach in Röcks Gliederung rezipiert, zumal auch Wolfgang Schneditz sie unverändert in

42  Zum Aufbau des Zyklus Sebastian im Traum

seine Gesamtausgabe (1948–1951) übernimmt. Walther Killy und Hans Szklenar wenden sich mit Verweis auf Trakls Sorgfalt bei der Komposition des Bandes dezidiert von Röcks Neuordnung ab, drucken Sebastian im Traum in der von Trakl autorisierten Reihenfolge und stellen sämtliche Fassungen in den Anhang (vgl. HKA II, 23). Die von Eberhard Sauermann und Hermann Zwerschina herausgegebene Innsbrucker Ausgabe geht, ihrer genetischen und prozessorientierten Ausrichtung entsprechend, streng chronologisch vor und löst die von Trakl hergestellte Ordnung damit gezwungenermaßen auf, gibt die vom Autor selbst zusammengestellten Sammlungen Gedichte und Sebastian im Traum aber zusätzlich als Supplementbände bei.

Interpretationsansätze Der Aufbau von Trakls zweitem Gedichtband gibt Anlass zu vielfältigen Lesarten, die im Folgenden kurz Erwähnung finden sollen, da sie die Abfolge der Zyklen und Einzeltexte unter verschiedenen Gesichtspunkten näher beleuchten. Sie befassen sich sowohl mit formalen Charakteristika wie Makrostruktur und Zyklusbildung als auch mit narrativen Strukturen und motivischen Konstanten. Gunter Kleefeld geht davon aus, dass Zahlenmystik nicht erst seit seiner Bekanntschaft mit Röck eine wichtige Rolle für Trakl gespielt habe. Kleefeld versucht durch mathematische Aufschlüsselungen nachzuweisen, dass Trakl den Aufbau von Sebastian im Traum bis auf Buchstabenebene zahlenkompositorisch geplant habe: Die Sieben sei dabei das maßgebliche Ordnungsprinzip. Um seine These aufrechterhalten zu können, muss Kleefeld allerdings davon ausgehen, dass der Band zwei weitere Gedichte mit einer klar definierten Versanzahl hätte enthalten müssen, die nun verschollen seien (vgl. Kleefeld 1996, 227–289). Richard Millington begründet die Struktur hingegen werkintern und hält fest, Trakl habe sich bewusst oder unbewusst an seinem Langgedicht »Helian« orientiert und von diesem

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nicht nur die Fünfteilung übernommen, sondern auch die Hinwendung zu freien Rhythmen, zahlreiche (christliche) Motive und die Strategie, Figuren in seinen Gedichten Eigennamen zu geben (vgl. Millington 2020b, 603– 620). Die Platzierung der Titelgedichte am oder gegen Ende ihrer jeweiligen Zyklen liest Millington als »movement towards an end point, which in his [Trakl’s] poetic universe is invariably equated with increasing darkness and corruption« (Millington 2020a, 140). Diese Entwicklung vollziehe sich auch auf inhaltlicher Ebene. Die harmonische, mit der Kindheit assoziierte Naturbezogenheit des ersten Zyklus weiche im zweiten und dritten Zyklus physischem Verfall und metaphysischer Entfremdung, während der vierte eine Selbststilisierung- und Positionierung des sprechenden Ich als »a solitary singer of sad songs« (ebd., 141) darstelle. In »Traum und Umnachtung« kapituliere dieses Ich mit dem Rückzug in die Liminalität des Traums vor den atrophischen Kräften. Analog dazu interpretiert Millington die Positionierung der Prosatexte am Ende der Zyklen eins und drei sowie am Ende des Bandes als Auflösung lyrischen Sprechens (ebd.). Sieglinde Klettenhammer kommt zu dem Schluss, dass Trakls Anordnungsprinzip zwar »eine Progression hin zu ›Nacht‹, ›Dunkel‹ und ›Untergang‹ erkennen läßt«, aber »Antworten auf die komplementären Pole von Untergangsvision und Heilserwartung ausspart« (Klettenhammer 1996, 179). Die Frauenfiguren des zweiten Zyklus, die Fjodor Dostojewskijs Verbrechen und Strafe (1866) entlehnte Sonja und die aus der christlichen Legendendichtung stammende Afra, seien Gegenfiguren zu Elis, Sebastian und Kaspar Hauser aus Sebastian im Traum, deren kindliche, geschlechtslose Harmonie in »Der Herbst des Einsamen« in die »Verstrickungen der Geschlechtlichkeit« (ebd., 180) überführt werde. Die Zyklusbildung funktioniere in erster Linie über die Wiederaufnahme bestimmter Motive und lexikalischer Strukturen, mittels eines begrenzten Figureninventars sowie Hölderlin-Zitaten, wobei die in »Siebengesang des Todes« und »Gesang des Abgeschiedenen« zentralen Motive Tod, Schlaf, Traum und Entrückung nicht als Er-

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lösung gedacht würden, wie »Traum und Umnachtung« zeige (ebd., 181). Károly Csúri, der »Schemastrukturen als poetologische Konstruktionsprinzipien« Traklscher Dichtung untersucht (Csúri 2016, 91), zeigt, wie »quasi narrative Zusammenhänge zwischen den einzelnen Textwelten« (ebd.) Teile und Ganzes von Sebastian im Traum miteinander verbinden. Eine zentrale Rolle nehmen dabei Schemata von Heil und Unheil sowie Schuld und Unschuld ein, die häufig mit tagesund jahreszeitlichen Abläufen korrespondieren und so scheinbar individualgeschichtlichen Prozessen und Empfindungen eine kollektivgeschichtliche Dimension verleihen. Csúri legt Wert darauf, der Abfolge der Zyklen nicht vorschnell eine Art teleologischer Narrativität zu unterstellen, die in einer heilen Kindheit beginnt und im Verfall endet. Spannungen und Übergänge zwischen gegensätzlichen Polen wie Leben und Tod, Traum und Wachen, Tag und Nacht usw. fänden sich in jedem der Texte, ohne dort endgültig aufgelöst zu werden (vgl. ebd., 278–280).

M. Mairhofer

Literatur Csúri, Károly: Konstruktionsprinzipien von Georg Trakls lyrischen Textwelten. Bielefeld 2016. Görner, Rüdiger: Georg Trakl. Dichter im Jahrzehnt der Extreme. Wien 2014. Kleefeld, Gunther: Maß und Gesetz. Zahlenkompositorik in Georg Trakls Gedichtband Sebastian im Traum. In: Károly Csúri (Hg.): Zyklische Kompositionsformen in Georg Trakls Dichtung. Tübingen 1996, 227–289. Klettenhammer, Sieglinde: Zyklusbildung – (k)ein Kompositionsprinzip der Dichtungen Georg Trakls? In: Hans Weichselbaum und Walter Methlagl (Hg.): Deutungsmuster. Salzburger Treffen der Trakl-Forscher 1995. Salzburg 1996, 151–190. Millington, Richard: The Gentle Apocalypse. Truth and Meaning in the Poetry of Georg Trakl. Melton 2020 (=Millington 2020a). Millington, Richard: Macro Trakl: Structural Parallels between Helian and Sebastian im Traum. In: German Life and Letters 73/4 (2020), 603–620 (=Millington 2020b). Röck, Karl: Über die Anordnung der Gesamtausgabe von Trakls Dichtungen. In: Erinnerung an Georg Trakl. Innsbruck 1926, 176–198. Röck, Karl: Tagebuch 1891–1946. Hg. von Christine Kofler. Drei Bände. Salzburg 1976. Zwerschina, Hermann: Die Chronologie der Dichtungen Georg Trakls. Innsbruck 1990.

»Kindheit« (II) (1913)

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Paul Keckeis

Unmittelbar vor Dienstantritt in der Fachrechnungsabteilung des Kriegsministeriums in Wien hielt sich Trakl zwischen dem 20. Juni und dem 13. Juli 1913 in Salzburg auf. Hier entstand eine Gruppe von Gedichten, die in ihrer Ambivalenz zwischen Idylle und Verfall thematische und motivische Interferenzen aufweisen: »Melancholia«, »Der Herbst des Einsamen«, »Am Rand eines alten Brunnens« und »Kindheit« (II). Die Überlieferungslage – mit Ausnahme von »Melancholia« sind keine Entwürfe oder Vorarbeiten zu den genannten Gedichten erhalten – gibt keine detaillierteren Hinweise auf den textgenetischen Zusammenhang. »Kindheit« ist in fünf Textstufen erhalten, die sich in Orthographie und Interpunktion nur geringfügig unterscheiden, dem Inhalt nach identisch sind (vgl. ITA III, 28 f.). Erster überlieferter Textzeuge ist ein Typoskript, das Trakl am 8. Juli 1913 einem Brief an Ludwig von Ficker beigelegt haben dürfte; erstmals veröffentlicht wurde das Gedicht am 15. Juli 1913 im Brenner; der zweite Abdruck erfolgte im November desselben Jahres in der von Erhard Buschbeck und Robert Müller zusammengestellten Lyrikantho-

P. Keckeis (*)  Institut für Germanistik, Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, Klagenfurt am Wörthersee, Österreich E-Mail: [email protected]

logie Die Pforte; zudem bildet »Kindheit« (II) den Auftakt der posthum publizierten Sammlung Sebastian im Traum. Allein der Titel des Gedichts eröffnet einen weiten intra- und intertextuellen Assoziationsraum, der hier nur angedeutet werden kann: Trakl hat zu Beginn des Jahres ein fragmentarisch überliefertes Gedicht »Kindheit« (I) verfasst, das einige Motive – Vogel, Herbst, Seele – des späteren Gedichts in nuce enthält, aber anders konfiguriert. Rimbaud und Rilke haben Gedichte desselben Titels vorgelegt, die Trakl bekannt gewesen sein dürften. Die besondere Komplexität von »Kindheit« (II) liegt in der konstitutiven Spannung, die sich in der Überlagerung zweier Zeitebenen entfaltet: in der Gegenwart angesiedelt wird eine Folge von Szenen dargestellt, deren pastorale Elemente – Holunder, Höhle, Felsen, Pfad, blaues, tönendes Wasser, Vogel, Hirte, Hügel, Sonne und Wild – ins Zeichen des Herbstes, der Vergänglichkeit und des Verfalls gerückt sind. Zugleich wird in diesen Bildern die Erinnerung an einen vormals idyllischen Zustand, der mit den Früchten des Holunders, mit Frühling und Kindheit assoziiert wird, präsent gehalten. Die formale Gestaltung des Gedichts korrespondiert dieser motivischen Ambivalenz. »Kindheit« besteht aus fünf Strophen, wobei die erste und letzte Strophe jeweils vier Verse, die mittleren Strophen jeweils drei Verse enthalten. Während die Strophenverteilung symmetrisch ist,

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variiert die Verslänge zwischen neun und zwanzig Silben, die letzten beiden Verse sind zugleich die längsten. Die ersten beiden Strophen weisen ausschließlich männliche Kadenzen, die weiteren drei Strophen mit Ausnahme des dritten Verses der vierten Strophe ausschließlich weibliche Kadenzen auf. Der metrisch so markierte Vers – »Und in heiliger Bläue läuten leuchtende Schritte fort« – ist zudem durch den dreifachen eu / äu-Diphthong deutlich hervorgehoben; nach demselben Prinzip wird jener unwiederbringliche harmonische Zustand nicht allein durch das (substantivierte) Farbwort, sondern an verschiedenen Stellen im Gedicht zudem lautlich evoziert: »bräunlich«, »saust« (V. 3), »Rauschen«, »Laub« (V. 4), »Augenblick« (V. 11), »Waldsaum« (V. 12). Im Zuge der literaturwissenschaftlichen Rezeption von »Kindheit« (II) wurde immer wieder auf die Ambivalenz zwischen Idylle und Verfall hingewiesen. Schon Heinz Wetzel hat ausgeführt, dass bei Trakl oft eine »Mischung des Paradiesischen mit dem Verfallenen und Verworfenen« auftrete, dass sich das »Paradies der Kindheit« in seinen Gedichten als Erinnerung an ein Vergangenes konturiere, das »mittels des Gedichts Gegenwart« werde (Wetzel 1966, 112). Ähnlich hat zuletzt Eva Thauerer darauf hingewiesen, dass solche »Sinnbilder des Erinnerns« für die späte Lyrik Trakls zen­tral sind (Thauerer 2009, 145). Ihrer Deutung zufolge aktualisiert Trakls Gedicht die genannten Elemente der pastoralen Tradition als »unwirklich ferne[] ›Reste‹ […] einer ehemals heilen Welt« und veranschauliche damit »die Einsamkeit all dieser ursprünglich idyllischen Relikte, die der glücklichen Gemeinschaft und Einheit entbehren, aber auch die Einsamkeit dessen, der die Bilder und Stimmungen wahrnimmt oder in Erinnerung ruft« (ebd., 153 f.). Ungeachtet dessen, dass Thauerer ihre Lektüre von »Kindheit« (II) für eine Polemik gegen die Trakl-Philologie zum Anlass nimmt – die bislang vorliegenden Interpretationen charakterisiert sie als Beleg einer »hermeneutische[n] Unzulänglichkeit der Rezipienten« (ebd., 147) – hat bereits Károly Csúri eine ähnliche Einordnung des Gedichts vorgenommen. Csúri konstatiert die »Vor-

P. Keckeis

herrschaft des herbstlichen Verfalls«, Kindheit figuriere in Trakls Gedicht als »ein virtueller, ein nie bekannter und verlorengegangener Zustand« (Csúri 1996, 74). Darüber hinaus setzt Csúri »Kindheit« zu Trakls Elis-Gedichten in Beziehung: »In dem Gestalthaften und zugleich Gestaltlosen des Seelischen läßt sich unschwer die mögliche Vorform von Elis, in der heiligen Bläue die ›elishafte‹-Existenzform des Ich erkennen« (ebd., 76). Alfred Doppler stützt sich in seiner Interpretation auf Csúris Lesart, deutet die Ambivalenz des Gedichts, in dem er eine Reminiszenz an Hölderlins Hyperion erkennt, aber positiv. Im »Nacherleben und Nachempfinden einer mythischen Kindheit« (Doppler 2001, 48) halte das Gedicht die »Möglichkeit harmonischen Menschseins« (ebd., 47) selbst in einer dunklen Gegenwart präsent. Der zentrale Vers von »Kindheit« – »Ein blauer Augenblick ist nur mehr Seele« – enthalte eine lyrische Realisierung dessen, »was Präexistenz bedeutet: reine Innerlichkeit, magische Kindhaftigkeit als Ausdruck einer in sich ruhenden, der Vergänglichkeit enthobenen Gegenwart und das Ineinanderfließen von Ich und Welt« (ebd.). Es liegen eine Reihe weiterer Interpretationen von »Kindheit« (II) vor, die jeweils verschiedene Akzente setzen. So widmet sich Hartmut Cellbrot in einem close reading des Gedichts vor allem seiner »Subjektstruktur«. »Kindheit« sei in einer »Sphäre der Intrasubjektivität« angesiedelt und arbeite verschiedene »Modi des Sichzusichverhaltens« durch, allerdings ohne dabei kanonische »Formen der Innerlichkeit« nachzuvollziehen; Trakls Gedicht sei weder Ausdruck von Subjektivierung noch ein Medium »ichloser Vorgänge«, sondern repräsentiere eine »Zwischensphäre«, in der »Erfahrungen der Selbstzeitigung« möglich werden, »die nicht mehr nach dem Subjekt-Objekt-Modell« funktionieren (Cellbrot 1995, 38). Angelika Overath, die den hermetischen Charakter des Gedichts betont, deutet »Kindheit« (II)als einen Schlüsseltext nicht nur der Traklschen Farbmetaphorik, sondern insgesamt der Blau-Symbolik in der Tradition der Moderne. Overath zufolge ist im »Blau-Komplex« (Overath 1987, 122) des Gedichts eine utopische Vokation

43  »Kindheit« (II) (1913)

enthalten: »Blau ist an keinen Ort der Natur gebunden. Wenn es aber in der Seele erscheint, sind Ort und Farbe wieder identisch, oder, anders gesagt, beide sind als kurze zeitliche Erlebnis-Einheit, als ›Augenblick‹ aufgehoben« (ebd., 125). Overath konstatiert desweiteren einen intertextuellen Bezug zu Novalis’ Heinrich von Ofterdingen: »die Struktur der geschlossenen und sich öffnenden blauen Höhle« und der in beiden Texten sich ereignende »Umschlag in einen mit der Farbe Gold gekennzeichneten Zustand« (ebd., 133) ließen in Trakls Gedicht eine Form des »Gedenkens an Novalis« (ebd., 132– 136) erkennen. Darüber hinaus rückt Overath Trakls »Bildkonstellation der ›blauen Höhle‹« (ebd., 141) in die Nähe der zeitgenössischen Farblehre Wassily Kandinskys. In Erweiterung der hier skizzierten, bereits vorliegenden Interpretationen legt »Kindheit« (II) – gerade mit seiner intratextuellen Nähe zu den »Elis«-Gedichten – zudem eine kulturhistorische Kontextualisierung der Traklschen Präexistenz unter Berücksichtigung des Kindheitsdiskurses um 1900 nahe. Bei Trakl erscheint die idealisierte Kindheit, entgegen zeitgenössischer Konjunkturen, in ihrer letztlichen Unverfügbarkeit lediglich als Projektionsfläche

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einer retrotopischen Sehnsucht. Ungeachtet dieser verschiedenen Interpretationsakzente belegt die hier skizzierte Deutungsgeschichte jedenfalls die zentrale Stellung des Gedichts innerhalb des Œuvres; die prominente Platzierung als Auftaktgedicht zu Sebastian im Traum deutet darauf hin, dass die Rezeption hier Trakls eigener Einschätzung folgt.

Literatur Cellbrot, Hartmut: Das Gedicht als Epizentrum des Ich. Zu Georg Trakls Gedicht »Kindheit«. In: Jahrbuch Ostrava 1 (1995), 29–39. Csúri, Károly: Existenzsphären des Ich. Ein Beitrag zum Aufbau der Gedichtwelten bei Georg Trakl. In: Hans Weichselbaum/Walter Methlagl (Hg.): Deutungsmuster. Salzburger Treffen der Trakl-Forscher 1995. Salzburg 1996, 69–102. Doppler, Alfred: Die Lyrik Georg Trakls. Beiträge zur poetischen Verfahrensweise und zur Wirkungsgeschichte. Salzburg/Wien 2001. Overath, Angelika: Das andere Blau. Zur Poetik einer Farbe im modernen Gedicht. Stuttgart 1987. Thauerer, Eva: Erinnerung an erzählte Legenden. Georg Trakls Gedicht »Kindheit«. In: Euphorion 103/2 (2009), 145–159. Wetzel, Heinz: Zum Verständnis der Dichtungen Trakls. In: Monatshefte 58/2 (1966), 97–114.

»Stundenlied« (1913)

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Björn Hayer

Frühester Textzeuge des Gedichts ist ein Typoskript, das zwischen dem 6. und 18. Mai 1913 entstanden sein dürfte (vgl. ITA II, 456). Später riss es Trakl in drei Teile, wobei er auf den Rückseiten handschriftliche Entwürfe seiner Gedichte »Afra« und »Schwesters Garten« hinterließ. Erschienen ist die letzte Fassung im Band Sebastian im Traum. Eine Korrekturfahne, die der Kurt Wolff Verlag 1914 an Trakl schickte, gilt indessen als verloren. Hinsichtlich der Bearbeitung fällt auf, dass Trakl in der zweiten und dritten Textstufe insbesondere Änderungen in Strophe zwei vornahm. Diese beziehen sich sowohl auf die Versanzahl sowie den Wortlaut. Das Gedicht spiegelt den Verlust des Kindes bzw. der Kindheit in einer herbstlich-morbiden Landschaft wider. Proleptisch weisen bereits die ersten Verse des aus zwei Sextetten und zwei Terzetten zusammengesetzten Poems auf den »verstorbenen Knaben« hin (ITA II, 462). Obgleich die »Liebenden« appositiv mit Engelsattributen – »die Blonden, Strahlenden« – assoziiert werden, dominiert die »Finsternis« der Umgebung. Diese Antithetik prägt den gesamten Text, etwa in interpolaren Setzungen wie »Saum und Schwärze« oder dem »dunkle[n] Gold«. Die

B. Hayer (*)  Institut für Germanistik, RPTU Landau, Landau, Deutschland E-Mail: [email protected]

beiden Liebenden »umschlingen« sich und verlieren scheinbar einander. Das Zerfallsszenario wird dabei im ästhetizistischen Duktus als Akt einer verkehrten Schönheit geschildert: »Purpurn zerbrach der Gesegneten Mund« (V. 5). Die allgemeine Verfinsterung wird aus einer inneren Position heraus festgehalten. Es sind die »Blicke« zu Beginn und die »runden Augen« der zweiten Versgruppe, die die Veränderung der Landschaft aufnehmen und, wie Esselborn belegt, stets Funktionen wie Wahrnehmung, Erinnern und Gedenken erfüllen (vgl. Esselborn 2016, 42). Diese Akte tragen zur Verwandlung des Orts in eine innere Szenerie bei, markiert insbesondere durch die partes pro toto, die von den Armen über den Mund reichen und den Menschen als dissoziiert zu erkennen geben. Inmitten der einsamen und depravierten Waldund Landszenerie offenbart die Metapher »Und aus verfallner Bläue tritt bisweilen ein Abgelebtes« (V. 10) den Tod als das Thema des Textes. Während die letzte Textfassung noch eher im Abstrakten verbleibt, zeigen ihm vorausgegangene Stadien, dass Trakl zu Beginn eine weitaus eindeutigere Erfassung des Geschehens im Blick hatte. In der Textstufe 1 T ist noch vom »Leib« des »Weibes« die Rede, die im weiteren Verlauf als »Duldende« offenbart wird (ITA II, 460). Der Tod des Kindes wird somit in direkte Korrelation zum lebensspendenden Körper der Frau gerückt. Die Frage der Schuld, einem

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_44

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typischen, auch vom Eva-Mythos herreichenden Motiv in Trakls Schaffen (vgl. Mengaldo 2017, 57), steht im Raum. Durch die Partizipialkonstruktion »Gebenedeit« vermittelt sich überdies eine christliche Referenz. Angespielt wird möglicherweise auf die Jungfrau Maria und den Opfertod Jesu. Textstufe 3 H expliziert näher die ursprünglich avisierte Art des Versterbens, nämlich das »Ertrinken« (ITA II, 461). Mit dem Verlust des Kindes geht in der dritten Versgruppe der letzten Fassung die Generalisierung der Vergänglichkeit einher. Mit dem Adjektiv »hart« wird der Sensenschwung des allegorisierten Todes expliziert. Diese Stelle lässt sich auch als eine Referenz auf Hölderlins »Der Wanderer« verstehen, in dem zum Gesang der mit ihrem Sohn im Gras sitzenden Mutter die Sense eines Landmanns ertönt. Dieses idyllischbukolische Vorbild wird von Trakl verfremdet, gebrochen und ferner mit der Arbeit des Zimmermanns mit »gewaltige[n] Balken« kontrastiv in Verbindung gebracht. Das zweite und das Gedicht abschließende Sextett greift den Purpur erneut auf, charakteristisch für Trakls Wiederholungsschematik (vgl. Csúri 2016a, 24) und hierin zugleich Signum einer hochästhetisierten, poetischen und zeittypischen Verdichtung. Vom Frühling über den Sommer gelangt man schließlich in den Herbst. Kontrastierend zur vorigen Untergangsstimmung entfaltet der Text ein idyllisches Panorama. Die gereiften Trauben, die süß duftenden »vergilbte[n] Früchte«, werden zum Inbegriff der Reife. Der Tod wird als Vollendung, als Feier, einhergehend mit dem »Lachen / Des Frohen«, beschrieben. Von dieser kurzzeitigen Aufhellung der Szenerie wendet sich erst wieder der letzte, verblose und somit keine Bewegung, sondern einen Zustand verdichtende Vers ab: »Im dämmernden Garten Schritt und Stille des verstorbenen Knaben« (ITA II, 462). Von der utopischen Markierung des Gartenmotivs bleibt im Jahrhundertwendesetting einzig noch eine Ahnung – möglicherweise noch von einer verlorenen, außertextuellen Kindheit, zumal der Garten der Familie Trakl, wie Görner betont, Trakl noch als »Ort unschuldiger Spiele« (Görner 2016, 102) mit seiner Schwester galt.

B. Hayer

Im Gedicht wohnt dem Garten die »Stille des verstorbenen Knaben« inne. Eine weniger eindeutige Lesart schlägt Csúri vor. Hierbei erscheint der gestorbene Junge als Zeichen eines generellen Verlusts der Kindheit. Diese steht im Zeichen der epochalen und für Trakl im Besonderen zutreffenden »Spaltung des Ich sowie [der] Untergangsprozesse« (Csúri 2016b, 119). Ihm voraus ginge in der ersten Versgruppe eine »All-Einheit« sowie eine »Spiritualisierung der Liebenden« (Csúri 2016b, 96 f.), die sich sodann im »Dämmerungsschema« (Csúri 2016a, 95) verlöre. Den Erinnerungen an die Jugendjahre in der zweiten Strophe folge das »Abgelebte in der himmlischen Sphäre als mondene Vision der verstorbenen Kindheit«, bevor in der Schlusswendung deren poetische Wiederauferstehung bemerkbar würde – so »als ob das Ich in seinem Rauschzustand, als Höhepunkt und Ausklang des Herbstes, visionär-halluzinatorisch den verstorbenen Knaben, die eigene schuldlose Kindheit neu beleben […] würde« (Csúri 2016a, 99). Mit Mengaldo ließe sich auch formulieren, dass sich das Ich in einer »letzte[n], paradoxe[n] Affirmation in der Negativität« (Mengaldo 2017, 339), eben des Todes, manifestieren könnte. Inwiefern nun eine Fokussierung des Gedichts auf ein dezidiertes Textsubjekt begründet ist oder nicht, lässt sich nicht abschließend beantworten. Die evidente Zuschreibung zu einem Ich mag auch deshalb diskussionswürdig anmuten, weil »die Präsenz der lyrischen Instanz (des herkömmlichen ›lyrischen Ich‹) […] in Trakls Dichtung diffus geworden und deshalb öfters nicht besonders leicht zu identifizieren [ist], der Ausdruck subjektiver und intimer Gemütsregungen wird sowohl auf räumliche Sphären [….] als auch auf verschiedene Figuren, zu denen das Ich ein gewisses Identifikationsverhältnis unterhält, übertragen« (Pesnel 2016, 158 f.). Deutet man die Abwesenheit des Textsubjekts als Ausdruck einer Gottesferne innerhalb eines morbiden Settings, so muss gleichzeitig die religiöse Substruktur des Textes berücksichtigt werden. Zum einen wird diese etwa

44  »Stundenlied« (1913)

im Motiv des (wenn auch verfallenden) Gartens als Reminiszenz von Eden erkennbar, zum anderen macht sie sich an vereinzelten Strukturelementen fest. Wie Löffler akzentuiert, sind es gerade die Wiederholungsformeln, die, wie bei der Repetitio des Purpurs, an die Litanei anknüpfen (vgl. Löffler 2016, 290). Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, den Weltschmerz zugleich als Indiz für eine Wehmutsbekundung über den biblischen Verlust des Paradieses zu deuten.

Literatur Csúri, Károly: Konstruktionsprinzipien von Georg Trakls lyrischen Textwelten. Bielefeld 2016 (= Csúri 2016a). Csúri, Károly: »Hier Evas Schatten...«: Über ein intertextuelles Beziehungssystem in Georg Trakls später Dichtung. In: Sieglinde Klettenhammer/Johann Georg Lughofer (Hg.): Georg Trakl. Interpretationen

293 – Kommentare – Didaktisierungen. Wien 2016, 119– 134 (= Csúri 2016b). Esselborn, Hans: Bewegung und Gestik als bedeutungsvolle Momente in Gedichten Georg Trakls. Beispiel: Ruh und Schweigen. In: Sieglinde Klettenhammer/ Johann Georg Lughofer (Hg.): Georg Trakl. Interpretationen – Kommentare – Didaktisierungen. Wien 2016, 35–50. Görner, Rüdiger: Wortspuren ins Offene. Lyrische Selbstbestimmungen. Heidelberg 2016. Löffler, Jörg: Religiöse und poetologische Aspekte in Georg Trakls Abendländischem Lied. In: Uta Degner/Hans Weichselbaum/Norbert Christian Wolf (Hg.): Autorschaft und Poetik in Texten und Kontexten Georg Trakls. Salzburg/Wien 2016, 285–293. Mengaldo, Elisabetta: Semantische Codierung und syntaktische Ambivalenz in der modernen Lyrik. Zu Verschlüsselungsverfahren bei Georg Trakl. In: Uta Degner/Martina Wörgötter-Peck (Hg.): Literarische Geheim- und Privatsprachen. Würzburg 2017, 49–65. Pesnel, Stéphane: »An einen Frühverstorbenen.« Zur Didaktisierung von Trakl-Gedichten im Hochschulunterricht. In: Sieglinde Klettenhammer/Johann Georg Lughofer (Hg.): Georg Trakl. Interpretationen – Kommentare – Didaktisierungen. Wien 2016, 155–168.

»Sebastian im Traum« (1913)

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Salomé Meier

Unfern von Trakls Geburtshaus, auf der anderen Seite der Salzach, steht in Salzburg die Sebastianskirche. Oben am Portal thront die überlebensgroße Büste des heiligen Sebastian, aus deren Brust mehrere goldene Pfeile ragen. Die Kirche und den dazu gehörigen Friedhof wird Georg Trakl in seiner Kindheit und Jugend, als er seine Ausbildung zum Apotheker in der ebenfalls an der Linzer Gasse befindlichen Apotheke »Zum weißen Engel« absolvierte, fast täglich passiert haben. »Sebastian im Traum« schrieb Trakl in den letzten zehn Tagen des Septembers 1913, einen Monat nach der Venedigreise, die er mit seinem Freund Adolf Loos unternommen hatte, dem er das Gedicht in seiner zweiten Sammlung widmete. Das Triptychon handelt, so entsteht beim ersten Lesen der Eindruck, von Besuchen zu den umliegenden Friedhöfen. Abwechselnd an der Hand der Mutter (ITA III, 232 f., V. 14; weitere Zitation des Gedichts nach dieser Textstufe mit Versangabe), des Vaters (V. 26) oder des Greisen (V. 58) begeht ein Knabe des Nachts die Gräber Salzburgs: Den Friedhof St. Peters (V. 15), den Kalvarienberg (V. 27) und zuletzt den Fried-

S. Meier (*)  Deutsches Seminar, Universität Zürich, Zürich, Schweiz E-Mail: [email protected]

hof St. Sebastians (indirekt: »vor die verfallene Mauer der Stadt«, V. 49). Bilden die Grundlage dieses Textes demnach kindliche Erinnerungen des jungen Georg Trakls? Die topographischen und familiären Referenzen sowie die Wiederholung der temporalen Konjunktion »Oder wenn« (V. 14, 26, 48) und die durchgängige Verwendung des Präteritums legen eine solche Vermutung nahe. Und doch deuten der »Traum« im Titel und die schlafwandlerischen Szenen im Gedicht zumindest noch in eine andere Richtung. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf den wohl im April 1912 entstandenen, zu Trakls Lebzeiten unveröffentlicht gebliebenen Zyklus »An Angela«, in dessen zweitem Teil sich die Verse finden: »In goldnem Glanz, o kindliche Geberde / Der Wollust und ihr hyazinthnes Schweigen / So Brot und Wein, genährt am Fleisch der Erde / Sebastian im Traum ihr Geistiges zeigen« (ITA I, 554). Von jenem ›Geistigen‹ schließend, ließe sich konstatieren, daß »Sebastian im Traum« – wie die anderen sich im gleichnamigen Zyklus befindenden Kinder-der-Natur-Gedichte »Helian«, »Kaspar Hauser Lied«, »An den Knaben Elis« und »Elis« – nicht nur Kindheitserinnerungen, sondern auch das Ideal der »Wahrheit« verarbeitet, die jenseits einer subjektiven Wahrnehmung zu verorten wäre (vgl. Millington 2020, 160). Was immer in »Sebastian im Traum« über ein sich stets veränderndes, sich stets entziehendes

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Subjekt erzählt wird, es hat seine Wurzeln in der unmittelbaren Realität. Erinnerung, Traum, Phantasie und Wirklichkeit verdichten sich darin zu einer einzigen unheimlichen Landschaft. Mit seinen 55 Versen und 14 Strophen gehört »Sebastian im Traum« zu den längeren Gedichten Trakls und umspannt darin nicht weniger als den Zeitraum von etwas mehr als einem Jahr: Vom überreifen »Mohn« und der »Klage der Drossel« (V. 3) im Spätsommer führt es über den »herbstlichen Friedhof« (V. 15) und den »Einsame[n] Winterabend« (V. 21) bis zur »Rosige[n] Osterglocke« (V. 42) und »grüne[m] Geäst« (V. 46), zurück »über die grünen Stufen des Sommers« (V. 52) in die »braune[n] Stille des Herbstes« (V. 53). Die Kirche St. Sebastian, die dem Gedicht ihren Namen gibt, kommt nur in der letzten Zeile (V. 55) vor. Doch die Legende von dessen Schutzpatron Sebastian durchwirkt bei genauerer Betrachtung das gesamte Gedicht. Der Überlieferung zufolge diente Sebastian († 288 in Rom) als Offizier der Leibwache von Kaiser Diokletian und Maximian. Weil er notleidenden Christen geholfen hatte, ließ ihn Diokletian zum Tode verurteilen und von numidischen Bogenschützen erschießen. Auf wundersame Weise überlebte Sebastian, was ihn in seinem Glauben noch bestärkte. Nach seiner Genesung bekannte er sich erneut zum Christentum, worauf ihn Diokletian im Zirkus durch Keulen erschlagen ließ. Seinen Leichnam warf man in die Cloaca Maxima, den römischen Abwasserkanal. Die Geschichte besagt, dass Sebastian darauf gläubigen Christen im Traum erschienen sei, um ihnen den Ort seines Verbleibens zu zeigen. Von seinen Anhängerinnen und Anhängern wurde er geborgen und als Märtyrer in der Sebastian-Katakombe beerdigt. Über seinem Grab wurde schon im 4. Jh. n. Chr., quasi als monumentaler Grabstein, die Kirche San Sebastiano fuori le mura errichtet (vgl. Seeliger 2000, 60 f.). Über die interpretatorische Relevanz der Heiligenvita wird in der Trakl-Forschung bis heute diskutiert (vgl. Görner 2014, 187; Wacker 2013, 385). Wenn die Geschichte des christlichen Märtyrers im Gedicht, wie im Folgenden gezeigt wird, wiederholt mit der Geschichte der

S. Meier

sprechenden Instanz interferiert, so erweist sich der heilige Sebastian für Trakl jedoch nicht nur als Vorbildfigur oder »alter ego« (Görner 2014, 187). Vielmehr verkörpert sich in ihm ein radikales, künstlerisches Selbstverständnis des Dichters, dessen Schaffen zur Selbstaufgabe wird. Die erste Zeile beginnt mit einem Bild, das überdies als Ableitung der spätmittelalterlichen Marien-Ikonographie der »Madonna im Rosenhag« gedeutet werden kann (vgl. Görner 2014, 187): »Mutter trug das Kindlein im weissen Mond« (V. 1). Im Kontrast zur Unschuld eines neuen Lebens steht die unheimliche, spätsommerliche Landschaft; der »Mond«, der »Saft des Mohns« (auch eine Bezeichnung für Opium) und die »Klage der Drossel« (V. 3) berauschen die Mutter. Wenn das Weiß des Mondlichts als Farbe des Wahnsinns gelten kann (vgl. Görner 2014, 190), dann ist es die Mutter, die das Kind dem Wahnsinn aussetzt, welcher sich in diesem Moment auf das Kind überträgt. Der Rausch der Mutter und ihre »frierenden Hände«, die als Reflexion der emotionalen Kälte lesbar sind, charakterisieren die schwierige Mutter-Kind-Beziehung. Im Folgenden wird eine stille, liebliche und gleichwohl traurige Kindheit geschildert, in der ein Knabe die Welt auf spielerische Weise entdeckt: Schon früh zieht es ihn zu »kühlen Wassern« und »silbernen Fischen« (V. 10) in der Tiefe. Er bewahrt, so suggeriert die Zwischenzeile, »Ruh und Antlitz« (V. 11) sowohl bei seinen Fischen als auch »Da er steinern sich vor rasende Rappen warf / In grauer Nacht sein Stern über ihn kam« (V. 12 f.). In diesen Zeilen kommt es zu einer Überlagerung des Knaben mit dem heiligen Sebastian: Der Fisch verweist nicht zuletzt auf seine literale Bedeutung, auf das Akrostichon ΙΧΘΥΣ (ichthýs, ›Fisch‹), hinter dem sich ein kurzgefasstes Glaubensbekenntnis (Iēsoûs christòs theoû hyiòs sōtér, ›Jesus Christus Gottes Sohn Erlöser‹) verbirgt, das den frühen Christen in Zeiten der Verfolgung als Erkennungszeichen diente. Vom Christentum gestärkt und seinem Tod ruhig ins Auge blickend, opfert sich der Knabe den schwarzen Nachtmähren, den »Rappen«. Scheinbar überlebt er

45  »Sebastian im Traum« (1913)

den ersten Versuch der Selbstopferung. Doch schon in der vierten Strophe kommt es zu einer semantischen Verunsicherung: Sind es die Lider des Knaben, die an der »frierenden Hand der Mutter« sich über den »Leichnam […] im Dunkel der Kammer« (V. 16) heben oder ist er selbst der nur scheinbar Tote unter der Erde, dessen Lider aufflattern? In der nächsten Zeile ist der Sprecher jedenfalls bereits nicht-mehr oder etwas-anderes-als-Mensch: »als kleiner Vogel in kahlem Geäst« (V. 18) blickt er nun auf die Menschen herab, zu denen er eben noch aufgeschaut hatte und bringt dabei den »Abendnovember« (V. 19) zum Klingen. Bleibt der erste Teil des Gedichts in einer vornehmlich archaischen bzw. pantheistischcodierten Welt situiert, in der Tote als Tiere wiederauferstehen, so bricht mit dem zweiten Teil eine mit christlichen Symbolen aufgeladene Zeit an. Die fünf Abschnitte spiegeln fünf Phasen in der Geschichte Jesu, die das Gedicht mit der Geschichte des Kindes verquickt. Der erste Abschnitt spielt auf die Geburt Jesu in der Strohkrippe an (»Kindlein in der Hütte von Stroh«, V. 23). Während der erste Teil des Gedichts unnummeriert bleibt, werden ab der Weihnachtszeit im zweiten Teil, mit der die christliche Zeitzählung beginnt, die Teile 2 und 3 nummeriert (vgl. Millington 2020, 165). Bereits der zweite Abschnitt des zweiten Teils ruft den Tod Christi durch Kreuzigung auf den Plan (»O wie leise stand in dunkler Seele das Kreuz auf«, V. 31). Die Legenden dieser lichten »Gestalten« – sowohl die Sebastians als auch die Christi – erfährt der Junge beim Gang über die Gräber seiner Vorfahren von seinem Vater. An dessen »harter Hand« steigt der Knabe den Kalvarienberg hinan, mit dem sowohl der real existierende Berg im Umland von Salzburg gemeint sein kann, als auch das biblische Golgatha, der Kreuzigungsort Christi, an dem Jesus stellvertretend für die Menschheit sein Leid erduldete. Dort, an der christlichen Schädelstätte, verbindet sich im Gedicht die Passion Christi erneut mit derjenigen Sebastians, dem Märtyrer, aus dessen »Wunde unter dem Herzen das Blut rann« (V. 30) und dessen »Kreuz« ebenso zum Symbol für

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das erlittene Leid wie zum Trost der Menschen wurde. In Absetzung zum ersten Teil, in dem graue Farben dominiert hatten (»silberne Fische«, »steinern«, »graue Nacht«), tritt jetzt das ›Blaue‹ in den Vordergrund. Blau ist die »Gestalt des Menschen« (V. 39), Jesus Christus, und so elementare Empfindungen wie »Liebe« (V. 32) und »Freude« (V. 36), die sich nach langer Zeit wie »[e]in blauer Falter« (V. 38) aus dem grauen Kokon befreien. Doch immer drohen sie von der »Nähe des Todes« (V. 39) überschattet zu werden. Aus dem »Schatten des Nussbaums« (V. 2) ist in Vers 34 ein »Schattengewölbe« geworden. War der Winter von leuchtendem Blau und heiterer »Freude« erhellt, verdüstern wachsende Schatten die Welt im Monat März. Die letzte Zeile des zweiten Teils »Da in jenem März der Mond verfiel« (V. 41) darf wiederum als eine Anspielung auf den Todestag Jesu gelesen werden. Laut der Apostelgeschichte des Lukas fällt die Kreuzigung im antiken Jerusalem mit einer Mondfinsternis zusammen (Apg 2, 14–21). Der dritte und letzte Abschnitt ist kürzer als die vorherigen Teile. Die »rosigen Osterglocken«, die im »Grabgewölbe der Nacht« (V. 42) gedeihen, verweisen noch kurz auf die Auferstehung. Danach vergeht die Zeit wie im Flug; der Frühling verwandelt sich in den Sommer und sofort in den Herbst. Alles zielt jetzt auf den Verfall, den Tod. Verweise auf Transzendentes (»Sterne«, »Engel«) und abermals der »Schatten des Nussbaums« (V. 51), in dem der »Geist des Bösen« (ebd.) lauert, bestärken die Vermutung, die Dreiteiligkeit des Gedichts bilde formal die heilige Dreifaltigkeit ab. Unterlag der erste Teil dem Vater (»bärtiges Antlitz«, »der Väter«, »des Vaters Stille«), dominiert im zweiten Teil der Sohn, Jesus Christus, und zuletzt erscheint der heilige Geist, sowohl in der Gestalt des Engels sowie als »Geist des Bösen« und taucht alles in (s)einen ätherischen Filter. Werkimmanent verweist der »Geist des Bösen« auf das Gedicht »Traum des Bösen«, wo sich die Formel ebenfalls in der dritten Strophe findet (ITA I, 517). Auch dort erscheint der »Geist des Bösen« unversehens und tritt subjektiv aus der unbelebten Natur hervor.

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Jeder der drei Teile endet mit einem Verb im Präteritum, das den Niedergang dieser Figuren bezeichnet: der Vater, der »hinabstieg« (V. 20), der Mond, der »verfiel« (V. 41), die Silberstimme des Engels, die »erstarb« (V. 55). Und doch suggeriert das Gedicht keinen linearen Verfall. Vielmehr ist der Abstieg zirkelnd, schlingernd. In seiner zyklischen Struktur imitiert das Gedicht das Schlafwandeln des Vaters, »da er im Schlaf die dämmernde Wendeltreppe hinabstieg« (V. 20), wie es in der Mitte des Gedichtes heisst. Mit der kreiselartigen, immer weiter in die Tiefe führenden Bewegung verbindet sich die Vorstellung eines wahnsinnigen Taumels. Im zweiten und dritten Teil häufen sich die lyrischen Ausrufe: »O die Nähe des Todes« (V. 39), »O wie stille ein Gang den blauen Fluss hinab« (V. 45). Sie können als verzweifelte, gleichwohl poetische Ausrufe eines Subjekts gelten, das sein Ende gekommen sieht. Graphematisch verweist das ›O‹ aber auch auf die kreiselnde Bewegung des zunehmenden Wahnsinns, in dessen Verlauf die innere und äussere Wahrnehmung immer weiter auseinanderklaffen. Zum wahnsinnigen Sog der Bewegung kommt die Verführung des Klangs. Die »Klage der Drossel« (V. 3) im Gedichtauftakt entpuppt sich zum Schluss als Lockruf des Todes: Paradoxerweise ruft gerade die Drossel oben im grünen Geäst »in den Untergang« (V. 47). Alles verdunkelt sich, die Schatten hüllen das Leben in ihren

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»schwarze[n] Mantel« wie der Grossvater das »rosige[] Kindlein« (V. 50). Zuletzt verschluckt »Sebastians Schatten« selbst den Laut des Transzendenten, die »Silberstimme«. Ob es sich in diesem Gedicht zuletzt um den Traum eines »Schläfers« handelt oder um verdichtete Kindheitserinnerungen einer schattenliebenden Gestalt, muss und kann nicht entschieden werden. Einen Hinweis aber gibt der Ort, an dem sich die Stimme zum Schluss befindet: Nicht nur im »Schatten«, sondern auf der Treppe (V. 52) zwischen dem Garten (V. 53) und der Stadt, die sinnbildlich für eine Schwelle steht. Diese Schwelle zwischen Traum und Erinnerung, zwischen Leben und Tod, zwischen Sein und Dasein (Littek 1995, 83) ist der vornehmliche Standort des Dichters.

Literatur Görner, Rüdiger: Georg Trakl. Dichter im Jahrzehnt der Extreme. Wien 2014. Millington, Richard: The Gentle Apocalypse. Truth and Meaning in the Poetry of Georg Trakl. Rochester (NY) 2020. Seeliger, Hans Reinhard: Artikel ›Sebastian, hl.‹. In: Lexikon für Theologie und Kirche (LThK). Freiburg i. B. 31993–2001, Bd. IX, 60 f. Littek, Gudrun Susanne: Existenz als Differenz. Der »Dichter« im Werk Georg Trakls. Marburg 1995. Wacker, Gabriela: Poetik des Prophetischen. Zum visionären Kunstverständnis in der Klassischen Moderne. Berlin/Boston 2013.

»Kaspar Hauser Lied« (1913)

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Felix Christen

Textgenese Das »Kaspar Hauser Lied« ist vermutlich in Innsbruck während eines Aufenthalts Trakls bei Ludwig von Ficker im Oktober oder spätestens Anfang November 1913 entstanden. Terminus ante quem ist der 2.11.1913, an dem Trakl laut einer Notiz in Karl Röcks Tagebuch das Gedicht im Hause Ficker vorliest und anschließend aus Innsbruck abreist (vgl. Röck 1976, I, 177). Eine Ficker überlassene Reinschrift auf Linienpapier mit Briefkopf des Brenner-Verlags (ITA III, 318) umfasst bis auf die später hinzugekommene Widmung an Elizabeth Bruce bereits den vollständigen Text und dürfte als Vorlage für den Erstdruck im Brenner gedient haben (vgl. ITA III, 312). Nicht allzu ungewöhnlich für Trakls Schaffensweise ist, dass er einige Tage später den Wortlaut des Gedichts brieflich modifiziert und den veränderten Wortlaut für den Drucktext autorisiert (vgl. dazu grundsätzlich den Brief an Buschbeck vom Januar 1912; ITA V.1, 174). In einer Postkarte vom 11. November 1913 an Ficker bringt er Korrekturen am jeweils ersten Vers der ersten und zweiten Strophe

F. Christen (*)  Germanistisches Seminar, Ruprecht-KarlsUniversität Heidelberg, Heidelberg, Deutschland E-Mail: [email protected]

an und findet zu einer Neuformulierung des letzten Verses, der in der Innsbrucker Reinschrift – im rechten Randgang mit Einfügungszeichen hinzugesetzt – noch gelautet hat: »Also sank des Fremdlings Haupt hin« (ITA III, 324). Nun formuliert Trakl: »Silbern sank des Ungeborenen Haupt hin« (ebd.). Wohl noch am selben Tag teilt er Ficker auf einer zweiten Postkarte weitere Korrekturen des ersten und des letzten Verses mit, macht hingegen die eben verlangte Änderung im vierten Vers rückgängig; außerdem wird erst hier die Widmung »für Bessie Loos« – die auf Bitte von Adolf Loos erfolgen soll – vermerkt (ITA V.2, 522). Nicht mit Sicherheit zu rekonstruieren ist, weshalb für den Erstdruck im Brenner die Änderung des ersten Verses ebenso wie die Widmung berücksichtigt wird, nicht jedoch die neue Formulierung des letzten Verses auf der zweiten Postkarte: »›Eines Ungebornen sank des Fremdlings rotes Haupt hin‹ (eine Zeile)« (ebd). Immerhin vermerkt Trakl dazu mit Nachdruck: »Bitte die letzte Zeile des K.H.L. endgültig folgend umzuändern« (ebd.). Im Erstdruck ebenso wie in Sebastian im Traum findet sich aber lediglich die Verkürzung von »Ungeborenen« zu »Ungebornen«; im Übrigen folgt der Wortlaut der Korrekturanweisung auf der ersten Postkarte. Während die HKA deshalb noch eine weitere »letzte Überarbeitung« postuliert (HKA II, 163) – zu der allerdings keinerlei Dokumente vorliegen –, gehen die Herausgeber der Innsbrucker Ausgabe davon aus, dass Ficker

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_46

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die Änderung nicht durchführen ließ, weil sie aufgrund der beschränkten Zeilenlänge im Brenner Trakls Wunsch widersprochen hätte, den letzten Vers auf »eine Zeile« zu setzen (vgl. ITA III, 313). Auch die Wiedergabe des Verses auf zwei Zeilen wäre auf der vorgesehenen Seite nur schwer umsetzbar gewesen; denn das Gedicht endet auf der letzten regulären Zeile vor der Paginierung. Der Erstdruck im Brenner ist im Wortlaut identisch mit dem späteren, von Trakl sorgfältig korrigierten Druck im zweiten Gedichtband. Die (leicht variablen) Druckkonventionen des Brenner lassen jedoch die Namen Trakls und Hausers in großer Type unmittelbar nebeneinanderstehen: »Georg Trakl/Kaspar Hauser Lied« (1913, H. 4, 161). Das hat den interessanten Effekt, dass augenscheinlich beide – Trakl und Hauser – als Urheber für das »Lied« zeichnen. Diese gleichsam doppelte Autorschaft lässt sich literarhistorisch in Texten, die Hauser als eine Art Dichter präsentieren, ebenso wie in der Poetik des Gedichts verorten: In Trakls Gedicht erhebt Hauser auch selbst seine Stimme (V. 10). Der Zweitdruck des Gedichts in Sebastian im Traum (ITA, Supplement 2, 21) hält an der Version des Brenner-Drucks fest, der damit zumindest als nachträglich durch Trakl autorisiert gelten darf, obschon er nicht vollständig seinen im November 1913 aus Wien geäußerten Wünschen entspricht. Das »Kaspar Hauser Lied« steht im postumen Band im ersten, mit dem Buch titelgleichen Zyklus an drittletzter Stelle nach dem Gedicht »Am Mönchsberg«, mit dem es die in beiden Gedichten prominent verwendete Vokabel »Klage« teilt (ohne dass ein näherer textgenetischer Zusammenhang bestünde). Dass Trakl im Juli 1914 die vermutlich vom Setzer eigenmächtig vorgenommene Hinzufügung von Bindestrichen im Titel des Gedichts während der Fahnenkorrektur rückgängig macht (vgl. ITA V.2, 637), unterstreicht die syntaktisch angestrebte Vieldeutigkeit der Titelformulierung (vgl. Sauermann 1993, 226), welche den Anschein einer doppelten Autorschaft im Brenner – obschon es sich dabei um einen mehr oder weniger akzidentellen Effekt der Drucklegung gehandelt haben mag – erst ermög-

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lichte. Das Verhältnis von »Kaspar Hauser« und »Lied« wird damit auch typographisch zu einer Frage der Deutung des Gedichts.

Deutung Neben der äußeren Textgenese des »Kaspar Hauser Lieds« sind für die Deutung auch die Bezüge und Zitate relevant, die das Gedicht – wie viele von Trakls Texten und Entwürfen, hier jedoch besonders explizit – in eine literhistorische Tradition stellen. Die Forschung hat sich in zahlreichen Beiträgen neben Aspekten der Sprache und Poetik (De Vos 1989; Buck 1999) denn auch bereits in frühen (Stix 1968) bis hin zu neueren Analysen des Gedichts (Finck 1995; Dusini 2009) insbesondere dem Verhältnis zur literarisch vermittelten Figur Kaspar Hauser gewidmet. Das Findelkind, das, der Sprache noch kaum mächtig, in Nürnberg im Jahr 1828 auftauchte und sodann zum Objekt einer fortgesetzten Vereinnahmung durch Gerichte, Pädagogik, Psychologie, Anthropologie, Sprachwissenschaft, Theologie und Massenmedien wurde, ist auch Gegenstand zahlloser literarischer Darstellungen geworden (vgl. Hörisch 1979; Struve 1995; Schmitz-Emans 2007), von denen Trakl zumindest Jakob Wassermanns nach seinem Erscheinen 1908 vielbeachteter Roman Caspar Hauser oder Die Trägheit des Herzens und Verlaines Gedicht »Gaspar Hauser chante« in der Übersetzung Richard Dehmels (in einer von Stefan Zweig 1902 herausgegebenen Anthologie der besten Übertragungen von Verlaines Gedichten), womöglich auch in den Übersetzungen Stefan Georges (1905) und Franz Evers’ (erschienen in der Insel 1899 unter dem mit demjenigen Trakls beinahe identischen Titel »Kaspar Hausers Lied«) bekannt waren. Trakl selbst hat bereits um 1910 ein Puppenspiel mit dem Titel »Kaspar Hauser« verfasst, das jedoch als verschollen gilt (vgl. ITA III, 312). An Buschbeck schreibt er am 21.04.1912 aus dem Probedienst in der Apotheke des Innsbrucker Garnisonsspitals: »Wozu die Plage. Ich werde endlich doch immer ein armer Kaspar Hauser bleiben« (ITA V.1, 192).

46  »Kaspar Hauser Lied« (1913)

Anders als Verlaines 1873 entstandenes Gedicht, das aus der Perspektive Hausers spricht und erst im letzten Vers die dritte Person verwendet, ist Trakls Text – genau umgekehrt – in der dritten Person Singular gehalten und wechselt nur einmal in die direkte Rede Hausers. Die sieben unregelmäßig gebauten Strophen nähern sich teilweise antiker Metrik an: Beim ersten Vers handelt es sich um einen Hexameter (einen Holodaktylus mit regelkonformer Zäsur katà tríton trochaîon); weitere Verse lassen äolische Versperioden anklingen, deren Verwendung wohl auf die intensive Auseinandersetzung mit Hölderlin zurückgeht. Nur die dritte Strophe ist wie Dehmels Verlaine-Übersetzung durchgehend alternierend gebaut. Das Gedicht beginnt mit einer Formulierung – »Er wahrlich liebte die Sonne, die purpurn den Hügel hinabstieg« (ITA III, 325, Zitation in der Folge nach dieser Textstufe mit Versangaben) –, die sich auf eine Stelle bei Wassermann beziehen lässt (»Caspar liebt die Sonne«; vgl. Stix 1968, 35), jedoch einen scharfen Kontrast bildet zu den zeitgenössischen, bei Wassermann aufgegriffenen Schilderungen der Gefangenschaft Hausers vor seinem Auftauchen in Nürnberg. Die Figur wird in den ersten zwei Strophen von Trakls Gedicht in einer idealisch anmutenden Landschaft verortet, die neben der »Freude des Grüns« mit dem »singenden Schwarzvogel« und dem »Schatten des Baums« durchaus auch dunklere Töne kennt (vgl. Buck 1999, 106). Mit dem »Schwarzvogel« ist in der Naturszenerie der ersten Strophen außerdem eine Instanz des Gesangs eingesetzt, als deren Transformation oder in der »Stadt« gebrochenes Echo sich das »Kaspar Hauser Lied« begreifen lässt (vgl. Christen 2016, 83). Die emphatische Heraushebung des »Er« zu Beginn des Gedichts durch das Adverb »wahrlich« korrespondiert mit dem Wort »Ernsthaft« im ersten Vers der zweiten Strophe (für das Trakl zwischenzeitlich »wahrhaft« erwog; ITA V.2, 519) ebenso wie mit dem ›reinen Antlitz‹ und der biblisch anmutenden Rede vom »Gerechten«. Die Anrede »O Mensch!« ist womöglich ein Echo des Mitternachtsliedes aus Nietzsches Zarathustra (vgl. Dusini 2009, 204 f.; Christen 2016, 85 f.),

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ist aber auch sprechend, insofern Hauser in zeitgenössischen Diskussionen Fragen nach der Genese menschlicher Subjektivität und der Sprachfähigkeit eines nicht in der Zivilisation aufgewachsenen homo ferus aufgeworfen hat (vgl. Hörisch 1979, 275 f.). Im zehnten Vers lässt das Gedicht Hauser selbst zu Wort kommen mit einem Satz, den dieser des Öfteren geäußert haben soll: »Ich will ein Reiter werden.« Die Formulierung wirft die Frage nach Urheberschaft und Bedeutung sprachlicher Äußerungen auf. Denn »I möcht a söchäna Reiter wären, wie mein Vater gwän is« (Hörisch 1979, 102) ist den zeitgenössischen Darstellungen zufolge ein auswendig gelernter Satz, der Hauser vom Unbekannten, der ihn gefangen hielt, beigebracht wurde, ohne dass er den Sinn der Worte verstanden hätte. Zugleich handelt sich jedoch auch um einen Satz, den er allmählich zu seinem eigenen machte. Mit der in seiner Selbstbiographie jeweils an den Satz anschließenden Wendung »womit ich sagen wollte« (ebd., 106 und passim) erklärt Hauser dessen jeweiligen, vom wörtlichen radikal divergenten Sinn (er verwendete ihn etwa, um Wünsche, Fragen oder Schmerzbekundungen auszudrücken; vgl. Hörisch 1979, 101–106). Wohl über Wassermann vermittelt findet der Satz als Signum sprachlicher – und damit auch poetischer – Potenzialität Eingang in Trakls Gedicht. Das »Kaspar Hauser Lied« lässt sich so auch als Reflexion einer Sprache und Dichtung verstehen, deren Semantik autopoietisch hergestellt wird. Nach dem »Reiter«-Satz wird Kaspar Hauser denn auch mit Orpheus assoziiert (»Ihm aber folgte Busch und Tier«; vgl. Ov. met. X, 86– 147), während zugleich mit dem »Mörder«, der nach ihm sucht, die bedrohlichen Töne überhandnehmen. Über das Wort ›dunkel‹ scheint eine Anknüpfung der »dunkle[n] Klage« an die »dunklen Zimmer[] Träumender« angedeutet; die jahreszeitliche Entwicklung, die zunächst beim ›schönen‹ »Herbst / Des Gerechten« innehält, führt schließlich mit dem »Schnee« zu Winter und Tod (der historische Kaspar Hauser starb am 17.12.1833). Die Nennung des »Haupt[s]« im letzten Vers erinnert wiederum

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an Orpheus, dessen Haupt nach seinem Tod, vom Leib getrennt, weitersingt und klagt (vgl. Ov. met. XI, 50–53; auch in »Passion« wird im zweiten Gedichtband »Orpheus«, der »silbern die Laute rührt«, evoziert; ITA IV.1, 124). Die Rede vom »Ungebornen« ist als Klage darüber begreiflich, dass Kaspar Hauser stirbt, bevor er ganz zur Welt gekommen ist, verweist aber auch noch einmal auf die Potenzialität seiner außergewöhnlichen Umständen entsprungenen, eigensinnigen Sprache, die im Zentrum des Gedichts steht.

Literatur Buck, Theo: Kaspar Hauser – Medium der Selbstbegegnung für Autor und Leser. In: Hans-Georg Kemper (Hg.): Gedichte von Georg Trakl. Stuttgart 1999, 96–120. Christen, Felix: »Die dunkle Klage seines Munds«. Figuren der Autorschaft in Georg Trakls Kaspar Hauser Lied. In: Uta Degner/Hans Weichselbaum/Norbert Christian Wolf (Hg.): Autorschaft und Poetik in

F. Christen Texten und Kontexten Georg Trakls. Salzburg/Wien 2016, 75–93. De Vos, Jaak: »Gott sprach eine sanfte Flamme zu seinem Herzen: O Mensch!« Sprache als Fluch in Trakls Kaspar Hauser Lied. In: Heidy M. Müller/Ders. (Hg.): Aporie und Euphorie der Sprache. Studien zu Georg Trakl und Peter Handke. Leuven 1989, 125–147. Dusini, Arno: Variante, Invariante. Georg Trakls ›Kaspar Hauser Lied‹. In: Károly Csúri (Hg.): Georg Trakl und die literarische Moderne. Tübingen 2009, 199– 218. Finck, Adrien: Über Trakl und Verlaine. In: Rémy Colombat, Gerald Stieg (Hg.): Frühling der Seele. Pariser Trakl-Symposion. Innsbruck 1995, 49–63. Hörisch, Jochen (Hg.): Ich möchte ein solcher werden wie … Materialien zur Sprachlosigkeit des Kaspar Hauser. Frankfurt a. M. 1979. Röck, Karl: Tagebuch 1891–1946. 3 Bde. Hg. und erläutert von Christine Kofler. Salzburg 1976. Sauermann, Eberhard: Trakls »Kaspar Hauser Lied«. Ein Kommentar. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 112/2 (1993), 215–230. Schmitz-Emans, Monika: Fragen nach Kaspar Hauser. Entwürfe des Menschen, der Sprache und der Dichtung. Würzburg 2007. Stix, Gottfried: Trakl und Wassermann. Rom 1968. Struve, Ulrich (Hg.): Der imaginierte Findling. Studien zur Kaspar-Hauser-Rezeption. Heidelberg 1995.

»Verwandlung des Bösen« (1913)

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Georg Braungart und Tabea Junker

Den ersten Entwurf des Prosagedichts notierte Trakl handschriftlich auf der Rückseite eines Briefs seiner Schwester Maria, der auf den 16. September 1913 datiert ist. (Zur Textgenese vgl. ITA III, 270–290.) Es ist daher davon auszugehen, dass die erste Fassung zwischen September und Oktober 1913 entstanden ist – also nach dem 16. September, jedoch vor der Erstveröffentlichung im Brenner am 15. Oktober 1913. Kurze Zeit später fertigte Trakl eine handschriftliche Reinschrift an. Dabei überarbeitete und erweiterte er bereits die erste Fassung. Zudem ergänzte er das bisher namenlose Werk um den Titel »Verdammnis bzw. Verwandlung des Bösen« (ITA III, 271). Für die Veröffentlichung im Brenner bearbeitete und veränderte Trakl die zweite Textstufe geringfügig. Die größten Auffälligkeiten sind hier die neue Einteilung in fünf Abschnitte und die Änderung des Titels in: »Verwandlung des Bösen«. Die dritte Textfassung unterscheidet sich jedoch an mehreren Stellen von der letzten Stufe in Sebastian im Traum. Besonders augenfällig ist hier die Änderung des Schlusses, der um den ausdrucksstarken Schlusssatz (»Dem folgt unvergängliche Nacht«) erweitert wird. Im dritten Abschnitt er-

G. Braungart (*)  Deutsches Seminar, Eberhard Karls Universität Tübingen, Tübingen, Deutschland E-Mail: [email protected]

setzt Trakl außerdem die Figur der Sonja durch eine namenlose Tote: »Leise läutet […] der Toten Gestalt« (vgl. ITA III, 289 f.). Darüber hinaus enthält die vierte Fassung weitere kleinere Änderungen in Bezug auf Orthographie, Interpunktion und Wortlaut. In seinem nach dem 3. April 1914 entstandenen Prosafragment »Erinnerung«, das in der HKA fälschlicherweise als erste Fassung von »Verwandlung des Bösen« geführt wurde (Zwerschina 1990, 248), greift Trakl zwei Motive des Prosagedichts in abgewandelter Form auf. Bei »Verwandlung des Bösen« handelt es sich um ein Prosagedicht, eine hybride Gattung, die bereits in der Romantik Verwendung findet und bei Autoren der Moderne wie Rimbaud oder Baudelaire häufiger verwendet wird. Trakl hat diese Gattung in seinen letzten Lebensjahren intensiver gepflegt, möglicherweise, um durch deren narrative Möglichkeiten einer eigenen Mythologie näher zu kommen. Das Prosagedicht ist in fünf Abschnitte unterschiedlicher Länge untergliedert. Die Silbenanzahl sowie die Anzahl der Hebungen und Senkungen innerhalb der 40 Sätze variieren stark. Es ist kein einheitliches Metrum ersichtlich. Stattdessen ist der Rhythmus von kleinen metrischen Sequenzen durchzogen, die in unterschiedlichen Variationen – ähnlich einem musikalischen Motiv – häufig wiederkehren. Das kunstvoll klanglichrhythmisch ausgestaltete Arrangement erinnert an die freien Rhythmen im Sinne Hölderlins

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_47

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und Rimbauds (vgl. Baßler 1999, 124). Allerdings findet sich eine auffällige metrische Besonderheit: Als prosodischer Kern (ebd., 125) des gesamten Textes fungieren die letzten beiden Takte des Hexameters (Klessinger 2007, 61), dessen Potenzial von der Forschung bisher nicht gesehen wurde, handelt es sich doch in der hier verwendeten Form um den Adoneus (– vv – v), einen bereits in der Antike bekannten markanten Klageruf (›ô ton Adônin!‹), der sich beispielsweise exponiert in Hölderlins »Hälfte des Lebens« oder Eduard Mörikes »An eine Äolsharfe« findet. »Schreiten am Waldsaum […] stummer Zerstörung« – bereits in den ersten zwei Zeilen erscheint der Adoneus konzentriert, der im weiteren Verlauf durchgehend im gesamten Text geradezu einen metrischen Subtext konstituiert und so der Folge von Schreckensvisionen einen deutlich elegischen Charakter verleiht, im verstechnischen wie im inhaltlichen Sinne. Die Grenzen einer Identifizierung des Adoneus sind natürlich fließend, aber es finden sich einige Stellen, die in dieser Hinsicht – unterstützt durch die Syntax, eindeutig sind, beispielsweise: »verfallenen Stiege […] Haus deiner Väter? Bleierne Schwärze. […]« (Kap. 2), »neigt sich verblichen […] Stirne des Mörders […] Dunkel des Hausflurs« (Kap. 3). Von besonderer Klangwirkung sind zahlreiche Assonanzen (z. B. »[…] ein Nachtfalter verbrannte daran«, V. 26 f.) und Alliterationen (»die traurigen Träume«, V. 38). Die Komposition der Satzgefüge ist von zahlreichen Ellipsen geprägt, die durch Semikola aneinandergereiht werden. Durch dieses Prinzip der asyndetischen Setzung (vgl. Baßler 1999, 130) werden autarke syntaktische Einheiten mit einem unterschiedlichen semantischen Gehalt, meist ohne eindeutige syntaktische Zuordnung lose aneinandergereiht. Des Weiteren unterstreicht die häufige Verwendung der Interjektion »O«, die insgesamt sechsmal verwendet wird, die dramatische Dimension des Prosagedichts. Es ist keine durchgehend einheitliche Sprechinstanz erkennbar, in Kap. 2, 4 und 5 erscheint jedoch ein (lyrisches) ›Du‹. Eine Interpretation des Prosagedichts muss an den Besonderheiten innerhalb des Gesamt-

G. Braungart und T. Junker

werks Trakls ansetzen; und man tut gut daran, den Titel ernst zu nehmen. Es muss also die Spezifik der von Trakl gewählten Form zwischen Lyrik und Prosa beachtet werden. Betrachtet man vollständige Sätze in mehr oder weniger gängiger Satzstruktur als Signatur von Prosa, kann man bereits im ersten Abschnitt eine große Bandbreite zwischen extrem verdichteten fragmentarischen Setzungen (bis hin zu Einzelwortsätzen wie »Herbst; schwarzes Schreiten am Waldsaum; V. 1) auf der einen und syntaktisch ganz standardförmigen Formulierungen wie »Unter dem Haselgebüsch weidet der grüne Jäger ein Wild aus« (V. 5) auf der anderen Seite finden. Das Beispiel zeigt zugleich, dass ›prosaischere‹ Elemente keineswegs ein Weniger an Hermetik (bzw. ein Mehr an ›Verständlichkeit‹) bedeuten. Durch diese spezifisch lyrisch-prosaische Textur, welche durchaus auch Nahtstellen zwischen Prosa und Gedicht erkennen lässt (und eben keinen dritten Stil zwischen Lyrik und Prosa konstituiert), gewinnt das Prosagedicht erhebliches Relief und entfaltet eine spannungsreiche Dynamik im Bereich der Syntax, die dem Prosagedicht ein eigenes Gepräge gibt. Der Titel »Verwandlung des Bösen« wurde immer wieder als Kern eines Plots interpretiert: Das Böse oder der Böse (das Ich, das Du, der Mörder) wird in eine irgendwie positive Richtung weiterentwickelt (besonders markant Csúri 2016, 145–164). Das hat vielfältige Paraphrasen des Zyklus unter diesem Vorzeichen hervorgebracht, die etwas für sich haben, aber nicht restlos überzeugen können. Man kann die »Verzweiflung, die mit stummem Schrei ins Knie bricht« am Ende des vierten Abschnitts als Variation eines reuigen Sünders deuten, zu dem der mörderische »bleiche Priester« des zweiten Abschnitts geworden ist, und darin eine positive Entwicklung sehen. Immerhin hat Trakl selbst ja den Titel »Verdammnis«, den der Text zunächst noch in der zweiten Textstufe getragen hatte, in genau dieser Fassung durch den endgültigen Titel ersetzt (vgl. ITA III, 278). Doch es ist damit zu rechnen, dass Trakl (der auch in »Offenbarung und Untergang« den Titel sehr präzise, beinahe terminologisch setzt, auch hier einen konkreten intertextuellen Verweis

47  »Verwandlung des Bösen« (1913)

anbringt: In Ovids Metamorphosen dominieren zwei Varianten der ›Verwandlung‹, zum einen die ›Rettung durch Verwandlung‹ (Daphne), zum andern die Verwandlung als Strafe bzw. Sühne (Lykaon). Die letztere Möglichkeit scheint für Trakl hier einschlägig zu sein. Gleichwohl lässt sich eine stringente Teleologie als Strukturformel – auch nicht in dem hier vorgeschlagenen Sinne einer intertextuellen Referenz – nicht mit letzter Stringenz nachweisen. Trakls Titelvariante ›Verdammnis‹, die er schon in der zweiten Bearbeitungsstufe aufgab, deutet darauf hin, dass er die Eindeutigkeit im Sinne einer Abwärtsentwicklung bzw. diese fallende Linie dann doch – vermutlich zugunsten einer ambigen Lesart – wieder zurücknahm. Der Schwebezustand dieser Lesart spiegelt sich auch in der Komposition der ambivalenten Textwelt wider, die von unterschiedlichen Oppositionen durchdrungen ist und mit diesen ringt. Besonders augenfällig sind hier die Gegensatzpaare: göttlich und dämonisch, gut und böse. Die für Trakl typische exponierte Nennung von Farben, scheint hier überwiegend negativ assoziiert. Der Reihungsstil auf syntaktischer Ebene spiegelt sich auch auf semantischer Ebene wider, denn auch die (Traum-)Bilder innerhalb der einzelnen Abschnitte wirken lose aneinandergereiht, da sie zwar meist demselben semantischen Feld entstammen, aber keinen unmittelbaren Bezug zueinander aufweisen. Alle dargestellten ›Szenarien‹ spielen an Orten – teilweise auch Zeiten – des Übergangs, die zu Beginn des jeweiligen Abschnitts genannt werden: »Waldsaum«, »Stiege«, »Abend«, »Kreuzweg«. Dies ermöglicht, dass sich die einzelnen Abschnitte – trotz scheinbar fehlender Kohärenzstrukturen innerhalb des Gesamttextes – nicht nur visuell durch die graphische Strukturierung des Textes, sondern weitestgehend auch semantisch von den vorausgehenden abgrenzen lassen. Man könnte das Verfahren Trakls insgesamt, so auch in diesem Text, als Kombinatorik beschreiben (Kemper 2009, 9, spricht von »Baukasten«). Zwischenorte dominieren die Szenerie auch nach dem Herbstwald und dem Haus. Der ›blaue Abend‹ (Kap. 3) ist eine Reminiszenz

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an die sprichwörtliche ›blaue Stunde‹; er wird durch das auffällige Farbattribut zur Übergangszeit. Auch wird hier mit dem ›Hausflur‹ ein Ort des Übergangs zwischen zwei Räumen benannt. In Kap. 4 ist es wiederum der »Kreuzweg«, an dem sich zwei Wege kreuzen, und der zugleich an die Passion Christi erinnert. Eine Ausnahme bildet lediglich Kap. 5, da hier sowohl auf eine Zeit- als auch auf eine Ortsangabe verzichtet wird. Es erscheint daher insgesamt naheliegend, die hier dargestellte Textwelt als Ort des Übergangs, als Zwischenwelt, zu sehen. Dabei könnte es sich – in Anlehnung an den Titel des Zyklus und des Gedichtbandes – um eine ›Traumwelt‹ handeln, also um eine Welt zwischen Bewusstsein und Unbewusstsein oder um eine Welt zwischen Diesseits und Jenseits, in der das schuldig gewordene implizite ›Ich‹ sich zwischen Verdammnis und Erlösung bewegt. Auch »Verwandlung des Bösen« ist durchzogen von Verweisen auf einen religiösen Kontext. Dies zeigt sich besonders in der häufigen Verwendung von Vokabeln aus dem Wortschatz der Bibel bzw. der christlich–religiösen Tradition wie z. B.: »Aussätzig[er]« (V. 2), »Priester« (V. 24), »Altar« (V. 25), »Engel« (V. 29, 44), »Hölle« (V. 30), »Kreuzweg« (V. 35). Abgesehen von dem Engel im zweiten Abschnitt werden – alle Verweise auf christlich-religiöse Motive, die ursprünglich positiv konnotiert sind und in semantischer Hinsicht mit dem Göttlichen in Verbindung stehen, hier mit negativ konnotierten Wörtern aus dem entgegengesetzten semantischen Feld verknüpft – und durch diesen neuen Kontext ins Dämonische verkehrt: So »schlachtet« zum Beispiel ein »bleicher Priester«, ein »blaues Tier« (die unschuldige Seele des ›Du‹?) auf einem »schwarzen Altar«. Einzig »der Engel mit kristallnem Finger« ist nach der sich auflösenden goldenen Wolke das erste religiöse Motiv, das im »bösen Kosmos des Ichs« Bestand zu haben scheint. Aber auch der »Engel mit kristallnem Finger« bleibt eine ambivalente Figur, da der Kristall innerhalb der Literatur und der Kunst durch seine Klarheit sowohl für das Reine und Göttliche als auch für die Verwandlung steht, weshalb er oftmals auch auf eine jenseitige Welt

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verweist. Kleinste semantische Einheiten aus dem Vokabular bekannter poetischer Texte der Romantik und des Symbolismus wie zum Beispiel die »Berberitzen«, die in Rilkes StundenBuch (»Jetzt reifen schon die roten Berberitzen«; Rilke 1996–2003, I, 228) erscheinen und dort eine Memento-Mori-Funktion haben, werden aufgenommen und rufen die im Intertext mit ihnen assoziierte Konnotation auf. Neben der Verwendung von religiös konnotiertem Vokabular enthält der Text jedoch auch mehr oder weniger deutliche szenische Verweise auf die Bibel. So wird zum Beispiel in Kap. 4 ein Szenario beschrieben, das an die Erzählung vom Sündenfall mit den charakteristischen Elementen (Baum, verführerische Frucht und Schlange) erinnert. Und am Ende des Textes steht eine Begegnung mit der Christusfigur mit einer charakteristischen Abwandlung: »Ein Toter besucht dich. Aus dem Herzen rinnt das selbstvergossene Blut […].« Die Christusfigur wird hier als »Toter« dargestellt – und nicht als Auferstandener mit den typischen Malen der Kreuzigung. Die Begegnung des impliziten Ichs mit Christus wirkt rätselhaft: »in schwarzer Braue nistet unsäglicher Augenblick; dunkle Begegnung« (V. 45 f.). Infolge der syntaktischen Ambiguität bleibt ungeklärt, wem hier die »schwarze Braue« zuzuordnen ist. Die »Braue« in charakteristischer Verschiebung das Auge repräsentierend ist der Ort, wo Ich und Gegenüber punktuell ununterscheidbar werden. Auch der direkt vorangehende letzte Satz des vierten Abschnittes ist ambig: Die personifizierte »Verzweiflung«, die »ins Knie bricht« kann den mentalen Zustand des Ichs ebenso charakterisieren wie eine biblisch-typische Reaktion auf das Numinose. So würde sie auf die nachfolgende düstere Epiphanie verweisen. Die Figuration des Ichs in einen purpurnen Mond könnte jedoch auch als (mystisches) Aufgehen des Ichs im Schmerz Christi gesehen werden, eine Vorstellung, die in der (christlichen) Mystik süß und schmerzhaft zugleich ist und dort eher einer Erlösung gleicht. Der Schlusssatz »Dem folgt unvergängliche Nacht« ist hier ebenfalls ambig. Denn die Nacht kann – in Anknüpfung an Novalis’ Hymnen an die Nacht – einen Zugang zu

G. Braungart und T. Junker

einer transzendenten Realität herstellen. Somit könnte der Schlusssatz auf das Aufgehen in ewiger Transzendenz verweisen. Für diese Lesart spräche auch, dass Trakl durch das Aufgreifen feiner intertextueller Verweise in seinen Werken zahlreiche Vokabeln aus Gedichten der Romantik, nicht zuletzt das von Novalis geprägte Motiv der ›Blauen Blume‹ aufgreift (Esselborn 1991). Je nach Lesart des Schlusses erweitert sich so auch die Bedeutung des Titels: »Verwandlung des Bösen« – nicht zuletzt ein Verweis auf Baudelaires Les Fleurs du Mal (1857), ihrerseits eine intertextuelle Aufnahme der romantischen ›Blauen Blume‹ (vgl. auch die Textstufe 2 H von »An Novalis« (ITA III, 311).

Forschung Die Forschungsgeschichte zu »Verwandlung des Bösen« ist geprägt von mehr oder weniger erfolgreichen Versuchen, den fünf Abschnitten eine Geschichte zu unterlegen oder eine Entwicklungslogik anderer Art zu postulieren. Dazu gehört der einflussreiche und in seiner Konsequenz beeindruckende Versuch Kleefelds, auch diesen Text in ein Narrativ von Inzest, Schuld und Sühne bei Trakl einzugliedern (Kleefeld 1985, 343–360), wobei zu fragen wäre, ob die generelle poetologische Bestimmung des Gedichts – mit einer von Trakls letzten Äußerungen – als »unvollkommene Sühne« (Kleefeld 1985, 110; ITA IV.2, 323) auch für dieses Prosagedicht (und Trakls andere Prosagedichte) gelten könne, denn die Sprechhaltung und der stilistische Duktus unterscheiden sich doch deutlich von den dezidiert lyrischen Texten. Allerdings können die meisten Versuche einer inhaltsbasierten Gesamtdeutung nicht gänzlich überzeugen, weil sie auf die eine oder andere Art zu Vereinseitigungen neigen. Als Reaktion darauf hat Baßler die notorische ›Unverständlichkeit‹ des Textes konstatiert, die »ganzheitlich-hermeneutische Sinndeutungen« (Baßler 1999, 140) scheitern lasse. An die Stelle solcher als unangemessen erachteten Kohärenzbildungen wird von ihm eine deskriptiv-analytische Perspektive gesetzt, »die Assonanzen,

47  »Verwandlung des Bösen« (1913)

Alliterationen und rhythmischen Muster« mit einbeziehe und so eine »spezifische Textur« freilege, »die in diesem wie in vielen anderen Texten Trakls noch einmal je individuell durch syntaktische und rhetorische Muster sekundär strukturiert wird« (Baßler 1999, 139) und stattdessen einer kombinatorisch-assoziativen Textur entspreche. Dem hat man widersprochen. Klessinger (2007, 60–114, bes. 63–71) greift auf die Unterscheidung zwischen Kohärenz und Kohäsion zurück, versucht letztere durch Analyse sprachlicher Mittel zu erweisen und sodann weitergehend auch eine gewisse Kohärenzbildung nachzuweisen, indem sie intertextuelle Referenzen an Dostojewskijs Schuld und Sühne mit einer gewissen Plausibilität nachweist (vgl. auch konzentriert Klessinger 2014). Die luzide Analyse Klessingers muss jedoch mit dem editorischen Faktum umgehen, dass der Name »Sonja«, auf dessen Nennung sich ihre intertextuelle Analyse ganz wesentlich stützt, zwar in der Brenner-Fassung (also der vorletzten Fassung) steht, von Trakl aber dezidiert aufgeben wurde und in der letzten Fassung in Sebastian im Traum durch eine unspezifische ›Tote‹ ersetzt wird. Das kann als Verabschiedung einer mit dieser Figur bei Dostojewskij verbundenen (utopischen) Versöhnungsperspektive und darüber hinaus eines bestimmten Frauenbildes durch Trakl im Übergang zur Buchfassung gedeutet werden. Kemper (2009) widerspricht Baßlers These von der Unverständlichkeit des Textes (die bei diesem zu zuweilen hilflos wirkenden und seltsam ›von außen‹ kommenden kühl-deskriptiven Anmerkungen führen) ebenfalls und setzt an die Stelle angreifbarer Generalhypothesen eine gestufte Strukturbeschreibung, die vor allem auch die Dynamik des Gesamtwerks berücksichtigt. Er bringt für das Verwandlungsmotiv auch die hermetisch-alchemistischen Traditionen, auch der Romantik, ins Spiel (Kemper 2009, 21–23; dazu auch Kleefeld 2009). Einen wichtigen Impuls für die künftige Forschung stellt Kempers Hinweis dar, dass das Prosagedicht selbst in seiner Entstehung einem ›Ver-

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wandlungs‹-Prozess unterliege (Kemper 2009, 20–21). Csúri hat 2016 einen umfassenden Versuch einer Gesamtinterpretation vorgelegt, der vor dem Hintergrund einer souveränen Kenntnis des Gesamtwerks den ganzen Anspielungsreichtum des Prosagedichtes freilegt, aber den Modus einer extensiven Nacherzählung nicht wirklich verlässt und zudem den Schluss im Sinne der früheren (aber eben von Trakl dann verabschiedeten) Titelvariante (»Verdammnis«) unangemessen vereindeutigt.

Literatur Baßler, Moritz: Wie Trakls Verwandlung des Bösen gemacht ist. In: Gedichte von Georg Trakl. Stuttgart 1999, 123–141. Csúri, Károly: Konstruktionsprinzipien von Georg Trakls lyrischen Textwelten. Bielefeld 2016. Esselborn, Hans: Georg Trakl. Die Krise der Erlebnislyrik. Köln/Wien 1981. Esselborn, Hans: »Blaue Blume« or »Kristallene Tränen«? Trakl's poetology and relation to Novalis. In: Eric Williams (Hg.): The dark flutes of fall. Critical essays on Georg Trakl. Columbia S. C. 1991, S. 203–232. Falk, Walter: Leid und Verwandlung. Rilke, Kafka, Trakl und der Epochenstil des Impressionismus und Expressionismus. Salzburg 1961. Kemper, Hans-Georg: »Und dennoch sagt der viel, der ›Trakl‹ sagt«. Zur magischen Verwandlung von sprachlichem ›Un-Sinn‹ in Traklschen ›Tief-Sinn‹. In: Károly Csúri (Hg.): Georg Trakl und die literarische Moderne. Tübingen 2009, 1–30. Kleefeld, Gunther: Das Gedicht als Sühne. Georg Trakls Dichtung und Krankheit. Eine psychoanalytische Studie. Tübingen 1985. Kleefeld, Gunther: Mysterien der Verwandlung. Das okkulte Erbe in Georg Trakls Dichtung. Salzburg 2009. Klessinger, Hanna: Krisis der Moderne: Georg Trakl im intertextuellen Dialog mit Nietzsche, Dostojewskij, Hölderlin und Novalis. Baden-Baden 2007. Klessinger, Hanna: Schuld und Erlösung. Zur Dostojewskij-Rezeption in Georg Trakls Lyrik. In: Gudrun Goes (Hg.): Anklang und Widerhall: Dostojewskij in medialen Kontexten. München/Berlin/Washington D. C. 2014, 32–59. Rilke, Rainer Maria: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Hg. von Manfred Engel und Ulrich Fülleborn. Frankfurt a. M./Leipzig 1996–2003. Zwerschina, Hermann: Die Chronologie der Dichtungen Georg Trakls. Innsbruck 1990.

»Ein Winterabend« (1913)

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Paul Keckeis

Am Abend des 21. Dezember 1913 notiert Trakl im Gasthof »Goldene Rose« in Innsbruck auf der Rückseite eines Briefs von Karl Hauer an Karl Kraus »einige Verse«, die nach eigener Auskunft in »Tagen rasender Betrunkenheit und verbrecherischer Melancholie« entstanden seien (ITA V.2, 559) (Abb. 48.1a und 48.1b). Diesem Gedicht, als »Ausdruck der Verehrung« an Kraus übermittelt, geht allerdings bereits ein erster, intensiv überarbeiteter Entwurf voraus. Schon in jener frühesten überlieferten Fassung umfasst das Gedicht zwölf vierhebige Trochäen, die sich gleichmäßig auf drei Strophen verteilen, vollständig ausgebildet ist zudem der umschließende Reim, außen mit männlichen, innen mit weiblichen Kadenzen; die motivische Gestaltung der zweiten und insbesondere der dritten Strophe variiert hingegen signifikant. So weist die erste überlieferte Textstufe Soforttilgungen, Streichungen, Einfügungen, gestrichene Einfügungen und eine Substitution ganzer Verse auf. Nach weiteren Überarbeitungen der an Kraus adressierten Fassung, insbesondere der Verse sieben und acht der zweiten sowie der dritten Strophe, fertigt Trakl vermutlich noch

P. Keckeis (*)  Institut für Germanistik, Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, Klagenfurt am Wörthersee, Österreich E-Mail: [email protected]

vor Jahresende eine Reinschrift unter dem Titel »Ein Winterabend« an. In dieser Fassung erscheint das Gedicht posthum in Sebastian im Traum. Neben seiner formalen Prägnanz zeichnet sich das Reimgedicht durch eine besondere inhaltliche Klarheit aus. Die erste Strophe situiert die Szene: Es fällt Schnee, die Abendglocke läutet, im wohlbestellten Haus ist der Tisch gedeckt für die Vielen, die dort heimisch sind. Die zweite Strophe entwirft ein Gegenbild: Mancher befindet sich auf Wanderschaft und gelangt nur zufällig an ein solches Haus, das wie der Baum der Gnaden in einer unwirtlichen Umgebung Schutz und Nahrung zu spenden verheißt. Die dritte Strophe zeigt, wie der Wanderer in das durch eine Schwelle vom Draußen getrennte Haus tritt, auf dem Tisch sind Brot und Wein bereitet. Das Gedicht, das zeigt sich allein am Beispiel der beiden zentralen Motive Eucharistie und Wanderschaft, ist intertextuell reich verwoben. Das Motiv der Wanderschaft verdankt sich vermutlich einer Anregung durch Robert Michel. Der Brenner hatte am 10. Dezember im Musikvereins-Saal einen literarischen Abend veranstaltet, bei dem Trakls Vortrag einiger Gedichte von Michels Lesung seiner Novelle Vom Podvelež und eines Auszugs aus dem Roman Die Häuser an der Dzamija gerahmt wurde. Vom Podvelež erzählt die Geschichte eines Mannes, der nach beschwerlichem Heimweg durch den Schnee vor dem Fenster seines

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_48

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Abb. 48.1a unb b  Brief Trakls an Karl Kraus vom 21./22.12.1913 mit der Überarbeitung von »Ein Winterabend«. Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Nachlass Ludwig von Ficker.

Hauses stehend erfriert, während er drinnen von seiner Frau mit dem Nachbarn betrogen wird (vgl. ITA III, 404 f.). Des Weiteren enthält das Gedicht, insbesondere in der ersten Fassung, eine Reihe biblischer Anspielungen; der letzte Vers assoziiert Hölderlins »Brod und Wein«. Im Zuge der literaturwissenschaftlichen Rezeption wurde immer wieder auf die besondere formale und inhaltliche Konsequenz des Gedichts hingewiesen; jedes Element – Rhythmus, Reim, Vokalismus, die polaren Kontraste, die schon im Titel evozierte zyklische Struktur – scheint harmonisch in das Gedichtganze eingebettet. Dieser Irritationsmangel dürfte einer der Gründe für die besondere Popularität des Gedichts sein. Gerhard Kaisers Einschätzung, wonach »Ein Winterabend« Trakls »berühmtestes Gedicht« (Kaiser 1999, 142) sei,

lässt sich mit Blick auf einige Zeugnisse der Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte konkretisieren: Anton von Webern komponierte auf Grundlage von Trakls Text 1918 das Orchesterlied Ein Winterabend, op. 13, Nr. 4 (vgl. Gerlach 1973); Heinz Holliger schrieb Zwei Lieder für Alt und grosses Orchester nach Gedichten von Georg Trakl (vgl. Ericson 2004, 139–152); als eines von neun in Salzburg ausgestellten Gedichte Trakls wurde es an der Wand neben dem Nordeingang der Christuskirche am Salzachkai angebracht (vgl. Klimek 2021); in Hans Braams Anthologie Die berühmtesten deutschen Gedichte (2019) scheint »Ein Winterabend« – beschränkt auf Gedichtsammlungen von 1951 und 2004 – knapp hinter »Grodek« unter den 100 meistausgewählten deutschsprachigen Gedichten auf.

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Auch Martin Heidegger nimmt die besondere ›Verständlichkeit‹ zum Ausgangspunkt seiner Interpretation von Trakls Gedicht. In Unterwegs zur Sprache, Heideggers späten sprachphilosophischen Schriften, figuriert »Ein Winterabend« als paradigmatisches Beispiel eines Gedichts, aus dem »rein Gesprochenes zu hören« sei (für das Folgende vgl. Heidegger 2018, 14– 30). Trakls Gedicht eignet sich nicht zuletzt deshalb als Exemplum seines gegen die Pragmatik gewendeten ›Leitsatzes‹, wonach die »Sprache spricht«, weil es keinen expliziten Verweis auf die Diskursinstanz enthält. Heidegger charakterisiert »Ein Winterabend« als »großgeglückten Fall eines Gedichts«, dessen Inhalt »verständlich«, in dem kein Wort »unbekannt oder unklar« sei, dessen Verse »eine besondere Schönheit der gebrauchten Bilder« enthielten; Trakls Gedicht – »[d]aß er der Dichter ist, bleibt unwichtig« – widerspreche damit der Vorstellung, dass »die Sprache der vom Menschen vollzogene Ausdruck innerer Gemütsbewegungen und der sie leitenden Weltansicht« sei. Dem zweiten Vers der dritten Strophe – »Schmerz versteinerte die Schwelle« – kommt in Heideggers philosophisch-poetologischer Aneignung zentrale Bedeutung zu: Das einzige Präteritum des Gedichts verortet sein Sprechen jenseits dieses Schmerzes, der die Wahrnehmung einer Differenz zwischen Innenwelt und Außenwelt, aber auch zwischen dem »Sprechen der Sterblichen« und dem »Sprechen der Sprache« bezeichnet (Halász 2017, 213–219). Von der Trakl-Forschung intensiv rezipiert bildet Heideggers Lektüre in fast allen vorliegenden Interpretationen des Gedichts eine gleichsam unhintergehbare Referenz. Auch Werner Kraft liest »Ein Winterabend« in Anspielung auf Heidegger als »vollkommene[s] Gedicht« (Kraft 1984, 6), das Hölderlins »Brod und Wein« noch überlegen sei, weil es nicht dessen »Überfülle des Herrlichen« (ebd., 7) enthalte: »Ergreifend ist es, zu sehen, wie auf dem Weg der Besinnung dieses religiöse Gedicht zum Gedicht wird, indem es alles Religiöse energisch abwirft, um nun erst nicht mit dem Schein des Religiösen zu prunken, sondern im Gehalt des Religiösen schweigend zu leben«

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(ebd., 8). Krafts heilsgeschichtlich orientierte, emphatische Lektüre – »Es gibt in dem Gedicht keine Lücke« (ebd., 9) – findet in der jüngeren Deutungsgeschichte kaum Anschluss. Gerhard Kaiser hat eine inzwischen kanonisch gewordene Interpretation des Gedichts vorgelegt, derzufolge »Ein Winterabend« nur auf den ersten Blick ein »schlichtes genrehaftes Situationsbild« repräsentiere; die »besondere Anziehungskraft« verdanke sich vielmehr »der Verschmelzung weit auseinanderliegender Bereiche zu einem vermeintlich einfachen, in sich stimmigen, in Wirklichkeit sehr vielschichtigen Ganzen« (Kaiser 1999, 143). Von dieser Beobachtung ausgehend arbeitet Kaiser die motivische und formale Komplexität des Gedichts heraus. So macht er etwa auf die syntaktische Uneindeutigkeit der ersten Strophe aufmerksam. Dem Nebensatz des ersten Verses – »Wenn der Schnee ans Fenster fällt« – korrespondiert weder im zweiten – »Lang die Abendglocke läutet« – noch im dritten Vers – »Vielen ist der Tisch bereitet« – der syntaktisch geforderte Dann-Hauptsatz. Zudem entspricht die Wortfolge SubjektPrädikat im dritten und vierten Vers – »Und das Haus ist wohlbestellt« – einem Hauptsatz. Die syntaktische Verbindung zwischen den ersten zwei und den letzten beiden Versen der ersten Strophe löst sich damit auf: »Dieser Satzbau der Strophe bringt den Leser, der sich auf die Einladung des ›wenn‹ einläßt, in einen fast unmerklichen Sog und läßt ihn in das Gedicht wie in einen Traum hineinschwimmen« (ebd., 146). Grundlage der Interpretation Kaisers bildet ein detaillierter Vergleich zwischen der zweiten, durch Trakls Brief an Kraus erhaltenen Textstufe und der letzten, in Sebastian im Traum publizierten Fassung des Gedichts. Die dritte Strophe des von Kaiser irrtümlich als Erstfassung bezeichneten Gedichts lautet: »O! des Menschen bloße Pein, / Der mit Engeln stumm gerungen / Langt von Schmerzen süß bezwungen / Still nach Gottes Brot & Wein.« In der Letztfassung lautet die dritte Strophe: »Wanderer tritt still herein; / Schmerz versteinerte die Schwelle. / Da erglänzt in reiner Helle / Auf dem Tische Brot und Wein« (ITA III, 414). Trakls Überarbeitung, so Kaiser, folge dem Prinzip des

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›Ordnens‹ und der ›Verrätselung‹: So werden die biblischen Bezüge, etwa die Anspielung auf den nächtlichen Kampf des jüdischen Erzvaters Jakob mit dem Engel (1. Mose 32,22 f.), in der dritten Strophe getilgt; dagegen gewinne die »polare Ordnung« in der Zweitfassung »durch das neu eingeführte, alle Übergängigkeiten sammelnde Zeichen der Schwelle« noch deutlicher Kontur (Kaiser 1999, 144). Die Pointe der Traklschen Überarbeitung liegt für Kaiser in der poetischen Erzeugung von Unverfügbarkeit: »Die Wanderschaft ist auch Wanderschaft zum Gedicht; der Eintritt ins Haus ist auch Eintritt in die Verse. Nur im Haus des Gedichts leuchtet das Sein selig auf. Draußen ist Dunkelheit. Christus ist nicht im Gedicht anwesend, denn es steht an seiner Stelle, aber ohne Erlösungskraft« (ebd., 149). Diese poetologische Volte entspreche aber nicht der »triumphalen Selbstgenügsamkeit des ›L’art pour l’art‹; stattdessen repräsentiere der zweite Vers der dritten Strophe den leidvollen Ausdruck der künstlerischen Erfahrung, wonach die Welt durch das Kunstwerk »in einen Dornröschenschlaf versetzt, stillgestellt, versteinert« werde (ebd., 151): »Es ist der untergründige tiefe Schmerz, daß das Aufleuchten des reinen Seins im Gedicht ›ungreifbar‹, nicht lebbar ist« (ebd., 149). Literaturhistorisch verortet Kaiser Trakls Gedicht zwischen Hölderlin und Celan: Der in Hölderlins Elegie betrauerte »Entzug des Himmlischen« werde in »Ein Winterabend« derart gesteigert, dass »der heilsgeschichtliche Bogen […] zum Punkt des Entzugs, zum Augenblick des Unfaßbaren« geschrumpft sei (ebd., 152). In dieser Bewegung weise Trakls Gedicht auf Celan voraus: »Nicht mehr das Brot, vielmehr die Wörter und Sätze werden hier gebrochen« (ebd., 153). Die Interpretation Laura Gerber-Wielands ist eng an Kaiser orientiert, akzentuiert aber noch dessen Befund einer das Gedicht strukturierenden polaren Ordnung: »Die in der sprachlichen Textur entworfenen antithetischen Vorstellungsfelder entzünden sich gleichsam an der Schwelle, die das Außen und das Innen in trennenden und verbindenden Bezug zueinander stellt« (GerberWieland 2002, 106). Diametral zu Kraft deutet

P. Keckeis

Gerber-Wieland das Gedicht als Ausdruck einer ewigen »Versagung des Ersehnten«: »Das Wandern meint auch die Wanderschaft in das Gedicht, in das lyrische Sprechen, das Ringen um dem Darzustellenden adäquate Worte. In der Passion erleidet das lyrische Ich die Begrenztheit der Sprache« (ebd., 108). Im Kontext seiner intratextuellen Bezüge – zu denken wäre hier unter anderem an »Psalm« (I), »De profundis« (II), »Menschheit« oder »Das Gewitter« – zeichnet sich »Ein Winterabend« als Beispiel einer besonders kondensierten Form der lyrischen Anverwandlung biblischer Topoi aus (vgl. Doppler 2001, 82–88). Vor dem Hintergrund dessen, dass die literaturwissenschaftliche Rezeption die subtil eingearbeiteten, jenem Eindruck der Harmonie entgegenstehenden motivischen und syntaktischen Irritationen des Gedichts in den Mittelpunkt stellt, sei abschließend darauf hingewiesen, dass Trakls Wertschätzung für Karl Kraus auch in einer, selten thematisierten, lyrikpoetologischen Verwandtschaft begründet sein dürfte. Die prekäre Idylle ist in der lyrischen Moderne der Ort, wo die Spannung zwischen der drohenden Verdinglichung lyrischer Sprechweisen und ihrer Hermetisierung noch präsent gehalten werden kann.

Literatur Doppler, Alfred: Die Lyrik Georg Trakls. Beiträge zur poetischen Verfahrensweise und zur Wirkungsgeschichte. Salzburg/Wien 2001. Ericson, Kristina: Heinz Holliger. Spurensuche eines Grenzgängers. Bern/Berlin/Brüssel/Frankfurt a.M./ New York/Oxford/Wien 2004. Gerber-Wieland, Laura: Textur in Wort und Klang. Die Lyrik Georg Trakls und die Trakl-Lieder Anton Weberns im Spannungsfeld von Sprache und Musik. Freiburg i. Br. 2002. Gerlach, Reinhard: Kurt von Fischer zum sechzigsten Geburtstag. Anton Webern: Ein Winterabend op. 13, Nr. 4. Zum Verhältnis von Musik und Dichtung oder Wahrheit als Struktur. In: Archiv für Musikwissenschaft 30/1 (1973), 44–68. Görner, Rüdiger: Georg Trakl. Dichter im Jahrzehnt der Extreme. Wien 2014. Halász, Hajnalka: Differenzen des Sprachdenkens. Jakobson, Luhmann, Humboldt, Gadamer und Heidegger. Bielefeld 2017.

48  »Ein Winterabend« (1913) Heidegger, Martin: Unterwegs zur Sprache. Frankfurt a. M. 22018 (Gesamtausgabe I.12). Kaiser, Gerhard: Brot und Wein. Epiphanie statt Kommunikation. In: Hans Georg Kemper (Hg.): Interpretationen. Gedichte von Georg Trakl. Stuttgart 1999, 142–154. Klimek, Sonja: Raum in der Lyrik – Lyrik im Raum. Zur Installation von Gedichten Georg Trakls in der Stadt

313 Salzburg. In: Claudia Hillebrandt/Sonja Klimek/ Ralph Müller/Rüdiger Zymner (Hg.): Grundfragen der Lyrikologie. Bd. 2: Begriffe, Methoden und Analysedimensionen. Berlin/Boston 2021, 543–560. Kraft, Werner: Ein Gedicht von Georg Trakl. In: Ders. (Hg.): Österreichische Lyriker. Eisenstadt 1984, 5–9.

»Die Verfluchten« (1912/13)

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Daniel Carranza

Der konzeptuelle Ausgangspunkt des Gedichtes findet sich in »Unterwegs« (I), das 1912 entstanden ist, von Trakl aus der Satzvorlage für die Gedichte ausgeschieden wurde und dessen vierte und fünfte Strophe er dann in der zweiten und dritten Strophe von »Die Verfluchten« verarbeitet hat. Erstmals abgedruckt wurde das Gedicht im dritten Jahrgang des Brenner im Juni 1913 und in dieser Fassung auch in Sebastian im Traum wiederveröffentlicht. Der dritte Abdruck in Die Pforte aus dem November 1913 weist eine deutlich abweichende Version der Schlussstrophe auf (vergl. ITA II, 442; Zitation im Folgenden nach ITA II, 439 f. mit Versangabe, wo nicht anders angegeben). Trakls »Die Verfluchten« ist ein Triptychon, in dem jedes Gedicht drei vierzeilige Strophen in einem durchgängig umarmenden Reim enthält. Die Verszeilen – sieht man vom Eingang ab – sind im jambischen Pentameter mit männlicher Kadenz verfasst. In allen drei Gedichten lässt sich eine raumzeitliche Progression verfolgen: Im ersten »dämmert« es (V. 1); im zweiten ist es »Abend« (V. 13); während im dritten die »Nacht« ganz »schwarz« geworden ist

D. Carranza (*)  Department of Germanic Languages & Literatures, Harvard University, Cambridge, USA E-Mail: [email protected]

(V. 33). Das erste Gedicht beginnt mit einem Panoramablick auf ein Dorf, der ab der zweiten Strophe eine »Schenke« fokussiert (V. 5); das zweite Gedicht bewegt sich nach drinnen, womöglich in den Raum hinter den beleuchteten »Scheiben« des ersten Gedichts (V. 9); das dritte Gedicht kehrt wieder nach draußen, »[i]ns braune Gärtchen« (V. 25), zurück. Folgt man diesen raumzeitlichen Markierungen, so lässt sich das Triptychon als eine Abfolge von drei lose ineinandergreifenden Situationen zusammenfassen. Im ersten Gedicht werden die Figuren einer »Kleine[n]«, die »vor der Glastür wartet« (V. 8), und eines »krumme[n] Schreiber[s]« (V. 11) eingeführt. Unmittelbar voran geht der weiblichen Figur dabei der »Klimperklang von Geld« (V. 6), der sie in die Nähe der Käuflichkeit, im erweiterten Sinne der Prostitution rückt. Das zweite Gedicht wiederum kann als Schilderung der darauffolgenden sexuellen Vereinigung gesehen werden: »ein finstrer Gast« »schließt die Tür« (V. 14). Die Dirne wird in diesem Zusammenhang als Personifikation der »Pest« resymbolisiert, der man zuerst beim Weben »ihr[es] blau[en] Gewand[es]« begegnet (V. 13). Die zweite Strophe dieses zweiten Gedichts, die das Zentrum des Triptychons bildet, könnte dabei auch als eine unschuldige, jedoch synekdochisch fragmentierte Umarmung zwischen Mutter und Kind gelesen werden, denn die männliche Figur verwandelt sich nun in ein Kind: »Ein Knabe legt die Stirn

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in ihre Hand« (V. 16), »Des Kindes Hände rinnen durch ihr Haar« (V. 18). Die nächste Strophe unterminiert oder relativiert zumindest diese semantische Möglichkeit jedoch durch eine Bildsprache erotisierter Gewalt: »Ein Nest von scharlachfarbnen Schlangen bäumt / Sich träg in ihrem aufgewühlten Schoß« (V. 21 f.). Das Ergebnis ist eine Totgeburt: Die Arme der personifizierten Pest »lassen ein Erstorbenes los« (V. 23). Im dritten Gedicht werden die männliche und die weibliche Figuren abermals in neuen Registern inszeniert: die weibliche Figur als »fremde[] Frau« (V. 27), die männliche Figur als sterbendes Kind, das in einem rätselhaften Bild der Begegnung mit dem Tod vergeht. Eine Frau namens Sonja, die an die heilige Hure aus Dostojewskijs Verbrechen und Strafe gemahnt (s. u.) und auch in der »Verwandlung des Bösen« und in dem »Sonja« betitelten Gedicht auftaucht (ausführlich hierzu Klessinger 2007, 59–114), greift mit einer (ihrer?) »Hand / Der Toten« (V. 35 f.) in seinen Mund. Trotz dieses rekonstruierbaren Handlungsgerüsts von Begegnung, Umarmung und Tod stellen die drei Gedichte jedoch keine eindeutigen ›Ereignisse‹ dar, sondern eher vage konnotierte Situationen, deren Erzählbarkeit auf Kosten einer starken Reduzierung der semantischen Mehrdeutigkeit erfolgt. Die Strophen kennzeichnet in der Regel die für Trakl typische Übereinstimmung von Satz- und Versgrenzen, also eine Parataxe der Bilder, die bisweilen auch ohne Verben auskommt und an deren Stelle grammatikalisch freistehende Nominalblöcke etabliert: »Gitarre summt; ein Klimperklang von Geld« (V. 7). Diese Parataxe hält sich auch in den auffällig gehäuften Enjambements im dritten Gedicht durch, die Vers- und Strophengrenzen überschreiten, um das inhaltlich Vorhergegebene semantisch umzukehren: »Resedenduft; und glühendes Gefühl / Des Bösen« (V. 28 f.); »leise greift in seinen Mund die Hand / Der Toten« (V. 35 f.). Die Enjambements führen, wie die genannten Beispiele deutlich machen, in harter Fügung Genitivkonstruktionen syntaktisch ein, um diese zugleich performativ zu durchbrechen. Diese Steigerung des parataktischen Reihungsstils, insbesondere dessen

D. Carranza

Setzung von agrammatikalischen Adjektiv- bzw. Adverbpaaren am Ende der Verszeile (s. u.), schwächt die übergreifende Sinnstruktur eines elliptisch angedeuteten Narrativs, das die drei Gedichte und ihre widersprüchliche Bildlichkeit in einen integralen Handlungsprozess synthetisieren würde und führt statt dessen zu einem Tryptichon von drei Bildzentren, die in mehr als einer Richtung aufeinander bezogen werden können. Angesichts der Strukturambivalenz zwischen parataktischem Reihungsstil und narrativem Richtungssinn im Triptychon besitzen die männlichen und weiblichen Figuren im Gedicht keine feste Identität, sondern eher eine multilaterale Identifizierbarkeit. So oszilliert die weibliche Figur zwischen Rollen, denen Unschuld oder Schuld anhaftet: morbide Hure oder jungfräuliche Mutter, kleine Heilige oder Personifikation der Pest. Doch auch die männliche Figur changiert zwischen gegensätzlichen semantischen Wertsphären: Legt im zweiten Gedicht noch der »Knabe […] die Stirn in ihre Hand«, so beugt im dritten Gedicht die »feuchte Stirn kalt und bleich / Sich über Unrat, drin die Ratte wühlt« (V. 30) in einer Art Büßergeste, die Schuld und Scham suggeriert. Eine lexikomorphemische Wiederholung assoziiert dieses Wühlen der Ratte mit den phallischen Schlangen im »aufgewühlten Schoß« der Pest sowie mit dem »wilden Aufruhr« des Elements in der ersten Strophe und evoziert hierdurch ein Paradigma schändlich gewaltsamer männlicher Sexualität. Der Fluch der Verfluchten besteht darin, dass die Protagonisten beiderlei Geschlechts einem Schwanken zwischen schuldhaft verstrickter Sexualität und vorgeschlechtlicher Reinheit ausgesetzt sind. Damit einhergehend werden die semantisch entgegengesetzten Bereiche des »Bösen« und des Heiligen systematisch miteinander verschränkt. Diese tiefgreifende Ambivalenz des Erotischen verdankt sich letztlich der globaleren Ambivalenz zwischen narrativem Richtungssinn und parataktischem Reihungsstil. Um diese zentrale poetische Spannung aufrechtzuerhalten, werden jedoch konkretere poetische Strategien eingesetzt. Ein Netzwerk von Bildrekur-

49  »Die Verfluchten« (1912/13)

renzen, lexikalischen Variationen und syntaktischen Parallelismen durchzieht das Gedicht auf paradigmatischer Ebene. Dieses Netzwerk lässt sich rekonstruieren, indem man drei Muster im Gedicht untersucht: erstens das zwischen Farben und Farbwörtern; zweitens das zwischen Adjektiv- oder Adverbpaaren; und drittens das zwischen Körpergesten. So wird schon zu Beginn des Triptychons die Farbe Rot mit einer Semantik der erotischen männlichen Gewalt assoziiert: »Im Dunkel der Kastanien lacht ein Rot« (V. 2). Im zweiten Gedicht wird dieses Rot in den »scharlachfarbnen Schlangen« gesteigert, im letzten Gedicht schließlich ist die gesamte Szenerie »[v]om Scharlachglanz« (V. 31) erfüllt. Blau wiederum wird im ersten Gedicht zunächst mit einer weiblichen Unschuld enggeführt, einem »Heiligenschein«, der im Glas einen »blauen Glanz« erweckt (V. 9), der im zweiten Gedicht jedoch als »blaues Gewand« der Pest zurückgespiegelt wird. Farben werden hier also über die Grenze einer semiotischen Unterscheidung hinübergezogen und somit eine Interferenz zwischen entgegengesetzten semantischen Bereichen erzeugt. Eine syntaktische Parallelität deutet darauf hin, dass Blau am Ende des Gedichts die Funktionsstelle von Rot übernommen hat: Die zweite Zeile des ersten Gedichts, »Im Dunkel der Kastanien lacht ein Rot« (V. 2), verwandelt sich in der zweiten Zeile des letzten Gedichts in »Im Dunkel der Kastanien schwebt ein Blau« (V. 26). Weitere lexikalische Parallelen werden schnell deutlich: Wenn das erste Gedicht einen »blaue[n] Glanz«, »Umrahmt von Dornen, schwarz und starrverzückt« apostrophiert (V. 9 f.), so schildert das dritte Gedicht eine Szenerie »[v]om Scharlachglanz der Sterne lau umspült« (V. 31). Ein ursprünglich ›gerahmtes‹ und eingeschlossenes blaues Leuchten im ersten Gedicht wird im dritten Gedicht entgrenzt und »schwebt« als freigesetzte Farbqualität ohne unterliegendes Substrat. Das freischwebende Rot des ersten Gedichts wiederum ist nun in zweiten und dritten eingeschränkt, indem es nicht nur den Schlangen zugeschrieben wird, sondern auch den Sternen, deren Glanz die im Unrat wühlende Ratte ›umspült‹. Als Lexeme

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durchlaufen Rot und Blau somit eine chiastische Grenzüberschreitung zwischen den semantischen Sphären männlich kodierter erotischer Gewalt und weiblich kodierter heiliger Unschuld, sodass erstere im Laufe des Triptychons eine Konnotation der rituellen Reue, letztere eine der erotischen Morbidität erhält. (In jener Variation der Schlussstrophe, die sich in der Pforte findet, tritt im sich »purpurn« bäumenden »Fieberlämpchen« mit gewisser Konsequenz nochmals eine zwischen rot und blau changierende Farblichkeit ans Ende des Gedichts; vergl. ITA II, 442.) Die Substantivierung von Farben als grammatikalische Agenzien (»ein Rot«, das lacht, oder »ein Blau«, das »schwebt«) lässt ein zweites, allgemeineres Strukturmuster hervortreten, nämlich die Trennung sensorischer Qualitäten von den ihnen zugrundeliegenden Substanzen, in deren Folge deskriptive Prädikate von grammatischen Subjekten freigesetzt werden. Am deutlichsten ist dies in der durchgängigen Verwendung von Adjektiv- oder Adverbpaaren am Ende von Verszeilen zu beobachten. In der exakten Mitte des Triptychons treten drei solcher Beschreibungspaare in derselben Strophe auf: »Oft sinken ihre Lider bös und schwer. / Des Kindes Hände rinnen durch ihr Haar / Und seine Tränen stürzen heiß und klar / In ihre Augenhöhlen schwarz und leer« (V. 17–20, Hervorhebung DC). In der Überwindung sowohl der grammatikalischen Wortfolge wie des Bedürfnisses nach grammatikalischen Endungen werden hier deskriptive Paare jeweils am Versende positioniert (vgl. Brown 1967). Ob es sich bei den Deskriptoren um Adjektive oder Adverbien handelt, ist somit oft nicht mehr nachzuvollziehen, wie sich etwa an der Zeile »Am Fluß die Schenke tönt noch lau und leis« demonstrieren lässt. Das »leis« könnte sich adjektivisch sowohl auf den Flusslauf als auch auf die »Schenke« selbst beziehen, oder adverbial auf die Art und Weise, wie die Schenke »tönt«. Ebenso scheint »lau« das laue Wasser des Flusses zu referenzieren, könnte aber auch auf die Stimmung der Schenke oder sogar auf das Verb »tönt« bezogen werden. Das Attributpaar »lau und leis« kann also sowohl auf die Substantive (Fluss, Schenke) als auch auf das Verb in derselben Zeile verweisen,

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wodurch sich eine Pluralität möglicher askriptiver Beziehungen ergibt. Insgesamt kommen im Triptychon neun solcher Attributpaare vor. Die deskriptiven Modifikatoren lösen sich dadurch von den festen Gegenständen, Personen und sogar Handlungen, um in eine freischwebende Suspension einzutreten, eine imaginäre Welt mit verschwommenen, wellenförmigen Konturen. Der Text verwendet darüber hinaus rekurrente Körpergesten als Motive, die die drei Gedichte auf der thematischen Ebene der Stimmung miteinander verbinden. Diese Gesten betreffen fast immer die überwältigende Schwerkraft einer versinkenden Bewegung, also eine existentielle Belastung: »Sonnenblumen sinken übern Zaun« (V. 4); »Durchs Fenster sinkt des Ahorns schwere Last« (V. 15); »Oft sinken ihre Lider bös und schwer« (V. 17). Diese Abwärtsneigung wird im Laufe des Triptychons in eine intensivere Bewegung gesteigert: »Und seine Träne stürzen heiß und klar / In ihre Augenhöhlen« (V. 9 f.); »Die feuchte Stirn beugt kalt und bleich / Sich über Unrat« (V. 29 f.); »Im Garten fallen Äpfel dumpf und weich« (V. 32); in der abweichenden Fassung der Schlussstrophe »stürzt« auch »der Föhn« (ITA II, 442). Das Paradigma der gestischen Bewegungen – Sinken, Stürzen, Sichbeugen, Fallen – gipfelt in einer biblischen Anspielung, der Evokation der verbotenen Frucht im Garten Eden. Der Abfall von der Unschuld des Ursprungs in den schuldhaften Zwiespalt der Geschlechter stellt kein singuläres Ereignis dar, das im Rahmen einer Heilsgeschichte durch den korrespondierenden Erlösungsakt des Kreuzes neutralisiert werden könnte. Vielmehr erscheint der Sündenfall als ein Ereignis, das den Prinzipien der Iteration einerseits und der Umkehrbarkeit andererseits unterliegt: Im Garten fallen mehrere »Äpfel« (V. 32) und keine Erlösung ist in Sicht, nur ein ambivalentes Hin und Her zwischen Schuld und erneuter, vorübergehender Unschuld. Nur in diesem letzten Gedicht wird solch schizoides Pendeln zwischen den Extremen mit der Plötzlichkeit eines poetischen Überraschungseffekts, den das hart fügende Enjambement auslöst, spürbar: »Resedenduft; und glühendes Gefühl / Des Bösen« (V. 28 f.).

D. Carranza

Intertextuelle Bezüge Diskutiert wird »Die Verfluchten« in der Forschung nicht zuletzt aufgrund der über den Namen »Sonja« markierten intertextuellen Beziehung des Gedichtes zu Dostojewskijs Verbrechen und Strafe. So erkennen einige Interpreten im Namen eine Figur der Erlösung, die das Gedicht zu einem Ende bringt, andere hingegen eine mehrdeutige, sogar tödliche Figur aufgerufen. Lachmann identifiziert »Sonja« als »die Gegenposition zu dem Gespenst« im zweiten Gedicht des Triptychons, also als eine Art erlösende Überwindung der Paradoxien des Gedichts: Sie repräsentiere »das Urbild von Trakls Sehnsucht nach Reinheit« als einen Menschen, »der an Schuld teil hat, aber bereits in der Sühneregion schwebt« (Lachmann 1954, 147; allgemeiner vgl. Kleefeld 1985). Csúri deutet das Ende hingegen als den Tod Sonjas (und nicht den des Jungen), denn nur im Tod könne diese ihre Unschuld wiedererlangen: »Die Unschuldige wird in der irdisch-menschlichen Welt verführt und kann, sich aus dem Netz des Bösen befreiend, ihre heilige Reinheit erst im Tod zurückgewinnen« (Csúri 2016, 169). Für Klettenhammer fixiert der Name wiederum die semantischen Gegensätze in einem unaufgelösten, paradoxen Bild (Klettenhammer 1996, 203). Diese Lesart besitzt eine gewisse Plausibilität; vor allen anderen Figuren hat Sonja Teil am irisierenden Spiel der Ambivalenz im Text, das sich jeder endgültigen semantischen Bestimmung zugunsten einer mehrseitigen Beziehbarkeit und syntagmatischen Umfunktionierung von Wörtern entzieht. Ihr Lächeln, »sanft und schön« (V. 36), steht dem ›wie verrückten‹ Lächeln des »krummen Schreiber[s]« der ersten Strophe entgegen.

Literatur Baßler, Moritz: Wie Trakls Verwandlung des Bösen gemacht ist. In: Gedichte von Georg Trakl. Stuttgart 1999, 123–141. Brown, Russel E.: Attribute Pairs in the Poetry of Georg Trakl. In: Modern Language Notes 82 (1967), 439445.

49  »Die Verfluchten« (1912/13) Csúri, Károly: Konstruktionsprinzipien von Georg Trakls lyrischen Textwelten. Bielefeld 2016. Kleefeld, Gunther: Das Gedicht als Sühne. Georg Trakls Dichtung und Krankheit. Eine psychoanalytische Studie. Tübingen 1985. Klessinger, Hanna: Krisis der Moderne. Georg Trakl im intertextuellen Dialog mit Nietzsche, Dostojewskij, Hölderlin und Novalis. Würzburg 2007.

319 Klettenhammer, Sieglinde: Figurationen des Weiblichen in der Lyrik Georg Trakls. In: Károly Csúri (Hg.): Zyklische Kompositionsformen in Georg Trakls Dichtung. Szegeder Symposion. Tübingen 1996, 189–215. Lachmann, Eduard: Kreuz und Abend. Eine Interpretation der Dichtungen Georg Trakls. Salzburg 1954.

»Entlang« (1913)

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Philipp Theisohn

Die erste Niederschrift des Gedichtes erfolgte im August 1913 auf einer Postkarte (Abb. 50.1); eine erste, von Robert Müller besorgte Druckfassung erschien im November 1913 in der Lyrikanthologie Die Pforte. Eine zweite, interpretationswürdige Abweichungen aufweisende Druckfassung findet sich sodann in Sebastian im Traum (zur Textgenese ITA III, 31; Zitation im Folgenden nach ITA III, 37 f.). Das Gedicht ist untergliedert in vier vierzeilige Strophen, lautlich gefügt durch einen Schweifreim, wobei der umarmende Reim eine weibliche, der Paarreim eine männliche Kadenz aufweist. Der erste, zweite und vierte Vers jeder Strophe besitzt drei, der dritte vier Hebungen. Die Regelhaftigkeit in Hebungsverteilung und Reimschema wird konterkariert durch die Metrik: Aus dem freien Umgang mit Doppelsenkungen resultiert eine unentwegte Verschiebung des Versfußes, sodass eine genaue metrische Bestimmung im Grunde unmöglich wird. Eindeutig trochäisch gestaltet sich Vers 6, eindeutig daktylisch Vers 10. Die restlichen Verse beginnen amphibrachysch (V. 1, 2, 15), daktylisch (V. 3, 4, 5, 8, 11, 16) oder tro-

P. Theisohn (*)  Deutsches Seminar, Universität Zürich, Zürich, Schweiz E-Mail: [email protected]

chäisch (V. 7, 9, 12, 13, 14), um sodann vom festen Schema abzuweichen. Selbst, wenn man einen Normierungsversuch unternimmt und die jeweiligen Auftakte als solche gelten lässt (mit der Folge, dass »Entlang« eines der wenigen späteren Gedichte Trakls mit einem wechselnden Auftakt wäre; vergl. Wetzel 1968, 54 f.), entzieht sich die Metrik des Textes einer greifbaren Systematik. Auffällig bleiben gleichwohl die dabei auftretenden Adoneen im Versschluss (V. 4, 9, 12, 13, 16). Das Gedicht bewegt sich somit »entlang« einer akustisch wahrnehmbaren, mit der Rhythmik aber nicht verschmelzenden Achse, was ein Blick auf die Silbenverteilung unterstreichen kann. Die vier Strophen versammeln insgesamt 120 Silben, sodass auf jede Strophe regelhaft 30 Silben entfallen müssten. Dies gilt jedoch nur für die dritte Strophe, Strophe 1 umfasst 32, Strophe 2 27 und Strophe 4 31 Silben. Eine Symmetrie in der Silbenzahl ergibt sich jeweils in den umschließenden Versen: In Strophe 1 weisen erste und vierte Zeile, jeweils acht, in Strophe 2 und 3 jeweils sieben Silben auf. Nur die letzte Strophe verfehlt dieses Muster: Den sieben Silben in Vers 13 stehen acht Silben in Vers 16 gegenüber. Somit wird auch hier eine gedichtübergreifende strukturelle Spiegelung zwar sichtbar, aber doch um genau eine Silbe unterlaufen. Eigentümlich ist dem Gedicht im Weiteren ein perspektivisches Schisma, das die erste, die

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_50

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Abb. 50.1  Erste Niederschrift von »Entlang« auf einer Postkarte des Verlags »Die Fackel«; Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Nachlass Ludwig von Ficker.

dritte und die vierte Strophe (mit Ausnahme des dritten Verses) als impressionistisch anmutende Reihung von Sinneseindrücken von der zweiten Strophe als Reflexion der Sprechposition trennt. So präsentiert sich der Text in seinem Eingang als Herbstgedicht, wie es bei Trakl regelhaft mit den Attributen der Ernte verbunden ist (etwa »Mit goldenem Wein und Frucht der Gärten« in »Verklärter Herbst«; ITA II, 50). Zugewiesen ist diesen aber immer auch ein Gerichtstag: An dem, was geerntet wurde, ist der Stand der Ordnung abzulesen, in der diese Ernte statthat. »Langsam reift die Traube, das Korn / Wenn sich stille der Tag neigt / Ist ein Gutes und Böses bereitet«, heißt es im Ende 1913 entstandenen »Die Sonne« (ITA III, 391), und wenn »Entlang« mit den Worten »Geschnitten sind Korn und Traube« (ITA III, 37) beginnt, so tritt das Gedicht just auf die Schwelle, hin-

P. Theisohn

ter der Gutes wie Böses bereitet ist. Aufgerufen werden in »Korn und Traube« auch Brot und Wein, also die Eucharistie und das Geschehen von Verrat, Opfer und Auferstehung, das der Herbstidylle hinterlegt ist. Die liminale Spannung findet ihren Ausdruck in der Gleichzeitigkeit von Stillstand und Bewegung der Folgezeilen: Dem »Weiler in Herbst und Ruh« kon­ trastiert der anwährende Klang von »Hammer und Amboss«. Es ist eine menschenlose Betriebsamkeit, die hier waltet: Überdauert hat sie die Ernte, und wie Korn und Traube, wie Hammer und Amboss, so ist auch das »Lachen in purpurner Laube« ohne Trägerschaft, sondern vielmehr selbst Subjekt. Gleiches gilt für die »Stirn, die sich fürchtig belauscht« und das »[b]laue[] Orgelgeleier« in der dritten Strophe. Die Welt des Gedichtes ist – so scheint es zunächst – menschenleer. Spürbar wird diese Entleerung in der Ablösung der Phänomena von ihren Ursprüngen, der Teile vom Ganzen, aber auch grundsätzlich in der asyndetischen Reihung der Bilder, die sich vom Kleinsten (dem »Fischlein im Weiher«) bis zum Kosmisch-Großen (»Stern und heimlich Gefunkel«) zieht. Dieser Welt gegenüber tritt freilich nun die lyrische Stimme, die in der zweiten Strophe selbst kenntlich wird, insofern sie nicht mehr beschreibt, sondern anweist. Inmitten der verwaisten Ordnung erscheint hier Gemeinschaft, ein Du, das ›bringen‹ und ›sagen‹ soll. (In den Vorentwürfen steht der erste Imperativ »Bring« noch im Plural »Bringt«; ITA III, 36). Der Ort, von dem aus hier gesprochen wird, ist ein jenseitiger, wie sich in der topologischen Auflösung der einzelnen Bildelemente herausarbeiten lässt. So sind die »Astern« (nicht nur) in Trakls Dichtung aufs Engste mit dem Tod konnotiert; bereits der »Melancholia«-Komplex, zwischen dem Februar und dem Juli 1913 entstanden, hat sie blühen und verblühen sehen: »An Zäunen lehnen Astern, die verstarben« (ITA III, 19). Es sind Blumen der Abgestorbenheit, und sie gebühren »dem weissen Kind«, da dieses ihrer unmittelbaren bildlichen Verwandtschaft entstammt. Die Metaphorisierung, die Trakl in einem frühen Herbstgedicht, »Verfall« (II), vornimmt – ­»Indes wie blasser Kinder Todesreigen / Um dunkle

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Brunnenränder, die verwittern / Im Wind sich fröstelnd blaue Astern« neigen« (ITA I, 228) – wird hier als Akt nochmals ansichtig, womit zugleich auch eine basale Technik dieser Dichtung benannt werden kann: Die Rückübertragung des übertragenen Bilds in das ursprüngliche Bildfeld, also die Metaphorisierung der Metapher. Zutage tritt hierbei eine Gewalt der Fügung, die zwar ihre Bilder und Bildordnungen noch kennt, aber deren Zusammenhang nicht mehr innerweltlich herleiten kann. Man muss dem »weissen Kind« die »Astern« von dunklen Zäunen« ›bringen‹, weil sie sich nicht mehr von selbst mit ihm verbinden. In ihrer komplementären Zuordnung sind das Kind und die »Astern« nur noch durch die Kontrastierung von hell und dunkel, weiß und schwarz gekennzeichnet, durch die sie zugleich von den purpur, rot und blau getönten Bildern der ersten und dritten Strophe geschieden sind. Was aber weist das Kind und die »Astern« einander zu? Wie eng sind das »weisse Kind« und »die weisse Gestalt des Kindes«, die man in »Traum und Umnachtung« im »Dornenbusch« findet (ITA IV.1, 68), miteinander verflochten? (Und wie verhalten sich die dort ebenfalls beschworenen »Kinder eines dunklen Geschlechts« zu den »Astern« von dunklen Zäunen«?) Verortet scheinen beide Bildelemente jedenfalls in einem Opfergeschehen, dessen soteriologische Kennung noch zu erahnen ist: Adressiert »Sag, wie lang wir gestorben sind« eine Gemeinschaft der Toten, in der die Stimme sich mit dem angewiesenen Du oder dem »weißen Kind« vereint, so evoziert die Zeile »Sonne will schwarz erscheinen« unweigerlich jene Sonne, die ihren Schein verliert und die Himmel über Golgatha verdunkelt (Lukas 23,45). Gleichwohl bleibt diese Allusion im Ungefähren. Das heilsgeschichtliche Narrativ, das Kreuzigung, Gottesgericht und Auferstehung verbindet, wird hier nicht nur verkehrt (insofern das ›Gestorben-Sein‹ hier der schwarzen Sonne vorangeht): Es ist auch ohne Vollzug. Die Tage des Todes sind noch nicht gezählt, die Sonne will schwarz erscheinen (doch sie scheint nicht schwarz). Die Eschatologie kommt gerade nicht ins Sein.

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Auf diesem Grund also wird hier der Herbst ersprochen und von ihm her erfolgt dann auch in den beiden Folgestrophen wieder die Rückkehr zu den Dingen, dem Fischlein, der Stirn, dem Abendwind, eine Reihe, die bis in die vierte Strophe, bis zu »Stern und heimlich Gefunkel« reicht. Sodann wird die Oberfläche der Textwelt ein zweites Mal durchbrochen, rhythmisch angebahnt durch das Verb »aufschaun«, das den trochäischen Versfuß sprengt und in eine Doppelhebung überführt. Der Vers hält in der Hebung inne – und nun fällt das Gedicht zum Ende von dort zwei Zeilen ins »Dunkel« hinab, das mit dem Reim des »Gefunkel« in Kontrast gesetzt wird. Eingeleitet wird dieser Sturz durch die »Erscheinung der Mutter in Schmerz und Graun«, was nicht zuletzt die psychoanalytische Traklforschung dazu bewogen hat, den Vers vor allem mit dem »Thema der Versagung«, »der symbolische[n] Repräsentanz des frustrierenden Objekts, der Imago der abweisend-kalten Mutter« zusammenzudenken (Kleefeld 1985, 204). Interpretativ geltend gemacht kann in jedem Fall, dass dem Erscheinen der Mutter das ›weisse Kind‹ der zweiten Strophe korrespondiert, mithin hier eine durch keinen Dritten gestörte, also eigentlich dyadische Figurenkonstellation aufscheint, die gleichwohl nicht sehnsüchtig, sondern ›schmerzhaft‹ erfahren wird. »Schmerz und Graun« als Affektäußerungen eines verwehrten Begehrens oder der Erinnerung eines unwiederbringlich verlorenen Zustands zu lesen, wäre in Lacans Linie sicherlich konsequent. Es lohnt sich jedoch, die Zeile zunächst von ihrem Ende her aufzuschließen: Wie Sauermann überzeugend dargelegt hat, ist im »Graun« der Traklschen Dichtung immer auch die Farbsemantik mit aufgespeichert (Sauermann 2009, 323) – und in »Entlang« kommt diese Semantik entsprechend zum Tragen. In der syntagmatischen Verbindung mit dem »Schmerz« wird das »Graun« als »Grauenhaftes«, Horrides lesbar; mit Blick auf die Färbung des Gedichtes aber eben auch als die Überblendung von ›weissem Kind‹ und ›schwarzer Sonne‹. Die mütterliche Erscheinung »im Graun« ließe sich folglich sowohl als Effekt wie als Ursprungsgestalt

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der abgestorbenen Welt deuten. Zugleich ist darauf hinzuweisen, dass das »Graun« bei Trakl prozessual, also als ›Ergrauen‹ gedacht werden muss (entsprechend etwa dem »Abendgrauen«, das »Im roten Laubwerk voll Guitarren …« aufgerufen wird; ITA I, 482). Die Mutter erscheint im Grauen, sie führt das Grauen mit sich. Nicht von ungefähr trägt in Trakls Werk die Mutter einerseits ein ›weißes Antlitz‹ (ITA IV.1, 74 f.) oder figuriert als ›bleiche Gestalt‹ (ITA IV.1, 280), während das, was von ihr ausgeht und das, was sie umgibt, »dunkle Klage« (ITA IV.2, 69), »dunkle Kühle« (ITA III, 226), »dunkle[] Zimmer« (ITA IV.1, 73) sind. Als Mittlerfiguren des Schmerzes entsenden die Mütter das Dunkel, indem sie sich zugleich entfärben (»Wie bleich die Mütter sind«, heißt es in »Im Dorf«; ITA II, 412). Am Ende dieses Gedichtes greift jene

P. Theisohn

Schwärze über auf die Bilder des Herbstes, entpuppt sich der Herbst als das Grauen der von den Müttern rührenden Abgestorbenheit: Die Reseden verlieren ihr Grün, färben sich schwarz – und mit ihnen fällt nun die Welt ins Dunkel.

Literatur Kleefeld, Gunther: Das Gedicht als Sühne. Georg Trakls Dichtung und Krankheit. Eine psychoanalytische Studie. Tübingen 1985. Sauermann, Eberhard: Textkritik bei der Edition von Trakls Werk. In: Was ist Textkritik? Zur Geschichte und Relevanz eines Zentralbegriffs der Editionswissenschaft. Hg. von Gertraud Mitterauer, Ulrich Müller, Margarete Springeth und Verena Vitzthum, Tübingen 2009, 317–328. Wetzel, Heinz: Klang und Bild in den Dichtungen Georg Trakls. Göttingen 1968.

»Der Herbst des Einsamen« (1913)

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Salomé Meier

Mitten im Sommer des Vorkriegsjahres 1913, zwischen dem 20. Juni und dem 13. Juli, schreibt Georg Trakl »Der Herbst des Einsamen«. Die drei vorliegenden Textstufen unterscheiden sich kaum voneinander; auffällig bleibt allein die Änderung von »schwärzlich« zu »schwarz« im Schlussvers der Druckfassung. (Vgl. zur Textgenese und -konstitution ITA III, 21.) Unabhängig von der tatsächlichen Jahreszeit ist es in Georg Trakls Welt beinahe immer Herbst: In mehr als der Hälfte seiner Gedichte herrscht eine herbstlich-dämmrige Stimmung und zahlreiche Gedichte tragen den ›Herbst‹ im Titel wie Obstbäume das sich verfärbende, bald fallende Laub. Der Herbst ist bei Trakl – wie in Hofmannsthals »Gespräch über Gedichte« (1903) mit Blick auf Georges Jahr der Seele geurteilt wird – immer schon »mehr als ein Herbst« (Hofmannsthal 1979, VII, 497). Für Rüdiger Görner ist er »die Trägerschaft eines ›Anderen‹«, Unvertrauten (Görner 2014, 205). Das Gedicht, das den gleichnamigen zweiten Zyklus in Sebastian im Traum beschließt, wurde als eines von zehn Trakl-Gedichten von Kurt Pin­

S. Meier (*)  Deutsches Seminar, Universität Zürich, Zürich, Schweiz E-Mail: [email protected]

thus in seine Menschheitsdämmerung-Anthologie aufgenommen (vgl. zu diesem Kontext Schäfer 1971). Inspiration zu seinem Gedicht dürfte Trakl bei Hölderlin und Rimbaud gefunden haben. So lässt das Gedicht zu Beginn einerseits den Eingang von Hölderlins 1799 entstandener Ode »Mein Eigentum« (»In seiner Fülle ruhet der Herbsttag nun, / Geläutert ist die Traub und der Hain ist roth«; Hölderlin 1975–2008, V, 618) anklingen; andererseits sind auch starke Ähnlichkeiten mit Hölderlins »Der Herbst« (1837) nicht zu verleugnen, auf das die Substantive »Sommertage«, »Sagen«, »Wolke«, »Landmann« und »Abend« in den Versen 2, 4, 9–11 verweisen (vergl. Hölderlin 1975–2008, IX, 122). In Rimbauds Sonett »Voyelles« (1871 geschrieben, 1883 von Verlaine publiziert) könnte Trakl wiederum auf die Stille (»Silences«), die Engel (»Anges«) und die strahlenden Augen (»rayon violet des Ses Yeux«) gestoßen sein (Rimbaud 1972, 53), die er in den Versen 15 und 16 verarbeitet, wobei er wie Rimbaud die Farben der himmlischen Sphären und die Augen der Liebenden sich aufeinander beziehen lässt (vgl. ITA III, 21). Wie dies für den in Trakls Werk omnipräsenten Herbst überhaupt gilt, so ist auch der »Herbst des Einsamen« eine transitorische, wo nicht in den Verfall ausgleitende Jahreszeit. Das Fortschreiten der Zeit weisen die drei Strophen, jambisch fünfhebig im dreifachen Kreuzreim (ababab) abgefasst, auf verschiedenen

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Ebenen aus. So weist bereits die metrische Gestaltung, die durchgängig weibliche Kadenz, auf das ›Ausklingen‹ des Jahres. Bildsprachlich zeigt sich der Verfall der Natur hingegen zunächst in der Veränderung der Landschaft: Das Füllhorn der Natur ist erschöpft, das Gedicht muss zwangsläufig in der Kargheit der Landschaft, auf den »kahlen Weiden« enden. Jede der drei Strophen steht dabei für einen der drei Herbstmonate: Im September werden die Trauben gelesen und gekeltert (Strophe 1), im Oktober wird das Wild gejagt (Strophe 2) und mit dem November wird es kalt und kahl (Strophe 3). Die Technik des Reihungsstils, bei dem verschiedene, typisch herbstliche Bilder aneinandergereiht werden, kommt damit wie auch schon im Korrespondenzgedicht »Verklärter Herbst« zum Tragen, in dem es programmatisch heisst: »Wie schön sich Bild an Bildchen reiht«. Mit dem Herbst-Werden verbindet sich eine zunehmende Erstarrung, was sich insbesondere im Gebrauch der Verben und Adverbien niederschlägt: Liest man in den ersten acht Versen von der belebten und bewegten Natur, vom »Flug der Vögel« und den sich ›verlierenden‹ Herden, so wird die Natur mit den sich in der Mitte des Gedichts nur noch unwirklich im Weiher spiegelnden Wolken zunehmend inert. Der Herbst »kehrt ein«, macht Tier, Mensch und Natur träge, die nur mehr ›ruhen‹ (V. 10) und »nisten« (V. 13). Sprechend wird in diesem Zusammenhang die Deutungsfolie des Hölderlinschen Herbstes: Bei Hölderlin »kehrt der Herbst zur Erde nieder« (Hölderlin 1975–2008, IX, 122), bei Trakl jedoch kehrt er »ein«. Diese leichte Deviation wäre einerseits als eine Immanentisierungsbewegung zu lesen: Himmel und Hölle wären danach nicht länger im Jenseits zu verorten, sondern, ähnlich wie die sporadischen Kreuze »auf ödem Hügel« (V. 7), Teil des diesseitigen Lebens. (Hierzu fügt sich auch Millingtons Beobachtung, dass Hölderlins Gedicht in der Schlussstrophe »the world’s underlying stability« affirmiert, wo bei Trakl das Gedicht in »invocations of suffering […] and horror« ausläuft; Millington 2020, 150). Die Einkehr bringt freilich noch eine weitere semantische Kom-

S. Meier

ponente ins Spiel: Der Herbst ist die Zeit des Rückzugs und der Selbstbesinnung. Mit der herbstlichen Einkehr und körperlichen Ruhe breitet sich nach und nach auch die Stille aus. »Tönt« zu Beginn noch der »Flug der Vögel […] von alten Sagen« in Alliterationen und Assonanzen, wird das Gedicht mit der Zeit immer leiser. Derivate von ›still‹ (V. 5, 14) und ›leise‹ (V. 6, 11, 15) häufen sich in den Zeilen fünf bis fünfzehn. Proportional zur Stille wächst auch die Einsamkeit der Stimme, die sich – wie das für Trakl typisch ist – nirgends zum Ich ausbildet, sich Subjekte sucht, an denen sie sich bricht (den Landmann, den »Müden«), die zugleich jedoch die Abwesenheit von Leben, die Absenz eines (geliebten) Menschen als Stille vernimmt. Der Einsame aber besitzt kein Gegenüber, das ihn als Ich zu bezeugen vermag. Das Gedicht endet gleichwohl weder in der totalen Reglosigkeit noch in der totalen Stille. Ein beständiges Rauschen verweist auf das unaufhörliche Fließen der Zeit. Auf der zweitletzten Zeile markiert ein Semikolon eine Zäsur. Nicht das Rauschen des Rohres evoziert jenes unheimliche Gefühl, das todverheissende »knöchern Grauen«, das auf derselben Zeile steht, sondern der Taktschlag, mit dem der dunkle Tautropfen zu Boden fällt und das stete Fließen der Zeit durchtrennt. Das Rohr ist ein Polysem, welches für jede der drei Strophen eine andere Bedeutung annimmt. Es lässt sich zum einen als Pflanze lesen, als Schilfrohr, das in der Nähe von Seen und Gräben gedeiht. Zum anderen rekurriert das Rohr auf den Lauf des Jagdgewehrs des Landmanns. Graphematisch wird das Semikolon als ikonographisches Zeichen lesbar, es bezeichnet den exakten Moment, in dem sich der Tautropfen vom Schilfrohr oder die Kugel aus dem Lauf der Waffe löst. Unmittelbar danach ändert der Versfuss: »anfällt« ist spondeisch und bricht mit dem ansonsten regelmässigen jambischen Versmass. Dieser doppelte Bruch – syntaktisch wie metrisch – verdeutlicht in den letzten zwei Zeilen in nuce, was als Vektor im ganzen Gedicht angelegt ist und dieses als Grundtenor durchzieht: Die Bewegung vom Leben zum Tod. Angst und Grauen löst jedoch

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nicht der langsam schleichende, sondern der plötzliche, den Fluss des Lebens abrupt durchbrechende Tod aus. Wie so oft in Trakls Gedichten verbindet sich mit der primären Lektüre einer sinnlich-wahrnehmbaren Natur eine subtilere weitere Lesart. Während die drei Strophen bis anhin als Fortschreiten des Herbstes interpretiert wurden, so suggeriert die erste Zeile der dritten Strophe, dass es nach der Dämmerung (Strophe 1) und dem Abend (Strophe 2) mittlerweile zudem Nacht geworden ist. Die »Sterne in des Müden Brauen« legen nahe, dass es sich im Folgenden um einen Traum handelt. Wie in »Grodek« und in »Untergang« ist der Traum der Ort, in dem die Liebenden aufeinandertreffen. Im »Herbst des Einsamen« kommen die »Liebenden« in der dritten Strophe erstmals vor, doch ihr dionysisches Verlangen nach Rausch und Ekstase (»Gekeltert ist der Wein«) und ihr zaghaft-vorsichtiger Umgang miteinander (»von leiser Antwort dunkler Fragen«) werden bereits in den Zeilen fünf und sechs insinuiert. Das Leiden der (unglücklich) Liebenden ist zum Schluss »sanfter«. Die Steigerung des Adjektivs legt die Vermutung nahe, dass die Liebenden im Traum ihrem gegenseitigen Verzehren nacheinander

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nachgeben. Das Rohr, das rauscht, und der Tau, der tropft, erfahren damit eine dritte, dezidiert sexuelle Bedeutung. Das Semikolon markiert somit das Unsagbare, den Höhepunkt des sexuellen Aktes. Das »knöchern Grauen« folgt syntaktisch wie zeitlich dem Rausch, mit dem zuletzt der Rausch der Körper, die Ekstase, gemeint sein mag. Es ist der Moment des Aufwachens, in dem der ›Einsame‹ aus einer erträumten Zweisamkeit herausgerissen wird.

Literatur Görner, Rüdiger: Georg Trakl. Dichter im Jahrzehnt der Extreme. Wien 2014. Hofmannsthal, Hugo von: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Hg. von Bernd Schoeller. Frankfurt a.M. 1979. Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe. Hg. von D. E. Sattler. Frankfurt a. M. 1975– 2008. Millington, Richard: The Gentle Apocalypse. Truth and Meaning in the Poetry of Georg Trakl. Rochester (NY) 2020. Rimbaud, Arthur: Œuvres complètes. Édition établie, présentée et annotée par Antoine Adam. Paris 1972. Schäfer, Jörg: »Der Herbst des Einsamen« und »Siebengesang des Todes«. In: Horst Denkler (Hg.): Gedichte der Menschheitsdämmerung. München 1971, 18–32.

»Ruh und Schweigen« (1913)

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Stephan Jaeger

»Ruh und Schweigen« dürfte im September oder Oktober 1913 entstanden sein (ITA III, 245); es wurde erstmals in Der Brenner am 15. Oktober 1913 veröffentlicht, bevor es 1915 in identischer Form als Auftaktgedicht des Zyklus »Siebengesang des Todes« in der Gedichtsammlung Sebastian im Traum erschien. Das Gedicht existiert in fünf Textstufen, zwei Handschriften, einer maschinellen Reinschrift und den beiden von dieser minimal abweichenden Druckfassungen (ITA III, 245–252). Es dient als eines der grundsätzlichen Beispiele in der Forschung, Trakls Kompositionsprinzipien zu verstehen und zu erklären. Kemper demonstriert durch die Werkgenese die Bewegungsabläufe und Spannungspunkte der Gedichtfassungen, wobei der sinnliche Imaginationsprozess und seine räumlich-bildliche Realisierung im Vordergrund stehen (Kemper 1970, 86–89; auch 128–129). Sauermann bespricht es im Detail, um den Vorteil der ITA gegenüber der HKA zum Verstehen der Dichterintention und Werkgenese deutlich zu machen (Sauermann 1997, 583–587). So kann gezeigt werden, wie die sechzehn Verse der Grundniederschrift zur letztlichen Druckfassung strophisch gegliedert und verdichtet werden.

S. Jaeger (*)  Department of German and Slavic Studies, University of Manitoba, Manitoba, Kanada E-Mail: [email protected]

Formanalyse »Ruh und Schweigen« besteht aus vier reimlosen Terzetten, die syntaktisch alle mit einem Punkt abgeschlossen werden. Die erste Strophe ist im Präteritum verfasst, während die anderen drei Strophen im Präsens geschrieben sind. Der Ton des Gedichts ist deskriptiv, wodurch sich unterschiedliche Möglichkeiten ergeben, wie die verschiedenen belebten Rollen von Hirten, Fischer, Mensch oder Jüngling bezüglich der Subjektivität des Gedichtes zu interpretieren sind. Die Syntax ist oft gebrochen, wodurch die Frage entsteht, was eigentlich das Subjekt der jeweiligen Verse bzw. Strophen ist und die Beziehungen zwischen einzelnen Bildern mehrdeutig werden. Wie der Titel des Gedichts andeutet, blendet das Gedicht – für Trakl höchst untypisch – die auditive Sinneswahrnehmung komplett aus. Dennoch wird das Gedicht von Sinneswahrnehmungen und seiner Raumstruktur geprägt. Es besitzt zudem eine ausgefeilte vokalische Klangstruktur, die mit seinen Bewegungen in Einklang zu stehen scheint (vgl. Kemper 2014, 257). »Ruh und Schweigen« entfaltet eine Reihe von semantischen und syntaktischen Assoziationsketten, die sich auf das kosmische Verhältnis von Sonne und Mond, biblische Bezüge, das verlorene Goldene Zeitalter, Leben und Tod, Bewegung und Erstarren und schließlich auf die Schwestersymbolik beziehen lassen. Die beiden Schlussverse »Ein

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s­trahlender Jüngling / Erscheint die Schwester in Herbst und schwarzer Verwesung« (Zitation im Folgenden nach ITA III, 251 f.) verdeutlichen die Herausforderungen, das Gedicht eindeutig zu interpretieren. Einerseits scheinen Schwester und Jüngling sich positiv zu vereinigen, anderseits endet das Gedicht in Tod und Verfall. Syntaktisch mehrdeutig wird das Gedicht durch die Einfügung des Verbs »erscheint« in den beiden Druckfassungen, das als Agens sowohl auf den Jüngling als auch auf die Schwester verweist, was es letztlich unmöglich macht, zu entscheiden, ob das Gedichtende auf eine positive auf die Zukunft gerichtete Vision oder auf eine negative nicht mehr der Gegenwart angehörenden Erscheinung des Vergangenen hindeutet.

Forschungsgeschichte Weitere Einzelheiten von »Ruh und Schweigen« lassen sich am besten durch einen Blick auf die Forschungsgeschichte des Gedichts, das eines der meist interpretierten Gedichte Trakls ist, erklären. Von jeher wird die TraklForschung von der Debatte begleitet, ob Trakls Lyrik verstehbar sei oder letztlich dem Leser unverständlich bleiben müsse. Die Forschungsund Rezeptionsgeschichte dokumentiert daher die gesamte Vielfalt und Paradoxien der TraklForschung. Immer wieder wurde das Gedicht als unverständlich bezeichnet (vgl. zusammenfassend Jaeger 2001, 211; 226). Zugleich gibt es bis heute Interpreten, die das Gedicht durch eine vermeintlich neue Tiefenstruktur nun endlich in seiner wahren Bedeutung zu verstehen glauben. Ein typisches Beispiel für eine solche scheinbar wahrheitsgemäße Auslegung findet sich bei Thauerer, die religiöse Assoziationsmöglichkeiten und Werkbezüge innerhalb von Trakl Werk so vereindeutigt, dass das Gedicht als Ausdruck eines verfallenen gegenwärtigen Daseins, in dem der Verlust eines verloren gegangenen Goldenen Zeitalters zu erkennen ist,

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eindeutig zu interpretieren ist (Thauerer 2007, 302–309). »Ruh und Schweigen« führt in Perfektion eine grundsätzliche Darstellungstechnik Trakls aus, indem es den Leser sinnlich dazu bringt, den Text im Sinne einer Repräsentationslogik zu lesen. Weder die Auflösung des Gedichts in ein anschauliches Bild oder in eine Geschichte, noch die für die Interpretation moderner Lyrik übliche These von der Materialität der Sprache und den reinen Sprachspielen moderner Literatur lässt sich durch das Gedicht erklären. Hypothetisch lädt die erste Strophe des Gedichts – »Hirten begruben die Sonne im kahlen Wald. / Ein Fischer zog / In härenem Netz den Mond aus frierendem Weiher« – dazu ein, entweder mythologischen, kosmischen und biblischen Bezügen zu folgen, oder das wirklichkeitsverfremdende Bild aufzulösen. Dann würde der Beobachter des parataktischen deskriptiven Textes aus erhöhter Position der Wahrnehmungsillusion unterliegen, dass Bildvordergrund und -hintergrund verschmelzen und tatsächlich die Sonne von den Hirten begraben und der Mond von den Fischern geborgen würde. Die Folgestrophen zerstören jedoch jegliche Wirklichkeitsillusion einer solchen Repräsentationslogik (vgl. Jaeger 2001, 212 f.).

Tiefenstrukturen und Konstruktivismus Grundsätzlich kommt die Forschung weitestgehend darin überein, dass »Ruh und Schweigen« eine eigene konstruierte Textwelt erstellt, die weder auf die Wirklichkeit noch auf einfache Bedeutungsstrukturen rückführbar ist. Dabei unterscheiden sich die Interpretationen des Gedichts aber hinsichtlich der Ebenen, auf denen Trakls Lyrik Bedeutung schafft. So verfolgt ein Ansatz die tiefenstrukturellen Poetiken, ein zweiter entdeckt eine eigene Semantik und Symbolik des Gedichts und ein dritter verfolgt die Bewegungen auf der Textoberfläche des Gedichts

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abhängig von Deixis und Perspektiven. Der erste Ansatz findet sich bei Kleefeld, der ein ganzes Bedeutungssystem – untergliedert in Schwestermysterium, Inzest, Zahlenmystik und Passionsund Auferstehungsmotivik – hinter dem Gedicht erkennt (Kleefeld 2009, 112–131). Auf ähnliche Weise konstatiert Cheie in einer psycho-genetischen Untersuchung des Gedichts und seines Kontextes eine komplexe Wasserpoetik im Modus obsessiv-kreativer Einbildungskraft (Cheie 2009). Die Autonomie der Textwelt betonen hingegen die konstruktivistischen Ansätze. De Vos etwa sieht den Text Kohärenzen bilden, die er letztlich als Ausdruck von Nietzsches Begriffspaar des Apollinischen und Dionysischen erklärt, die ineinander aufgehen und eine Verfallsphilosophie Trakls konstituieren (Vos 1996, 139–146). Csúri erkennt wiederum im Gedicht die Repräsentation eines autonomen, vornehmlich semantischen Textmodells, das durch Textschemata – hier die Tageszeiten – zunehmend transparent wird (Csúri 1995, 131–143). Hierbei ist das mondene Zeitalter, das die Sonnenzeit im Tageszyklus ablöst, als Sühnezeit der Schuld zu verstehen. Grundlegend für Csúris Analyse ist die Pluralisierung des Ich, wonach die Gestalten in Trakls Gedichten als Masken derselben abstrakten IchFigur anzusehen sind. In »Ruh und Schweigen« sind dies die Hirten, der Fischer, der »bleiche Mensch«, der »Schauende[]« und letztlich der »strahlende Jüngling«. Abschließend sieht Csúri in der Textwelt-Modellierung die Spannung zwischen Irdischem und Himmlischen bzw. zwischen schuldiger Sühne und unschuldig-geistiger Seele zum Ende des Gedichts aufgehoben (ebd., 142).

Bewegungsanalysen Während die konstruktivistischen Lektüren des Gedichts eine innere semantische Deutungsmög­ lichkeit des Gedichts veranschlagen, bezweifeln die Vertreter eines dritten Interpretationsansatzes, dass »Ruh und Schweigen« durch eine eindeutige Bedeutungsschicht zu interpretieren

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sei. Stattdessen richtet sich ihr Augenmerk auf die Ursachen der Unentscheidbarkeit.  Analysiert wird, wie das Gedicht einen bestimmten Ton bzw. eine Dynamik erzeugt, die dazu verleitet, es als unverständlich wahrzunehmen oder seine vermeintliche Bedeutung überzuinterpretieren. Kemper liest das Gedicht als »androgyne Rettung aus ›mondenem Gestein‹« (Kemper 2014, 252), als besonders verdichtete Form, die in ihren Motiven und Bildkomplexen eine »immer wieder variierte, modifizierte, wiederholte mythisch-magische Traum-Welt« (ebd., 258) erstellt. Damit wird das Gedicht zum vollführten Ausdruck von immer wieder neuen poetischen Träumen, die sich in Trakls Lyrik und gerade im Zyklus »Siebengesang des Todes« wie in einem Vexierbild zur Erscheinung kommen. Wie Csúri betont Kemper dabei einerseits das sich ständig wiederholende Thema von Schuld und Sühne sowie die Masken des Ichs bzw. der Sprechinstanz, deren Konflikt zwischen Erlösungstendenz und Selbstdestruktionsangst im Gedicht gebannt wird. Andererseits hebt er aber in seiner Analyse stärker die Bewegung des Gedichts hervor, wodurch verhindert wird, dass die Vieldeutigkeit des Gedichts durch unterlegte Bedeutungsschichten vollständig aufgelöst wird. Jaeger untersucht in seiner Interpretation die Beziehungen und Bewegungen auf der Textoberfläche abhängig von Deixis und Perspektiven, um zu zeigen, wie kohärente Tiefenstrukturen in u. a. der Syntax, dem Klang, den Bauformen und der Semantik zu gewinnen sind (Jaeger 2001, 210–218; 223–228). Die Analyse des Gedichts zeigt dabei eine zunehmende Steigerung der Überschneidungen von Erstarren und Bewegung einerseits sowie von Kontinuität und Verfall  andererseits. Der narrativ-deskriptive Beginn wird zunehmend poetisch verdichtet, während gleichzeitig das Sprechersubjekt durch innere Konflikte und Wertung den vermeintlich objektiven Ton des Gedichts unterläuft. Damit verbleibt für den Leser der paradoxe Eindruck gleichzeitig erfolgender Sinnkonstitution und Sinnzerstörung, von krisenhafter Beteiligung eines sprechenden Subjekts und

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dessen distanziertem Stil der Beschreibung. Die Unterschiede zwischen Ich und Welt bzw. Wahrnehmung und Reflexion verschwimmen und es lässt sich zeigen, wie die besondere Intensität Traklscher Sprache zwischen möglichen Tiefenstrukturen bzw. Bedeutungen und einer unauflösbaren poetischen Verdichtung entsteht, ohne dass das Gedicht damit als unverständlich zu bezeichnen wäre. Auch Esselborn interpretiert »Ruh und Schweigen« durch die Textlandschaften, Raumvorstellungen und Bewegungen des Gedichts (Esselborn 2016, 42–46). Hierbei setzt er einen besonderen Schwerpunkt auf Gesten und Gebärden. Esselborn betont durch gestisch deutbare Bewegungen die verschiedenen Ich-Figurationen als Identifikations-, Projektions- und Alternativfiguren. Dabei kommt er letztlich zum Schluss, dass das Gedicht als poetologischer Text zunehmend die Überwindung einer nächtlichen Innerlichkeit zeigt, die zur erlösenden Voraussetzung des Dichtens wird. Zusammenfassend zeigt sich wiederum die ungemeine Dynamik von »Ruh und Schweigen« als ein Grundbeispiel Traklscher lyrischer Sprache, das seinen verschiedenen Interpreten erlaubt, den Text als Ausdruck positiv besetzter Erlösung, negativ besetzten Verfalls oder einer nicht aufzulösenden Spannung zwischen beiden Bewegungen zu lesen.

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Literatur Cheie, Laura: Georg Trakls »Ruh und Schweigen«. Kreative Bilddynamik im Modus des Obsessiven. In: Károly Csúri (Hg.): Georg Trakl und die literarische Moderne. Tübingen 2009, 99–111. Csúri, Károly: Theorie und Modell, Erklärung und Textwelt. Über Trakls »Ruh und Schweigen«. In: Leslie Bodi/Günter Helmes/Egon Schwarz/Friedrich Voit (Hg.): Weltbürger – Textwelten. Helmut Kreuzer zum Dank. Bern u. a. 1995, 128–151. Esselborn, Hans: Bewegung und Gestik als bedeutungsvolle Momente in Gedichten Georg Trakls. Beispiel »Ruh und Schweigen«. In: Sieglinde Klettenhammer/ Johann Georg Lughofer (Hg.): Georg Trakl. Interpretationen, Kommentare, Didaktisierungen. Wien 2016, 35–49. Jaeger, Stephan: Theorie lyrischen Ausdrucks. Das ›unmarkierte Zwischen‹ in Gedichten von Brentano, Eichendorff, Trakl und Rilke. München 2001. Kemper, Hans-Georg: Georg Trakls Entwürfe. Aspekte zu ihrem Verständnis. Tübingen 1970. Kemper, Hans-Georg: Droge Trakl. Rauschträume und Poesie. Salzburg 2014. Kleefeld, Gunther: Mysterien der Verwandlung. Das okkulte Erbe in Georg Trakls Dichtung. Salzburg/Wien 2009. Sauermann, Eberhard: Dokumentation und Interpretation. Neue Möglichkeiten durch die Innsbrucker Trakl-Ausgabe. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 116 (1997), 567–587. Thauerer, Eva: Ästhetik des Verlusts. Erinnerung und Gegenwart in Georg Trakls Lyrik. Berlin 2007. Vos, Jaak De: Die Quadratur des Kreises. Überlegungen zum zyklischen Kompositionsprinzip in Trakls Lyrik. In: Károly Csúri (Hg.): Zyklische Kompositionsformen in Georg Trakls Dichtung. Tübingen 1996, 121–147.

»Untergang« (1913)

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Philipp Theisohn

Textgenese und -konstitution »Untergang«, erstmals im März 1913 im dritten Jahrgang des Brenner gedruckt und dann in Sebastian im Traum aufgenommen, gehört nicht nur zu den bekanntesten, sondern aufgrund der Textgenese auch zu den unter editionsphilologischen Gesichtspunkten aufschlussreichsten Gedichten. Hervorgegangen ist es aus Entwürfen, die sich auf einem in der ersten Februar-Hälfte 1913 vollbeschriebenen Doppelblatt finden und auf deren dritter Seite sich das Gedicht wiederum in zwei stark voneinander divergierenden Entwürfen zu konkretisieren beginnt (vgl. ITA II, 361). Das diese Entwürfe umlagernde Textmaterial wird in diesen Ausarbeitungsprozess offensichtlich stark einbezogen (von dorther stammen etwa die beiden Schlusszeilen). Das in einem nächsten Bearbeitungsschritt gefertigte, wenige Tage später Karl Borromäus Heinrich als Brief überstellte und mit der Widmung »Georg Trakl, seinem lieben Bruder Borromaeus Heinrich« (ebd., 362) versehene Typoskript des Gedichts kombiniert sodann Aspekte der beiden Entwürfe und glie-

P. Theisohn (*)  Deutsches Seminar, Universität Zürich, Zürich, Schweiz E-Mail: [email protected]

dert sich – nun erstmals unter der Überschrift »Untergang« – in drei vierzeilige Strophen. Am 23. Februar 1913 übersendet Trakl eine Überarbeitung des Gedichts (Abb. 53.1) dann an Ficker, mit der Bitte, diese in der nächsten Ausgabe des Brenner erscheinen zu lassen, und dem Vermerk, dass die »erste Niederschrift […] manches nur zu Angedeutetes« enthalten hätte (ITA V.1, 327). Das Gedicht, Heinrich gewidmet, besteht nun aus drei dreizeiligen Strophen und wird sich dann beim Wiederabdruck des Gedichtes im Zyklus »Siebengesang des Todes« in Sebastian im Traum nochmals geringfügig, semantisch freilich nicht unerheblich verändern, insofern im sechsten Vers an die Stelle von »Palmen« nun »Eichen« treten (ITA II, 370) und damit der orientalisierende Charakter des Gedichtes, der über den direkten Bezug auf die Märchen aus 1001 Nacht in den Entwürfen stark ausgeprägt war, vollständig zum Verschwinden gebracht wird (vergl. Zwerschina 1999, 54–56). Mit Blick auf den Konstitutionsprozess des Gedichtes lässt sich zunächst festhalten, dass die von der HKA veranschlagten ›fünf Fassungen‹ von »Untergang« (HKA I, 386–389, 116) die eigentliche Textgenese verdecken, indem sie die auf der angesprochenen Doppelseite versammelten Verse mitsamt ihren Streichungen einem teleologischen Prozess unterstellen, der immer vom Titel »Untergang« begleitet wird (der sich als Überschrift aber tatsächlich erst in dem Heinrich übersandten Typoskript findet).

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Abb. 53.1  Satzvorlage von »Untergang« für den Abdruck im Brenner, Februar 1913; Forschungsinstitut BrennerArchiv, Nachlass Ludwig von Ficker.

Groddeck hat zurecht darauf hingewiesen, dass das von Killy und Szklenar als ›erste Fassung‹ ausgewiesene Gedicht mit der ersten Druckfassung von »Untergang« überhaupt nichts mehr gemein hat und erklärt die Textgenealogie der HKA dementsprechend für »philologisch gegenstandslos« (Groddeck 1999, 32–36). Die ITA berücksichtigt die disparate Textgrundlage und trennt das Konvolut in drei Komplexe auf, wobei sie die in der HKA ausgewiesenen ersten drei ›Fassungen‹ von »Untergang« einem als »Steinbruch« eingestuften Reflexionsgang zuordnet, den sie nach der ersten Zeile seiner vermut­ lich letzten, aber gleichwohl ungedruckt blei­

benden Materialisation »Wenn wir durch unserer Sommer purpurnes Dunkel…« benennt (ITA II, 342–360). Davon nochmals abgesetzt werden zwei weitere Verse, die mit den Worten »Schweigend durch dunkles Zauberhaselgebüsch« anheben. Mit diesen Versen beginnt, den Herausgebern der ITA zufolge, die Entwurfsreihe der Doppelseite, wird jedoch eben nach diesen beiden Versen sogleich wieder unterbro­ chen. Grundsätzlich ist somit zu konstatieren, dass sich anhand des Gedichtes nicht nur die Frage nach den Grenzstrukturen innerhalb Trakls Dichtung, sondern auch die Frage nach Sinn

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und Möglichkeit der Ansetzung linearer Textgenealogien in diesem Werk überhaupt stellen lässt. Während Zwerschina davon ausgeht, dass Trakls Schreiben »nicht Mitteilen, sondern Denken« ist, was impliziert, dass seine Texte jeder Repräsentationsfunktion überhoben, aber dann doch immer einem Denkprozess unterstellt sind, der unterschiedlichste poetische Konkretionen hervorbringen kann (Zwerschina 1999, 36 f.), gibt Groddeck zu bedenken, dass selbst dort, wo – wie zwischen den beiden Druckfassungen von »Untergang« – die Abweichung nur in einem Wort (von »Palmen« zu »Eichen«) besteht, sich hierdurch der »Ort des Gedichtes selbst« verschiebt (Groddeck 1999, 40). Das Gedicht wäre somit nicht mehr der Versuch, »das Chaos ordnen« zu wollen (Zwerschina 1999, 46), sondern selbst Manifestation einer chaotischen Textproduktion, die immer wieder von Neuem beginnt.

Deutung Die drei Strophen des Gedichtes sind zwar freirhythmisch gestaltet, formal jedoch durchaus streng strukturiert, insofern jede Strophe aus genau 32 Silben besteht. Auch ist das Gedicht nicht reimlos: Der zweite Vers der ersten (»fortgezogen«) und der zweite Vers der dritten Strophe (»Dornenbogen«) korrespondieren und unterlegen dem Text eine symmetrische Struktur; ferner sind die letzte Silbe des fünften Verses – der Mitte des Gedichtes – und die (im Druck sogar abgesetzte) letzte Silbe des Endverses identisch (»Nacht« / »Mitter- / nacht«). Desweiteren lassen sich Assonanzen und Alliterationen aufweisen, die im Zuge der Deutung des Textes weiter unten produktiv gemacht werden können. Geprägt wird das Gedicht sodann vor allem zunächst durch die topologische Semantik: Die ersten beiden Strophen beginnen mit »Über«, die letzte Zeile der zweiten Strophe und die vorletzte Zeile der dritten mit einem »Unter«, und darüber wird ab dem Typoskript des Gedichtes der Titel »Untergang« gesetzt. Lässt man zunächst einmal außer Acht, dass der Ausdruck »Unter Dornenbogen« topologisch doppel-

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sinnig ist, insofern das Darunter durch die Dornen sowohl ›gekrönt‹ als auch ›überlagert‹ werden könnte (vergl. Fühmann 1982, 24), so ergäbe sich hieraus eine Aufwärts-/Abwärts-Bewegung, die mit Blick auf ein Gedicht, dessen Titel die Richtung ›nach unten‹ vorgibt, durchaus deutungsbedürftig ist (vergl. Williams 2009, 155). Eine Aufhellung ließe sich über jene Topographie erzeugen, die sich vom Ende des Gedichtes her aufdrängt, die Topographie der Uhr. In der Anrufung »O mein Bruder klimmen wir blinde Zeiger gen Mitternacht« (ITA II, 369) scheint hinter den Versen ein Ziffernblatt auf (vergl. Csúri 2009, 39), dem in der an Heinrich gesandten Version noch die zwölf Verse korrespondierten, aus denen in der gedruckten Fassung neun Verse geworden sind. Das Kreisen der Zeiger auf der Uhr, ihr Fallen und Steigen kann gleichwohl nicht darüber hinwegtäuschen, dass die »bittere Stunde des Untergangs« (wie es in »Abendländisches Lied« heißen wird; ITA III, 420), die Stunde zur Mitternacht, eine andere Stunde ist. Sie folgt keiner Mechanik, sondern wird getragen von einem Bewusstsein, das aus dem bloßen ›Steigen‹ der Zeiger das in der Ficker überstellten Fassung ein auf Rasur nachgetragenes ›Klimmen‹ gemacht hat, eine willentliche Bewegung aufwärts, in den Untergang. Die Stunde des Untergangs kennzeichnet zunächst die Sammlung und Sichtung des Verlorenen, das Anwähren des Abwesenden. »Über den weißen Weiher / Sind die wilden Vögel fortgezogen«: Man sieht die Vögel nicht mehr, nur ihr Verschwundensein erschließt sich mit Blick auf den »weißen Weiher«, der über die Alliteration immer noch mit den »[W]ilden« verbunden bleibt, die – über das Ausgleiten vom stimmhaften zum stimmlosen labialen Frikativ, von w zu v zu f – sich ihm jedoch lautlich entziehen. Offen bleibt dabei, ob und inwiefern die Verbindung zwischen Weiher und Vögeln resultativ zu denken ist, ob die ›Weiße‹ des Weihers sich aus dem Fortzug der Vögel ergibt oder umgekehrt. Die sich unmittelbar aufdrängende Assoziation, die Lichtreflexion eines nächtlichen Weihers, wird durch das Gedicht selbst augenblicklich zurückgerufen: Es gibt kein Sternen-

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licht, weht von den Sternen doch nur »ein eisiger Wind«. Es gibt im Übrigen auch kein Mondlicht, hat Trakl den »mondenen Kahn« doch bereits in den frühesten Entwürfen konsequent in einen »silbernen Kahn« verwandelt (ITA II, 365–367). Man hat es mit einer lichtlosen, nicht spiegelnden Weiße zu tun, Fühmann assoziiert sie mit Kalk (Fühmann 1982, 11). Wenn sie in den »weißen Mauern der Stadt« im neunten Vers wiederkehrt, wird deutlich werden, dass sie nicht leuchtet, sondern ›klingt‹. Mit der dritten Zeile der ersten Strophe erhält das Gedicht nun ein Subjekt, im Possessivum »unsere«, das in der Folgezeile wieder aufgenommen wird und hierdurch »unsere Sterne« und »unsere Gräber« verbindet. Erneut wird damit die Höhendivergenz ausgespielt: Das Oberste ist das Unterste, die Sterne sind Gräber, der ›silberne Kahn‹ – einst ein Mond – zugleich unter uns, »unter Eichen«. Immanentisierung, Verschmelzung des Höchsten und des Niedersten im ›wir‹ ist jedoch das eine, Mortifizierung dessen, was ›unser‹ ist, ein anderer Schritt. Die Stimme, die von ›uns‹ spricht, ist in jedem Fall eine bereits begrabene, erstorbene Stimme. Trakls Werk kennt die lebenden Begrabenen – den ›weißen Magier‹, der im »Psalm« (I) im Grab mit seinen Schlangen spielt (ITA II, 25) –, es kennt das »kühle Grab, darin des Menschen feuriges Herz bewahrt ist« (in »Traum und Umnachtung«, ITA IV.1, 74). Es kennt auch den Blick auf und in die Gräber: auf das »leere Grab«, dessen Bewohner entlaufen sind und über das im »Helian« die »kindlichen Früchte des Hollunders / Sich staunend neigen« (ITA II, 262) – und auch in einer Vorstufe von »Geistliche Dämmerung«, die mit dem ›Kahn‹, dem ›nächtlichen Weiher‹ und den ›Dornen‹ ohnehin in beträchtlichem Maße Vokabular mit »Untergang«  teilt, ist etwas »über Gräber geneigt« (ITA III, 71), das die HKA noch als »Sterbende«, als »wir« identifiziert hatte (HKA I, 390). Auch in »Untergang« gibt es diese Nei­ gung über den Gräbern der lebenden Toten, hier »[b]eugt sich die zerbrochene Stirne der Nacht« (ITA II, 369). Auch sie ist keine Unbekannte in Trakls Werk: In »Am Rand eines alten Brun-

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nens«, kurz nach »Untergang« verfasst, findet sich die »Zerbrochene Stirne im Munde der Nacht« (ITA III, 27); im Entwurf »Blick von weissen Knaben« aus dem Mai 1914 tropft nach dem Anruf »Schneeige Nacht!« den »Schläfer[n] / Unter der Brücke / Von zerbrochner Stirne / […] kristallner Schweiß« (ITA IV.2, 203). Nicht abwegig scheint die Rückführung der ›Stirn‹ ins ›Gestirn‹, das – nun zerbrochen – als Sichel entweder »im Munde der Nacht« schwebt oder eben zum »silbernen Kahn« taugt. Zugleich signalisiert das Adjektiv »zerbrochen« irreversible Verfallenheit: Diese Nacht spendet keinen Trost mehr, sie befriedet nicht. Ansichtig wird in ihr die fundamentale Heillosigkeit, eine Zerrüttung, die sich denen zeigt, die aus oder über den Gräbern sprechen. Sie zeigt sich auch den »sterbenden Soldaten« aus »Im Osten«, denen die Nacht mit »zerbrochnen Brauen, silbernen Armen« winkt (ITA IV.2, 322) – und sie zeigt sich auch jenen »Blasse[n] Träumer[n]«, die im zweiten Entwurf von »Untergang« noch auf »einem silbernen Kahn« schaukeln (ITA II, 368) und aus der Druckfassung verschwinden mussten, dieweil ihr Gefährt erhalten blieb. Die allegorische Kopplung des Kahns an das apollinische Prinzip, die Nietzsche in einer Anverwandlung Schopenhauers in der Geburt der Tragödie ausgeprägt hat, war Trakl nachweislich bekannt und für ihn von höchster poetologischer Bedeutsamkeit (vergl. Zwerschina 1999, 49–52). Auch in »Offenbarung und Untergang« fährt in der »hyazinthene[n] Stille der Nacht« ein Ich »auf gebogenem Kahn über den ruhenden Weiher« (ITA IV.2, 70); in »Am Abend« wiederum »[s]chaukelt ein Kahn auf schwärzlichen Wassern«, während in »knöcherner Stille […] das Herz des Einsamen« wohnt (ITA III, 99). Das ›Schaukeln‹ impliziert jedoch auch die Nähe des Kenterns, den Sturz in die Schwärze, mithin die in den Eichen angezeigte Todesnähe. (Auch Elis, dem sein »Untergang« angesagt wird, erscheint »unter alten Eichen« [ITA II, 454] und »In Hellbrunn« »ergrünen / Die Eichen über den vergessenen Pfaden der Toten« [ITA IV.1, 289]). Die dritte und letzte Strophe des Gedichtes verändert zunächst dessen Landschaft, hegt es ein in »die weissen Mauern der Stadt«. Wieder-

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aufgenommen wird die Weiße des Weihers aus der Anfangszeile. Im Typoskript des Gedichts waren die Mauern noch ›kahl‹, ›weiss‹ hingegen die Gräber – eine Verschiebung, die man zum Sprechen bringen kann, insofern hier die Stadt als ein bereits abgestorbener Lebensraum ersteht. Zugleich handelt es sich unter poetologischen Gesichtspunkten um den Schlüsselvers des Gedichtes: »Immer klingen die weissen Mauern der Stadt«, und es ist dieser Klang, der den »Untergang« überhaupt vernehmbar werden lässt. Auch hier erschließt der Seitenblick Zusammenhänge: So endet »Anif«, im November 1913 verfasst und ebenfalls dem »Siebengesang des Todes« zugeordnet, mit der Zeile »Tönt ein eisiger Wind an den Mauern des Dorfs« (ITA III, 331). In »Untergang« wird der Ursprung des eisigen Winds bereits in der dritten Zeile benannt, er stammt von unseren Sternen. Wenn nun, wie in »Anif«, die Mauern zu tönen, zu »klingen« beginnen, dann vernimmt man die sich an ihnen brechende Kälte, ein Geräusch, aus dem das Gedicht hervortritt und das allein dem begrabenen Wir noch eine Stimme zu verleihen vermag. Stehen in Hölderlins »Hälfte des Lebens« (1804) die Mauern noch »[s]prachlos und kalt« (Hölderlin 1975–2008, VIII, 756), so harrt Trakls Dichtung an ihnen aus, lässt durch sie eine tote Welt erklingen und sprechen. Enggeführt ist jenes ›Klingen‹ qua Alliteration mit dem »Klimmen« der Schlusszeile, das vor der Druckfassung noch ein ›Steigen‹ und als solches in der Assonanz eher mit dem ›weissen‹ wie den ›Zeigern‹ verbunden gewesen war. Die brüderlich gen Mitternacht strebenden Zei-

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ger bewegen sich mit dem Klang der Mauern – und umgekehrt ertönen diese im Aufstieg. In den Dornenbogen – ob sie nun die Aufwärtsbewegung wie ein Ziffernblatt umkränzen oder wie im Entwurf »Der Tau des Frühlings« (September 1913) ihren »Stachel […] tiefer in den kristallenen Leib« graben (ITA III, 55) – aufgespeichert bleibt dabei in jedem Fall der Schmerz, der sich mit dem Durchleben jener Nacht verbindet. Es ist der Schmerz der Dichter, der ›blinden Zeiger‹, die aus einer verdunkelten Welt heraus sprechen und das aufweisen, was denen, die sie vernehmen, weder sichtbar noch verständlich ist.

Literatur Csúri, Károly: Einzelgedicht und zyklische Struktur. Erklärungstheoretische Überlegungen zum Teilzyklus ›Siebengesang des Todes‹ aus Georg Trakls ›Sebastian im Traum‹. In: Károly Csúri (Hg.): Georg Trakl und die literarische Moderne. Tübingen 2009, 31–76. Fühmann, Franz: Vor Feuerschlünden. Erfahrung mit Georg Trakls Gedicht. Rostock 1982. Groddeck, Wolfram: Überlegungen zu einigen Aporien der textgenetischen Editionsmethode am Modell von Georg Trakls Gedicht »Untergang«. In: Text 5 (1999), 27-41. Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe. Hg. von D.E. Sattler. Frankfurt a. M. 1975– 2008. Williams, Eric: Untergang der Spiegelbildwelt. In: Gedichte von Georg Trakl. Hg. von Hans-Georg Kemper. Stuttgart 2009, 154–168. Zwerschina, Hermann: Georg Trakl: »Untergang«. Das Gedicht verstehen: aus der Arbeitsweise Trakls. In: Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv 18 (1999), 33–60.

»In Venedig« (1914)

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Philipp Theisohn

Ein erster Beleg für ein Gedicht mit dem Titel »In Venedig« findet sich in Karl Borromäus Heinrichs Gliederungsvorschlag für Sebastian im Traum. Demnach befand sich ein solches Gedicht auch im Manuskript, das Trakl am 6. März 1914 an den Kurt Wolff Verlag geschickt hatte (Zwerschina 1990, 49–51). Der erste überlieferte Textzeuge findet sich jedoch auf einem Typoskript, das Trakl nachweislich während seines Berlin-Aufenthalts zwischen dem 16. März und dem 3./4. April 1914 beschrieben hat (vergl. ausführlich hierzu ITA IV.1, 208). Nimmt man hinzu, dass Trakl am 7. April 1914 dem Verlag brieflich mitgeteilt hat, dass er »an dem Manuskript noch einige umgehend nötige Änderungen vornehmen möchte« (ITA V.2, 589), so darf man in Zweifel ziehen, dass jene erste erhaltene Version des Gedichts mit der im Manuskript enthaltenen identisch gewesen ist. In der Form jenes zweiten Manuskripts (das noch mit einigen Durchstreichungen und Ersetzungen versehen ist) erscheint das Gedicht als Eingangsgedicht des Zyklus »Gesang des Abgeschiedenen« in Sebastian im Traum.

P. Theisohn (*)  Deutsches Seminar, Universität Zürich, Zürich, Schweiz E-Mail: [email protected]

Zum biographischen und kulturgeschichtlichen Kontext Den biographischen Hintergrund des Gedichts bildet die Venedigreise, die Trakl im August 1913 auf Einladung von Adolf Loos gemeinsam mit diesem, dessen Lebensgefährtin Bessie Loos (Elizabeth Bruce), Peter Altenberg, Karl Kraus sowie Ludwig und Cissi von Ficker unternommen hat (Abb. 54.1). Gleichwohl wird die konkrete Reiseerfahrung Trakls – die, wie ein Brief Trakls an Franz Zeis offenlegt, von einer »unerklärliche[n] Angst« (ITA V.2, 484) begleitet war – natürlich restlos überlagert durch die figurativen Binnenbeziehungen der Traklschen Dichtung einerseits, durch den Textraum ›Venedig‹ andererseits. Die deutschsprachige Moderne schreibt sich in diesen Textraum selbstredend durch Manns Der Tod in Venedig (1911) ein, ein Text, als dessen »antizipierte Reduktion«  etwa Pilipowicz Trakls Gedicht liest (Pilipowicz 2013, 7). Aufgefangen ist in Manns Erzählung bereits in größtmöglicher Deutlichkeit die Umwertung, die das Venedig-Bild der Moderne von dem der Romantik trennt: Dem Verlust an historischer Erfahrbarkeit im Zuge der touristischen Überflutung der Stadt (und Trakls Reisegesellschaft ist Teil dieser Überflutung) wird nicht mehr sentimental begegnet. Vielmehr avanciert die nun als »Ort der Fremden« erlebte Stadt zur Stätte exotistischen Verfalls, gelangt ihre »inhärente Fremdheit zur

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Abb. 54.1  Trakl im Badeanzug am Lido, August 1913; Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Nachlass Ludwig von Ficker.

Anschauung« (Corbineau-Hoffmann 1993, 311). Infolgedessen gilt der Imagination dieser Fremdheit, der Entkopplung Venedigs von einer Schicksalsgeschichte und der Eröffnung und Erkundung neuer venezianischer »Erfahrungsräume« (ebd., 313) die ganze Aufmerksamkeit der modernen Auseinandersetzung mit der Stadt. Von Bedeutung sind – mit Blick auf Trakls Textwelt – insbesondere Nietzsches VenedigGedicht »An der Brücke stand…«, erstmals abgedruckt in Nietzsche contra Wagner (1888, gedruckt 1895), sowie Rilkes »Spätherbst in Venedig«, enthalten in den Neuen Gedichten (1908). Ersteres sieht ein Ich in seinem Selbsterhalt im Übergang (nämlich auf der Brücke); Venedig scheint auf im fernen Gesang, der als »goldener Tropfen […] über die zitternde Fläche weg« sich bewegt, bis die klischierte Imago

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der Stadt zerfließt: »Gondeln, Lichter, Musik – / trunken schwamm’s in die Dämmrung hinaus…« (Nietzsche 1999, VI, 421). Das von der Seele in der zweiten Strophe heimlich replizierte »Gondellied« erhält sich hingegen; die Seele nimmt das venezianische Vergehen als Musik in sich auf, behält sie jedoch bei sich, wie die abschließende Frage »Hörte Jemand ihr zu?…« suggeriert. Auch Rilkes Sonett beschreibt eine Aneignung (vergl. Block 2005, 214): Die ersten sechs Verse ersprechen eine uneinholbare Vergangenheit (»Nun treibt die Stadt schon nicht mehr wie ein Köder, / der alle aufgetauchten Tage fängt«) und erkennen im Sommer Venedigs einen »Haufen Marionetten / kopfüber, müde, umgebracht«, also ein von außen gesteuertes, in sich selbst verlebtes Gefüge (Rilke 1996– 2003, I, 557 f.). Entgegengesetzt wird diesem der »vom Grund aus alten Waldskeletten« aufsteigende Wille, aus dem sich, eingeleitet durch ein »als sollte«, die Imagination alten Glanzes einstellt, sich verdoppelnde Galeeren, eine Flotte, die, »mit allen Flaggen tagend, den großen Wind hat, strahlend und fatal« (ebd.). Es ist ein Bild, das allein die Dichtung trägt, sie ist es, die die Flotte ›verdoppelt‹ (nämlich durch ein zweites Terzett), sie ist es, die streng jambisch die ›Ruder schlagen‹ lässt. Das untergegangene Venedig lebt nur als poetische Imitatio fort – es bleibt immer ersprochenes Konstrukt und als solches stellt Rilkes Gedicht es auch aus. Beide Texte aber, Nietzsches wie Rilkes, kapitulieren vor der Aufgabe, Stimme und Stadt nebeneinander bestehen zu lassen, zwischen ihnen zu vermitteln.

Deutung Grundsätzlich wird Trakls Gedicht durch seine Daktylen geprägt, die in den ersten drei Versen und dem vierzehnten Vers in Adoneen auslaufen, ansonsten meist katalektisch bleiben. Jede der drei reimlosen Strophen besteht aus vier dreihebigen und einem zweihebigen Vers, der jedoch immer an anderer Stelle platziert ist: In der

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ersten Strophe ist es der vierte Vers (mit Doppelhebung), in der zweiten der fünfte (am ehesten als Trochäus mit Auftakt lesbar), in der dritten der dritte (dieser katalektisch daktylisch). Die Bildsignale, die Trakls Gedicht mit dem Textraum ›Venedig‹ verbinden, erscheinen erst gegen Ende, in den ersten drei Versen der Schlussstrophe, die mit »Meer«, »Fahrt« und »Kanal« immerhin Schwundstufen venezianischer Imagination aufweisen. (Mit dem Vers »In schwärzlichem Kahn«, »In schwärzlichem Dampfer« resp. »In schwärzlicher Gondel« wurde eine weitere, noch deutlichere Markierung im Gedichtentwurf gestrichen; vergl. ITA IV.1, 212, Zitation im Folgenden von dort.) Das Gedicht drängt den Raum, dem es der Titel zuordnet, weitestgehend in den Hintergrund. Die Dialektik des modernen Venedig-Gedichts, wie sie mit Blick auf Nietzsche und Rilke bereits erläutert wurde, würde besagen, dass derlei Verdrängung tatsächlich einen Immanentisierungsprozess darstellt, die Stadt als seelischer Vorgang (oder, um bei Nietzsche zu bleiben: als seelisches »Saitenspiel«) in der Introspektion erkundet wird. In Trakls Fall ist das zu bezweifeln. So zeichnet sich – für Trakls Poetik nahezu generisch, im Horizont der Venedig-Tradition jedoch vielsagend deviant – »In Venedig« zunächst einmal durch eine Inszenierung von Seklusion aus; nicht ohne Grund eröffnet das Gedicht den Zyklus »Gesang des Abgeschiedenen«. Bereits in seinem ersten Vers aufgerufen wird das »nächtige[] Zimmer«, eine Szenerie, die man ähnlich in »Traum des Bösen« (»Ein Liebender erwacht in schwarzen Zimmern«, ITA I, 516) oder auch in »Sommer« findet, wo zugleich die Erhellung der Flamme mitgesprochen ist: »Stille leuchtet die Kerze / Im dunklen Zimmer« (ITA III, 264). Wenn dieses Erleuchten auch den zweiten Vers von »In Venedig« bestimmt, so bleibt zunächst zu konstatieren, dass das »Zimmer« überhaupt in Trakls Dichtung ein enggefügtes Inventar an Morphemen aufweist, dass sich in Trakls Zimmern die seine Poetik dominierenden semantischen Felder stets überkreuzen und verdichten. So ist auch dieses Zimmer erfüllt von einer gespaltenen Stille, in der – scheinbar tonlos, nicht beredt, sondern elliptisch – der »singende[]

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Odem / Des Einsamen« das silberne Flackern der Leuchterflamme in Verse verwandelt, in »Zaubrisches Rosengewölk«. Letzteres erscheint auch in »Frühling der Seele« (II), das vermutlich im Dezember 1913 entstanden ist und ebenfalls dem »Gesang des Abgeschiedenen« eingegliedert ist, sodass man es mit einer ostentativ ausgestellten Autorekurrenz zu tun hat. Dem Verweis auf das eigene Werk wird im Adjektiv ›zaubrisch‹ zugleich ein Traditionsbezug beigesellt: Es verbindet Trakls »Rosengewölk« sowohl mit Hölderlins »Der Winter« (»Jetzt komm und hülle, zaubrischer Phantasus«, Hölderlin 1975–2008, V, 721), mit Georges Übertragung von Baudelaires »La Muse malade« (»Hat dich mit meuterndem und rohem arm / Der alp ertränkt in zaubrischen minturnen?«, George 1966–1969, XIII/XIV, 23) als auch mit Klammers Übertragung von Rimbauds »Faim« (»Ich habe das zaubrische Glück gesehn«, Rimbaud 1907, 208). Das poetologische Bekenntnis zu dieser distinkten Ahnenreihe geht einher mit der Selbstadressierung des Sängers als »Einsame[m]«, dem in der zweiten Strophe das Attribut des »Heimatlosen« zur Seite gestellt wird. Diese, Trakls Werk durchziehende Typologie der ›Abgeschiedenheit‹ ist aber mit seinen Zimmern, ihrer ›Stille‹ und der ihnen eingeschriebenen Semantik eng verwachsen. Der sie durchwaltende »Odem« ist der »Geist des Frühverstorbenen«, der in ihnen erscheinen muss (»An einen Frühverstorbenen«, ITA III, 403), weil diese Zimmer durch ihn überhaupt erst erschaffen werden, er sich in ihnen materialisiert. Abgeschiedenheit, Frühverstorbenheit, Heimatlosigkeit werden bei Trakl räumlich, ihre Geschichte Interieur, Oberfläche, Design, und so handelt es sich auch bei jenem nach Venedig verbrachten Zimmer um einen »steinernen Raum«. Steinerne Zimmer aber – ein weiteres findet sich in »Jahr«, im gleichen Zyklus enthalten (ITA IV.1, 311) – tragen ihre Gründe in sich. Es handelt sich um zu Refugien angewachsene Versteinerungen, deren Anfängen man ab und an in Trakls Werk begegnet, etwa im ersten Satz von »Traum und Umnachtung«: »in dunklen Zimmern versteinerte das Antlitz der Mutter« (ITA IV.1, 73). Kleefeld erkennt

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im Stein vor diesem Hintergrund eine »zentrale Chiffre der Versagung« (Kleefeld 1985, 218) und folgt hierin unverkennbar Heidegger, der in seiner Auslegung von »Ein Winterabend« den Stein als das ungebrochene Anwähren von Schmerz deutet, das den zwischen dem Innen und dem Außen waltenden Riss sowohl schließt wie manifestiert, tragfähig werden lässt (Heidegger 2018, 24  f.). Auch der »steinerne[] Raum«, aus dem »In Venedig« ersungen wird, hat zum Zeichen das Schisma, das Bewusstsein zweier nicht miteinander in Einklang zu bringender Sphären, aus dem nicht nur die Figuration des Heimatlosen erwächst, sondern auch dessen von der »Qual / Des goldenen Tags« starrendes – ebenfalls petrifiziertes – Haupt. In einer gestrichenen Variante »starrt« das Haupt nicht, sondern »glüht« – und gibt sich darin dann auch als Haupt des Melancholikers zu erkennen, dem in der ersten Strophe von »In ein altes Stammbuch« der Vers »Zu Ende glüht ein goldener Tag« souffliert wird (ITA II, 105). Nun ist dies alles eben noch ganz im Austrag von Trakls Werkpoetik zu erläutern – wo aber ist Venedig? Tatsächlich ist die Stadt bereits schon in der ersten Strophe anwesend, wenn auch unmerklich. So ist es das ›Flackern‹ des Leuchters, das bereits auf die Durchwirkung des silbrigen Lichts hindeutet, als deren Urheber in der zweiten Strophe ein »Schwärzlicher Fliegenschwarm« begegnet. (Vergl. Block 2005, 218; dort wird freilich auf das Argument der ›Gegenrhythmik‹ abgestellt, das sich mit Blick auf die Metrik nicht erhärten lässt.) Der venezianische Gesang ist kontaminiert: Er weist die Zeichen der Verwesung auf, eines Verfalls, der den abgeschiedenen Raum des Gedichtes heimsucht. Das Gedicht aber weiß um seine Krankheit, trägt sie in sich – und flieht sie zugleich. Erst auf dieser Flucht, erst als zu Fliehendes tritt Venedig nun in der dritten Strophe vor Augen: »Reglos nachtet das Meer. / Stern und schwärzliche Fahrt / Entschwand am Kanal.« Eine interpretatorisch durchaus relevante Frage knüpft sich an den zweiten Vers der Strophe: Wie lassen sich »Stern und schwärzliche Fahrt« beziehen? Einerseits korrespondiert die »schwärzliche Fahrt« zweifellos mit dem »[s]chwärzliche[n] Fliegen-

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schwarm« der Vorstrophe; und macht man geltend, dass die »schwärzliche Fahrt« offensichtlich zuvor schwärzlicher Kahn, Dampfer oder Gondel gewesen ist, so wird man mit diesem Vers – und tatsächlich auch im Akt seiner Überarbeitung – Venedig selbst entschwinden sehen. Ebenso ließe sich andererseits in die Gegenrichtung argumentieren: Gerade das Streichen der deutlich stärker mit Venedig verbundenen Substantive und ihr Ersetzen durch die »Fahrt« erschwert gezielt den Bezug auf die Stadt. Zudem wäre zu klären, ob und welche semantische Valenz dem »Stern« zukommt. Will man in ihm nicht das am Canal Grande gelegene und 1912, also just ein Jahr vor Trakls Venedigaufenthalt fertiggestellte ›Palazzetto Stern‹ erkennen, so bliebe als erhellender Paratext nur noch Trakls am 15. August an Buschbeck verschickte Postkarte übrig, auf der sich die Botschaft findet: »Die Welt ist rund. Am Samstag falle ich nach Venedig hinunter. Immer weiter – zu den Sternen« (ITA V.2, 485). In diesem Lichte ließe sich das Entschwinden des Sterns auch als ein fortgesetzter ›Fall‹ des Ichs verstehen, das im Sternensturz Venedig aus dem Blick verliert. Ganz gleich aber, welche Seite hier ins Dunkel fiel: Der Ort, an dem man »entschwand« (nur hier fällt das Gedicht ins Präteritum), bleibt immer noch ein genuin venezianischer, bleibt der »Kanal«. An dieser letzten Markierung muss die Lagunenstadt zurückbleiben; das Ich hat sich in den Schlaf geflüchtet und sein steinernes Zimmer gefunden – freilich nicht, ohne noch eine letzte Volte zu vollziehen. Lesbar wäre »In Venedig«, lässt man die letzten beiden Verse außer Acht, vom Ende her nämlich auch als die Verinnerlichung der jenseits des Zimmers weiter ›nachtenden‹ Stadt, die sich das Ich schlafend anverwandelt. So könnte man hier erneut bei einer Immanentisierungsthese anlangen, die sich natürlich auch in der einschlägigen Forschung findet (vergl. Corbineau-Hoffmann 1993, 541 f.). Das Ich des Gedichts jedoch distanziert Venedig, indem es die Stadt nicht nur »am Kanal« zurücklässt, sondern zugleich in sein Gefolge nimmt: »Kind, dein kränkliches Lächeln / Folgte mir leise im Schlaf.« In dieser Adresse, in welcher das Gedicht unvermittelt in ein Gespräch über-

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geht, vermag sich das Ich auf jenen kontagiösen, dekadenten Raum zu beziehen, ohne sich in ihm zu verlieren oder ihn zu absorbieren. Er bleibt ein Anderes, Unterschiedenes, Spur: ein »kränkliches Lächeln« im Schlaf des Einsamen.

Literatur Block, Richard A.: Falling to the stars. Georg Trakl’s »In Venedig« in light of Venice poems by Nietzsche and Rilke. In: The German quarterly 78 (2005), 207–223. Corbineau-Hoffmann, Angelika: Paradoxie der Fiktion. Literarische Venedig-Bilder 1797–1984. Berlin/New York 1993. George, Stefan: Gesamt-Ausgabe. Düsseldorf/München 1966–1969. Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe. Hg. von D.E. Sattler. Frankfurt a.M. 1975–2008.

343 Heidegger, Martin: Unterwegs zur Sprache. Frankfurt a.M. 22018 (Gesamtausgabe I.12). Kleefeld, Gunther: Das Gedicht als Sühne. Georg Trakls Dichtung und Krankheit. Eine psychoanalytische Studie. Tübingen 1985. Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München 1999. Pilipowicz, Andrzej: Ein Bild, das von einem Rahmen zu dem anderen wandert. »Der Tod in Venedig« von Thomas Mann und »In Venedig« von Georg Trakl. In: Germanica Wratislaviensia 137 (2013), 7–23. Rilke, Rainer Maria: Werke. Kommentierte Ausgabe. Hg. von Manfred Engel, Ulrich Fülleborn, Dorothea Lauterbach, Horst Nalewski und August Stahl. Frankfurt a.M./Leipzig 1996–2003. Rimbaud, Arthur: Leben und Dichtung. Übertr. von K. L. Ammer [Ps. von Karl Klammer], eingeleitet von Stefan Zweig. Leipzig 1907. Zwerschina, Hermann: Die Chronologie der Dichtungen Georg Trakls. Innsbruck 1990.

»Vorhölle« (1914)

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Madeline Gellhaus und Georg Braungart

Das Gedicht ist in der Sammelhandschrift G 88–95 enthalten, die Trakl unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Berlin nach Innsbruck am 3. April in einem psychischen Ausnahmezustand – augenscheinlich ausgelöst durch die Fehlgeburt seiner Schwester – angelegt hat (Weichselbaum 2014, 156–163). Entstanden ist das Gedicht vermutlich zwischen dem 6. März und dem 10. Juni 1914 – jenem Tag, an dem der Text erstmals in Trakls Brief an den Kurt Wolff Verlag erwähnt wurde (Zwerschina 1990, 252), in dem Trakl mitteilt, dass für ihn der kurze Zyklus »Gesang des Abgeschiedenen« durch vier weitere Gedichte – »Gesang einer gefangenen Amsel«, »Jahr«, »Nachtseele« und eben »Vorhölle« – »in dieser neuen Fassung unvergleichlich geschlossener und besser« (ITA V.2, 627) wirken werde. »Vorhölle« wurde dabei zum zweiten Gedicht des Zyklus bestimmt (ITA IV.2, 11). (»Nachtseele« wurde dann am Ende doch nicht in Sebastian im Traum aufgenommen; die Reihenfolge weicht ebenfalls von der in der Briefbeilage angegebenen ab). Zugleich erschien das Gedicht im vierten Jahrgang des Brenner, die am 15. Juni 1914 erschienen ist. M. Gellhaus · G. Braungart (*)  Deutsches Seminar, Eberhard Karls Universität Tübingen, Tübingen, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Gellhaus  E-Mail: [email protected]

Folgt man der Genealogie der Textstufen, so zeigt die Handschrift G 88–95 einen ersten Ansatz, dem ein zweiter Ansatz auf der links gegenüberliegenden Seite besonders für den ersten Abschnitt neues Wortmaterial hinzufügt und im zweiten Abschnitt viele Korrekturen aufweist. Die dritte Textstufe (ITA IV.2, 20–23) ist die Abschrift für den Abdruck im Brenner. Hier erscheint erstmals der Titel »Die Hölle«, der dann aber durch Fickers Hand, jedoch zweifellos mit Trakls Einverständnis, gestrichen und durch »Vorhölle« ersetzt wird. Zusammen mit der Einfügung der Verse 28 f. (wieder durch Fickers Hand) ergibt sich so die vierte Textstufe. Allerdings werden diese beiden Verse für die beiden Drucke (die sich ihrerseits nur ganz marginal unterscheiden) nochmals stark überarbeitet. »Vorhölle« besteht aus drei Abschnitten zu jeweils 11 Versen. Trakl hat auf diese präzise Aufteilung der 33 Verse (Jesus wurde mit 33 Jahren gekreuzigt) über die Fassungen hinweg gezielt hingearbeitet. Bis auf den Paarreim im zweiten Abschnitt (V. 13 f.) ist das Gedicht reimlos. Die Verse bestehen aus 6–12 Silben, mit der Ausnahme von V. 28, in dem »Ein Herz« allein die Zeile füllt. Sie enden mit wechselnden Kadenzen, wobei sich die Aufteilung in den Abschnitten 1 (5 × männlich, 6 × weiblich) und 2 (6 × männlich, 5 × weiblich) ähnelt. Kap. 3 (4 × männlich, 7 × weiblich) gewährt den weiblichen Kadenzen zwar mehr Raum, endet

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_55

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jedoch als einziger Abschnitt mit einer männlichen Kadenz, zweifellos als besonders wuchtiger Schluss angelegt. Rudimentäre metrische Strukturen finden sich immer wieder, vorwiegend in fallendem Metrum, trochäisch und daktylisch: »herbstlichen Mauern« (V. 1). Einzig V. 28 unterbricht mit dem jambischen »ein Herz« das fallende Metrum. Enjambements, die mit Sinneinheiten korrespondieren, finden sich mehrfach. Die für Trakl charakteristischen Stilmomente lassen sich auch in diesem Gedicht in großer Dichte finden, u. a. Alliterationen, Synästhesien (u. a. V. 2: »das tönende Gold«, V. 9: »goldne Kühle«). Der Titel der Druckfassung verdient besondere Aufmerksamkeit, denn im Zusammenhang der Eingliederung in den kleinen Zyklus »Gesang des Abgeschiedenen« wurde die ›Hölle‹ als szenischer Rahmen ja dezidiert durch die »Vorhölle« ersetzt. Trakl musste die theologische Bedeutung dieses Begriffs, der synonym mit ›Limbus‹ gebraucht wird, bekannt sein. Die Vorhölle bzw. der Limbus ist ein Zwischenreich zwischen dem Bereich der Lebenden einerseits und der Hölle andererseits; eine Sphäre für die Seelen derer, die nicht durch eigenes Verschulden vom Himmel ausgeschlossen waren: für die Kinder, die noch vor ihrer Taufe starben, wie auch für die positiv einzuschätzenden Figuren des Alten Testaments (und zuweilen auch die ›heidnischen‹ Philosophen), die noch keine Christen sein konnten. Auch führt der Abstieg Christi in das Totenreich meist in den Limbus, wo er die Seelen der gerechten Menschen seit Adam befreit. Die Vorhölle ist also mitnichten die Vorstufe zur Hölle, sondern ein Zwischenraum für Seelen, die eigentlich gerettet werden sollten. Unter dieser Perspektive läuft das Gedicht nicht auf einen infernalen Endzustand zu, sondern verharrt in einem Zwischenreich, das die Frage der Verdammnis letztlich weitgehend in der Schwebe lässt: Das Zuschlagen des Tors am Ende findet nur im Konjunktiv statt. Die drei Abschnitte des Gedichts führen schrittweise durch die Vorhölle hin zum ehernen Tor, das aller Wahrscheinlichkeit nach in der Zukunft wartet. Der Weg verläuft aus der Weite der

M. Gellhaus und G. Braungart

Natur in die Stadt und hinein in die Enge eines Zimmers. In der dort herrschenden Sinnlosigkeit greift die ›universelle Kälte, die sich der Wirklichkeit bemächtigt hat‹ (Reininger 2014, 67) auf das Herz über, welches erstarrt. Die Einteilung in drei Mal elf Verse gibt reichen Spielraum für symbolische Deutungen. Einerseits ergibt sich daraus der Hinweis auf Christi Leiden und Tod mit 33 Jahren; andererseits ist die Zahl 11 als Karnevalszahl der Verweis auf die Überschreitung göttlicher Gebote (Überschreitung des Dekalogs) und zudem ein Hinweis auf das memento mori. Das Gedicht überblendet von Anfang temporale und topographische Momente. Im ersten Abschnitt erscheinen die Mauern einer Stadt bereits ›herbstlich‹, die Szenerie wird bestimmt von »Abendwolken«, die als »Weidende« an Schäfchenwolken erinnern (Reininger 2014, 60). Doch das bei Trakl häufig genannte »Gold« (Goldmann 1957, 40 f.) wird, wie meist bei Trakl, mit Melancholie umgeben (V. 8). Die »Schatten«, die im ersten Vers genannt werden, führen die Assoziation des Zwischenreiches mit sich; bereits in der ersten Textstufe (ITA IV.2, 15, V. 1) werden sie als »Schatten der Toten« näher qualifiziert. (Hier zeigt sich, dass der zuletzt gewählte Titel von Anfang an semantisch vorbereitet wurde.) Zwar erscheint im Text kein artikuliertes Ich, doch finden sich mehrere Rollen, die ein Ich einnehmen kann, als ›Träumer‹ (V. 6), als ›Schreitender‹ (V. 9) und nicht zuletzt als »Fremdling« (V. 10). Der bei Trakl nicht seltene absolute Komparativ (»Dunklere Tränen«, V. 5) verleiht zusammen mit den syntaktischen Inversionen und dem stark religiös aufgeladenen Verb odmen (seit Luther in der gehobenen religiös-poetischen Sprache für ›atmen‹, als Verb zum gebräuchlicheren Substantiv ›Odem‹, eingeführt) bereits der ersten Versgruppe ein sakrales Pathos, das insbesondere auch durch den gehobenen Stil in der Wortwahl (»Schreitenden«, »Leichnam« u. a.) erreicht wird. Die Topographie der im abendlichen Goldton stehenden Stadt wird am Ende der ersten Versgruppe durch den »Friedhof« (V. 10) vervollständigt. Damit ist das Gedicht bereits im Reich der Toten angekommen. Der dem Fremdling folgende ›zarte

55  »Vorhölle« (1914)

Leichnam‹ (V. 11) kann einerseits eine Orpheus-Eurydike-Reminiszenz sein (Reininger 2014, 62), andererseits aber auch eine spiritistische Vision andeuten. Trakl war mit den um 1900 verbreiteten spiritistisch-okkultistischen Vorstellungen vertraut (Kleefeld 2009, bes. 39; Pytlik 2006, 547 f., 583–586). Unter dieser Prämisse werden die Schilderungen des zweiten Abschnittes die Momente eines unheimlichen, vielgestaltigen Totenreiches erkennbar, bei dem die ›verwesenden Menschen‹ (V. 16) jedoch weder ganz im Diesseits noch ganz im Reich des Todes zu verorten sind. »Ein feuriges Rad« (V. 21), als »Qual ohne Ende« (V. 22) erscheinend und an den Mythos des Ixion (Goldmann 1957, 211) wie andererseits an Vorstellungen Schopenhauers und Nietzsches anknüpfend, kontrastiert mit den für Trakl nicht untypischen Engeln »mit kalten Stirnen« (V. 18), die dieses unheimliche Zwischenreich des Todes komplettieren. Diese »Vorhölle« hat nichts mehr mit einem Limbus christlicher Tradition zu tun. Die Struktur des dritten Abschnitts (V. 23– 33) wird durch den genau im Zentrum stehenden Kürzest-Vers »Ein Herz« bestimmt. In ungewöhnlicher Zugänglichkeit formuliert Trakl hier wohl lapidar, schlicht und zugleich als fürchterlichen Befund den emotionalen Tod des Ichs. »Ein Herz / Erstarrt in schneeiger Stille« (V. 28 f.). In die Neufassung (H 4, ITA IV.2, 22 f.) war von Fickers Hand ursprünglich eingetragen worden: »Leise erlosch im Herzen des Schattens / Ein flackerndes Lämpchen« (ITA IV.2, 29, V. 28 f.). Die Selbstdefinition des Ichs als Schatten, wie sie aus »De profundis« (II) bekannt ist, wird in der letzten Fassung aufgegeben und durch eine metonymische Zuspitzung ersetzt. Zu Beginn des Abschnitts hatte der Fokus der Wahrnehmung in das Interieur eines von Verwesung und Ekel bestimmten Hauses gewechselt. Dort werden Utopien der Reinheit und Unschuld – des romantischen »Blau« (V. 25), der »Märchen« der »Kindheit« (V. 25 f.), die nur noch eine »Unheilige« sein kann (Schuchhardt 2006, 62) – endgültig verabschiedet. Das Ende des Gedichts, dessen scheinbar strenge Zahlenproportionalität gegenüber der melancholischen Zerstörung nicht wirklich als Gegengewicht an-

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gesehen werden kann, ist bestimmt von einer starken Geste: Dem Echo von Verworfenheit und Lüge (das Wort als Schwert, V. 32: eine biblische wie rhetorikgeschichtliche Metapher) wird in einer erhabenen Vision das Zuschlagen eines ›ehernen Tores‹ zugeordnet. Damit scheint ein definitiver Endpunkt erreicht – wenn nicht der Konjunktiv »schlüge« (V. 33) wäre, den Trakl bereits in der allerersten Fassung dieses Gedichts verwendet, das die blaue Blume der Romantik doch nicht mehr finden kann. Im Zusammenhang des Zyklus »Gesang des Abgeschiedenen« ist »Vorhölle« einerseits motivverwandt (es folgt an zweiter Stelle unmittelbar auf das eröffnende »In Venedig«, direkt danach folgt »Die Sonne«), und es ist insbesondere durch die Jahreszeitenthematik stark in die Reihe eingebunden (»Sommer«, »Sommersneige«, »Jahr«, »Frühling der Seele«). Andererseits erscheint es gegenüber den teilweise sehr gedämpft-resignativen und beinahe harmonisch wirkenden Nachbargedichten doch als eine pathetische, pessimistische Bestandsaufnahme und bereitet das titelgebende Schlussgedicht des Zyklus vor. Letztlich ist auch »Vorhölle« ein »Gesang des Abgeschiedenen« – eines lebendig Toten. Ein Großteil der Forschung zu »Vorhölle« findet im Rahmen von Stil- und Wortfelduntersuchungen statt. Interpretationsansätze akzentuieren einerseits den Komplex von Schuld und Verdammung (Csúri 2016, 239–242), andererseits – ausgehend vom Titel und dessen theologischen Implikationen – die Frage, ob der Weg in die Erstarrung ausweglos sei (Schuchhardt 2006, 71 f.). Erwogen wird, ob die Bewegung des Gedichts exemplarisch für die Menschheit insgesamt ist (Reininger 2014).

Literatur Csúri, Károly: Konstruktionsprinzipien von Georg Trakls lyrischen Textwelten. Bielefeld 2016. Goldmann, Heinrich: Katabasis. Eine tiefenpsychologische Studie zur Symbolik der Dichtungen Georg Trakls. Salzburg 1957. Kleefeld, Gunther: Mysterien der Verwandlung. Das okkulte Erbe in Georg Trakls Dichtung. Salzburg 2009.

348 Pytlik, Priska (Hg.): Spiritismus und ästhetische Moderne – Berlin und München um 1900. Dokumente und Kommentare. Tübingen/Basel 2006. Reininger, Anton: Georg Trakl: Vorhölle. Wandlungen eines mythischen Ortes. In: Ders.: Schriften zur deutschen Literatur II. 20. Jahrhundert. Udine 2014, 57–68.

M. Gellhaus und G. Braungart Schuchhardt, Nicolai: Todesdarstellung und Jenseitsphantasien in der Lyrik Georg Trakls. Diss. Marburg 2006. Weichselbaum, Hans: Georg Trakl. Eine Biographie. Salzburg 2014. Zwerschina, Hermann: Die Chronologie der Dichtungen Georg Trakls. Innsbruck 1990.

»Gesang einer gefangenen Amsel« (1914)

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Christian Metz

Der neunzeilige »Gesang einer gefangenen Amsel« balanciert zwei Quartette entlang einer mittleren Zeile aus. Die Textgestalt vermittelt den Eindruck, die oberen vier Verse (siebzehn Wörter umfassend) würden dem Gedicht Auftrieb verleihen, während es die unteren (aus achtzehn Wörtern bestehend) am Boden halten. Diese vertikale Bewegung zwischen Levitation und Gravitation bildet die Signatur des Gedichts. Sie prägt auch den zentralen Vers selbst: »Aufflattert mit trunknem Flügel die Nacht« (ITA IV.1, 300; Zitation im Folgenden, so nicht anders angegeben, nach dieser Textstufe). In einem – nach Heideggers Diagnose – trakltypischen Schwellenmoment, in dem »die gefangene Amsel« als »die Vogelstimme des Totengleichen« erscheint (Heidegger 2018, 77), schwingt die Nacht sich nicht zur Freiheit auf. Ihr Flug erlischt im Flattern. Da Trakls Vers zum einen Eichendorffs »Zwielicht« (»Dämmrung will die Flügel spreiten«, Eichendorff 1985– 1993, I, 146), zum anderen C. F. Meyers »Der römische Brunnen« (»Aufsteigt der Strahl und fallend gießt«, Meyer 1958–1996, I, 170) zitiert,

C. Metz (*)  Institut für Germanistische und Allgemeine Literaturwissenschaft, RWTH Aachen, Aachen, Deutschland E-Mail: [email protected]

schwingt im »Gesang einer gefangenen Amsel« die Frage mit, wo sich die eigene poetische Sprache zum Flug erhebt und wo sie im Abglanz berühmter Vorbilder gefangen bleibt. Denneler hat zurecht darauf aufmerksam gemacht, dass Trakl im Zuge der Überarbeitung die zuvor offensichtlichen »literarhistorischen« und »mythologischen« Kodierungsmöglichkeiten des Gedichts tilgt (Denneler 1984, 222); tatsächlich kann dieser Vorgang als Versuch einer Loslösung des Textes von seinen Vorläufern verstanden werden. Dennelers Überzeugung, dass sich »Gesang einer gefangenen Amsel« folglich nur über seine ›religiöse‹ wie ›biographische‹ Kodierung entziffern ließe (ebd.), ist indessen ebenso zurückzuweisen wie die vorherigen Immunisierungsversuche Lachmanns, der dem Gedicht einen rein religiösen Aussagewert (den der »auch hier nicht genannte Heiland« verantwortet [Lachmann 1954, 38]) zuweisen will. Trakl hat den Gedichttitel erst im zweiten Arbeitsschritt hinzugefügt (ITA IV.1, 298). Der Grundentwurf umfasste die ersten sechs Verse. Drei Impressionen reiht das erste Quartett, dessen Bildfaktur ihrerseits von einer Dreizahl strukturiert ist: Drei Subjekte (Odem, Blumen, Schritte), ausgestattet mit Farbattributen (dunkel, golden, blau), zugeordnet den Objekten Gezweig, Antlitz, Ölbaum, und zwar auf je eigene Weise (im, um, unter). Die parallelistische Variation evoziert eine kohärente Bildsequenz. (Zumal die blauen Blümchenzweige, als Strauch-

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_56

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art ›Flieder‹ gelesen, zu den Ölbaumgewächsen zählen.) Der dunkle Odem korrespondiert mit der Vorstellung von der obscuritas der (atemgewendeten) Sprache, deren Ornatus rahmt das Porträt, die goldenen Schritte unter dem Ölbaum bilden die Gegenbewegung zum aufsteigenden Atem. Die vertikale Bewegung des zentralen Verses bestimmt also bereits das erste Quartett, in dem der dunkle Odem sich erhebt, während die Bildführung (vom Atem, zum Antlitz, zu den Schritten) nach unten führt: erneut ein Auf und Ab zugleich. Entweder reiht sich das Bild der Nacht als vierter Eindruck an die vorherigen an. Oder diese sind als Detailbeobachtungen in der Nachtimpression aufgehoben. Trakl erarbeitet den »Gesang einer gefangenen Amsel« im April 1914 (ITA IV.1, 290). Seine Grundfassung (1 H), die er in einem Schwung verfasst und an der er nur noch Details verändert, besteht aus Quartett, Mittelachse und dem Vers »so leise schlägt das Herz« (ITA IV.1, 298). Letzterer bildet das Scharnier, um aus ihm das zweite Quartett zu entfalten. Trakls weitere Arbeiten bestehen in der Suche nach Paratexten sowie aus mehreren Anläufen, vom sechsten Vers aus das untere Quartett zu formulieren. Aus dieser Arbeitsweise lässt sich folgern, dass der fünfte Vers von Beginn an als Mittelachse gedacht war. Maßgebliches Ziel war es demnach, die Textgestalt auszubalancieren. Drei Detailveränderungen nimmt der Dichter in den ersten sechs Zeilen vor, die wichtige Auskunft über seine poetischen Prinzipien geben: »Umrahmen« die blauen Blümchen zunächst das Antlitz, so ersetzt Trakl das Wort durch »umschweben«. Die Funktion (der Einbettung) bleibt, erhält aber Leichtigkeit und Dynamik. Zudem flattert zuerst noch ein »purpurner Flügel« der Nacht auf. Trakl streicht den Farbeindruck zugunsten des »trunkenen Flügels«. Er nimmt den Evidenzeffekt (purpurne Flügel gibt es) zugunsten einer Verunsicherung der Bildfaktur zurück. Indem er »dein Antlitz« in »das Antlitz« ändert, versetzt er zudem die konkrete Begegnung (mit einer Person) in Vagheit. Gesteigerte Lebendigkeit, Rätselhaftigkeit und präzise Vagheit bilden drei wesentliche

C. Metz

Eigenschaften von Trakls Arbeit am Gedicht. Im selben Arbeitsschritt fügt er die Widmung »f. Ludwig v. Ficker« hinzu. Die persönliche Zuschreibung balanciert die Entpersonalisierung im Text aus. Später erinnert Ludwig von Ficker eine vermeintlich konkrete Entstehungsszene für das Gedicht (ITA IV.1, 290), wohingegen Dieter Lamping später von einem von vornherein ungegenständlichen metaphorischen Gedicht spricht (vgl. Lamping 2000). Neben der Widmung fügt Trakl zuerst den schlichten Titel »Lied« hinzu. Ersetzt diesen direkten Aufruf der romantischen Tradition jedoch umgehend durch »Gesang einer gefangenen Amsel«. Die klangliche Helle des Titels (das Pattern »e-a-ei-e-e-a-e-e-a-e«, das Spiel mit »Gesang« und »gefang-en«) ruft im Kontrast zum »dunklen Odem« den Topos vergänglicher Schönheit auf. Schon Äsops Fabel »Der Vogelfänger und die Amsel« (im englischen stets als Lerche, ›lark‹ übersetzt) entfaltet die Erzählung, die auch Trakls Gedicht unterliegt. Entweder funktioniert der Titel emblematisch: Auf die inscriptio folgt die pictura. Oder man setzt im Geiste einen Doppelpunkt hinter den Titel. Dann fungieren die Verse als Gefühls-Ausdruck des freiheitsberaubten Vogels. Die Vorstellung, dass die gefangene Kreatur an der Klippe zum drohenden Tode besonders schön singt, wird in der griechischen Mythologie sowohl männlichen (Narziss, Hyakinthos) als auch weiblichen Figuren (Sirenen) zugeschrieben. (Jedoch singt nur die männliche Amsel.) Stets steht das Verklingen des Gesangs im Kontrast zu der Hoffnung, der schriftlich fixierte Text könnte bis in die Ewigkeit fortdauern. Erzeugt der »dunkle Odem« zwischen dem Gezweig notwendig ein Klagelied? Nicht unbedingt. Schon Hamlet erinnert: »I could be bounded in a nutshell and count myself a king of infinite space« (Shake­ speare 2016, 1793). Im Gestus des eingesperrten Sängers, dessen Gesang sich über sein Gefängnis ausdehnt, schreibt sich Trakls »Gesang einer gefangenen Amsel« in einen Resonanzraum ein, der sich bis zu Maya Angelous Autobiographie »I Know Why the Caged Bird Sings« (1969) erstreckt.

56  »Gesang einer gefangenen Amsel« (1914)

Zahlreiche Lesarten erlaubt das allegorische Zusammenspiel von Titel, Quartett und Zentralachse. Die literale Erzählung vom Schicksal einer gefangenen Amsel (zur Amsel vgl. auch »Die junge Magd«, »Elis«, »Verfall« [II]), sodann die Hamletsche Allegorese des eingesperrten Menschen im Weltgefängnis, die sich als Dichterschicksal oder (poetologisch) Wesen des Gedichts spezifizieren lässt. Hinzu kommt – etwa im Zuge von Károly Csúris Lektüre (vgl. Csúri 1999, 177) – die Übertragung des Geschilderten auf die Szenen von Jesus am Ölberg. So kunstvoll, wie sich in der palimpsestartigen Textur die Schwärze von Amsel, Nacht und dunklen Odem überlagern, balanciert der Gesang diese Allegoresen aus. Der sechste Vers wendet den Blick nach innen. Bis zur siebten, der allerletzten Textstufe, lautete der sechste Vers »So leiste verblutet ein Herz«, erst die in Sebastian im Traum gedruckte Fassung setzt an diese Stelle »So leise blutet Demut« (ITA IV.1, 300). Was immer auch blutet: Eine Abwärtsbewegung bestimmt das zweite Quartett. Das Blut, das wie der Odem aus dem Inneren dringt, fällt tropfenweise zu Boden. Sturz statt Levitation. Erneut arbeitet Trakl mit einer Überblendung: Blut tropft wie Tau. Der Blick ins Innere mündet in eine erneute Naturimpression, die vertikale Bewegung ihrerseits in eine zweite Einbettungsfigur: »Strahlender Arme Erbarmen / umfängt […]«; sogar das Strahlen korrespondiert mit dem Farbglanz der umschwebenden, blauen Blümchen. Erneut lohnt sich die Beachtung des Schreibprozesses. Der Übergang von der dritten bis zur fünften Textstufe zeigt, dass Trakl sein Tripelbild (Amsel, Gesang/ Odem, Nacht) mit einer weiteren Flugfigur überblendet hat: Mit »strahlender Arme Erbarmen / Umfing Ikarus Sturz« (Textstufe 4 H, ITA IV.1, 299) entwickelt Trakl den Gegenmythos, für Ikarus sei vielleicht Rettung möglich gewesen. Hätte der Sohn des Erfinders Daedalus, der im Flug der Sonne zu nahe kam, im Erbarmen aufgehoben sein können?

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Dann wäre sein Flug mehr als ein Aufflattern gewesen. In Ovids Metamorphosen hingegen stürzt Ikarus mit einem gellenden Schrei ab. Ikarus’ Todesschrei bildet den Kontrast(klang) zum »Gesang einer gefangenen Amsel«. »Er rudert mit nackten Armen, bekommt, weil / ihm das Ruderwerk fehlt, nun keine Luft mehr zu fassen« die Arme, aber fasst keine Luft«, heißt es bei Ovid (Ov. met. VIII, V. 227 f.; Ovid 2014, 399). Er flattert also vergeblich auf, dunkler Odem verdichtet sich zum Schrei: »und seinen Mund, der den Namen des Vaters ausruft, verschlingt das / bläuliche Wasser, und dieses bekam von ihm seinen [Ikarus’] Namen« (ebd., VIII, V. 229 f.; Ovid 2014, 401) Wie Trakl, so hat also auch Ovid ein Aufschreibesystem entwickelt. Nimmt man allerdings die Lesart ernst, dass bei Trakl der gefangene Vogel selbst sein Leid beklagt, dann gleicht die Sprechsituation der in Baudelaires »Les plaintes d’un lcare«, dessen Ich davon spricht, dass ihm ›die Arme gebrochen seien, da er zwischen den Wolken geschlafen habe‹ (»Quant à moi, mes bras sont rompus / Pour avoir étreint des nuées« [Baudelaire 2008, I, 143]). Nachdem Ikarus die Trennung zwischen Irdischem und Himmlischem überschritten hatte, lag er zunächst ›umwölkt‹, bevor ihn sein Schicksal ereilte. Als wollte Trakl den Sturz des Ikarus aus dem Fokus der Aufmerksamkeit rücken, überschreibt er die direkte Namensnennung (ITA IV.1, 300). Diese Marginalisierung hat im Fall von Ikarus Tradition. Den Hochmut des Jungen, der für einen Moment vergessen hatte, dass er kein Himmelswesen ist, strafte schon Bruegel damit, dass er seinen Sturz an den Rand seines Gemäldes rückte. Derjenige, der mehr als nur aufflatterte, bis er vom Himmel tropfte, fällt auch aus Trakls Gedicht. Doch indem die letzte Fassung des Gedichts mit »so leise blutet die Demut« das Gegenteil von Ikarus Hochmut aufruft, bleibt sein Sturz doch im Anspielungsraum. Trakls »Gesang« gewinnt seinen eigenen Klang und sein virtuoses Gleichgewicht.

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Literatur Baudelaire, Charles: Œuvres complètes. Nouvelle édition. Texte établi par Claude Pichois. Paris 2008. Csúri, Károly: Gesang einer gefangenen Amsel. In: Hans-Georg Kemper (Hg): Gedichte von Georg Trakl. Interpretationen. Stuttgart 1999, 169–188. Denneler, Iris: Konstruktion und Expression. Zur Strategie und Wirkung der Lyrik Georg Trakls. Salzburg 1984, 220–223. Eichendorff, Joseph von: Werke in sechs Bänden. Hg. von Wolfgang Frühwald, Brigitte Schillbach und Hartwig Schultz. Frankfurt a.M. 1985–1993. Heidegger, Martin: Unterwegs zur Sprache. Frankfurt a. M. 22018 (Gesamtausgabe I.12).

C. Metz Lachmann, Eduard: Kreuz und Abend. Eine Interpretation Georg Trakls. Salzburg 1954. Lamping, Dieter: Das lyrische Gedicht. Definitionen zu Theorie und Geschichte der Gattung. Göttingen 32000, 168–171. Meyer, Conrad Ferdinand: Sämtliche Werke. Historischkritische Ausgabe. Hg. von Hans Zeller und Alfred Zäch. 15 Bände. Bern 1958–1996. Ovid: Metamorphosen. Lateinisch-deutsch. Hg. und übers. von Niklas Holzberg. Berlin/Boston 2014. Shakespeare, William: The Norton Shakespeare. Based on the Oxford Edition. Third edition. Ed. by Stephen Greenblatt, Walter Cohen, Suzanne Gossett, Jean E. Howard, Katharine Eisaman Maus, Gordon McMullan. New York/London 32016.

»Abendland« (II) (1914)

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Uta Degner

Entstehung und Kontext Die Entstehung des Gedichts bzw. des Gedicht»Zyklus« (ITA IV.1, 231) »Abendland« (II) geht auf den Aufenthalt Trakls in Berlin im März/ April 1914 zurück. Er erwähnt den Text erstmals in einem Brief vom 16. April 1914 an Kurt Wolff, im Zusammenhang mit der Fertigstellung seines zweitens Gedichtbands Sebastian im Traum: »Ich möchte auch noch gerne fünf Gedichte beifügen, die bei meinem Aufenthalt in Berlin vor kurzer Zeit entstanden sind und die E. Lasker Schüler [sic] gewidmet sind« (ITA V.2, 599). Trakls Berlin-Aufenthalt war von einer Krisensituation geprägt. Reiseanlass war eine Fehlgeburt seiner Schwester Grete, die durch hohen Blutverlust gefährlich geworden war; in Berlin muss Trakl dann aber noch Schlimmeres erlebt haben. In einem undatierten, vermutlich am 1. oder 2. April 1914 verfassten Brief an Ludwig von Ficker schreibt er, es hätten sich »in den letzten Tagen« in Berlin für ihn »so furchtbare Dinge ereignet, daß ich deren Schat-

ten mein Lebtag nicht mehr loswerden kann.« Sein Leben sei »in wenigen Tagen unsäglich zerbrochen worden und es bleibt nur mehr ein sprachloser Schmerz, dem selbst die Bitternis versagt ist« (ITA V.2, 583). Diese Zeilen Trakls finden ein Echo im Gedicht »Abendland« (II), das atmosphärisch ähnlich düster gehalten ist – und ebenso wenig die Beweggründe dafür transparent macht. Eine erste fünfteilige Fassung erschien am 1. Mai 1914 im Brenner und zeitgleich in einem geringfügig abweichenden Sonderdruck auf Büttenpapier. Für die Gedichtsammlung Sebastian im Traum hat Trakl das Gedicht dann komprimiert: Gegenüber den auf fünf Teile verteilten 138 Versen des Brenner-Drucks (Textstufe ITA IV.1, 246–250; im Folgenden, so nicht anders angegeben, Zitation nach dieser Fassung mit Versangabe) hat die Endfassung nur drei Sektionen mit insgesamt 48 Versen (ITA IV.1, 254–255; im Folgenden zitiert als 6 D). (Zu den handschriftlichen Entwürfen und Versionen vgl. ITA IV.1, 201–207 u. 213–234.)

Die Beziehung zu Else Lasker-Schüler

U. Degner (*)  Fachbereich Germanistik, Paris Lodron Universität Salzburg, Salzburg, Österreich E-Mail: [email protected]

Die Widmung an Else Lasker-Schüler lässt sich zunächst durch die gerade gemachte persönliche Bekanntschaft mit der in Berlin lebenden Autorin (Abb. 57.1) und poetologischen Affinitäten motivieren: Trakl und sie haben eine homologe Stellung

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_57

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im literarischen Feld am Pol der Avantgarde und besitzen eine sehr eigene lyrische Stimme. Ludwig von Ficker stand bereits zuvor mit LaskerSchüler in brieflichem Kontakt und hatte sie als Beiträgerin für den Brenner gewinnen können. Auch manche ästhetischen und stilistischen Analogien lassen sich ausmachen, so etwa die Verknüpfung idyllischer Bildelemente mit negativen Aussagen. Der von der Trakl-Forschung viel kommentierte Auftakt der letzten Fassung von »Abendland« (II): »Mond, als träte ein Totes / Aus blauer Höhle« (6 D, V. 1 f.), ist direkter noch als auf Eichendorffs »Mondnacht« (vgl. hierzu Bergengruen 2006) auf LaskerSchülers bekanntes Gedicht »Weltende« zu beziehen: »Es ist ein Weinen in der Welt, / als ob der liebe Gott gestorben wär, / und der bleierne Schatten, der niederfällt, / lastet grabesschwer« (Lasker-Schüler 1996–2010, I, 75; vgl. auch den »vollmondblutende[n] Abendschein« in ihrem Gedicht »Selbstmord«, ebd., 58). »Abendland« (II) weist eine Fülle von Bezugnahmen auf Ge-

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dichte Lasker-Schülers auf. Ein »dunkle[s] Lied« (V. 41) begegnet in ihrem Gedicht »Morituri« (Lasker-Schüler 1996–2010, I, 58); der »hyazinthen[e]« »Hain« (V. 51 f.), zitiert den »Hyazinthentraum« aus ihrem Gedicht »Elegie« (Lasker-Schüler 1996–2010, I, 67), und auch das finale Bild der »fallende[n] Sterne« (6 D, V. 48) findet sich in Lasker-Schülers Gedicht »Versöhnung« vorgeprägt: »Es wird ein großer Stern in meinen Schoß fallen« (Lasker-Schüler 1996–2010, I, 166). Denkbar ist auch, dass der Wiederauftritt von Elis (vgl. V. 51) von der Klangähnlichkeit mit dem Namen Else motiviert ist. Die Rede von »Bruder« (V. 39; 82) darf man durchaus auf die Dichterin beziehen, deren Künstlerpersona Prinz Jussuf von Theben war (vgl. Denneler 1984, 226 f.) und die in Kombination mit der Bezeichnung »Fremdling« (V. 83) als Spiegelfigur für Trakls eigene lyrische Ich-Persona fungiert. Nicht zuletzt lässt sich auch der Titel als Entwurf einer Komplementärtopographie zu Lasker-Schülers Morgenland-­ Inszenierung verstehen.

Abb. 57.1  Telegramm von Else Lasker-Schüler an Trakl vom 20. Juli 1914; Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Nachlass Ludwig von Ficker.

57  »Abendland« (II) (1914)

Antisemitismus im Abendland Mit dem Titel »Abendland« ruft Trakl einen spezifischen Diskurs auf, der bereits vor dem Erscheinen von Oswald Spenglers bekanntem Buch Der Untergang des Abendlandes virulent war. Wiederholt wurde festgestellt, dass Trakls Gedicht die damit verbundenen Erwartungen jedoch gerade nicht erfüllt: »›Das Abendland‹ hat […] jegliche kulturideologische Bedeutung verloren, und es ist in ihm keinerlei Versuch erkennbar, diese kulturelle Qualität, die sich mit dem Begriff verbindet, zu restaurieren oder neu zu entwerfen« (Görner 2015, 53). In Trakls unmittelbarem Umfeld war es Karl Borromäus Heinrich, der die These vom Untergang des Abendlandes vertrat. Er war ein wichtiger Fürsprecher Trakls und enger Vertrauter – Trakl hatte an ihn die Gedichte »Untergang« und »Gesang des Abgeschiedenen« adressiert –, er weilte zur selben Zeit in Berlin und besuchte mit Trakl vermutlich am 1. April eine Lesung von Karl Kraus (vgl. ITA V.1, 584; zu Heinrich vgl. Weichselbaum 2012, 123 f.). Heinrich verehrte Kraus; eine diesem gewidmete Huldigung, die 1913 im Brenner erschien, ist allerdings unverkennbar antisemitisch grundiert: Kraus wird gerade dafür gelobt, dass er »als Jude gegen Juden aufgetreten ist und steht« (Heinrich 1913a, 385); er habe als »Jude das geistige Leben (denn alles geistige Leben in Europa ist heute christlich) von den Intellektuellen befrei[t]« (ebd., 384), die für Heinrich die »Entartung des merkantilen Judentums« verkörpern, und »in der Welt des Denkens alle Zucht niedergerissen, mit dem Wort Sodomie getrieben, den Geist entblättert, feuilletoniert, prostituiert und den Tempel in eine Zeitungs- und Markthalle verwandelt haben« (ebd., 385). Hinsichtlich des Titels von Trakls Gedicht lässt Heinrichs Positionierung von Kraus aufhorchen: Er situiert ihn »auf der Grenzscheide zweier Welten, dergestalt: daß in ihm […] der Abstand […] der christlichabendländischen von der jüdisch-orientalischen Welt verkörpert ist«. Kraus sei womöglich »von seiner Rasse abgefallen […], weil er den Anblick des Unheils, das orientalische Entartung in

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das edle, müd gewordene Abendland getragen hat, nicht mehr länger mitansehen konnte« (ebd., 385). »Abendland« ist für Heinrich also ein antijüdischer, ideologischer Kampfbegriff. Trakl musste sich von solchen offen antisemitischen Thesen mitbetroffen fühlen, da seine Dichtung – namentlich sein Gedicht »Helian«, das im Brenner unmittelbar im Anschluss an Heinrichs Kraus-Essay abgedruckt worden war – von demselben als »Offenbarung über das Hinsterben des Abendlandes« (Heinrich 1913b, 515) exponiert wurde, wie sie nur aus einer europäisch-christlichen Perspektive möglich sei. Auch in Bezug auf Trakl argumentiert Heinrich unter Rekurs auf die Kategorie der Abstammung: »Nicht ohne Bedeutung scheint mir, daß der Dichter aus Salzburg stammt, der ältesten deutschen Stätte christlicher Kultur« (ebd.). In Trakls Familie fanden Heinrichs antisemitische Thesen offenbar gerade bei dessen Schwester Grete Widerhall. Else Lasker-Schüler berichtete Ludwig von Ficker im Dezember 1914, Grete »schimpfte schauerlich über Juden« (Lasker-Schüler 1996–2010, VII, 73): »Die ganzen Juden müßten nach Asien geschafft werden etc. etc.« (ebd., 75). Es kann angenommen werden, dass Trakl in Berlin mit den antisemitischen Ressentiments zweier seiner engsten Vertrauten konfrontiert wurde – sowohl anlässlich der Lesung von Kraus als auch anlässlich der Bekanntschaft mit der jüdischen Dichterin Lasker-Schüler. Nimmt man eine Zerrüttung der zuvor sehr nahen Beziehungen aufgrund antisemitischer Ausfälle als Grund für Trakls verzweifeltes Zeugnis an – der Trakl-Biograph Hans Weichselbaum verzeichnet eine deutliche Entfremdung zwischen Trakl und Heinrich nach dem Berlin-Aufenthalt (vgl. Weichselbaum 2012, 211, Anm. 230), auch mit seiner Schwester ist kein direkter Kontakt mehr überliefert – ist an Trakls schriftlicher Reaktion im Brief an Ficker gerade eine (gleichwohl sehr versteckte) Umkehrung der Thesen Heinrichs wahrzunehmen: Die Entzweiung der Welt ist dort nicht Ergebnis jüdischer »Entartung«, vielmehr führt die Konfrontation mit dem Ressentiment zur Entzweiung.

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Die in der Widmung explizit ausgedrückte »Verehrung« (ITA IV.1, 246) Lasker-Schülers als auch die ›Enttäuschung‹ der mit dem Titel geweckten Diskurserwartungen wären vor diesem Kontext als pro-jüdische Positionierung Trakls zu verstehen – freilich ohne dass die Thematik offen zur Sprache kommt. Die im Gedicht artikulierte Sprachlosigkeit (3D, V. 26; 6D, V. 37) ist damit zumindest ambivalent: Diese Stimme stimmt nicht ein in den Tenor eines gesellschaftsfähig gewordenen ›Rassen‹-Hasses – sie formuliert aber auch kein klares j’accuse. Trakls Behauptung im oben zitierten Verzweiflungsbrief, er sei »klein und unglücklich« geworden, ließe sich in der Kombination mit dem »sprachlose[n] Schmerz« (ITA V, 583) auch dahingehend deuten, dass er nicht offen widersprach und damit seinen eigenen ethischen Ansprüchen (vgl. zu diesen Mayer 2010, 83 f.) nicht gerecht wurde. Vor allem in der Brenner-Fassung finden sich Reflexe der zerrütteten Freundschaft: »Leise verließ am Kreuzweg / Der Schatten den Fremdling / Und steinern erblinden / Dem die schauenden Augen« (V. 18–21). Die »unsägliche[] Schwermut« (V. 86) entspringt dem Umstand, »menschenverlassen[]« (V. 84) zu sein. In Anspielung auf Hölderlins »Andenken« heißt es ganz explizit: »Auch sind die weißen Gestalten / Der Odmenden, die Freunde ferne gegangen« (V. 109 f.). »Ein Abgestorbenes« (V. 32) wäre in dieser Lesart weniger das ungeborene Kind Gretes (so Sauermann 1984), als die Trakl selbst betreffende, ihn weiterhin ›verfolgende‹ (V. 30) Erfahrung der Entzweiung, die vor dem geschilderten Hintergrund keine bloß individuelle ist, sondern die ganze Gesellschaft betrifft, wie dann die endgültige Fassung in ihrer grandiosen Endapokalypse – »Ihr sterbenden Völker!« (6 D, V. 45) – deutlich macht. Trakls Kriegsvision kann solcherart als Ausdruck der wahrgenommenen ideologischen Spannungen und als Reflexion ihrer verheerenden Wirkung verstanden werden.

U. Degner

»Abendland« als Gegenmodell Trakls »Abendland« (II) stellt den kulturideologischen Abendland-Diskursen ein anderes Verständnis entgegen. Im Gedicht ist das ›Hinsterben‹ ein natürlicher, organischer Vorgang, es ist nicht Ereignis, sondern ein andauerndes Kontinuum, das dem Beginn des Gedichts bereits vorgängig ist – »Verfallene Weiler versanken« (V. 1) – und in der Gegenwart andauert: »Hinstirbt der Väter Geschlecht« (V. 7). Die »Klagen« (V. 5) und »Seufzer[]« (V. 8) sind gleichsam ›natürlicher‹ Ausdruck dieser nicht nur menschlichen, sondern kosmischen conditio, in der Sterben und Geburt eng aneinandergeknüpft sind, als ›Folge‹ und Wiederholung (vgl. V. 30 und 42), sodass inmitten des Verfalls »ein Sanftes, / Ein Kind geboren« (V. 16 f.) werden kann. Wird in der Chronologie des Gedichts der Spätherbst (»im braunen November«, V. 2) vom Frühling (»Blüten«, V. 44, »Frühlingsgewitter« (V. 60) abgelöst, lässt sich dies als Negation der geschichtsteleologischen Untergangs-Entwürfe verstehen. Auch die vielfältigen, deutlich wahrzunehmenden Hölderlin-Referenzen, deren hervorstechendste die Zitate aus »Lebensalter« sind (vgl. hierzu Fiedler 1969, 166–178), tragen zu dieser Universalisierungstendenz bei. Im Original nehmen sie Bezug auf Constantin Francois Volneys Die Ruinen oder Betrachtungen über die Revolutionen der Reiche und das Natürliche Gesetz (1791), welches den Untergang ›orientalischer‹ Stätten thematisiert: Hölderlins »Lebensalter« nennt die Stadt Palmyra. Trakl integriert durch den Bezug auch die nicht›abendländische‹ Welt; er unterstreicht die Allgemeingültigkeit, indem er alle konkreten topographischen Bezüge tilgt. Auch die Inversion des Topos vom ›sehenden‹ Dichter (»Und steinern erblinden / Dem die schauenden Augen« [V. 20 f.]) lässt sich als Einspruch gegen Heinrichs Stilisierung Trakls als »Seher«, als »ein in sich ruhendes Auge, in dem sich die Welt in Bildern bricht, und ein weissagender Mund, aus

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dem Bilder tönen«, profilieren (Heinrich 1913b, 510; vgl. auch das ähnliche Bild in Lasker-Schülers »Weltschmerz«: »Blick’ nun: ein steinernes Sphinxhaupt, / Zürnend zu allen Himmeln auf« (Lasker-Schüler 1996–2010, I, 51).

Gescheiterte Versöhnung Auffallend ist, dass die ›Untergangs‹-Szenen alles andere als pathetisch sind. Sie werden begleitet von Stille – ja, sie vermögen es gar, den duldenden Menschen mit seinen natürlichen Existenzbedingungen zu versöhnen: »Auch ist dem Guten / Das Herz versöhnt in grüner Stille« (V. 73 f.). Ein tragischer Ton kommt erst dort auf, wo menschliche Sozialbeziehungen scheitern. Die ›Menschenverlassenheit‹ (vgl. V. 84) erzeugt »unsägliche[] Schwermut« (V. 86). Hier nun entfaltet v. a. die Brenner-Fassung deutlich einen zeitlichen Gegensatz zwischen »der Väter Geschlecht« (V. 7) mitsamt seinen »Frauen« (V. 6; vgl. 6 D, V. 8.: »Hinüberstarben Liebende«) und den singularisierten, fremd bleibenden, sprachlosen (vgl. V. 36) schweigenden, aber weinenden (vgl. V. 46, 55, 64) Individuen der Gegenwart: »ein Sanftes« (V. 16), »des Liebenden« (V. 25), »ein Totes« (V. 27 u. 46; in der Endfassung prominent in Vers 1 gerückt), »[e]in Abgestorbenes« (V. 32), »ein Krankes« (V. 46; 6 D, V. 5); »der Heimatlose« (V. 119; 6 D, V. 38; womöglich eine Anspielung auf Heinrichs Romanprojekt »Die Heimatlosen«, vgl. ITA V.2, 566) u. a. In der Brenner-Fassung gibt es kleine Szenen geglückter Zwischenmenschlichkeit: »Speise teilt er mit sanften Händen aus«, heißt es in Anspielung auf das Abendmahl von »dem Guten« (V. 76 u. 73). Auch die »Kinder« (V. 94) tauchen im Plural auf und »freu[en]« (V. 94). Die von Lasker-Schülers Gedicht »Versöhnung« im Bild des fallenden Sterns präfigurierte Möglichkeit der Versöhnung – »Kinder sind unsere Herzen, / Die möchten ruhen müdesüß« (Lasker-Schüler 1996–2010, I, 128) – wird in der Gegenwart von »Abendland« (II) nicht ein-

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gelöst und das Bild ins Negative radikalisiert: Nicht Versöhnung steht am Ende, sondern die apokalyptische Vision einer im Bild der fallenden Sterne gipfelnden totalen Verdammnis.

Literatur Bergengruen, Maximilian: Untergang in der »Mondnacht«. Umschreibungen in Trakls »Abendland«. In: Ders./Davide Giuriato/Sandro Zanetti (Hg.): Gestirn und Literatur im 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 2006, 261–276. Denneler, Iris: Konstruktion und Expression: Zur Strategie und Wirkung der Lyrik Georg Trakls. Salzburg 1984. Fiedler, Theodore: Trakl and Hoelderlin. A Study in Influence. Saint Louis (Miss.) 1969. Fiedler, Theodore: Georg Trakl’s Abendland: Life as Tragedy. In: Wilm Pelters u. Paul Schimmelpfennig (Hg.): Wahrheit und Sprache. Festschrift für Bert Nagel. Göppingen 1972, 201–209. Görner, Rüdiger: Georg Trakl oder: Das Gedicht als Landschaft. In: Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv 15 (2015), 47–62. Heinrich, Karl Borromäus: Karl Kraus als Erzieher. In: Der Brenner 3 (1913), 373–385. (= Borromäus 1913a) Heinrich, Karl Borromäus: Briefe aus der Abgeschiedenheit II: Die Erscheinung Georg Trakls. In: Der Brenner 3 (1913), 508–516. (= Borromäus 1913b) Klimbacher, Wolfgang: Von den ›glänzenden Zeiten Europas‹ zur »maschinellen Hinrichtungsart« in »Barbaropa«. Das Trauma des Ersten Weltkrieges bei Trakl, Kafka und Ehrenstein. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 109 (1998), 100–118. Lasker-Schüler, Else: Werke und Briefe. Hg. von Norbert Oellers, Andreas B. Kilcher und Karl Jürgen Skrodzki. Berlin 1996–2010. Mayer, Mathias: Der erste Weltkrieg und die literarische Ethik. München/Paderborn 2010. McLary, Laura A.: The Incestuous Sister or The Trouble with Grete. In: Modern Austrian Literature 33 (2000), 29–65. Millington, Richard: From the Evening-Land to the Wild East: Symbolic Geography in Three Poems by Georg Trakl. In: German life and letters 64 (2011), 521– 535. Mönig, Roland: Zwischen »Abendland« und »Morgenland«. Zivilisationskritik und Paradiesvorstellung bei Else Lasker-Schüler, Franz Marc und Georg Trakl. In: Prinz Jussuf ist eine Frau. Else Lasker-Schüler als Künstlerin, Dichterin und Schlüsselfigur des 20. Jahrhunderts. Tagung der Evangelischen Akademie Iserlohn vom 10. - 12.2.1995. Iserlohn 1995, 56–77.

358 Sauermann, Eberhard: Zur Datierung und Interpretation von Texten Georg Trakls. Die Fehlgeburt von Trakls Schwester als Hintergrund eines Verzweiflungsbriefs und des Gedichts »Abendland«. Innsbruck 1984.

U. Degner Webber, Andrew: Georg Trakl »Abendland«. In: Peter Hutchinson (Hg.): Landmarks in German poetry. Oxford et al.2000, 167–182. Weichselbaum, Hans: Georg Trakl: eine Biographie. Salzburg 2012.

»Traum und Umnachtung« (1914)

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Shantala Hummler

Textgenese Das Prosagedicht »Traum und Umnachtung« bildet den fünften und abschließenden Teil des Gedichtzyklus »Sebastian im Traum«. Das früheste Textzeugnis datiert auf Anfang Januar 1914 und ist in einem mehrseitigen Konvolut überliefert, das in Teilen erhalten ist (ITA IV.1, 25). Während Trakl den Text zu Beginn noch in kürzeren Abschnitten gegliedert konzipiert, verwirft er diesen Aufbau später, zieht die ursprünglichen fünf Abschnitte zu einem zusammen und lässt drei weitere darauffolgen. Eher ungewöhnlich für Trakls Arbeitsweise ist, dass er in der Umarbeitung nicht ausweicht und Varianten schafft, sondern stattdessen stetig und über eine längere Dauer hinweg am gleichen Manuskript arbeitet, worauf Schreibduktus und das Schreibmaterial hindeuten, die punktuelle Korrekturen und spontane Eingriffe dokumentieren. Folglich fallen hier Niederschrift und Überarbeitung in eins. Kurz nach der Fertigstellung des handschriftlichen Entwurfs dürfte Trakl diese in eine maschinengeschriebene Reinversion überführt

S. Hummler (*)  Deutsches Seminar, Universität Zürich, Zürich, Schweiz E-Mail: [email protected]

haben, die er am 16. Januar 1914 Karl Röck vorlegt. Nach einer handschriftlichen Überarbeitung geht das Typoskript an Ficker, der es als Satzvorlage für den Erstdruck im Brenner 1914 verwendet, jedoch mit einer entscheidenden Abänderung des von Trakl gesetzten Titels »Kaspar Münch« zu »Traum und Umnachtung«. Dabei wurde der Titel im Verlauf des Schreibprozesses von Trakl selbst mehrfach geändert; hieß das Prosagedicht zu Beginn noch »Der Untergang des Kaspar Münch«, änderte er ihn zunächst in »Kaspar Münch« um, ersetzte diesen wiederum durch »Kermor«, um dann doch zurück auf die anfänglichen Überschriften »Der Untergang des Kaspar Münch« bzw. »Kaspar Münch« zu kommen (ITA IV.1, 27). Erklären ließe sich die finale Titelgebung Fickers möglicherweise über einen NietzscheRekurs, der nicht zuletzt durch die Vielzahl von Verweisen auf Also sprach Zarathustra, die im ersten Abschnitt des Textes eingeflochten sind, gestützt wird und eine extensivere Bezugnahme auf Nietzsche verbürgt (vgl. Schier 1972). Als Deutungsfolie könnte man dann etwa die ästhetische Dualität zwischen der Welt des Apollinischen, des Traumes, und des Dionysischen, des Rausches, veranschlagen, wobei Nietzsche in Die Geburt der Tragödie den »dionysische[n] Wahnsinn« als Voraussetzung und Quell für die Herausbildung der tragischen und komischen Kunst festsetzt (vgl. Nietzsche 1999, I, 16). Nebst dem deutlichen Bezug, der durch die

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_58

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Titelparadigmen »Traum und Umnachtung« gegeben ist, durchschreitet das figurale Bewusstsein alle möglichen Spielarten dämmerhafter Zustände zwischen Erinnerung (Z. 3), (bösen) Träumen (Z. 8, 98), fieberhaftem Delirium (Z. 49 f.), der Phantasmagorie von Dämonen und Engeln (Z. 64, 45 f.) und Drogenrausch (Z. 94). Es ist davon auszugehen, dass Trakl mit der Titelgebung einverstanden war, folglich gilt sie als zumindest passiv autorisiert (ITA IV.1, 25). In Sebastian im Traum erscheint das Prosagedicht weitestgehend unverändert erst posthum.

Struktur und Grundzüge des Textes Der Text gliedert sich in vier Abschnitte und erzählt in düsteren Stimmungsbildern die Niedergangsgeschichte eines »entarteten Geschlechts« (ITA IV.1, 73, Z. 2 f.; Zitation im Folgenden nach Textstufe 4 D/5 D). Indes laufen aufgrund der ausgesprochen hohen tropischen Dichte des Textes, die das Einzelne beständig ins Symbolische hebt, durchgängig mehrere Untergangsnarrative gleichzeitig nebeneinander her: das eines »Knaben« (Z. 2), der als »sterbender Jüngling« verendet (Z. 122); das des Familiengeschlechts, dem der Junge angehört und dem mit dem Tod des Vaters, des Sohnes sowie des Erstgeborenen (Z. 88) der patrilineare Fortbestand versiegt, während die Schwester dem Wahnsinn anheimfällt (Z. 110); das des Menschengeschlechts schlechthin, dessen Schicksal, bedingt durch die biblische Ursünde, das eines schuldbeladenen und »verfluchten Geschlechts« (V. 66) ist – und bleibt, denn in »Traum und Umnachtung« gibt es keine Erlösung, für niemanden. Eine dritte Bedeutungsdimension von »Geschlecht« eröffnet sich durch dessen topische Bestimmung als ein entartetes oder verfluchtes »Geschlecht«, mit dem der zeitgenössische Décadence-Diskurs aufgerufen und die Generation der Décadents angesprochen wird, die dem Entarteten und dem Niedergang ästhetisch huldigen und deren Kritiker – allen voran Nietzsche – an der dekadenten Sensibilität einen Kulturzerfall abzulesen meinten (exemplarisch diskursiviert in Nietzsches In-

S. Hummler

vektive Der Fall Wagner von 1906). Unter diesem Blickpunkt liest sich Trakls Prosagedicht als eine poetische Ausformung ebendieses »Fluch[s] des entarteten Geschlechts« (Z. 2 f.), das durch wiederholte formelhafte Ausrufe wie »O, ihr Kinder eines dunklen Geschlechts« (Z. 91 f.), »O, des verfluchten Geschlechts « (V. 66) »o, der Verfluchten« (Z. 93) gleichermaßen heraufbeschworen, beklagt und stets von Neuem in den Untergang gesandt wird. Die Gattungsbezeichnung »Prosagedicht«, wie sie auch die Herausgeber der Innsbrucker Ausgabe in Bezug auf »Traum und Umnachtung« ansetzen, begründet sich aus der Verschleifung einer starken rhetorischen Gewirktheit mit einer prosaischen Textgestalt und einer, wenngleich mehrfach gebrochenen, narrativen Struktur. Perspektiviert ist das erzählte Geschehen auktorial, wenngleich die Nähe der Erzählstimme zum Erzählten und der männlichen Hauptfigur, die in ein »er« gekleidet als der entscheidende Handlungsträger fungiert, mit den wiederholten emphatischen Exclamationes »O« und »weh« deutlich markiert ist. Doch gerade die Häufung dieser Interjektionen verleiht der Erzählstimme im Verlauf des Textes gegenüber den Figuren zunehmend hörbare Prominenz und Gewicht, was den elegischen Charakter des Prosagedichts hervorhebt. Beklagt wird vorwiegend Vergangenes, ist der Text doch in epischem Präteritum gehalten, wobei im dritten Abschnitt stellenweise ein Tempuswechsel hin zum Präsens erfolgt. Rhetorisch dominiert eine extreme Parataxe den Satzbau sowie eine sich wiederholende Satzstruktur, die das Adjektiv oder Objekt an den Anfang stellt. Zusammen mit den rekurrierenden Exklamationen ergibt sich daraus eine aus Parallelismen sich aufbauende Textstruktur, deren Dynamik von einer Rekurrenzbewegung bestimmt wird. Beispiel hierfür geben mitunter die anaphorisch geformten Satzanfänge, die den Text durchsetzen und sich nebst den bereits erwähnten Exclamationes – parallelistisch verdichtet in den übereinander liegenden Zeilen »O, die Stunden« (Z. 15), »O, die Seele« (Z. 16) – in den wiederkehrenden »am Abend«, »wenn«, »aber« und »an« resp. »am« nieder-

58  Traum und Umnachtung« (1914)

schlagen. Diese Wiederholungsstruktur lässt das Sprechen der Erzählstimme zu einer formelhaften Rede anschwellen und fügt sich in die prophetisch-apokalyptische Motivik und Tonalität, die über die Identifikation der »er«-Figur mit dem »umnachteten Seher« (V. 93) oder »Hellseher« (Z. 15), der über »verfallene Friedhöfe« unter der »verfallene[n] Scheibe der Sonne« wandelt, auf »[v]erfallene[n] Götter« trifft (Z. 22), das Erzählte ins Halluzinatorisch-Visionäre entwirklicht. Potenziert wird dieser Gestus rhetorisch durch die »weh«-Ausrufe zum Ende jedes Absatzes hin, die als Ausdruck von Bestürzung oder Klage, aber eben auch als Androhung von etwas Unheilvollem zu lesen sind. Zweifellos kongruiert dies in weiten Teilen mit dem Motivrepertoire der Décadents; die nahtlos aneinandergereihten Szenen sind ausstaffiert mit Bildern einer Ästhetik des Morbiden, angekündigt schon in der zu Beginn erinnerten Kindheit, die »erfüllt von Krankheit, Schrecken und Finsternis« ist (Z. 3 f.), paradigmatisch dann verdichtet in der Leichenschauszene, in der der Blick »die grünen Flecken der Verwesung auf ihren schönen Händen« (Z. 10 f.) ins Auge nimmt. Tod und Gewalt sind allgegenwärtig; sei es in der Figuration des Schattens des Mörders (Z. 26 f.) und der aktualisierten Mordhandlungen, dem Erwürgen einer wilden Katze (Z. 42 f.) und dem Durchschneiden einer Taubenkehle (Z. 51), sei es im wiedergängerischen Auftreten des Todes in persona, der als »gräulich Geripp« ans Fenster tritt (Z. 31), in »modernden Schritten« das Haus betritt. Dass die Bilder in ihrer Rekurrenz immer wieder neu kombiniert werden, suggeriert in Verbindung mit der parataktischen Satzstruktur auf den ersten Blick eine Austauschbarkeit (die sich bis auf die Satzebene ausweiten lässt) und damit auch eine gewisse Beliebigkeit im Hinblick auf ihre Abfolge (vgl. Schier 1972, 1057). Dem entgegen stehen jedoch zum einen die »Traum und Umnachtung« organisierende Zyklusstruktur, die über die Rückbindung des Textendes an seinen Anfang in der Wiederaufnahme einschlägiger Eingangsmotive wie des Abends (Z. 1, 119), den dunklen Zimmern respektive dem dunklen Haus (Z. 1, 120), dem

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»entarteten« oder »verfluchte[n] Geschlecht« (Z. 2 f., 123 f.), dem Antlitz (Z. 2, 122) oder der wiederkehrenden Verbindung von Spiegel und Schwester (Z. 5 f., 122 f.). Zum anderen folgt der Text zweifellos einer Dramaturgie des Untergangs, was sich etwa an der Entwicklung der Todesmotivik ablesen lässt, wenn sich der noch gleichnishafte Todessturz ins Dunkle zu Beginn in Zeile 6 im letzten Abschnitt in das endgültige Eintreten eines Todes respektive eines Toten wendet, beklagt von einer Trauergemeinschaft (vgl. Z. 108). Schließlich lässt sich eingedenk der gehäuften Alliterationen und einem dicht gewobenen Motivgeflecht kon­ statieren, dass das Prosagedicht von einer hohen Rhetorizität geprägt ist und sich als sorgfältig durchkomponierte Textur erweist. Primär ist es der symbolischen Erzählordnung von »Traum und Umnachtung« geschuldet, dass sich der Text ganz unterschiedlichen hermeneutischen Herangehensweisen öffnet. Von den zahlreichen literarischen Verweisen wurde vornehmlich die Bezugnahme auf Georg Büchners Lenz erforscht (vgl. Schier 1972, Goltschnigg 2009); ausgewiesen sind zudem die extensive Übernahme literarischer Versatzstücke aus Werken Rimbauds und Nietzsches sowie motivische Anspielungen auf die Bibel und den Kaspar-Hauser-Stoff (vgl. Schier 1972; Denneler 1998; Goltschnigg 2009; ITA II5, 28–30). Nebst dem hermeneutischen Nachvollzug intertextueller Spuren – die es überdies erlauben, eine poetologische Bedeutungsschicht freizulegen – liegt es nahe, den Text auf seine Traumpoetik hin zu lesen und seine Verbindungslinien zu zeithistorischen Traumdiskursen zu verfolgen.

Deutung In erster Linie bietet es sich an, das Prosagedicht von seiner Überschrift her aufzuschlüsseln. So steht »Traum und Umnachtung« aufgrund seiner Einbettung in Sebastian im Traum gleich zweifach unter dem Vorzeichen eines Traumsignifikanten. Dass Trakls Traumpoetik keine mimetische Darstellung einer Traumerfahrung verfolgt, »Traum und Um-

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nachtung« also keinesfalls als ein »Traumprotokoll« verstanden werden kann, gründet in der streng gearbeiteten ästhetischen Form des Textes, von der nicht zuletzt der akribische Überarbeitungsprozess Zeugnis ablegt. Im Kontext der zeitgenössischen Traumdiskurse, insbesondere Freuds Traumdeutung (1900), liest Denneler das Prosagedicht als eine wörtliche Traumerzählung nach Freud (Denneler 1998, 272). So fänden sich in »Traum und Umnachtung« typische Traumeigenschaften nach Freud, so etwa »Metonymie und Metapher, Verschiebung und Widerstand, Zerfall der kausalen Beziehungen und Signifikantendominanz« (Denneler 1998, 272). Demnach habe Trakl den Text vor dem Hintergrund der Textsorte ›Traumerzählung‹ erarbeitet und die poetische Simulation eines Traumes anvisiert. Zweifellos besteht eine strukturelle Affinität zwischen Traum und Dichtung. Nicht vergessen werden darf freilich, dass Freud seine traumanalytischen Begriffe wiederum aus der Lektüre literarischer Texte gewonnen hat und seine Traumerzählungen immer schon literarisch konstituiert sind. Wenn aber der Traum in seiner assoziativen Struktur konstitutiv poetisch verfährt, ist die finstere Traumerzählung Trakls zumindest als der Versuch der Erschaffung einer ästhetischen Alptraumerfahrung ernst zu nehmen und wird in seiner Darstellungslogik in letzter Konsequenz von der Prämisse getragen, dass die Poesie der Traumwirklichkeit näherkommt als die psychoanalytische Interpretation und ihre Sprache. Dem »Traum« wird die »Umnachtung« zur Seite gestellt, die als Attribut des Hauptes (Z. 75) und des Antlitzes (Z. 31) der Erzählfigur, die auf »umnachteten Pfade[n]« (Z. 29) somnambuliert, unmittelbar in Erscheinung tritt. Zudem erweist sich das Erzählte als vom Nächtlichen sowohl in seiner wortwörtlichen als auch metaphorischen Semantik tief durchdrungen, die zu einer umfassenden ›Poetik der Umnachtung‹ ausgebaut wird: eine Poetik, die nicht nur die Figuren, die poetische Welt und die implizite Leserin, den impliziten Leser von der Nacht umlagern lässt, sondern in der sich zuvorderst ein von Nacht umgebenes Bewusstsein konstituiert. Den Übergang vom »Traum« zur »Um-

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nachtung« vollzieht Trakl dabei unter anderem über den Bezug auf Rimbaud. Zum einen lässt er den französischen Symbolisten in Form von eingeflochtenen Zitaten durch seinen Text hindurchsprechen und weist ihn einmal mehr als sein literarisches Vorbild aus (Rimbaud 1907; Referenzen finden sich dort insbesondere zu »Märchen«, 230, und »Leben«, 225). Zum anderen steht Rimbaud stellvertretend für die symbolistische Poetik, die systematisch einem Ineinanderfließen von Traum und halluzinatorischem Wahnsinn, Erinnerung und Rausch zuarbeitet (vgl. Hoffmann 1987, 72). Als unterschiedliche Zustände des Bewusstseins und Modi der Erfahrung werden sie auch von Trakl in »Traum und Umnachtung« amalgamiert, sodass oft nicht unterscheidbar ist, ob das Geschehene geträumt wurde, das Erlebte im Zustand eines Drogenrausches vonstattenging, oder das Gesehene durch ein wahnsinniges Delirieren autorisiert wird. Paradigmatisch hierfür ist die Aufhebung der Grenze zwischen Innen- und Außenwelt, die durch die narrative Konfiguration gestützt wird: Insofern das auktoriale Erzählmedium die inneren Bilder der Erzählfigur veräußerlicht, stellen die Projektionen, die unter zunehmender Abblendung der Handlungsebene im vierten Abschnitt in einem regelrechten Rausch der Bilder kulminieren, den einzigen Zugang zur Erzählwelt dar. Der Text ist folglich von einer starken Bewegtheit gezeichnet, die sich in der ruhelos umherstreifenden Erzählfigur niederschlägt; immerzu geht oder huscht oder stürzt sie, und die Bilder ziehen ebenso rasch vorüber wie Stimmungslagen. Den literarischen Bürgen für die »Umnachtung«, sprich den Wahnsinn, gibt der gleichnamige Protagonist aus Georg Büchners Lenz. Paraphrasierte und wörtliche Übernahmen aus Lenz insbesondere im zweiten Abschnitt von »Traum und Umnachtung« konnten in einer Gegenüberstellung von Textpassagen bereits aufgewiesen werden (vgl. Schier 1972; Goltschnigg 2009); auch die Gleichartigkeit zentraler Motive wie Schuld, Umnachtung, Verfolgung, Sinnlosigkeit und Verzweiflung sowie die Konvergenz von Schlüsselbegriffen wie »Mutter«, »Schatten«, »Dunkel«, »Gipfel« und »Berg« wurden dabei evident gemacht (Schier 1972, 1055).

58  Traum und Umnachtung« (1914)

Hinzukommen die dräuende Umnachtung, erwirkt durch die dunkle und nächtliche Bilderwelt (das Erzählte findet vornehmlich abends, in der Dämmerung und nachts statt), die das Geschehen überschattet sowie die Entfremdung von der Natur, die keinen idyllischen Rückzugsort oder Heimat mehr bietet – »gräulich verdorrt« ist das Grün (Z. 69), »verdorrt« auch die Bäume (Z. 56), der Frühling nur im Konjunktiv gegenwärtig (Z. 70 f.), der Sommergarten wird zum Schauplatz von Gewalt und die Tiere werden gemordet (vgl. Z. 42 f., 51) – und keine romantische Verschmelzung von Mensch und Natur mehr erlaubt (vlg. Schier 1972, 1011 f.). Außerdem existieren offensichtliche Motivparallelen zu Lenz wie der Kampf mit der Katze, die Zuflucht zum Brunnen, der blasphemische Ausbruch, der Gang mit dem Priester oder die seelenbildliche Natur, die einen Bruch im Herzen verursacht (vgl. Goltschnigg 2009, 158). Schier geht noch einen Schritt weiter und bettet die Büchner-Referenz in eine sequentielle Logik der Intertexte ein, die er jeweils einem Abschnitt zuordnet: Der erste Abschnitt übernehme Wortmaterial aus Nietzsches Also sprach Zarathustra, im zweiten Abschnitt fänden sich die Lenz-Referenzen, der dritte Abschnitt referenziere Hölderlins »Abendphantasie« und der letzte Abschnitt sei eine Selbstreferenz, da sich darin ein Konzentrat wiederkehrender Motive Trakls fände (vgl. Schier 1972, 1062). In der Summe nehme der Text somit einen progressiven Verlauf, denn was die Literaten sowie Protagonisten miteinander verbinde, sei das Schicksal dem Wahnsinn verfallener Dichter. Diese Rekonstruktion einer textinternen Poetologie festigt somit den Befund, dass die Umnachtung als die eigentliche Autorin dieses Textes zeichnet. Von hier aus ließe sich der Bogen zurück zum Anfang dieses Beitrags und Nietzsches ›dionysischem Wahnsinn‹ als bedingendem Grund der tragischen Kunst schlagen. Wenngleich die Selbstreflexivität und die Oberfläche der Signifikanten des Textes sich permanent in den Vordergrund drängen, erschafft er gleichwohl eine Erzählwelt, die in ihrem Bilderrausch eine eigene Realität, eine eigene epistemische Qualität geltend macht.

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Allerdings lässt sich diese poetische Realität respektive die Frage nach dem Ort, von dem dieser Text sich herschreibt, auch anders verstehen. Nimmt man die rauschenden Bilder eben nicht oder nicht nur als die Projektion der Erzählfigur(en), sondern vielmehr als eine Vision, die der Perspektive der Erzählstimme entstammt, so müssen wir davon ausgehen, dass hier aus einem traumrauschartigen Bewusstsein heraus gesprochen und geschrieben wird. Dergestalt erschließen sich die Instabilität von Raum und Zeit, die wiedergängerischen Motive sowie die Vervielfältigung der Doppelgängerfiguren, die einem geistigen Ort entspringen, der weder Einheit noch Kohärenz eines Subjekts versprechen, geschweige denn herzustellen vermag. Dieser Ort wiederum wäre aber nicht nur als ein geistiger, sondern eben auch als ein poetischer Ort zu bestimmen, an dem sich die Erzählstimme aus einer Vielzahl von Stimmen literarischer Wiedergänger konstituiert. Demnach wären es auch diese wahnsinnigen Dichter, die das reminiszierende Klagelied und den Abgesang auf das Leben »der Verfluchten« sängen (Z. 93). Damit schriebe sich das Gedicht vom Jenseits, sprich dem Totenreich her, aus dessen Warte der Untergang nicht in der nahen Zukunft harrt, sondern alles bereits im Verfall und in Verwesung begriffen ist. Zuletzt verwirklicht sich in der paradoxalen Zeitlichkeit des Textes, dem Ineinanderfalten von Vergangenheit und Zukunft in eine Endlosschleife von kommendem Unheil und bereits vollendetem Untergang die poetische Form eines sich unendlich in sich drehenden Kreises. Damit verdoppelt das Prosagedicht ebenjene Kreisbewegung in sich, in der es als Teil des Gedichtzyklus aufgehoben ist und führt performativ mitten in die hermetische Immanenz der Poesie Trakls.

Literatur Denneler, Iris: Konstruierter Alptraum. Georg Trakls Prosagedicht ›Traum und Umnachtung‹. In: Bernard Dieterle (Hg.): Träumungen. Traumerzählung in Film und Literatur. St. Augustin 1998, 263–282. Goltschnigg, Dietmar: Georg Trakl und Georg Büchner. In: Károly Csúri (Hg.): Georg Trakl und die literarische Moderne. Tübingen 2009, 153–163.

364 Hoffmann, Paul: Symbolismus. München 1987. Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München 1999. Rimbaud, Arthur: Leben und Dichtung. Übertr. v. K.L. Ammer. Einl. v. Stefan Zweig. Leipzig 1907. Rodt, Barbara: Weltunglück. Georg Trakl, Traum und Umnachtung. In: Gislinde Seybert/Thomas Stauder (Hg.):

S. Hummler Heroisches Elend. Der erste Weltkrieg im intellektuellen, literarischen und bildnerischen Gedächtnis der europäischen Kulturen. Bd. 2. Frankfurt a. M./Bern/Bruxelles/ New York/Oxford/Warszawa/Wien 2014, 1005–1025. Schier, Rudolf Dirk: Büchner und Trakl. Zum Problem der Anspielungen im Werk Trakls. In: Publications of the Modern Language Association 87 (1972), 1052– 1064.

Teil X

Werk: Lyrische Dichtungen IV – Veröffentlichungen im »Brenner« (1914/15)

Trakl und der »Brenner«

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Anton Unterkircher

Zu Gründung und Gründungsgedanken des »Brenner« Knapp zwei Jahre, bevor Trakl in Kontakt mit dem Brenner kam, war das erste Heft dieser »Halbmonatsschrift für Kunst- und Kultur« am 1.6.1910 in Innsbruck erschienen. Diese Unternehmung wurde einzig und allein für den Südtiroler Lebensphilosophen und Kulturkritiker Carl Dallago begründet, der 1900 seine bürgerliche Existenz aufgegeben hatte und fortan die Idee seines Landschaftsmenschentums zu vermitteln versuchte. Wie wichtig diese Persönlichkeit für die Zeitschrift war, belegt allein schon der Umstand, dass das Geleitwort in Heft 1 nicht vom Herausgeber, sondern vom anvisierten Hauptmitarbeiter Dallago verfasst wurde. Der zentrale Satz darin lautet: »Es bedeutet uns im Kerne ein Unterbringen der menschlichen Natur – ein Unterbringen von Menschentum« (vgl. Sauermann 2010; Unterkircher 2013). Neben Ficker gab es noch eine dritte wichtige Gründerpersönlichkeit, den einfühlsamen Maler und Karikaturisten Max von Esterle, der wesentlich die graphische Gestaltung der Zeitschrift über-

A. Unterkircher (*)  Brenner-Archiv, Universität Innsbruck, Innsbruck, Deutschland E-Mail: [email protected]

nahm, aber auch eine spitze Feder in Sachen Kunst- und Kulturbetrachtung führte. Ihm sind auch zwei gelungene Porträts von Trakl zu verdanken: Die »Karrikatur« aus dem Jahr 1912, von der Trakl sagte, sie sei »leider an mir ganz vorbeigeraten« (ITA V.1, 230) und die »Widmung für Georg Trakl« (1913), die Trakl »sehr tiefe Freude« bereitete (ITA V.1, 469). Vorerst ganz im Hintergrund – nicht einmal der Hauptmitarbeiter Dallago erfuhr anfänglich davon – stand Karl Kraus. Die Benennung der Zeitschrift war nicht nur dem gleichnamigen Pass, sondern auch der Fackel von Karl Kraus geschuldet. Ficker selbst hatte in seiner Jugend dramatische Werke verfasst, sich als Schauspieler und Regisseur versucht und sich nach dem Scheitern seiner Schriftstellerkarriere vorerst mit Besprechungen dem künstlerischen Schaffen anderer gewidmet. Die Gründung des Brenner fiel in eine Lebensphase der weltanschaulichen Orientierungssuche (vgl. Methlagl 1966) und aus dieser Perspektive kann der frühe Brenner als Versuchslabor angesehen werden. Ficker nutzte die Zeitschrift als Bühne, um Persönlichkeiten zu präsentieren, deren Lebensform ihm jedenfalls wichtiger war als deren künstlerische Hervorbringungen. Ficker war dabei Regisseur, Akteur und Zuschauer in einem (vgl. Tanzer/ Unterkircher 2019). »Ethik und Ästhetik sind eins« war schon lange vor Wittgenstein das geheime Motto der Zeitschrift. In der Lebensform von Dallago

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_59

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sollte sich die Deckung von Kunst und Leben erweisen. Das ethische Moment behielt, gerade bei Dallago, der im Künstlerischen nicht immer auf verlässlicher Höhe stand, im Zweifelsfall das Übergewicht (vgl. Unterkircher 2020).

Trakls erste Veröffentlichungen im »Brenner« Nun betrat also im Mai 1912 Trakl die Brenner-Bühne, zu einer Zeit, in der Ficker manchmal schon ans Aufgeben dachte, obwohl seit Ende 1911, als Kraus die Fackel nur mehr allein schrieb, der Mitarbeiterkreis aus diesem Umfeld eine merkliche Verstärkung erfuhr. Als Ficker Trakls »Vorstadt im Föhn« am 1.5.1912 im Brenner druckte, kannte er den Verfasser persönlich noch nicht. Warum er dieses der Form nach konventionelle Gedicht eines Unbekannten druckte, dazu gibt es keine direkte Aussage von Ficker. Es konnte auf jeden Fall mit der Qualität der bisher in der Zeitschrift erschienenen Gedichte leicht mithalten. Es ist aber trotzdem keines, das Trakls Weltruhm begründete. Doch eines sticht sofort ins Auge: Das Festhalten am traditionellen Vierzeiler lässt eine starke Spannung zwischen Form und Inhalt entstehen. Es ist nichts von einer lieblichen Naturstimmung zu sehen, alles ist »öd und braun«, es stinkt, im »Kehricht pfeift verliebt ein Rattenchor«, die Frauen tragen »Eingeweide / Ein ekelhafter Zug voll Schmutz und Räude«, »Und ein Kanal speit plötzlich feistes Blut« (ITA I, 573). Es ist ein formal ›schönes‹ Gedicht, das sich zum Großteil im Hässlichen ergeht. Auch wenn man die Beweggründe des Herausgebers für die Aufnahme nicht kennt: Mit dem Gedicht ist den eher konventionellen, der Romantik, dem Klassizismus, Ästhetizismus, dem Impressionismus oder Vitalismus verpflichteten Lyrikern, etwa Arthur von Wallpach, Ludwig Seifert, Hugo Neugebauer oder Bernhard Jülg ein starker Widerpart erwachsen. Vielleicht hat Ficker auch schon das Ethische aus diesem Gedicht herausgefühlt – oder es beeindruckte ihn das dramatische Moment, diese Kurzszenen in den Strophen, die in einem bildgewaltigen Schlussakkord enden. Trakl kam jedenfalls mit seinen Tex-

A. Unterkircher

ten in ein Umfeld, das keinem fixierten ästhetischen Programm folgte und aus dem er sogleich hervorragte. Es gehört zu den beeindruckenden Beispielen von der Gleichzeitigkeit des Unzeitgemäßen, dass sich Georg Trakl – wahrscheinlich im November 1912 – in ein Stammbuch des Jung-Tiroler Exponenten Arthur von Wallpach eingetragen hat (vgl. ITA II, 102). Das Gedicht, in Bleistift neben einer stilisierten Pan-Stele wie eingeklemmt, sollte bald darauf im Brenner unter dem Titel »An die Melancholie« erscheinen. Der Melancholiker ist der denkbar größte Gegensatz zu dem von den Jung-Tirolern im Sinne Nietzsches postulierten Tat-Menschen und stellt somit eine Absage an diese Bewegung dar. »An die Melancholie« ist zwar im »Sinn der Kreisbewegung der Lieblingstiere Zarathustras [Adler und Schlange] zyklisch strukturiert, aber die Bewegungsrichtung ist gegenläufig.« Das lyrische Ich ist ein Gegentyp des von Nietzsche angeregten Übermenschen, es ist »der ›Geduldige‹« (Methlagl 2002, 131). Dasselbe Gedicht ist unter dem Titel »In ein altes Stammbuch« im Band Gedichte erschienen. Sollte dieser Eintrag tatsächlich nur einer Gefälligkeit geschuldet sein – Wallpach war auch mit dabei, als Trakl am Innsbrucker Bahnhof ins Feld verabschiedet wurde –, so hat es Trakl faktisch den deutschnational, antiklerikal und antisemitisch gesinnten Jung-Tirolern sprichwörtlich ›ins Stammbuch‹ geschrieben. Dallago und Ficker haben ihre ersten literarischen Gehversuche im Umkreis von Jung-Tirol unternommen. Daraus erklärt sich bis zu einem gewissen Grad auch, warum der Brenner mit den Moderne-Bestrebungen überraschend wenig gemein hat; viele Autorinnen und Autoren der Moderne werden in der Zeitschrift kaum zur Kenntnis genommen. Zu Jung-Wien steht sie, wie eben schon Jung-Tirol, in Opposition: Schnitzler oder Hofmannsthal werden nur ganz am Rande erwähnt, Hermann Bahr ist Zielscheibe von satirischen Angriffen (vgl. Sauermann 2010). Und doch stand Ficker – vor allem über sein ausgedehntes Briefnetzwerk – auf vielfältige Weise mit der Avantgarde in Verbindung (vgl. Klettenhammer/Wimmer 1990).

59  Trakl und der »Brenner«

Trakls programmatische Bedeutung für den »Brenner« Spätestens seit der Aufnahme in den Index Expressionismus (vgl. Raabe 1972) unterliegt die Charakterisierung des Brenner als expressionistische Zeitschrift einer verzerrten Wahrnehmung, die sich allein auf den Umstand stützen kann, dass im Brenner auch ein Theodor Däubler, Albert Ehrenstein, Georg Trakl oder eine Else Lasker-Schüler publiziert haben. Gleiches gilt für die Bezeichnung ›Brenner-Kreis‹: Einen gleichgesinnten Kreis im Sinne etwa des George-Kreises hat es aber nie gegeben. Vielmehr eine Anzahl an eigenbrötlerischen Individualisten, die unterschiedlicher nicht hätten sein und denken können. Und doch war es nach der subjektiven Einschätzung von Karl Röck gerade die Persönlichkeit Trakls, die diesen Mythos befestigt hat: »Trakl hält magisch mystisch die unzusammengehörigsten scheinbar heterogensten Elemente zusammen: in Gedichten die einzelnen Momente, im Leben die Menschen, den ›Brenner‹kreis« (Szklenar 1966, 230). Vielmehr wurde das Brenner-Unternehmen einzig von der starken Herausgeberpersönlichkeit getragen und notdürftig auch zusammengehalten. Ficker hat – überspitzt formuliert – in seiner Zeitschrift Persönlichkeiten versammelt, die ein ethisches Beispiel verkörperten und in ihren Werken auch zum Ausdruck brachten. Die Aufnahme der gewiss nicht unproblematischen Persönlichkeit Trakls in Fickers Familie und die schnelle Anerkennung seiner Künstlerschaft im engeren Freundeskreis der Brenner-Runde belegen dies eindrücklich. Trakls Formulierung, was der Brenner für ihn bedeutete, weist in dieselbe Richtung: »Heimat und Zuflucht im Kreis einer edlen Menschlichkeit« (ITA V.1, 327). Dass Trakl schon im August 1912 in Innsbruck Karl Kraus kennenlernte und von diesem geschätzt wurde, hat sicher mit dazu beigetragen, seine Position im Brenner zu festigen. Schon im ersten Oktoberheft von 1912 erschien das Gedicht »Psalm« mit einer Widmung für Kraus (ITA II, 24 f.). Trakls Persönlichkeit und dessen künstlerischer Ausdruck in seinen Tex-

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ten, die ab Herbst 1912 nun regelmäßig in jedem Heft erschienen, haben nach und nach die Ausrichtung der Zeitschrift verändert. Abzulesen ist das am Verschwinden von bestimmten Mitarbeitern, vor allem Lyrikern, wie etwa Arthur von Wallpach. An der ›Erledigung‹ von Karl Röck (Pseudonym Guido Höld) war Trakl direkt beteiligt. War dessen Gedicht »Traurigkeit im Abend« noch gleichwertig – vielleicht aber auch schon bewusst kontrastiv – neben Trakls »Vorstadt im Föhn« zu stehen gekommen, so ging seine Mitarbeiterschaft doch schon am 1.12.1912 zu Ende. Die Gründe hierfür finden sich in Röcks Tagebuch: »Ficker erzählt im Café die Äußerung Trakls über mein Gedichtchen ›Das Nachten‹: ›wie von einem guten Klosterbruder‹« (Szklenar 1966, 228). Auch wenn diese Äußerung von Trakl eindeutig gut gemeint war, faktisch hat sie dem Schriftstellerkollegen das Genick gebrochen. Das hinderte die beiden nicht daran, weiterhin engen freundschaftlichen, wenn auch nicht immer friktionsfreien Umgang zu pflegen. Dallago hingegen, in seine philosophischen Landschafts- und Gedankengänge versponnen und weiterhin mit seinen Beiträgen regelmäßig im Brenner vertreten, realisierte wesentlich später, dass er nicht mehr die alleinige Hauptfigur im Brenner war. Er führte erst im Sommer 1913 eine scharfe Diskussion mit Ficker und musste einsehen, dass sein ›positives‹ Menschentum gegenüber dem Dichter des Verfalls eindeutig das Nachsehen hatte. Es bedurfte von Seiten Fickers einiger Überredungskunst, bis Dallago von der Deckung von Persönlichkeit und künstlerischem Werk bei Trakl überzeugt war. Den Ausschlag gaben dabei aber nicht Trakls Verse, sondern ein zutiefst berührender Brief an Ficker, den dieser an Dallago weitergeschickt hatte. Darin heißt es: »Zu wenig Liebe, zu wenig Gerechtigkeit und Erbarmen, und immer zu wenig Liebe; allzuviel Härte, Hochmut und allerlei Verbrechertum – das bin ich. Ich bin gewiß, daß ich das Böse nur aus Schwäche und Feigheit unterlasse und damit meine Bosheit noch schände. Ich sehne den Tag herbei, an dem die Seele in diesem unseeligen von Schwer-

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mut verpesteten Körper nicht mehr wird wohnen wollen und können, an dem sie diese Spottgestalt aus Kot und Fäulnis verlassen wird, die nur ein allzugetreues Spiegelbild eines gottlosen, verfluchten Jahrhunderts ist« (ITA V.2, 451). Inwieweit die in der Brenner-Runde und die im Brenner diskutierten Themen in Trakls Lyrik ihren Niederschlag fanden, ist im Einzelnen noch viel genauer zu untersuchen. Das Thema »Christentum und Bibel« trat in seiner Innsbrucker Zeit »stärker in den Vordergrund«, was sich auch an der Häufung von christlichen Motiven in den Gedichten niederschlägt. »Da das Leiden und die Vergänglichkeit eine für Trakl stets gegenwärtige Erfahrung war, fiel es ihm nicht schwer, an ein Christentum anzuschließen, das gerade diesen Aspekt betonte« (Weichselbaum 1994, 117 f.). Mit der Präsentation von Kierkegaard durch Theodor Haecker betraten Ficker und seine Zeitschrift das Stadium des Religiösen. Und damit begann auch der Versuch, Trakl als christlichen Dichter zu vermitteln.

Trakl im Gedächtnis des »Brenner« Am Ende des 4. Jahrgangs, am 15.7.1914, vermerkte Ficker noch optimistisch: »Der fünfte Jahrgang beginnt am 1. Oktober«. Der Krieg unterbrach diesen Plan und so brachte Ficker den 5. Jahrgang des Brenner im Juli 1915 als Jahrbuch heraus, der schon dem Vermächtnis Trakls gewidmet war. Dort publizierte Ficker sieben Gedichte unter dem Titel »Georg Trakl: Die letzten Gedichte«. Falls die Datierungen stimmen, hätte Ficker jedenfalls die im Juni entstandenen Gedichte »Die Schwermut«, »Die Heimkehr«, aber vielleicht auch das noch im Juli entstandene Gedicht »Klage« (I) und »Nachtergebung« im Brenner unterbringen können. Vielleicht sogar auch noch »Im Osten«, das Ficker zwar auf »August 1914« datiert, das laut ITA (V.2, 319) auch noch im Juli entstanden sein könnte. Jedenfalls muss dieses Gedicht aber spätestens am Tag von Trakls Einrückung am 24.8. in Fickers Besitz gewesen sein. Fickers Betitelung ist also schon historisierend. Zu den ›letzten‹ Gedichten Trakls

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gehören aber sicher »Klage« (II) und »Grodek«, die Trakl in seinem Testamentsbrief vom 27.10.1914 an Ficker geschickt hat. Das sind die zwei einzigen Gedichte, die Trakl tatsächlich zur Gänze im Krieg verfasst hat. Aber nach der Textstufen-Definition der ITA gibt es noch zwei weitere. Denn am 27.10.1914 schickte Trakl dem Brenner-Herausgeber noch einen Brief hinterher, in dem er zwei Gedichte überarbeitet hatte: »Menschliches Elend« wird nicht nur inhaltlich verändert, es enthält auch den neuen Titel »Menschliche Trauer«. »Traum des Bösen« erhält wiederum eine wesentlich neugestaltete erste Strophe. Die Veränderungen dieser Gedichte, die beide schon im ersten Gedichtband erschienen waren, sind beträchtlich und von Todesahnungen geprägt (vgl. Sauermann 2014). »Menschliche Trauer« und »Traum des Bösen« wären also eigentlich die zwei letzten Gedichte Trakls. Während Ficker diesen Brief samt den Gedichten erst in der Erinnerung an Georg Trakl druckte, verortete er »Klage« (II) und »Grodek« tatsächlich im Brenner-Jahrbuch 1915 zeitlich als die ›letzten‹ Gedichte. »Grodek« rückte Ficker mit der Datierung auf »September 1914« in die zeitliche Nähe der Schlacht bei Grodek, während der Text erst im Brief vom 27.10.1914 überliefert ist. Ficker hat sich zu Recht als literarischer Nachlassverwalter gefühlt und demgemäß das Brenner-Jahrbuch 1915 zum Epitaph für Trakl gestaltet. Es enthält ein Foto von Trakl, den Aphorismus »Gefühl in den Augenblicken totenähnlichen Seins«, die ›letzten‹ Gedichte und den Prosatext »Offenbarung und Untergang«. Vorgesehen war außerdem eine »Erinnerung an Georg Trakl«, die dann aber entfiel (vgl. Sauermann 2001). Mit der Überführung der Gebeine Trakls von Krakau nach Tirol und der Bestattung auf dem Neuen Mühlauer Friedhof am 7.10.1925 war endlich die Möglichkeit gegeben, dieses Erinnern nachzuholen. Ficker publizierte den Band Erinnerung an Georg Trakl, zu dem er nicht nur Lebensdaten beisteuerte, sondern auch einen Nachruf, in dem er auf die »Erlöserspur« in den Versen Trakls hinwies (Ficker 1926, 202). Zudem veröffentlichte er dort auch das sogenannte »Limbach-Gespräch«. Dieses

59  Trakl und der »Brenner«

Gespräch zwischen Trakl und Dallago, das am 13.1.1914 in Fickers  Wohnung stattgefunden hatte, wurde von Hans Limbach im Nachhinein aufgezeichnet und dramatisiert (vgl. Limbach 1926). Die grundsätzlich verschiedenen Weltanschauungen der beiden Kontrahenten, die schon im Vorkriegs-Brenner aufeinandergeprallt waren, sind darin tatsächlich zugespitzt in Szene gesetzt. Trakl demontiert Dallagos Anschauungen und Vorbilder, etwa Whitman, Nietzsche und Weininger, überrascht damit, dass er sich als »Christ« bezeichnet und bringt schließlich seinen Kontrahenten mit der Bemerkung »Sie kennen das Böse nicht!« zum Verstummen (Methlagl 2014, 66).

Literatur Erinnerung an Georg Trakl. Innsbruck 1926. Limbach, Hans: Begegnung mit Georg Trakl. In: Erinnerung an Georg Trakl. Innsbruck 1926, 101–109. Klettenhammer, Sieglinde/Wimmer, Erika (Hg.): Aufbruch in die Moderne. Die Zeitschrift »Der Brenner« 1910–1915. Innsbruck 1990. Methlagl, Walter: Der Brenner. Weltanschauliche Wandlungen vor dem Ersten Weltkrieg. Diss. Innsbruck 1966. Methlagl, Walter: Georg Trakls Gedichte – Ausdruck eines Zeitgeistes. Zu zwei späten Gedichten von Georg Trakl. In: Ders.: Bodenproben. Kulturgeschichtliche Reflexionen. Hg. vom Forschungsinstitut Brenner-Archiv. Innsbruck 2002, 126–134.

371 Methlagl, Walter: Brenner-Gespräche. Aufgezeichnet in den Jahren von 1961 bis 1967. Hg. von Christine Riccabona/Ursula A. Schneider/Erika Wimmer (2014). Online unter: https://www.uibk.ac.at/brenner-archiv/publikationen/links/brenner_gespraeche.pdf. (1.3.2021). Raabe, Paul (Hg.): Index Expressionismus: Bibliographie der Beiträge in den Zeitschriften und Jahrbüchern des literarischen Expressionismus 1910–1925. 19 Bände. Nendeln 1972. Sauermann, Eberhard: Das »Brenner-Jahrbuch 1915« und seine Rezeption. Trakl-Verehrung oder Kriegsgegnerschaft? In: Mitteilungen aus dem BrennerArchiv 20 (2001), 35–55. Sauermann, Eberhard: Die Literatur der Moderne im »Brenner«. In: Zeitmesser. 100 Jahre »Brenner«. Hg. vom Forschungsinstitut Brenner-Archiv der Universität Innsbruck. Innsbruck 2010, 57–77. Sauermann, Eberhard: Trakls letzte Worte. Innsbruck 2014 (Neuaufl. 2020). Szklenar, Hans: Beiträge zur Chronologie und Anordnung von Georg Trakls Gedichten auf Grund des Nachlasses von Karl Röck. In: Euphorion 60 (1966), 220–262. Tanzer, Ulrike/Unterkircher, Anton: Geisteskämpfe auf der »Brenner«-Bühne. Ludwig von Ficker als Kulturvermittler. In: Sybille Moser-Ernst/Christoph Bertsch (Hg.): Kunst :: Wissenschaft. Eine fächerübergreifende Untersuchung am Beispiel der Universität Innsbruck. Innsbruck 2019, 353–367. Unterkircher, Anton: Ich hab gar nichts erreicht. Carl Dallago 1869–1949. Innsbruck 2013. Unterkircher, Anton: Ethik und Ästhetik sind (nicht) Eins: Hermann Broch und das geheime Motto des Brenner. In: Paul Michael Lützeler/Markus Ender (Hg.): Hermann Broch und »Der Brenner«. Innsbruck/Wien/Bozen 2020, 43–56. Weichselbaum, Hans: Georg Trakl. Eine Biographie mit Bildern, Texten und Dokumenten. Salzburg 1994.

»In Hellbrunn« (1914)

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Werner Michler

Textgenese Die Entstehung des Gedichts (s. ITA IV.1, 282) wird auf April und Anfang Mai 1914 datiert. Überliefert sind vier Textstufen, drei Entwürfe und eine Reinschrift; Ficker fertigte davon eine nicht autorisierte Abschrift als Satzvorlage im Brenner an. Der Erstdruck erfolgte im vierten Jahrgang des Brenner vom 15.5.1914. »In Hellbrunn« war für die Abteilung »Gesang des Abgeschiedenen« von Sebastian im Traum (1914) vorgesehen, wurde dann aber von Trakl gestrichen und ersetzt (Brief an den Kurt Wolff Verlag/Arthur Seiffhart, 10.6.1914, ITA V.2, 623 f.). Das Gedicht wurde in Innsbruck verfasst, Trakl befand sich seit seinem Berliner Aufenthalt bei der schwerkranken Schwester in einer tiefen seelischen Krise. Auf das Salzburger Schloss und seine Parkanlagen hatte sich in einer früheren Werkphase schon das Gedicht »Die drei Teiche in Hellbrunn« bezogen, ein Erstdruck erfolgte im Salzburger Volksblatt vom 8.4.1909, ein weiterer Druck im Merker (Wien), Jg. 1 (1909/10), H. 20/21 vom 25.7.1910. Eine stark überarbeitete

W. Michler (*)  Fachbereich Germanistik, Paris Lodron Universität Salzburg, Salzburg, Österreich E-Mail: [email protected]

Fassung von »Die drei Teiche von Hellbrunn« entstand zwischen 1909 (Datierung der Grundschicht) und April 1914 (ITA I, 174), die erstmals postum in der Sammlung der Jugenddichtungen Aus goldenem Kelch (Leipzig 1939) gedruckt wurde. Zwischen den drei Texten besteht ein enger werkhistorischer Bezug (s. u.).

Struktur und Bezüge Das Gedicht besteht aus neun, mit einer Ausnahme ungereimten, Zeilen in freien Rhythmen. Neben dem Jambus dominiert der neunmal wiederkehrende Adoneus; mit zwei aufeinanderfolgenden Adoneen enden die erste und die letzte Zeile (»über dem Weiher«). Die neunzeilige Struktur legt es nahe, die neunte Zeile als Resümee oder Abschluss zu lesen, sie zeigt auch den einzigen – identischen – Reim, der sie mit der zweiten Zeile verbindet. Der daktylische Rhythmus erinnert an den festlichen und heiteren Duktus der zweiten Strophe des Erstdrucks von »Die drei Teiche in Hellbrunn«, der ebenfalls mit zwei Adoneen einsetzt (»Bilder von Wolken, Blumen und Menschen«, ITA I, 186). Mit Ausnahme von Vers 3 und 6 sind die Kadenzen zweisilbig. Auf die »kontrapunktische Stimmenführung« in lautlicher Hinsicht hat Hellmich (1971, 104–106) aufmerksam gemacht, auf das Gegeneinander von ›dunklen‹ und ›hellen‹ Motiven, von dunklem, tiefem a,

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_60

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au, o (»folgend der blauen Klage des Abends« am Anfang des Gedichts) und hellem, hohem ü, i, ei (»Am Hügel hin, am Frühlingsweiher«, schließlich in der letzten Zeile: »über dem Weiher«). Das Gedicht beginnt mit einem Partizip Präsens: »Wiederfolgend« (so in Stufe 4 H, Ficker korrigierte für die Satzvorlage für den Brenner in »Wieder folgend«, Stufe 5 D, ITA IV.1, 282 u. 289), so wie die zweite Fassung der »Drei Teiche«: »Hinwandelnd« (ITA I, 191) – und wie dort ist kein direkter Bezug auf ein Agens gegeben. Syntaktisch enthält der Text mehrere Brüche: Auf die Partizipialphrase folgt ungrammatisch ein irrealer Komparativsatz mit Konjunktiv II: »Als schwebten darüber die Schatten […]«. In Vers 5 setzt der Text mit einem Hauptsatz neu an: »Schon blühen ihre Blumen«. Ein letzter Satz schließt das Gedicht: »So geistlich ergrünen / Die Eichen […]«, der mit dem letzten Syntagma »Die goldene Wolke über dem Weiher« (Vers 9) wohl als verkürzte Hauptsatzreihe zu lesen ist, andernfalls müsste die ›goldene Wolke‹ unter Absehung vom Numerus als zweites Subjekt auf »geistlich ergrünen« bezogen werden. (Auf der Textstufe 2 H hatte es noch zwei Subjekte und Prädikate gegeben: »So dunkel ergrünen / Und geistlich die Eichen über vergessenen Pfaden, / Rührt die Schläfe bald die vergängliche Nacht«; ITA IV.1, 288.) Als Jahreszeit ist der Frühling markiert (»Frühlingsweiher«, »Veilchen«, »ergrünen«), doch gegenüber dessen konventionellen lyrischen Stimmungswerten stark ›verschattet‹; als Tageszeit der Abend (deutlicher im Erstentwurf: »Es sinkt von Schloss und Hügel […] Der weiße Abend«; ITA IV.1, 288). Wiederholung (»Wieder«), Vision der Vergangenheit (»als schwebten […] die Schatten«) und die Dynamik eines nichtpersonalen Geschehens (»Schon blühen […] rauscht« , »ergrünen«) lösen einander ab, von daher lässt sich das Gedicht als dynamische Vision und Epiphanie lesen, als ›Geschichte‹, die mit einer »goldene[n] Wolke« über jenen Weihern endet, die den Kern des Gedichtkomplexes »Hellbrunn« gebildet hatten.

W. Michler

Ein lyrisches Ich ist nur indirekt präsent. In der ersten Druckfassung der »Drei Teiche von Hellbrunn« (1909) endete die letzte Strophe mit: »Ein rätselvolles Sphinxgesicht, / Daran mein Herz sich will verbluten« (ITA I, 186, Hervorh. W.M.). Zum »Wieder folgend« als einer Handlung, sei es als Aufmerksamkeit (vgl. »Helian«: »Und die runden Augen folgen dem Flug der Vögel«, ITA II, 252) oder als tatsächliche Ortsveränderung (auf der Textstufe 2 H hieß es noch deutlicher: »Wieder lauschend«, ITA IV.1, 288), wird man sich ein Ich ergänzen dürfen. Die Verben sind dann jedoch nicht-menschlichen Handlungen zugeordnet (blühen, rauschen, ergrünen); das Gedicht »tritt entpersonalisiert in Erscheinung«, wie auch zur zweiten Fassung der »Drei Teiche« angemerkt wurde (Görner 2014, 90). Trakl hat in diesen Prozessen eine Steigerung der poetischen Qualität gesehen. Das »umgearbeitete Gedicht« – gemeint ist »Vorstadt im Föhn« – »ist umso viel besser als das ursprüngliche als es nun unpersönlich ist, und zum Bersten voll von Bewegung und Gesichten« (an Buschbeck, Mitte Jänner 1912, ITA V.1, 171). Ebenso dicht sind die Parallelen zu Gedichten aus der Zeit der Niederschrift, Winter / Frühling 1914: etwa zu »Wenn silbern Orpheus …« (ITA IV.1, 77–88) bzw. »Passion«, in dessen 3. Fassung in Sebastian im Traum »Orpheus silbern die Laute rührt, / Beklagend ein Totes im Abendgarten« (ITA IV.1, 124). Hier ist alles in eine Szene vom toten Kind transponiert: »Wieder begegnet der zarte Leichnam / Am Tritonsteich / Schlummernd in seinem hyazinthenen Haar.« Der »Schatten« gehört hier der »Schwester« und der »[d]unkle[n] Liebe / Eines wilden Geschlechts« (ebd.). Im ebenfalls im Frühjahr 1914 entstandenen Nachlassgedicht »An Johanna« sind »wir« die »[b]laue Klage / Eines moosigen Waldquells, / Wo die Veilchen / Heimlich im Frühling duften« (ITA IV.1, 179). In »Abendland« (II) »duften« die »Veilchen im Wiesengrund« neben dem Tod eines Knaben »mit zerbrochener Brust / Hinstirbt Gesang in der Nacht« (ITA IV.1, 249). »So leise läuten …« schließt auf: »Als wohnt' ich ein sanftes Wild / In der

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kristallnen Woge / Des kühlen Quells / Und es blühten die Veilchen rings« (ITA IV.1, 269).

Aspekte Damals eine Wegstunde von der Stadt Salzburg entfernt, zählten Schloss und Garten Hellbrunn zu den bevorzugten Zielen von Trakls Spaziergängen und Wanderungen; er soll »manchmal auch in der Nacht dort geblieben sein, um der besonderen Stimmung nachspüren zu können« (Weichselbaum 2012, 10). Der Salzburger Fürsterzbischof Markus Sittikus von Hohenems ließ das Schloss im Süden der Stadt ab 1612 als »villa suburbana« nach italienischen Vorbildern erbauen; der Architekt Santino Solari war in Salzburg unter anderem mit dem Domneubau befasst. Der berühmte manieristische Schlosspark enthält neben formalen und naturnahen Parkteilen auch eine Reihe von Teichen und Wasserspielen. Dazu gehört neben einem »Eurydikebrunnen« eine »Orpheusgrotte«, ein Brunnenhaus mit einer Marmorgruppe mit einem Geige spielenden Orpheus, einer liegenden Eurydike und mit durch die Musik besänftigten Tieren (vgl. Bigler 1996, 70–74). Diese Eurydike wurde populär mit einer angeblichen Geliebten des Erzbischofs in Zusammenhang gebracht (»Die Schatten der Kirchenfürsten, edler Frauen«, V. 4). Unter Markus Sittikus wurde in Salzburg 1614 auch Monteverdis Oper Orfeo zum ersten Mal nördlich der Alpen aufgeführt, einer historisch unwahrscheinlichen Legende nach im Steintheater am Hellbrunner Berg (Bigler 1996, 95–100). Eine Allee aus Pappeln, Rotbuchen und Eichen von 1614/15 führt vom stadtnahen Schloss Freisaal zum Schloss Hellbrunn (»Hellbrunner Allee«) und setzt sich als Eichenreihe im Schlosspark im Jagdgarten fort (»ergrünen / Die Eichen über den vergessenen Pfaden der Toten«). Der Erstdruck von »Die drei Teiche in Hellbrunn« (ITA I, 186) bezieht sich mit ihren drei dem »erste[n]«, »zweite[n]« und »dritte[n]« Teich gewidmeten Strophen wohl auf das sog. »Wasserparkett« im formalen Teil des Parks.

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Während diese erste Fassung auf weitere, auf den Ort bezügliche Elemente – mit Ausnahme von »Zypressen« und einem abstrakteren »rätselvolle[n] Sphinxgesicht« (ebd.) – verzichtet, ordnet die Überarbeitung die Strophen nicht mehr den Teichen zu, nennt aber neben »schwarzen Mauern« einen »dunklen Weiher«, die »Leier / Des Orpheus« (ITA I, 193), »Zy­ pressen« und »Tritonen«, in den Hellbrunner Teichen befindliche Figuren (vgl. auch »Passion« in Sebastian im Traum). Schließlich werden der Hellbrunner Berg und das sog. Monatsschlössl, vielleicht auch das eigentliche Schloss genannt: »Ferne leuchten Schloss und Hügel« (ITA I, 193). Über dem »weissen nymphischen Spiegel« des Wassers »[k]lagen« »Stimmen von Frauen, die längst verstarben […] ihr vergänglich Geschicke« (ebd.). Im Brenner-Gedicht »In Hellbrunn« sind die lokalen und mythologischen Bezüge und Motive verdichtet, abstrahiert und in das übergeordnete Bezugssystem der Traklgedichte der späteren Werkphase einbezogen. Die orphische Leier und die Klagen der Frauen sind kondensiert in die »blaue[] Klage des Abends«, die Teiche bzw. der ›dunkle Weiher‹ in »Frühlingsweiher«, die in der überarbeiteten Fassung von »Die drei Teiche in Hellbrunn« waltende Stimmung des »Abendblau« (ITA I, 193) in einen »Abendgrund« objektiviert, der wie der ›Frühlingsweiher‹ eine Jahres- oder Tageszeit mit einem topographischen Element verbindet (wie in ›Wiesengrund‹ oder in einem in der romantischen Lyrik belegten ›Waldesgrund‹), allerdings auch nicht weit von einem ›Abgrund‹ entfernt. Von »Schloss und Hügel« ist nur der »Hügel« (ITA IV.1, 285) geblieben. Vom Ortsbezug her reiht sich der Text in jene Gedichte ein, die Trakls Salzburger Heimatstadt und ihre Umgebungen thematisieren (wie etwa »Die schöne Stadt«, »Musik im Mirabell«, »Anif«). Für den Großteil dieser Salzburg-Gedichte und auch für das von der Forschung mit wenig Aufmerksamkeit bedachte »In Hellbrunn« gilt, dass sie »andernorts entstanden« sind, »als lyrische Erinnerungsikonen«, »die freilich das Fremde, das Fremdsein im Heimatort, die

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Todesmotivik gemeinsam haben« (Görner 2014, 95). Auch der Orpheus-Mythos ist ambivalent – Orpheus ist ja auch »eine tragische Gestalt, ein Gescheiterter, einer, der, verzweifelt über seine Existenz, den ihn zerstörenden Schmerz aussingt« (Doppler 2001, 25 f.). Mit dem Ortsmarker »Hellbrunn« sind also einige zentrale Elemente des Gedichts – und intratextuell der vorausgehenden »Drei Teiche« – gesetzt: die Natur-/Kulturbeziehung, mit dem Orpheus-Motiv die Macht der Kunst und die Jenseitsreise, die Klage und das Wasser, die – wenn auch im Irrealis präsente – historische Dimension der »Schatten lange Verstorbener« und insgesamt die religiös-mythologische Sphäre (vgl. auch Eybl 2016). Martin Heidegger hat dabei klargestellt, dass »geistlich« (»So geistlich ergrünen / Die Eichen […]«, ITA IV.1, 289) weder allgemein ›geistig‹ noch ›geistlich‹ im Sinn von Priester und Kirche zu lesen sei, sondern als »aufgebracht, entsetzt, außer sich sein«, wie in Wendungen wie die »heiße Flamme des Geistes« (»Grodek«, ITA IV.2, 338; vergl. Heidegger 2018, 56– 61, hier 56). Für Csúri zeigt sich in »In Hellbrunn« exemplarisch »im Schema der Abenddämmerung« die »Zusammenführung« und das »gegenseitige[] Transparentmachen von Irdischem und Kosmischem sowie von Vergangenem und Gegenwärtigem« (Csúri 2016, 29) in Trakls »poetischer Religiosität« (Csúri 1995). Neben dem Toten und Vergangenen (»Klage«, »Schatten«) zeigt sich eine Gegenbewegung einer »virtuelle[n] Wiedergeburt«, »die Heraufbeschwörung des Toten und des Vergangenen im Geistlichen« (»Frühlingsweiher«, »[s]chon blühen […] die ernsten Veilchen«, »ergrünen«), der »irdische Frühlingsweiher« werde als »himmlischer Frühlingsweiher transparent«, die ›goldene Wolke über dem Weiher‹ sei als »göttliche Epiphanie« zu begreifen (Csúri 2016, 29, 31 f.).

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Jedenfalls lässt sich »In Hellbrunn« als eine Art Konzentrat des Hellbrunn-Komplexes lesen. In der Textgeschichte von 1909 bis 1914 werden die Motive in den zunehmend autonomen Textkosmos eingearbeitet; Orpheus- und Spiegelmotiv, Topographie und Architektur sind nur mehr in Abbreviatur präsent, aber, worauf schon der Titel deutet, nicht eskamotiert, sondern sie bleiben in dieser Präsenz bedeutend. Unter Hintanstellung syntaktischer Regeln führt eine symbolische Syntax die durchaus ambivalenten Motivelemente in ein versöhnendes Schlussbild.

Literatur Bigler, Robert R.: Schloß Hellbrunn. Wunderkammer der Gartenarchitektur. Wien/Köln/Weimar 1996. Csúri, Károly: Zur poetischen Religiosität in Trakls Dichtung. In: Karlheinz F. Auckenthaler (Hg.): Numinoses und Heiliges in der österreichischen Literatur. Bern/Wien et al. 1995, 111–139. Csúri, Károly: Konstruktionsprinzipien von Georg Trakls lyrischen Textwelten. Bielefeld 2016. Doppler, Alfred: Die Lyrik Georg Trakls. Beiträge zur poetischen Verfahrensweise und zur Wirkungsgeschichte. Salzburg/Wien 2001. Eybl, Franz M.: Blick und Selbstbegegnung im Naturgedicht: Goethes »Auf dem See« und Trakls »Die drei Teiche von Hellbrunn«. In: Sieglinde Klettenhammer/Johann Georg Lughofer (Hg.): Georg Trakl. Interpretationen – Kommentare – Didaktisierungen. Wien 2016, 69–82. Görner, Rüdiger: Georg Trakl. Dichter im Jahrzehnt der Extreme. Wien 2014. Heidegger, Martin: Unterwegs zur Sprache. Frankfurt a. M. 22018 (Gesamtausgabe I.12). Hellmich, Albert: Klang und Erlösung. Das Problem musikalischer Strukturen in der Lyrik Georg Trakls. Salzburg 1971. Steinkamp, Hildegard: Trakl’s Landscape Code: Usage and Meaning in His Later Poetry. In: Eric Williams (Hg.): The Dark Flutes of Fall. Critical Essays on Georg Trakl. Columbia (SC) 1991, 134–166. Thauerer, Eva: Ästhetik des Verlusts. Erinnerung und Gegenwart in Georg Trakls Lyrik. Berlin 2007. Weichselbaum, Hans: Georg Trakl – die »Salzburg-Gedichte«. Salzburg 2012.

»Der Schlaf« (1914)

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Sebastian Klinger

»Der Schlaf« ist im Juli 1914 in der Zeitschrift Der Brenner erschienen. Erst in der Druckfassung der Zeitschrift erscheint der Text mit Titel, sodass unklar bleibt, ob er auf den Autor zurückgeht. Ansonsten lässt sich die Textgenese durch die Überlieferung der handschriftlichen Textstufen 1 H und 2 H sowie die gedruckte Textstufe 3 D schematisch nachvollziehen (vgl. ITA IV.1, 13–24). Die Textstufe 1 H des Gedichts ist Ende des Jahres 1913 entstanden. Trakl notiert sie auf der Rückseite eines Blattes, auf dem er Entwurfsstufen zu seinen Gedichten »An die Verstummten« und »Winternacht« festgehalten hatte. Wahrscheinlich hat Trakl die Arbeit an »Der Schlaf« erst einige Monate später fortgesetzt; er schließt sie in der ersten Hälfte des Jahres 1914 ab. (Zur Datierung des Gedichts unter Berücksichtugung des stilistisch-motivischen Kontexts vgl. Sauermann 1998.) Während der Umarbeitungen von der Textstufe 1 H zu 2 H streicht Trakl eine bereits entworfene zweite Strophe des Gedichts, in der er latente Strukturmuster der ersten Strophe experimentell erprobt und durchspielt: Bezüge sind hier noch expliziert, die Richtungen von Text-

S. Klinger (*)  Institut für Germanistik, Universität Wien, Wien, Österreich E-Mail: [email protected]

bewegungen offen, Ordnung soll narrativ hergestellt werden und es gibt einen physikalischen Nachtraum mit Mond und Sternen.  Unklare paradoxe Strukturen und Unsicherheiten – »Sterne vielleicht« (ITA IV.1, 17) – arbeiten gegen ein Prinzip der Textökonomie, wie es sich das Gedicht ab der Textstufe 2 H  zu eigen macht. Sobald Trakl das Gedicht von semantischer auf klangliche Kohärenz umgestellt hat, streicht er die zweite Strophe. Während s-Assonanzen übertragen werden, übernimmt er kaum Wortmaterial; die neu in das Gedicht eingearbeiteten Sprachbilder (Korsar, Meer, Stadt) stammen möglicherweise aus der Lektüre von Rimbauds Gedicht »Est-elle almée?«, das in den Poésies complètes (1895) enthalten ist. Durch den Wegfall der zweiten Strophe nähert sich »Der Schlaf« formal Texten Trakls wie »Der Abend« und »Die Nacht« an, mit denen das Gedicht Versstruktur, strophische Gliederung, Sprachduktus und motivisches Material teilt. Schließlich ist werkbiographisch relevant, dass kulturgeschichtliche Realien wie Schlafmittel als »Gifte« (ITA IV.1, 17, 21, 23, 24) in das Gedicht eingegangen sind, während Trakls Texte üblicherweise die von ihrem Autor konsumierten Drogen in mythologisierenden Sprechformeln wie dem ›Mohn‹ adressieren. Folgt man biographischen Selbstzeugnissen, dann nimmt Trakl im Entstehungszeitraum von »Der Schlaf« häufig Zuflucht zu Mitteln wie Opium, Mor-

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_61

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phium und vor allem Veronal, einem apothekenpflichtigen Schlafmittel, das der Pharmazeut Trakl nicht nur selbst konsumiert, sondern auch regelmäßig für andere beschafft (vgl. Sattler 2010, 228). Möglicherweise aufgrund einer von Trakl erlittenen »Veronalvergiftung« nach »2 Tage[n] und 2 Nächte[n]« (HKA I, 526) durchgehendem synthetischen Schlaf bleibt das Gedicht gegenüber den Sedativa ambivalent. So hebt die erste Textstufe von »Der Schlaf« mit einer Verwünschung der Schlafmittel an, die Trakl dann allerdings streicht und durch eine Beschwichtigungsformel ersetzt. Ab der Textstufe 2 H erklärt er die Schlafmittel wiederum zum Anathema, schwächt aber im Gegenzug das zuvor postulierte Kausalverhältnis zwischen den »dunklen Giften« und dem »weiße[n] Schlaf« ab. Stattdessen überblendet und überkreuzt das Gedicht jetzt Wachen und Schlaf, indem es über das halluzinatorische Flirren seiner Sprachbilder einen wachschlafartigen Zustand in Szene setzt. Die im Brenner erschienene Fassung von »Der Schlaf« besteht aus dreizehn freirhythmischen Kurzversen ohne strophische Einschnitte (in der Folge zitiert nach der Textstufe 3 D, vgl. ITA IV.1, 24). Hauptgliederungseinheit des Gedichts sind die mit Enjambements gesättigten Perioden, die kaum finite Verben aufweisen und klanglich durch ein Netz von fund v-Assonanzen zusammengehalten werden. Der intensive Einsatz performativer Sprachgesten (Verfluchung; deiktisches Demonstrativpronomen; Anrufung; Du-Ansprache) fällt auf. Einzig der Schlusssatz scheint eine konstative Aussage anzubieten, wobei die Verb-Erst-Stellung und der Verzicht auf die Trennung des Präfixes syntaktische Transparenz verhindern. Das Gedicht nimmt diese grammatische Verdunklung auf seiner Bildebene auf und überführt sie in Szenen der Dämmerung, in denen sich hell und dunkel, schwarz und weiß, Licht und Schatten, Tag und Nacht, Apollinisches und Dionysisches, Wachen und Schlafen eigentümlich vermischen. Dieser Zwischenzustand bildet das Passepartout

S. Klinger

für einen synkretistischen Bilderbogen aus alptraumhaften, apokalyptischen und symbolistischen Motiven, die den Eintritt in eine drogeninduzierte »Hölle des Schlafs« (HKA I, 98) plastisch werden lassen. Dreh- und Angelpunkt von »Der Schlaf« ist eine ausgefeilte Technik des Bildaufbaus und Bildabbaus, die sich aus der Verb- und Präpositionalstruktur des Gedichts ergibt. Die Verfluchung der »dunklen Gifte« eröffnet zunächst ein Zwischenreich aus »weiße[m] Schlaf«, das im nächsten Schritt mit Bildern angefüllt (»erfüllt«) wird. Mit der exakt mittig gesetzten Ansprache »Fremdling!« kehrt sich diese Dynamik um; ein Abbau von Bildinhalten beginnt. Die vom Dämmerlicht umschriebenen Textkörper werden von ihren Schatten getrennt, lösen sich »[i]m Abendrot« und »[i]m salzigen Meer der Trübsal« auf, ein Prozess, bei dem konkrete Sprachbilder in abstrakte Metaphern zerfallen. Das Finale des Gedichts inszeniert dieses Ereignis als Implosion des Verständnishorizonts: Die auseinanderstrebenden Zentrifugalkräfte der (Pseudo-)Präpositionen »auf«, »am«, »über« und »von« zerreißen und zerfetzen den Bildraum in einer endzeitlichen Vision von »stürzenden Städten«. Zurück bleiben die Farben des Beginns: Weiß auf dunklem Grund. In der Forschung ist »Der Schlaf« mit Blick auf Datierungsfragen (vgl. Sauermann 1998) sowie unter dem Aspekt von Trakls Rauschmittelpoetik besprochen worden. Von Interesse sind vor allem die Lektüren Hans-Georg Kempers. Sie situieren Trakls Gedicht als »kunstvollen Spiegel[] von Rauschträumen« (Kemper 2018, 47) am Kreuzungspunkt mehrerer Faszinationsgeschichten der europäischen Moderne: erstens Nietzsches Artisten-Metaphysik, für die Traum und Rausch gleichursprünglich sind; zweitens die symbolistische Affinität zu Veränderungen von Wahrnehmungsprozessen durch Drogen, die von Charles Baudelaire über Paul Verlaine bis zu Arthur Rimbaud ausstrahlt; und drittens die vom

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französischen Symbolismus vorbereitete Neuentdeckung der Rausch-Diskurse der Romantik, wobei für Trakl die im Zeichen des Mohns stehende Verknüpfung von Schlaf, Opium und dichterischer Schau in Novalis’ Hymnen an die Nacht wichtig wird. Dass »Der Schlaf« von Kemper (2014, 319) als Kokain-Gedicht gelesen wird, überzeugt vor diesem Hintergrund nicht. Eher schon wäre bei dem »weiße[n] Schlaf« an das weiße Pulver des Sedativums Veronal zu denken, sofern man das Bild entschlüsseln muss. Zentrales Desideratum für künftige Lektüren des Gedichts ist eine präzisere kulturwissenschaftliche Verortung in pharmazeutischen Wissensdiskursen und den bei Trakl daraus entstehenden Praktiken (z. B. Selbstexperimente, Notationsverfahren, Stoff-Mischungen).

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Literatur Kemper, Hans-Georg: Rauschhafter Mönch. Georg Trakl. In: Katharina Manojlovic/Kerstin Putz (Hg.): Im Rausch des Schreibens. Von Musil bis Bachmann. Wien 2018, 28–49. Kemper, Hans-Georg: Droge Trakl. Rauschträume und Poesie. Salzburg 2014. Sattler, Eve: Vergiftete Sensationen. Soziale und kulturelle Dimensionen des Rauschmittelkonsums im literarischen Expressionismus 1910 – 1914. Essen 2010. Sauermann, Eberhard: Zur Datierung von Trakls Gedicht »Der Schlaf«. In: Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv 17 (1998), 116 f.

»Das Herz« (1914)

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Clemens Özelt

»Das Herz« wurde am 1. Juli 1914 zusammen mit »Der Schlaf« zwischen Textauszügen Søren Kierkegaards und Else Lasker-Schülers (»Kritik der Gegenwart«, »Der Malik«) im 19. Heft des Brenner veröffentlicht. Das Umfeld spiegelt zeitgenössische Schwerpunkte und Allianzbildungen der Zeitschrift. Die »Malik«-Briefe, die eine Widmung an Karl Kraus samt Zeichnung enthielten, setzten einen literarischen Dialog zwischen Lasker-Schüler und Trakl fort, dem sie die Lektüre der Briefe empfahl (vgl. Ficker 1986–1996, I, 224; Denneler 1984, 223– 234). Texte von und über Kierkegaard waren 1914 ständige publizistische Begleiter Trakls, mit dessen Modernekritik und Innerlichkeitsphilosophie es Berührungspunkte gibt (vgl. Klettenhammer 1990, 145–227). »Das Herz« entstand vermutlich im Frühjahr 1914. Als zentrales Sujet exponiert es zu Beginn die Todesangst. Der Verzicht auf ein Sprechen in der ersten Person und die Dominanz des Präteritums markieren zugleich Distanz zu einer unmittelbaren Gefühlsdarstellung. Das Gedicht setzt sich aus drei Strophen mit zehn, elf und zehn Versen zusammen, wodurch

C. Özelt (*)  Deutsches Seminar, Universität Zürich, Zürich, Schweiz E-Mail: [email protected]

der Mittelvers »Eine zerfetzte Fahne« (ITA IV.2, 131; Zitation im Folgenden nach dieser Textstufe) hervorgehoben wird. Die Fahne als Symbol kriegerischer Auseinandersetzungen weist in dem Bild »Eine zerfetzte Fahne / Vom Blute rauchend« selbst mehrere indexikalische Spuren der Zerstörung auf, die sprachlich in der syntaktischen Desintegration der Partizipalgruppe zum Ausdruck kommt. Die stetig wechselnden Verslängen legen zudem eine ikonische Abbildungsrelation nahe: Das Schriftbild gleicht einer zerfetzten Fahne. Dass das titelgebende Herz – das Organ der Körpermitte und das Symbol innerer Bewegung – nicht im semiotisch verdichteten Zentrum steht, sondern an Anfang und Ende (V. 1, 30), zeigt auf globaler Textebene, wie das Gedicht psychische und physische Kämpfe, Innenund Außenwelt verschränkt. Diese Struktur prägt auch den Aufbau der einzelnen Strophen. Die isolierte Zeitangabe »Novemberabend«, die als Einwortvers und als einzige weibliche Kadenz der ersten Strophe hervorsticht, lässt zwei heterogene Szenerien aufeinandertreffen: eine Natur- und eine Stadtlandschaft. Das Schlachthaus und die Frauen mit den Innereien rekurrieren auf Trakls Gedicht »Vorstadt im Föhn« (vg. Falk 1961, 233), dessen Alliterationsstruktur und jambische Alternation die erste Strophe aufnimmt (»Fiel faules Fleisch und Eingeweid«), nicht aber den Reim und die Fünfhebigkeit. Im Unterschied zu »Vorstadt im Föhn« fügt sich das Bild auch nicht in eine Sequenz urba-

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ner Impressionen (Eisenbahnbrücke, Ratten) ein, sondern es löst unvermittelt die Naturlandschaft zu Beginn ab: »Das wilde Herz ward weiß am Wald«. Verstärkt durch die Reihe der stimmhaften (w) statt der stimmlosen labiodentalen Frikative (f), konfrontieren die beiden Strophenhälften Stadt und Wald, materielle und emotionale Not, das Herz als Organ und als Symbol. Die zweite Strophe beginnt mit einem wirkungslosen Friedenszeichen, das Trakl aus »Elis« übernimmt: »Des Abends blaue Taube / Brachte nicht Versöhnung«. Die vergebliche Hoffnung auf einen Umschwung heben das Enjambement und der Metrumwechsel zu Trochäen zusätzlich hervor. In weiterer Folge gibt der Text seine alternierende Struktur überhaupt auf. Das Schlachthaus verwandelt sich in ein Schlachtfeld, wobei Trakl gegenüber dem Entwurf zahlreiche martialische Begriffe wie Soldaten, Stahl oder Blitz tilgt. Der Schrecken wird stattdessen indirekt mit akustischen und optischen Zeichen gestaltet (Trompetenruf, zerfetzte Fahne), die auf Bilder und Klänge der ersten Strophe (faules Fleisch) zurückverweisen. Die beiden Schlussverse betonen, nach dem individuellen Klageruf »O dunkle Angst«, nun die kollektive Dimension des Grauens: »O! ihr ehernen Zeiten / Begraben dort im Abendrot«. Die Apo­ strophe figuriert einen Moment des historischen Übergangs. Die Sprechinstanz trauert nicht dem goldenen Zeitalter nach – dessen Farbe als einzige in allen drei Strophen wiederkehrt –, sondern dem ehernen, über das es bei Ovid heißt, es sei »wilder im Sinn und bereiter, zu schrecklichen Waffen zu greifen, / dennoch nicht ruchlos« (Ov. met. I, 126 f., Ovid 2014, 45–47). Das »wilde[r] Herz« und »wilder Schwermut« könnten auch von dieser Stelle angeregt sein. Der Übergang in eine verbrecherische Zeit ließ sich drei Tage nach der Ermordung des österreichisch-ungarischen Thronfolgers leicht auf das Tagesgeschehen beziehen. In der dritten Strophe schimmert im Wechsel von Jamben zu Daktylen erneut kurz Hoffnung auf: »Aus dunklem Hausflur trat / Die goldne Gestalt / Der Jünglingin«. Die andro-

C. Özelt

gyne Figur (vgl. Aurnhammer 1986, 280 f.), die auf ein goldenes Zeitalter und die Überwindung der Antagonismen hindeutet, steht an der Schwelle zwischen Männlichem und Weiblichem, Außen und Innen, Terrestrischem und Lunarem – Monde sind ihr »Herbstlicher Hofstaat«. Der inkongruente Nominativ der Apposition trennt die Strophe wieder in zwei Teile. In weiterer Folge verdunkeln sich die syntaktischen Strukturen, der Hausflur verwandelt sich in eine Waldlandschaft mit »steile[r] Festung«. Damit sind kontrastreiche Übergänge von der Horizontalen in die Vertikale, vom Wohn- zum Wehrbau und vom Gegenwärtigen zum Vergangenen verbunden. Die beiden letzten Verse »O Herz / Hinüberschimmernd in schneeige Kühle« setzen die unablässigen Metamorphosen fort, verweisen auf das weiße Herz zu Beginn und schließen so den Blutkreislauf des Gedichts. Die Bauform ist wiederholt auf den Einfluss Friedrich Hölderlins zurückgeführt worden, den auch Gustave Roud und Michael Hamburger betonen, die Trakl und Hölderlin ins Französische bzw. Englische übersetzt haben. In der Forschung macht sich die Nähe zu Hölderlin seltener in Gattungsbezeichnungen bemerkbar als in der Übernahme von Begriffen wie der harten Fügung (vgl. Millington 2020, 210– 213), die bei Norbert von Hellingrath eine Aufwertung des Wortes gegenüber Sinn- und Satzzusammenhängen meint. In Einwortversen wie »Novemberabend« treten solche Bedeutungsunterbrechungen deutlich hervor und tragen wesentlich zur Polyvalenz des Textes bei. Im konkreten Fall wird das Gedicht zusätzlich als Kontrafaktur von Eduard Mörikes Herbstgedicht »Septembermorgen« lesbar. Während bei Mörike der Frühherbst im Morgennebel ruht, stirbt in Trakls wolkigem Novemberabendgrau das Gold der Jahreszeit ab, sodass es nicht mehr zu fließen beginnt wie in »Septembermorgen«. »Das Herz« gehört zu den wenig beachteten Gedichten Trakls. Die Analysen bieten selten mehr als Paraphrasen. In der Regel erfolgt der Zugriff selektiv auf einzelne Figuren, Farben, Rhythmen oder Motive. Die Bemühungen,

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das Gedicht geographisch zu lokalisieren, sind in diesem Zusammenhang aufschlussreich. Ernst Hanisch erkennt zu Beginn den Schlachthof in der Salzburger Elisabeth-Vorstadt wieder (Hanisch 1988, 38), während für Eduard Lachmann die steile Festung am Ende einen Tiroler »Bergriesen« (Lachmann 1954, 172) darstellt. Die scheinbar widersprüchliche Zuordnung verdeutlicht, dass die Räume des Gedichts sowohl in ihrer Beschaffenheit als auch in Hinblick auf reale wie textuelle Vorlagen stark divergieren und kein homogenes Ganzes formen. Die konsequente Verschränkung von Innenund Außenwelt hat Felix Christen in einer poetologischen Lektüre von »Das Gewitter«, ein Brenner-Heft später erschienen, als Versuch interpretiert, für intersubjektiv unzugängliche Emotionen eine eigene »Empfindungssprache« (Christen 2017, 77) zu entwickeln. Die rasch wechselnden Impressionen in »Das Herz« ließen sich, daran anschließend, als Sprache einer rasenden Angst verstehen, die unentwegt vertraute Sinnzusammenhänge auflöst und erst im Tod zur Ruhe kommt. Diese Herzenssprache präsentiert sich zugleich am Puls der Zeit und bewegt eine Gesellschaft, in der vergangen geglaubte Schrecken wiederkehren.

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Literatur Aurnhammer, Achim: Androgynie. Studien zu einem Motiv in der europäischen Literatur. Köln/Wien 1986. Christen, Felix: Logiken des Sinns – Logiken der Schrift. Überlegungen zur Textgenese und Deutung von Trakls später Dichtung. In: Uta Degner/Martina Wörgötter (Hg.): Literarische Geheim- und Privatsprachen. Literaturwissenschaftliche und linguistische Perspektiven. Würzburg 2017, 67–79. Denneler, Iris: Konstruktion und Expression. Zur Strategie und Wirkung der Lyrik Georg Trakls. Salzburg 1984. Falk, Walter: Leid und Verwandlung. Rilke, Kafka, Trakl und der Epochenstil des Impressionismus und Expressionismus. Salzburg 1961. Ficker, Ludwig von: Briefwechsel. 4 Bde. Hg. von Ignaz Zangerle, Walter Methlagl, Franz Seyr und Anton Unterkircher. Innsbruck 1986–1996. Hanisch, Ernst: Salzburg und Georg Trakl. In: Hans Weichselbaum (Hg.): Trakl-Forum 1987. Salzburg 1988, 37–46. Klettenhammer, Sieglinde: Georg Trakl in Zeitungen und Zeitschriften seiner Zeit. Kontext und Rezeption. Innsbruck 1990. Lachmann, Eduard: Kreuz und Abend. Eine Interpretation der Dichtungen Georg Trakls. Salzburg 1954. Millington, Richard: The Gentle Apocalypse. Truth and Meaning in the Poetry of Georg Trakl. Rochester 2020. Ovid: Metamorphosen. Lateinisch-deutsch. Hg. und übers. von Niklas Holzberg. Berlin/Boston 2014.

»Das Gewitter« (1914)

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Ulrich Kittstein

In einem Konvolut von Trakl-Handschriften findet sich ein Gedichtentwurf aus dem Mai 1914 mit dem Titel »Das Gewitter«, der 32 Verse in zwei Abschnitten umfasst und mit der Zeile »Glühende Schwermut« endet (ITA IV.2, 144 f.). Diese erste Fassung kann durchaus als selbständiges, in sich geschlossenes lyrisches Werk gelten. Etwas später, zwischen Mai und Anfang Juli, setzte der Autor die Arbeit aber auf einem separaten Blatt fort und erweiterte den Text auf 45 Verse in drei Zeilenblöcken (ITA IV.2, 145–147). Die ergänzte Partie führt vor allem mehrere christlich gefärbte Motive ein, die dem Gedicht eine ganz neue Bedeutungsdimension verleihen: Von »Demut«, »heißem Erbarmen« und einem »Dörfchen im Tal, / Des Geistes Gemeinde« ist die Rede; das Gewitter bringt »[h]immlische Reinigung«, und die Schlussverse lauten: »Eine Glocke / Läutet Versühnung zur Nacht.« Auf der Rückseite des Blattes hat Trakl diese Passage jedoch sehr bald wieder tiefgreifend umgestaltet (ITA IV.2, 147 f.). Sie wurde dabei nicht nur um drei Verse gekürzt, auch sämtliche christlich-religiös konnotierten Bilder fielen der Überarbeitung zum

U. Kittstein (*)  Philosophische Fakultät, Universität Mannheim, Mannheim, Deutschland E-Mail: [email protected]

Opfer. Für die Erstveröffentlichung nahm der Dichter schließlich nochmals einige kleinere Änderungen vor. Der Text wurde am 15.07.1914 in der Zeitschrift Der Brenner abgedruckt, gefolgt von den Gedichten »Der Abend« und »Die Nacht«, die im selben Zeitraum entstanden sein dürften und von denen zumindest das Letztere in Sprachgestus und Motivwelt enge Bezüge zu »Das Gewitter« aufweist. Diese Werke erschienen auch als Sonderdruck aus dem Brenner unter dem Titel Drei Gedichte von Georg Trakl. Ein Vergleich mit dem vier Jahre zuvor entstandenen Gedicht »Der Gewitterabend« macht die Entwicklung von Trakls lyrischem Stil anschaulich. Der ältere Text, der die abendliche Gewitterstimmung in einer Stadt schildert, ordnet seine surreal verfremdeten Bilder in Kreuzreimstrophen aus regelmäßigen vierhebigen trochäischen Versen. Trakl selbst spricht in einem Brief an Erhard Buschbeck vom Juli 1910 im Blick auf diesen Text von seiner »Manier, die in vier Strophenzeilen vier einzelne Bildteile zu einem einzigen Eindruck zusammenschmiedet« (ITA V.1, 126). Dagegen gibt der Dichter in »Das Gewitter« die strenge äußere Form preis. Das Gedicht besteht in der Druckfassung (Zitation im Folgenden nach ITA IV.2, 148 f.) aus vier ungleichen Abschnitten mit 42 reimlosen Versen, die unregelmäßig rhythmisiert sind und meist zwei oder drei, nur ganz vereinzelt vier Hebungen aufweisen. Die Kürze der Zeilen und zahlreiche Doppelsenkungen

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_63

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s­ orgen für eine zum Thema passende Dynamik. Im Verein mit ihr erzeugen die gedrängten Bildfolgen, das Überwiegen der Substantive, die hymnische Diktion und die verschiedenen Ausrufe ein wuchtiges Pathos, das an Hölderlin erinnert, dessen Gedichte – z. B. »Patmos« – zudem in Trakls Wortwahl mehrfach anklingen. Das Fehlen von Reimen und festen metrischen Mustern wird durch andere poetische Mittel wie die Lautmalerei bei der Gewitterschilderung, die Wiederholung gewisser Klangfolgen und kleinerer rhythmischer Einheiten sowie die zahlreichen Alliterationen und Assonanzen kompensiert, die eine differenzierte Binnenstruktur und ein hohes Maß an ästhetischer Verdichtung schaffen. Zwar bleiben in »Das Gewitter« einige semantische und syntaktische Verknüpfungen unklar oder mehrdeutig, doch der sinnhafte Gesamtzusammenhang des Textes lässt sich ohne weiteres erschließen. Die erste Versgruppe kann noch einfach als poetische Gestaltung einer Naturlandschaft gelesen werden; sie trägt vorwiegend idyllische Züge und beschwört die Ruhe vor dem Sturm, der dann im zweiten Abschnitt hereinbricht. Anthropomorphisierende Wendungen wie die »erhabene Trauer« der Adler oder die »[g]eduldige Stille« der Föhren verweisen aber schon hier auf die emotionale Anteilnahme und die Assoziationen eines menschlichen Betrachters: Obwohl das Gedicht kein explizites lyrisches Ich kennt, entwirft es seine Schilderungen doch unverkennbar aus einer gefühlsbestimmten subjektiven Perspektive. Im Fortgang des Textes verschwimmen die Grenzen zwischen Naturvorgängen und seelischen Regungen dann vollends, sodass gar nicht mehr zu entscheiden ist, ob hier äußere Wahrnehmungen Gefühlsbewegungen hervorrufen oder umgekehrt Letztere in Naturbildern ausgedrückt werden. Beide Bereiche vertreten einander wechselseitig, wenn sich das Gewitter in menschlichen »Stimmen« artikuliert, der »Schmerz« mit dem »Blitz« in Parallele gesetzt wird oder die »Tränen« in die »Ströme« des Regens übergehen. Trakl verstärkt die suggestive Verschmelzung von Psyche und Naturgeschehen, indem er alle Wie-Vergleiche ver-

U. Kittstein

meidet und nur mit expressiven Metaphern arbeitet. Auch die eingestreuten Apostrophen des Sprechers gelten teils Naturphänomenen, teils seinen eigenen Empfindungen. Von zentraler Bedeutung für die im Gedicht gestiftete Verbindung von Innen- und Außenwelt ist die traditionsreiche Kategorie des Erhabenen, auf die der zweite Vers ausdrücklich anspielt und die sowohl bestimmte Naturphänomene, deren Größe und Gewalt den Menschen zu überwältigen droht, als auch die zwiespältigen Gefühlsreaktionen auf sie einschließt. Dem Umfeld des Erhabenen entstammen die wichtigsten Motive des Textes: die wilde Gebirgslandschaft, das Gewitter selbst, die Assoziationen an Krieg und Kampf, der Schmerz, die Angst und nicht zuletzt die abschließende Läuterung. Damit steht »Das Gewitter« am Beginn einer ganzen Reihe von späten Gedichten Trakls, die mit ähnlichen ästhetischen Mitteln ebenfalls erhabene Eindrücke gestalten. Das gilt für »Die Nacht«, »Die Schwermut« und »Im Osten«, aber es ergibt sich auch ein nahtloser Übergang zu »Klage« (II) und »Grodek«, in denen bereits das Erlebnis des Weltkriegs verarbeitet wird. Bei seinem ersten Anlauf, die ursprüngliche Fassung des Werkes zu erweitern, experimentierte Trakl noch mit einer religiösen Deutung des erhabenen Gewitterszenarios, wie sie sich etwa schon in Klopstocks »Frühlingsfeyer« findet: Das Gewitter offenbart die übermächtige Größe Gottes, aber auch seine gnädige Hinwendung zu den Menschen in »Reinigung« und »Versühnung« (ITA IV.2, 147). Dagegen verlegt die finale Version die Katharsis, die von dem Gewitter zugleich bewirkt und versinnbildlicht wird, ganz in die Psyche des Einzelnen. Ein aufwühlender »Schmerz« bringt die »große Seele« zum Bewusstsein ihrer selbst, die Angst wird überwunden, die Anspannung zergeht in Tränenströmen, und am Ende steht das Gefühl, im »Feuer« der Natur geläutert worden zu sein. Die metaphorische Redewendung vom reinigenden Gewitter, das seelische Nöte zerstreut, begegnet bereits in Trakls Brief an Buschbeck vom 24.4.1912: »Irgendwie wird sich das Gewitter, das sich in mir ansammelt, schon entladen« (ITA V.1, 196). Näher an die Entstehungszeit des

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Gedichts heran führt eine Äußerung gegenüber Karl Borromäus Heinrich aus dem Januar 1914: »Mir geht es nicht am besten. Zwischen Trübsinn und Trunkenheit verloren, fehlt mir Kraft und Lust eine Lage zu verändern, die sich täglich unheilvoller gestaltet, bleibt nur mehr der Wunsch, ein Gewitter möchte hereinbrechen und mich reinigen oder zerstören« (ITA V.2, 565). Das Gedicht dürfte also von persönlichen Konflikten und Sehnsüchten inspiriert worden sein, die aber im Schreiben mit Hilfe ästhetischer Strategien und produktiver Bezüge auf die literarische Tradition objektiviert wurden und sich von der Person des Dichters gelöst haben. Ob »Das Gewitter« auch als visionäre Vorwegnahme des Weltkriegs interpretiert werden kann, der wenige Wochen später ausbrechen sollte und von manchen Zeitgenossen als befreiender Ausweg aus einer lähmenden gesellschaftlichen

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­ tagnation begrüßt wurde, muss hingegen offenS bleiben, da solche Vorahnungen bei Trakl sonst nirgends belegt sind.

Literatur Christen, Felix: Logiken des Sinns – Logiken der Schrift. Überlegungen zur Textgenese und Deutung von Trakls später Dichtung. In: Uta Degner/Martina Wörgötter (Hg.): Literarische Geheim- und Privatsprachen. Literaturwissenschaftliche und linguistische Perspektiven. Würzburg 2017, 67–79. Dietz, Ludwig: Die lyrische Form Georg Trakls. Salzburg 1959, 186–188. Heselhaus, Clemens: Deutsche Lyrik der Moderne von Nietzsche bis Yvan Goll. Die Rückkehr zur Bildlichkeit der Sprache. Düsseldorf 1961, 230–236. Sauermann, Eberhard: Verfremdung eines Naturereignisses. In: Hans-Georg Kemper (Hg.): Gedichte von Georg Trakl. Interpretationen. Stuttgart 1999, 190– 208.

»Die Schwermut« (1914)

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Georg Braungart

Textgenese »Die Schwermut« ist eines der letzten Gedichte von Trakl. Der erste Druck im Brenner-Jahrbuch von 1915 (9) ist mit dem Hinweis »Juni 1914« versehen. Das Gedicht erscheint dort, als erstes einer Reihe von insgesamt sieben Gedichten (»Die letzten Gedichte«), deren letztes dann »Grodek« ist. Das Jahrbuch beginnt mit dem berühmten Aphorismus »Gefühl in den Augenblicken totenähnlichen Seins […]« (ebd., 6), ergänzt durch die Lebensdaten Trakls, auf der nächsten Seite gefolgt von seinem »Bildnis« – dem Foto, das ihn als ›Militärmedikamentenakzessisten‹ in Dienstuniform zeigt. So wird das Brenner-Jahrbuch (das einzige der Halbmonatsschrift, das erschienen ist) zu einer ersten Gedenkschrift für Georg Trakl. Es gibt zwei handschriftliche Zeugen (zum Folgenden: ITA IV.2, 215–232): Der erste ist ein Einzelblatt aus dem Familiennachlass, der im Besitz der ältesten Schwester Maria Geipel-Trakl war. Es stellt in eineinhalb Spalten einen ersten Entwurf dar, »Gesang der Schwermut« betitelt. Durch die Verwendung des Wor-

G. Braungart (*)  Deutsches Seminar, Eberhard Karls Universität Tübingen, Tübingen, Deutschland E-Mail: [email protected]

tes »Schwermut« in dem von Trakl rechts oben am Rand hinzugefügten Titel und durch einige thematische wie auch strukturelle Übereinstimmungen bzw. identische Wörter (sehr markant: »Schattenbezirk«, »Soldaten«, »Mönchin«) kann der Text, der extrem viele Korrekturen und die Streichung ganzer Versgruppen aufweist, eindeutig dem im BrennerJahrbuch gedruckten Gedicht zugeordnet werden. In der ersten Versgruppe wurde etwa die Hälfte der zunächst niedergeschriebenen Zeilen bzw. Worte gestrichen. Der Mittelteil ist relativ stabil als Vorstufe zur Druckfassung erkennbar. Die letzte Versgruppe, praktisch nur aus gestrichenen Passagen bestehend, stellt dagegen einen in mehrfachen Versuchen scheiternden Schlussteil dar. Eine ›Fassung‹ kann dieses Zeugnis intensiven Ringens nicht genannt werden. Das zweite handschriftliche Zeugnis (aus dem Brenner-Archiv) diente mit hoher Wahrscheinlichkeit als Druckvorlage und weist nur wenige Bleistift-Korrekturen auf. Es ist von Trakl mit seinem Namen unterzeichnet und mit der Angabe »Juni 1914« versehen worden. Bis auf zwei Änderungen in der Zeichensetzung (davon eine vermutlich auf Ludwig von Ficker zurückgehend) und eine kleine orthographische Variante (aus »Über« wurde »Ueber«) ist der Text mit dem Druck im Brenner-Jahrbuch identisch. Trakl hat, so wird angenommen (Sauermann 2004, 349 f.), die Gedichte, die er im Sommer

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1914 geschrieben hat und die im Brenner-Jahrbuch gedruckt wurden – darunter »Die Schwermut« – Ficker für den Druck übergeben. Die Zeitschrift wurde durch den Beginn des Krieges unterbrochen, und die weiteren Gedichte erschienen dann, nach Trakls Tod, mit Verspätung im Jahrbuch. Der hohe Stil des Gedichts und die stilisierte Diktion stehen in größtem Kontrast zur Krisensituation, in der sich Trakl im Sommer 1914 nach seiner Rückkehr aus Berlin und der Fehlgeburt seiner Schwester befindet.

Deutung Das ungereimte, aus 22 Versen unterschiedlicher Länge bestehende, zunächst sehr frei gestaltet erscheinende Gedicht (Zitation im Folgenden nach ITA IV.2, 232), ist gleichwohl klar strukturiert: Nach zwei Versgruppen von je neun Versen schließt es mit vier Zeilen; ein gewichtiges Substantiv setzt den Schlusspunkt: die »Mönchin«. In der ersten Versgruppe dominiert zunächst die G-Alliteration (»Gewaltig […] Geformte Gestalt […] Goldner Abendstille«); in den weiteren Versen wird das Klangbild von oLauten dominiert, die mit exponierten, am Vers­ ende befindlichen i-Lauten kontrastieren. Die zweite Versgruppe, welche Bewegung in die Szenerie bringt, zeigt eine Häufung der Abfolge a-e (»schwarzen«; »Soldaten«; »lachende«; »strahlender«) und intensiviert den hohen Stil, den schon der erste Vers des Gedichts angeschlagen hatte, durch gehäufte Ausrufe (»Ihr Soldaten!«; »Sprachlos!«; »O grollende Schwermut[…]«). Die vier Verse der letzten Gruppe wirken wieder gedämpft, und zugleich deutlich metrisch strukturiert: Vers 19 – »Herbstesnacht so kühle kommt« – ist eindeutig in fallend-alternierendem Metrum zu lesen; die Verse 20 und 22 sind genau gleich lang (fünf Silben) und weisen exakt dieselbe metrische Struktur – zweihebig, steigend-alternierend – auf. Der vorletzte Vers – »Über zerbrochenem Männergebein« – wiederum ist streng daktylisch angelegt. Sensibilisiert durch diese Beobachtungen, findet man auch in den Versen der ersten beiden Gruppen immer wieder metrische Strukturen, ins-

G. Braungart

besondere einzelne, klar konturierte Daktylen. Erwartbar in den Versen 10 und 11, wo von ›springenden Pferden‹ die Rede ist, aber auch in weiteren Versen (14, 16, 17); vereinzelt findet sich auch der Adoneus (»dämmernder Bergstrom«; »grollende Schwermut«), der klassische Klageruf, wie er etwa markant in Hölderlins »Hälfte des Lebens« eingesetzt wird. Hier bei Trakl scheint er jedoch nicht systematisch verwendet. Es gibt also durchaus Ordnungsstrukturen in einem Gedicht, das bereits im ersten handschriftlichen Ansatz ganz offenbar die Gefahr totaler Zerrüttung und Anomie abzuwehren sucht, wie sie in Trakls berühmtem Verzweiflungsbrief (vermutlich von Anfang April 1914, im Kontext des Berlinbesuchs bei seiner Schwester; Weichselbaum 2014, 156; ITA V.2, 583) bedrückend formuliert ist. Im Entwurf wird, deutlicher als in der Druckfassung, und erinnernd an Trakls letztes Gedicht, der Schrecken des Krieges (der Trakl mit seiner Teilnahme an der Schlacht bei Grodek ja erst noch bevorstand), in antikisierender, ja ›homerisierender‹ Weise gedämpft, heroisierend stilisiert. Da ist von ›purpurner Stirn‹ die Rede (ITA IV.2, 221, Z. 33 f., ›Purpur‹ ist bei Homer häufig belegt, u. a. für Gewänder und für Blut; Meineke 2021), von ›zerbrochenem Kriegergebein‹ (ebd., Z. 44); und bereits die Gattungsbezeichnung im Titel des Entwurfs (»Gesang«) evoziert in diesem semantischen Kontext die Welt des (griechischen) Epos (Sauerwein 2000, 327). Möglicherweise hat Trakl in diesen schwer krisenhaften Monaten die Welt der antiken Helden als Bewältigungsmodell gesehen (Mengaldo spricht in diesem Zusammenhang vom ›homerischen Stil‹, 2016, 338), bis hin zu »Grodek«, wo die entsprechenden semantischen Felder geradezu systematisch adressiert werden. »Die Schwermut« ist das letzte der explizit auf die Melancholie-Thematik bezogenen Gedichte Trakls. Eine systematische semantische Differenzierung zwischen den beiden Begriffen scheint es für Trakl nicht zu geben (Benzenhöfer 1990, 215–217). Der Index zu Georg Trakl (zu den Dichtungen) verzeichnet über 50 Belege für »Schwermut« und nur wenige für »Me-

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lancholie« (Klein/Zimmermann 1971, 94 und 119). Es mag auch eine Rolle gespielt haben, dass »Schwermut« leichter in Verse (auch bei freieren, nicht streng metrisch geregelten, ungereimten Gedichten) integriert werden kann. Folgt man der These Völkers (Völker 1978, 85–109, hier bes. 103 f.), derzufolge sich die Funktion des Melancholie-Syndroms in den Gedichten Trakls von einer ästhetischen Bewältigung (etwa in »Melancholie des Abends«) hin zu einer religiösen (ob gelingend oder nicht) verändert, dann kann man für »Die Schwermut« konstatieren, dass die Tradition der Melancholie-Topik beinahe komplett fehlt und die Befriedung des Subjekts, unterstützt durch eine virtuos gebändigte regelmäßige Form (wie etwa exemplarisch in Nikolaus Lenaus Doppelsonett »Einsamkeit« von 1840), hier aufgegeben ist. Die melancholische Landschaft, die zugleich Seelenlandschaft und Naturumgebung ist, wird dynamisiert: Eine beruhigte, aber ›absterbende‹ Szenerie, wie sie die erste Versgruppe entfaltet, wird in der zweiten Gruppe (auch metrisch) durch die Evokation einer kriegerischen Aktion belebt und in der Schlusspassage resignativ in eine kosmische Statik überführt. Dem entspricht jeweils auch die syntaktische Struktur: Die erste und die dritte Versgruppe sind eher von langen Satzbögen geprägt, die mittlere durch Ausrufe und knappe, abgehackte, elliptische Sätze. Den Titel der endgültigen Fassung ambiguisiert die Überschrift, die Trakl dem Gedicht noch im ersten Entwurf gegeben hatte. Nun handelt es sich nicht mehr (nur) um den »Gesang der Schwermut«, sondern um die Charakterisierung der Melancholie selbst durch ein lyrisches Ich. Die ersten vier Verse, auch durch die G-Alliterationen als Einheit gestaltet, explizieren die Melancholie als »Mund / Im Innern« und rufen damit die lange poetologische Tradition der Melancholie-Topik auf. »Geformte Gestalt«, die ästhetische Leistung, ja ästhetische Ordnung (etwa im Sonett) wird seit dem 17. Jahrhundert als Antidot gegen die Krankheit Melancholie beschworen. Die Trümmer und Ruinen der traditionellen Melancholiedarstellungen finden ihr Pendant in der Andeutung einer Landschaft, die gerade noch mimetisch genannt werden kann.

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Der als »gewaltig« apostrophierte »dunkle Mund / Im Innern« (das ist eine prägnante poetologische Metapher), artikuliert eine Szene, die Abend, Melancholie, Gold und Tod kombiniert, wie es sich bei Trakl immer wieder findet. Aktivität und Tatkraft, als Elemente einer traditionellen Melancholie-Therapie, scheinen die zweite Versgruppe zu bestimmen. Hier wird allerdings nicht wirklich heroisiert (wie etwas später in »Grodek«), sondern eher bitter ironisiert. Die Perspektive der »Soldaten« – es ist also nicht (wie in »Grodek«) von ›Helden‹ und ›Kriegern‹ die Rede – wird am Ende auf ein Einzelschicksal fokussiert, metonymisch angedeutet durch einen ›strahlenden Helm‹, der von einer blutenden Stirn fällt. Die kühne Metapher vom ›lachenden Blut‹ (die schon – wie die meisten Elemente dieses Mittelteils – im Entwurf vorhanden war) macht aus der habituellen Metapher ›Blutlache‹ einen dämonischen Anthropomorphismus ohne Anschauungswert: ein charakteristisches Beispiel für Trakls Technik der absoluten Metapher. Die Architektur des Gedichts wäre vorläufig so zusammenzufassen: Eine melancholische Landschaft, aus ›dunklem Mund‹ der Melancholie entfaltet (im ersten Teil des Gedichts), erfährt eine von Gewalt und Tod geprägte Dynamisierung (im zweiten Teil), die »sprachlos« macht und insofern die ›gewaltige‹ Stimme der Melancholie des ersten Teils dekonstruktiv dementiert. (Dekonstruktiv deshalb, weil das Gedicht selbst ja keineswegs sprachlos ist, sondern geradezu demonstrativ stilistisch aufgerüstet ist). Der dritte Teil aus vier knappen Versen öffnet die Perspektive auf eine Nacht hin, welche die Schlacht mit ›Kühle‹ und ›Sternenglanz‹ hinter sich lässt. Wie »Grodek« oder »De profundis« (II) führt auch »Die Schwermut« vom Abend in die Nacht. Den Abschluss bildet die kosmisch dimensionierte Verfremdung einer Marienerscheinung, mit einer Himmelskönigin im Sternenglanz, die über dem Schlachtfeld steht, welches seinerseits, durch doppelte metonymische Verschiebung aus dem »Männergebein« konstituiert, von resignativer Zeitlosigkeit geprägt ist. Die ›Mönchin‹, als weibliches Pendant zu dem bei Trakl durchaus ambivalent codierten

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›Mönch‹ (»Drei Blicke in einen Opal«: »Mönche der Wollust bleiche Priester«, ITA II, 142; zur »Mönchin« vgl. Weichselbaum 2016, 126) ruft vergleichbare Figuren in Trakls Kosmos auf: die »sanfte Waise« aus »De profundis« (II) (ITA II, 121) oder die »Schwester«. In dieser Schlussvision wird, alliterierend verknüpft, ein dezidierter, genderbezogener Gegensatz aufgebaut: Über dem horizontal verstreuten »zerbrochenen Männergebein« wird in der Vertikalen die »stille Mönchin« aufgerichtet, als apokalyptischeschatologisches Versprechen (Nicolai 2006, 137 f.). Insofern gestaltet der Protestant Trakl, dem man zu Recht eine »völlige Destruktion jeder religiösen Sinngebung« attestiert hat (Wolfgang Braungart 1996, 27; vgl. Braungart 2000), hier ein geradezu emblematisches statuarisches Schlussbild, das dekonstruktiv mit katholischen Versatzstücken arbeitet und schließlich doch als (vergebliche?) poetische Melancholie-Therapie angesehen werden kann.

Rezeptionsgeschichte »Die Schwermut« stand offenbar im Schatten der anderen Melancholiegedichte, in deren Kontext es immer wieder erwähnt, aber nicht eingehender analysiert wurde. Einzelne Motive (»Mönchin«, kriegerische Motivik, melancholische Landschaft), die sich durch Trakls gesamtes Werk ziehen, werden auch in diesem Gedicht identifiziert und als Belege für übergreifende Thesen herangezogen. Ludwig Völker behandelt in seiner einflussreichen Monographie zur Tradition der Melancholie als »Muse« und der Poesie als »Therapeutikum« Trakls Gedicht als letztes in seinem Durchgang durch dessen Werk. Er resümiert, dass bei Trakl die »Sprache der Melancholie« (Völker 1978, 109) eine Klage kurz vor dem Verstummen sei (wodurch sie durchaus in den Kontext der Sprachkrise der Moderne gehört) und wertet sie als eine Absage an »eine scheinhafte ästhetische Versöhnung« (ebd.). Steinkamp untersucht die »Raumstruktur« detailliert und kommt zu der These, dass sich Trakl in dieser Phase seines Schaffens die »Raumzone des Gebirges« (Steinkamp 1988, 110) erobere.

G. Braungart

De Felip unternimmt den innovativen Versuch, Trakls Lyrik kognitionswissenschaftlich zu erschließen. Dabei bezieht sie (in tendenziell zirkulärer Argumentation) Laut- und Metaphernstruktur der Gedichte auf Trakls »aufs äußerste gesteigerte Wahrnehmungsintensität« (De Felip 2016, 226). Die poetologischen Dimensionen und dekonstruktiven Momente dieses Gedichts (wie auch anderer Melancholiegedichte Trakls) sind durchaus noch nicht angemessen gewürdigt.

Literatur Benzenhöfer, Udo: Melancholie und Schwermut in den Gedichten Georg Trakls. In: Dietrich von Engelhardt/ Horst-Jürgen Gerigk/Guido Pressler/Wolfram Schmitt (Hg.): Melancholie in Literatur und Kunst. Hürtgenwald 1990, 214–228. Braungart, Wolfgang: Zwischen Protestantismus und Katholizismus. Zu einem poetischen Strukturprinzip der Lyrik Georg Trakls. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 119 (2000), 545–563. Braungart, Wolfgang: Zur Poetik literarischer Zyklen. Mit Anmerkungen zur Lyrik Georg Trakls. In: Károly Csúri (Hg.): Zyklische Kompositionsformen in Georg Trakls Dichtung. Szegeder Symposion. Tübingen 1996, 1–27. Brenner-Jahrbuch 1915. Innsbruck 1915. Csúri, Károly: Poetologische Überlegungen zu Trakls Lyrik. In: Uta Degner/Hans Weichselbaum/Norbert Christian Wolf (Hg.): Autorschaft und Poetik in Texten und Kontexten Georg Trakls. Salzburg/Wien 2016, 251–270. De Felip, Eleonore: Spiegelbilder einer hohen Wahrnehmungsbegabung. Georg Trakls Gedichte Am Abend und Die Schwermut im Lichte der Kognitiven Poetik. In: Roman Mikuláš/Sophia Wege (Hg.): Schlüsselkonzepte und Anwendungen der Kognitiven Literaturwissenschaft. Münster 2016, 211–228. Falk, Walter: Leid und Verwandlung. Rilke, Kafka, Trakl und der Epochenstil des Impressionismus und Expressionismus. Salzburg 1961. Klein, Wolfgang/Zimmermann, Harald: Index zu Georg Trakl: Dichtungen. Frankfurt a.M. 1971. Meineke, Eva: Purpur. In: Günter Butzer/Joachim Jacob (Hg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole. Berlin 32021, 484–486. Mengaldo, Elisabetta: »Ein Schatten bin ich…«? Die Entwicklung des lyrischen Subjekts bei Trakl. In: Uta Degner/Hans Weichselbaum/Norbert Christian Wolf (Hg.): Autorschaft und Poetik in Texten und Kontexten Georg Trakls. Salzburg/Wien 2016, 323–341. Millington, Richard: »Immer wieder kehrst du, Melancholie«: Plotting Georg Trakl’s Poetic Sacness. In: Mary Cosgrove/Anna Richards (Hg.): Sadness and

64  »Die Schwermut« (1914) Melancholy in German-Language Literature and Culture. Rochester/New York 2012, 95–111. Sauermann, Eberhard: Probleme der Autorisation bei Trakl. In: Thomas Bein/Rüdiger Nutt-Kofoth/Bodo Plachta (Hg.): Autor – Autorisation – Authentizität. Tübingen 2004, 345–355. Sauermann, Eberhard: Sprachnot und Heimatlosigkeit als Zeichen von Trakls Existenzkrise im Frühjahr 1914. In: Zeitschrift für Germanistik 10 (2000), 316-330. Schuchhardt, Nicolai: Todesdarstellung und Jenseitsphantasien in der Lyrik Georg Trakls. Diss. Marburg 2006.

393 Steinkamp, Hildegard: Die Gedichte Georg Trakls. Vom Landschaftscode zur Mythopoesie. Frankfurt a.M./ Bern/New York 1988. Völker, Ludwig: Muse Melancholie – Therapeutikum Poesie. Studien zur Melancholie-Problematik in der deutschen Lyrik von Hölty bis Benn. München 1978. Weichselbaum, Hans: Georg Trakl. Eine Biographie. Salzburg 2014. Weichselbaum, Hans: Die Figur des Mönchs bei Georg Trakl. In: Uta Degner/Hans Weichselbaum/Norbert Christian Wolf (Hg.): Autorschaft und Poetik in Texten und Kontexten Georg Trakls. Salzburg/Wien 2016, 117–131.

»Klage« (II) (1914)

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Uta Degner

»Klage« (II) entstand in unmittelbarer Nähe zu »Grodek«, nach Auskunft des Freundes und Brenner-Herausgebers Ludwig von Ficker »im Feld« (Ficker 1926, 161). Es wurde – gemeinsam mit »Grodek« – am 27.10.1914 als Teil eines Briefes aus dem Garnisonsspital Nr. 15 in Krakau, wo sich Trakl nach seinem traumatisierenden Kriegseinsatz und einem anschließenden Selbstmordversuch befand, an Ludwig von Ficker übersandt (Abb. 65.1). Das Gedicht wurde im Jahrbuch 1915 der Zeitschrift Der Brenner erstpubliziert. Das einstrophige, 12 Verse umfassende Gedicht ist freirhythmisch. Die großteils parataktischen Sätze zeugen von einer Konzentration auf Wesentliches. Am Beginn wird ein mentaler Zustand beschrieben: »Schlaf und Tod, die düstern Adler / Umrauschen nachtlang dieses Haupt« (ITA IV.2, 332, Zitation im Folgenden nach dieser Fassung). Die Metapher fliegender Vögel als Umschreibung einer dunklen Gemütsverfassung findet sich ähnlich im Auftakt von »Anif« vom Dezember 1913: »Erinnerung: Möven, gleitend über den dunklen Himmel / Kindlicher [Männlicher] Schwermut«

U. Degner (*)  Fachbereich Germanistik, Paris Lodron Universität Salzburg, Salzburg, Österreich E-Mail: [email protected]

(ITA III, 330). Die in »Klage« (II) dem Doppelpunkt folgende Vernichtungsszene – »Des Menschen goldnes Bildnis / Verschlänge die eisige Woge / Der Ewigkeit« – ist durch den Konjunktiv II als Vorstellung gekennzeichnet. Der sie fortsetzende, folgende Satz steht allerdings im Indikativ: »An schaurigen Riffen / Zerschellt der purpurne Leib.« In Vers 7 f. wird die titelgebende Klage-Thematik explizit: »Und es klagt die dunkle Stimme / Über dem Meer.« Vers 9 ruft die Figur der Schwester an, die wie in »Grodek« von einer auffallenden »Sch«-Alliteration begleitet ist: »Schwester stürmischer Schwermut«. In den letzten Versen folgt nochmals ein Bild des Untergangs, eingeleitet durch einen an die Schwester gerichteten Imperativ, Zeugin zu werden: »Sieh ein ängstlicher Kahn versinkt / Unter Sternen, / Dem schweigenden Antlitz der Nacht.« »Klage« (II) lässt sich als verdichtete Version von Trakls später Poetik lesen, für welche Klage zentrales Motiv und Artikulationsmodus zugleich ist. Die Trakl-Konkordanz verzeichnet einige Dutzend explizite Erwähnungen des Worts (Wetzel 1971, 355 f.), unter Trakls letzten, im Brenner-Jahrbuch 1915 abgedruckten Gedichten findet sich bezeichnenderweise noch ein zweites mit demselben Titel (abgedruckt im BrennerJahrbuch 1915, 11). Wie in »Grodek« steht die Relevanz der Klage in unmittelbarem Zusammenhang mit einer Vernichtungserfahrung. Während sie dort allerdings ausdrücklich dem

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konkreten Kriegserlebnis zugeordnet ist – »umfängt die Nacht / Sterbende Krieger, die wilde Klage / Ihrer zerbrochenen Münder« (ITA IV.2, 338) –, gilt sie in »Klage« (II) dem »Menschen« schlechthin, wobei eine solche Ausweitung freilich auch in »Grodek« angelegt ist. Die Thematik der menschlichen Vanitas – Trakl hat sich in seinen letzten Wochen intensiv mit dem spätbarocken Lyriker Johann Christian Günther beschäftigt (vgl. Ficker 1926, 162–164) – artikuliert sich in Metaphern von nahezu plakativer Schlichtheit oder zumindest klassischer Klarheit (ebenso klassisch vielfach begleitet von einem Epitheton), die dem traditionellen Bildbereich des Schiffbruchs entstammen. Die menschliche Stimme der Klage als Reaktion auf die erfahrene Endlichkeit tritt dabei in Entgegensetzung zu dem »schweigenden Antlitz der Nacht«. Die Anthropomorphisierung der Nacht macht ihr Schweigen umso beredter: Sie exponiert die kosmische Gleichgültigkeit dem menschlichen Schicksal gegenüber. Aus dem Gedichtkontext heraus bietet es sich an, das Attribut »Schwester«, das in Vers 9 scheinbar unvermittelt angerufen wird, auf das letzte zuvor genannte Subjekt zu beziehen: auf die »dunkle Stimme«. Sie ist die Begleiterin der »stürmische[n] Schwermut« des impliziten Ich, die aus der Einsicht in die existentielle Vergänglichkeit und Sinnlosigkeit der menschlichen Existenz resultiert. Ihre ›Schwesternschaft‹ versinnbildlicht Solidarität, ermöglicht Kommunikation – auch das Ich redet sie ja an – und besitzt so eine fast tröstliche Dimension angesichts der negativen Fatalität. Wessen Stimme hier jedoch ertönt – ob die eines menschlichen Gegenübers oder die des Ichs selbst –, lässt das Gedicht offen. Möglich ist es, die Stimme als Metonymie der Dichtung an sich zu verstehen, wie sie nicht zuletzt in der Verbindung von Gesang und Klage bereits in der Antike angelegt ist. Alfred Doppler weist auf die Reminiszenzen des OrpheusMythos hin: »›Die dunkle Stimme‹ des Sängers ist die Stimme des von den Bacchantinnen zerrissenen Orpheus, der als ein Gescheiterter den ihn zerreißenden Schmerz aussingt« (Doppler 1997, 388; vgl. auch Trakls »Passion«: ITA IV.1, 119: »Wenn silbern Orpheus die Laute rührt, /

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Abb. 65.1  Trakls »Testamentsbrief« beiliegende Nieder­ schrift von »Klage« (II); Forschungsinstitut BrennerArchiv, Nachlass Ludwig von Ficker.

Beklagend ein Totes im Abendgarten –«). Mit dieser Anspielung ist die eigentümliche Kraft der Klage erinnert, sich noch über den Tod hinaus Gehör zu verschaffen und damit die zunächst universell scheinende Vanitas zu unterlaufen. Trakls Gedicht hat diese Wendung in einer raffinierten Inversion gestaltet: Den Satz der Verse 3 bis 6 – »Des Menschen goldnes Bildnis / Verschlänge die eisige Woge / Der Ewigkeit« – liest man zunächst, analog zum gedanklichen Gehalt, mit der »Woge / Der Ewigkeit« als Subjekt, welche »[d]es Menschen goldnes Bildnis« zu verschlingen droht. Der konventionellen Satzfolge gemäß steht jedoch »[d] es Menschen goldnes Bildnis« in der Subjektposition und hätte in solcher Funktion die Fähigkeit, »die eisige Woge / Der Ewigkeit« zu nivellieren. Die Wortfügung »goldnes Bildnis« wäre demnach nicht eine Kennzeichnung des Menschen an sich, sondern meinte spezifischer die menschliche Kunstproduktion. Auch der Irrealis wäre motiviert, konstituiert sich die Dichtung doch im Imaginären. Die bildlichen Imagi-

65  »Klage« (II) (1914)

nationen des Gedichts erschaffen keine Gegenwelt mehr wie noch die frühen Gedichte Trakls: Ganz im Gegenteil dienen sie der reflexiven Erkenntnis, die eine immense Negativität zutage fördert. Die lautliche Gegenwart der dichterischen Stimme behauptet sich jedoch gegenüber der konstatierten Nivellierung. Dazu tragen insbesondere Trakl-typische Klangwiederholungen bei, hier die Kette der »Sch«-Laute: »Schlaf« (V. 1); »Umrauschen« (V. 2) – »Menschen« (V. 3) – »Verschlänge« (V. 4) – »schaurigen« (V.5) – »Zerschellt« (V. 6) – »Schwester stürmischer Schwermut« (V. 9) – »Sternen« (V. 11) – »schweigenden« (V. 12). Bezeichnenderweise pausiert diese Kette gerade dort, wo über die Stimme gesprochen wird (V. 7 f.). Auch die S-Laute in Vers 10 wären zu nennen und womöglich wird noch das Farbadjektiv »purpurne« (V. 6) vor allem wegen seinen beiden identischen Silben gewählt. Wie die Metaphern mit ihrer Bildlichkeit stellen auch die lautlichen Wiederholungs- und Echostrukturen der konstatierten Vergänglichkeit eine andauernde Präsenz entgegen. Diese performative Selbstbehauptung des Gedichts setzt eine interne Dynamik in Gang, die sich in Trakls späten Gedichten wiederholt bemerkbar macht und auch programmatisch explizit wird. So heißt es etwa in der letzten Strophe von »Nachtergebung«: »Mondeswolke! Schwärzlich fallen / Wilde Früchte nachts vom Baum / Und zum Grabe wird der Raum / Und zum Traum dies Erdenwallen«

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(ITA IV.2, 303). Die Frucht vom Baum der Erkenntnis ist »[s]chwärzlich«, denn sie vermittelt die Einsicht in die Sterblichkeit: »zum Grabe wird der Raum«. In einer paronomastischen Verwandlung wird dann aber dieser Grabesraum wiederum »zum Traum« transformiert: in einer Bewegung, die das Gedicht durch seinen metrischen Singsang und Reimstruktur unterstützt. Trakls »Klage« ist »Ausdruck einer tiefen Daseinsangst« (Weichselbaum 2014, 168). Der Klang dieser Klage jedoch trotzt ihr eine Bannkraft ab, die den Tod des Dichters überdauert.

Literatur Doppler, Alfred: Gewalt und Klage. Bemerkungen zu einem zentralen Thema in der Lyrik Georg Trakls. In: Johann Holzner/Oskar Putzer/Max Siller (Hg.): Literatur und Sprachkultur in Tirol. Innsbruck 1997, 381–389. Ficker, Ludwig von: Briefe Georg Trakls an Freunde. In: Erinnerung an Georg Trakl. Innsbruck 1926, 115– 169. Kemper: Hans-Georg: Droge Trakl. Rauschträume und Poesie. Salzburg/Wien 2014. Millington, Richard: The Gentle Apocalypse. Truth and Meaning in the Poetry of Georg Trakl. Rochester (NY) 2020. Strohschneider-Kohrs, Ingrid: Fast schon jenseits der Welt. Georg Trakls Gedicht »Klage«. Warmbronn 2010. Weichselbaum, Hans: Georg Trakl. Eine Biographie. Salzburg/Wien 2014. Wetzel, Heinz: Konkordanz zu den Dichtungen Georg Trakls. Salzburg 1971.

»Grodek« (1914)

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Entstehung und Überlieferung Trakls letztes Gedicht »Grodek« gilt als sein »poetisches Testament« (Pesnel 2017, 151) und hat entsprechend seiner biographischen Bedeutung häufig das Interesse der Forschung auf sich gezogen. Es ist allein in einer handschriftlichen Version überliefert, die Trakl Ludwig von Ficker, dem Herausgeber der Zeitschrift Der Brenner, am 27.10.1914 aus dem Garnisonsspital Nr. 15 in Krakau übersandt hat (Abb. 66.1a und 66.1b). Dorthin war Trakl nach einem Einsatz als Medikaments-Akzessist einer Sanitätskolonne in der im Titel aufgerufenen Schlacht von Grodek, Ost-Galizien (8. bis 11.9.1914), zur Beobachtung seines Geisteszustandes eingeliefert worden, und dort hatte ihn Ficker am 25./26.10. besucht – wenige Tage, bevor Trakl seinem Leben durch eine vermutlich bewusst eingenommene Überdosis Kokain ein Ende setzte. Ficker berichtet von den traumatisierenden Umständen dieses Kriegseinsatzes: Trakl hatte zwei Tage lang neunzig Schwerverwundete ohne ausreichende Medikamente zu versorgen; beim Verlassen des Lazaretts bot sich ihm ein nicht weniger grausamer

U. Degner (*)  Fachbereich Germanistik, Paris Lodron Universität Salzburg, Salzburg, Österreich E-Mail: [email protected]

Anblick erhängter Ruthenen (vgl. Ficker 1926, 158 f.). Der Dichter hatte seinem Besucher eine frühere Version des Textes vorgetragen, von der Ficker eine ausführlichere Schlusspassage erinnert, die jedoch nicht überliefert ist. »Grodek« erscheint in dem brieflichen Kontext als zweites Gedicht nach »Klage« (II) und ist begleitet von Zeilen, in denen sich der Dichter äußerst niedergeschlagen zeigt: »Seit Ihrem Besuch im Spital ist mir doppelt traurig zu Mute. Ich fühle mich fast schon jenseits der Welt« (ITA V.2, 689). Es folgt eine testamentarische Notiz, in welcher Trakl seine Schwester Grete zu seiner Erbin bestimmt. Die Handschrift des Gedichts (vgl. ITA IV.2, 336) weist eine besondere Eigentümlichkeit auf, indem sie nach der ersten Satzperiode von lateinischer zu deutscher Kurrentschrift, Trakls gewöhnliche Handschrift, wechselt. Laut dem Kommentar der ITA benutzte Trakl die lateinische Schrift aufgrund ihrer besseren Lesbarkeit zur Reinschrift von Entwürfen (vgl. ITA V, 691); und tatsächlich gibt es mit der Umstellung auf Kurrentschrift Korrekturen, so beispielsweise in V. 6 »sammet« zu »sammelt«. Denkbar wäre also, dass die Variation des Schlusses spontan im Akt der Niederschrift entstanden ist. Das Gedicht wurde mit kleinen Emendationen zusammen mit anderen Texten Trakls im Brenner Jahrbuch 1915 unter der Überschrift »Georg Trakl: Seine letzten Gedichte« publiziert.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_66

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Abb. 66.1a und b  Trakls »Testamentsbrief« mit der einzigen überlieferten Fassung von »Grodek«. Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Nachlass Ludwig von Ficker.

Aufbau Das freirhythmische und strophenlose Gedicht gliedert sich in vier Sätze unterschiedlicher Länge, wobei die ersten drei durch Semikola unterteilt sind. Syntaktisch erzeugen Inversionen und Ambiguitäten der Attribuierung den Eindruck einer »Satzauflösung« und »Unfestigkeit« (Kaiser 1996, 623), auf der anderen Seite schafft eine Vielzahl von Lautbeziehungen Kontiguitäten, die gerade Disparates aufeinander beziehen. Dieses ästhetische Prinzip wird bereits in Vers 1 und 2 eingeführt: Der erste Vers ist gänzlich im idyllischen Stilregister gehalten: »Am Abend tönen die herbstlichen Wälder« (ITA IV.2, 337), mit dem Verssprung kommt die lebensvernichtende Dimension des Krieges ins Spiel: »Von tötlichen Waffen«. Die Schreibweise des Adjektivs »tötlich[]« mit hartem t macht die Dissonanz von »tönen« und ›töten‹ auch akustisch hörbar. Zugleich exponiert die Paronomasie, wie sehr Idylle und Apokalypse hier voneinander durchdrungen sind: Das zunächst scheinbar liebliche ›Tönen‹ erweist sich

beim Weiterlesen als akustisches Signal der Zerstörung. Auffallend ist die Klangkette der ÖUmlaute, welche diesen lautlichen Auftakt im Gedicht fortsetzt und die Trakl scheinbar so wichtig war, dass er dafür in Vers 8 – wie bereits bei »tötlich[]« – vom korrekten Deutsch abweicht: »Rötes Gewölk«. Vers 14 nimmt dann mit »tönen« und »Flöten« wieder den Gedichtanfang auf (vgl. Ortlieb 2016, 171). Begleitet wird diese Lautassoziation von einer Häufung von Ü-Umlauten: »darüber«, »Düstrer«, »Münder«, »zürnender«, »Kühle«, »münden«, »grüßen«. Inhaltlich kontrastiert »Grodek« eine arkadische Naturwelt der »herbstlichen Wälder«, »goldnen Ebenen / und blauen Seen«, mit verheerenden Schlachtbildern: »zerbrochene[] Münder« und »blutende[] Häupter«. Beide Bildebenen sind so ineinander montiert, dass ihre Diskrepanz herausgestellt wird, zugleich aber eine Separierung unmöglich ist. Die Vorstellung eines stimmungsvollen, »goldnen« Abendglanzes im Bild der untergehenden Sonne bekommt in Vers 4 etwas Unheilvolles, wenn es

66  »Grodek« (1914)

heißt, dass sie »Düstrer hinrollt«. Die Natur wird zum Resonanzraum der menschlichen Destruktivität, sie wird affiziert vom kriegerischen Geschehen, spendet aber zugleich Trost. Wenn in Vers 4–6 die Nacht »[s]terbende Krieger, die wilde Klage / Ihrer zerbrochenen Münder« »umfängt«, erscheint sie als mütterliche Figur gegenüber den entpersonalisierten, im Todeskampf begriffenen Männern. Der Duktus des Gedichts tendiert zum Erhabenen; die Artikulationsinstanz nimmt von Anfang an einen erhöhten Standpunkt ein, was sich in der Übersicht über die weite Landschaft zeigt. Wenn der Blick in Vers 7–10 auf das sich »still[]« sammelnde Blut »im Weidengrund« gerichtet wird, untermalen der getragene Rhythmus und die hohe Stilebene die Distanz gegenüber dem wilden Geschehen. In Kombination mit dem zerstückelten Satzbau wirkt die Geste der Erhabenheit allerdings prekär, denn sie ist womöglich nur der letztlich nicht gelingende Kompensationsversuch eines ›ohnmächtigen Zuschauers‹ (vgl. Braun 1915, 1). Die mythisierende Tendenz, die sich lautlich auch in Hexameter-Anklängen Gehör verschafft, wird in der Rede vom »zürnende[n] Gott« explizit. Der ›hitzige‹ Krieg wird einer »mondne[n] Kühle« ausgesetzt, die sich auch in einer Verlangsamung des Rhythmus niederschlägt. Es folgt in Vers 10 eine durch Semikolon sowohl abgesetzte wie angehängte Aussage, in der viele Interpreten das Zentrum des Gedichts sehen (vgl. Ortlieb 2016, 206) und die sich als eine Art Resümee des bislang Exponierten verstehen lässt: »Alle Straßen münden in schwarze Verwesung«. Die Mittelgnome verleiht dem Dargestellten einen negativen Fatalismus, das menschliche Kriegsgeschehen wird als Vollzug einer mythisch angelegten Vorbestimmung deutbar; zugleich bewältigt sie die Erfahrung des Kriegs durch deren Eingliederung in den naturhaften Prozess der »schwarze[n] Verwesung«. Wie bei anderen Gedichten Trakls sind auch hier Tageszeit (Abend und Nacht) und Jahreszeit (Herbst) allegorisch als geschichtsphilosophische Allegorien gelesen worden, die den ›Untergang des Abendlands‹ inszenierten (vgl.

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in diese Richtung zuletzt Millington 2017, 268 u. 275). Mathias Mayer hat herausgearbeitet, wie »Grodek« die Weltalter-Mythe aktualisiert und den Übergang vom ehernen zum eisernen Zeitalter als Dekadenzerzählung in Szene setzt, sich jedoch im Gedicht alle Zeitalter »in einer schrillen, kubistischen Gleichzeitigkeit« (Mayer 2010, 82 f.) präsentieren. Das goldene, paradiesische Zeitalter wird in den »goldnen Ebenen« anzitiert, die »mondne Kühle« ruft den silbernen Mond und damit das Zeitalter auf, in welchem die Menschen zur Arbeit und festen Wohnungen genötigt sind. Das eherne Zeitalter – evoziert in den »ehernen Altäre[n]« – ist »bereiter, zu schrecklichen Waffen zu greifen« (Ov. met. I, 126 f., Ovid 2014, 44–46). Das letzte, das eiserne Zeitalter koinzidiert mit dem tatsächlichen Kriegszustand, Gewalt und Verrat triumphieren. Die gleichzeitige Kopräsenz der Weltalter relativiert den Eindruck einer mythischen Zwangsläufigkeit, denn eine nachvollziehbare Entwicklung gibt es nicht, auch keine Aufklärung darüber, ob die Apokalypse des Kriegs im Gedicht final motiviert ist oder kausal (und damit doch im menschlichen Verantwortungsbereich liegt).

Ein Erlebnisgedicht? Der topographische Eigenname im Titel funktioniert als eine ikonische Spur zur Wirklichkeit. (Es ist dabei nicht unwichtig, dass die ›letzten Gedichte‹ Trakls im Erstdruck im Brenner Jahrbuch datiert wurden; »Grodek« mit »September 1914«, Brenner Jahrbuch 1915, 14; vgl. Mayer 2010, 80 f.) Diese gesetzte Referenz blieb für jede Gedichtlektüre ein konstitutives Element der Interpretation. Bereits Ficker profilierte »Grodek« als »die Vergeistigung jener letzten erschütternden Eindrücke, an denen sein junges Leben vollends zusammengebrochen ist. Es ist so sehr erlebt, daß er daran gestorben ist« (zitiert nach Holzner 2009, 237). Trotz der genauen biographischen Lokalisierung sperrt sich »Grodek« aus mehreren Gründen gegen eine

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Klassifizierung als Erlebnislyrik, wie bereits das Fehlen eines expliziten lyrischen Ichs deutlich macht. Zum einen begegnet die Welt des Krieges – wie im Expressionismus generell – in ganz ähnlichen Bildern in Trakls Texten schon vor seinem realen Ausbruch. So nimmt etwa das Gedicht »Die Schwermut« vom Juni 1914 in seiner zweiten Strophe zentrale Bilder von »Grodek« vorweg: »Ihr Soldaten! / Vom Hügel, wo sterbend die Sonne rollt / Stürzt das lachende Blut – / Unter Eichen / Sprachlos! O grollende Schwermut / Des Heers; ein strahlender Helm / Sank klirrend von purpurner Stirne« (ITA IV.2, 225 u. 227). Krieg fungiert als Metapher für die unheilvolle Welt der Gegenwart und präfiguriert die Erlebniswelt von »Grodek«, so zum Beispiel in »Im Osten« vom August 1914: »Mit zerbrochnen Brauen, silbernen Armen / Winkt sterbenden Soldaten die Nacht. / Im Schatten der herbstlichen Esche / Seufzen die Geister der Erschlagenen« (ITA IV.2, 322). Dass die dann in Grodek erlebte Kriegswirklichkeit in ein eminent lyrisch kodiertes Stilregister eingebunden wird, stellt die generelle Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit – und in Hinblick auf die Bedeutung des Gedichts für das Sterben Trakls in besonders dringlicher Weise. Die Relation von dichterischer Imagination und Realität erweist sich in »Grodek« als besonders intrikat, holt letztere doch erstere ein, wie Walter Höllerer pointiert formulierte: »Trakl erlebte, was er benannt hatte« (Höllerer 1956, 419). »Seltsam genug, daß er aus den Eindrücken von Grodek, woran er doch gestorben ist, noch ein Gedicht machen konnte!«, bemerkte bereits Hugo von Hofmannsthal gegenüber Stefan Zweig (Brief vom 29.8.1915, zitiert nach Mayer 2010, 86). Psychologisch ließe sich der erhabene Ton als Versuch einer Bewältigung der persönlich erlebten Katastrophe interpretieren, als Version einer psychischen Stabilisierung im Medium der Dichtung, die der Dichter nach einem Selbstmordversuch bitter nötig gehabt hätte. Nicht nur Trakls früher Tod, sondern mehr noch das Gedicht selbst mit seiner Engführung von Wirklichkeit und literarischer Darstellung lassen ein solch funktionales Verständnis von Literatur, das auf einer strikten Unterscheidbarkeit beider

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Bereiche fußt, jedoch unplausibel werden. »Grodek« fungiert vielmehr als »Kippfigur« (Klessinger 2016, 275), es ist nicht nur in seinem sprachexperimentellen Charakter, sondern auch in seiner Übergängigkeit von Kunst und Leben – und ihr Münden in den Tod – ein dezidiert avantgardistischer Text.

Zwischen Pathos und Ironie Die emotionale Spannbreite des Gedichts ist beachtlich: Die verwundeten Soldaten ›klagen‹, ein Gott ›zürnt‹, die »Trauer« ist durch einen ungewöhnlichen Komparativ als »stolzere« charakterisiert, worin zuerst Buck (1995, 176) eine ironische Volte gesehen hat: als Parodie der stereotypen Rede von der ›stolzen Trauer‹ in den Todesanzeigen gefallener Soldaten. Auch hier ist ein konfrontatives Kompositionsprinzip zu erkennen: Während »die Flöten des Herbstes« elegisch gemäßigt »leise tönen«, setzt sich der unmittelbar folgende Ausruf durch seinen belebten Duktus von der Natur ab. Das Pathos des ›gewaltigen Schmerzes‹, der »[d]ie heiße Flamme des Geistes nährt« opponiert der »mondne[n] Kühle«. Die Anrufung der »ehernen Altäre« als menschengemachte Instrumente sakralen Gottesdienstes kehrt am Schluss den Blick erneut auf die conditio humana und aktualisiert die bereits verstummte wilde Klage der Sterbenden mit Blick auf die Zukunft, auf die »ungebornen Enkel« – performativ realisiert im Ausrufezeichen. ›Klage‹ ist nicht von ungefähr Grundmodus der späten Traklschen Lyrik. Liest man das Pathos am Schluss als ein sarkastisches, ist das Gedicht zugleich als Anklage der Kriegsrhetorik zu verstehen, welche in ihrem übertriebenen Pathos die offensichtliche Sinnlosigkeit des Sterbens kaschiert. Dass sich in Trakls Gedicht keine Erklärung des Tötens findet, wird dann zur sprechenden Leerstelle. Ein weiteres aus Trakls Bildkosmos wohlvertrautes Element hat seinen Auftritt in Vers 12: die Schwester, die als Sehnsuchtsfigur in seinem Werk vielfältig präsent ist. Hier allerdings tritt sie nur in Gestalt ihres Schattens auf: »Es schwankt der Schwester Schatten durch

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den schweigenden Hain, / Zu grüßen die Geister der Helden, die blutenden Häupter«. Man hat in ihr eine Wiedergängerin der Wagnerschen Walküre erkannt (Pesnel 2017, 163), deren fiktionaler Realitätscharakter durch ihre Schattengestalt freilich radikal depotenziert erscheint. Eine weitere mögliche Lesart besteht darin, die Schwester als anthropomorphisierende Metapher für den Mond zu verstehen, der bereits im Adjektiv »mondne« in Vers 9 eingeführt wurde. Mond und Schwester sind auch in anderen Texten Trakls assoziiert (vgl. Csúri 2011, 39 f.). In dieser Lesart hätte der Vers eine recht konkrete Bedeutung: Das Mondlicht produziert den Schatten unter dem »Gezweig«, das aufgrund der Luft in Bewegung versetzt wird und daher den Schatten »schwank[en]« lässt. Die schwesterliche Solidarität der Natur verkörperte dann wie bereits in anderen Naturbildern des Gedichts ein positives Gegenmodell zur Feindlichkeit, die sich die Menschen entgegenbringen. Viele Bilder in »Grodek« bleiben deutungsbedürftig und Interpretationen hochgradig labil. Ist der »zürnende[] Gott« etwa der Kriegsgott Ares oder ist das göttliche Zürnen vielmehr Ausdruck einer göttlichen Kriegsgegnerschaft? Ist das ›rote Gewölk‹ Apposition zu dem »vergossne[n] Blut« oder handelt sich es um ein eigenständiges Bild? Sind die »ungebornen Enkel« im letzten Vers nur im Moment noch nicht zur Welt gekommen oder stehen sie für die durch den Tod verunmöglichte Nachkommenschaft? Nicht zuletzt suggeriert das Gedicht mit seinem anspielungsreichen Zugriff auf tradierte literarische Bestände auch eine poetologische Lesart, so Alexander Honold: »In der Erinnerung an Pan, den poetischen Urvater mit Hirtenflöte steckt eine drängende Frage: Was vermag, angesichts des Todes, die Dichtung?« (Honold 2015, 10).

Rezeption Seine herausragende Stellung innerhalb von Trakls Werk bekommt das Gedicht durch seine Bedeutung als letztes Wort des Dichters. In der ersten Gesamtausgabe von Trakls Dichtungen,

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die – mit der Jahresangabe 1917 – im Jahr 1919 im Kurt Wolff Verlag erschien, stand »Grodek« an letzter Stelle (Trakl 1917, 201). Auch Fickers oft nachgedruckter Erinnerungsband von 1926 profiliert »Grodek« als »letztes« Gedicht Trakls, dessen mündlicher Vortrag ihn bei seinem letzten Zusammentreffen mit dem Autor »erschüttert« habe (Ficker 1926, 161). Die allgemeine Anerkennung des Gedichts koinzidiert jedoch nicht mit einer Einigkeit über seinen Sinn. Bereits die Funktion des klassizistischen Vokabulars wurde ganz unterschiedlich bewertet. Sprach Gerhard Kaiser 1996 in seiner Analyse noch davon, dass der »Restbestand an Apologie des Kriegs […] heute allerdings auch Erschrecken« (Kaiser 1996, 629) provoziere, stellen viele Interpreten den affirmativen Charakter des hohen Stils nicht nur in Frage, sondern sehen seine Verwendung geradezu umgekehrt als Ironisierung, ja Parodie der zeitgenössischen Kriegsbegeisterung, die in ihrer Unangemessenheit vorgeführt werde (vgl. zuerst Buck 1995, 176, daran anschließend Reitani 2008 und Pesnel 2017, 159 f.). Dem Gedicht wird eine dezidiert ethische Botschaft zugesprochen: Theo Buck spricht von den »tief humanen Wirkungsabsichten des Gedichts« und identifiziert als seine »humane Substanz« eine »mahnende[] Erlösungshoffnung auf eine menschenmögliche, lebbare Anti-Grodek-Welt« (Buck 1995, 176). Johann Holzner argumentiert, »Grodek« stehe im Kontext der zeitgenössischen Kriegslyrik seiner Zeit als Solitär dar, es sei ein »Gegengedicht par excellence« (Holzner 2009, 248). Mathias Mayer konzediert dem Gedicht »ein Potential negativer Ethik, als ein Nicht-Einverstandensein, als eine Kritik der Gegenwart« (Mayer 2010, 85). Bereits Ficker verstand »Grodek« in diesem Sinne – berichtet aber auch, dass Trakl wenig zuvor ein »Kriegslied« geschrieben habe, das er jedoch »zerrissen« habe (zitiert nach ebd., 236 f.; die Wiener Zeitung Reichspost meldete in ihrer Ausgabe vom 15. November 1914 zusammen mit der Todesnachricht, dass der Autor ihr wenige Tag zuvor per Feldpostkarte ein »Kriegslied« angekündigt habe, das dann aber nicht eingetroffen sei, vgl. Reichspost vom 15. November 1914, 6). Gegenüber ­inhaltlichen

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Vereindeutigungen zu einer ›Botschaft‹ ist vielleicht doch die »Unfestigkeit« (Kaiser 1996, 623) des Gedichts bewusst zu halten, seine tiefe Irritation von Gewissheit überhaupt, welche nicht zuletzt auch die eigene Rolle als Dichter betrifft. Pesnel versteht das Gedicht als eine lyrische Abschiednahme von der Tradition des Abendlandes (vgl. Pesnel 2017, 154) und konstatiert eine »Denunzierung des Metaphorischen und des Ästhetisierenden« (ebd., 167) überhaupt. Das Beunruhigungspotential, welches das Gedicht auch »heute« noch ausstrahlt, besteht vielleicht gerade in einer Nichtsättigung seines Aussagegehalts, wie bereits Bernhard Sorg suggerierte: »Ob die Schlußzeilen das letzte Wort einer unaussprechlichen Hoffnung oder einer unaussprechlichen Verzweiflung sind, mag überhaupt nicht zu beantworten sein« (Sorg 1984, 138). Das Temporaladverb »heute« öffnet durch seine zweifache Gerichtetheit den Horizont. Es bezieht sich zum einen auf den Moment der Niederschrift, bzw. der gedanklichen Konzeption unmittelbar nach dem Schlachtgeschehen. Durch seine rezeptionsästhetische Aktualisierung im Moment der Lektüre konstituiert es zum anderen auch das Heute der Leserschaft, deren Existenzbedingungen und Sichtweisen zum Zeitpunkt der Niederschrift noch nicht bekannt sein konnten, waren sie doch ›ungeboren‹. »Grodek« richtet seine Stimme appellativ an diese für das Gedicht selbst ›jenseitige‹ Sphäre der Nachwelt – dem negativen Triumph der »schwarze[n] Verwesung« setzt es eine paradoxe Lebendigkeit entgegen.

Literatur Braun, Felix: Dichtertod im Kriege. In: Die Zeit, 2. Juli 1915, 1–2. Buck, Theo: Negative Utopie: Zu Georg Trakls Gedicht Grodek. In: Rémy Colombat/Gerald Stieg (Hg.): Frühling der Seele. Pariser Trakl-Symposion. Innsbruck 1995, 171–180. Csúri, Károly: Mondene Traumvisionen. Über Georg Trakls Prosagedicht Offenbarung und Untergang. In:

U. Degner Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv 30 (2011), 39– 54. De Vos, Jaak: »Alle Strassen münden in schwarze Verwesung«. Georg Trakls Gedicht Grodek. In: Johann Holzner/Oskar Putzer/Max Siller (Hg.): Literatur und Sprachkultur in Tirol. Innsbruck 1997, 53–63. Ficker, Ludwig von: Briefe Georg Trakls an Freunde. In: Erinnerung an Georg Trakl. Innsbruck 1926, 115– 169. Holzner, Johann: Lyrik im Umfeld von Trakls Grodek. In: Károly Csúri (Hg.): Georg Trakl und die literarische Moderne. Tübingen 2009, 235–248. Honold, Alexander: Einsatz der Dichtung. Literatur im Zeichen des Ersten Weltkriegs. Berlin 2015. Höllerer, Walter: Georg Trakl: Grodek. In: Benno von Wiese (Hg.): Die deutsche Lyrik. Bd. 2. Düsseldorf 1956, 419–424. Kaiser, Gerhard: Geschichte der deutschen Lyrik von Heine bis zur Gegenwart. Ein Grundriß in Interpretationen. Zweiter Teil. Frankfurt a. M. 1996. Klessinger, Hanna: Name und Welt. Wirklichkeitsbezüge in Georg Trakls Lyrik. In: Uta Degner/Hans Weichselbaum/Norbert Christian Wolf (Hg.): Autorschaft und Poetik in Texten und Kontexten Georg Trakls. Salzburg/Wien 2016, 271–283. Mayer, Mathias: Der Erste Weltkrieg und die literarische Ethik. Historische und systematische Perspektiven. Paderborn 2010. Millington, Richard: Georg Trakl’s Ghosts: Haunted Poems at the End of History. In: The German Quarterly 90 (2017), 267–282. Ortlieb, Cornelia: Trakls Grodek-Gedicht, Wittgensteins Hand und die Objekte europäischer Geschichte. In: Friederike Felicitas Günther/Markus Hien (Hg.): Geschichte in Geschichten. Würzburg 2016, 153–175. Ovid: Metamorphosen. Lateinisch-deutsch. Hg. und übers. von Niklas Holzberg. Berlin/Boston 2014. Pesnel, Stéphane: Georg Trakls »Grodek«. Ein poetisches Testament als dezidierte Anklage gegen die Kriegsideologie. In: Michael Braun/Oliver Jahraus/ Stefan Neuhaus/Stéphane Pesnel (Hg.): Nach 1914. Der Erste Weltkrieg in der europäischen Kultur. Würzburg 2017, 151–168. Reitani, Luigi: Paesaggio dopo la battaglia. La poesia Grodek di Georg Trakl. In: Fulvio Senardi (Hg.): Scrittori in trincea. La letteratura e la Grande Guerra. Rom 2008, 94–99. Sauermann, Eberhard: Entwicklung bei Trakl. Methoden der Trakl-Interpretation. In: Norbert Oellers (Hg.): Editionsprobleme der Literaturwissenschaft. Berlin 1986, 151–181. Sorg, Bernhard: Das lyrische Ich. Untersuchungen zu deutschen Gedichten von Gryphius bis Benn. Tübingen 1984. Trakl, Georg: Die Dichtungen. Erste Gesamtausgabe. Leipzig 1917.

»Offenbarung und Untergang« (1914)

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Moritz Strohschneider

Das Prosagedicht »Offenbarung und Untergang« wurde posthum im Brenner-Jahrbuch (1915) publiziert, wo es durch den redaktionellen Hinweis »Aus dem Nachlaß, Mai 1914« datiert ist (ebd., 59). Die Publikation beruht auf einer Reinschrift von der Hand Ludwig von Fickers, die als Satzvorlage des Erstdrucks diente, von dem sie nur an zwei Stellen hinsichtlich der Interpunktion abweicht (vgl. ITA IV.2, 69–71). Eine frühere Fassung des Prosagedichts hat Trakl auf den Seiten 3, 5, 7 und 8 des Konvoluts G 102–118 eingetragen und die dazwischenliegenden geraden Seiten seiner damaligen Gewohnheit folgend leer gelassen (vgl. ebd., 49–69). Trakl hat den hier noch namenlosen Text anschließend überarbeitet, wobei er seine Korrekturen zum Teil interlinear, zum Teil auf die nebenstehenden leeren Seiten eintrug. Da von Fickers Abschrift deutlich von dieser Handschrift abweicht, rekonstruieren die Herausgeber der ITA eine verlorene Reinschrift Trakls, die auch den Gedichttitel enthalten haben wird (vgl. ebd., 49 f.). Der Text ist durchgängig prosaisch gehalten und in sechs nicht nummerierte Abschnitte von unterschiedlicher Länge gegliedert. Diese

M. Strohschneider (*)  Institut für Deutsche Philologie, LudwigMaximilians-Universität München, München, Deutschland E-Mail: [email protected]

sind bereits in Trakls Handschrift durch kleine Kreuze voneinander getrennt und werden im Druck durch Leerzeilen abgesetzt; sie beginnen jeweils mit einer über zwei Zeilen reichenden Initiale. Dennoch ist die Rede von einem ›Prosagedicht‹ (vgl. Bresson 1993; Sharp 1981, 137) begründet, ähnelt der Text doch hinsichtlich Rhythmus und Prosodie der Struktur lyrischer Texte. Allerdings verfügt der Text auch über Merkmale der erzählenden Prosa und besitzt eine Erzählergestalt, die in ihrer Rede den Text narrativ strukturiert (vgl. Baßler 1994, 104; Denneler 1985, 57). »Offenbarung und Untergang« vertritt mithin eine hybride Textsorte zwischen Prosa und Lyrik, wie sie beispielsweise in der Dichtung der Romantik oder im französischen Symbolismus gebräuchlich war und auch durch Rainer Maria Rilkes Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke (publiziert 1912) vertreten wird. Die personale Erzählerstimme, die von sich in der ersten Person Singular spricht, ist in Trakls Spätwerk eine Besonderheit, da der Gebrauch des Personalpronomens ›ich‹ im chronologischen Verlauf seines Schreibens kontinuierlich abnimmt (vgl. Kaufmann 1956, 46 f.). Dem entspricht die Tatsache, dass die drei anderen 1913/14 entstandenen Prosagedichte – »Verwandlung des Bösen«, »Winternacht« sowie »Traum und Umnachtung« – keinen personalen Sprecher haben, sondern eine unpersönliche Sprechinstanz. Demgegenüber tritt in

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»Offenbarung und Untergang« gleich im zweiten Satz die Sprechinstanz als ›Ich‹ auf. (Die Zeilenzählung folgt im Weiteren der Darstellung in ITA IV.2, 69–71.) Sie begibt sich zu einem Nachtlager, auf dem sie anschließend die eigene Situation bedenkt (Z. 1–14), bevor sie in den folgenden Abschnitten verschiedene Stationen einer nächtlichen Bewegung beschreibt. Im zweiten Abschnitt befindet sich das Ich einsam in einer »Schenke«, wo ihm die »Schwester« erscheint und eine Prophezeiung ausspricht (15–33); im dritten Abschnitt wandert es durch die Natur am Waldsaum und einen Felsenpfad hinab, wo es an einem Wasser vom »Wahnsinn« befallen wird (34–47); im vierten Abschnitt besieht es eine einsame Gegend und beobachtet die Rückkehr der Herden am Abend, während es von einer als ›Du‹ angeredeten Instanz aufgesucht wird (48–54), bei der es sich vielleicht erneut um die Schwester handelt (vgl. Csúri 2011, 50); im fünften Abschnitt betritt das Ich den Garten, schaut in den Nachthimmel und sieht erneut eine Erscheinung seiner Schwester (55–63). Im sechsten Abschnitt schließlich legt sich das Ich erneut auf sein Nachtlager (64– 68). – Dieser Überblick legt eine zyklische Gedankenstruktur des Textes nahe und könnte zu der Annahme verführen, das Geschehen lasse sich zu einer plausiblen Geschichte zusammenfassen: Zu Beginn und am Ende erinnert sich der Sprecher nachts allein in seiner Kammer an verschiedene Situationen, die in den dazwischen liegenden Abschnitten berichtet werden (zur Struktur vgl. Csúri 2011, 43 f.). Allerdings wird die vermeintliche Kohärenz durch den diffusen zeitlichen Zusammenhang der Abschnitte unterlaufen. Es bleibt nämlich unklar, wie sich die verschiedenen Textpassagen chronologisch zueinander verhalten, ob es sich also beispielsweise beim Gang des Sprechers zum nächtlichen Lager, der im ersten und sechsten Abschnitt gleich zweimal und auf unterschiedliche Weise erzählt wird, um dasselbe Ereignis handelt. Auch der nicht durch das Geschehen begründete mehrfache Tempuswechsel im dritten und vierten Abschnitt stellt die narrative Stringenz in Frage: Zwar stehen die verwendeten Verben überwiegend im Präte-

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ritum und präsentieren mithin zumeist die Erinnerungen des sprechenden Subjekts. Im dritten Abschnitt aber wird in der Aussage, das ›Ich‹ wolle »[a]m Saum des Waldes […] gehn«, ein zukünftiges Geschehen in den Blick genommen (34), während kurz darauf an mehreren Stellen präsentische Verbformen verwendet werden (vgl. »aufhebt« [36], »lauscht« [37], »weidet« [49]), unterbrochen von mehreren Präteritumsformen (vgl. »hinabstieg« [42], »bog« [44], »lag« [51]). Dass das in »Offenbarung und Untergang« Geschilderte nicht zu einer plausiblen Narration vereindeutigt werden kann, lässt sich aus dem gnomischen Einleitungssatz erschließen: »Seltsam sind die nächtigen Pfade des Menschen« (1). Das Prädikativum »Seltsam« betont die Tatsache, dass die nächtlichen Erfahrungen hinsichtlich ihres ontologischen Status’ unklar sind. Insofern damit die vom Erzähler berichteten Ereignisse, die sich sämtlich am Abend und in der Nacht abspielen, einen problematischen Charakter erhalten, ist der Einleitungssatz für das Verständnis des Prosagedichts zentral. Im Kollektivsingular »des Menschen« behauptet er daneben die grundsätzliche Gültigkeit der einleitend formulierten anthropologischen Erkenntnis, die anschließend in »Offenbarung und Untergang« durch die subjektiven Erfahrungen des Sprechers exemplifiziert wird. Obgleich festgehalten werden kann, dass der narrative Zusammenhang von »Offenbarung und Untergang« nur schwach ausgeprägt ist, besteht der Text nicht aus disparaten Abschnitten. Er wird vielmehr durch mehrere Leitmotive strukturiert, die auch für die drei anderen Prosagedichte aus diesem Zeitraum bedeutsam sind. Dazu zählt zunächst die starke Farbigkeit des Textes, der von den Farbworten ›kupfern‹, ›schwarz‹, ›blau‹, ›purpurn‹, ›rosig‹, ›rot‹, ›grün‹, ›weiß‹ und ›silbern‹ durchzogen ist und auch in expressiven Wendungen wie »schneeiges Wild« (27 f.) Farbigkeit evoziert. Die Farben verbinden unterschiedliche Textelemente wie die »purpurne[n] Lippen« (6), die »purpurnen Augen« (25) und das »purpurne[] Linnen« (66) über die Grenzen der einzelnen Abschnitte hinweg und werden zur Komposition

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kontrastiver Bilder verwendet. So tritt im zweiten Abschnitt die »bleiche Gestalt der Schwester« aus einem blauen Hintergrund und spricht mit blutig rotem Mund von einem »schwarze[n] Dorn« (18 f.). Daneben wird »Offenbarung und Untergang« durch drei antithetische Gegensatzpaare strukturiert, die wesentlich zur Dynamisierung des Textes beitragen: Abend und Nacht, Stillstand und Bewegung sowie Sprechen und Schweigen. Von zentraler Bedeutung sind zum einen die Tageszeiten Abend und Nacht, die in jedem der sechs Abschnitte in unterschiedlichen Formulierungen aufgerufen werden und eng mit dem Motiv der Dunkelheit verbunden sind. In Anlehnung an die ersten beiden Strophen von Hölderlins Elegie »Brod und Wein« (Hölderlin 1975–2008, VI, 258 f.) wird die Nacht als »Fremdlingin« bezeichnet (4) und als das im Verhältnis zum Menschen ganz andere konturiert. Wie bei Hölderlin, so ist sie auch bei Trakl die Zeit, in der das Subjekt rätselhafte Erfahrungen des Übersinnlichen machen kann, so wenn ihm beispielsweise »[a]us verwesender Bläue« (17) die Schwester geisterhaft entgegentritt (17 f.) oder er in der nächtlichen Einsamkeit »die weiße Stimme« hört (44 f.). Während allerdings in »Brod und Wein« eine zyklische Zeitstruktur entworfen wird, die durch den regelmäßigen Wechsel von Tag und Nacht geprägt ist, kreisen die Abschnitte von »Offenbarung und Untergang« um Abend und Nacht, ohne den hellen Tag zu thematisieren, der für Hölderlins Elegie von entscheidender Bedeutung ist. Mit dem Übergang vom Abend zur Nacht ist zum anderen das Gegensatzpaar Bewegung und Stillstand verbunden: Das ›Ich‹ kommt kaum je in eine Phase der nächtlichen Ruhe, wenn es sitzt (15) oder liegt (51, 58), sondern befindet sich in einer ununterbrochenen Bewegung, die es zu Beginn des vierten Abschnitts als »[f]riedlose Wanderschaft« bezeichnet (48). Die nächtliche Rastlosigkeit wird als Kontrast zur Ruhe der anderen Menschen entfaltet, die sich in den »Hütten der Dörfler […] stumm verschlossen« haben (40) und die »heimkehrenden Herden« begleiten (48 f.). Der Gegensatz zwischen dem ›Ich‹ und den Anderen wird auch im dritten Gegensatzpaar aufgenommen, demjenigen von Sprechen

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und Schweigen. Obgleich der Text von Lärm erfüllt ist, da die Traumerscheinungen, die Tiere und auch die Natur vielfältige Geräusche produzieren, ist der Sprecher weitgehend still (15 f.) und bezeichnet sich selbst als »ein Schweigendes« (34). Da es ihm nur im Zustand des Wahnsinns möglich wird zu sprechen (42 f.), kommt es im Text zu keinem gelingenden Kommunikationsakt zwischen dem wandernden Sprecher und seinen Mitmenschen. Dies kann im Hinblick auf die Sprachkrise der literarischen Moderne um 1900 gelesen werden. Es lässt sich aber auch auf eine Problematik beziehen, die für die Lyrik Friedrich Hölderlins bestimmend ist, in der die Kommunikation zwischen dem Sprecher und seinen Mitmenschen immer wieder scheitert, weshalb das ›Ich‹ wie bei Trakl zum Schweigen verurteilt ist. Die bisher genannten Leitmotive führen zur im Titel genannten Grundproblematik des Prosagedichts hin – »Offenbarung und Untergang«. Mit den beiden Begriffen sind die zwei Bedeutungsebenen des griechischen apokálypsis aufgerufen (vgl. Neri 1996, 161), wie es im letzten Buch des Neuen Testaments verstanden ist, dessen bildgewaltige Sprache für Trakl seit 1912 zunehmend bedeutsam wurde (vgl. Doppler 1988, 111): zum einen die Enthüllung von transzendentem Wissen durch eine Epiphanie oder ein mantisches Ereignis (›Offenbarung‹), zum anderen der Bericht von den letzten Dingen und der Zerstörung der Welt (›Untergang‹). In der Thematik der Nacht, im Schweigen und Sprechen aber auch in der Farbigkeit wie im Wandern des ›Ich‹ werden diese beiden Themen immer wieder aufgenommen. Anders als Csúri postuliert (2011, 43 f.), sind ›Offenbarung‹ und ›Untergang‹ dabei aber nicht nur kontrastiv auf die sechs Abschnitte verteilt, sondern konsequent miteinander verbunden. So klingt in der Erscheinung der Schwester im zweiten Abschnitt mehrfach der Zusammenhang von transzendenter Erscheinung und Vernichtung an, so wenn die von der Schwester gesprochenen Worte »Stich schwarzer Dorn« (18 f.) eine Verletzung des Sprechers (oder durch den Sprecher?) antizipieren, der im weiteren Verlauf einen von der Schwester vergossenen Bluts-

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tropfen trinkt (30 f.; zu den Erscheinungen der Schwester vgl. Kemper 2014, 263 f.). Auch in der akustischen Offenbarung im dritten Abschnitt werden die beiden Bedeutungen von apokálypsis miteinander verbunden: In einer den Narziss-Mythos pervertierenden Situation sieht der sich über das Wasser neigende Sprecher nicht sein Spiegelbild, sondern dessen Verschwinden – und wird durch eine Stimme zum Selbstmord aufgefordert (43–45). In beiden Fällen zielt das Wirken der transzendenten Erscheinung auf Zerstörung und Vernichtung, mithin auf den titelgebenden Untergang gerade durch eine Offenbarung. Mit Friedrich Hölderlin wurde bereits ein wichtiger Referenzautor des Prosagedichts genannt. Andere intertextuelle Bezüge verbinden den Text mit der Dichtung der Romantik – man denke an die Bedeutung der Nacht als Zeit der seherischen Schau, an die blaue Hyazinthe am Fenster (6 f.) oder an die Landschaftsbilder im vierten und fünften Abschnitt – oder mit Eduard Mörikes Gedicht »An eine Äolsharfe«, auf das beispielsweise das Verb ›hinsterben‹ rekurriert (10). Besonders bedeutsam für »Offenbarung und Untergang« aber sind die Bezüge zum alttestamentarischen (insbes. zum Buch Daniel) und frühchristlichen Offenbarungsschrifttum, die bereits im Titel angesprochen sind. Denn in allen sechs Abschnitten ist von unterschiedlichen visuellen und auditiven Erscheinungen die Rede und auch in Wendungen wie »ich sah« (11) oder in der Rede vom »tote[n] Lamm« (18) werden apokalyptische Traditionen aufgenommen. Im Wahnsinn des Sprechers (42) klingt daneben das antike Wissen um den dichterischen enthousiasmós an, der es dem Dichter überhaupt erst möglich macht zu sprechen (zum Wahnsinn bei Trakl vgl. Sharp 1981, 153–158). »Offenbarung und Untergang« greift damit einen Diskurs auf, der für die Dichtung des frühen 20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle spielt (vgl. Vondung 2010). Dabei ersetzt das apokalyptische Denken der Moderne das in der biblischen Apokalypse grundlegende Nacheinander von Krise und Heil durch nur mehr pessimistische Untergangsszenarien (vgl. Matern 2020, 30 f.), wie sie auch in »Offenbarung und Untergang« vorliegen.

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Rezeptionsgeschichte Obwohl »Offenbarung und Untergang« wiederholt das Interesse von Komponisten gefunden hat und seit der Vertonung des sechsten Abschnitts durch Anton Webern im Jahr 1917 mehrfach Passagen des Prosagedichts musikalisch bearbeitet wurden (vgl. Winkler 1998, 343), hat der Text in der literaturwissenschaftlichen Forschung bisher nur wenig Aufmerksamkeit erfahren. Er teilt damit im Großen und Ganzen das Schicksal der anderen Prosagedichte, die Trakl 1913/14 geschrieben hat (vgl. Denneler 1985, 53), sodass – von wenigen Ausnahmen abgesehen (vgl. Bresson 1993; Csúri 2011; Sharp 1981) – kaum Einzelinterpretationen von »Offenbarung und Untergang« vorliegen. Eine größere Aufmerksamkeit hat nur der Titel des Prosagedichts gefunden, der namentlich in der älteren Forschung wiederholt als Leitmotiv für das gesamte dichterische Schaffen Trakls verstanden wurde, ohne dass man sich deswegen dem Text selbst näher zugewandt hätte (vgl. Focke 1955, 110; Lachmann 1954, 232). Die randständige Rolle des Textes ist sicherlich auf seine hybride Form zurückzuführen, die erst in jüngeren Forschungsbeiträgen gewürdigt wurde. So unternimmt Lachmann den höchst problematischen Versuch, das Prosagedicht in freie Rhythmen umzuarbeiten, da »die Prosaschreibung […] dem Erfassen des Gehalts im Wege [steht]« (Lachmann 1954, 215; zur Versversion vgl. 229–232). Die prosodische Struktur des Textes hat erstmals Bresson (1993) präzise herausgearbeitet und so den Eigenwert der rhythmisierten Prosa betont. Auf dieser Grundlage hat Csúri die These verfolgt, dem Text gehe es um die »zunehmende Spaltung des schuldigen und büßenden, des engelhaften und teuflischen Aspekts des Ichs einerseits und um den ebenfalls zwiespältigen Rache- und Erlösungsaspekt der imaginierten Schwester andererseits« (Csúri 2011, 43). Trotz dieser Arbeiten stehen eine traditionsgeschichtliche Analyse der in »Offenbarung und Untergang« begegnenden Motive oder die Diskussion des Textes im Rahmen des zeitgenössischen Diskurses über apokalyptische Traditionen immer noch aus.

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Literatur Baßler, Moritz: Die Entdeckung der Textur. Unverständlichkeit in der Kurzprosa der emphatischen Moderne 1910–1916. Tübingen 1994. Bresson, Daniel: Prosodische Struktur eines Prosagedichts. »Offenbarung und Untergang«. In: Cahiers d'études germaniques 25 (1993), 107–118. Csúri, Károly: Mondene Traumvisionen. Über Georg Trakls Prosagedicht »Offenbarung und Untergang«. In: Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv 30 (2011), 39–54. Denneler, Iris: Erinnerung – ein Fragment. Zu Georg Trakls später Prosa. In: Georg Trakl. Text + Kritik 4/4a (1985), 53–66. Doppler, Alfred: Elemente der biblischen Sprache in der Lyrik Georg Trakls. In: Hans Weichselbaum (Hg.): Trakl-Forum 1987. Salzburg 1988, 109–117. Focke, Alfred: Georg Trackl. Liebe und Tod. Wien/München 1955. Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe. Hg. von D. E. Sattler. Frankfurt a. M. 1975– 2008.

409 Kaufmann, Hansjakob: Fallender Mensch und entgleitende Wirklichkeit bei Georg Trakl. Zürich 1956. Kemper, Hans-Georg: Droge Trakl. Rauschträume und Poesie. Salzburg/Wien 2014. Lachmann, Eduard: Kreuz und Abend. Eine Interpretation der Dichtungen Georg Trakls. Salzburg 1954. Matern, Harald: Einleitung – Die Krise der Zukunft. Zum apokalyptischen Subtext modernen Krisensemantiken. In: Harald Matern/Georg Pfleiderer (Hg.): Krise der Zukunft I. Apokalyptische Diskurse in interdisziplinärer Diskussion. Zürich 2020, 9–56. Neri, Matteo: Das abendländische Lied – Georg Trakl. Würzburg 1996. Sharp, Francis Michael: The Poet’s Madness. A Reading of Georg Trakl. Ithaca/London 1981. Vondung, Klaus: Der Preis des Paradieses: Gewalt in Apokalypse und Utopie. In: Reto Sorg/Stefan Bodo Würffel (Hg.): Utopie und Apokalypse in der Moderne. München 2010, 33–45. Winkler, Bettina: Zwischen Unendlichem Wohllaut und infernalischem Chaos. Vertonungen von Georg Trakls Lyrik. Salzburg/Wien 1998.

Teil XI

Werk: Lyrische Dichtungen V – Gedichte aus dem Nachlass: Die »Sammlung 1909«

Zur »Sammlung 1909«

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Mario Zanucchi

Entstanden sind die zur »Sammlung 1909« zählenden Nachlassdichtungen zwischen dem Herbst 1906 und Herbst 1909. Die beiden reimlosen Gedichte »Der Heilige« und »Die tote Kirche« stellen wohl die ältesten Texte der Sammlung dar und wurden vermutlich bereits im Herbst 1906 verfasst. Trakls Brief an Erhard Buschbeck vom 1./2. Oktober 1909, aus dem hervorgeht, das Buschbeck die ihm im August oder September 1909 übergebene Sammlung (oder zumindest Teile der Sammlung) Hermann Bahr übermittelt hat (ITA V.1, 100 f.), bildet den terminus ante quem. Auch wenn Trakl in einem Brief vom 27. Juni 1911 gegenüber Buschbeck erklärt hatte, dass es ihm »[a]m Liebsten« wäre, »wenn du diese verfluchten Manuskripte mir zurückerstatten möchtest« (ITA V.1, 150), leistet Buschbeck dieser Bitte nicht Folge. Jedoch veröffentlicht er die Sammlung von Abschriften erst 1939 unter dem Titel Aus goldenem Kelch. Die Manuskripte wurden 1945 beim Brand des Burgtheaters vernichtet (Weichselbaum 2014, 77). Nicht alle Dichtungen der von Buschbeck herausgegebenen Sammlung waren allerdings

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bis dahin unveröffentlicht. Sechs Gedichte hatte Trakl nämlich bereits publiziert. »An einem Fenster« erschien im Salzburger Volksblatt vom 1. April 1909, »Die drei Teiche in Hellbrunn« am 8. April 1909 im Salzburger Volksblatt und, in überarbeiteter Form, im Juli 1910, in der Wiener Zeitschrift Der Merker. »Ausklang« wurde im Salzburger Volksblatt vom 7. August 1909 veröffentlicht. »Andacht«, »Vollendung« und »Einer Vorübergehenden« schließlich erschienen – infolge von Buschbecks oben erwähnter Verwendung für Trakl bei Bahr – im Oktober 1909 im Neuen Wiener Journal und im Salzburger Volksblatt. Zwei Gedichte der Sammlung wurden später überarbeitet und fanden Eingang in die Sammlung Gedichte, die 1913 im Kurt Wolff Verlag erschien, nämlich »Herbst« (mit dem Titel »Verfall«) und »Farbiger Herbst« (die Vorstufe zu »Musik im Mirabell«). Die »Sammlung 1909« enthält insgesamt 37 Dichtungen. Drei von ihnen sind binnengegliederte Zyklen: Das Einleitungsgedicht, »Drei Träume«, besteht aus drei Texten, »Gesang zur Nacht« setzt sich aus 12 Teilen zusammen, »Die drei Teiche in Hellbrunn« wiederum umfasst drei Gedichte. Die strophisch gegliederten Texte bestehen aus zwei (insgesamt 14 Gedichte), drei (ebenfalls 14 Texte) und vier (11 Gedichte) Strophen. Unter den insgesamt fünf stichischen Gedichten, die keine strophische Gliederung besitzen, sind einzig zwei durchgehend reimlos

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(»Der Heilige« und »Die tote Kirche«). Spürbar ist Trakls Vorliebe für die Sonettform (»Drei Träume« III, »Von den stillen Tagen«, »Dämmerung« (I), »Herbst«, »Das Grauen«, »Andacht«, »Sabbath«) und für die Terzinenform (»Ballade« [»Ein Narre…«], »An einem Fenster«). Beobachten lässt sich auch eine hochinteressante, avantgardistische Komprimierung der Balladenform (drei Texte sind mit der Gattungsbezeichnung »Ballade« versehen). Trakls Sammlung steht unter dem maßgeblichen Eindruck der französischen Décadence. Vor allem Baudelaire ist von Bedeutung. Bereits der rhetorische Duktus von Trakls früher Lyrik, die Dominanz des lyrischen Ich, verrät die Baudelaire-Rezeption. Den Fleurs du Mal verpflichtet ist auch der Topos der kranken oder giftigen Blumen: »So spielt um kranke Blumen noch die Sonne« (ITA I, 212, »Von den stillen Tagen«); »ein armes Herz, / Aus dem der Schwermut kranke Blumen blühn« (ebd., 217, »Dämmerung« [I]), »Dumpfe Fieberglut / Läßt giftige Blumen blühn aus meinem Munde« (ebd., 219, »Das Grauen«); »Pestfarbne Blumen tropischer Gestade« (ebd., 202, »Sabbath«). Dieses Leitmotiv umschreibt den von Baudelaire übernommenen ästhetischen Amoralismus, die Entkoppelung von Schönheit und Moral und die Ästhetisierung des Bösen. Baudelaires Satanismus schlägt sich bei Trakl vor allem in einer pervertierten und sündigen Sexualität, in bedrohlichen femmes fatales und der Thematisierung der inzestuösen Liebe (»Blutschuld«) nieder. Allerdings weckt die satanische Sexualität oxymorische Gefühle, Wollust und Ekel, und kann daher nicht dauerhaft zur Flucht aus der verfallenden Wirklichkeit verhelfen (Wild 2002, 174). Zu den originellsten Zügen von Trakls Juvenilia gehört die Problematisierung des symbolistisch-dekadenten Kunstglaubens, d. h. die Erfahrung einer grundsätzlichen Sinn-Krise, die weder durch die Kunst noch durch die Religion gelöst werden kann. Die immanente Kritik der ästhetischen Einstellung charakterisierte schon die französische Lyrik von Dekadenz und Symbolismus. Bereits dort wurde der Ästhetizismus in demselben Atemzug postuliert und als

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insuffizient verworfen. Es herrschte allerdings, etwa bei Baudelaire, noch eine Balance zwischen Spleen und Idéal, Verfallsbewusstsein und Kunstglaube. Diese Dialektik wurde bei Stefan George zugunsten des Ideals einseitig aufgegeben, das Spleen-Bewusstsein weitgehend tabuisiert. Trakls frühe Lyrik versteht sich als Gegenprogramm zu George. Ihr vielleicht innovativster Zug liegt in der Absetzung von Georges einseitiger Poetik der Idealität und in der fundamentalen ästhetischen Desillusion. Das Verfallsbewusstsein ist bei Trakl derart radikal, dass es die ästhetische Kompensation vereitelt. Die in der französischen Lyrik noch ästhetisierte Décadence verwandelt sich bei Trakl in die Erfahrung einer Korruption, die jeden ästhetischen Sublimationsversuch als hinfällig erscheinen lässt: »Verwesung traumgeschaffner Paradiese / Umweht dies trauervolle, müde Herz, / Das Ekel nur sich trank aus aller Süße, / Und das verblutet in gemeinem Schmerz« (ITA I, 206, »Ermatten«). Die Sphäre der Geschichte entpuppt sich als ein unechtes Schauspiel, das Verfall und Untergang nur mühsam verschleiert: »Und da von jedem Ding die Maske fiel, / Seh’ ich nur Angst, Verzweiflung, Schmach und Seuchen, / Der Menschheit heldenloses Trauerspiel, / Ein schlechtes Stück, gespielt auf Gräbern, Leichen« (ebd., 215, »Confiteor«). Von der Desillusion betroffen ist nicht nur die ästhetische, sondern auch die religiöse Sinnstiftung. Die Sammlung durchziehen gebetsähnliche Gedichte und vor allem marianische Anrufungen (»Gedicht«, »Blutschuld«, »Metamorphose«, »Der Heilige«), die allerdings immer wieder die Verzweiflung und Verlassenheit des Sünders artikulieren und die soteriologische Perspektive vermissen lassen. Christus wird nicht als königlicher Herrscher und Triumphator, sondern – wie in der gotischen Kunst – als leidender Schmerzensmann vorgestellt (»Crucifixus«), dessen Passionsgeschichte die Qualen der Menschheit nicht erlöst, sondern bloß widerspiegelt und verdoppelt. Religiosität verblasst zu einer Erinnerung (»Andacht«), welche die korrupte, entgötterte Gegenwart nicht mehr zu beleben vermag. Der Kult wird als sinnentleerte Tradition und theatralische In-

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szenierung diagnostiziert, die religiöse Institution erscheint als »tote Kirche«: »Der Priester schreitet / Vor den Altar; doch übt mit müdem Geist er / Die frommen Bräuche – ein jämmerlicher Spieler, / Vor schlechten Betern mit erstarrten Herzen. / In seelenlosem Spiel mit Brot und Wein« (ebd., 91, »Die tote Kirche«). Nicht erst Trakls reifes Werk, sondern bereits seine frühe Lyrik zeugt von einem enormen Sprachbewusstsein. Sie besitzt keine spontanimpressionistische Diktion, sondern einen kalkulierten und literarisierten Duktus, der Trakls vielfältige Lektüren verarbeitet und in einem poetischen Mosaikverfahren rekombiniert. Vor diesem Hintergrund spielt die Erschließung ihrer intertextuellen Faktur eine entscheidende Rolle für die Interpretation. Hervorgehoben hat die Forschung bisher vor allem den prägenden Einfluss des französischen Symbolismus (Charles Baudelaire, Paul Verlaine, Maurice Maeterlinck und Arthur Rimbaud) (Beiträge »Trakls Intertexte« und »Trakl als Leser«). Es ist möglich, dass Trakl Baudelaire nicht nur in der Übertragung Stefan Georges las, sondern dass er auch Martha Asmus’ Übersetzung von 1909 kannte, die im Unterschied zu George Baudelaire »auf das satanische Element« fixierte (Keck 1991, I, 186). Asmus übertrug insgesamt vierzig Gedichte, darunter auch viele der

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von George tabuisierten Texte, wie etwa »L’Héautontimorouménos« (»Der Selbstquäler«) und »Abel et Caïn« (»Abel und Kain«), die Trakls Sonett »Das Grauen« vermutlich geprägt haben. Erschlossen wurde von der Forschung auch Trakls Nietzsche-Rezeption. So nehmen »Gesang zur Nacht« XII und »Das tiefe Lied« auf »Das trunkne Lied« aus dem Zarathustra Bezug (Methlagl 1995). Dagegen wurde der Einfluss Hugo von Hofmannsthals, der sich ebenfalls belegen lässt (Zanucchi 2016), ebenso wenig systematisch untersucht wie die Spuren von Trakls anderen Lektüren, welche die Sammlung durchziehen (u.  a. Lenau, Hölderlin, Eichendorff, Heine, C.F. Meyer, Stefan George, Rilke, Richard von Schaukal, Lisa Baumfeld).

Literatur Keck, Thomas: Der deutsche »Baudelaire«. 2 Bde. Heidelberg 1991. Methlagl, Walter: Nietzsche und Trakl. In: Rémy Colombat/Gerald Stieg (Hg.): Frühling der Seele. Pariser Trakl-Symposion. Innsbruck 1995, 81–121. Weichselbaum, Hans: Georg Trakl. Eine Biographie. Salzburg 2014. Wild, Ariane: Poetologie und Décadence in der Lyrik Baudelaires, Verlaines, Trakls und Rilkes. Würzburg 2002. Zanucchi, Mario: Transfer und Modifikation. Die französischen Symbolisten in der deutschsprachigen Lyrik der Moderne (1890–1923). Berlin/Boston 2016.

»Drei Träume« (1909)

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Philipp Theisohn

Das Triptychon »Drei Träume« ist im Sommer 1909 entstanden; das Typoskript, das Trakl Anton Moritz geschenkt haben soll, datiert die ersten beiden Gedichte auf den 17. bzw. den 28. Juni 1909, das dritte auf »1909«. Da »Drei Träume« in der »Sammlung 1909« enthalten ist, die Buschbeck von Trakl im August oder September 1909 überstellt worden sein soll, muss das dritte Gedicht also zumindest noch im Spätsommer entstanden sein. Eine zweite, in drei Versen im Wortlaut vom Typoskript aus Antons Besitz abweichende Version liegt wohl der Abschrift Ilse Demmers und dem auf diese zurückgehenden Abdruck in der Sammlung Aus goldenem Kelch (1939) – die es eröffnet – zugrunde (vgl. ITA I, 229). Die drei über den Titel einander zugeordneten Traumgedichte unterscheiden sich der äußeren Form nach deutlich voneinander. So gliedert sich das erste Gedicht in drei vierzeilige, das zweite Gedicht in vier vierzeilige Strophen, das dritte Gedicht wiederum ist ein Sonett. Das basale Metrum aller Gedichte ist ein immer wieder daktylisch durchsetzter vierhebiger Jambus. Größere, die Betonungsfolge störende Abweichungen finden sich ins-

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besondere im vierten, achten und zwölften Vers, in dem das schließende »Sinn nicht verstehn« zu einer Doppelhebung und somit zu insgesamt fünf Hebungen zwingt, sowie in Vers 25, der trochäisch beginnt und erst durch das Wort »erinnerungsdunkel« wieder ins Metrum zurückgeholt wird. Das erste Gedicht ist konsequent im Schweifreim gehalten, das zweite reimt jeweils nur den zweiten und vierten Vers (schließt allerdings über das auslautende »Bronnen« den ersten Vers der dritten Strophe an die Reime der Vorstrophe (»Sonnen« / »Wonnen«) zurück. Das Sonett schließlich hält sich in den Quartetten wieder an den Schweifreim, löst die beiden Terzette dann aber entsprechend nach dem Schema abacbc auf. Verbunden sind alle drei Gedichte vor allem aber über die in Trakls erster Werkphase noch häufiger anzutreffende ›Ich‹-Zentrierung, die in der »Sammlung 1909« etwa auch noch »Das Grauen«, »Andacht«, »An einem Fenster«, »Naturtheater« und »Confiteor« aufweisen, die für das weitere Werk dann aber untypisch wird. Die Rezeption der drei Gedichte wurde die längste Zeit bestimmt von ihrer Engführung mit Trakls Nietzsche-Lektüren. Bereits Kemper erklärt die Dreiteilung des Komplexes aus dem Versuch, der in der Geburt der Tragödie entfalteten »Artisten-Metaphysik« »im Bereich der Lyrik gerecht zu werden«, insofern das Gefüge »in einem prozessualen Geschehen die Einsicht in den Zusammenhang von Wesen und

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Erscheinung, von Sein und Werden im ständigen Wechsel der Phänomene« vermittle (Kemper 1984, 286). Der erste Traum figuriere das ›apollinische Träumen‹, in dem das Ich sich zunächst in Analogie zu den es umgebenden wie verfallenden Erscheinungen (»Blätterfall« und »Sternenfall«) setze, um in der dritten Strophe sich als »bewegenden Mittelpunkt jener Welt« zu erkennen, deren Auf- und Untergang mit dessen eigenem »[K]ommen und [G]ehen« zusammenfällt. Das zweite Gedicht berufe sodann »den dionysischen Welt-Erzeuger« (ebd.), dessen Seele nicht nur »blut-purpurne Himmel / Durchglüht von gigantischen prallenden Sonnen« gebiert (ITA I, 233, Zitation im Folgenden nach den Textstufen 2 t/3 d), sondern die auch das Gespür, »Als ob sie in allem sich wiederfände«, durchschauert – wobei »in allem« sowohl kosmologisch (»In unergründlichen Meeren und Nächten«) wie poetologisch (»Und tiefen Gesängen, ohn’ Anfang und Ende«) zu lesen sei. Das dritte Gedicht wiederum wendet sich sodann vom Kosmologischen ins Innerweltliche, Historische; für Kemper wechselt die Perspektive in »die eines Sehers, der das Apollinische und Dionysische gleichsam von außen in ihrem wechselseitigen Zusammenspiel als ›ewig gleiche Tragödia‹ zu begreifen sucht« (Kemper 1984, 287). Auch Csúri, der in seiner Analyse Kemper weitestgehend folgt, attestiert dem Ich des dritten Gedichts, dass es »die unendliche Wiederholung von Sterben, neuem Leben und Wiedervergehen […] aus seiner traumhaften Distanz zu überblicken vermag, um »dabei jegliche Dimension menschlichen Lebens und mythischer, apollinischer wie dionysischer Menschheitsgeschichte zu transzendieren« (Csúri 2016, 50). Cellbrot hingegen nimmt die nietzscheanisierende Lektüre auf, um die dialektische Harmonisierung des ›traumhaften Überblicks‹ aufzubrechen. Realisiert sieht er in den drei Gedichten die »Dissoziation des lyrischen Ichs«, insofern das durch Nietzsche aufgespannte »apollinisch-dionysische Widerspiel« es dem Ich aufzwingt, »zugleich Subjekt und Objekt zu sein«, absolutes, transzendentales Subjekt und zugleich durch dieses Subjekt mitgeschaffene empi-

P. Theisohn

rische Existenz (Cellbrot 2003, 55–57). Ansichtig würde in »Drei Träume« folglich die »Gegensatzverspannung«  (ebd.) dieser beiden paradoxal miteinander im Ich verschalteten Entitäten. (Ähnlich auch Görner, der die »Drei Träume« als eine Adaption von Nietzsches ›ewiger Wiederkunft des Gleichen‹ liest, die Trakl jedoch »als etwas Tragisches« umdeute; Görner 2014, 55.) Sieht man einmal davon ab, dass, um Mathias Mayer zu zitieren, sich »[m]it Nietzsche […] bei Trakl alles und nichts erfassen« lässt (Mayer 2009, 87), so wäre zumindest zu konstatieren, dass der theorematische, auf Nietzsche rekurrierende Zugriff auf »Drei Träume« – wie man ihn auch wenden mag – die Gedichte unmittelbar in einem philosophiehistorischen Bedeutungszusammenhang fixiert. (Millington spricht explizit davon, dass die »Drei Träume« Trakls Versuch darstellten, »to align the worldview of his poetry with a received philosophical concept«; Millington 2020, 30.) Erhärten ließe sich eine solch stark vereindeutigende Referenz womöglich durch lesebiographische Hinweise (vgl. Kemper 1984, 283 f.). Indessen vernachlässigt eine solche Lektüre prinzipiell das formale wie das semantische Detail und suggeriert damit auch eine fundamentale Differenz zwischen dem Frühwerk Trakls und seiner Folgedichtung. Zweifellos handelt es sich bei »Drei Träume« um einen für Traklsche Verhältnisse szenisch ungewöhnlich klaren, die den Versen unterliegenden – eben: traumhaften – Verknüpfungen recht deutlich explizierenden Text; die für Trakl später typischen Asyndeta fehlen. Auffällig ist auch die Häufung von Wörtern, die im TraklKosmos sehr selten, wo nicht singulär sind (»Widerhall«, »Sternenfall«, »tragisch«, »phantastisch«, »prasselnd«, »Tragödia« und natürlich »Dornenall«), was für eine Avant-Stellung des Zyklus spricht. Auch die »Harfen« existieren ausschließlich im Frühwerk; die Form »Bronnen« findet sich außerhalb des Frühwerks nur noch einmal, nämlich im nicht gedruckten Erstentwurf von »Der Spaziergang« (ITA I, 529). Gleichwohl lohnt es sich, die drei Gedichte insbesondere mit dem Blick auf Trakls poetische Entwicklung nochmals näher zu be-

69  »Drei Träume« (1909)

trachten. Das erste Gedicht weist etwa mit den »weiten Wäldern« und den »dunklen Seen« bereits zwei landschaftliche Topoi auf, die Trakls Werk bis hinunter zu »Grodek« stets begleiten werden. Indessen ist der Modus, in dem sie hier erscheinen, ein bemerkenswert distanzierter: Kein Sinneseindruck wird hier portiert, nicht einmal ein Traumbild, sondern ein vermeinter Traum. »Mich däucht, ich träumte«: Der Wirklichkeitsstatus nicht nur des sehr konkret vorgestellten Trauminhalts, sondern der Wirklichkeitsstatus des Traumvorgangs selbst ist nicht gesichert, bleibt Vermutung. Die aufscheinenden Bilder sind unendlich vermittelt, in ihrem Ursprung unbekannt, eben: Widerhall. Die Auflösung der Dinge in ihren Spuren, der auch die Verselbständigung der Körperteile entspricht, ist dabei zweifellos symbolistisches Erbe. Nicht nur der »Sternenfall« erinnert doch deutlich an Hofmannsthals »[s]tummes Niederfallen ferner Sterne« in »Manche freilich …« (Hofmannsthal 1979, I, 26). Auch die Reihe »Von blasser Augen weinendem Flehn, / Von eines Lächelns Widerhall« gemahnt an den »Vorfrühling« (dort waren es der Flöte »schluchzender Schrei« und die »Lippen im Lachen«, die im Frühlingswind mitaufgespeichert waren, ebd., 17 f.). Medialisiert ist aber auch das Ich, dessen ewige Wiederkehr selbst als die eines »Traumes unsterblicher Widerhall« erfolgt. Das Subjekt der Rede erfährt sich als Effekt, als oneirische Rückkopplung. Das Programm, dem das Gedicht mitsamt der in ihm aufgerufenen Weltausschnitte entstammt und in welchem es sich mit diesen – unverstellt – zusammenschließen würde, bleibt ihm zugleich verschlossen, unverständlich. Diese Unverständlichkeit ist aber auf die Poetologie dieser Dichtung selbst zu beziehen: In ihrer Vollendung wird sie die Position des Ichs mit der des Lesers vertauscht haben, der in Trakls Werk einer permanent gestörten Semiose ausgesetzt sein wird. Wo »Drei Träume« diese Störung aber noch durch die Reflexion eines Subjekts aufzufangen versucht, wird sich dem Trakl-Leser hingegen immer wieder die Frage aufdrängen, inwiefern der hier beschworene »Widerhall« von Welt in der Sprache überhaupt noch hermeneutisch belastbar ist – oder ob der ›Traum‹ alleine

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die Potenzialität, die »Möglichkeit von Gegenständlichem« (Preisendanz 1966, 251) bezeichnet. Wo im ersten Gedicht der unverständliche »Sinn« den Kehrreim bildet, ist es im zweiten die »Seele«, die in allen vier Strophen aufscheint und durch die Verse kartiert wird. Die Attribuierung des Seelenbegriffs ist hier nicht zuletzt deswegen bemerkenswert, da hier tatsächlich ein nietzscheanischer Topos aufgegriffen wird, nämlich jener der Sophrosyne, wie »der apollinische Grieche« »jene schwer zu erringende Meeresstille der Seele« nennt (Nietzsche 1999, I, 101) und der bei Trakl der »Seele dunkle[r] Spiegel« resp. der »Seele dunkler Bronnen« entspricht. Gleichwohl ist bei Nietzsche jene aktivisch-poïetische Qualität gar nicht mit dem Seelenbegriff verbunden; das Dionysische‹ ist gerade nicht die Seele. Vielmehr ist die Seele, wie man in Zur Genealogie der Moral erfährt, etwas Nachträgliches, die »Verinnerlichung des Menschen«, die erst dann sich auszuwachsen beginnt, wenn »[a]lle Instinkte, welche sich nicht nach Aussen entladen, […] sich nach Innen« wenden (Nietzsche 1999, V, 322). Die Seele resultiert aus äußerer Hemmnis, aus Strafe, ihre Tiefe aus Grausamkeit. Der zweite der »Drei Träume« mag davon wissen; er hypo­ stasiert jedoch zugleich die Seele und erhebt sie zur kosmischen Schöpferin. Sie ist zwar »Spiegel« (und hierin Medium, was tatsächlich nietzscheanisch gedacht wäre): Nichts jedoch bleibt außerhalb dieses Spiegels, nichts ist mehr als Spiegelung, »in allem« scheint sich die Seele ›wiederzufinden‹. Diese demiurgische Potenz der Seele findet sich in Trakls Werk immer wieder vereinzelt (etwa in »Traumwandler«: »Und meiner Seele Echo – der Wind!«, ITA I, 152; auch in »An einen Frühverstorbenen«: »Seele sang den Tod, die grüne Verwesung des Fleisches, ITA III, 402). Dominant wird sie – gegenüber der seelischen Passivität, dem ›Staunen‹, ›Lauschen‹, ›Erfasst‹- und ›Gefüllt‹-Werden – gleichwohl nicht. Auch dieses theorematische Changieren, das Nebeneinander von Tun und Leiden, wie es im seelischen ›Schauern‹ in Vers 25 (der, wie oben angemerkt, auch metrisch changiert) recht präzise eingefasst ist, hat poeto-

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logischen Wert, insofern die »namenlosen« resp. »tiefen Gesänge[]«, denen das Gedicht selbst zuzurechnen ist, ihre Bilder schöpfen und ›bewegen‹, so wie sie von ihnen zugleich erfüllt werden, aus ihnen geschaffen sind, vom »Atemwehen ewiger Mächte« bewegt werden. Mit den Intertexten jenes zweiten Gedichtes ist zugleich aber auch der Canvas des dritten ausgebreitet. Neben dem von den Herausgebern der ITA vermuteten Bezug der »seltsam belebte[n], schimmernde[n] Gärten, / Die dampften von schwülen, tödlichen Wonnen« zu Octave Mirbeaus Le Jardin des supplices (1899) (vgl. ITA I, 230), ist hier einmal mehr Hölderlin Vorzeichner: Die »Bilder niegeseh’ner Meere« finden sich als tatsächlich »Niegesehene Meere« in »Die Bücher der Zeiten« (vermutlich 1787/88), in einer Strophe zudem, die zwar nicht »ohn' Anfang und Ende«, aber »Niegedacht von Anbeginn« schließt (Hölderlin 1975– 2008, I, 323). Tatsächlich bildet Hölderlins Gedicht auch den Resonanzraum jenes schnell auf Nietzsche rückbezogenen Sonetts. Gerade die Anfangszeilen (»Ich sah viel Städte als Flammenraub / Und Greuel auf Greuel häufen die Zeiten, / Und sah viel Völker verwesen zu Staub«) berufen doch deutlich Hölderlins »Länderverwüstung und Völkerverheerung« (ebd., 317), überhaupt: die ganze katastrophische Reihe der Zeitenbücher hinab, an deren Ende »Ein gefallen Greuelgeschlecht« steht – das bei Hölderlin aber durch Christus »erlößt« wird (ebd., 322). Stellt und beantwortet »Die Bücher der Zeiten« die Theodizee-Frage, so steht dem bei Trakl zunächst die »ewig gleiche Tragödie« (auf Textstufe 3d um des Reimes Willen zu »Tragödia« angeglichen) entgegen, im Vorgedicht bereits in den »tragisch phantastische[n] Länder[n]« angekündigt, durch Vers 39 (»Die also wir spielen sonder Verstehn«) auch noch an das erste Gedicht zurückgebunden. Die Verknüpfung der »Tragödie« mit dem verständnislosen Spiel bleibt dabei für die Deutung des Sonetts bedeutsam. Ob eine Tragödie gespielt wird, die wir nicht verstehen, oder ob die Tragödie gespielt wird, weil wir nicht verstehen, die also nur Tragödie ist, weil im Zyklus von »neue[m] Leben« und »Verwesung« zwar nach Sinn ermittelt, dieser aber nicht gefunden wird – das steht der Deutung offen.

P. Theisohn

Für Letzteres spricht das zweite Terzett (die Verse 40–42): Die »wahnsinnsnächtige Qual« der Tragödie »[u]mkränzt« »[d]er Schönheit sanfte Gloria / […] als lächelndes Dornenall«. Das klingt tatsächlich nach ästhetischer Rechtfertigung des Daseins, nach der Aufhebung des Schreckens im Schönen. Zugleich aufgerufen ist aber hierbei das Martyrium im Neologismus des »Dornenall[s]«, das über die Dornen isotopisch mit der Passion Christi verbunden ist – die wiederum als kosmisches Geschehen in Hölderlins Gedicht das »bunte Zeitengewimmel« legitimiert (Hölderlin 1975– 2008, I, 321). Während dort »Jesus Christus Creuzestod« mit einem zweifachen »Hallelujah« verkündet wird, sodass Seraphim und Cherubim in »Staunende Still« verfallen, »Weit in den Himmelsgefilden umher […] / Des Harfenklangs Verstummen« sich ausnimmt (ebd., 321 f.), rekonfiguriert Trakls Sonett das Geschehen. Die »Gloria« bleibt, sie gehört freilich nun allein dem Schönen, das die Leiden Christi, das von der Dornenkrone umkränzte Haupt, den Himmelsgefilden als »lächelndes Dornenall« einschreibt. Das Schweigen der Engelsharfen verdankt sich nicht mehr dem Staunen der Engelschöre in der Höhe, »stürzen« diese doch bereits in der zweiten Strophe »zur Nacht«, während »[d]ie heiligsten Harfen ohnmächtig zerschellen«. Nach der Entleerung der Himmel bleibt die Rechtfertigung des Daseins durch das Schöne immer noch eine Rechtfertigung des Leids. Trakls »Drei Träume« – und nicht nur diese – werden getragen von der Logik ästhetischer Immanentisierung: Die »Artisten-Metaphysik« mag die Götter stürzen; sie tritt aber immer noch an ihre Stelle und muss ihre Züge in sich aufnehmen. Über die Passion selbst kommt diese Dichtung deshalb nie hinweg. Das Schöne selbst muss Dorn, muss göttliches Leiden werden.

Literatur Cellbrot, Hartmut: Trakls dichterisches Feld. Freiburg i. B. 2003. Csúri, Károly: Konstruktionsprinzipien von Georg Trakls lyrischen Textwelten. Bielefeld 2016.

69  »Drei Träume« (1909) Görner, Rüdiger: Georg Trakl. Dichter im Jahrzehnt der Extreme. Wien 2014. Hofmannsthal, Hugo von: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Hg. von Bernd Schoeller. Frankfurt a.M. 1979. Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe. Hg. von D.E. Sattler. Frankfurt a. M. 1975– 2008. Kemper, Hans-Georg: Nachwort. In. Ders./Frank Rainer Max (Hg.): Georg Trakl. Werke – Entwürfe – Briefe. Stuttgart 1984, 269–320. Mayer, Mathias: Nietzsche-Verwerfungen bei Georg Trakl. In: Thorsten Valk (Hg.): Friedrich Nietzsche

421 und die Literatur der klassischen Moderne. Berlin/ New York 2009, 87–100. Millington, Richard: The Gentle Apocalypse. Truth and Meaning in the Poetry of Georg Trakl. Rochester (NY) 2020. Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München 1999. Preisendanz, Wolfgang: Auflösung und Verdinglichung in den Gedichten Georg Trakls. In: Wolfgang Iser (Hg.): Poetik und Hermeneutik: Immanente Ästhetik – Ästhetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne. München 1966, 227–261 und 485–494.

»Das Grauen« (1909)

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Mario Zanucchi

Trakls Sonett »Das Grauen«, das vermutlich Anfang Juni 1909 entstand, liefert ein prägnantes Beispiel für die Literarizität der »Sammlung 1909«, deren intertextuelle Faktur bisher in der ITA nur rudimentär erschlossen wurde. Strukturiert ist der Text nach dem – nicht kanonischen – Reimschema abba cbbc ddf ddf, mit einem nur partiellen Reimwechsel in der italienischen Oktave und einem französischen, paargereimten Sextett. Im Zentrum des Gedichts steht das »Grauen« des Wahnsinns. Dargestellt wird eine im Traum erlebte Depersonalisation, bei der das lyrische Ich von seinem dunklen Persönlichkeitsanteil überwältigt und schließlich in den Untergang getrieben wird. Zentral sind die akustischen Wahrnehmungen – die heulenden Hunde, der wehende Föhn –, welche eine bedrohliche Landschaft ausmalen. Die unwirkliche Stille und, im letzten Terzett, das kaum hörbare, leise Rauschen der mit Samt bespannten Tür lassen den Eindruck einer gespenstischen Vereinsamung entstehen. Das erste Quartett entwirft eine traumhafte Vision (»Ich sah mich«) und zeigt das lyrische

M. Zanucchi (*)  Deutsches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Freiburg, Deutschland E-Mail: [email protected]

Ich im Traum durch verlassene Zimmer wandeln. Das irre Tanzen der Sterne lässt auf seinen schwankenden Gang infolge seines fiebrigen Zustands schließen. Draußen ist die Nacht von unheilvollen Zeichen erschüttert. Der wütende »Föhn« ist C. F. Meyers »Vor der Ernte« entliehen, während die bellenden »Hunde« und das Reimwort »Grunde« Eichendorffs Gedicht »Überm Lande die Sterne« zitieren. Bedeutsam ist auch Trakls Modifikation und Verfremdung seiner Vorlagen. So führt er einen unreinen Reim in Meyers Prätext ein (»Föhn« / »gehen«). Während die Sterne bei Eichendorff ›die Runde machen‹ (Eichendorff 1985–1993, I, 401), lässt Trakl sie »irr« tanzen. Die nächtliche Landschaft wird in ihrer Bedrohlichkeit zum Spiegel des Psychischen. Im zweiten Quartett verstummt die Natur, während das Dichten des lyrischen Ich als fieberhaftes Delirium erscheint, wobei die Blumenmetapher nicht nur Maeterlinck (»blühen aus ihrem Munde / Blumen«, Maeterlinck 1906, 30, »Aquarium«), sondern auch Baudelaires Blumen des Bösen evoziert. Als Antwort der Natur auf den sinistren Gesang des Ich fällt der Tau aus den Ästen wie Blut aus einer Wunde. Eine chiastische Vertauschung vollzieht sich. Das Menschliche wird ins Vegetabilische verfremdet, während die Natur auf ebenso unheimliche Weise anthropomorphisiert wird. Nach dieser Einleitung zeigt das Sextett die wahnhafte Entstehung des verfolgenden

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_70

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Doppelgängers, dem das Ich schließlich zum Opfer fällt. Während der erste Teil des Sonetts im Modus der Selbstbeobachtung gehalten ist – »Ich sah mich«, »aus meinem Munde« –, enthält das erste Terzett keinen Ich-Bezug mehr. Gerade das Verschwinden des Ichs aus der Bildfläche ist das Präludium seiner Depersonalisationserfahrung. So entsteht der Doppelgänger in Gestalt eines mörderischen Bruders (»Kain«) ­ wie von selbst aus der Spiegeloberfläche, welche in der verzerrten (und daher »trügerischen«) Wahrnehmung des Ich »leer« scheint. Erneut tritt das Ich erst im letzten Vers auf, und zwar auf engstem Raum mit seinem Doppelgänger zusammen, der ihn in den Selbstmord treiben wird – »Da bin mit meinem Mörder ich allein«. Die von Trakl entworfene suizidale Szenerie variiert das Motiv des verfolgenden Doppelgängers, das von E.T.A. Hoffmann und E.A. Poe ausgehend die Literatur von Dekadenz und Expressionismus durchzieht. Die unheimliche Selbstspiegelung ist in der Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ein verbreiteter Topos. Sie begegnet bei vielen von Trakl geschätzten Autoren, etwa bei Heine (im zwanzigsten Gedicht des »Heimkehr«-Zyklus im Buch der Lieder), bei Nietzsche (im Zarathustra-Kapitel »Das Kind mit dem Spiegel«), oder bei Lisa Baumfeld (im Gedicht »In Schönheit«; Baumfeld 1900, 5). Als Prätext für die von Trakl dargestellte Spiegelungsszene scheint allerdings vor allem Maupassants Novelle Le Horla (1886/87) in Frage zu kommen, die einige Jahre vor dem Ausbruch der Geisteskrankheit‹ des französischen Schriftstellers entstand. Sie ist in zwei Fassungen überliefert. Die Erstfassung ist die rückblickende Schilderung eines Patienten von seinem Krankheitsverlauf, die an die ihn behandelnden Ärzte adressiert ist. Die zweite Fassung dagegen hat Tagebuchcharakter und ist nur noch für den Schreibenden selbst bestimmt, der von der allmählichen Zerstörung der eigenen Persönlichkeit berichtet, bis der Wahnsinn, die Herrschaft des Horla, vollständige Macht über den Ich-Erzähler gewonnen hat. Als das letzte Mittel, um dem unsichtbaren Wesen zu entkommen, bleibt nur der Selbstmord. Gerade diesen selbstzerstörerischen Epilog hat auch Trakl

M. Zanucchi

übernommen, wobei sein lyrisches Ich allerdings in der Rolle des Opfers und nicht des Täters erscheint. Auf Maupassants Erzählung verweist auch die anfängliche »trügerische Leere« des Spiegels. So vermisst auch der Erzähler von Maupassants Le Horla zunächst das eigene Bild im Spiegel: »Man sah hier so gut wie am hellen Tage, und ich sah mich nicht in meinem Spiegel. Das Glas war leer, klar, tief, hell erleuchtet, aber mein Bild war nicht darin« (Maupassant 2016, 29). Der fieberhafte Zustand, den Trakl in Vers 5 (»Dumpfe Fieberglut«) evoziert, befällt auch Maupassants Erzähler. Ebenso könnten die Tür und das Fenster in Trakls Sonett als Hinweise auf Maupassants Novelle gelesen werden, in welcher der Erzähler sein Schlafzimmer mit einer Sicherheitstür und Fenstergittern ausstatten lässt, um sich vor dem ihn verfolgenden Wesen zu schützen. Während bei Maupassant der Horla jedoch unbestimmt bleibt, charakterisiert Trakl ihn als »Kain«, als mörderischen Bruder des lyrischen Ich. Die Anregung dazu kam möglicherweise aus einem Auszug von Henry Heiselers Der Leibwächter, der 1902/1903 in den Blättern für die Kunst publiziert worden war und in dem sich das lyrische Ich im Spiegel als Kain vorkommt (Heiseler 1902/03, 109–110). Gerade diese intertextuelle Parallele zeigt, dass Trakl zwar Georges Poetik für sich ablehnte, die Blätter für die Kunst aber durchaus las und rezipierte. Der ausgesuchte Reim »Leere« / »Portiere« belegt schließlich Trakls Kenntnis der Lyrik Richard von Schaukals (»Schwere silbergraue Portieren, / Weisse Göttergestalten mit grossen, leeren / Augen […]«, Schaukal 1904, 97, »Rokoko«). Die durch die Spiegelung repräsentierte narzisstische Selbstverfallenheit steigert sich bei Trakl zur Selbstzerstörung – wie der Protagonist von Maupassants Novelle geht auch Trakls lyrisches Ich an sich selbst zugrunde. Die zweimal in Reimstellung exponierte »Leere« veranschaulicht nicht nur seine äußere Isolation, sondern auch die vom narzisstischen Autismus gezeitigte innere Leere. Das Sonett belegt die Bedeutung von psychopathologischen Zuständen und Depersonalisationserfahrungen für Trakl und erkundet das für seine Poetik zentrale

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Bedingungsgeflecht von Dichten, Vereinsamung und Selbstzerstörung.

Literatur Baumfeld, Lisa: Gedichte. Mit einem Vorwort von Ferdinand Gross. Wien 1900. Eichendorff, Joseph von: Werke in sechs Bänden. Hg. von Wolfgang Frühwald, Brigitte Schillbach und Hartwig Schultz. Frankfurt a. M. 1985–1993.

425 Heiseler, Henry: Aus: Der Leibwächter. In: Blätter für die Kunst. Sechste Folge (1902/03), 108–110. Maeterlinck, Maurice: Gedichte. Verdeutscht von K. L. Ammer und Friedrich von Oppeln-Bronikowski. Jena: Eugen Diederichs 1906. Maupassant, Guy de: Unheimliche Geschichten. Üs. von Georg Freiherr von Ompteda. Berlin 2016. Schaukal, Richard von: Ausgewählte Gedichte. Leipzig 1904.

»Confiteor« (1909)

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Ursina Sommer

»Confiteor« entsteht kurz vor dem 10.6.1909. Als einziges Gedicht der von Trakl selbst zusammengestellten und später verworfenen »Sammlung 1909« gelangt es – vermutlich über Trakls Schwester Grete – in die Abschriften Arthur Langens von 1910/11. Eine weitere Abschrift nimmt Ilse Demmer für ihre Dissertation 1933 vor. Als Teil der »Sammlung 1909« wird es 1939 von Erhard Buschbeck zusammen mit weiteren Jugendgedichten Trakls unter dem Titel Aus goldenem Kelch erstmals veröffentlicht. Die drei Überlieferungen unterscheiden sich jeweils geringfügig und ohne inhaltliche Auswirkungen in Interpunktion und Orthographie (vgl. ITA I, 213–215). Da das verlorene Original in dieser Hinsicht nicht rekonstruierbar ist, werden diese Unterschiede in der Deutung nicht berücksichtigt. Der Titel, »Confiteor«, lateinisch für ›ich bekenne‹, verweist auf das christliche Sündenbekenntnis in der Messliturgie. In Anlehnung daran ist das Gedicht als das Schuldbekenntnis eines Ichs zu lesen, dem die materielle Wirklichkeit als von Tod und Zerfall gezeichnete Schattenwelt erscheint, welche es mit Ekel erfüllt. Bilden Ich-Gedichte bei Trakl ohnehin

U. Sommer (*)  Deutsches Seminar, Universität Zürich, Zürich, Schweiz E-Mail: [email protected]

eher die Ausnahme, so trifft man hier ein Ich an, welches im Passiv des Titels eingeschlossen und dementsprechend inaktiv gehalten ist. Das Gedicht gliedert sich in drei vierzeilige Strophen aus jambischen Fünfhebern, bei denen sich männliche mit weiblichen Kadenzen kreuzen. Diese formale Gestaltung veranlasst Rainer Hillenbrand zur Feststellung, dass es sich bei diesem frühen Gedicht »um eine konventionellere Art Lyrik als in Trakls Spätwerk« handelt, wobei er gleichzeitig betont, dass damit eine »unmittelbar verständliche Einfachheit der Aussage« begünstigt wird (Hillenbrand 2021, 87). In der ersten Strophe enthüllt das Ich, dass es die »bunten Bilder, die das Leben malt« (ITA I, 215; Zitation im Folgenden hiernach), »umdüstert nur von Dämmerungen« wahrnimmt. Eingeleitet durch das transitive Verb »Seh’ ich« wird eine Trennung vollzogen zwischen den Objekten der Lebenswelt und deren Wahrnehmung als »kraus verzerrte Schatten«, hinter denen stets der Tod lauert. Der artifizielle, leere Charakter dieser Abbilder wird formal durch das unrein reimende Paar »malt« und »kalt« hervorgehoben, bei dem der klangvolle Langvokal auf einen plosiv eingeleiteten Kurzvokal prallt. Diese Trennung von Schein und Sein wiederholt sich in der zweiten Strophe. Erneut wird mit »Seh’ ich« die Wahrnehmung des Ichs in Szene gesetzt. Diesem offenbart sich nun, »da von jedem Ding die Maske fiel«, eine Wirklichkeit geprägt von »Angst, Verzweiflung, Schmach

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_71

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und Seuchen«. Das menschliche Leben verkommt somit zum »heldenlosen Trauerspiel«, gespielt auf »Gräbern, Leichen«. In der dritten Strophe schließlich zieht das Ich Bilanz aus dem Gesehenen, des demaskierten Lebens, dessen buntes Antlitz die Düsterkeit nur oberflächlich bedeckt: »Mich ekelt dieses wüste Traumgesicht«. Dessen ungeachtet ist das Ich zum Verweilen in diesem traurigen Theater des Lebens gezwungen, als »Komödiant, der seine Rolle spricht«. Das Gedicht endet mit dem verzweifelten, das Gesagte zusammenfassenden Ausruf: »Langeweile!«. Regine Blass zufolge sei es die »Intention« von »Confiteor«, »die Welt als die schlechteste aller möglichen darzustellen«, wobei sie die mangelnde Originalität dieses Sujets anprangert, welches »uns in weit besserer Gestaltung« bekannt sei (Blass 1968, 57). Eine solche Deutung stellt jedoch eine folgenreiche Verkürzung des Sprechaktes des Ichs dar, welches als wahrnehmendes Subjekt im Zentrum steht (»Seh’ ich«). Was in den drei Strophen problematisiert wird, ist weniger die Verdorbenheit der Scheinwelt, als vielmehr die Wahrnehmung derselben durch das Ich zum einen – und die Art und Weise, wie es das Wahrgenommene in Sprache zu fassen sucht, zum anderen. Die ersten beiden Strophen greifen auf antike und christliche Bilder zurück, um die Verdorbenheit und Falschheit der vermeintlich fröhlichen Alltagswirklichkeit auszustellen – nicht ohne den Blick, der auf diese Bilder fällt, mitzureflektieren. So evozieren die verzerrten Schatten der ersten Strophe die antike Vorstellung vom Tod als Schattenwelt, wobei Hillenbrand überzeugend zeigt, wie die Übertragung dieses Bildes auf die moderne Lebenswelt im Gedicht dazu dient, jene »als eigentliches Todesreich« zu entlarven (Hillenbrand 2021, 87). Hinsichtlich ihrer Unwirklichkeit reminiszieren die Zerrschatten die Schattenbilder im platonischen Höhlengleichnis, wo sie für die vergänglichen Objekte der sinnlich wahrnehmbaren Welt stehen. Der einzige Ausweg aus dem sinnbildlichen Gefängnis führt dabei nach oben, zur Sonne der geistigen Welt – der einzig wirklichen Welt. Das Gedicht positioniert das Ich am Höhlenausgang

U. Sommer

allerdings in der Gegenperspektive: Statt vom Schatten über das Bild zur Sonne schreitet es vom bunten Bild zu den Schatten zurück. Somit bleibt das Gedicht, obschon es mit »bunten Bilder[n]« eröffnet wird, bemerkenswert farblos. Gerade vor dem Hintergrund, dass in Trakls Lyrik die Farben als Sinnträger fungieren, ist die Abwesenheit jeglicher Farbe in »Confiteor« also formal konsequent wie poetologisch sprechend. Insofern es diese Unwirklichkeit zwar durchschaut, es sich zugleich dieser Dämmerwelt jedoch nicht zu entziehen weiß, ist die Sprechsituation des Gedichts ambivalent angelegt. Auch die zweite Strophe setzt den Akt des Schauens in Szene, der die Nichtigkeit der Welt erfasst und offenlegt, indem sie den barocken Topos vom Menschen als Schauspieler auf der Bühne des theatrum mundi abruft. Während diesem Vergänglichkeitssinnbild im Barock jedoch die christliche Ewigkeitsvorstellung entgegengesetzt wird, bleibt bei Trakl dem Ich ein tröstlicher Blick ins Jenseits verwehrt. Diese gegensätzliche Perspektivierung lässt sich anhand eines Vergleichs mit Gryphius’ Sonett »Es ist alles eitel« verdeutlichen. Dessen Eröffnungsvers – »Du siehst, wohin du siehst / nur Eitelkeit auf Erden« – richtet den Fokus auf die Vergänglichkeit der Welt und richtet in der Gegenbewegung des Schlussverses den Blick nach oben, auf eine tröstliche Ewigkeit im christlichen Jenseits. Wenn Blass an »Confiteor« das Aufgreifen der »uns längst geläufigen Aspekte vom eitlen Glanz der Welt und Trug des Lebens« (Blass 1968, 57) kritisiert, so verkennt sie dabei, dass sich Trakls Einarbeitung dieser Traditionsversatzstücke in den ersten beiden Strophen nicht in einem epigonalen Akt erschöpft, sondern die Art ihrer poetischen Aneignung und Transformation sinnstiftend wirkt. So bedient sich das Gedicht der Tradition, indem es ihre Codes verbraucht. Anhand der Verweise auf die geistige Transzendenz in der ersten und die religiöse Transzendenz in der zweiten Strophe wird dabei die Frage nach der Möglichkeit von Präsenz in einer dem Untergang geweihten Welt gestellt. Hieraus erklärt sich auch das Motiv des Komödianten in Vers 11: Wenn alle Codes der Transzendenz verbraucht sind, wenn

71  »Confiteor« (1909)

infolgedessen Tragik unmöglich geworden ist, bleibt als letzter Modus der Rede das komödiantische Sprechen übrig. Zum Schluss des Gedichts vollzieht sich somit ein sinnlicher Paradigmenwechsel vom Sehen hin zum Sprechen, infolgedessen das sehende Ich der ersten beiden Strophen als Komödiant wieder zum Vorschein kommt, der seine Rolle nicht erwartungsgemäß spielt, sondern »spricht«. Diese Passivität spiegelt sich im grammatischen Subjekt-Objekt-Wandel von »Seh’ ich« (V. 2, 6) zu »Mich ekelt« (V. 9). Das Subjekt dieses Ekels, »dieses wüste Traumgesicht«, ist dabei ambivalent: Einerseits wird der Ekel hervorgerufen durch das wahre Antlitz der demaskierten Welt, andererseits bezieht sich das Traumgesicht auf die Ganzheit der sehenden Augen in den ersten beiden Strophen und des sprechenden Munds in der letzten Strophe: auf das Gesicht des Ichs selbst, das somit gleichzeitig zum Subjekt und Objekt, zum Sender und Empfänger, des Ekels wird. Der Weltekel und die verzweifelte Langeweile in diesem frühen Gedicht wurden in der Forschung wiederholt auf eine Nachahmung des symbolistischen Spleens reduziert. In diesem Zusammenhang ist es bezeichnend, dass Trakl seinen Gedichttitel Baudelaires »Le Confiteor de l’artiste« entnimmt, die Bezeichnung ›artiste‹, jedoch weglässt. Das Ich gibt sich in seinem Sprechakt zwar als Urheber des Gedichts zu erkennen, versagt sich jedoch die Bezeichnung eines Künstlers. »Confiteor« ist somit das Bekenntnis eines dichtenden Ichs, das, seinerseits Teil der sterblichen Welt als wüstem Traumgesicht, dem Gesehenen sprachlich keine sinnhafte Präsenz verleihen kann und den Verfall mit seiner Dichtkunst nicht aufzuhalten vermag. Auch wenn Erhard Buschbecks Behauptung, Trakls frühe Gedichte seien als ein »persönliches

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Dokument« zu lesen, »in dem sich das Werden des Dichters vielfältig spiegelt« (Buschbeck 1939, 8), mit Vorsicht zu genießen ist, so besitzt »Confiteor« durchaus einen repräsentativen Charakter für Trakls frühe Schaffensphase. Trakl erschafft in diesem Gedicht ein Dichter-Alter Ego, welches, eine Stimme jenseits von aufgezwungenen Rollen suchend, diese noch nicht vollumfänglich zum Klingen bringt. So ergibt es durchaus Sinn, wenn Erich Bolli feststellt, dass »im Frühwerk gerade wegen der poetischen Dürftigkeit gehaltliche und formale Intentionen noch deutlicher zutage treten als in späteren Gedichten« (Bolli 1978, 11), und wenn Hillenbrand darin »eine abstrakte Gedankenlyrik« (Hillenbrand 2021, 84) erkennt. Womöglich liegt darin das wahre Bekenntnis: Dichtkunst zu wagen, ohne sich selbst als Künstler zu sehen. »Confiteor«, das passivisch gehaltene Bekenntnis, ist durchaus zu lesen als »Selbstauffassung des Dichters« (Kohlschmidt 1954, 102) auf dem Weg hin zu einer Poetik, die dereinst sein Spätwerk auszeichnen soll.

Literatur Blass, Regine: Die Dichtung Georg Trakls. Von der Trivialsprache zum Kunstwerk. Berlin 1968. Bolli, Erich: Georg Trakls »Dunkler Wohllaut«. Ein Beitrag zum Verständnis seines dichterischen Sprechens. Zürich 1978. Buschbeck, Erhard (Hg.): Aus goldenem Kelch. Die Jugenddichtungen. Salzburg 1939. Hillenbrand, Rainer: Wirklichkeit und Unwirklichkeit bei Georg Trakl. Zu den Gedichten »Confiteor«, »Allerseelen«, »Abendlied«, »An einen Frühverstorbenen« und »Der Abend«. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 95 (2021), 81–114. Kohlschmidt, Werner: Der deutsche Frühexpressionismus im Werke Georg Heyms und Georg Trakls. In: Orbis litterarum 9 (1954), 3–17; 100–119.

»Blutschuld« (1906)

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Shantala Hummler

Das vermutlich schon 1906 entstandene und abseits der »Sammlung 1909« nur noch in einer Abschrift Ilse Demmers vorliegende »Blutschuld« stellt die moderne Spielart eines Mariengebets dar, die eine christlich topische Verschränkung des Gewahrwerdens einer Schuld und Verzeihungsbitte variiert. Kennzeichnend hierfür ist die formelhafte Wiederholungsstruktur des Gedichts: Jede der drei Strophen schließt mit der Anrufung der Schutzheiligen (»Verzeih uns Maria in deiner Huld!«), wobei der prädikative Vorsatz von »wir beten« (V. 4) über »wir träumen« (V. 8) zu »wir schluchzen« (V. 12) moduliert wird. Das Gedicht beginnt in medias res: Mit der einbrechenden Nacht senkt sich geisterhaftes Flüstern über ein Liebeslager: »Wer nimmt von euch die Schuld?« (ITA I, 96). Versunken in rauschhafter Verzückung heben die der Sünde Bezichtigten zum Bittgebet an. Doch schwere süße Duftschwaden umnebeln die Sinne der Angerufenen und lassen die Figuren in die Betäubung des Rauschs zurücksinken; das Gebet entschwebt in die Sphäre der Träume. In der letzten Strophe hat sich die Finsternis sodann

S. Hummler (*)  Deutsches Seminar, Universität Zürich, Zürich, Schweiz E-Mail: [email protected]

vollends über die Szene gelegt: Im Delirium erscheinen dem »wir« Unheil verheißende Chimären, der Raum füllt sich an mit sündhaften Klängen und schließlich ertönt schluchzend ein letztes Flehen um Verzeihung. Das Gedicht unterteilt sich in drei Strophen zu je vier Versen, die metrisch unregelmäßig gebaut sind. Dagegen verhält sich das Reimschema – ein Kreuzreim, in dem sich der Endreim des zweiten und vierten Verses von Strophe zu Strophe wiederholen – durchgehend gleichmäßig. Ebenso gleichförmig ziehen sich der Pentameter als konstantes Versmaß und eine alternierende Kadenz der Verse durch. Die motivischen und formalästhetischen Korrespondenzen mit den im selben Band erschienenen Gedichten »Der Heilige«, »Die tote Kirche« und »Metamorphose« lassen vermuten, dass der erste Textzeuge um den Herbst 1906 verfasst worden sein dürfte (ITA I, 94). Als Konvergenzpunkt dieser Gedichte zeichnet sich ein für Trakls Poetik eminenter Topos ab: der zerrüttete Zustand der Kirche, die Aushöhlung christlicher Praktiken. Dagegen hat die Forschung zu »Blutschuld« ihren Fokus auf ein ganz anderes Motiv gelegt: den Inzest. So konstituiert die biographische Lesart, die das Gedicht zu einem lyrischen Zeugnis für den vermeintlich faktischen Inzest zwischen Margarete und Georg Trakl erklärt, einen notorischen Diskurstopos innerhalb der literaturwissenschaftlichen Rezeption von »Blutschuld«. Dabei halten selbst jüngere Lek-

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türen, die sich dezidiert von der biographischen Folie abzusetzen suchen, das Inzestmotiv für zweifellos gegeben (vgl. Kemper 2014, 127– 130; Weichselbaum 2014, 55, 78 f.; Doppler 2005) und mögen darin eine literarische »Arbeit am Inzest-Mythos« (Weichselbaum 2005, 7) erkennen, die an einem zeitgeschichtlich virulenten Diskurs partizipiert. Der Schwester-Bruder-Inzest ist als Angespieltes jedoch nur um den Preis eines biographisch informierten Kurzschlusses zu haben. Allein vor diesem Horizont verkürzt sich das »wir« zu einem Paar, wird die angerufene Marienfigur zur Namenspatronin von Trakls Mutter, legitimiert sich der Sprung vom Mutter-Sohn-Inzest – der mit dem Sphinxmotiv über den Ödipusmythos gespielt aufgerufen wird – zur inzestuösen Vereinigung von Schwester und Bruder und wandelt sich der titelgebende Signifikant »Blutschuld«, der eindeutig Mord meint, gleichermaßen unter dem biographischen Deckmantel zur Blutschande (vgl. Detsch 1983, 9; Kuschel 1999, 430 f.). Dabei will nicht nur der auffallend vielgestaltige Motivkomplex, den das Gedicht arrangiert, sondern auch und gerade die Überschrift gelesen und gedeutet zu werden. So meint ›Blutschuld‹ wörtlich eine aus Mord erwachsene Schuld (vgl. Grimm 1860, 191). Diese paradigmatische Doppelfigur von Mord und Schuld, die der Text in suggestiven Bildern umkreist, lässt sich über die textuelle Verfugung dreier Motivkreise – des biblischen, des griechisch-mythologischen und des dekadentlyrischen – aufschlüsseln, die das Gedicht vornimmt. Angefangen beim Gedichttitel setzt der Text zunächst einen christlichen Bezugsrahmen, insofern »Blutschuld« die lutherische Übersetzung für das hebräische ‫ דם‬ist. So prangert der Prophet Hosea in seiner Strafrede etwa die Gottvergessenheit der Israeliten mit den Worten an: »Gotteslästern, Lügen, Morden, Stehlen und Ehebrechen hat überhandgenommen und eine Blutschuld kommt nach der andern« (Hos 4, 2). Insbesondere die Priester Israels rücken ins Visier seiner Blasphemie-Anklage, schließlich hätten sie die grassierende Entleerung der kultischen Praktiken zu verantworten. Damit setzt

S. Hummler

»Blutschuld« schon im Titel jenen religionskritischen Topos Trakls in abgewandelter, archaischer Gestalt als sein programmatisches Leitthema. Anschließend wird mit der ›dräuenden Nacht‹, aus der der lyrische Schauplatz sich heraushebt, die Szene als eine von unbestimmter Gefahr überschattete markiert und zugleich über das alludierte »Wundersame Abenddämmerung« Verlaines (Verlaine 1907, 30) als dekadente Abenddämmerung lesbar. Beide Momente – die verhängnisvolle Stimmung sowie die intertextuellen Verweislinien – potenzieren sich mit jeder folgenden Verszeile. So entfärbt das anaphorische »Es dräut« und das folgende »Es flüstert wo« die Szene weiter ins Gespenstisch-Finstere, das fürderhin zu einem körperlosen Sprechen anhebt. Dieses Sprechen, das als Stimme des Gewissens figuriert, trifft ihrerseits wiederum auf Resonanzkörper, die in einer ganz anderen Tonalität gestimmt sind, und zwar »noch bebend vor Wollust Süsse«. Mit der süßen Wollust aber öffnet das Gedicht einen literarischen Referenzraum, von dem Trakls Poetik sich maßgeblich herschreibt: Die Décadence. »Wollust · ich bleibe dein sklave«, heißt es in Georges Umdichtung von Baudelaires »La prière d’un païen« (George 1966–1969, XIII/ XIV, 108). Bleibt die Décadence hier zunächst noch ein anzitiertes Gegenbild, beschwört die zweite Strophe eine eindringlich sinnliche Welt aus intertextuellen Zitaten und Bebilderungen dekadent-symbolistischer Topoi herauf. Die »gierig[en]« Blumendüfte (V. 5), die »unsere Stirnen« »umschmeicheln« (V. 6), der »Hauch der schwülen Lüfte«, unter dem die Körper ermatten, entströmen – mitunter im Wortzitat – Verlaines Poèmes saturniens und Baudelaires Fleurs du mal. Die poètes maudits bleiben auch in der dritten Strophe die maßgeblichen Zitatgeber. Sowohl die Sphinx als auch die Sirenen, weibliche Mischwesen der griechischen Mythologie, figurieren als prominente Motive im Bildinventar der Décadencedichtung (vgl. etwa Baudelaires »La Beauté« und »Hymne à la Beauté« oder auch Rimbauds »Le Sphinx«) und markieren das ambivalente Verhältnis zum christlichen Werte-

72  »Blutschuld« (1906)

horizont, das Trakl mit der Décadence teilt. Dergestalt schließen sich die drei paradigmatischen Wortfelder mit der fragwürdigen »Blutschuld« folglich über den Nexus der Blasphemie zusammen. Vorderhand scheint sich der Antagonismus zwischen christlichem Wertehorizont und lustbetonter, dekadenter Sinnlichkeit, der das Zeichenmaterial arrangiert, auf zwei klar umrissene Sprechpositionen zu verteilen: Die dem zügellosen Rausch verfallene Gemeinschaft wird, von ihrem moralischen Gewissen heimgesucht, ihrer blasphemischen Sündhaftigkeit gewahr, woraufhin es die ikonische Schutzheilige ebenjener christlichen Moral mit der Bitte um Verzeihung und Erlösung im Gebet anruft. Freilich bleibt damit die Frage, wer hier spricht, nach wie vor ungeklärt. Folgt man indes den Spuren der Stimmen, die den Text durchsetzen, enthüllt sich ein vielschichtiges Verweisgefüge. Verrechnet man das ›Flüstern‹ im zweiten Vers semantisch mit der geflüsterten Rede, offenbart die Schuldanklage sich als ein phantasmagorisches Sprechen ohne Leib, die sich – mehr als nur eine Innerlichkeit suggerierend – als eine Stimme aus einer jenseitigen Abgeschiedenheit zu lesen gibt. Dergestalt erweist sich der christliche Wertehorizont hier zum einen als Verbürgung der Transzendenz, aber eben auch als eine Stimme aus dem Totenreich. Wenn es aber die Toten sind, denen die Aufrufung der metaphysischen Ordnung überantwortet wird, gehören nicht nur Anklage und Schuld, sondern insbesondere auch die eschatologische Hoffnung einer bereits abhanden gekommenen Welt an. Umgekehrt zeigt sich das angerufene Bewusstsein von derselben metaphysischen Haltlosigkeit durchsetzt, mithin als sehr wenig empfänglich für eine moralische Anklage, erreicht es sie doch nur (noch) als dumpfes Raunen, das die im Rausch Versunkenen schon nicht mehr wachzurütteln vermag. Vielmehr setzt das Gedicht den moralischen Stimmen – den Trägern des Sinns – mit den die »Stirnen« umschmeichelnden, »gierigen Düfte[n]« eine alles überfrachtende Sinnlichkeit entgegen. Das Sehen, sprich: das Erkennen bleibt beharrlich umnebelt von schweren Düften, feuch-

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ter Schwüle und ekstatischer Lust. Dementsprechend sieht »Blutschuld« konsequent von den leuchtenden Farben ab, die gewöhnlich den Traklschen Textraum mit symbolträchtigen Akzenten kolorieren, und entfärbt ihn, auf bloße Kontrastschattierungen heruntergeregelt, ins Gespenstische. Damit korrespondiert die narkotisierte Gebetsrede, die sich zum Traum entwirklicht (V. 8) und schließlich in einem verzweifelten Schluchzen (V. 12) seine eigene Hinfälligkeit bekundet. Mit den mythologischen Figuren der Sphinx und der Sirenen exponiert das Gedicht zwei weitere Bürgen einer metaphysischen Verankerung, die in jene Ökonomie von Schuld, Sühne und Erlösung der griechischen Götterwelt eingelassen sind, deren literarische Formgebung die der Tragödie ist. Doch weder griechische Tragik noch christliches Trauerspiel können im Zeitalter der Moderne mehr affirmiert werden – es sei denn eben als Vorführung, als Zitat –, da gerade die Freiheit und Verantwortung des Subjekts als Grundvoraussetzungen für den tragischen Konflikt problematisch geworden sind. Es ist ebendiese Erkenntnis, die in »Blutschuld« vertextet wird. Kein Aufschrecken sündhafter Subjekte wird hier zur Aufführung gebracht. Vielmehr hat die Schuld ihre Geltung verloren und ist dadurch auch nicht mehr imstande, Subjekte anzurufen, sprich: allererst zu konstituieren. In dem Sinne vermag dieses Bewusstsein den Sirenen auch keine verführerischen Gesänge mehr abzulauschen – hörbar über den unreinen Kreuzreim von »Sirenen« (V. 9) und »tönen« (V. 11) gespiegelt –, sondern vernimmt in seiner Betäubung nurmehr das Blutrauschen, von dem die aischylische Tragödie erzählt: die Gewalt, den Mord. Gleichwohl gibt das Gedicht durchaus Auskunft darüber, welche Subjekte hier nicht mehr schuldbar sind. Die lyrische, durch Nebelschwaden nur schemenhaft sich abzeichnende und lose verbundene Subjektgemeinschaft ist eine betont polyphone. Die lyrische Rede wird, wie die intertextuellen Verweise auf Verlaine, George und Baudelaire bezeugen, beseelt vom »Hauch« und den »Düfte[n]« der literarischen Décadence. Damit scheint die Ver-

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ortung des »wir«, die »Blutschuld« ausgemacht: Gesprochen wird aus einer Welt, deren Gefüge und Notwendigkeit durch keine Transzendenz mehr verbürgt ist, in der Schuld, Sühne und Erlösung ihres Sinns verlustig gegangen sind. Die »Blutschuld«, das ist der Totschlag der Transzendenz, der Göttermord, der nichtsdestotrotz – und das ist die entscheidende Textwendung – auf jene christlich-mythologische Ästhetik verwiesen bleibt, denn als ›Schuld‹ lässt sie sich nur von einem normativen Koordinatensystem her denken. Folglich liegt die Aporie des Ortes, von dem aus das Mariengebet gesprochen wird, in der Gleichzeitigkeit des Wunsches nach Erlösung und dem Wissen um dessen Vergeblichkeit, im Bekenntnis zur Schuld am Mord der Metaphysik, das gleichwohl konstitutiv an jene gebunden bleibt. Letztlich wird das Gedicht also als poet(olog)isches Zeichenarrangement lesbar, in dem der Text seine eigene Genealogie verräumlicht und über die mythologischen Figurationen und seine ästhetische Form noch einmal den Kosmos heraufbeschwört, von dem er sich herschreibt. Indem das Gedicht die religiöse Form – das Gebet – als Sprachgerüst nutzt, wiederholt es performativ ebenjene Aushöhlung des Kultus, die die dekadente Poetik (erneut) vollzieht. So inszeniert das Gedicht noch einmal jenes moderne Schauspiel des symbolischen Göttermordes, womit Trakl den Voraus-

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setzungen seines Sprechens, seines Dichtens mit »Blutschuld« eine lyrische Urszene gestiftet hat.

Literatur Braungart, Wolfgang: Zur Poetik literarischer Zyklen. Mit Anmerkungen zur Lyrik Georg Trakls. In: Károly Csúri (Hg.): Zyklische Kompositionsformen in Georg Trakls Dichtung. Szegeder Symposion. Tübingen 1996, 1–27. Detsch, Richard: Georg Trakl’s Poetry. Toward a Union of Oppositions. Pennsylvania/London 1983. Doppler, Alfred: Elemente der Bibelsprache in der Lyrik Georg Trakls. In: Hans Weichselbaum (Hg.): TraklForum 1987. Salzburg 1988, 109–117. Doppler, Alfred: Bruder und Schwester in den Gedichten Georg Trakls. In: Hans Weichselbaum (Hg.): Androgynie und Inzest in der Literatur um 1900. Salzburg/ Wien 2005, 9–27. George, Stefan: Gesamt-Ausgabe. Düsseldorf/München 1966–1969. Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 2. Leipzig 1860. Kemper, Hans-Georg: Droge Trakl. Rauschträume und Poesie. Salzburg 2014. Kuschel, Karl Josef: Maria. In: Heinrich Schmidinger (Hg.): Die Bibel in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts. Mainz 1999, 413–434. Verlaine, Paul: Gedichte von Paul Verlaine. Eine Anthologie der besten Übertragungen. Hg. von Stefan Zweig. Berlin/Leipzig 21907. Weichselbaum, Hans: Vorwort. In: Hans Weichselbaum (Hg.): Androgynie und Inzest in der Literatur um 1900. Salzburg/Wien 2005, 7 f. Weichselbaum, Hans: Georg Trakl. Eine Biographie. Wien 2014.

»Der Heilige« (1906)

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Björn Hayer

Das Gedicht, dessen Manuskript 1993 in einem Antiquariat wieder aufgetaucht ist, ist in der »Sammlung 1909« enthalten und dürfte nach Angaben von Trakls Mitschüler Franz Bruckbauer 1906 oder kurz danach entstanden sein. Es führt mehrere, sich zueinander polar verhaltende Sujets der Décadence-Dichtung zusammen, darunter vor allem Sexualität und Religion. Aufgerufen werden mit der Hölle und dem Leiden zunächst zwei klassische Signa biblischer Mythen, wobei die Attribuierung »selbstgeschaffner« eine Dekontextualisierung gegenüber der christlichen Vorstellung des Orkus vornimmt. Die Hölle ist nicht allein ein Ort, sondern vor allem Ausweis einer inneren Qual. Das seelische Martyrium wird durch die »grausam-unzüchtige[n] Bilder« sowie die »Geilheit« evoziert (ITA I, 88, Zitation im Folgenden nach Textstufe 3 d). Dass vor allem das repetitiv erwähnte und parenthetisch gerahmte Herz davon in Beschlag genommen wird, dürfte seinen Grund in der motivischen Doppeldeutigkeit haben. Das Herz fungiert als Ort sowohl der romantisch-erotischen als auch der Gott zugewandten Liebe. Wird somit der Heilige von

B. Hayer (*)  Institut für Germanistik, RPTU Landau, Landau, Deutschland E-Mail: [email protected]

der sexuellen Gier erfasst, so durchsetzt die Lust gleichsam das »brünstig-fiebernde[] Gebet.« In solcherlei Wendungen inszeniert Trakl die Kollision semantischer Felder und Diskurse. Sexualität dringt in die Sphäre der christlichen Körperverachtung genauso vor wie das Sakrale in die Profanität des Triebhaften. Der Mensch erscheint in diesem paradoxalen Ineinander als ein zerrissener, was sich rhetorisch in den diversen partes pro toto wie Herz und Hände bemerkbar macht. Um darüber hinaus dessen Mangelhaftigkeit zu akzentuieren, nutzt der Dichter vierfach die Vorsilbe »un-«. Dem Defizitären gegenüber steht die personifizierte, die Ansprache »form[ende]« »Lust«. Sobald die »Glut« aus dem alliterativ mit ihr verbundenen Gebet »hinströmt durch mystische Unendlichkeiten«, initiiert sie den Kontrollverlust. Aus der epochalen Gegensatzpaarung Lust und Tod geht kein »trunken[er]« Genuss hervor. Das »Evoe«, verstanden als »Jubelruf der Bacchantinnen«, der mit Dionysos, dem Gott von Wein und Rausch, verknüpft ist, mündet in eine todbringende Ekstase. Oxymorontisch offenbart sich die Erfüllung als »Qualschrei«. Die Schlusspointe, die die elegische und exklamative Erhörungsbitte an Maria beinhaltet, lässt zwei Lesarten zu: Einerseits könnte die Mutter Jesu angerufen werden, um den Heiligen von seiner Triebnatur zu befreien, andererseits könnte sie selbst – »blasphemisch«, wie Weichselbaum vermerkt (Weichselbaum 2016, 120) – als Er-

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_73

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füllungsgehilfin der unstillbaren sexuellen Hoffnungen adressiert sein. Die letztlich damit verbundene frühexpressionistische Dissoziation des Ich, das sich selbst als entfremdet erfährt, hat ihren Grund deutlich in der religiösen Determination, was sich insbesondere an der Untersuchung von Trakls Bearbeitungsstadien des Textes beobachten lässt. Ist auf der späteren Textstufe des Gedichtes davon die Rede, dass »Kein Herz […] so von Gott gequält« sei, wird die Ursache für das Leiden in Textstufe 1 H noch beim Subjekt selbst gesucht, aus dessen Herzen die »Liebe sich selbst / Verstieß«. Die Modifizierung legt einen kausalen Zusammenhang zwischen der Subjektkrise und der christlichen Sexualmoral nahe. Dem Gedicht inhärieren jedoch noch weitere Kontexte über jenen der Religion hinaus. Zum einen ruft die Akzentuierung der Triebnatur auch den psychoanalytischen Komplex auf. Denn während den Heiligen Kulturnormen zur Abstinenz zwingen, wirkt das Unbewusste. Der in ihm sich manifestierende und unterdrückte Sexualtrieb repräsentiert die auf das »Innere[] des Menschen projizierte Wirklichkeit, die an Stelle der unechten äußeren Realität ein […] unverfälscht gespiegeltes Bild der Realität setzen will« (Csúri 2016, 40). Zum anderen führen die Allusionen der Antike, über welche das Gedicht eine christliche Bild- und Vorstellungswelt mit dem Dionysoskult im buchstäblichen Sinne verdichtet, nicht zuletzt auch zurück zu Trakls Auseinandersetzung mit Hölderlin. Wo letzterer aber in »Brod und Wein« den »donnernden Gott« zum Abendmahl ruft (Hölderlin 1975-2008, VI, 261) und dadurch das antike Lustprinzip mit der christlichen Eschatologie zu einer ästhetischen Gegenwirklichkeit zusammenfügt (vergl. hierzu auch Iber 2005, 208-216), eröffnen sich in Trakls Rückbezug keine Sehnsuchtsräume, verlieren sich alle Heilsversprechen. Diese Entleerung qua Referenz wird ebenso offensichtlich mit Blick auf eine weitere zitative Anleihe, nämlich der bei Baudelaires »La Prière d’un païen«. Es handelt sich dabei um ein »Preislied« an die

B. Hayer

»Königin Wollust«, die äquivalent zu poetologischen Texten der Melancholielyrik und dem mittelalterlichen Minnesang das weibliche Gegenüber apotheotisiert. Dass sich in diesem Prätext zu Trakls Poem die hedonistischen Anwandlungen eines profanen und areligiösen Subjekts, eben des Heiden, frei entfalten können und überdies eine göttliche Adressierung finden, liefert Substanzielles für die Gesamtinterpretation des Gedichts »Der Heilige«. Mit Hinblick auf Baudelaire, Hölderlins eigenwillige antiken- und religionsspezifische Vorstellungen und Freuds Psychoanalyse kann die lyrische Miniatur als Plädoyer für ein neues Verständnis der Beziehung zwischen dem Menschen als körperliches Wesen und der Transzendenz gelesen werden. Der Körper wird nicht mehr im dualistischen Sinn ausgegrenzt, sondern wird Bestandteil einer alle Sinne des Menschen einbeziehenden Religion. Vor diesem Hintergrund kann der titelgebende, lediglich als Stereotyp aufgerufene Heilige auch als von Anfang an ironische Figur betrachtet werden. Sie zeichnet sich – im Licht des Gedichts – durch eine Bigotterie aus, die gerade das Urmenschliche, wie es Baudelaires Heiden charakterisiert, zu verdrängen bemüht ist. Der Heilige fungiert letztlich als Sinnbild einer universellen menschlichen Entfremdung. Er folgt einem äußeren Kompass, der nicht mit den inneren Bedürfnissen konform geht. Was Doppler einmal für Trakls Musikalität konstatiert, trifft ebenso auf die Zerrissenheitserfahrung des Mönchs zu, in dem sich das »Aufklingen vor Harmonie und Wohllaut in einer disharmonischen Welt« (Doppler 1995, 191) manifestiert.

Literatur Csúri, Károly: Konstruktionsprinzipien von Georg Trakls lyrischen Textwelten. Bielefeld 2016. Doppler, Alfred: Die Musikalisierung der Sprache in der Lyrik Georg Trakls. In: Rémy Colombat/Gerald Stieg (Hg.): Frühling der Seele. Pariser Trakl-Symposion. Innsbruck 1995, 191–196. Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe. Hg. von D.E. Sattler. Frankfurt a.M. 19752008.

73  »Der Heilige« (1906) Iber, Christian: Mythenbildende Phantasie im Kontext des Deutschen Idealismus: Dionysos, Christus. In: Martin Vöhler/Bernd Seidensticker (Hg.): Mythenkorrekturen. Zu einer paradoxalen Form der Mythenrezeption. Berlin/New York 2005, 201-220. Kucher. Primus-Heinz: Zwischen Realismus und Abstraktion. Anmerkungen zu Entwicklung, Funktion und Verdichtung von Farb-Tonalitäten in der frühen und späten Lyrik Trakls. In: Sieglinde Kletten-

437 hammer/Johann Georg Lughofer (Hg.): Georg Trakl. Interpretationen – Kommentare – Didaktisierungen. Wien 2016, 103–117. Weichselbaum, Hans: Die Figur des Mönchs bei Georg Trakl. In: Ders., Uta Degner/Hans Weichselbaum/ Norbert Christian Wolf: Autorschaft und Poetik in Texten und Kontexten Georg Trakls. Salzburg/Wien 2016, 117–131.

»Einer Vorübergehenden« (1909)

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Mario Zanucchi

Erstmals veröffentlicht wurde »Einer Vorübergehenden« im Neuen Wiener Journal vom 17. Oktober 1909 und – mit kleineren Änderungen – wenig später, am 23. Oktober, im Salzburger Volksblatt (ITA I, 280). Die im Salzburger Volksblatt publizierte Fassung (ebd., 282, Textstufe 2 D, Zitation im Folgenden nach dieser Fassung mit Versangabe) besitzt keine strophische Gliederung und weist gegenüber der früheren Textstufe kleinere Abweichungen in Vers 5 (»verschwand« / »entschwand«) und 7 (»schmerzenreiches Antlitz geseh’n« / »schmerzensreiches Antlitz geseh’n«) auf. Die Veröffentlichung erfolgte auf Betreiben Hermann Bahrs, dem Trakls Freund Erhard Buschbeck den Text zusammen mit anderen Gedichten aus der »Sammlung 1909« übermittelt hatte. Obwohl »Einer Vorübergehenden« die Antwort Trakls auf Baudelaires berühmtes Sonett »À une passante« bildet, blieb das Gedicht von der Forschung unbeachtet (bisher nur Zanucchi 2016, 636–637). Selbst die Untersuchung von Walter Grasskamp zur deutschen Wirkungsgeschichte von Baudelaires Sonett (Grasskamp 1984) erwähnt das Gedicht nicht einmal.

M. Zanucchi (*)  Deutsches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Freiburg, Deutschland E-Mail: [email protected]

Der Text setzt sich aus zwei Strophen zu fünf und sechs Versen zusammen, die in der Salzburger Fassung miteinander verschmolzen wurden. Oft wird das jambische Metrum anapästisch beschwert: in der ersten Strophe am Schluss von Vers 2 und 3 (»Ein schmerzenreiches Antlitz geseh’n«; »Das schien mir tief und heimlich verwandt«), in der zweiten Strophe fast durchgehend (einzig Vers 6 ist jambisch-alternierend). Die Doppelsenkungen verlangsamen den Gang des Flaneurs und spiegeln offenbar dessen Gebanntwerden durch die Passantin wider. Die Zweireimigkeit und die Verswiederholungen (V. 1 und 2 kehren in V. 6 und 7 identisch wieder) charakterisieren den Text als Rondel, eine im Fin de siècle recht beliebte, ausgesprochen musikalische Form. Von Stéphane Mallarmé sind zwei Rondels überliefert. Albert Girauds »Pierrot Lunaire« (1884) besteht aus fünfzig Rondel-Gedichten. In seinen »Trois Chansons de France« vertonte Debussy zwei Rondels des Charles d’Orléan (»Le temps a laissé son manteau« und »Pour ce que Plaisance est morte«). Auch der von Trakl geschätzte Detlev von Liliencron hatte sich an der Rondel-Form versucht. Trakl erprobte diese auch in der Sammlung Gedichte, wie das im September / Oktober 1912 entstandene »Rondel« belegt. Die zweite, Salzburger Fassung intensiviert den Rondel-Charakter durch die Verdoppelung des Reimworts »entschwand« von Vers 11 in Vers 5. Die musikalische Textur unterstützen die ausnahmslos männlich-klingenden

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_74

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Kadenzen sowie Alliterationen (»schmerzenreiches … schien«, »gottgesandt … ging«) und Assonanzen (»schmerzenreiches … heimlich«, »schien … tief«, »eine … einst … einem«). »Einer Vorübergehenden« repräsentiert Trakls Replik auf Baudelaires berühmtes Sonett »À une passante«, wie bereits der identische Titel zeigt. Mit seinem vielfach variierten und nachgeahmten Sonett schuf Baudelaire einen poetischen Archetyp der modernen, großstädtischen Liebeslyrik, durchaus vergleichbar mit Petrarcas Wirkung in der Frühen Neuzeit (zu den Petrarca-Bezügen Henke 2005, 154; zu dem von Baudelaire gestifteten Mythos der Passantin Leroy 1999). Das Programm der modernité, die Gewinnung des Kunstschönen aus der Flüchtigkeit der modernen Großstadterfahrung, löst Baudelaire hier geradezu idealtypisch durch die Momentaufnahme einer »Liebe […] auf den letzten Blick« (Benjamin 1991, I/2, 623) ein. Der zufällige Blickkontakt des lyrischen Ichs mit der Passantin wird zur Epiphanie, die in der großstädtischen Menge aufblitzt, um dann wieder im Chaos der Boulevards unterzugehen. Auf diese Weise transponiert Baudelaire den petrarkistischen Topos der unerfüllten Liebe in den urbanen Raum. Die Großstadt setzt jetzt den petrarkistischen Sublimierungsprozess in Gang und wirkt auf den Dichter imaginationsanregend, indem sie durch den Entzug der ersehnten Frau retrospektiv deren projektive Überfor­ mung im Medium des Gedichts ermöglicht. Darin liegt eine konzeptionelle Nähe zum Peintre de la vie moderne und der dort vertretenen antinaturalistischen Ästhetik, der zufolge sich die Anwesenheit des Modells auf die Einbildungskraft hinderlich auswirkt (dazu Henke 2005, 155 f.). Baudelaires Sonett las Trakl in Stefan Georges Umdichtung, mit dem Titel »Einer Vorübergehenden«. Georges Umdichtung vollzieht eine markante Transformation des französischen Originalsonetts. Wiewohl George sorgfältig übersetzt und sogar das Reimschema des Originals (abba cddc efe fgg) beibehalten hat, archaisiert er Baudelaires Duktus (indem er etwa »tost« für »hurlait« setzt) und schwächt die leidenschaftliche Hingabe des Dichter-Ichs an die Passantin ab. So wird Vers 5 – »Moi, je bu-

M. Zanucchi

vais, crispé comme un extravagant« (Baudelaire 2008, I, 92 f.) – zu: »Ich las · die hände ballend wie im wahne« (George 1966–1969, XIII/ XIV, 141). Die erotische Betörung, die von den Augen der Frau ausgeht, wird sublimiert. Die Distanz, ja Fremdheit, die bei George gegenüber der Frau herrscht, wird schließlich in der Übersetzung des letzten Terzetts deutlich, wenn George »Car j’ignore où tu fuis« mit »Du bist mir fremd« wiedergibt. Von Baudelaire übernimmt Trakl das Motiv des Flanierens (»Vorübergehen«), das GebanntWerden des lyrischen Ichs durch das flüchtig erblickte Antlitz der Passantin (»Mit anmut bannt mit liebe tötet sie«, bei Trakl: »Das hat mich gebannt«) sowie die Liebesbekundung (»Dich hätte ich geliebt«, bei Trakl: »Die träumend ich einst Geliebte genannt«). Zugleich erschreibt sich Trakl auch Freiräume und entwickelt den Prätext eigenständig weiter. Einerseits klammert er die Großstadtumgebung aus. Zum anderen amplifiziert er das imaginationsanregende Potenzial der Flüchtigkeit. Die bei Baudelaire noch reale und direkt apostrophierte Passantin (»Dich hätte ich geliebt«) überlagert Trakl durch eine zweite, erträumte Frau, welche als imaginatives Konstrukt und Doppelgängerin des Ichs erscheint. Da, wo Georges Misogynie ihn gerade die grundsätzliche Fremdheit der Beiden betonen lässt (»Du bist mir fremd · ich ward dir nie genannt«,), hebt Trakl dagegen gerade ihre geheimnisvolle Verwandtschaft hervor (»Das schien mir tief und heimlich verwandt«). Ferner lädt Trakl Baudelaires ästhetisch-erotische Epiphanie religiös auf. Schon Baudelaire hatte die trauernde Haltung der Frau betont: »en grand deuil, douleur majestueuse« (Baudelaire 2008, I, 92). Trakls Attribut »schmerzenreiche« lässt sie aber fast als eine mater dolorosa erscheinen. Durch das Adjektiv evoziert Trakl Gretchens Gebet an die Schmerzensmutter in der ZwingerSzene aus Goethes Faust (dort V. 3587–3589). Ebenso bedeutsam ist der Zusatz »gottgesandt« (V. 4). Eine solche poetische Marienverehrung ist in der »Sammlung 1909« kein Unikat, wie die gebetsartigen Maria-Anrufungen in den Gedichten »Blutschuld« und »Metamorphose« belegen. Baudelaires Sonett über die zwischen-

74  »Einer Vorübergehenden« (1909)

menschliche Entfremdung in der Großstadt verwandelt sich so bei Trakl in eine Meditation über den Schwund des Göttlichen in der Moderne. Diese religiöse Präokkupation bestätigt auch die von Trakl in der früheren Textstufe gewählte Strophenform, die das Gedicht dem Kirchenlied annähert. So erinnern das Reimschema der Einzelstrophen (aabbb, im zweiten Teil erweitert zu: aabbbb) sowie der Wechsel zwischen vier und zwei Hebungen an Angelus Silesius’ Weihnachtslied »Morgenstern der finstern Nacht«. Die mariologische Umdeutung von Baudelaires Passantin bestätigen auch die intertextuellen Parallelen zu Lenaus »Die Wurmlinger Kapelle« (Lenau 1989–2004, I, 175–180). Die Spiegelung der Madonnenfigur im subjektiven Reflex (»schien«), die traumartige Stimmung (Lenau: »wie Träume«, Trakl: »träumend«), schließlich die zeitlich entrückte Atmosphäre, in die sowohl die Begegnung (durch das Temporaladverb »einst«) als auch das, was sie evoziert, getaucht ist, erinnern stark an Trakls Gedicht. Bei Lenau scheint Maria »Alter Tage zu gedenken«, bei Trakl weckt die Passantin beim lyrischen Ich die Erinnerung an »ein Dasein, das längst entschwand«. Der andere, für Trakls »Einer Vorübergehenden« zentrale Lenau-Subtext ist das Gedicht »Der Greis« (ebd., 161 f.). Entwickelt hat Trakl die Widerspiegelungsszene offenbar ausgehend von diesem Text Lenaus und der dort entworfenen, spätromantischen Analogie zwischen Mensch und Natur. Von Lenau übernommen wurden sowohl die hypothetische Verwandtschaftsformel (»Als hätte…«) als auch der Reim »verwandt« und »genannt«. Wie Lenaus Greis in der Blume, so spiegelt sich auch Trakls lyrisches Ich in der Passantin wider – allerdings nur im Als-Ob-Modus, was per Kontrast gerade seine Vereinsamung unterstreicht. Die Le-

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nau-Zitate zeigen, dass Trakl selbst während seiner ›dekadenten‹ Periode versuchte, die neuen französischen Modelle mit dem geliebten spätromantischen Dichter zu harmonisieren. Somit zeugt Trakls Gedicht von einer spannungsvollen Dialektik, die eigentlich seine gesamte Lyrik durchzieht und die sich als ›negative Sakralisierung‹ bezeichnen lässt. Durch den intertextuellen Rückgriff auf Lenau sakralisiert Trakl de facto Baudelaires Prätext, indem er die ästhetisch-erotische Epiphanie religiös auflädt. Diese Sakralisierung erhält andererseits einen grundsätzlich negativen Charakter. Die von der Marienfigur repräsentierte Sphäre des Göttlichen verblasst zu einer Erinnerung, die den Status des christlichen Glaubens in der entgötterten Moderne symbolisiert: eine Reminiszenz, welche per Kontrast die Götterferne der Gegenwart nur noch akuter erscheinen lässt.

Literatur Baudelaire, Charles: Œuvres complètes. Nouvelle édition. Texte etabli par Claude Pichois. Paris 2008. Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M. 1991. George, Stefan: Gesamt-Ausgabe. Düsseldorf/München 1966–1969. Grasskamp, Walter: Trivialität und Geschichtlichkeit. Das Motiv der Passantin. Aachen 21984. Henke, Florian: Topografien des Bewusstseins: Großstadtwahrnehmung, Erinnerung und Imagination in der französischen Literatur seit Baudelaire. Freiburg 2005. Lenau, Nikolaus: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Hg. von Helmut Brandt, Gerard Kozielek, Antal Mádl, Norbert Oellers, Hartmut Steinecke, András Vizkelety, Hans-Georg Werner und Herbert Zeman. Wien 1989–2004. Leroy, Claude: Le mythe de la passante, de Baudelaire à Mandiargues. Paris 1999. Zanucchi, Mario: Transfer und Modifikatio. Die französischen Symbolisten in der deutschsprachigen Lyrik der Moderne (1890–1923). Berlin/Boston 2016.

Teil XII

Werk: Lyrische Dichtungen VI – Gedichte aus dem Nachlass: 1909–1914

»Der Schatten« (1910)

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Shantala Hummler

Postum erschienen, lässt sich die erste Textfassung von »Der Schatten« auf 1910 datieren (ITA I, 413). War das Gedicht noch im Entwurf des ersten Lyrikbands Gedichte, den Trakl 1912 dem Albert Langen Verlag zuspielte, zur Veröffentlichung vorgesehen, lag es in der endgültigen Satzvorlage von 1913 nicht mehr vor (ebd.). Im selben Jahr nahm Trakl noch eine minimale Überarbeitung des Textes vor (Textstufe 3 T, ITA I, 415 f., Zitation im Folgenden nach dieser Textstufe), erscheinen sollte das Gedicht jedoch auch nicht im zweiten veröffentlichten Gedichtband Trakls, Sebastian im Traum. Werkästhetisch lässt sich diese Tilgung insofern nachvollziehen, als »Der Schatten« in der Inszenierung einer Ich-Figur die Anlehnung an die Erlebnisdichtung der ersten Schaffensphase Trakls erkennen lässt, dem die zu Lebzeiten publizierten, späteren Gedichte in der Folge eine radikale Absage erteilen werden. Über drei Strophen hinweg schildert das Gedicht eine idyllische Gartenszene am Morgen, in dem ein Ich, inmitten von Vogelgezwitscher und blühenden Bäumen, seinen eigenen Schatten erblickt. Dieses Wahrnehmungsmoment in-

S. Hummler (*)  Deutsches Seminar, Universität Zürich, Zürich, Schweiz E-Mail: [email protected]

itiiert eine dramaturgische Wende, die in einem Dreischritt die Dynamisierung des Geschehens und der Gestalten in Gang setzt: Verweilt das Ich in der ersten Strophe zunächst noch sitzend zwischen den es umgebenden Bäumen und sieht seinen Schattenwurf vor sich im Gras liegen, bewegt es sich in der dritten Strophe traumwandlerisch durch den mit Naturklängen angefüllten Garten. Dazwischen liegt die Transfiguration des Schattens, der sich im Blick des Ichs zu einer unheilvollen Tiergestalt »verzerrt« und ein diffuses Verstörungsmoment, oszillierend zwischen Halluzination, Vision und Alptraum, emphatisch in das Zentrum des Gedichts setzt. Metrisch unregelmäßig gebaut gliedert sich das Gedicht in drei Strophen, wobei die erste und dritte Strophe jeweils aus Vierzeilern bestehen, in denen ein Schweifreim jeweils einen Paarreim umschließt. Dieses regelmäßige Gefüge, das durchgängig einem vierhebigen Metrum folgt, wird von der mittleren Strophe durchkreuzt, die in der Form eines Distichons einen Paarreim bildet. Quer zur Dreiteilung der Strophen liegt also eine formale zweigliedrige Struktur, die sich ferner in der syntaktischen Ordnung wiederholt und sich sowohl in der Motivbildung als auch im inhärenten Spannungsverhältnis der Doppelungsstruktur als Wiederholung und Spaltung fortsetzt. Auffällig sind ebenfalls die Doppelsenkungen, die man für gewöhnlich als Daktylus lesen wird (insbesondere die

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Eingangszeile weist einen klassischen daktylischen Einstieg auf), die aber dergestalt eingebettet sind, dass sie stellenweise auch eine anapästische oder amphibrachische Emphase erlauben. Insgesamt lenken die Doppelsenkungen die Grundbetonung des Gedichtes, das metrisch zwischen Trochäus und Jambus changiert. So sind die Rahmungszeilen der ersten und dritten Strophe trochäisch, dazwischen jeweils jambisch, jedoch ebenfalls durchsetzt mit Doppelsenkungen. Dabei lässt sich in der metrischen Gegenläufigkeit in den Strophen 1 und 3 eine semantische Kodierung entziffern, in der die jambischen Zeilen dem Paradigma der Vorstellungsinhalte zuzuordnen sind, während die trochäischen Verse die Aktivitäten des Ichs schildern. Mit dem Gewahrwerden des Schattens hebt eine Verdoppelungslogik an, die in der zweiten Strophe zu einem Abspaltungsvorgang sich ausformt, in dem das Ich seinen Schatten als Fremdes, gleichsam Bedrohliches im Erkennen externalisiert. Dramaturgisch gesehen kommt dem mittigen Zweizeiler die Funktion einer narrativen Zäsur zu, die das szenische Geschehen unwiderruflich in ein Vorher und Nachher zerlegt. War im idyllischen Garten eingangs noch ein sanftes Versprechen harmonischer Einheit zu vernehmen – der weiche Klang der Alliterationsreihung im zweiten Vers geht über in heiteres Vogelgezwitscher –, hat sich mit der alptraumhaften Vision die Wahrnehmungswelt synästhetisch verschoben, singt nun ein Brunnen »ins Blaue«, ertönt der purpurne Klang einer sich öffnenden Blütenknospe. Diese Verschiebung führt eine zweifache figurale Wende herbei, die sowohl im Wandel von Stasis – »sass«, »standen«, »lag« – zu Bewegung sich manifestiert, als auch in der Transformation des Schattens in ein Tier, das vom liegenden Anschauungsobjekt zum gehenden Begleiter eines verstörten Ichs – »Und ich ging und zitterte sehr« – sich erhebt. Der temporalen Logik des Ereignisses, das dem Text eine Differenz einschreibt, wirkt eine fein ausgearbeitete Wiederholungsstruktur entgegen, die ein dichtes Verweisnetz zwischen der ersten und der dritten Strophe webt, das sich fest

S. Hummler

um das mittige Distichon zusammenzurrt. So findet die Umklammerungsbewegung des Reimschemas im anaphorischen Umgreifen von Anfangs- und Schlussvers der ersten Strophe, im typographisch eingezogenen Einschub sowie im zweimaligen Auftritt des »ich« (V. 1, V. 4) eine Fortführung. Eben diese Figur des Umgreifens setzt sich in der dritten Strophe im Parallelismus sowie der anaphorischen Konjunktionsreihung fort und kehrt schließlich auf der übergeordneten Ebene in der Wiederaufnahme der weichen Alliterationssequenz, der zentralen Symbole Blau und Blüte sowie des Klangmotivs der ersten durch die dritte Strophe wieder. Was verbirgt sich also in diesen zwei rätselhaften Zeilen, auf die der Text all seine poetischen Kräfte hin bündelt? In einem Zweischritt entfalten die mittigen Verse die Metamorphose des Schattens zum »wunderlich Tier« und »böse[n] Traum«, wodurch sich – vermittelt über das Moment des ›Dritten‹ (der Alterität), das im Tier aufgehoben ist – ein Verformungsprinzip Bahn bricht, das eine Gegenläufigkeit zur engmaschigen Doppelungsstruktur und Zeitlogik des Ereignisses entwickelt. Was sich auf der Oberfläche als bedrohlicher Einbruch des Surrealen in eine heile Welt ausnimmt, stellt genau genommen keinen Wendepunkt dar, sondern verweist vielmehr selbstreferenziell auf den unheilvollen, titelgebenden Schatten zurück, der von Beginn an über der idyllischen Gartenszene dräut und über dessen Wesen ebenjener Garten Aufschlüsse zu geben vermag. Prospektiv zieht das Auftauchen des Schattens wiederum eine poetologisch markierte Bilderreihe nach sich – der Brunnen singt ins Blaue, die Knospe springt –, in der die Insignien von Trakls Dichtung versammelt sind. So ist der Garten als biblischer wie auch bürgerlicher Idylletopos ein wiederkehrender, symbolträchtiger Schauplatz in Trakls Lyrik (vgl. Doppler 2001, 187–195). Dabei ist die semantische Vielschichtigkeit dieser topographischen Chiffre kaum zu unterschätzen, fallen in ihr vor der biblischen Textfolie sowohl Unheils-, Passions- als auch Heilsgeschichte zusammen, die jeweils im Garten Eden, dem Garten Gethsemane und dem himmlischen Para-

75  »Der Schatten« (1910)

dies ihre symbolische Bildgebung erfahren. Zum einen figuriert der Garten folglich als Ort einer harmonischen Weltordnung, der als mythischer Ursprung – hier aufgerufen im Motivkomplex von Baum, Blüte und Brunnen –, und, in apokalyptischer Umdeutung, als eschatologischer Sehnsuchtsort zugleich charakterisiert wird. (Böschenstein spricht in anderem Zusammenhang von der in Trakls Dichtung aufgespeicherten »Erinnerung an eine Frühzeit gartenhafter Unschuld«; Böschenstein 2010, 35.) Zum anderen ist der Garten ein Ort des Dunkels, Schauplatz des Sündenfalls wie auch des Verrats an Christus, an dem die Niedergangserzählung des Menschen ihren Anfang nimmt. So gibt sich der Garten in »Der Schatten« als ein höchst ambivalenter Stimmungsraum zu lesen, der in der paradoxen Verschränkung von Nostalgie und Eschatologie zwei Zeitachsen verräumlicht und dadurch die Ordnung von Raum und Zeit in einen Rauschzustand entrückt. Ebendiese schwebende Ambivalenz verdichtet sich in der Figur des Tieres, in dem die Schlange der Genesis als auch das Tier der Apokalypse ineinandergeblendet werden. Damit gibt sich die Schlüsselszene des Gedichts als Selbstbegegnung zu lesen, in dem ein Subjekt, das sowohl ein biblisches als auch modernes ist, das ausschweifend Sünd- und Triebhafte als sein eigenes und zugleich sich selbst als Gespaltenes erkennt. Entsprechend bleibt der Ausgang im doppelten Sinne unaufgelöst, enthüllt sich die formästhetische Umklammerung als eiserner Griff: Zwar stehen dem exilierten Ich die Tore zum Garten Eden offen und zeigt sich ihm, im Kontrast zu den »verwüsteten«, »verbrannten« Gärten der späteren Lyrik Trakls, ein vom Verfall unberührtes Naturidyll (Doppler 2001, 7). Doch

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ebendarin, dass das Subjekt sein Inneres im Gepräge des Außen nicht mehr gespiegelt findet, kulminiert die furchterregende Aporie. Ihm hat sich das Paradies als ein genuin künstliches offenbart, dessen idyllische Bildinsignien sich durch seine misstönenden Naturklänge verraten, die jedoch allein für ein nächtliches Bewusstsein – den Dichter – vernehmbar sind, das den Missklang des Drosselrufs im unreinen Reim (V.2 und 3) zu hören vermag. Nicht zuletzt eröffnet das Gedicht also einen prononciert poetischen Bedeutungsraum, der die Gartenszene im Morgen über sein Symbolgefüge von Blume (qua Baudelaire Symbol der dekadenten sowie – in Blau – der frühromantischen Poesie), Brunnen (Referenz auf den Narzissmythos) und Garten (symbolischer Ort der Dichtung, vgl. Ananieva 2008, 122 f.) als poetologische Allegorie zu lesen gibt. So stiftet »Der Schatten« der Traklschen Poetik eine allegorische Szene, die den Ort, von dem sich diese Lyrik herschreibt, in einem Zwischenreich von Rausch, Traum und Vision situiert und in der das Ich die Einheit von Subjekt und Welt als eine epistemologische Voraussetzung der Erlebnisdichtung erkennen muss, die ihm unwiederbringlich abhandengekommen ist.

Literatur Ananieva, Anna: Garten. In: Günter Butzer/Joachim Jacob (Hg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole. Stuttgart 2008, 120–123. Böschenstein, Bernhard: Garten und Tod in Gedichten Georges, Rilkes und Trakls. In: Michael Jakob (Hg.): Le jardin et la mort. Bern et al. 2010, 29–36. Doppler, Alfred: Die Lyrik Georg Trakls. Beiträge zur poetischen Verfahrensweise und zur Wirkungsgeschichte. Salzburg 2001.

»Hölderlin« (1911)

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Frieder von Ammon

Trakl schrieb dieses Gedicht mit Bleistift auf das Vordersatzblatt seines Exemplars des dritten Bandes der von Wilhelm Böhm herausgegebenen Gesammelten Werke Friedrich Hölderlins aus dem Jahr 1905 (Abb. 76.1). Da das Gedicht keine Korrekturen aufweist, dürfte es sich dabei um eine Reinschrift handeln. Die Schreibung des Worts »Wahnsinnn« mit drei ›n‹ ist wohl ein Versehen. Dass sie intendiert sein könnte, lässt sich bei diesem Wort jedoch nicht ausschließen. Unter dem Text finden sich eine eigenhändige Signatur (»G.T.«) und Datierung (»1911«). Auf der Seite links daneben steht das (von Max von Esterle entworfene) Exlibris Trakls. Bis es bei der Auflösung einer privaten Bibliothek von dem Wiener Antiquar Erhard Löcker entdeckt wurde, war das Gedicht unbekannt. Zum ersten Mal gedruckt (als Faksimile und in Transkription) wurde es 2016 in den Trakl-Studien (Weichselbaum 2016). Der erste Druck im Rahmen einer Trakl-Ausgabe erfolgte 2020 (DuB 304). Den beiden Strophen des Gedichts liegt eine seit der Romantik bekannte, aber nicht sehr ver-

F. von Ammon (*)  Institut für Deutsche Philologie, München, Deutschland E-Mail: [email protected]

breitete Form zugrunde, die Trakl in seinem Frühwerk mehrfach verwendet hat: Jeweils vier jambische Vierheber mit durchgängig unbetonter Endung werden durch das Reimschema abba miteinander verbunden. Abweichungen von diesem Schema gibt es nicht. Vor allem in der ersten Strophe spielen klangliche Stilmittel eine große Rolle: Eine Folge von w-f und g-Alliterationen sowie i(e)- und ei-Assonanzen macht sie ausgesprochen wohlklingend. Es liegt nahe, diesen Wohlklang mit dem »leise[n]« Gleiten des Baches in Verbindung zu bringen, von dem im Gedicht die Rede ist. Die erste Strophe entwirft eine von Friedlich­ keit, Ruhe, aber auch Rückzugs- und Schonungsbedürftigkeit gekennzeichnete »herbstlich[e]«, wohl abendliche oder nächtliche Naturszenerie, die – abgesehen von dem sie wahrnehmenden Subjekt – von Menschen unberührt ist. Elemente dieser Strophe finden sich auch in der ersten (formal gleichen, inhaltlich aber abweichenden) Strophe von Trakls Gedicht »Melancholie des Abends«, das wahrscheinlich im Oktober 1911 entstanden ist. Welches Gedicht älter ist, lässt sich nicht sagen. Die zweite Strophe spricht von der Verdüsterung eines »edle[n] Haupt[s]« durch »Wahnsinnn«, dessen Wirken metaphorisch mittels einer akustischen Naturwahrnehmung umschrieben wird. Der den Titel bildende Name »Hölderlin« wird nicht noch einmal genannt, der Bezug auf ihn ist jedoch deutlich.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_76

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F. von Ammon

Abb. 76.1  Autograph von »Hölderlin« in Trakls Hölderlin-Ausgabe; Georg Trakl Forschungs- und Gedenkstätte Salzburg.

Ein inhaltlicher Konnex zwischen den beiden Strophen wird durch das Adverb »So« zu Beginn der zweiten Strophe hergestellt. Entsprechend könnte man die Verdüsterung des »edle[n] Haupt[es]« in der zweiten Strophe mit der »herbstlich[en]« Dunkelheit der abendlichen bzw. nächtlichen Natur in der ersten und das Flüstern des »Wahnsinnn[s]« »durch die Kräuter« mit dem »leise[n]« Gleiten des Baches in Verbindung bringen. Doch dieser Konnex bleibt eher schwach. Auf diese Weise ergibt sich der Eindruck einer latenten semantischen Dissoziation, die mit dem im Gedicht thematisierten »Wahnsinnn« in Verbindung zu bringen sich anbietet. Auffällig ist der intermediale Zusammenhang zwischen dem Gedicht und Trakls Exlibris, das

einen Mann darstellt, der seinen Kopf tief gebeugt hält (Weichselbaum 2016, 421). Es ist naheliegend, dies auf die in der zweiten Strophe angesprochene Verdüsterung des »edle[n] Haupt[es]« zu beziehen, wozu auch die im Exlibris dominante schwarze Farbe passen würde. Insofern lässt sich an diesem Zusammenhang möglicherweise eine Identifikation Trakls mit Hölderlin ablesen, wie sie auch an anderen Stellen seines Werks zu beobachten ist: Laut Böschenstein gehört Hölderlin »zu den Konstituenten der poetischen Sphäre Trakls« (Böschenstein 2006a, 84), dieser hat jenen als »Bruder«, »Doppelgänger« und »leicht verwischtes Selbstbildnis« seiner selbst empfunden (ebd., 84 f.) und ein »Zwiegespräch« mit ihm geführt, in das auch Rimbaud miteinbezogen war (Böschenstein 2006b).

76  »Hölderlin« (1911)

In »Hölderlin« klingt eine Stelle aus dessen Gedicht »Der Frühling« an, wo vom Hinuntergleiten eines Baches die Rede ist. Ob es darüber hinaus weitere intertextuelle Bezüge auf Texte Hölderlins gibt, etwa auf die in Band 3 der Gesammelten Werke enthaltenen (den Empedokles-Komplex, die Übersetzungen aus dem Griechischen, darunter Oedipus der Tyrann und Antigonae sowie die »Philosophischen Versuche«), wäre zu prüfen. Auch dem Zusammenhang zwischen Trakls Hölderlin-Gedicht und den ›Turmgedichten‹ Hölderlins, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts meist als Produkte von dessen ›Wahnsinn‹ aufgefasst wurden (Wübben 2012) und zu denen Trakls Gedicht eine gewisse formale und inhaltliche Nähe aufweist, wäre weiter nachzugehen. Das Gedicht ist ein zentrales Dokument für Trakls Verhältnis zur Tradition im Allgemeinen und zu Hölderlin im Besonderen. Zudem ist es als ein wichtiger Beitrag zur produktiven Hölderlin-Rezeption in der deutschsprachigen Lyrik der Moderne einzustufen (von Ammon 2014), der unter anderem deshalb bedeutend ist, weil er zeitlich noch vor dem Erscheinen der Edition Norbert von Hellingraths und damit vor dem für die Hölderlin-Rezeption des 20. Jahrhunderts entscheidenden Ereignis liegt.

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Da das Gedicht erst seit kurzem bekannt ist, hat es – abgesehen von einer ersten Einordnung durch die Forschung (Weichselbaum 2016, 421– 423) – noch keine nennenswerten Spuren in der Rezeptionsgeschichte Trakls hinterlassen. Dabei wird es aller Voraussicht nach jedoch nicht bleiben.

Literatur Ammon, Frieder von: Über pontifikale und profane Dichtung. Hölderlin in der deutschen Lyrik des 20. Jahrhunderts. In: Friedrich Vollhardt (Hg.): Hölderlin in der Moderne. Berlin 2014, 147–170. Böschenstein, Bernhard: Im Zwiegespräch mit Hölderlin: George, Rilke, Trakl, Celan. In: Ders.: Von Morgen nach Abend. Filiationen der Dichtung von Hölderlin zu Celan. München 2006, 78–92. (= Böschenstein 2006a) Böschenstein, Bernhard: Hölderlin und Rimbaud. Simultane Rezeption als Quelle poetischer Innovation im Werk Georg Trakls. In: Ders.: Von Morgen nach Abend. Filiationen der Dichtung von Hölderlin zu Celan. München 2006, 229–245. (= Böschenstein 2006b) Weichselbaum, Hans: Unbekannte Gedichte und Prosa Georg Trakls entdeckt. Ein Bericht. In: Uta Degner/ Hans Weichselbaum/Norbert Christian Wolf (Hg.): Autorschaft und Poetik in Texten und Kontexten Georg Trakls. Salzburg/Wien 2016, 405–423. Wübben, Yvonne: Verrückte Sprache: Psychiater und Dichter in der Anstalt des 19. Jahrhunderts. Konstanz 2012.

»An Novalis« (1913)

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Gabriela Wacker

Als Ausdruck seiner großen Verehrung des Frühromantikers Novalis kann Trakls Widmungsgedicht »An Novalis« hervorgehoben werden. Es entstand am Ende des Jahres 1913 (vgl. ITA III, 304) und gehört thematisch in das Umfeld der Sammlung Sebastian im Traum. »Auf einem Grabstein«, »Grabsteinschrift« und »Im Traum« sind Titel, die Trakl ebenfalls erwogen und letztlich zugunsten des Titels »An Novalis« wieder verworfen hat (ebd.). Neben diesem bemerkenswerten Nachlassgedicht auf einen romantischen Dichter – das lange Zeit als einziges galt – wurde erst sehr viel später ein weiteres Dichtergedicht mit dem Titel »Hölderlin« (DuB 304) entdeckt, was die herausragende Bedeutung der beiden Dichter für Trakl nochmals verdeutlicht. In »An Novalis« profiliert Trakl den romantischen Dichter insbesondere als heiligen Dichter und als bedeutsamen Vertreter eines visionären und prophetischen Dichtungsverständnisses, mit dem sich Trakl selbst vielfach produktiv auseinandersetzt (vgl. Wacker 2013, 307–312). Das Gedicht liegt in vier – alle auf demselben Blatt niedergeschriebenen – Textstufen vor, deren letzte drei den bereits früh ver-

G. Wacker (*)  Deutsches Seminar, Eberhard Karls Universität Tübingen, Tübingen, Deutschland E-Mail: [email protected]

storbenen Dichter im ersten Vers als »heilige[n] Fremdling« (ITA III, 311), der in der Erde ruht, adeln. Das Ruhen beschreibt dabei ein »Geborgensein« und »suggeriert damit eine Überwindung des Todes« (Esselborn 2016, 244). Es folgt darauf eine Beschreibung seines Todes mit Blick auf sein romantisches und heiliges Dichtertum. Auf den Textstufen 1 H und 2 H stellt die besondere Ausdrucksform der Dichtung des Novalis die »Klage« dar, die ihm wiederum ein »Gott« beim Sterben vom »Munde« nimmt, wodurch seine heilige Autorschaft unterstrichen wird. Werden in der ersten und der vierten Textstufe das Schweigen und Verstummen des Dichters aufgrund seines frühen Todes hervorgehoben und in Opposition zum Themenkomplex Dichten und Leben gerückt, so kontrastiert auf der zweiten und dritten Textstufe wiederum der seit Horaz bekannte Topos von der Ewigkeit der Dichtung augenfällig mit der Vergänglichkeit des Dichters: »Da er in seiner Blüte hinsank. / Eine blaue Blume / Fortlebt sein Lied im nächtlichen Haus der Schmerzen« (2 H; über »Fortlebt« durchgestrichen sind die Varianten »Klingt« und »Ist«). Während der »heilige Fremdling«, der Dichter, ruht, lebt er in seiner Dichtung fort, wird er durch seine Poesie gleichsam verewigt (vgl. Pfisterer-Burger 1983, 108). Den Zusatz im letzten Vers »im nächtlichen Haus der Schmerzen« könnte man aufgrund der vielen intertextuellen Verweise auf Novalis allgemein auf das Werk Trakls beziehen, werden in

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Trakls Gedichten doch viele Motive des Novalis in abgewandelter Form fortgeschrieben (vgl. Esselborn 1991, 203–232) und insbesondere der Schmerz poetisch vielfältig dargestellt. Auf Textstufe 2 H wird das Hinsinken in seiner Blüte als Bild für das Sterben des Dichters dabei nicht zuletzt mit dem romantischen Symbol der blauen Blume verwoben, das als Sehnsuchtsmotiv im Romanfragment Heinrich von Ofterdingen verhandelt (vgl. Marson 1975/1976, 371) und bei Trakl augenfällig mit dem Lied respektive dem Gedicht verknüpft wird. Dieses Motiv der blauen Blume verwendet Trakl ausschließlich in mehreren, im Herbst 1913 entstandenen Gedichten, so in »Am Abend« (I), »Gericht«, »Sommer. In Sonnenblumen gelb …«, »Ruh und Schweigen«, »Verklärung« und in »An einen Frühverstorbenen« (vgl. ITA III, 304). Nicht von ungefähr wird das Fortleben des »Lied[s]« durch das zentrale romantische Motiv hervorgehoben, denn die Musik wird im romantischen Kontext bekanntlich als höchste Kunst profiliert. In 2 H wird ferner das Verstummen des »trunkene[n] Saitenspiel[s]« des jungen Dichters »in rosiger Blüte« auf eine besondere Weise geschildert, sodass das Aufgehen des »göttliche[n] Geist[es]« in »zarter Knospe« als Metapher für das Dichterwerden – trotz eines frühen Todes – seine Vollendung erfährt. Auch in dieser Fassung lassen sich die auf Dichtung und Dichter bezogenen Themenfelder Auferstehung, ewiges Leben und Fortdauer der Dichtung erkennen. Alle Textstufen weisen überdies eine »Anfang-Schluss-Bindung« (Klessinger 2007, 142) auf, wodurch sie eine besondere Geschlossenheit erlangen. Im Erstentwurf werden der Anfangs- und Schlussvers durch den Parallelismus des vorangestellten Partizips verbunden (»Ruhend in kristallner Erde […]«, »Schweigend das nächtige Haus verließ«). In 2 H stehen der erste und der letzte Vers im Präsens (»In dunkler Erde ruht […]«, »Fortlebt sein Lied […]«), der Mittelteil im Präteritum. In 3 H und 4 H verbindet schließlich die chiastische Stellung der »In«-Präpositionalgruppe Anfang und Ende des Gedichts (»In dunkler Erde ruht der heilige Fremdling«, »Sanft hinsterbend in strahlender Blüte« resp.

G. Wacker

»Und verstummte in rosiger Blüte«, vgl. Klessinger 2007, 142). Auf allen Textstufen – v. a. in 4 H – werden ferner Innenräume ausgestaltet (»In dunkler Erde«, »In zarter Knospe«, »in rosiger Blüte«) und die »Konservierung des Moments in zeitloser Dauer« (Klessinger 2007, 144), passend zur Vorstellung der ewigen Ruhe des Toten, hervorgehoben. Die thematische Verbindung von Tod und Poesie bzw. die Überwindung des Todes durch die Poesie sowie die Überwindung von Zeitlichkeit und eine romantisch inspirierte Entdeckung der Innerlichkeit sind demnach die Hauptthemen dieses Nachlassgedichtes. Obwohl das Gedicht Novalis direkt adressiert, eignet dessen Beschreibung indes eine spezifische Unbestimmtheit, sodass nahezu jeder für Trakl bedeutsame Seher-Dichter im Titel anberaumt werden könnte. Der Begriff ›Fremdling‹ ist aus Novalis’ Hymnen an die Nacht vertraut, wird indes auch von Hölderlin verwendet (vgl. Böschenstein 1978, 18). So findet auch mit Ausnahme von 2 H auf allen Textstufen der Ausdruck »Saitenspiel« Verwendung, der erkennbar aus dem Dichtungsrepertoire Hölderlins (vgl. etwa »An die Parzen«, »Brod und Wein«) stammt; hinter der Novalis-Figur verbirgt sich somit noch eine weitere Bezugsgröße, beide Vorbilder »verschwimmen« für Trakl »gelegentlich ineinander« und avancieren »zu brüderlichen Spiegelungen seiner selbst« (Böschenstein 1978, 16). Nicht nur die Person des Novalis, sondern auch seine Motivik kann als ein besonderer Kronzeuge für die Verwandtschaft von Dichter und Prophet und dem Programm einer heiligen Autorschaft gelten, die Trakl teilweise adaptiert. Trakl nimmt viele bedeutsame romantische Motive (etwa den Traum, die blaue Blume, die Unschuld der Kindheit, die paradiesischen Urzustände, die Androgynie, die Sehnsucht u. a.) nicht nur auf, sondern verkehrt sie ins Gegenteil (vgl. Esselborn 1991, 203–232). Insbesondere die Thematik der Rauschträume beschäftigt Trakl nachhaltig, gelten sie ihm – wie auch Novalis – als Türöffner zum Reich des Wunderbaren und Unbewussten. Dementsprechend lässt sich auch das ›trunkene Saitenspiel‹ (4 H) auf Novalis’ poetisch gestaltete, drogeninitiierte

77  »An Novalis« (1913)

Ekstasen und seine Rauschträume, etwa in den Hymnen an die Nacht oder im Heinrich von Ofterdingen, zurückbeziehen (vgl. Kemper 2014, 68 f. und 73). Die besondere poetologische Bedeutung dieses Dichtergedichts gerät in den Blick, wenn man Novalis’ eigene poetologische Reflexionen miteinbezieht. Vornehmlich dessen »Monolog« (Novalis 1960 ff., II, 672 f.) thematisiert eine an sich selbst interessierte, autonome Sprache, die eine besondere musikalische und magische Qualität besitzt und die erst durch ein prophetisches Medium, den Dichter, zur Verlautbarung gelangt. Der prophetische Dichter fungiert als Vermittler und als ein »Sprachbegeisterter«, sein neuer Gott ist die Sprache, die lediglich für wenige ›Eingeweihte‹ zugänglich ist. Die Vorstellung vom unmittelbaren Ausdruck als Klage passt zum prophetischen Dichtungsverständnis, markiert ferner ein weiteres für Trakl wichtiges Themenfeld: Die »Klage über die Unmöglichkeit zur Mitteilung« (Klessinger 2007, 152). Es lässt sich häufig bei Trakl beobachten, dass vorbewusste Zustände und innere Räume idealisiert werden und ein Verlust der Einheit zwischen dem Inneren und der fremden Außenwelt beklagt wird. Die innere Geschlossenheit der jeweiligen Textstufen von »An Novalis« wäre demnach auch als Ausdruck einer inneren Hermetik zu verstehen (vgl. Klessinger 2007, 154). Während bei Novalis die von der Liebe inspirierte Poesie die Welt zu romantisieren und von aller Starrheit und Fremdheit zu befreien vorgibt, überwiegen bei Trakl Bilder der Abgeschlossenheit, der Exklusion und der Fremdheit. Ob die Hinweise auf das Schweigen und Verstummen bei Trakl als radikale »Absage an Novalis« (Klessinger 2007, 155) zu lesen sind, bliebe zu diskutieren. So zeigen sich in Trakls Werk an anderer Stelle alternative, besonders authentisch-unmittelbare, naturhaft-vorsprachliche Formen der Mitteilung, die zwi-

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schen Sagen und Schweigen stehen, wie etwa das Tönen und eine exaltierte Körperpoetik, die ebenfalls unter Rekurs auf die Vorstellung von romantischen Melodien entwickelt werden (vgl. Wacker 2013, 312). Sowohl für Novalis wie für Trakl ist jedenfalls das Tönen ein Ausdruck der göttlich inspirierten Natursprache, die sich auch bei anderen imaginären Frühverstorbenen in der Nachfolge des Novalis beobachten lässt – etwa bei der Elis-Figur, in deren Brust »[e]in sanftes Glockenspiel tönt« (ITA II, 455).

Literatur Böschenstein, Bernhard: Hölderlin und Rimbaud. Simultane Rezeption als Quelle poetischer Innovation im Werke Georg Trakls. In: Hans Weichselbaum/Walter Weiß (Hg.): Salzburger Trakl-Symposion. Salzburg 1978, 9–27. Esselborn, Hans: »Blaue Blume« or »Kristallene Tränen«? Trakl’s poetology and relation to Novalis. In: Eric Williams (Hg.): The dark flutes of fall. Critical essays on Georg Trakl. Columbia (SC) 1991, 203– 232. Esselborn, Hans: Poetologische Leitfiguren Georg Trakls. In: Uta Degner/Hans Weichselbaum/Norbert Christian Wolf (Hg.): Autorschaft und Poetik in Texten und Kontexten Georg Trakls. Salzburg/Wien 2016, 235–249. Kemper, Hans-Georg: Droge Trakl. Rauschträume und Poesie. Salzburg/Wien 2014. Klessinger, Hanna: Krisis der Moderne. Georg Trakl im intertextuellen Dialog mit Nietzsche, Dostojewskij, Hölderlin und Novalis. Würzburg 2007. Marson, Eric Lawson: Whom the Gods Love. A New Look at Trakl’s Elis. In: German Life and Letters 29 (1975/76), 369–381. Novalis (Friedrich von Hardenberg): Schriften. Hg. von Paul Kluckhohn und Richard Samuel. Stuttgart 1960ff. Pfisterer-Burger, Kathrin: Zeichen und Sterne. Georg Trakls Evokationen lyrischen Daseins. Salzburg 1983. Wacker, Gabriela: Poetik des Prophetischen. Zum visionären Kunstverständnis in der Klassischen Moderne. Berlin/Boston 2013.

»Melancholie« (I) / »Leise« / »Melancholia« (1912)

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Felix Christen und Erik Schilling

Die erste überlieferte Fassung von Trakls Gedicht »Melancholie« ist das im November/Dezember 1912 erstellte Typoskript zum Band Gedichte. Die zunächst für Vorstufen gehaltenen Fassungen mit den Titeln »Leise« und »Melancholia« (HKA I, 360 und 361) sind laut neueren Forschungsergebnissen zeitlich erst später entstanden (ITA III, 13). Im Gedicht »Melancholia« kann so eine Zusammenführung der Gedichte »Melancholie« (I) und »Leise« erkannt werden. In leicht abgeänderter Form fand »Melancholie« (I) hier zunächst als zweite, in der finalen Fassung des Gedichts als erste Strophe Eingang (ITA II, 192). Schon im Band Gedichte ist »Melancholie« (I) nicht das einzige Gedicht, das sich mit dem titelgebenden Thema auseinandersetzt. Dem Text korrespondiert explizit das Gedicht »Melancholie des Abends«; über das Thema sind weitere Gedichte angebunden, etwa »In ein altes Stammbuch«. Weitere Texte im späteren Werk Trakls führen das Thema fort: Neben der ein-

F. Christen (*)  Germanistisches Seminar, Ruprecht-KarlsUniversität Heidelberg, Heidelberg, Deutschland E-Mail: [email protected] E. Schilling  Institut für Deutsche Philologie, LudwigMaximilians-Universität München, München, Deutschland E-Mail: [email protected]

gangs nachgezeichneten Weiterverarbeitung von »Melancholie« (I) wären hier etwa »Melancholie« (II) oder »Die Schwermut« zu nennen. Entsprechend regelmäßig wurde Melancholie als Thema bei Trakl untersucht, bereits ab der frühen Nachkriegsgermanistik (Müller 1956), mit einem Höhepunkt im Zuge der psychoanalytischen Literaturwissenschaft der 1970er und 1980er Jahre (Bergsten 1971; Benedetti 1975; Kleefeld 1985) sowie weiteren Ansätzen bis in die Gegenwart (Benzenhöfer 1990; Millington 2012; Görner 2014, 233–266). »Melancholie« (I) besteht aus acht Versen, die nicht weiter gegliedert sind. Die Form nimmt damit Anleihen bei der Strophe der Stanze, von der sie die Zahl der Verse sowie das Metrum des Endecasillabos (weiblich-unbetont schließender jambischer Fünfheber) übernimmt. Modifiziert gegenüber der Stanze wird der Reim, der in der Stanze traditionell als Kreuzreim gebaut ist, während Trakl in »Melancholie« (I) einen umarmenden Reim verwendet und dabei in den Versen 5–8 zusätzlich den Reim wiederholt, unter Vertauschung der Reimwörter, so dass sich das Schema abbabaab ergibt. Gesteigert ist der Reim-Effekt darüber hinaus, weil zweimal ein identischer Reim vorliegt (»Laugen« – »Laugen«; »-gleiten« – »-gleiten« – »gleiten«). Neben der Stanze erinnert das Gedicht damit an das Ghasel, das ein Reimwort mehrfach wiederholt. Eine klare Handlungs- oder Ereignisabfolge ist im Gedicht nicht zu erkennen. Das

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_78

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­ edicht setzt – nach dem knappen StimmungsG bild »Bläuliche Schatten« (ITA II, 193, Zitation im Folgenden nach dieser Fassung) – ein mit der Begegnung des Sprechers und einer anderen Person, deren Augen ihn lange »anschaun im Vorübergleiten«. Zu den visuellen Sinneseindrücken tritt sodann der akustische der »Guitarrenklänge«, die »sanft den Herbst begleiten«, und der taktile Eindruck, der den Klängen synästhetisch mit dem Adverb »sanft« beigegeben ist. Doch weil sich die Klänge »in braunen Laugen« auflösen, gesellen sich ab dem vierten Vers Eindrücke von Verfall und Tod zu den erotischsinnlichen der ersten Verse. Sinnlichkeit und Tod werden im Folgenden in drei ähnlich gebauten Bildern weiter verbunden: »Des Todes ernste Düsternis bereiten / Nymphische Hände«, heißt es zunächst. Der Tod ist explizit genannt, die Erotik wird über das Attribut »[n]ymphisch« einbezogen, das auf eine junge, weibliche Gottheit verweist, oft als Personifikation von Naturelementen (Bäumen, Wasser etc.). Wie schon in den »dunklen Augen« des ersten Verses wohnt also der Erotik – des Blicks bzw. der Berührung durch die Hände – das Vergehen inne, das als ›dunkel‹ und ›Tod‹ bezeichnet ist. Das neckische Spiel der Liebe kontrastiert der Ernst des Todes. Dies wird in den letzten drei Versen weiter gesteigert, denn: »an roten Brüsten saugen / Verfallne Lippen«. Die Brüste als Symbol der Weiblichkeit, die mit der erotisch aufgeladenen Farbe und einer ebenfalls als erotisch zu verstehenden Tätigkeit apostrophiert sind, erfahren nach dem Versende eine abrupte Wendung, wenn die saugenden Lippen nicht zur jugendlichen Erotik passen, weil sie verfallen sind. Während das Versende den Bruch metrisch unterstreicht, überspielt ihn das Enjambement gleichzeitig, sodass die inhaltlich ausgesagte Ambivalenz formal unterstrichen wird. Das dritte Bild fügt der Verbindung von Sinnlichkeit und Tod einen weiteren Aspekt hinzu: »in schwarzen Laugen / Des Sonnenjünglings feuchte Locken gleiten«. Erneut wird ein Bild strahlender Jugendlichkeit aufgerufen, dem mit den feuchten Haaren zudem eine erotische Komponente innewohnt. Gleichzeitig ist das Bild durch das Schwarz konterkariert, bei dem

F. Christen und E. Schilling

die Farbfolge (blau – dunkel – braun – schwarz) mittlerweile angekommen ist. Indem das Gedicht verschiedene Körperteile nennt (Augen, Hände, Brüste, Lippen, Locken), lehnt es sich an die antike Liebeselegie und deren Tradition an, die Geliebte von Kopf bis Fuß zu beschreiben (›de capite ad pedes‹). Gleichzeitig dekonstruiert es diese Tradition in doppelter Hinsicht. Erstens lassen sich die genannten Körperteile nicht einmal ansatzweise zu einem vollständigen Bild der bzw. des Geliebten zusammensetzen. Während die klassische Liebeselegie das Verfahren wählt, um ein Bild der Geliebten in ihrer ganzen Pracht zu zeichnen, sind hier nur noch Schlaglichter möglich. Zweitens ist den erotischen Schlaglichtern jeweils ihr Verfall einbeschrieben, im Sinne eines barocken ›memento mori‹. Das Dunkel der Augen bezeichnet nicht nur deren reale Farbe, sondern auch ihre Sterblichkeit. Die Lippen werden als verfallen beschrieben, die Berührung der Hände wird mit der Berührung durch die kalte Hand des Todes verglichen. Vor diesem Hintergrund fügt sich die Beschreibung der Geliebten in das Herbstambiente. Das Vorübergleiten der Augen lässt sich als Vorbeiziehen des Lebens verstehen, in dem das Frühjahr unversehens in den Herbst übergeht und sich das Leben dann »auf[]löst in braunen Laugen«. Der Lauf des Lebens wird auch im Saugen an den Brüsten gespiegelt, das in einem poetischen Bild die drei Lebensalter zusammenbindet: vom nahrungsbedürftigen Säugling über den erotisierten Jüngling bis zum verfallenden Greis. Der »Sonnenjüngling[]« des letzten Verses lässt sich als Apoll verstehen, womit neben die erotische Konnotation eine mythologische Komponente tritt. Unterstrichen wird dies durch die Klänge der »Guitarre[]«, die man vor diesem Hintergrund als moderne Lyra fassen kann, sowie durch die Nymphe(n), die Apoll in der Mythologie oft als Begleitfiguren beigegeben sind. Wenn Apoll klassischerweise für die (Dicht-)Kunst steht, folgt aus den mythologischen Elementen ein poetologischer Impuls: Melancholie, Abend und Herbst sind Momente der Dichtung, das Gedicht »Melancholie« (I) ist auch ein Gedicht über Dichtung.

78  »Melancholie« (I) / »Leise« / »Melancholia« (1912)

Das Gedicht bindet dazu nicht nur mythologische, gattungs- und kunstgeschichtliche Topoi ein (sowie – noch prominenter in den anderen Fassungen – musikalische), sondern auch konkrete intertextuelle Verweise. Die symbolistische Lyrik, konkret: Charles Baudelaire, Paul Verlaine und Arthur Rimbaud wären zu nennen (dazu Benzenhöfer 1990, 217–220; Zanucchi 2016), insbesondere aber Friedrich Hölderlins Gedicht »Dem Sonnengott« (allgemein zu Hölderlin-Bezügen bei Trakl vgl. Böschen­ stein 2006, 78–92; Klessinger 2007). Bei Hölderlin fragt der Sprecher bei Einbruch der Nacht nach dem Verbleib des Sonnengottes Apoll. Den Sonnenuntergang beschreibt er mit folgenden Worten: Er habe gesehen, »wie, müde seiner / Fahrt der entzükende Götterjüngling // Die jungen Loken badet’ im Goldgewölk’« (Hölderlin 1975–2008, V, 453). Hier wird das Bild etabliert, das Trakl für das Ende seines Gedichts übernimmt. Gleichzeitig findet Trakl bei Hölderlin das Thema der Melancholie angelegt: Nach dem Untergang der Sonne bleibe nur Trauer, und diese wiederum wandle, »wie Kinderschmerz, / In Schlummer sich« (ebd.). Anders aber als bei Trakl gibt es bei Hölderlin Hoffnung auf einen Neubeginn, auf einen neuen Tag: »Nebel und Träum’« beherrschen die Situation nur solange, »[b]is der Geliebte wiederkömt und / Leben und Geist sich in uns entzündet« (ebd.). Für Trakls Lyrik erweist sich das Konzept der Melancholie hingegen als poetologisch konstitutiv. Bei Hölderlin ist die »Trauer« an eine bestimmte Situation gebunden, an die des Abends, die aber vom »Schlummer« der Nacht abgelöst wird und voller Hoffnung auf den neuen Morgen ist. Trakl hingegen versteht Melancholie als unausweichliche Basis der conditio humana, die in jedem Moment alles durchzieht. Hier zeigt sich eine Analogie zum jeweiligen Glaubens- und Geschichtsbild. Während Hölderlin in »Patmos« »Denn noch lebt Christus« proklamiert und für seine Gegenwart die Konsequenz »Dem folgt deutscher Gesang« zieht (Hölderlin 1975–2008, VII, 254 bzw. 257), ist bei Trakl die Bezugnahme ins Negative gewendet (Böschenstein 1978, 13 f.). Im »Helian« heißt es: »Eh dem Schweigen des Winters folgt« (ITA II, 262, V.

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59), in »Afra« »folgen dunkle Jahre« (ITA III, 123) und in der »Verwandlung des Bösen«, die den ersten Abschnitt von Sebastian im Traum beschließt, »folgt unvergängliche Nacht« (ITA III, 290, Z. 48). Zeichen der Gegenwart bei Trakl ist daher allumfassende Melancholie. Die Schönheit der Welt wird wahrgenommen – flirtende Blicke, Gitarrenspiel, erotische Handlungen –, doch die Schönheit ist nicht ohne ihren Verfall zu denken. Nicht zufällig ist der Herbst die prägende Jahreszeit. Wie an einem sonnigen Spätsommertag im September oder Oktober ist die Pracht des Sommers in Trakls Gedichten noch einmal präsent. Gleichzeitig ist diese Pracht eine, die in kürzester Zeit vergangen sein wird: Weil es unmöglich ist, die Pracht der Gegenwart ohne ihren Verfall in naher Zukunft zu denken, bleibt als einzige Form, der Welt zu begegnen, die Denkfigur der Melancholie. Und der Ort der Melancholie ist das Gedicht – wie es »Melancholie« (I) exemplarisch vorführt. Ergänzend sei ein Seitenblick auf ein weiteres – oben bereits genanntes – Melancholie-Gedicht aus dem Band der Gedichte geworfen, das die Ergebnisse der Interpretation unterstreicht: »In ein altes Stammbuch«. Die Melancholie wird dort bereits im ersten Vers explizit erwähnt und dann in den Formulierungen »Sanftmut der einsamen Seele«, »Schmerz« sowie »weiche[r] Wahnsinn« variiert (ITA II, 105). Was das Gedicht darüber hinaus zu einem Parallelgedicht zu »Melancholie« (I) werden lässt, ist, dass dort ebenfalls eine traditionelle Gedichtform dekonstruiert wird. Ging es in »Melancholie« (I) um die Liebeselegie und deren Beschreibung der Geliebten von Kopf bis Fuß, lässt sich »In ein altes Stammbuch« als dekonstruiertes Sonett verstehen – und damit erneut als Auseinandersetzung mit einer zentralen Form der Liebesdichtung. »In ein altes Stammbuch« betont damit – ebenso wie »Melancholie« (I) –, dass die Tradition der Dichtung noch wirksam ist (nicht zufällig wird das Gedicht angeblich in ein »altes Stammbuch« geschrieben), aber nur noch gebrochen fortgeführt werden kann. Eine Welt, in der die Melancholie immer wiederkehrt, kann die

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Liebe weder heroisch-überzeitlich gestalten (wie die Liebeselegie) noch ironisch-gegenwärtig (wie das barocke Sonett mit seiner Aufforderung zum Carpe Diem). Der Welt der Melancholie wohnt in der Gegenwart der Verfall der Zukunft inne; im Moment des Kusses sind die Lippen bereits welk, im Moment des Augen-Blicks brechen die Augen bereits im dunklen Tod. Zunächst unabhängig von »Melancholie« (I) entstand nach dem 20.2.1913 – auf der Versoseite des Umschlags zu einem Brief dieses Datums von Karl Borromäus Heinrich – das Gedicht »Leise«. Der Entwurf beginnt mit dem elliptischen Vers »Ein Stoppelfeld. Ein schwarzer Wind gewittert« (ITA II, 396) und ist in der Grundschicht auf zwei identisch gebaute Strophen mit jeweils fünf fünfhebigen Versen und dem wiederholten Reimschema ababa angelegt. In zwei Überarbeitungsschritten folgen die Umformung durch einen zwischen den beiden Strophen eingefügten Vers (»Des Abends Schminken & Cyanenfarben«; ITA II, 393), der die Strophengliederung aufhebt, sowie durch die Hinzufügung eines neuen Verses am Ende des Gedichts: »Sonatenklänge, die im Ohr erstarben« (ebd.). Der zwischen optischer und akustischer Wahrnehmung abgesteckte Rahmen, der sich dadurch zwischen dem Beginn des Gedichts und dem letzten Vers ergibt, wird in einer Maschinenabschrift jedoch in dieser Form aufgegeben – an die Stelle des neuen Schlussverses wird eine Reprise von Vers 4 eingefügt (vgl. ITA II, 394 f., 397). Dieses Typoskript bildet, ergänzt um einige handschriftliche Modifikationen Trakls, die letzte überlieferte Gestalt des Gedichts, bevor es im Frühsommer 1913 mit »Melancholie« (I) kombiniert und zu einem neuen Gedicht mit dem Titel »Melancholia« umgearbeitet wird. Als Konstruktionsprinzip von »Leise« lässt sich die enggefügte Wiederholung und näherhin das Kreisen begreifen. Der Kreis ist zum einen die Grundfigur des Gedichts als Artikulation einer gedanklichen Bewegung, die zum Stillstand tendiert, wie sie im dritten Vers explizit gemacht wird: »Gedankenkreis, der trüb das Hirn umwittert« (ITA II, 398). Die Zyklik, die hier über das Adverb »trüb« und den damit

F. Christen und E. Schilling

verbundenen »Trübsinn« (das Gedicht dieses Titels erscheint im Brenner-Heft von Oktober 1912, sodann auch in den Gedichten von 1913; vgl. ITA II, 93) als Charakteristikum der Melancholie erkennbar ist, bestimmt das Gedicht zum anderen auch formal. Nicht nur werden zwei Verse am Gedichtende mit nur leichter Variation wiederholt; vielmehr erhält auch das Reimschema abababababab durch die Verwendung identischer Reime in der zweiten Gedichthälfte (V. 5 und 11; V. 6 und 10; V. 4, 8 und 12) einen ausgesprochen monotonen Charakter. Diese im Entstehungsprozess gezielt herausgearbeitete, also nicht akzidentelle, sondern durchaus forcierte lautlich-semantische Monotonie verhält sich komplementär zu der Wahrnehmung von Verfall und Tod im Gedicht und gipfelt in der zweiten Wiederholung des Verbs »verstarben« als Reimwort, welches das Gedicht beschließt – und doch nur wiederholt, was in ähnlichen Worten bereits gesagt ist: Die »Astern [...] verstarben«. Auch die »Reseden, die in schwarzem Flor verstarben«, haben den Schlussakkord des Gedichts schon vorweggenommen. So deutlich diese Formsemantik des Gedichts auch erscheinen mag, ist der Wortsinn im Einzelnen doch nicht immer leicht zu erschließen. Der zweite Vers – »Aufblühn der Traurigkeit Violenfarben« – weist gegenüber dem jambischen Metrum nicht nur eine Tonbeugung in der ersten Silbe auf, sondern spannt durch eine doppelte Anastrophe die Syntax aufs Äußerste und erschwert damit das unmittelbare Verständnis. Neben dem zu erschließenden Sinn ›Violenfarben der Traurigkeit blühen auf‹ (Subjekt sind die im Entwurf ebenso wie in der Abschrift großgeschriebenen »Violenfarben«) wird durch die Inversion auch ein »Aufblühn der Traurigkeit« im genitivus subiectivus hörbar. Diese (wenn man so will) ›aufblühende Traurigkeit‹ interagiert mit Blumen, die von Verfall gezeichnet sind. Das Gedicht bietet mit den nachfolgenden ›verstorbenen‹ »Astern«, den ›schwärzlichen‹ und ›verwitterten‹ »Sonnenblumen«, den ›Zyanen‹, den zeitweilig erwogenen ›darbenden‹ »Georginen« und ›Hyazinthen‹ (ITA II, 395) und den später ergänzten »Reseden«, die wie die Astern »ver-

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starben«, eine Art Florilegium der Melancholie. Insbesondere die »Reseden« gehören einem aus Verlaines Poèmes saturniens (1866) übernommenen Vokabular des melancholisch wahrgenommenen Verfalls an. Der entsprechende Vers lautet in der Trakl wohl bekannten Anthologie der besten Übertragungen von Gedichten Verlaines (hg. von Stefan Zweig, die Übersetzung des Gedichts stammt von Richard Schaukal): »Leis den Verfall umschmeichelt die Reseda …« (Verlaine 1907, 9; vgl. dazu Benzenhöfer 1999, 222 f.) Das Wort ›leise‹, das Trakl erst in der Maschinenabschrift über das Gedicht setzt, kennzeichnet also bei Verlaine die »Reseda«, die noch nicht selbst verfällt, sondern »den Verfall umschmeichelt«, während in Trakls Gedicht die Blumen bereits »schwärzlich und verwittert« oder ›verstorben‹ sind. Anders als bei Verlaine gehört das Adverb ›leise‹ nicht direkt zu den Blumen, sondern zum poetischen Subjekt: »Und unsere Stirnen schattenhaft vergittert / Versinken leise in Zyanenfarben«. Die »Stirnen« ebenso wie die ›Zyanen‹ (die Blumen) treten dabei hinter den Farbeindruck, die »Zyanenfarben«, zurück. Dass zudem das Kompositum »Zyanenfarben« im sechsten Vers (»Gelöst in Schminken und Zyanenfarben«) eine Dekomposition der Farbwahrnehmung anzeigt, verstärkt den Anschein, dass Trakls »bildhafte Manier, die in vier Strophenzeilen vier einzelne Bildteile zu einem einzigen Eindruck zusammenschmiedet« (ITA V.1, 126), hier gewis­ sermaßen ins Stocken oder genauer: ins Kreisen gerät. Die gezielte Wiederholung von Bildteilen transponiert den »Gedankenkreis« in die im Gedicht dargestellte Wahrnehmung. Obschon damit ein vollständig komponierter Text vorliegt, lässt Trakl das Gedicht aus unbekannten Gründen (vgl. ITA II, 389) nicht im Brenner drucken, integriert es jedoch in ein neues Gedicht, das den Titel »Melancholia« trägt. Noch vor der Auslieferung der Gedichte im Juli 1913 (vgl. ITA III, 11 und 13) fügt Trakl das in dem Band enthaltene Gedicht »Melancholie« (I) in einem maschinenschriftlichen Entwurf mit »Leise« zusammen, indem er auf die ersten fünf Verse von »Leise« einen neuen Doppelvers folgen lässt und als zweite Strophe »Melancho-

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lie« (I) mit dem neuen Schlussvers »Löst sich ein goldner Teppich im Entgleiten« daruntersetzt (ITA III, 18). Damit wird gerade die monotone Melodik von »Leise« gekappt, die sich vor allem durch die Wiederholungen in der zweiten Gedichthälfte entfaltet hatte. Zugleich werden jedoch farbliche Korrespondenzen zwischen den ehemals selbständigen Gedichtteilen offengelegt (zwischen dem »schwarze[n] Wind« und den »schwarzen Laugen«, V. 1 und 14) oder neu geschaffen: »leer und dunkelfarben« entspricht der im nächsten Vers folgenden Apostrophe »O ihr dunklen Augen«. Umso aufschlussreicher ist es, zu beobachten, dass Trakl in einer daran anschließenden handschriftlichen Abschrift des Gedichts – der letzten überlieferten Textstufe von »Melancholia« (ITA III, 18 f.) (Abb. 78.1) – die Abfolge der beiden Strophen umkehrt und mit einer Korrektur von »sch[warzen]« zu »braunen Laugen«, in welchen »[d]es Sonnenjünglings feuchte Locken gleiten« (ebd.), die Korrespondenz innerhalb des ehemaligen Gedichts »Melancholie« (I) durch die wörtliche Wiederholung von »braunen Laugen« verstärkt. Demgegenüber bleibt das Adjektiv »schwarz[]« bzw. »schwärzlich« nun der zweiten Gedichthälfte vorbehalten. Killy bemerkt in seiner Analyse der Entstehung von »Melancholie« (I), die irrtümlich den in den Gedichten publizierten Text als letzte Textstufe ansetzt, die Farben lägen bei Trakl »viel mehr fest als die Erscheinungen selbst« (Killy 1973, 33) – freilich ohne ausschließen zu können, dass (wie etwa bei den »Laugen«) das Farbadjektiv an einer bestimmten Stelle geändert wird. Er geht jedoch davon aus, dass innerhalb des gleichen Texts bzw. Entwurfskomplexes die Farben stets erhalten bleiben, auch wenn ihnen ein anderer Ort im Versgefüge zugewiesen wird (vgl. ebd., 34). Obschon dies streng genommen noch nicht einmal für das untersuchte Gedicht durchgehend zutrifft (die »Zyanenfarben« finden sich nur in »Leise«, das Farbadjektiv ›rot‹ nur in »Melancholie« [I] und der ersten Textstufe von »Melancholia«, nicht aber in der zweiten und letzten), lässt sich in der Textgenese von »Melancholia« doch generell eine Logik der Verschiebung statt der Ersetzung beobachten, durch die etwa die kreisenden

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F. Christen und E. Schilling

Abb. 78.1  Abschrift von »Melancholia« aus dem Juni/Juli 1913; Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Nachlass Ludwig von Ficker.

Wiederholungen des Gedichts »Leise« durch die gezielte – durch Änderung am Farbadjektiv erwirkte – Repetition der Wendung »in braunen Laugen« ins neu entstandene Gedicht zumindest punktuell integriert wird. Ob diese »Varianten« tatsächlich »als Interpretationshilfe«, »als Hilfe für eine Deutung der Gedichte«, dienlich sind, wie Kemper in seinem Kommentar zur Entstehung von »Melancholie« (I) zu zeigen ver-

sucht (Kemper 1973, 36), kann jeweils nur am Einzelfall geklärt werden. Aber auch dort, wo aus den Entwürfen abgeschlossene Gedichte resultieren, die gedruckt worden sind oder zumindest weitgehend reinschriftlich vorliegen, lässt sich die Struktur der Texte aus ihrer Genese zuweilen besser begreifen. Wenn in der letzten Textstufe von »Melancholia« die Wiedergabe des Textbestands von »Leise« genau bei dem

78  »Melancholie« (I) / »Leise« / »Melancholia« (1912)

Vers abbricht, der im ersten Entwurf die erste Strophe beschließt (während der folgende Vers, »Gelöst in Schminken und Zyanenfarben«, wie vermerkt, erst später hinzukommt), so wird die kompositorische Struktur einer früheren Textstufe in der spätesten wieder sichtbar. An die Stelle des überbrückenden Verses und der echohaft-monotonen zweiten Gedichthälfte von »Leise« tritt nun aber ans Ende des Gedichts ein ganz neuer Doppelvers, der das beobachtende, erblickend-angeblickte Ich der ersten Verse von »Melancholie« (I) ebenso wie seine gleitende Bewegung (»O ihr dunklen Augen / Die lang mich anschaun im Vorübergleiten«) aufnimmt: »Da schweigt die Seele grauenvoll erschüttert / Entlang an Zimmern, leer und dunkelfarben«. Während damit wiederum ein Subjekt des Schauens und Empfindens hervortritt, bildet die Erschütterung als Gegensatz zum Gleiten und Kreisen einen (freilich instabilen) Ruhepunkt, an dem das Sprechen innehält – das Sprechen der »Seele«, die nicht einfach von außen observiert wird, sondern wie das »Hirn« die Perspektive der Artikulation im Gedicht reflektiert und affiziert. Dass Trakl dieses zuletzt gleichsam ›verschwiegene‹ Gedicht nicht publiziert hat, scheint so besehen denn auch nur konsequent. Und nachdem er Mitte Juli 1913 den Druck der Gedichte erhalten hatte, der das mit dem Wortlaut der ersten Strophe von »Melancholia« weitgehend übereinstimmende Gedicht »Melancholie« enthält (vgl. ITA, Supplement I, 27), dürfte sich die weitere Arbeit an dem Gedicht erübrigt haben. Der Gedichtkomplex »Melancholie« (I) – »Leise« – »Melancholia« nimmt damit eine eigentümliche Stellung zwischen publiziertem und unpubliziertem Text ein und zeigt, wie ein abgeschlossenes, ja bereits im Druck befindliches Gedicht Trakls zugleich dynamisch und revidierbar bleibt.

463

Literatur Benedetti, Gaetano: Psychiatrische Aspekte des Schöpferischen und schöpferische Aspekte der Psychiatrie. Göttingen 1975. Benzenhöfer, Udo: Melancholie und Schwermut in den Gedichten Georg Trakls. In: Dietrich von Engelhardt/ Horst-Jürgen Gerigk/Guido Pressler/Wolfram Schmitt (Hg.): Melancholie in Literatur und Kunst. Hürtgenwald 1990, 214–228. Bergsten, Gunilla: Georg Trakls traumatischer Kode. In: Studia Neophilologica 43 (1971), 333–351. Böschenstein, Bernhard: Hölderlin und Rimbaud. Simultane Rezeption als Quelle poetischer Innovation im Werk Georg Trakls. In: Walter Weiß/Hans Weichselbaum (Hg.): Salzburger Trakl-Symposion. Salzburg 1978, 9–27. Böschenstein, Bernhard: Von Morgen nach Abend. Filiationen der Dichtung von Hölderlin zu Celan. München 2006. Görner, Rüdiger: Georg Trakl. Dichter im Jahrzehnt der Extreme. Wien 2014. Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe. Hg. von D. E. Sattler und Michael Knaupp. Frankfurt a. M./Basel 1975–2008. Kemper, Hans-Georg: Varianten als Interpretationshilfe. Zur Genese von Georg Trakls »Melancholie«. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Georg Trakl. München 31973, 36–41. Killy, Walther: Die Entstehung von Georg Trakls Gedicht »Melancholie«. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Georg Trakl. München 31973, 33–35. Kleefeld, Gunther: Das Gedicht als Sühne. Georg Trakls Dichtung und Krankheit. Eine psychoanalytische Studie. Tübingen 1985. Klessinger, Hanna: Krisis der Moderne. Georg Trakl im intertextuellen Dialog mit Nietzsche, Dostojewskij, Hölderlin und Novalis. Würzburg 2007. Millington, Richard: »Immer wieder kehrst du, Melancholie«. Plotting Georg Trakl’s Poetic Sadness. In: Edinburgh German Yearbook 6 (2012), 95–112. Müller, Marie-Luise: Melancholie und Mythos bei Georg Trakl. München 1956. Verlaine, Paul: Gedichte. Eine Anthologie der besten Übertragungen. Hg. von Stefan Zweig. Berlin/Leipzig 21907. Zanucchi, Mario: Transfer und Modifikation. Die französischen Symbolisten in der deutschsprachigen Lyrik der Moderne (1890–1923). Berlin/Boston 2016.

»An Luzifer« (1914)

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Stephan Jaeger

Trakls aus dem Nachlass stammendes Gedicht »An Luzifer« ist im April 1914 entstanden (ITA IV.2, 31). Es existiert in fünf Textstufen mit zusätzlichen kleinen Varianten und Änderungen (ITA IV.2, 31–37). Zwerschina und Sauermann sehen am Anfang der Überlieferung eine vierzeilige Fassung, die nur noch in der Abschrift von Felix Brunner vorliegt (Textstufe 1 h). Hier scheint der »Geist der Schmerzen« auf spirituelle Erlösung des irdischen Eingeschlossenseins zu hoffen. Die folgenden Textstufen entwickeln die Sühne- und Opferthematik sowie die lyrische Form des Gedichts weiter; zwei davon (3 h und 4 h), die nur in Abschriften Brunners vorliegen, unter dem Titel »Bitte«. Von Luzifer und der Schwermut ist explizit in diesen Fassungen noch nicht die Rede. Der Auftaktvers von 3 h, »Dem Geist schick’ deine Flammen, so er duldet«, könnte sich entsprechend an Gott richten. Mengaldo betont hier gerade die Verschiebung von Schuld zum Dulden zwischen den beiden Fassungen (Mengaldo 2016, 334–335); das Lamm als Apotheose Christi kann letztlich nicht mehr die noch in 3 h mögliche Entschuldung zulassen. Erst in der letzten Textfassung (5 H) wird dann die Perspektive

S. Jaeger (*)  Department of German and Slavic Studies, University of Manitoba, Manitoba, Kanada E-Mail: [email protected]

gewendet und explizit mit »An Luzifer« der gefallene Engel angesprochen. Zugleich lässt sich aus den Motiven des Gedichts nur noch mühsam eine ›Geschichte‹ konstituieren; die Bilder von Liebe und Herz sind in der letzten – auch durch die Auflösung von Jambus und Endreim – deutlich verhärteten Fassung nicht mehr enthalten. Das einstrophige Gedicht (Textstufe 5 H) besteht aus neun Versen und besitzt den für das Spätwerk Trakls typischen Ton einer harten Fügung. Es ist durch Enjambements geprägt, die die Zuordnung von Worten und Bedeutung immer wieder verkomplizieren. »An Luzifer« erlaubt es dem Leser, Bezüge auf zumindest fünf Bildkomplexe zu erkennen: die Vorstellung von der Melancholie als Acedia; die Geschichte Luzifers; den Mythos um Ikarus; die Kreuzigung Christi / den Hügel Golgatha sowie als möglichem Prätext die Offenbarung des Johannes, in der die Augen des Reiters auf dem weißen Pferd mit einer Feuerflamme verglichen werden (Off. 19,11–13). Letzteres lässt sich sowohl als göttliche wie auch als luziferische Affirmation lesen (vgl. Jaeger 2000, 379). Der Titel und der erste Vers nutzen die appellative Funktion des Gebets: »Dem Geist leih deine Flamme, glühende Schwermut«. Gleichzeitig bleibt unklar, wessen Geist die Flamme eigentlich benötigt: der Geist Gottes, des Bösen, des Menschen oder des Dichters. Im Unterschied zu den vorherigen Textstufen wird in den

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Folgeversen die Passion Christi nur als etwas Vergangenes erinnert: »[…] wo vor Zeiten / Verblutet ein sanftes Lamm, der Schmerzen tiefsten / Erduldet« (ITA IV.2, 37). Neben der Textgenese gibt es drei grundsätzliche Wege, »An Luzifer« zu interpretieren. Erstens ist es möglich, die Bilder und Motivik des Gedichts in der Interpretation möglichst zu vereindeutigen. So analysiert Völker das Gedicht und seine früheren Textfassungen als die letzte Entwicklungsstufe für Trakls Melancholiebehandlung, insofern das Dulden zur Sühne des leidenden Ichs und Luzifers hinzugehört, eine Demutshaltung, durch die eine Transzendenz vorbereitet und ermöglicht wird. Luzifer avanciert hier zur Allegorie eines Bewusstseins, das mit der »glühende[n] Schwermut« identisch ist. Das Religiöse dominiert in Völkers Interpretation das Ästhetische (Völker 1978, 105–107). Auch Csúri liest das Gedicht unter Berücksichtigung der verschiedenen Bildkomplexe vornehmlich als Ausdruck einer eindeutigen Entwicklung, die aber im Engelssturz als wiederholter Sündenfall anzusehen ist, wobei der Mensch die Möglichkeit jeglicher Heilserlösung verliert und der Verlockung des Bösen erliegt (Csúri 2016, 327–328). Zweitens ist es möglich, »An Luzifer« aus dem ideengeschichtlichen und biographischen Kontext zu erklären. So interpretiert Kleefeld das Gedicht vor dem Hintergrund des von Hans Limbach kolportierten Gesprächs zwischen Dallago und Trakl aus dem Januar 1914, in dessen Verlauf  sich Trakl von Dallagos Nietzscheanismus distanzierte und sich als Christ bezeichnete (Limbach 1926), sowie mit Blick auf die Theosophie Rudolf Steiners (Kleefeld 2009, 214–221). Demzufolge schaffe Trakl »sein eigenes Bußsakrament […], ein anderes Mysterium von Golgatha« (ebd., 223). Luzifer wird dann gemäß dieser Lektüre von Trakls gnostischem Passionsmysterium zum Befreier, der das Licht bringt. Kleefeld schlussfolgert: »Luzifer ist die Identifikationsfigur des innovativen Künstlers, der durch sein Schaffen zur Selbstvervollkommnung des Menschengeschlechts beiträgt,

S. Jaeger

dem Projekt, dem sich schon die Renaissance und die Aufklärung verschrieben hatten – in Abkehr von der christlichen Heilsbotschaft« (ebd., 226). Dieser Vereindeutigung Traklscher Bilder entgegengesetzt zeigt drittens Jaeger in einer Bewegungsanalyse des Gedichts, wie durch Trakls dynamische Syntax und Deixis vielfältige Zuordnungen der zitierten Motive und Bildkomplexe verhindern, dass das Gedicht bildlich im Sinne einer zu gewinnenden Transzendenz oder eines Sieges des Bösen eindeutig zu interpretieren sei (Jaeger 2000, 373–380; 2001, 218–220). Gegenläufige Bewegungen zeigen sich in der zeitlichen Opposition von erinnerter Vergangenheit und Gegenwart, in der immer wiederkehrenden Dichotomie Licht und Dunkel, in der Polarität von Zielgerichtetheit und Streuung und insbesondere in den Bewegungen des Fallens / Sinkens und Steigens / Auflehnens (wobei z. B. im Bild des Ikarus das Steigen nicht zwingend mit Erlösung oder Sühne in Verbindung gebracht werden kann). Die Schlussverse: »[…] und es erschüttert / Ein Glockenton die schmerzzerrissene Brust ihm, / Wilde Hoffnung; die Finsternis flammenden Sturzes« lassen die Doppelbewegung zwischen Sonne und Bösem bzw. Finsternis unaufgelöst. Zum einen bleibt die Hoffnung (Erfüllung der Sehnsüchte bzw. Erlösung vom Leid), wenn auch »wild« und unkontrolliert, zum anderen ist gleichzeitig der Verfall, der flammende Sturz in die Finsternis unvermeidlich. Mit dem Bild des »flammenden Sturzes« wird zum einen der Sturz Luzifers (bzw. Ikarus) aufgerufen, jedoch zum anderen alliterierend die Opposition von Dunkelheit und Licht ineinander überblendet. Der Bezug zur im Eingangsvers eingeforderten Flamme evoziert zugleich die Frage, ob das ›Leihen‹ der Flamme letztlich eine Lösungsmöglichkeit beinhaltet oder den luziferischen Sturz und Verfall bereits anzitiert. Die angestrebte Synthese im Leihen der Flamme geht in einem Streit verschiedenster Bewegungen im Gedicht unter. Trakls Sprache wird trotz gegensätzlicher Bestrebungen immer wieder durch und durch monologisch oder poe-

79  »An Luzifer« (1914)

tisch monistisch, womit ironisch eine Eigenschaft der literarischen Figur Luzifers zitiert wird. Luzifer kämpft nur noch für sein eigenes Ich, lebt einen Narzissmus ohne Verpflichtung gegenüber den Mitmenschen. Unmöglich ist es ihm, sich in seiner Individualität zu erfassen, ohne den Gott, von dem er sich gänzlich lösen wollte, als Gegenpol erneut einzubringen (Jaeger 2000, 379; vgl. zur Motivgeschichte Luzifers Osterkamp 1979, 201). Eine Erläuterung der Spannungen im Gedicht diskutiert auch Mengaldo unter Bezugnahme auf die neue Stellung des lyrischen Subjekts, mittels derer Trakls Sprache »ihre ästhetische Rechtfertigung in einem paradoxen affirmativen Gestus der Negation findet« (Mengaldo 2016, 336). Deutlich wird hier, dass »An Luzifer« ein Beispiel der unauflösbaren Subjektivität in Trakls später Lyrik ist, die in ihrem Hoffen und Leiden nur performativ zu vollführen ist (vgl. Jaeger 2001, 219).

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Literatur Csúri, Károly: Konstruktionsprinzipien von Georg Trakls lyrischen Textwelten. Bielefeld 2016. Jaeger, Stephan: »Die Finsternis flammenden Sturzes«. Das Lesen dynamischer Bilder und deiktischer Räume in Georg Trakls Lyrik. In: Ruben Zimmermann (Hg.): Bildersprache verstehen. Zur Hermeneutik der Metapher und anderer bildlicher Sprachformen. München 2000, 363–385. Jaeger, Stephan: Theorie lyrischen Ausdrucks. Das ›unmarkierte Zwischen‹ in Gedichten von Brentano, Eichendorff, Trakl und Rilke. München 2001. Kleefeld, Gunther: Mysterien der Verwandlung. Das okkulte Erbe in Georg Trakls Dichtung. Salzburg/Wien 2009. Limbach, Hans: Begegnung mit Georg Trakl. In: Erinnerung an Georg Trakl. Innsbruck 1926, 101-109. Mengaldo, Elisabetta: »Ein Schatten bin ich …«? Die Entwicklung des lyrischen Subjekts bei Trakl. In: Uta Degner/Hans Weichselbaum/Norbert Christian Wolf (Hg.): Autorschaft und Poetik in Texten und Kontexten Georg Trakls. Salzburg/Wien 2016, 323–341. Osterkamp, Ernst: Lucifer. Stationen eines Motivs. Berlin/New York 1979. Völker, Ludwig: Muse Melancholie – Therapeutikum Poesie. Studien zum Melancholie-Problem in der deutschen Lyrik von Hölty bis Benn. München 1978.

Teil XIII

Werk: Lyrische Dichtungen VII – Die »Sammlung Buhlig«

Zur »Sammlung Richard Buhlig«

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Hans Weichselbaum

In dem einzigen erhaltenen Brief von Grete Langen-Trakl aus Berlin an ihren Bruder Georg in Innsbruck von Mitte April 1914 schreibt sie – offensichtlich aus einer finanziellen Notlage heraus –, dass sie »dem Heinrich vor etlichen Wochen 200 M. verschafft [habe], mein Freund Buhlig hat sie mir geliehen«. Sie bittet Georg, »sogleich Willy aufzusuchen oder mir das Geld bei irgend wem zu verschaffen […]« (HKA II, 774 f. und ITA V.2, 594 f.). In der HKA heißt es in den Anmerkungen zu »Willy«: »Offensichtlich Wilhelm Trakl«, zu den Namen »Buhlig« und »Heinrich« ist nur »Unbekannt« zu finden. Mit dieser Angabe gab sich die Amsterdamer Kunst- und Kulturhistorikerin Marty Bax nicht zufrieden, als sie Recherchen für eine Biographie von Grete LangenTrakl anstellte, die 2014 erschienen ist (Bax 2014). Dass mit »Heinrich« nur Trakls Verehrer Karl Borromäus Heinrich gemeint sein konnte, der dem Freund aus Innsbruck nach Berlin nachgereist ist, war zu diesem Zeitpunkt bereits klar. Die Nachforschungen zum Namen »Buhlig«, den sie als Gretes Klavierlehrer in Berlin identifizierte, führten Marty Bax in die USA zur California State University Long Beach, in deren Archiv der Buhlig-Nachlass liegt (Special Collec-

H. Weichselbaum (*)  Georg-Trakl-Forschungs- und Gedenkstätte, Salzburg, Österreich E-Mail: [email protected]

tions and University Archives). Die ersten beiden Anfragen an das dortige Bibliotheksarchiv blieben unbeantwortet. Erst als sie einer weiteren Anfrage ein Fragment der Handschrift von Grete beifügte, konnte die große Ähnlichkeit mit einigen Abschriften von Trakl-Gedichten im Bestand des Archives festgestellt werden. Sie erhielt daraufhin Scans von in einem Kuvert enthaltenen Gedichten zugeschickt, auch von solchen, die nicht von Grete abgeschrieben worden sind; insgesamt 15 an der Zahl. Diesen Brief hatte Grete Langen am 26.8.1912 (Poststempel) in Berlin an Richard Buhlig (Berlin, SolingerStraße 110) geschickt. Dass alle 15 Gedichte schon bei der ersten Sendung in diesem Brief enthalten waren, ist unwahrscheinlich; Buhlig dürfte sie in diesem Kuvert gesammelt haben. Richard Buhlig (1880–1952) hat in der Musikkultur der USA eine nennenswerte Rolle gespielt, weswegen sein Nachlass auch in ein Universitätsarchiv gegeben wurde. Als Sohn ausgewanderter Deutscher wurde er 1880 in Chicago geboren, erhielt dort eine erste musikalische Ausbildung und ging 1897 an das Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde nach Wien. 1901 gab er sein erstes Konzert in Berlin, wo er sich ab 1906 hauptsächlich aufhielt. Er interessierte sich für die zeitgenössische Musik, insbesondere für Arnold Schönberg, und wurde später in den USA, wohin er 1916 zurückkehrte, auch Lehrer des ­experimentellen Komponisten John Cage.

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In Berlin wurde Richard Buhlig offenbar mit Arthur Langen, dem um 34 Jahre älteren späteren Ehemann von Grete Trakl, bekannt. Als es darum ging, die Zustimmung zur Großjährigkeitserklärung von den Vormündern für die noch minderjährige Grete (Mutter Maria, Bruder Georg) zu erwirken, machte er in einem Brief vom 6.3.1912 an das Vormundschaftsgericht in Salzburg Druck mit der Feststellung, dass er nur als Ehemann die weitere musikalische Ausbildung Gretes finanzieren werde. Er berief sich auf »glänzende Verbindungen in der Musikerwelt« und wies darauf hin, dass Grete »nach Urteilen erster Capacitäten auf dem Gebiete der Musik, wie Dohnnany[!], Buhlig etc.« eine »Pianistin ersten Ranges« werden könnte (Brief Arthur Langens 1912). Sollte die Mutter nicht zustimmen, würde sie das »Fortkommen ihres Mündels« hemmen und damit gegen die Pflichten eines Vormundes verstoßen und ihre Macht missbrauchen. Er klagte auch darüber, dass alles, was er »bisher für das Studium aufgewendet hatte, so gut wie verloren« sei, wenn die Ehe nicht zustande käme. Möglicherweise hatte er bereits Buhlig als Klavierlehrer für Grete engagiert. Der Antrag Arthur Langens wurde zunächst abgelehnt, nach einer Bedenkzeit von zwei Monaten gab die Mutter ihren Widerstand schließlich auf. Georg war wegen der Aussicht auf Gretes weitere Entwicklung zur Künstlerin ohnehin dafür, sie für großjährig zu erklären. (Großjährig war man damals mit 24, Grete war erst 20 Jahre alt.) Am 17. Juli 1912 heirateten Arthur und Grete in Berlin. Einen guten Monat nach der Hochzeit schickte Grete an Richard Buhlig den erwähnten Brief mit den Gedichten ihres Bruders Georg, von denen sie teils Typoskripte besaß (12) oder die sie in ihrer ornamentalen Handschrift abgeschrieben hat (3). Ein Grund für diese Sendung lässt sich nur vermuten: Ihr Mann Arthur wusste, dass Gretes Bruder Georg Gedichte verfasste; er schätzte diese auch und schrieb manche davon ab. Möglicherweise hat er Buhlig davon erzählt und Grete hat ihm diese Gedichte als Beispiele geschickt, ein Gedichtband war ja noch nicht erschienen. Vielleicht erhoffte

H. Weichselbaum

sie sich von Buhlig, dass er sich dafür einsetzt oder davon einige vertont. Dass sie die Absicht gehabt hätte, die Gedichte als ihre eigenen auszugeben, ist wohl auszuschließen, auch wenn der Name »Georg Trakl« bei den Typoskripten am unteren Rand weggeschnitten ist; nur bei zwei Gedichten (»Die Elenden«, »Sommerdämmerung«) sind noch Reste der Oberlängen des Namens erkennbar. Ein Grund dafür könnte sein, dass Grete (oder auch Buhlig) die Blattgröße dem Kuvert anpassen wollte. Wie sehr sich Richard Buhlig für die Gedichte Trakls interessiert hat, ist nicht bekannt. Sie scheinen ihm aber doch wichtig gewesen zu sein, denn er hat sie bei sich behalten, als er 1916 wieder zurück in die USA ging und dort mehrmals umgezogen ist. Sie könnten ihn an seine begabte Klavierschülerin erinnert haben, zu der sich ein intimes Verhältnis entwickelt hatte. Beim Ehescheidungsprozess am 10.3.1916, den Arthur Langen beantragt hatte, wurden die sexuellen Beziehungen Gretes zu Richard Buhlig als Hauptgrund für die Trennung angeführt (Scheidungsurteil des Königlich Preußischen Landesgerichts 1916). Beide waren beim Prozess anwesend; Buhlig machte von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch. Trakl wusste, dass seine Schwester an der Verbreitung seiner Gedichte interessiert war – aus welchen Gründen auch immer. Er warnte deswegen seinen Freund Erhard Buschbeck, der sich schon früh um die Förderung Trakls bemühte, in einem Brief vom Juni 1911 davor, sie dabei zu unterstützen: »Meine Schwester hat sich etliche Mal schon um Deine Adresse bei mir angefragt, und ich befürchte, daß sie Dich um die Abschriften, die ich Dir einmal in einem Anfall von Kritiklosigkeit überlassen, angehen wird, um weiß Gott, welche phantastischen Versuche damit zu unternehmen. Ich bitte Dich, nichts aus der Hand zu geben, da ich nicht dulden kann, daß ohne meine Zustimmung irgend etwas unternommen wird, wozu ich die Zeit noch nicht gekommen erachte« (HKA I, 483 und DuB 524). Bei den an Buhlig vermittelten Gedichten dürfte es sich um einen solchen »phantastischen Versuch« gehandelt haben.

80  Zur »Sammlung Richard Buhlig«

Trakl wird diese Bitte nicht ohne Grund an Buschbeck gerichtet haben. Nimmt man an, dass Buhlig die Gedichte nach und nach von Grete erhalten und in diesem Kuvert gesammelt hat, ist das Postdatum des Briefes nur bedingt ein Anhaltspunkt für die Datierung, was am Beispiel des Gedichtes »An Mauern hin« gezeigt werden kann: Trakl hat es ohne Titel auf einen Briefumschlag geschrieben, den ihm K. B. Heinrich im März 1913 von Innsbruck nach Salzburg geschickt hat (ITA II, 399 ff.), er hat davon aber keinen weiteren Gebrauch gemacht. Erhard Buschbeck veröffentlichte es 1939 mit dem Titel »An Mauern hin« in der Sammlung Aus goldenem Kelch. Er wird den Titel nicht erfunden haben, also muss er ein Typoskript mit diesem Titel besessen haben, von dem ein Durchschlag über Grete an Buhlig gelangt sein wird, allerdings erst nach dem August 1912. Das Original-Typoskript wurde wahrscheinlich beim Burgtheaterbrand 1945 vernichtet. Trakl hat den Titel »An Mauern hin«, der gewissermaßen frei war, im Herbst 1913 für eine frühe Fassung des Gedichtes »Im Dunkel« verwendet, nachdem er die zunächst vorgesehenen Titel »Abend« und »Wald« verworfen hatte (ITA III, 188 ff.). Zwei der 15 Gedichte waren bisher unbekannt (»Einsamkeit«, »Empfindung«), fünf sind mit Varianten im Nachlass publiziert worden (»An Mauern hin«, »Der sterbende Wald«, »Der Mittag«, »Ein Frühlingsabend« (I), »Sommerdämmerung«) und acht sind von Trakl selbst mit mehr oder weniger starken Varianten in den Band Gedichte (1913) aufgenommen worden: »Psalm« – »De profundis« (II); »Die Elenden« – »Trübsinn«; »Die schöne Stadt« – »Die schöne Stadt«; »Mitternacht« – »Romanze zur Nacht«; »Die Raben« – »Die Raben«; »Traumsonett« – »Traum des Bösen«; »Trübsinn« – »Trübsinn«; ohne Titel – »In ein altes Stammbuch». Geht man von vier Entwicklungsphasen im Werk Trakls aus, stammen die Gedichte am ehesten aus der zweiten Phase, in der er mit einem zur Diagnose der Gegenwart tauglichen poetologischen Modell arbeitete, wie er es im

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sog. ›Plagiatsbrief‹ vom Juli 1910 an Erhard Buschbeck formuliert hat (HKA I, 478 und DuB 519 f.). Er spricht darin von seiner »bildhafte[n] Manier, die in vier Strophenzeilen vier einzelne Bildteile zu einem einzigen Eindruck zusammenschmiedet.« Dem entsprechend sind elf Gedichte der Sammlung Buhlig in vierzeiligen Strophen geschrieben, die durch die umschließende Form des Reims zu einem »einzigen Eindruck zusammengeschmiedet« werden sollen. Die Form des Sonetts, die Trakl mehrfach verwendet hat, findet sich bei den Gedichten »Einsamkeit« und »Traumsonett«, eines ist titellos und ohne strophische Gliederung (eine Variante von »In ein altes Stammbuch«) und die Abschrift Gretes von »Psalm«, einer Vorstufe zu »De profundis« (II), hat eine unregelmäßige strophische Gliederung. Die beiden bisher unbekannten Gedichte weisen auf wichtige Vorbilder Trakls hin: Nikolaus Lenau hat ebenfalls ein Gedicht mit dem Titel »Einsamkeit« geschrieben und der Titel »Empfindung« könnte eine Übernahme von Arthur Rimbauds Gedicht »Sensation« sein. Die umfangreichste Variante gibt es beim fünfstrophigen Gedicht »Die Elenden«, von dem Trakl nur aus der ersten Strophe mehrere Wendungen für das Gedicht »Trübsinn« übernommen hat. In den weiteren vier Strophen begegnet man einer bei Trakl eher ungewöhnlichen Szene aus der Arbeitswelt eines Steinbruchs mit deutlich sozialkritisch-expressivem Akzent. Eine ähnliche Sicht findet sich im Gedicht »Vorstadt im Föhn« mit Bildern aus der Umgebung eines Schlachthofes, für Trakl ebenfalls ein Anlass zum Mit-Leiden, wozu der Dichter nach Aussage von Zeitgenossen eine besondere Fähigkeit besessen haben soll. In der überarbeiteten Form (der erste Entwurf ist unbekannt) fand er es »viel besser […] als das ursprüngliche als es nun unpersönlich ist, und zum Bersten voll von Bewegung und Gesichten« (HKA I, 485 und DuB 526). Auch das Gedicht »Die Bauern« kann in diesen Zusammenhang genannt werden. Die ›neuen‹ Gedichte sind eine Bestätigung für die bereits gründlich erforschte und dank

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der Innsbrucker Faksimile-Ausgabe gut nachvollziehbare dichterische Arbeitsweise Trakls: Er hat einmal begonnene Texte nicht selten mehrfach bearbeitet, manches verworfen und auch bereits abgeschlossene Gedichte als poetisches Material für neue Kompositionen verwendet. Bei einer späteren Anfrage an das Bibliotheksarchiv der California State University, Long Beach, erhielt der Verfasser dieses Beitrags ebenfalls 15 Scans von den Gedichten im Kuvert an Richard Buhlig; sie waren mit denen von Marty Bax identisch. Daher wurden sie 2016 mit Erlaubnis der zuständigen Archiv-Leiterin Chloé Pascual erstmals in Band XXVI der Trakl-Studien veröffentlicht (Weichselbaum 2016). Das Vorhaben, sie für eine Ausstellung nach Salzburg zu bekommen, wurde (bisher) noch nicht realisiert.

H. Weichselbaum

Literatur Bax, Marty: immer zu wenig liebe. Grete Trakl. Ihr feinster Kuppler. Ihre Familie. Amsterdam 2014. Brief Arthur Langens an das k.k. Vormundschaftsgericht in Salzburg vom 6. März 1912. – Akte über die Verlassenschaftsabhandlung nach Tobias Trakl. Salzburger Landesarchiv. Scheidungsurteil des Königlich Preußischen Landgerichts III Berlin vom 28. März 1916. Kläger: Arthur Langen (Verlagsbuchhändler); Beklagte: Margarete Langen, geb. Trakl. – Standesamt Charlottenburg-Wilmersdorf, Berlin, Sammelakte zur Heirat 486/1912, d. d. 17. Juli 1912. Special Collections & University Archives, California State University, Long Beach, USA. Richard Buhlig Collection. Weichselbaum, Hans: Unbekannte Gedichte und Prosa Georg Trakls entdeckt. Ein Bericht. In: Uta Degner/ Hans Weichselbaum/Norbert Christian Wolf (Hg.): Autorschaft und Poetik in Texten und Kontexten Georg Trakls. Salzburg/Wien 2016, 405–424.

Teil XIV

Werk: Das Briefwerk

Trakls Korrespondenz

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Markus Ender

Überlieferung und Publikationsgeschichte Im Gegensatz zu anderen Autorinnen und Autoren der Jahrhundertwende war Georg Trakl kein Briefschreiber. Seine Briefe sind zumeist kurz gehalten und gehen selten über den Umfang eines Doppelbogens hinaus, die Postkarten beinhalten in den meisten Fällen nur ein paar Zeilen Text. Manche Korrespondenzstücke folgen einer strengen formalen Gliederung, andere bestehen aus nachlässig auf Postkarten notierten Nachrichten. Oftmals übersteigen sie inhaltlich auch nicht den unmittelbaren Mitteilungscharakter. Ausschweifende (Selbst-)Stilisierungen, wie sie z. B. Rainer Maria Rilke oder Hugo von Hofmannsthal sowohl formal als auch inhaltlich durch Briefe unternahmen und damit die Korrespondenz zu einem Teil des Werks werden ließen, waren Trakl weitgehend fremd. Aus rein quantitativer Perspektive besehen, trügt dieser Schein allerdings, denn das Traklsche Briefwerk ist nicht unbedingt schmal bemessen. Welche quantitative Dimension angelegt wird, ist von der jeweiligen Edition abhängig, die zur Anwendung kommt. Die von

M. Ender (*)  Brenner-Archiv, Universität Innsbruck, Innsbruck, Österreich E-Mail: [email protected]

Killy/Szklenar 1969 (in zweiter, erweiterter Auflage 1987) herausgegebene historisch-kritische Ausgabe (HKA) fokussiert auf die Wiedergabe einer Auswahl der Korrespondenzen Trakls an diverse Adressatinnen und Adressaten, der Abdruck ausgewählter Gegenbriefe erfolgt gesondert (HKA II, 747–802). Im editorischen Bericht der HKA wird konstatiert, dass die »sehr zufällige Überlieferung und der Charakter der Traklschen Briefe« (ebd., 24) einer Anordnung als Briefwechsel entgegenstehen und diese nicht rechtfertigen würde. Insgesamt finden sich in der HKA 145 Korrespondenzstücke verzeichnet. Die Reclam-Ausgabe aus dem Jahr 1995 bringt eine sich an den editorischen Prinzipien der HKA orientierende Auswahl von 49 Briefen; die jüngste, 2020 erschienene und von Hans Weichselbaum herausgegebene Trakl-Ausgabe der Dichtungen und Briefe (DuB), die ebenfalls auf die HKA referenziert, beschränkt sich auf eine etwas größere Auswahl von insgesamt 108 Briefen. Die historisch-kritische Innsbrucker Trakl-Ausgabe (ITA), die zwischen 1995 und 2014 von Eberhard Sauermann und Hermann Zwerschina herausgegeben wurde, weist demgegenüber den umfassendsten Bestand aus: In der ITA finden sich sämtliche bis zum Jahr 2014 greifbaren 389 Briefe überliefert, davon 235 von Trakl und 154 an Trakl. Der Herausgeber hat die Entscheidung getroffen, bewusst auch die Gegenbriefe aufzunehmen. Durch diese Synopse wird ein eigener heuristischer Wert

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_81

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g­ eneriert, da viele Zusammenhänge erst durch den Kontext für die Rezipientinnen verstehbar werden. Es wurde zudem der Versuch unternommen, die »chronologische Abfolge« der Briefe in jener Weise zu rekonstruieren, »wie sie sich für Trakl dargestellt hat« (Sauermann 2001, 164). Die Brief-Chronologie, die in der ITA rekonstruiert wird, liefert damit zugleich auch den umfassendsten Einblick auf biographische Entwicklungslinien der Dichterexistenz Trakls. Zudem vermag dieser Bestand die biographische Dimension um einige Facetten zu bereichern, da die frühen Briefe des Zeitraums von 1897 bis 1908 unter anderem Auskunft über eine Brieffreundschaft Trakls nach China geben, die in Volapük geführt wurde. Die Provenienz der heute bekannten Briefe Trakls konzentriert sich zum einen auf die Bestand haltenden Forschungsstätten; der Rest ist breit gestreut. Ein großer Teil der Briefe Georg Trakls befand sich im Besitz der Familie Trakl und findet sich heute im Salzburg Museum in der Neuen Residenz (vormals Carolino Augus­ teum), ein weiterer umfänglicher Bestand liegt in der Georg-Trakl-Forschungs- und Gedenkstätte in Salzburg. Die Trakl-Briefe aus dem Nachlass Ludwig von Fickers finden sich heute im Forschungsinstitut Brenner-Archiv der Universität Innsbruck. Die Briefe Trakls an den Kurt Wolff Verlag werden von The Beinecke Rare Book and Manuscript Library der Yale University in New Haven, Connecticut gehalten. Der Briefbestand Trakls ist nicht vollständig überliefert, sondern weist Lücken auf. Zwar tauchen immer wieder Schriftstücke aus der Feder Trakls auf, dennoch kann davon ausgegangen werden, dass bestimmte Briefe nach über einem Jahrhundert als verloren angesehen werden müssen. Dies gilt insbesondere für die Korrespondenz zwischen Georg und seiner Schwester Margarethe Langen-Trakl. Ob hier seitens der Familie schon früh eingegriffen und die Briefe der Geschwister vernichtet wurden, kann nicht abschließend geklärt werden. Auch gibt es Fälle, in denen die Existenz der Schriftstücke gesichert war und die dennoch verloren gingen (vgl. ITA V.1, 10). Der Herausgeber der ITA war um eine umfängliche inhaltliche Rekonstruktion des

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Briefwechsels bemüht. Zu diesem Zweck wurde versucht, nicht nur Briefe und Gegenbriefe in chronologischer Abfolge zu reihen, sondern auch die Lücken, soweit dies möglich erschien, durch erschlossene Briefe zu füllen. Zudem werden in der ITA zur Korrespondenz auch jene Briefe gezählt, die in der HKA noch als »Dokumente« ausgewiesen waren. Dass bereits mit der Zuschreibung, ob und worin der Unterschied zwischen einem privaten Brief und einem amtlichen Schreiben besteht, Schwierigkeiten auftreten, ist evident. Ebenso gilt dies angesichts der Frage, ob Widmungen auch zur Korrespondenz im engeren Sinne zu zählen sind.

Forschungsstand Während sich die literaturwissenschaftliche Forschung intensiv mit dem literarischen Werk Trakls auseinandergesetzt hat, sodass die Fülle an Sekundärliteratur schwer überschaubar ist, hat sie sich im Gegenzug aber kaum der Korrespondenz Trakls angenommen. Es existieren nur wenige explizite Auseinandersetzungen, die sich dem Briefwerk widmen, sodass die Untersuchung spezifischer Aspekte nach wie vor weitgehend ein Desiderat darstellt. Neben einem Aufsatz in spanischer Sprache (Modern 1970) und einer schwer zugänglichen italienischen Qualifikationsarbeit (Ceolin 1975) haben sich Peter Horst Neumann (Neumann 1984) sowie Eberhard Sauermann mit Trakls Korrespondenz näher beschäftigt (Sauermann 2001). Zumeist werden die Briefe im Verbund mit dem Werk präsentiert. Siegfried Mandel hat eine Auswahl der Briefe ins Englische übersetzt, verbunden mit einem knappen Kommentar (Mandel 1983). Eine weiterreichende forschende Beschäftigung mit der Korrespondenz erscheint als Desiderat, zumal erst mit dem Erscheinen der beiden Briefbände der Innsbrucker Trakl-Ausgabe ein nachvollziehbarer Gesamtbestand aller greifbaren Korrespondenzen Georg Trakls, der Gegenbriefe und der Dokumente vorliegt. Aktuelle Entwicklungen auf dem Gebiet der digitalen Editionswissenschaft versprechen hier neue Impulse für die Forschung zu zeitigen.

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Formale und inhaltliche Aspekte Ludwig von Ficker, der Innsbrucker Herausgeber der Kulturzeitschrift Der Brenner und freundschaftliche Förderer Georg Trakls, hat sich als erster mit dem Briefwerk Trakls beschäftigt, Teile daraus ediert und zugleich maßgeblich zur späteren Rezeption und Einschätzung desselben beigetragen. Nach der Überführung der sterblichen Überreste des Dichters vom Krakauer Militärfriedhof Rakowice nach Mühlau im Oktober 1925 besorgte Ficker im Folgejahr in dem von ihm herausgegebenen Gedenkband Erinnerung an Georg Trakl im Abschnitt »Briefe Georg Trakls an Freunde« zum einen eine erste Edition zumindest von großen Teilen des zum damaligen Zeitpunkt bekannten und greifbaren Briefwerks Georg Trakls, zum anderen lieferte er auch die früheste inhaltliche Auseinandersetzung mit demselben. Ficker fällte im Zuge dessen ein ebenso apodiktisches wie langlebiges Urteil, als er konstatierte, dass Trakl »das Briefeschreiben nicht ›gepflegt‹ [hat], er hat keinen Briefwechsel ›gepflogen‹«; stattdessen habe er lediglich »bedächtig zu Papier gebracht, was mitzuteilen ihm gerade anlag« (Ficker 1926, 117). Dieser Topos des unmotivierten Briefschreibers, den Ficker vor allem auf die frühe Korrespondenz Trakls projizierte, ist bis in die jüngste Zeit in der literaturwissenschaftlichen Forschung verhaftet geblieben. Der Brief- und Gesprächsstil Trakls habe sich laut Ficker später verändert; seine Korrespondenz hätte im Brenner-Umfeld »jenen sicheren Ernst einer gefaßten Haltung« gewonnen, den er »bis an sein Ende unerschütterlich bewahrte« (ebd., 118). Es erscheint evident, dass mit dieser Einschätzung mehr über die Wahrnehmungslenkung durch Ficker als über eine tatsächliche Progression Trakls hin zu »sicherem Ernst« ausgesagt ist. An diese Präsumptionen anknüpfend, hat Peter Horst Neumann die Frage aufgeworfen, wie es um »die Einstellung dieses Nicht-Briefschreibers zum Brief als schriftlicher Redeform« (Neumann 1984, 37) bestellt war. Obwohl Neumann, wie bereits an der Formulierung erkennbar, apodiktisch urteilt und Trakl diesbezüglich

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kein gutes Zeugnis ausstellt, ist eine endgültige Bestimmung bis dato nicht erfolgt. Von den Zeitgenossen Trakls wurde dessen Erscheinung als widersprüchlich geschildert, und ähnlich ambivalent, wie er von seinem Umfeld wahrgenommen wurde, zeigen sich die überlieferten Korrespondenzstücke – sowohl was den Inhalt als auch was das Formale betrifft. Karl Röck hat in seinem Tagebuch schon kurz nach der ersten persönlichen Begegnung am 27. Juni 1912 festgehalten, Trakl habe ihm gegenüber eine bestimmte Hemmnis hinsichtlich seiner Kommunikationsfähigkeit eingestanden, die auch auf die Möglichkeiten brieflicher Mitteilung ausgestrahlt habe. Röck resümierte, Trakl »sei kein echter Dichter, habe sich nicht daran gegeben wie Mörike. […] Mitteilen könne man sich auch nicht mit Gedichten. Man kann sich überhaupt nicht mitteilen« (Röck 1975, III, 46). Dem steht eine briefliche Selbstaussage Trakls diametral entgegen, als dieser im Herbst 1906 gegenüber Karl von Kalmár bekannte, »daß ich mich am bestens [sic] im geschriebenen Wort anderen zu äußern vermag. Ich habe nie die Gabe des Redens besessen« (ITA V.1, 57). Vom kunstschöpferischen Standpunkt lässt sich ebenfalls eine gegenläufige Entwicklung zu Röcks Position konstatieren, denn angesichts der sich in den Innsbrucker Jahren zwischen 1912 und 1914 stetig steigernden und schließlich zur Hochphase reifenden künstlerischen Produktion, die spätestens im Februar 1913 mit dem epischen Gedicht »Helian« ihren sprachmächtigen Zenit erreichte, verpufft diese Apodiktik als Phrase. Auf das Briefwerk Trakls bezogen, fordert sie eine genauere Betrachtung allerdings geradezu heraus. Von der Prämisse ausgehend, dass der Brief grundsätzlich »als Gebrauchstext zwischen Literarizität, Rhetorik und Pragmatik changiert« (Schuster 2020b, 1372), lässt sich auch im Briefwerk Trakls, kaleidoskopartig ausgebreitet, ein Bündel von unterschiedlichen Inhalten, Stilen, formalen Ausgestaltungen und Kommunikationsabsichten festmachen. Eine Systematisierung des Briefwerks erscheint deshalb auf formaler wie auch auf inhaltlicher Ebene schwierig, dennoch können auf letzterer

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gewisse inhaltliche Tendenzen abgegrenzt werden. Im Kern finden sich auch in den Briefen Trakls die »Grundfunktionen der Informationsübermittlung, des Appellierens und der SelbstÄußerung« (Nickisch 1991, 13) erfüllt; darüber hinaus kann auch für die Korrespondenz Trakls konstatiert werden, dass »die Nutzung von Briefen als Dokumente und die Frage nach ihrer Literarizität einander nicht aus[schließen]« (Schuster 2020a, 6). Was in den überlieferten Korrespondenzen und Dokumenten schwieriger zu bestimmen ist, sind Aspekte, die auf ein Korrelat zwischen einer Selbstdarstellung Trakls und dem empathisch-antizipierendem Eingehen auf die jeweiligen Adressaten und Adressatinnen schließen lassen. Der Wert der Traklschen Korrespondenz, insbesondere für die Erörterung biographischer Zusammenhänge, wurde in seinem Umfeld schon früh nach seinem Tod erkannt und diskutiert. Erhard Buschbeck, der über das umfangreichste und die größte Zeitspanne abdeckende Briefkonvolut verfügte, erklärte sich angesichts der Pläne Ludwig von Fickers zur Veröffentlichung von Trakl-Briefen im Gedächtnisbuch Erinnerung an Georg Trakl im Herbst 1925 gegenüber dem Brenner-Herausgeber kooperationsbereit: »Was ich an Trakl-Briefen habe, stelle ich Ihnen natürlich gerne zur Durchsicht zur Verfügung und ich glaube schon, daß einige darunter, namentlich aus seinen ersten Wiener Zeiten, für ihn sehr sprechend und der Veröffentlichung wert sind« (Buschbeck 1925). Er behielt recht, denn Ficker war nach Erhalt der Trakl-Briefe aus dem Besitz Buschbecks überzeugt, dass die Korrespondenz »die lebendigste Quelle über ihn, die von ihm selbst existiert« (von Ficker 1925), darstellte. Infolge begann sich auch die Forschung zunehmend auf die Briefe als dokumentarische Quelle zu konzentrieren (vgl. Rusch/Schmidt 1983, 41 f.). Oberflächlich besehen, entspricht die Korrespondenz Trakls auf formaler Ebene jener Beschreibung Ludwig von Fickers, der in der Erinnerung an Georg Trakl resümierend festhielt, Trakl habe wahllos »auf Post- und Ansichtskarten, aber auch auf Briefbögen, die er sich mitservieren ließ« seine Nachrichten verfasst,

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bestehend aus »ein paar Zeilen, rätselhaft ihn anstarrend« (Ficker 1926, 117). Dabei sollte allerdings nicht außer Acht gelassen werden, dass sowohl die Kürze als auch die Nachlässigkeit, mit denen die Nachrichten verfasst wurden, im Wesentlichen auf einen profanen Grund zurückzuführen sind: Trakl bewegte sich zumeist in definierten Räumen (Salzburg, Wien, Innsbruck) und im Umfeld seiner engen Bezugspersonen, mit denen er sich in der Regel persönlich austauschte, was die Menge an geschriebenen Briefen reduziert. Es bestand schlichtweg oft kein Bedarf, sich schriftlich auszutauschen. Des Weiteren unternahm er auch keine ausgedehnten Urlaubsreisen (bis auf eine Ausnahme, die ihn im Sommer 1913 in Begleitung von u. a. Ficker, Kraus, Loos und Peter Altenberg nach Venedig führte), die breitere Korrespondenzen notwendig gemacht hätten, um das Umfeld über die persönliche Befindlichkeit auf dem Laufenden zu halten. Vielfach haben die Briefe Profan-Alltägliches zum Inhalt: Die Schwierigkeiten, die Trakl zeitlebens mit der Beschaffung von Geld begleiteten, das er nicht nur zur Bestreitung seiner täglichen Ausgaben, sondern vor allem zur Finanzierung seiner Süchte benötigte (vgl. Basil 1965, 109), spiegelt sich in zahlreichen Anfragen an Freunde und Bekannte wieder, in denen es um die leihweise Überlassung von kleineren bis mittleren Geldsummen geht; repräsentativ steht hier der Brief an Buschbeck, der zwischen dem 16. und dem 24. Juli 1910 entstanden ist (vgl. ITA V.1, 126 f.). In einer Anzahl von Briefen verzahnen sich ein dichterischer Impetus mit der Informationswiedergabe; dieser Umstand spannt sich bereits über die Korrespondenz der frühen Jahre. So schrieb Trakl – wenngleich im Unterton noch in stark postpubertärer Stilisierung – am 5. Oktober 1908 aus Wien an seine Schwester Hermine von Rauterberg bezüglich seiner künstlerischen »Veranlagung«: »Als ich hier ankam, war es mir, als sähe ich zum ersten Male das Leben so klar wie es ist, ohne alle persönliche Deutung, nackt, voraussetzungslos, als vernähme ich alle jene Stimmen, die die Wirklichkeit spricht, die grausamen, peinlich vernehm-

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bar« (ITA V.1, 68). Was Trakl insbesondere in Hinblick auf die Kunstproduktion verknüpfte, war eine Ahnung des Abgründigen in sich selbst, das ihn fortan zeitlebens begleiten sollte: »Ich habe die fürchterlichsten Möglichkeiten in mir gefühlt, gerochen, getastet und im Blute die Dämonen heulen hören, die tausend Teufel mit ihren Stacheln, die das Fleisch wahnsinnig machen. Welch entsetzlicher Alp!« (ebd.). Dieses in künstlerischer Hinsicht als »Schlüsselbrief« (Basil 1965, 91) zu bezeichnende Schriftstück trägt in den Aussagen starke Reminiszenzen an den von Trakl verehrten Friedrich Hölderlin in sich; mit der Erkenntnis von der »Kollektivangst der Kreatur« (ebd.) vollzog sich bei Trakl bereits jene Wendung zum ebenso radikalen wie weltabgewandten Schaffensakt, in dem Ludwig von Ficker später die Einheit von Werk und Leben erkennen sollte und deren Dynamik dieser schließlich durch bedingungslose Unterstützung ihren Lauf ließ – wenngleich er das Ambivalente in Trakls Wesen durchaus bemerken musste, zu dessen Schattenseiten eben jenes »FunkelndBöse« (Ficker 1967, 31) gehörte. Dem von Zeitzeugen als ambivalent beschriebenen Traklschen Naturell entsprechend, changieren auch in den Briefen ernste, tiefgründige Aussagen und plötzlich eingeschobener, schalkhafter, zum Teil ins Bitter-Ironische abdriftender Ton; eindrücklich wird dieser Kontrast in den im Entstehungskontext zeitlich nahe aufeinanderfolgend abgefassten Briefen an Buschbeck vom 3. Oktober 1911 (ITA V.1, 160) und an Irene Amtmann aus der ersten Oktoberhälfte 1911 (ebd., 161) manifest. Aus den wenigen biographischen Quellen geht hervor, dass Trakl nur sehr selten in expliziter Weise darüber Auskunft darüber gegeben hat, wie er seine Kunstproduktion selbst wahrnahm und welche Aspekte hier für ihn von Bedeutung waren. Die Briefe liefern hier ebenfalls nur wenig Material, haben aber den Vorteil, dass es sich um direkte Aussagen des Dichters handelt. In den meisten Fällen haben sie zufälligen Charakter und mischen sich mit den berichtenden Passagen. Als Trakl im Dezember 1912 in einem Schreiben an Ludwig von Ficker mitteilte, dass

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er sich bei seinem Aufenthalt in Innsbruck bevorzugt im Hotel Delevo einquartieren werde, begründete er dies mit den Worten »denn der Weg nach Mühlau ist weit und voll Gefahren für den Trunkenen. Auch kann er sich leicht verirren und hat am Ende nicht, wo er das Haupt zum Schlaf hinlegt« (ITA V.1, 271). In solchen Sätzen bricht ein poetisches Moment durch, das die Ebene des reinen Mitteilungscharakters überschreitet und in dem, ähnlich der eigentlichen Dichtung, eine deutlich wahrnehmbare »Konfrontation des Ästhetischen mit dem Ethischen und Sozialen« (Doppler 1979, 250) stattfindet. Auch in einem Brief an Erhard Buschbeck aus der zweiten Julihälfte 1910 benannte Trakl bestimmte Aspekte, die für ihn in Bezug auf Dichtung von Relevanz erschienen (vgl. ITA V.1, 126). Trakl sah sich zu diesem Zeitpunkt von einem Plagiatsfall betroffen; Ludwig Ullmann, Schriftsteller und Bibliothekar des »Akademischen Verbandes für Literatur und Musik« in Wien, habe seine poetische Verfahrensweise in für Trakl beschämender Weise nachgeahmt, allerdings fehlte dem Gedicht »das lebendige Fieber […], das sich gerade diese Form schaffen mußte«, sodass »das ganze mir als ein Machwerk ohne Seele erscheint« (ebd.). Zentral an diesem Schreiben ist zum einen der Umstand, dass Trakl auf das Abstraktum der »Seele« als bedeutungstragende Referenz verweist. Er gebraucht diesen Topos auch an anderer Stelle im Briefwechsel, den Tag herbeisehnend, »an dem die Seele in diesem unseeligen von Schwermut verpesteten Körper nicht mehr wird wohnen wollen und können« (ITA V.2, 451), und es ist kein Zufall, dass auch Ludwig von Ficker in der Grabredeam Mühlauer Friedhof explizit die Verszeile »Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden« aus dem Gedicht »Frühling der Seele« (II) (vgl. ITA III, 374–384) zitierte. Zum anderen sprach Trakl auch in seinen Briefen schon früh von einem inneren Bedrängtsein, verursacht durch »ein infernalisches Chaos von Rythmen und Bildern« (ITA V.1, 131), und sah seine Kunst »zum Bersten voll von Bewegung und Gesichten« (ebd., 174). Dabei hätte er sich als Individuum »bedingungslos dem Darzustellenden unterzuordnen« und müsse sich

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»immer und immer wieder berichtigen […], um der Wahrheit zu geben, was der Wahrheit ist« (ebd.). Unter den in jüngster Zeit neu entdeckten Korrespondenzstücken findet sich ein an Adolf Loos adressiertes Schreiben, das eine Art Resümee der dichterischen Intention zu liefern vermag, die Trakl mit seiner Kunstproduktion verbunden hat. Der – nicht abgeschickte – Brief, auf dessen Rückseite sich eine Textstufe zu »Heimkehr« / »Herbstliche Heimkehr« (DuB 586) findet, datiert auf Ende Juni 1914. Trakl führte darin aus: »Wenn diesem Buch [ = Sebastian im Traum] auch noch sehr vieles mangelt, vor allem jene Harmonie und Klarheit, die ein Gedicht erst zum Kunstwerk macht, so glaube ich doch, daß an meiner Arbeit jedermann die lebendige Kraft, die den Menschen zu sich selbst führen kann, wird schätzen dürfen; ist mir doch zu Mute, als lernte ich in unsäglicher

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Mühsal langsam das reden, was die Seele will« (ebd., 567). Strittig ist der sogenannte »Verzweiflungsbrief« (Abb. 81.1a und 81.1b), sowohl in Bezug auf seinen Inhalt, als insbesondere auf die Datierung. Im Falle der in der HKA auf Ende November 1913 datierten Mitteilung (HKA I, 529 f.) wird in der ITA von der Annahme ausgegangen, dieser sei Anfang April 1914 in Berlin entstanden; Trakl bekannte in diesem Schreiben, dass »sich sonst in den letzten Tagen für mich so furchtbare Dinge ereignet [haben], daß ich deren Schatten mein Lebtag nicht mehr loswerden kann«; er musste schließlich feststellen: »Es [ist] ein so namenloses Unglück, wenn einem die Welt entzweibricht. O mein Gott, welch ein Gericht ist über mich hereingebrochen« (ITA V.2, 583). Über nähere Details, die das beschriebene Unglück erklärt hätten,

Abb. 81.1a und b  Trakls »Verzweiflungsbrief« an Ludwig von Ficker, Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Nachlass Ludwig von Ficker.

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hielt sich Trakl bedeckt, was eine Bestimmung der genauen Umstände, die zu diesen Aussagen geführt haben, schwierig macht. Während Killy/ Szklenar sich in der HKA über mögliche Ursachen bedeckt halten und auf die Selbstaussagen Fickers verweisen (HKA II, 605), hält Weichselbaum das Scheitern der Ehe Gretes mit dem Verleger Arthur Langen als wahrscheinlichen Auslöser der Krise (Weichselbaum 2014, 156 ff.). Sauermann sieht den Grund für den Tonfall im inzestuösen Verhältnis zwischen Georg und seiner Schwester Margarete begründet; Grete soll im Frühjahr 1914 deswegen eine Fehlgeburt erlitten haben. Auf literarischer Ebene hat Trakl im Gedicht »Abendland« (II) eine Referenz auf seinen Berlin-Aufenthalt geschaffen, indem er es Else Lasker-Schüler gewidmet hat. In Trakls Brief an Ficker vom 23. Februar 1913 kommt hingegen verdichtet zum Ausdruck, welchen Bezug der Dichter zu seinem Tiroler Umfeld aufgebaut hatte, aller Idiosynkrasie zum Trotz, die zuvor in seinen Schreiben ihren Ausdruck gefunden hatte. Trakl schrieb darin dem Brenner Attribute der »Heimat und Zuflucht im Kreis einer edlen Menschlichkeit« (ITA V.1, 325) zu und bezeichnete die Umsorge Fickers als »das Glück Ihrer Großmut und Güte, das verzeihende Verständnis Ihrer Freundschaft« (ebd., 325 f.). In der Aussage vom verzeihenden Verständnis kulminieren Dankbarkeit und Schuldbewusstsein gleichermaßen, denn Trakl war sich durchaus bewusst, dass sein Lebenswandel wenig bis nicht kompatibel mit dem Familienleben Fickers war – die Rauch-Villa in Mühlau, in der Ficker mit seiner Frau und den beiden kleinen Kindern lebte, bot zwar ausreichend Platz für die Bewirtung von Gästen, doch als sich die Eskapaden steigerten und mit Karl Borromäus Heinrich ein weiterer schwieriger Charakter zu Gast war, war das Maß des Erträglichen für die Gastgeber bald erreicht. Entsprechend gewichtet schlagen sich in den Briefen schließlich auch die Auskünfte über körperliche und seelische Befindlichkeiten nieder: Hier beginnen sich zwischen formalisierten Grußformeln abgründige Formulierungen zu mehren, die im Laufe des Jahres 1913 den zunehmend angegriffenen Gesundheits-

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zustand Trakls anzeigen: »Wein, dreimal Wein: Wein, daß der k. u. k. Beamte durch die Nächte tost wie ein brauner, rotbrauner Pan« (Trakl an Buschbeck, 20.5.1911). Diese Praxis begann schließlich grotesk-paradoxe Züge anzunehmen, wenn Trakl am 11. November 1913 in einem Brief an Ficker vermeldete: »Viele Grüße an Ihre lieben Kinder. Ich habe in der letzten Zeit ein Meer von Wein verschlungen, Schnaps und Bier. Nüchtern. Grüßen Sie auch Röck und Esterle« (ITA V.2, 522). In einem kurz vor Weihnachten 1913, in »Tagen rasender Betrunkenheit und verbrecherischer Melancholie« (ebd., 559) an Karl Kraus verfassten Schreiben verwischen die Grenzen endgültig: Der Brief spiegelt auf formaler Ebene jene Betrunkenheit, von der im Inhalt die Rede ist; das Schriftbild wird kontinuierlich und die Abschrift von »Ein Winterabend«, die Trakl dem Brief an Kraus beigefügt hat, damit nur schwer lesbar. Das Gedicht selbst besitzt in der frühen Stufe zwar noch nicht jene Harmonie, die es nach der Umarbeitung erreicht, kontrastiert aber dennoch deutlich die im Brief konservierte Schreibsituation. Die angegriffene Psyche Trakls, überreizt durch die fortgesetzte Drogensucht und ab dem Sommer 1914 mit dem am Schauplatz der galizischen Schlachten erlittenen Kriegstrauma verbunden, wird im vorletzten Brief an Ludwig Ficker vom 27. Oktober 1914 explizit manifest. Die Wortwahl deutet auf einen vorweggenommenen Abschied hin. So bekannte Trakl, Rimbaud paraphrasierend (vgl. ITA V.2, 690) in dem Schreiben, er fühle sich »schon fast jenseits der Welt« und verfügte, dass »im Fall meines Ablebens, es mein Wunsch und Wille ist, daß meine liebe Schwester Grete, alles was ich an Geld und sonstigen Gegenständen besitze, zu eigen haben soll« (ebd.). Der Duktus macht die in der Forschung etablierte Bezeichnung »Testamentsbrief« (Sauermann 2001, 183) für dieses Schreiben nachvollziehbar; eine solche Zuschreibung erscheint aber insofern schwierig, als der Eindruck entsteht, es wäre es der letzte Brief Trakls gewesen und das im Brief enthaltene Gedicht »Grodek« das letzte, das Trakl verfasst hatte. Wenngleich er als Testament gedient hat,

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existiert tatsächlich noch ein Folgebrief vom 27. Oktober, in dem Trakl Überarbeitungen (zu »Menschliche Trauer«) und Korrekturen (zu »Traum des Bösen«) vornahm (vgl. ITA V.2, 699). Neben den in vertrauterem Ton abgefassten privaten Nachrichten finden sich unter Trakls Briefen auch etliche Korrespondenzstücke, in denen geschäftliche Agenden abgehandelt werden. In Fällen, die konkrete Ausformulierungen der Korrespondenzen an Ämter und Institutionen anbetrafen, insbesondere aber in denen Verlagsagenden wie Verhandlungen bezüglich Publikationen oder die Arbeit mit Korrekturen anstanden, kam es des Öfteren dazu, dass Trakl beim Abfassen seiner Briefe die Unterstützung Außenstehender annahm. Nachdem sich insbesondere in der produktiven Innsbrucker Zeit solche geschäftlichen Möglichkeiten ergaben, stand ihm hier neben Buschbeck in der Hauptsache Ludwig von Ficker beratend zur Seite. Durch eine Intervention von Karl Kraus war der Leipziger Verleger Kurt Wolff Anfang April 1913 an Trakl herangetreten und hatte eine Veröffentlichung der Gedichte angeboten. Die Auswahl, die schließlich seitens des Verlages durch den damaligen Lektor Franz Werfel getroffen wurde, missfiel ihm jedoch. Trakls Protestbrief vom 27. April 1913 wurde unter Mithilfe von Ludwig von Ficker verfasst, wenn nicht gar von Ficker selbst geschrieben (vgl. ITA V.2, 402). Die Eigentümlichkeiten auf der Ebene der Syntax als auch in der Wortwahl und im generellen Duktus weichen zum Teil beträchtlich vom Traklschen Briefstil ab. Unter der folgenden Korrespondenz mit dem Kurt Wolff Verlag finden sich weitere Schreiben, die sich deutlich vom Stil Trakls unterscheiden und aufgrund dessen offensichtlich von Ficker verfasst worden sein müssen, so auch der Brief vom 10. April 1914 (ebd., 592 f.). Auch der Brief an Ludwig Wittgenstein, aus dessen Spende Trakl über Vermittlung Fickers mit 20.000 Kronen bedacht worden ist, folgt diesem Muster (ebd., 645 f.). Anton Unterkircher apostrophiert, dass die Untersuchung solcher Mit-Autorschaften ein

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bisher wenig untersuchtes Forschungsfeld darstellt (vgl. Unterkircher 2021, 169). Trotz aller Defizite, die das Traklsche Briefwerk formal wie inhaltlich von jenem anderer Vielschreiber der Moderne abgrenzen, erscheint das Urteil überzogen, wenn für Trakls Kommunikation von einer grundsätzlichen »habituelle[n] Unfähigkeit zur Anpassung« (Neumann 1984, 41) ausgegangen wird. Ebenso greift die Annahme zu kurz, Trakls Briefe »have qualities far from the aesthetic, they reflect Trakl’s disinclination to elevate private torment into pleasing forms« (Mandel 1984, 87). Trakls Briefe sind für sich genommen, sowohl was ihren dokumentarischen Wert anbelangt wie auch vom ästhetischen Anspruch gesehen, in ihrer Gesamtheit Zeugnisse für die ebenso vieldimensionale wie kaum greifbare Persönlichkeit des Dichters.

Literatur Basil, Otto: Georg Trakl. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek b. Hamburg 1965. Buschbeck, Erhard: Brief an Ludwig von Ficker, 30.09.1925. FIBA, Nachlass Ficker, Sign. 041–005– 003–006. Kommentierte Online-Edition des Gesamtbriefwechsels Ludwig von Fickers; www.fickergesamtbriefwechsel.net. Ceolin, Maria Letizia: Georg Trakls Briefe. Diss. (masch.). Venedig 1975. Doppler, Alfred: »Der Brenner« als Kontext zur Lyrik Georg Trakls. In: Kurt Bartsch/Dietmar Goltschnigg/ Gerhard Melzer/Wolfgang Heinz Schober (Hg.): Die andere Welt. Aspekte der österreichischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Festschrift für Hellmuth Himmel zum 60. Geburtstag. Bern/München 1979, 249–259. Ficker, Ludwig von: Georg Trakl. In: Ders.: Denkzettel und Danksagungen. Aufsätze, Reden. München 1967, 31–33. Ficker, Ludwig von: Brief an Erhard Buschbeck, 21.10.1925. FIBA, Sammlung Briefwechsel Ludwig von Ficker. Ficker, Ludwig von: Briefe Georg Trakls an Freunde. In: Erinnerung an Georg Trakl. Innsbruck 1926, 115– 169. Mandel, Siegfried: Seconds before Eternity. In: Frank Graziano (Hg.): Georg Trakl. A Profile. Durango 1983, 87–117. Modern, Rodolfo E.: El epistolario de Georg Trakl. In: Boletin de estudios germanicos 8 (1970), 97–106;

81  Trakls Korrespondenz wiederabgedruckt in: Ders.: Estudios de literatura alemana. Buenos Aires 1975, 135–144. Neumann, Peter Horst: Trakl als Briefschreiber. In: Joseph P. Strelka (Hg.): Internationales Georg TraklSymposium. Bern et al. 1984, 37–44. Nickisch, Reinhard M.G.: Brief. Stuttgart 1991. Röck, Karl: Tagebuch 1891–1946. Hg. u. erläutert von Christine Kofler. 3 Bde. Diss. Innsbruck 1975. Rusch, Gebhard/Schmidt, Siegfried J.: Das Voraussetzungssystem Georg Trakls. Braunschweig/Wiesbaden 1983. Sauermann, Eberhard: Edition und Analyse von Trakls Briefwechsel. In: Werner M. Bauer/Johannes John/ Wolfgang Wiesmüller (Hg.): »Ich an Dich«. Edition, Rezeption und Kommentierung von Briefen. Innsbruck 2001, 163–188.

485 Schuster, Jörg: Literaturwissenschaft (Neuere deutsche Literatur). In: Marie Isabel Matthews-Schlinzig/ Jörg Schuster/Gesa Steinbrink/Jochen Strobel (Hg.): Handbuch Brief. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Band 1: Interdisziplinarität – Systematische Perspektiven – Briefgenres. Berlin/Boston 2020, 5–18. (=Schuster 2020a) Schuster, Jörg: Briefe im Kontext der literarischen Moderne (1890–1930). In: Matthews-Schlinzig/Schuster/Steinbrink/Strobel 2020, 1371–1381. (=Schuster 2020b) Unterkircher, Anton: Zum Briefwechsel von Georg Trakl und dem Kurt Wolff Verlag. Puzzle oder Patience? In: editio 35 (2021), 168–181. Weichselbaum, Hans: Georg Trakl. Eine Biographie. Salzburg 2014.

Teil XV

Journalismus

Trakls journalistische Texte

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Harald Gschwandtner

Georg Trakls Tätigkeit als Journalist gehört zu den am wenigsten erforschten Aspekten seines Schreibens. Die sieben Texte, die mittlerweile editorisch erschlossen sind, erschienen in den Jahren 1906 bis 1908 in zwei regionalen Tageszeitungen, dem national-liberalen Salzburger Volksblatt sowie der Salzburger Zeitung, dem offiziellen Periodikum der Salzburger Landesregierung (vgl. Hanisch/Fleischer 1986, 84–86; Klettenhammer 1990, 15 f.). Werkgeschichtlich interessant ist die Tatsache, dass die ersten journalistischen Beiträge Trakls vor den ersten Prosa- und Gedichtpublikationen gedruckt wurden; der junge Autor trat also zunächst als Journalist an die Öffentlichkeit. Für das Bild, das sich Lesepublikum und Forschung von Trakl gemacht haben, spielen diese Texte bis heute eine untergeordnete Rolle.

Frühe Beiträge über das Salzburger Stadttheater (1906) Trakls erster journalistischer Beitrag war zugleich seine erste Publikation als Autor überhaupt. Am 9.1.1906 druckte die Salzburger

H. Gschwandtner (*)  Salzburg, Österreich E-Mail: [email protected]

Zeitung im Feuilleton eine Vorankündigung von Karl Schönherrs Drama Familie, das am folgenden Tag im Salzburger Stadttheater gespielt werden sollte. Ende 1905 am Wiener Burgtheater uraufgeführt, wurde Schönherrs Stück zum ersten Mal außerhalb der Reichshauptstadt gezeigt. Der Text des 18-jährigen Apothekerlehrlings, der ein halbes Jahr zuvor das Gymnasium ohne Abschluss verlassen hatte, ist eine Würdigung des Dramatikers Schönherr, der mit Die Bildschnitzer (1900) und Der Sonnwendtag (1902) zu den gefragtesten deutschsprachigen Theaterautoren seiner Zeit aufgestiegen war. Gleich eingangs wird er von Trakl mit topischen Elementen einer Künstler-Imago beschrieben: Schönherr gehöre, so Trakl, zu den »wenigen, die von keiner Literaturströmung beeinflußt« stets »ihre eigensten Wege gehen«; er habe sich allen Widerständen zum Trotz nach »Jahre[n] rastlosen Schaffens« um die Jahrhundertwende »endlich durchsetzen« können und erhalte jetzt die ihm gebührende »Anerkennung«, die er als »Einsamer« so lange entbehrt habe (ITA I, 49). Trakls (mit vollem Namen gezeichnete) Charakterisierung von Schönherrs Theaterarbeiten verweist auf dessen Nähe sowohl zum Naturalismus als auch – mit der Nennung Ludwig Anzengrubers – zur Tradition des österreichischen Volkstheaters: »Nichts ist an diesen Gestalten [in Schönherrs Dramen] stilisiert, und doch ist diese Kunst gerade in ihrer Einfachheit raffiniert« (ITA I, 49). Als besondere

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_82

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Qualität hebt Trakl Schönherrs Empathie für seine »bodenständigen« und von »schlichter Herbheit« geprägten Protagonisten hervor. Im Kreis der Salzburger Dichtergruppe »Apollo« (später »Minerva«) diskutierte Trakl zu dieser Zeit Tendenzen und Ausdrucksformen der zeitgenössischen Literatur und studierte die Feuilletons der Wiener Presse (vgl. Basil 1965, 56 f. u. 63); Trakls erster eigener journalistischer Text zeigt, dass er »mit den literarischen und künstlerischen Strömungen seiner Zeit vertraut« war (Klettenhammer 1990, 16). Bei Trakls zweitem, knapp zwei Monate später (2.3.1906) ebenfalls in der Salzburger Zeitung veröffentlichtem Beitrag handelte es sich erneut um eine Vorankündigung eines Theaterstücks. Dieser war, lediglich mit den Initialen »G. T.« gezeichnet, jedoch konzeptionell ganz anders gearbeitet als Trakls Erstling. Der Salome übertitelte Text, mit dem redaktionellen Hinweis auf eine »Erstaufführung am Salzburger Stadttheater« versehen, steigt unvermittelt in die Beschreibung der Handlung ein: »Es ist ein schwüler Abend – anders wie gewöhnlich. Der Mond erstrahlt in einem berückenden Zauber, Wolken gleiten wie durchsichtige Musselinschleier über ihn hinweg und da täuscht er seltsame, sinnverwirrende, zarte Bilder vor« (ITA I, 53). Über mehrere Absätze hinweg erzählt Trakl die Geschichte um Salome, Herodes und Jochanaan nach, ohne den Autor des Stücks, Oscar Wilde, zu erwähnen. Dass es sich um die Aufführung eines Theaterstücks handelt, wird – abgesehen vom zitierten peritextuellen Rahmen – erst relativ spät deutlich. An seiner Wertschätzung der Salome lässt der Autor freilich keinen Zweifel: »An diesem Werk ist nichts, das nicht mit eiserner Konsequenz auf die Einheit – Wesenheit des Werkes hinarbeiten würde, bis es dasteht als Ganzes – die Wirklichkeit überragend, ein Guß ohne Sprung und Bruch. Und in dieser Formengröße liegt auch die ungeheure Macht und Wirkung der Tragödie, die in der Weltliteratur wohl einzig dasteht« (ITA I, 54). Wenig später hat Trakl in der lyrischen Szene »Traumland« sowie zwei unter dem Titel »Aus goldenem Kelch« gedruckten Prosa-

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texten, der Phantasie »Barrabas« und dem Dialog »Maria Magdalena«, Motive und szenische Elemente aus Wildes Salome aufgenommen (vgl. Klettenhammer 1990, 12 f.; Görner 2014, 39 f.; Weichselbaum 2014, 56 f.). Hier zeigt sich exemplarisch, dass bei Trakl – wie bei vielen anderen jungen Autorinnen und Autoren – das Schreiben über Literatur stets ein selbstreflexives Moment aufweist und die eigenen ästhetischen Vorstellungen mitverhandelt. Die frühen journalistischen Arbeiten sind deshalb nicht zuletzt in Hinblick auf »das Kunstverständnis des jungen Trakl« interessant (Klettenhammer 1990, 13). Trakls nächster Beitrag – diesmal im Salzburger Volksblatt – widmete sich am 6.4.1906 jenem Regisseur, der Anfang des Jahres sowohl Schönherrs Familie als auch Wildes Salome inszeniert hatte: Carl Friedheim, seit 1903 am Salzburger Stadttheater engagiert, nahm im Frühjahr 1906 seinen Abschied als künstlerischer Leiter. Trakl lässt in dem »Oberregisseur Friedheim« betitelten Aufsatz die Stationen von Friedheims Tätigkeit Revue passieren, würdigt die Inszenierungen moderner Theaterstücke (darunter die »wunderbare Inszenierung« von Wildes Salome), aber auch die schauspielerischen Leistungen in zahlreichen Rollen: »In der Geschichte unseres Theaters […] wird Herr Friedheim einen Ehrenplatz einnehmen, wie wenige – in der Geschichte, wie in der Erinnerung derer, die ihn in diesen Jahren seiner Tätigkeit hochschätzen lernten« (ITA I, 63). Trakls Laudatio auf Friedheim ging wohl darauf zurück, dass der gerade 19-Jährige zu dieser Zeit auch in anderer Funktion mit dem Salzburger Stadttheater und seinen Akteuren in Verbindung stand. Im Frühjahr 1906 hatte der Direktor des Theaters, Carl Astner, Trakls Einakter Totentag auf den Spielplan gesetzt; am 31.3. feierte er, an einem gemeinsamen Abend mit Heinrich von Schullerns Die Sirene und Jacques Offenbachs Kurzoperette Die Hochzeit bei Laternenschein, Premiere. Die Spielleitung von Totentag übernahm Carl Friedheim; die Aufnahme in der Salzburger Presse war gespalten (vgl. ITA I, 55–59). Die Würdigung des »Oberregisseurs« ist somit auch als Geste der

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Dankbarkeit für das erstmalige In-Szene-Setzen eines Traklschen Textes zu verstehen (vgl. Weichselbaum 2014, 52 f.).

Freundschaftsdienste und Verrisse (1907/1908) Erst nach einer Pause von mehr als eineinhalb Jahren trat Trakl erneut mit einem journalistischen Beitrag in Erscheinung. Der am 19.12.1907 in der Salzburger Zeitung gedruckte Artikel kann als einzige Theaterkritik Trakls im engeren Sinne gelten. Das im Studentenmilieu angesiedelte Drama Alt-Heidelberg (1901) von Wilhelm Meyer-Förster war in den Jahren zuvor auf vielen deutschen Bühnen gespielt worden und gehörte zu den erfolgreichsten zeitgenössischen Stücken (vgl. Weichselbaum 2014, 61). Trakl konnte der Aufführung am Salzburger Stadttheater und der Dramaturgie des Stücks allerdings wenig abgewinnen: »Mondscheinromantik, Sentimentalität, die nötige Dosis Humor, die nach Bier duftet – gaudeamus igitur – und da wir ein Schauspiel vor uns haben ein würdiges Ausklingen – ›O alte Burschenherrlichkeit!‹ C’est tout! Die Wirkung ist todsicher« (ITA I, 107). Im Vergleich zu den Artikeln vom Frühjahr 1906 erweckt Trakls Rezension von Alt-Heidelberg den Anschein einer schnell verfassten Gelegenheitsarbeit. Sie erschöpft sich zu großen Teilen in der Beschreibung der Leistungen einzelner Schauspielerinnen und Schauspieler: Das Spektrum der Urteile reicht von »entzückend« und »ausgezeichnet« bis »sicherlich zu polternd« und »[g]änzlich unbefriedigend« (ITA I, 107). Die Rezension dokumentiert Trakls Ablehnung eines Theaterstücks, das von seinen eigenen literaturästhetischen Konzepten denkbar weit entfernt war, bedient sich dabei aber der Floskeln eines recht konventionellen Kulturjournalismus. 1904 oder 1905 hatte Trakl den oberösterreichischen Dramatiker Gustav Streicher, der seit 1904 in Salzburg lebte, kennengelernt. Streicher wurde bald zu einem wichtigen Freund,

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Förderer und Mentor des jungen Trakl. Er vermittelte ihm erste Kontakte zur Theaterszene sowie Publikationsmöglichkeiten in Salzburger Zeitungen (vgl. Weichselbaum 2014, 49–53). Mit Stücken wie Menschwerdung (1899) und dem Bauernkriegsdrama Stephan Fadinger (1903) war Streicher um die Jahrhundertwende als Bühnenautor hervorgetreten und zählte zu den Vertretern der im Gefolge des Naturalismus entstandenen ›Heimatkunst‹-Bewegung; später wandte er sich dem Symbolismus zu (vgl. Czifra 2010). Am 16.2.1908 stellte der gerade 21-jährige Trakl den Leserinnen und Lesern des Salzburger Volksblatts den mehr als zehn Jahre älteren Streicher im Gestus eines versierten Literaturhistorikers vor (vgl. Hanisch/Fleischer 1986, 107; Görner 2014, 42). Streichers Werdegang als Schriftsteller vollzieht Trakl detailreich nach und verortet ihn – wohl im Einklang mit Streichers Selbstverständnis – im Kontext zeitgenössischer literarischer Strömungen. Die Charakterisierung von Streichers Sprache, »die uns verführt, dem Melos des Wortes zu lauschen und nicht zu achten des Wortes Inhalt und Gewicht«, ja deren »Mollklang« »das Blut mit träumerischer Müdigkeit« »erfüllt« (ITA I, 111), erinnert wohl nicht von ungefähr an die Poetik der Traklschen Lyrik, in der der klanglichen Qualität von Sprache ebenso besonderer Wert zukommt. Anlass für Trakls Artikel vom 16.2.1908 war eine zwei Tage zuvor im Marmorsaal des Schlosses Mirabell veranstaltete Lesung, bei der Streichers sein (erst 1910 gedrucktes) Drama Monna Violanta präsentiert hatte. Die Schilderung des Abends vermittelt indes den Eindruck, als äußere sich hier ein etablierter Kritiker über die Bemühungen eines jüngeren Kollegen, und nicht umgekehrt: »Daß der vortragende Dichter nicht völlig vermochte, die ganze Stimmungsgewalt seines Werkes zur Geltung zu bringen, daß manches von den glitzernden Schönheiten seines Dialogs verloren ging, das soll liebenswürdig entschuldigt werden« (ebd.). Trakls journalistischer »Freundschaftsdienst« (Weichselbaum 2014, 59) zeugt so auch davon, dass sich die Rollen im Verhältnis der beiden allmählich verschoben.

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Trakls knappe Besprechung von Arthur (oder Artur) Groblers Lyrikband Vom Lichtquell wurde erst vor einigen Jahren entdeckt und editorisch erschlossen (vgl. Stockhammer 2016); sie ist deshalb weder in der HKA noch in der ITA verzeichnet. Am 4.7.1908 druckte das Salzburger Volksblatt Trakls kurzen Artikel mit der Verfasserangabe »G. Trakl« in der Rubrik »Literarisches«. Der Band Vom Lichtquell wurde neben Trakls wohlwollender Rezension noch in anderen zeitgenössischen Publikationen erwähnt (z. B. im Grazer Tagblatt und der Kulturzeitschrift Die Lyra), ist aber heute in keinem Bibliothekskatalog auffindbar. Auch über den Autor des Buches ist nichts bekannt; es finden sich lediglich verstreute Veröffentlichungen, etwa in einer Nummer der Monatsschrift Heimgarten aus dem Jahr 1909. Während das Grazer Tagblatt den Band äußerst negativ besprach (vgl. Stockhammer 2016, 173), lobt Trakl die »klare, geradlinige Einfachheit dieser Lyrik«, die, folgt man der knappen Beschreibung des Buches, mit Trakls literarischer Ästhetik wohl wenig gemeinsam hatte: »Es ist das Charakteristische dieser Gedichte, daß sie es einem leichtmachen, einige gute Worte über sie zu sprechen, die zwar weniger eine literarische Verwertung zum Ausdruck bringen sollen, als jene Sympathie, die man einem schlichten Herzen gegenüber empfindet, das von allem Anfang an darauf verzichtet, uns Überraschungen zu bereiten« (DuB 218). Wie es zu dieser Rezension kam und ob Trakl mit Grobler persönlich bekannt war, ist aufgrund fehlender Quellen nicht zu eruieren. Trakls letzte Rezension, erneut im Salzburger Volksblatt erschienen (22.8.1908), war zugleich seine schärfste und im Urteil radikalste (vgl. Basil 1965, 66). Es handelt sich dabei um einen veritablen Verriss von Franz Karl Ginzkeys erstem Roman Jakobus und die Frauen, dessen »kapitale Mängel« durch »einige hübsche Stimmungsbilder und Lyrismen« nicht wettgemacht werden könnten. Ginzkey galt zum Zeitpunkt der Rezension trotz seines fortgeschrittenen Alters noch nicht als arrivierter Autor im literarischen Feld (vgl. Görner 2014,

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41). Im letzten Satz seiner kurzen Besprechung nimmt Trakl gleich den »Großteil unserer mitteleuropäischen Romanproduktion« kritisch in den Blick. Im Vergleich zum »gallische[n] Roman« und zu den »russischen Epopöen« bestehe die hiesige Literatur zu weiten Teilen aus nicht mehr als »bedruckte[m] Papier« (ITA I, 126). Trakls Auslassungen, die an Ginzkeys Roman nichts Positives finden können (»schwächliche Handlung«, »liebliche[] Oberfläche«, »dürftig«, »gesuchte Feierlichkeit des Stils«), sind ein Fanal der Eigenständigkeit eines kritischen Urteils, das sich nicht mehr hinter konzilianten Floskeln verstecken will. Zugleich bedeutete die Rezension von Jakobus und die Frauen aber auch das Ende von Trakls kurzer Karriere als Literaturkritiker. Nach seiner Immatrikulation zum Studium der Pharmazie an der Universität Wien im Herbst 1908 publizierte Trakl keinen journalistischliteraturkritischen Beitrag mehr.

Abkehr vom Journalismus Als Erhard Buschbeck sich Ende 1909 bei Hermann Bahr für Trakl einsetzte, betonte Trakl Buschbeck gegenüber seine Wertschätzung für diesen »bedeutsamen Kritiker«, »dessen Urteil mir auf jeden Fall von großem Wert erscheint, wie auch sein Urteil ausfallen möge. Alles, was ich von ihm erhoffe ist, daß seine geklärte und selbstsichere Art, meine ununterbrochen schwankende und an allem verzweifelnde Natur um etliches festigt und klärt« (ITA V.1, 100). Die Gegenüberstellung, die Trakl hier vornimmt, könnte ein Hinweis darauf sein, warum der Lyriker nach 1908 nicht mehr als Rezensent öffentlich in Erscheinung treten wollte: Der ständige Zweifel am eigenen Urteil, der den Autor zeitlebens umtrieb, ist mit dem Handwerk der Literaturkritik als »klassifizierendorientierende[r]« Praxis (Jaumann 2007, 463) nur schwer in Einklang zu bringen. Im März 1910 scheiterte ein Versuch Trakls, sich erneut publizistisch für seinen einstigen Förderer Gustav Streicher einzusetzen. Trakl hatte eine »Abhandlung« zu einem Dichterabend

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Streichers im Saal des Niederösterreichischen Gewerbevereins in Wien verfasst, bei der zwei Einakter des Dramatikers präsentiert wurden; zu einer Veröffentlichung des Textes (vermutlich in der Linzer Tages-Post) kam es jedoch nicht, auch andere Publikationsoptionen zerschlugen sich (vgl. Sauermann 1991, 109–111; Weichselbaum 2014, 59 f.; HKA II, 521 u. 778 f.; ITA I, 108 u. 127). Bis zu seinem Tod im Herbst 1914 hat Trakl – nach aktuellem Kenntnisstand – keine weiteren Rezensionen oder kulturjournalistischen Texte mehr veröffentlicht. Kommentare zur zeitgenössischen Literatur finden sich etwa in lyrischer Form im 1913 entstandenen ›Dichtergedicht‹ »Karl Kraus«, nicht jedoch in journalistischen Genres.

Bedeutung für Trakls Biographie und als Werkkontext Trakls Wirken als Kulturjournalist und Kritiker ist stark in seinem Salzburger Umfeld verankert: nicht nur räumlich – die Redaktion des Salzburger Volksblatts befand sich nur wenige Meter von seinem Elternhaus am Waagplatz entfernt (vgl. Stockhammer 2016, 174) –, sondern auch, was Institutionen und persönliche Netzwerke betraf. Ob Trakl am Beginn seiner Laufbahn in Erwägung zog, regelmäßig als Literaturund Theaterkritiker zu arbeiten, ist unklar (vgl. ITA I, 125). In seinen Beiträgen beschäftigte er sich mit Fragen, die auch für sein eigenes literarisches Schreiben von Bedeutung waren. Allerdings ist sein sporadisches Publizieren in Salzburger Zeitungen kaum als strategisches Agieren im literarischen Kräftefeld, als Vorbereitung eines künstlerischen Werdegangs zu verstehen, zumal Trakl die Sphäre des »eingespielten Literaturbetriebes« zeitlebens »fremd« blieb (Weichselbaum 2014, 72). Trakl arbeitete in seinen 1906 bis 1908 erschienenen journalistischen Texten – im Gegensatz zu anderen Autoren der Moderne – nicht an der planvollen Durchsetzung seiner eigenen Idee von Literatur. Vielmehr neh-

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men die Beiträge anlassbezogen Stellung und folgen keiner in sich konsistenten Ästhetik. Der Komplex der journalistischen Arbeiten Trakls ist zudem überaus heterogen – nicht nur, was ihr stilistisches Profil betrifft. Lediglich die drei kurzen Texte zu Alt-Heidelberg, Vom Lichtquell und Jakobus und die Frauen sind Rezensionen im engeren Sinne; Salome und Familie kündigten Aufführungen am Salzburger Stadttheater an, die beiden Artikel über Carl Friedheim und Gustav Streicher sollten zwei Förderern von Trakls literarischer Karriere ihre Reverenz erweisen. Die zuletzt in den Dichtungen und Briefen gewählte (und aus der HKA übernommene) Bezeichnung »Rezensionen« für das gesamte Textkorpus ist deshalb nicht wirklich stimmig; der allgemeinere Terminus »Journalistische Texte«, den die Innsbrucker Ausgabe wählt, trifft die Sache präziser.

Literatur Basil, Otto: Georg Trakl. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek b. Hamburg 1965. Czifra, Nikolaus: Gustav Streicher. In: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950. Bd. 13. Wien 2010, 387. Görner, Rüdiger: Georg Trakl. Dichter im Jahrzehnt der Extreme. Wien 2014. Hanisch, Ernst/Fleischer, Ulrike: Im Schatten berühmter Zeiten. Salzburg in den Jahren Georg Trakls, 1887– 1914. Salzburg 1986. Jaumann, Herbert: Literaturkritik. In: Georg Braungart/ Harald Fricke/Klaus Grubmüller/Jan-Dirk Müller/ Friedrich Vollhardt/Klaus Weimar (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. II. Berlin/ New York 2007, 463–468. Klettenhammer, Sieglinde: Drei bisher unbekannte frühe journalistische Arbeiten von Georg Trakl. In: Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv 9 (1990), 10–19. Sauermann, Eberhard: Neues zu Trakls »Fata morgana« und »Abhandlungen über den 3. März«. In: Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv 10 (1991), 107–111. Stockhammer, Harald: »Vom Lichtquell«. Eine (bisher unbekannte) Rezension von Georg Trakl im Kontext oder: Ein Phantom wird gesucht. In: Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv 35 (2016), 173–176. Weichselbaum, Hans: Georg Trakl. Eine Biographie. Salzburg 2014.

Teil XVI

Werkdiskurse und Bildfelder

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Farben Elisabetta Mengaldo

Voraussetzungen und historischkultureller Kontext Rückblickend auf sich selbst sowie auf andere Dichter des 20. Jahrhunderts hat Gottfried Benn in seiner bekanntesten Rede, »Probleme der Lyrik« (1951), die exzessive Aufbietung von Farben in poetischen Texten angeprangert: »Beachten Sie, wie oft in den Versen Farben vorkommen. Rot, purpurn, opalen, silbern mit der Abwandlung silberlich, braun, grün, orangefarben, grau, golden – hiermit glaubt der Autor vermutlich, besonders üppig und phantasievoll zu wirken, übersieht aber, daß diese Farben ja reine Wortklischees sind, die besser beim Optiker und Augenarzt ihr Unterkommen finden« (Benn 1986–2003, VI, 18). Ernst Jünger, dem Benn den Text der Rede geschickt hatte, nahm in seiner Antwort auf diese Kritik Bezug und verteidigte unter Rekurs gerade auf Georg Trakl den Gebrauch von Farben in der Lyrik: »Warum soll man nicht Farben anführen? Was wäre denn Trakl ohne seine Skala, die ihm ganz eigentümlich ist? Es kommt doch wohl darauf an, dass auch das Farbwort durchdrungen wird. Zum Kli-

E. Mengaldo (*)  Dipartimento di Studi Linguistici e Letterari, Università degli Studi di Padova, Padova, Italien E-Mail: [email protected]

schee kann jedes beliebige andere Wort auch werden« (Benn/Jünger 2006, 27 f.). Trakl gehört tatsächlich zu den farbfreudigsten modernen Autoren. In seinen Texten hat er die gesamte Farbpalette ausgenutzt, von den sanften, pastellfarbenen Nuancen, die meist ›impressionistisch‹ eingesetzt werden (denn man verspürt dabei wie bei der impressionistischen Malerei den Einfluss des äußeren Lichts) bis zu den aggressiven, grellen Farbtönen, die eher ›expressionistisch‹ wirken: Sie isolieren und verselbständigen den Gegenstand, der somit oft keinen unmittelbaren Bezug zur äußeren Realität mehr hat. So sehr diese souveräne und abwechslungsreiche Handhabung der Farbsemantik eine Trakl-typische Eigenschaft ist, so gehört sie auch in einen präzisen historisch-kulturellen Kontext, an dem Literatur wie bildende Kunst partizipieren. Die Semantik der Farben wurde zuallererst zu einem grundlegenden Element der expressionistischen Malerei und der damit verwandten Kunsttheorie. In seinen theoretischen Schriften Über das Geistige in der Kunst (1911) und Über die Formfrage (1912) schrieb Wassily Kandinsky Farben nicht nur eine physische, sondern auch eine psychische Wirkung zu, denn sie seien in der Lage, als »innere[r] Klang« (Kandinsky 2004, 64) zu wirken. Um sich vom Realismus endgültig zu lösen, müsse sich die Malerei an der abstrakten Kunst par excellence – der Musik – und deren grundsätzlicher Distanz

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_83

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zur mimetischen Darstellung orientieren, und sich somit endgültig zur (abstrakten) Form bekennen. In der Malerei sollen die von jeglicher realen Referenz abgekoppelten und mit ihrer jeweiligen psychischen Wirkung assoziierten Farben zur Bildung eines autonomen semantischen Systems beitragen. Dieses ästhetische Programm wollte Kandinsky im 1912 zusammen mit Franz Marc gegründeten Künstlerverein »Der Blaue Reiter« mit dem erklärten Ziel fortsetzen, neue, antiakademische künstlerische Ausdrucksformen zu erschaffen. In der Literatur haben Farben vor allem im Rahmen der modernen Ästhetik der Synästhesie eine entscheidende Rolle gespielt. Die berühmtesten (und auch Trakl bekannten) Beispiele dieser alle späteren Avantgarden prägenden Revolution der Sinne sind das von Stefan George übersetzte Sonett »Correspondances« von Charles Baudelaire (in dem es programmatisch heißt: »Les parfums, les couleurs et le sons se répondent«, Baudelaire 2008, I, 11, das George als »Parfüme farben tönen rede tauschen« überträgt, in: George 1966–1969, XIII/ XIV, 17) und das ebenfalls von George übertragene Sonett »Voyelles« von Arthur Rimbaud, in dem dieser seine Poetik der ›Alchimie des Worts‹ in Form einer synästhetischen Entsprechung von Vokallauten und Farben durchexerziert: »A schwarz E weiss I rot U grün O blau« (ebd., XVI, 43). Farben kommen auch in der deutschsprachigen Dichtung der Jahrhundertwende vor, etwa bei Hugo von Hofmannsthal und Stefan George. Die Unterschiede zwischen der lyrischen Farbgebung dieser Autoren und derjenigen der Avantgardedichter – namentlich Trakls – sind erheblich (einen Überblick über die Farbsemantik von George bis Trakl bietet Steiner 1984; zu den Farben in der expressionistischen Lyrik vgl. Mautz 1957). Bei Hofmannsthal kommen meist schimmernde und changierende, ›impressionistische‹ Farbnuancen vor (etwa »silbergrau«, »dunkelglühend«, »dunkelblau«, in »Erlebnis«, Hofmannsthal 1975–2022, I, 31), die meist mit einer Psychologisierung der Farbattribute einhergeht. George bietet hingegen eine Jugendstil-ähnliche, arti-

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fizielle und ornamentale Farbsemantik auf, bei der, anders als bei Metaphern in der Regel erwartet wird, das Artefakt häufig als Bildspender und das Naturobjekt als Bildempfänger fungieren. Dieser Kunstgriff verfremdet und ästhetisiert das Naturbild, wie etwa in der Zeile »[i]n eines teppichs seidengrünen strähnen« aus dem Gedicht »Im Park« (George 1966–1969, II, 14), in der die Wiese der Bildempfänger und der Teppich der Bildspender ist. Andererseits hat bereits George durch Substantivierung der Attribute den Farbqualitäten Selbständigkeit verliehen und damit den ersten Schritt auf dem Weg zu jener Autonomisierung und Abstraktion des Farbworts gewagt, die die Expressionisten und insbesondere Trakl vollziehen werden. So werden in »komm in den totgesagten park und schau« (ebd., IV, 12) fast alle Farbadjektive (blau, gelb, grau, purpurn) mit Ausnahme vom »grüne[n] leben« substantiviert.

Trakls Verwendung der Farben Was Farbattribute angeht, hat die Forschung Trakl meist ziemlich einseitig zu den antirealistischen Lyrikern gezählt, bei denen Farben eine nur symbolisch-abstrakte, geistige Bedeutung zukommt (vgl. Heidegger 2018; Lühl-Wiese 1963; differenzierter Killy 1967, 116–135; eine psychoanalytische Deutung bietet schließlich Goldmann 1957, 29–50). Trakls Palette ist jedoch viel differenzierter und nuancierter angelegt und lässt die ›Einfachheit‹ der realistischen Farbgebung mit der symbolischen Verkomplizierung der Farbsemantik abwechseln. So entspricht auch der Einsatz von Farbattributen dem für Trakl typischen, unsteten Gleichgewicht zwischen der zur Hermetik tendierenden Dunkelheit und der mimetischen Heraufbeschwörung der Wirklichkeit. Am Beispiel der Farbnuancen gelb / gelblich (bzw. vergilbt) / golden lässt sich zunächst die Komplexität von Trakls realistischer Farbgebung veranschaulichen, an der er ganz abgesehen vom symbolisch-chiffrierten Gehalt seiner Texte penibel arbeitet. Trakls Poetik der Überführung auf eine symbolische Ebene ausgehend von

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­ irklichkeitsnahen Evokationen wird nämlich w gerade beim Gebrauch der Farbworte augenfällig. So setzt er »gelb« oft als Attribut für das frische Gras bzw. die Äcker im Spätwinter bzw. am Frühlingsbeginn (»Noch ist gelb das Gras, grau und schwarz der Wald«, »Am Abend« [II], ITA IV.2, 214) oder für das Brachland (»Am Bach, der durch das gelbe Brachfeld fließt«, »Heiterer Frühling«, ITA I, 49). »Golden« ist dagegen der Beschreibung von spätsommerlichen Feldern bzw. Wäldern oder von sonnendurchfluteten Reben vorbehalten: »Golden reift der Wein am Hügel« (»Frauensegen«, ebd., 22). »Golden« steht aber – ganz gemäß der Tradition der europäischen Lyrik – auch für die idyllische Fülle und Üppigkeit des Sommers: »Wenn wir durch goldene Sommer nach Hause gehen« (»Wenn wir durch unserer Sommer purpurnes Dunkel…«, ITA II, 358). Trakls Aufmerksamkeit auf die realistische Beschreibung der Jahreszeiten ist gerade bei den chromatischen Nuancen erstaunlich und erweist sich mitunter als Anregung zur Überarbeitung. So steht z. B. in der ersten Textstufe von »Verwandlung« »Des Menschen Hände tragen goldne Reben« (ITA II, 40); nachdem Trakl in der nächsten Textstufe die Angabe der Jahreszeit am Textanfang expliziert hat (»Entlang an Gärten, herbstlich, rotversengt«), ersetzt er das Attribut »goldne« für die Reben mit dem der herbstlichen Jahreszeit angemesseneren Adjektiv »braune«. »Vergilbt« wird in ähnlichen Kontexten schließlich für verwelkte, spätherbstliche Naturprodukte verwendet: »Tönende Bündel vergilbten Korns«, (»Helian«, ITA II, 262); »Süßer duften vergilbte Früchte« (»Stundenlied«, ebd., 462). Farben kommt aber in Trakls Werk zunehmend ein subjektiv konnotierter, symbolischer Wert zu. So verwendet er »silbern« oft – gemäß dem kodifizierten Gebrauch des Adjektivs »silberhell« – für einen hellen und wohltönenden Klang (»wenn Orpheus silbern die Laute rührt«, »Passion«, ITA IV.1, 124; »die Silberstimme des Windes im Hausflur«, »Hohenburg«, ITA III, 302); es steht aber in vielen Kontexten für Erscheinungen, die an der Schwelle zwischen der Wirklichkeit und dem Traum bzw. zwischen Leben und Tod ste-

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hen: »Und im Garten blieb das silberne Antlitz des Freundes zurück« (»An einen Frühverstorbenen«, ITA III, 403); »Mit silbernen Sohlen stieg ich die dornigen Stufen hinab und ich trat ins kalkgetünchte Gemach« (»Offenbarung und Untergang«, ITA IV.2, 71). Blau ist, zusammen mit Schwarz, die häufigste Farbe in Trakls poetischer Sprache und außerdem diejenige, bei der das oben erwähnte Verfahren der Symbolisierung, ja oft Verselbständigung der Farbworte am klarsten hervortritt (vgl. Becht 1980). Abgesehen vom auch in diesem Fall nicht seltenen naturgetreuen Gebrauch (»Der blaue Fluss rinnt schön hinunter«, »Seele des Lebens«, ITA I, 508; »Die blaue Nacht ist sanft auf unsren Stirnen aufgegangen«, »Die blaue Nacht …«, ITA III, 244) gehört »blau« in jenes heilig-transzendente Gebiet, das oft mit Novalis’ ›blauer Blume‹ in Verbindung gebracht wird; diese Anspielung ist in einem Vers wie »blaue Blume / Die leise tönt im vergilbten Gestein« (»Verklärung«, ebd., 343) offensichtlich. Bereits für Kandinsky und Marc ist Blau die geistige Farbe schlechthin und bei Trakl wird sie mitunter sogar zum Attribut der Seele, etwa in »An Johanna« (»die Bläue / Deiner Seele«, ITA IV.1, 183) oder in »Kindheit« (II) (»Ein blauer Augenblick ist nur mehr Seele«, ITA III, 30). So nimmt es nicht wunder, dass diese Farbe für Martin Heidegger »kein Bild für den Sinn des Heiligen [ist]. Die Bläue selber ist ob ihrer versammelnden, in der Verhüllung erst scheinenden Tiefe das Heilige« (Heidegger 2018, 40). Blau symbolisiert häufig die unschuldige Reinheit der Kindheit (»ruhig wohnte die Kindheit / In blauer Höhle«, »Kindheit« [II], ITA III, 30) und taucht häufig, damit verwandt, als vollkommen antinaturalistisches Attribut von Tieren auf. »Die Rückkehr zum Tier durch die Kunst ist unsere Entscheidung zum Expressionismus« (zit. in Anz 2002, 93), lautete im Jahr 1919 eine programmatische Äußerung Theodor Däublers. Ähnlich wie in der zeitgenössischen Malerei (man denke v. a. an die blauen Pferde von Franz Marc; zu Marc und Trakl vgl. Mönig 1996) werden Tiere auch in Trakls Welt zu ›regressiven‹ Mythen, zu Symbolen der zerstörten Unschuld, und verleihen

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damit jener modernitätsfeindlichen Weltanschauung Ausdruck, die im Frühexpressionismus weit verbreitet war. So wird das blaue Tier zu Beginn von »Nachtseele« mit dem seelischen Bereich in Verbindung gebracht (»Schweigsam stieg vom schwarzen Wald ein blaues Wild / Die Seele nieder«, ITA II, 91), während die Assoziierung mit den Dornen in »Elis« (»Ein blaues Wild / Blutet leise im Dornengestrüpp«, ebd., 455) auf Christi Opfertod anspielt. Der Gegenüberstellung vom sanften, unschuldigen, zum Opfer geweihten Tier und aggressiv-verdorbener moderner Kultur kommt durch das Attribut ›blau‹ eine gleichsam religiöse Valenz zu. Bei der symbolisch-abstrakten Verwendung der Farben kommen insbesondere zwei Darstellungsverfahren im Einsatz (vgl. dazu Mengaldo 2009, 159–189): (1) Synästhesie. Der kunst- und literaturhistorische Hintergrund der modernen Poetiken und Ästhetiken der Synästhesie ist oben bereits erläutert worden. Auch der Farbexperimentator Trakl liebt Synästhesien. Bemerkenswert ist allerdings, dass er mit der Zeit, im Unterschied zu vielen Dichtern der Jahrhundertwende und auch zu den eigenen frühen Dichtungen, den Geruchsinn involvierende Synästhesien kaum noch einsetzt. Die Semantik der Gerüche spielte ja bei Baudelaire eine zentrale Rolle (programmatisch in »Correspondances«: »Il est des parfums frais comme des chairs d’enfants, / […] Ayant l’expansion de choses infinies / Comme l’ambre, le musc, le benjoin et l’encens, / Qui chantent les transports de l’esprit et des sens«, Baudelaire 1975, 11), denn sie stellte »das unzugängliche Refugium der mémoire involontaire« (Benjamin 1991, I.2, 641) dar. Viele symbolistisch-dekadente Dichter folgten ihm dabei. Beim ›visionären‹ und musikverliebten Trakl spielen Gerüche dagegen kaum noch eine Rolle – Sehkraft und Hörsinn gewinnen in seinen Texten die Oberhand: »braungoldne Klänge« (»Traum des Bösen«, ITA I, 515); »Die dunkle Klage seines Munds« (»Kaspar Hauser Lied«, ITA III, 325); »graue Schwüle« (»Afra«, ebd., 123) etc. Die durch Synästhesien erzeugte expressive Potenzierung der Bilder ist häufig das Pro-

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dukt eines Trakl-typischen Verfahrens der Verdichtung von poetischen Bildern. In den Zeilen »O wie sie die braune Stille stören, / In der ein Acker sich verzückt« (»Die Raben«, ITA I, 396), kondensiert die Wendung »braune Stille« die Farbe des Ackers und die darin herrschende Stille. Sprachlich-rhetorisch betrachtet entstehen Synästhesien außerdem häufig durch das Stilmittel der Hypallage, einer syntaktischen Attributverschiebung. In Wendungen wie »die rote Stille deines Munds« (»Unterwegs« [II], ITA II, 481) oder »das blaue Lachen des Quells« (»Offenbarung und Untergang«, ITA IV.2, 69) wird das Farbattribut von der eigentlichen Referenz (»rot« gehört zu »Mund«, »blau« zu »Quell«) gelöst und vor das abstrakte Substantiv (»Stille«, »Lachen«) gestellt. In solchen Fällen macht sich ein charakteristisches Merkmal der Traklschen Dichtung bemerkbar, das ihn vom Großteil der expressionistischen Lyrik unterscheidet und bereits Walther Killy aufgefallen war: Das Adjektiv ist – noch mehr als das Substantiv – der regelrechte Dreh- und Angelpunkt seiner Texte, an dem er anhand von Satzbauund Bedeutungsverschiebungen experimentiert. Nicht umsonst sind es meist die Attribute, die innere Verweise schaffen und somit zur textuellen Kohäsion beitragen. Auch sind es meist die Attribute (oft Farbworte), die bei der Korrekturarbeit mehrfach variiert werden und somit dem Substantiv neue Bedeutungen zuspielen, es regelrecht umfunktionieren, wie Killy anhand von Korrekturen am Gedicht »Passion« als erster hervorgehoben hat: »Die gleiche Erscheinung hat im Fortschreiten des Gedichts einen immer neuen ›Stellenwert‹« (Killy 31967, 25). (2) Farbmetaphern als logische Anomalien. Ähnlich Trakls Farbexperimente, wenn ein sichtbar-konkretes (in diesem Fall: farbliches) Attribut mit einer seelischen Qualität assoziiert und so der »Zusammenstoß des Geistigen mit dem Materiellen« (Saas 1981, 352) zum Vorschein gebracht wird: »weiße Traurigkeit« und »rote[] Schauer[]« (»Dämmerung [II]«, ITA II, 56 f.); »elfenbeinerne Traurigkeit« (»Amen«, ebd., 422); »purpurne[r] Schlaf« und »schwarze[] Verwesung« (»Ruh

83 Farben

und ­Schweigen«, ITA III, 251) etc. Solche Metaphern können mitunter zu einer völligen Abweichung vom logischen Sinn führen. Das berühmteste Beispiel in der modernen deutschsprachigen Lyrik ist gewiss Celans »schwarze Milch der Frühe« (Celan 1990 ff., II.1, 65 f.). Exemplarisch für solche logischen Anomalien bei Trakl sind die bereits erwähnten blauen Tiere, aber auch Wendungen wie »schwarzer Schnee« (»Im Dorf«, ITA II, 412) oder »roter Wolf« (»Winternacht«, ITA III, 367), die, ähnlich wie die Tiere von Franz Marc oder Marc Chagall, einen Beitrag zur modernen Abstraktion des Farbworts leisten. Vor allem, wenn sie häufig und an strategischen Stellen vorkommen (wie etwa die blauen Tiere), werden solche kühnen bis unlogischen Assoziationen mitunter zu die gesamte dichterische Welt Trakls prägenden Chiffren bzw. absoluten Metaphern.

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Himmel und Sterne

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Sophie-C. Hartisch

Georg Trakls Himmel ist von den frühesten Gedichten an zumeist ein verdunkelter, jedoch auch ein mit Sternen und Mond bevölkerter. Der Zustand der Dämmerung, die Schwelle zur Nacht scheint stets angedeutet, was allein unzählige Gedichttitel nahelegen: »Abendmuse«, »Romanze zur Nacht«, »Dämmerung«, »Der Abend«, »Die Nacht« etc. Die Abenddämmerung ist als eine Zwischensphäre zu begreifen, in welcher Tag und Nacht ineinander übergehen, mithin für einen Augenblick verschmelzen. Dieses Bild sich überlagernder Sphären und gerichteter Bewegungen wird sich als grundlegend für ein Verständnis der Sternund Mondmotivik bei Trakl herausstellen. So lässt sich allgemein ein quantitativer Anstieg auftretender bzw. untergehender Himmelskörper im Laufe seiner Schaffenszeit konstatieren. Mit dem Zyklus Sebastian im Traum wird ab 1912 die zunehmende Komplexität und Verschaltung verschiedener Motivbereiche signifikant, denen sich der Beitrag widmen möchte. So sollen im Folgenden die poetischen Implikationen der in Trakls Dichtung extensiv gebrauchten Himmelskörper aufgeschlüsselt und dabei ihre Relevanz

S.-C. Hartisch (*)  Instititut für deutsche Sprache und Literatur, Universität zu Köln, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected]

für ein Verständnis der Konstruktionsprinzipien Traklscher Texte insgesamt einsichtig gemacht werden.

Dämmerungsmomente Die Dämmerung, das Hereinbrechen der Nacht und der gestirnte Himmel sind prägende Konstruktionsmotive Traklscher Lyrik und übernehmen eine ordnende Funktion, wie sich am Gedicht »Sebastian im Traum« nachzeichnen lässt. Die im Gedicht anklingenden Bilder lassen eine kohärente Interpretation nur äußerst schwer zu; stattdessen werden konsequent Verweise auf den Tageszyklus respektive Nachtzyklus eingespielt, sodass die Strophen eine formal-zeitliche Kontinuität adressieren. So beginnt die erste Strophe: »Mutter trug das Kindlein im weißen Mond«, die dritte mit: »Also dunkel der Tag des Jahrs«, um mit dem Vers zu schließen: »In grauer Nacht sein Stern über ihn kam« (ITA III, 232). Der zweite Teil beginnt mit »Frieden der Seele. Einsamer Winterabend«, um in der zweiten Strophe wieder in einen dämmernden Zustand zu kippen: »Und in dämmernden Felsennischen / Die blaue Gestalt des Menschen durch seine Legende ging« und mit: »Da in jenem März der Mond verfiel« (ITA III, 233) zu enden. Zu Beginn des dritten Teils ist zu lesen: »Rosige Osterglocke im Grabgewölbe der Nacht« (ITA III, 233). Diese nächt-

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_84

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lich-dämmernden Momente dienen immer wieder als Einsatzmomente eines poetisch-visionären Sprechens (vgl. Csúri 2016, 198), als traum- und rauschhafter Imaginationsraum, in welchem Zeiten, Mythologien sowie Irdisches und Überirdisches transzendiert werden können, wie sich auch auf den letzten Textstufen von »Abendmuse« zeigt: »Von Lüften trunken sinken balde ein die Lider / Und öffnen leise sich zu fremden Sternenzeichen. / Endymion taucht aus dem Dunkel alter Eichen / Und beugt sich über trauervolle Wasser nieder« (ITA II, 46). Damit knüpft Trakl unter anderem an Novalis’ Hymnen an die Nacht an, in welchen die Nachtwelt ebenfalls klar bestimmbare Zeit- und Raumstrukturen auflöst, da sie an den Grenzbereich empirischer Wahrnehmung rührt und zugleich einer magisch-illusionären Vorstellung Raum gibt. Mit dem Tageszeitenwechsel wird auch eine vermeintlich zyklische Bewegung aufgerufen, die mit Kemper als Kreiskomposition zu charakterisieren ist (vgl. Kemper 1970, 98). Gleichzeitig bleibt der Übergang zur Morgendämmerung zumeist ausgespart. Die nächtlichen Szenerien treffen in Trakls Lyrik auf eine allgemeine (Tag-)Untergangs- und Verfallstopik, sodass die Kreis- in eine Zielkomposition übergeht (ebd.). Die erste Strophe von »Wanderers Schlaf« (der fünften Textstufe von »Der Wanderer«) lautet: »Immer lehnt am Felsen die weiße Nacht / Wo in Silbertönen die Föhre ragt / Stein und Sterne sind«; das Gedicht endet mit den Versen »Stein und Stern / Darin der weiße Fremdling ehdem gewohnt« (ITA III, 174 f.). Durch die Wortwiederholung scheinen sich Anfang und Ende zyklisch aufeinander zu beziehen. Doch ein genauer Blick offenbart eben die Nuance, auf die es in der Lyrik Trakls so oft ankommt: Das ›immer‹ und das Präsens aus der ersten Strophe werden ersetzt durch ein verkürztes Perfekt mit dem zeitlichen Marker ›ehdem‹, der das Vergangene markiert. Mit der anbrechenden Dämmerung und der Nacht werden demnach Gegenwärtiges und Vergangenes über Wiederholung und Abweichung ineinandergeschoben.

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Endzeitstimmung Von der »Sammlung 1909« bis in die Gedichte (1913) ist zu beobachten, dass Mond und Sterne in ihrer Verbindung zur Nacht immer wieder als stimmungsvolle und atmosphärische Elemente in unterschiedlichen Gedichten anzutreffen sind: »Es tönt der Abend glockentief – / Da wächst die Tiefe unermessen. / Der Mond steigt auf, es blaut die Nacht« (»Die drei Teiche in Hellbrunn«, ITA I, 186), »Über den Wäldern schimmert bleich / Der Mond, der uns träumen macht« (»Schweigen«, ITA I, 210) u. a., wenn auch erste Anzeichen einer Verfallstopik auszumachen sind, die die späteren Gedichte prägen wird: »Einsamer unterm Sternenzelt / Geht durch die stille Mitternacht. / Der Knab’ aus Träumen wirr erwacht, / Sein Antlitz grau im Mond verfällt« (»Romanze zur Nacht«, ITA I, 492). In »Sebastian im Traum« tritt die atmosphärische Funktion gegenüber dem Eindruck einer stärkeren Metaphorisierung zurück. Dominieren hier allgemein Motive des Fallens, Untergangs und Neigens, erfahren die Himmelskörper eine ähnliche Dynamisierung: Sterne und Monde versinken oder sind bereits Verfallene: »O die Nähe des Todes. In steinerner Mauer / Neigte sich ein gelbes Haupt, schweigend das Kind, / Da in jenem März der Mond verfiel« (»Sebastian im Traum«, ITA III, 233), »Reglos nachtet das Meer. / Stern und schwärzliche Fahrt / Entschwand am Kanal« (»In Venedig«, ITA IV.1, 211), »Stille der Mutter; unter schwarzen Tannen / Oeffnen sich die schlafenden Hände, / Wenn verfallen der kalte Mond erscheint« (»Geburt«, ITA III, 416), »Träumend unter Silberweiden / Kosen unsere Wangen vergilbte Sterne, / Beugt sich die Stirne vergangener Nächte herein« (»Untergang«, Textstufe 3 T, ITA II, 369) u. a. Häufig schließen Gedichte mit dem Untergang der Sterne oder des Mondes ab – an dieser Stelle sei noch einmal die Zielkomposition in Erinnerung gebracht – und rufen dabei eine räumlich und temporal endzeitliche Lesart auf: »[…] schweigend umfängt / Des Weihers Kühle den Schläfer, gleitet / Der verfallene Mond über seine schwärzlichen Augen. / Sterne versinkend

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im braunen Eichengeäst« (»Nimm blauer Abend …«, Textstufe 2 H, ITA IV.2, 42 f.). Dass sich apokalyptische Bildstrukturen vor allem in Trakls später Lyrik wiederfinden, weist Doppler eindrücklich nach (Doppler 1992). Die Apokalypse ist ihrer Struktur nach eine Erlösungsvision; prägend ist die Offenbarung des Johannes für die Literatur der Moderne, auch wenn von einer säkularisierten Apokalypse gesprochen wird, in der es keine überirdische Erlösung, sondern allenfalls ein irdisches Paradies geben wird; der Form nach wird jedoch Gleiches ›erzählt‹: Die alte, überkommene und verkommene Welt muss untergehen, damit eine neue entstehen kann. Bei Trakl findet sich dies in verschiedensten Ausprägungen wieder, so z. B.: »O, die bittere Stunde des Untergangs, / Da wir ein steinernes Antlitz in schwarzen Wassern beschaun. / Aber strahlend heben die silbernen Lider die Liebenden: / Ein Geschlecht. Weihrauch strömt von rosigen Kissen / Und der süsse Gesang der Auferstandenen« (»Abendländisches Lied«, ITA III, 420). Die Untergangs-/Aufgangsbewegung wird hier innerhalb einer einzigen Strophe vollzogen. Auffällig ist jedoch, dass gerade in den Gedichten, in denen am Ende das Kosmische aufscheint, die Erlösungsvision ausbleibt: »Ihr sterbenden Völker! / Bleiche Woge / zerschellend am Strande der Nacht, / fallende Sterne« (»Abendland« [II], Textstufe 6 D, ITA IV.1, 255) oder auch: »Auf schwärzlichem Kahn fuhr jener den mondenen Fluß hinab, / Purpurner Sterne voll, und es sank / Friedlich das ergrünte Gezweig auf ihn, / Mohn aus silberner Wolke« (»Siebengesang des Todes«, Textstufe 2 D, ITA IV.1, 144 f.). In diesen Gedichten werden apokalyptische Untergangsszenarien zwar aufgerufen, eine Erlösung respektive etwas Neues bleibt jedoch ausgespart – Verfall und Untergang auf Dauer gestellt.

Verfallene Sterne als kühne Metapher Mit den zitierten fallenden Sternen greift Trakl ein Bild auf, das um die Jahrhundertwende durchaus geläufig war, so in Hofmannsthals »Manche freilich …« (1896) (»Stum-

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mes Niederfallen ferner Sterne« [Hofmannsthal 1979, I, 26]) oder in Kurt Heynickes Gedichtband Rings fallen Sterne (1917). Bei Trakl findet sich jedoch eine Sonderform, die sich durch eine differente Zeitlichkeit auszeichnet. Die Sterne fallen nicht, sie sind verfallen. Was für Konsequenzen dies für die Interpretation Traklscher Lyrik hat, kann exemplarisch an den Endversen aus »An den Knaben Elis« gezeigt werden: »Auf deine Schläfen tropft schwarzer Tau, / das letzte Gold verfallener Sterne« (ITA II, 432). Der in dem Gedicht abgesetzte Vers bildet eine Schlussstrophe und evoziert das Bild eines Endes, es wird das ›letzte Gold‹ aufgerufen. Gleichzeitig sind die Sterne, von denen dieses Gold ausgeht, bereits verfallen. Ob sich hier nun die Lesart anbietet, ›verfallen‹ als ›untergegangen‹ zu lesen oder als ›vergangen‹ im Sinne einer Auflösungserscheinung, lässt sich nicht eindeutig aufschlüsseln. Zu dieser Uneindeutigkeit gesellt sich ein Paradoxon. Auch wenn der letzte Vers typographisch abgesetzt ist, legt das Komma nahe, diese zwei Verse auf irgendeine Art zusammenzulesen. Doch wie? Ist der letzte Vers als eine Apposition zum ›schwarzen Tau‹ zu verstehen? Dann läge hier ein Bildbruch vor: Der schwarze Tau würde eine nähere Erläuterung durch das ›Gold‹ erfahren. Mit Kemper kann hier der Terminus der ›kühnen Metapher‹ als Beschreibung der Verfahrensweise dienen (vgl. Kemper 1970, v. a. 179). Ausschlaggebend für die kühne Metapher ist, dass sie jeweils nur um ein Geringes von der wahrnehmbaren Realität abzuweichen scheint: Auf das obige Beispiel übertragen, ließe sich der ›schwarze Tau‹ als ›letztes Gold‹ als kühne Metapher beschreiben. Es ist gerade der eher unauffällige Bruch zwischen den zwei Bildbereichen – zwischen Schwarz und Gold –, der kaum noch eine semantische Schnittmenge erkennen lässt, der Aufmerksamkeit fordert und den Eindruck der Widersprüchlichkeit verstärkt (vgl. Weinrich 1963, S. 335). Auch die ›verfallenen Sterne‹ lassen sich als kühne Metapher lesen. Das zeitliche Paradoxon fällt nicht sogleich ins Auge, weil die sinnlich wahrnehmbare Realität zumindest ›fallende Sterne‹ in Form von Sternschnuppen oder Ko-

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meten kennt, aber ›verfallene‹ kennt sie nicht. So wird die Aufmerksamkeit auf die Frage gelenkt, was gehört in diesen Versen eigentlich zusammen? Wird der letzte Vers nicht als Apposition verstanden, bieten sich weitere Interpretationsmöglichkeiten: Er kann als eine expressionistische Reihung gelesen werden, dementsprechend würde sowohl schwarzer Tau als auch das Gold bereits verfallener Sterne auf eine Schläfe tropfen. Liest man die Wirkung des Kommas dagegen weniger stark, ließe sich der letzte Vers auch als Schlussakt verstehen, der schlicht keinen unmittelbaren bildlogischen Zusammenhang mit dem vorherigen Vers aufzuweisen braucht; und gleichsam mit den untergegangenen Sternen auch dem Gedicht einen Schlusspunkt setzt. Das Entscheidende ist jedoch, dass das Gedicht diese Lesarten auf der syntaktischen Ebene schließlich in der Schwebe hält. Eine Besonderheit Traklscher Konstruktion kann hier festgehalten werden, die sich auf das Gesamtwerk übertragen lässt: Seine Texte bewegen sich zwischen bildlogischer Widersprüchlichkeit (z. B. als kühne Metapher) und syntaktischer Überdeterminierung. Mittels der Sterne in ihrer spezifischen textuellen Einbindung werden mehrere Paradoxa auf syntaktischer, semantischer und typographischer Ebene inszeniert. Die mit Sternen verbundenen physikalischen Phänomene ermöglichen Trakl, ein besonderes Paradoxon ganz konkret auszugestalten: von etwas, das zeitlich schon entschwunden ist, kann gleichwohl ein Rest – hier Gold – optisch verbleiben. So setzte sich vor der Jahrhundertwende das Wissen breitenwirksam durch, dass das Licht erkalteter respektive bereits erloschener Sterne aufgrund ihrer Entfernung von der Erde auf dieser trotzdem noch sichtbar sein kann.

Permutation einer obsessiven Struktur Die beiden Verse »Auf deine Schläfen tropft schwarzer Tau, / Das letzte Gold verfallener Sterne« stehen paradigmatisch für eine leit-

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motivische Verknüpfung Traklscher Gedichte, die sich in den Gedichten abzuzeichnen beginnt und spätestens ab 1912 obsessiv durchexerziert wird. ›Stern‹ und ›Stirn‹ respektive ›Schläfe‹ finden sich auffällig oft in einem Gedicht zusammen: »Langsam beugt die heisse Stirne / Sich den weißen Sternen zu« (»In einem verlassenen Zimmer«, ITA I, 264), »Sterne suchen nachts, Karfreitagskind, / Deinen Stirnenbogen« (»An die Schwester«, Textstufe 7 D, ITA II, 282), »Die kalte Schläfe, / Mit fallenden Sternen / Schneeige Nacht« (»Abendland« [II], Textstufe 5 T, ITA IV.1, 253). Lässt sich im obigen Beispiel aus »An den Knaben Elis« noch eine nach unten zu verfolgende Richtung der Sterne / Tau zur Schläfe hin – die Sterne als der Stirn Externes begreifend – beobachten, weichen solche gerichteten Bewegungsdynamiken immer mehr auf bis hin zur Aufhebung jedweder Trennung von Stern und Stirn und ihrer Permutation. In »Offenbarung und Untergang« heißt es schließlich: »Aufflackert ihr Sterne in meinen gewölbten Brauen« (ITA IV.2, 69) – ›Brauen‹, die schließlich ihre Korrespondenz im »Sternengewölbe« (ITA IV.2, 70) finden. Laura Cheie bezeichnet diese »Annäherung menschlicher Züge an Konstellationen«, die sich bis hin zur Deckung von Körperkonturen und Sternenbahnen erstrecken können, als eine »obsessive Struktur« Traklscher Lyrik (Cheie 2004, 81). In einer Vorstufe von »An die Schwester« findet sich denn auch der Vers »Die Sterne deiner Schläfenbogen« (ITA II, 277).

Schicksalszeichen Dieser Verschmelzung steht gleichzeitig das Phänomen ›persönlicher‹ Sterne gegenüber. Die Verbindung von Stern und Possessivpronomina kann als eine weitere Konstante innerhalb des Stern-Komplexes in Trakls Werken ab 1909 bezeichnet werden. So »[w]andelt« in der zweiten Fassung von »Im Dunkel« »mit seinen Gestirnen der Einsame« (ITA IV.1, 147); analoge Personalisierungen finden sich auch im »Kaspar Hauser Lied«: »Nachts blieb er mit seinem Stern

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allein« (ITA III, 325), oder in »Afra« (Textstufen 3 H, 4 D, 5 D): »Wenn ihre Sterne durch sein Blut gespenstern« (ITA III, 123). Diese spezifische Prägung der Verbindung von Mikround Makrokosmos suggerieren, wie bereits die hier aufgezählten Gedichttitel nahelegen, einen latenten Zusammenhang zwischen dem Phänomen der Possessivpronomen und einem apostrophierten lyrischen Subjekt. Mit dem Saturn, dem einzig konkret benannten Planeten in der Traklschen Textwelt, lässt sich ein Komplex ›individueller‹ Schicksalszeichen ausmachen, exem­ plarisch in »Trübsinn« (»Am Abend wieder über meinem Haupt / Saturn lenkt stumm ein elendes Geschick«, ITA II, 95), in »Verwandlung des Bösen« (»Aber durch die Mauer von Stein siehst du den Sternenhimmel, die Milchstraße, den Saturn; rot«, ITA III, 290) und in »In Milch und Öde … « (»In Milch und Öde; – dunkle Plage / Saturn lenkt finster deine Stund«, ITA II, 60). Wie bereits der Titel »Trübsinn« nahelegt, lässt sich der Saturn in diesen Gedichten als Verweis auf den Melancholiekomplex lesen, der einerseits aus der Verfallssymbolik der Décadence-Zeit und der Rezeption Baudelaires gespeist wird (vgl. Benzenhöfer 1990), andererseits die Verbindung von Ästhetik und Melancholie anspielt (vgl. Klibansky/Panofsky/Saxl 1964). Cheie sieht in dieser Verbindung von »Sternzeichen« und »Schicksalszeichen« eine »transzendentale Konkordanz« von Mensch und Himmelskörper (Cheie 2004, 79). Verbindet man die Überblendung von Stern und metonymisch aufgerufenem Menschenkörper mit dieser Lesart von Stern- als Schicksalszeichen, schreibt sich die zu lesende Sternkonstellation als Schicksalsschrift ins menschliche Antlitz ein und lässt im Fall der Sternen-Schläfenbogen die menschlichen Züge selbst zu Sternbildern werden, die für das eigene Schicksal gedeutet werden können. Gerade für die mittlere bis späte Schaffensperiode macht Cheie eine allgemeine »bildgenerierend[e]« Vorstellung eines »Parallelismus zwischen der menschlichen Gestik und den Bewegungen von Sonne und Mond« aus (Cheie 2004, 89).

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Spiegelung Ein weiterer Motivkomplex deutet sich in der spiegelnden Wasser- bzw. Weiheroberfläche und dem gestirnten Himmel an. Exemplarisch dafür die letzten Verse von »Geistliche Dämmerung« (Textstufe 4 D): »Auf schwarzer Wolke / Befährst du trunken von Mohn / Den nächtigen Weiher, / Den Sternenhimmel. / Immer tönt der Schwester mondene Stimme / Durch die geistliche Nacht« (ITA III, 76). Diese Verse stehen symptomatisch für Trakls Umgang mit der Spiegel-Stern-Mond-Motivik und erlauben Rückschlüsse auf allgemein poetische Verfahrensweisen, die sich durch seine Texte ziehen. So verweist die ›geistliche‹ Nacht bereits auf eine ›andere‹ Nacht, wortwörtlich ist sie vermutlich nicht zu verstehen. Dass es hier um eine veränderte Wahrnehmung von Raum und Zeit geht, verdeutlicht der rauschauslösende Mohn, die Überblendung von Weiher und Sternenhimmel sowie das präsentische Verb ›befährst du‹, das auf die verzeitlichte wie entzeitlichte (da ›immer tönende‹) mondene Stimme trifft. Die Sterne respektive der Mond verdoppeln sich in der Spiegelung der Wasseroberfläche. Deutlich lässt sich die Tendenz erkennen, nicht nur Himmels- und Menschenkörper, sondern auch irdischen und überirdischen Raum topographisch übereinanderzulegen. Diese Ununterscheidbarkeit räumlicher und zeitlicher Sphären trifft sich im Motiv des nächtlichen, spiegelnden Weihers, der simultan Irdisches und Überirdisches in einem bewegten Bild vereint und zu einer Auflösung entscheidbarer bildlogischer Zuordnungen beiträgt (vgl. Buhr 1990, 200 f.). In der westlichen Tradition steht die Wasseroberfläche als Spiegelmotiv (Narziss) für die Reflexion und Selbst(be)spiegelung und damit für die Visualisierung innerer Regungen. Die Wasseroberfläche eröffnet gleichzeitig auch mit ihrem darunterliegenden Abgrund einen magisch-mystischen Raum, der eben nicht mehr nur mimetischer Abdruck ist, sondern auch Abgebildetes transformiert, räumlich Entferntes nebeneinanderstellt oder gar überblendet. So

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ordnet sich dieser Logik das Motiv des Kahns ein, der mal als Bild des Sichelmondes zu lesen ist, aber ebenso als wortwörtlicher Kahn, der nun im spiegelnden Wasser, gleichfalls durch dieses in den gestirnten Himmel versetzt zu sein scheint – wie in den oben bereits zitierten Versen aus »Siebengesang des Todes«: »Auf schwärzlichem Kahn fuhr jener den mondenen Fluß hinab, / Purpurner Sterne voll« (ITA IV.1, 144). Ob Irdisches dabei verstirnt oder Gestirntes zu Irdischem wird, lässt sich nur schwer entscheiden. Die Dynamik der Überblendung wird dabei immer wieder durch die Geste des Neigens und Beugens begleitet (wie die zitierten Verse aus »Sebastian im Traum« und »Untergang« [3 T] zeigen). Diese Kippmomente erfahren durch das Trakl-typische Assonanz- und Alliterationsspiel – von Mond, Mund und Mohn sowie Stirn und Stern – eine eminente Verstärkung, so in »Verklärung«: »Stille wohnt / An deinem Mund der herbstliche Mond, / Trunken von Mohnsaft dunkler Gesang« (Textstufe 3 T, ITA III, 342). Nach Erich Bolli verbinden diese »Klangwiederholungen« die »disparaten Wortinhalte«, bringen »Nächstes und Fernstes, Bekanntes und Unbekanntes« (Bolli 1978, 74) zusammen – wobei hier Immanentes und Transzendentes zu ergänzen ist. Auffällig bei dieser Parallelsetzung von Irdischem und Himmelskörpern ist ihr stets metonymischer Charakter. Nicht der Mensch als Ganzes setzt sich in Trakls Gedichten in Bezug zu den Bestandteilen des gestirnten Himmels oder vice versa. Vielmehr handelt es sich immer um Teile seines ›Antlitzes‹ – ein weiteres Trakl-Wort, welches im näheren Umfeld von Stern und Mond anzutreffen ist, etwa in »Romanze zur Nacht«, in »Anif« oder in der ersten Fassung von »Passion«. Dass hier also in einer durch den spiegelnden Weiher hervorgerufenen rauschhaft-traumhaften Sphäre mehrerer Übergänge (von Tag zu Nacht, von Irdischem und Kosmischen, von Himmelsund Menschenkörpern) und Überblendungen das dissoziierte lyrische Subjekt auf die Makrostruktur schlechthin – den Sternenhimmel – trifft, lässt sich als letzter Versuch einer – wenn auch virtuellen – harmonisch-kosmischen Einheitsphantasie lesen. Diese wird jedoch zugleich

S.-C. Hartisch

final verabschiedet: »Zeichen und Sterne / Versinken leise im Abendweiher« (»Elis«, Textstufe 6 D, ITA II, 455). Mit dem Befund lässt sich die zuvor gemachte Beobachtung, dass es Trakl nicht um bestimmte Sternbilder geht, interpretatorisch wenden: Nicht konkrete Sternkonstellationen, sondern Zeichen-Konstellationen scheinen in Trakls Dichtung ausgestellt zu werden. Die Nähe von Zeichen und Sternen zeigt sich auch in »Anif«: »O, ihr Zeichen und Sterne« (ITA III, 331). Es ist vor allem Károly Csúri zu verdanken, die Himmelskörper, wenn auch mit Fokus auf den Mond, als eines der wichtigsten Konstruktionsprinzipien des Traklschen Œuvres ausgemacht zu haben (vgl. Csúri 2011). Er betont einerseits ihre Funktion, apokalyptische Untergangsszenarien anzukündigen und diese zu begleiten. Andererseits stehen sie aber paradigmatisch für den Wechsel vom Tag zur Nacht; für die Dämmerung, die bei Trakl weniger als Prozess eines Übergangs von Licht zu Dunkelheit, Wirklichkeit zu Unwirklichkeit fungiert, sondern diesen stets präsent und dadurch in der Schwebe hält. Csúri liest jedoch vor allem den Mond und das Mondene mit dem Schuldkomplex eines gespaltenen lyrischen Subjekts zusammen. Er stellt fest, dass in Trakls später Schaffensperiode die unterdrückten, aber stets vorhandenen Schuldgefühle eines lyrischen Subjekts entweder direkt, motivisch oder intratextuell mit dem Mond(enen) in Beziehung zu bringen sind, der selbst wiederum an verschiedene Imaginationsfiguren – zumeist der Schwester – gekoppelt ist. »Ruh und Schweigen« beginnt mit »Hirten begruben die Sonne im kahlen Wald. / Ein Fischer zog / In härenem Netz den Mond aus frierendem Weiher« und endet mit der Strophe: »Wieder nachtet die Stirne in mondenem Gestein; Ein strahlender Jüngling; / Erscheint die Schwester in Herbst und schwarzer Verwesung« (Textstufe 4D, ITA III, 251 f.). Die strukturanalog aufgebauten Strophen (7–3–8 Verse) rufen Bekanntes in Erinnerung: Überblendung der himmlischen und irdischen Sphäre, Untergang und Verfall und eine eigentümliche grammatikalische Uneindeutigkeit in den letzten zwei Versen; wer

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erscheint hier wem? Oder erscheint der Jüngling als Schwester? Für Csúri entscheidend ist die Analogie von aufgehendem Mond bzw. die Erscheinung der Schwester, zwei Bilder, die er zueinander in Beziehung setzt, und daraufhin den Mond als Repräsentationsfigur der Schwester liest (vgl. Csúri 2016, 183–186). Der biographische Hintergrund der vermutlich inzestuösen Beziehung von Georg Trakl und seiner Schwester Margarethe führt Csúri zu der Annahme, dass über das Mondene in Trakls gesamter Dichtung stets die Schwester und damit auch das Schuldigwerden eines Ichs thematisiert wird. Wüsste man um diese Verbindung zwischen dem Mondenen und der Schwester nicht, die Csúri aus einzelnen Gedichten (wie »Ruh und Schweigen«, »Geistliche Dämmerung«) extrahiert und auf andere, wie »Verklärung« bezieht, ließe sich diese Interpretation schwerlich aufrechterhalten, denn weder ruft »Verklärung« die Schwester auf noch gibt es Hinweise auf einen Schuldkomplex. Der Beobachtung, dass die Schwesterfigur des Öfteren in Gedichten mit dem Mondenen verbunden ist, eine »mondene Stimme« besitzt (ITA III, 76), ist jedoch zuzustimmen. Auffällig ist, dass im Gegensatz zu den Sternen, die so gut wie nie adjektiviert werden, sich das »Mondene« in vielen Varianten finden lässt: »mondene[] Augen« (ITA II, 433), »mondenes Antlitz« (ITA IV.1, 76), »mondene Füße« (ITA IV.2, 69). Was sich noch relativ naheliegend als ›von mondbeschienen‹ lesen lässt, verliert sich in dem Kompositagebrauch, der die »Sterne« auszeichnet: »Sternenträume« (ITA III, 420), »Sternenhemd« (ITA III, 368), »Sternenreise« (ITA IV.2, 318), »Sternenweiher« (ITA III, 290) etc. Mit diesen Beispielen schließend, lässt sich konstatieren, dass die Komposita bereits ebenjene Überblendung unterschiedlicher Sphären auf der Wortebene vollzogen haben, die als ein grundlegendes Verfahren der Stern-MondNachtmotivik bereits exemplifiziert wurde. Strukturell findet sich dieses Bild auch in der

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(zeitlichen) Zwischensphäre der Dämmerung wieder, die als medialer Zeit-Raum im Gedicht fungiert, in welchem Innen- und Außenwelt, Irdisches und Gestirntes, Mythisches und Individuelles gleichzeitig präsent werden, der jedoch selten wirklich zyklisch strukturiert ist, sondern in einem Untergang mündet oder gar Exzeptionelles akzentuiert: Es ist schließlich das ›letzte Gold verfallener Sterne‹.

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Körper Marlen Mairhofer

Der Körper bildet einen zentralen Motivkomplex in Trakls Texten – das zeigt schon ein flüchtiger Blick in das Gesamtwerk, in dem sich einschlägige Substantive sowie Bewegungsverben häufen, während Trakls dramatische Fragmente anhand der Stoffwahl (Blaubart, Don Juan) erkennen lassen, dass die Figuren intensive (mitunter sexuelle) physische Gewalt erfahren. Wie Trakls Farbsymbolik verfügen auch seine Körperbilder nicht über konstante, kontextunabhängige Bedeutungen, die, einmal dechiffriert, einen Schlüssel zum Werk bieten würden; vielmehr konstruiert und dekonstruiert sich der Körper fortwährend neu (vgl. Glimois 2004, 227). Die Dynamik, die dabei entsteht, geht über eine rein motivische Affinität zum Körper hinaus, sie hat auch eine poetologische Dimension (vgl. Esselborn 1981).

Literaturhistorischer Kontext und zentrale Einflüsse Obwohl Trakl starb, »ehe sich eine Eigendynamik der Epoche […] herausbilden konnte« (Knapp 1979, 35), und er in der Literaturgeschichte als Vorreiter bzw. früher Vertreter

M. Mairhofer (*)  Salzburg, Österreich

des Expressionismus geführt wird, dessen stilistische Ausdifferenzierung erst nach seinem Tod erfolgt (vgl. Vietta/Kemper 1985, 13), teilt Trakl den geistesgeschichtlichen Horizont der Expressionisten: Sprache und Subjekt erweisen sich um 1900 als krisenhaft und fragmentiert, der Einzelne steht zwischen Allmachts- und Ohnmachtsphantasien, Religion und Technik, Utopie und Dystopie. Philosophen und Psychoanalytiker wie Friedrich Nietzsche, Sigmund Freud, Henri Bergson und Otto Wei­ ninger verändern den Blick auf den Menschen und das Sprechen über Sexualität nachhaltig. Neben ihnen zählen die französischen Symbolisten (insbesondere Charles Baudelaire, Arthur Rimbaud und Paul Verlaine) zu Trakls literarischen Einflüssen; außerdem die Stoffe der griechischen Mythologie und der Bibel (vgl. ITA I, 15–20). In der expressionistischen Kunst besetzt der Körper häufig die Position des Abjekten, geistiger und körperlicher Verfall des Menschen werden auf groteske Weise ausgestellt. Die Körpersprache der ›Geisteskranken‹, wie sie sich auf den Fotografien der ›Hysterikerinnen‹ der Salpêtrière inszeniert, und die zunehmende Popularität des freien Ausdruckstanzes bilden wichtige ästhetische Bezugspunkte für Literatur und Malerei (vgl. Cheie 1997, 8, 12 f.). In Trakls Werk findet das Motiv des Tanzes v. a. in die »Sammlung 1909« und den Dialog »Aus goldenem Kelch. Maria Magdalena« Eingang. ­ Wolfgang

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_85

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Rothe geht davon aus, dass Trakl sich des Tanzes »in jener existenziell unverbindlichen Redeweise [bedient], wie sie während der ausgehenden Jugendstilzeit vorherrschte« (Rothe 1979, 81). Laura Cheie betont, dass Trakl »die aufkommende Kultur der Körpersprache« auch dann »auf eigene Art bestätigen« würde, wenn sie »nicht direkt an die vor allem Wienerische Bewegungsästhetik seiner Zeit gebunden werden« könne (Cheie 1997, 20). Obwohl Trakl in der Wahl seiner Motive (Armut, Krankheit, Wahn, Rausch, Gewalt, Verfall und Verwesung), seiner Figuren (den Dichtern, Tänzern, Tätern und Kranken, die Rothe typische ›Gestalten des Expressionismus‹ nennt, vgl. Rothe 1979) und in den späten Gedichten auch stilistisch durchaus Dichter seiner Zeit ist (Thomas Anz bringt Trakls Gedicht »Delirium« als Beispiel für den Reihungsstil, vgl. Anz 2010, 88), so unterscheidet er sich in der Art und Weise der Körperdarstellung doch deutlich von Expressionisten wie Gottfried Benn. Zwar erscheinen Körper auch in Trakls Texten als fragmentiert; der Blick, über den sie vermittelt werden, entspricht jedoch nicht dem eines distanzierten oder gar zynischen Pathologen. In der Darstellung vom Krieg versehrter Körper in »Grodek« schockiert Trakl weniger durch drastische Beschreibungen der verwundeten Leiber (»zerbrochene[] Münder«, »blutende[] Häupter«, ITA IV.2, 338) als durch den Gegensatz zwischen der Schönheit der Landschaft und dem, was sich vor ihrem Hintergrund ereignet. Die Grenzen zwischen Lebenden und Toten, Subjekten und ihrer Umwelt bleiben stets durchlässig, wie anhand der Prävalenz des »Schattens« (nach »Nacht« das am häufigsten verwendete Substantiv, vgl. Wetzel 1971, 813) deutlich wird. Neben den kultur- und literaturhistorischen Körperdiskursen ihrer Entstehungszeit sind Trakls Texte auch wesentlich von eigenen Körpererfahrungen inspiriert. Drogeninduzierte Rauschzustände, psychische Dispositionen (Weichselbaum berichtet etwa von einer Abneigung gegen allzu große räumliche Nähe anderer Menschen, vgl. Weichselbaum 2014, 71) und der Kriegseinsatz im letzten Lebensjahr prägen Trakls Lite-

M. Mairhofer

ratur. Zahlreiche Empfindungen, die darin zur Sprache kommen, treten auch beim Konsum bestimmter Suchtgifte auf, so etwa synästhetische und intensivierte Wahrnehmung der Umwelt und ihrer Farben, ein verändertes Raum- und Zeitgefühl, Halluzinationen und Depersonalisation (vgl. Kemper 2014, 46–58). Hans-Georg Kemper weist darauf hin, dass viele heute als Drogen gehandelte Opiate zu Trakls Lebzeiten als legale Medikamente oder als Zusatzstoffe in Genussmitteln eingesetzt wurden und neue Erkenntnisse der Rauschmittelforschung »zentrale Kategorien des traditionellen Menschenbildes verschoben« (ebd., 32). Trakls Literatur ist also auch vor dem Hintergrund medizingeschichtlicher Umbrüche zu lesen. Sinneswahrnehmungen sind in Trakls Texten oft bis an den Rand des Erträglichen gesteigert. Optische, olfaktorische und akustische Eindrücke können zu sensorischer Überforderung führen, Berauschung auslösen oder durch diese intensiviert werden und das (lyrische) Ich damit ebenso verstören wie euphorisieren. Neben dem Rausch wendet sich Trakls Dichtung auch anderen Zuständen zu, in denen sich der Körper der Kontrolle der Vernunft nach und nach entzieht, wie dem Traum, dem Wahnsinn oder der Müdigkeit (vgl. ebd., 214). Der Überfülle der Sinneseindrücke stehen Störungen der Wahrnehmungsund Ausdrucksfähigkeit wie Erblinden (vgl. Wetzel 1971, 74 f.) und Verstummen (vgl. ebd., 641) gegenüber.

Motivik Wiederholung und Variation von Motiven, Begriffen und Formulierungen zählen zu den Charakteristika von Trakls Arbeitsweise. Dieses Verfahren führt zu einem begrenzten Bestand an Körperpartien, deren Bezeichnungen Trakl kaum variiert. Räumlich betrachtet verteilen sich diese Körperstellen nicht über die Gesamtheit der menschlichen Physis, sondern fokussieren bestimmte Zonen. Der Großteil einschlägiger Substantive bezieht sich auf den Kopf, Trakl spricht meist von der »Stirn« (106) (in Klammer die Häufigkeit der Nen-

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nung nach Wetzel, vgl. Wetzel 1971, 813– 818). Es folgen »Antlitz« (105), »Haupt« (83), »Schläfe« (38), »Gesicht« (25) und »Wange« (18). Das »Auge« (126) als wichtigstes Sinnesorgan befindet sich ebenso im Bereich des Kopfes wie »Mund« (73), »Haar« (49), »Lid« (49), »Braue« (12) und »Ohr« (12). Daneben zählen »Hand« (109) und »Fuß« (24) zu den vielfach genannten Körperteilen; immer wieder greift Trakl auch auf den nicht weiter spezifizierten »Leib« zurück (33). Dem Kopf als Sitz der Ratio einerseits und der sinnlichen Wahrnehmung andererseits steht der »Schoß« (28) als Ort des Ursprungs von Schmerz (»Im Schoß der Bäurin wächst ein wildes Weh«, »Im Dorf«, ITA II, 412) und sexueller Lust (»In süßen Qualen brennt dein Schoß«, »Metamorphose«, ITA I, 98) gegenüber. Kristell Glimois teilt die wiederkehrenden Körperpartien in fünf Gruppen: Kopf, Arm, Inneres, Schoß und Gerippe (vgl. Glimois 2004, 204). Obwohl Glimois »Inneres« als eigene Kategorie nennt, verbleiben Trakls Beschreibungen überwiegend auf der Körperoberfläche. Das häufig genannte »Herz« (108), das Glimois dem Inneren zuordnet, weckt aufgrund seines Symbolcharakters weniger organische Assoziationen als die wesentlich selteneren »Eingeweide« (3). Eine Ausnahme bildet »Blut« (87), das die Schwelle zwischen Körperinnerem und Außenwelt potenziell überschreitet (wie auch der gelegentlich genannte »Odem«, 15). Michel-François Demet schreibt dem Blut bei Trakl drei wesentliche Eigenschaften zu: Es stehe im Spannungsfeld von Anziehung und Abstoßung, sei stets in Dynamik begriffen (da es als fließend, fallend usw. dargestellt wird), und es sei der Ort, an dem sich das Böse (in Form negativ konnotierter Sexualität) manifestiere (vgl. Demet 1991, 170). Darüber hinaus verweist das Blut auch auf den Bildbereich des Christentums (Transsubstantiation, bildliche Darstellungen des blutüberströmten Körpers Jesu), dem Trakl immer wieder Figuren und Motive entnimmt – der Einfluss christlicher Schmerzensästhetik auf Trakls Körperdarstellungen verdiente eine genauere Untersuchung.

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Besonders deutlich wird die Ambivalenz des Bluts in Trakls Puppenspiel-Fragment »Blaubart«. Die erotische Fantasie Blaubarts ist unweigerlich eine Gewaltfantasie, in der die sexuelle Inbesitznahme seiner Frau Elisabeth in der »Blutbrautnacht« (ITA I, 335) mit der Vernichtung ihres Körpers einhergeht: »Doch soll ich dich Kindlein ganz besitzen – / Muß ich, Gott will’s den Hals dir schlitzen! / Du Taube, und trinken dein Blut so rot / Und deinen zuckenden, schäumenden Tod! / Und saugen aus deinem Eingeweid / Deine Scham und deine Jungfräulichkeit« (ebd., 349 f.). Alfred Doppler weist darauf hin, dass Sexualität »bei Trakl […] eine besondere Form männlicher Gewalttat« sei (Doppler 1997, 381). Die Wendung »blutige« bzw. »blutbefleckte Linnen« findet sich mehrmals in Trakls Werk und ruft sowohl Konnotationen von Sexualität und Gewalt auf (»Die junge Magd«), als auch solche von Gewalt und Krankheit bzw. Gewalt und Religion (»Winterdämmerung«, »Drei Blicke in einen Opal«). Doppler bringt Trakls literarischen Umgang mit Sexualität mit den Thesen Otto Weiningers in Verbindung: »Da Blaubart und Don Juan den Weg der Askese (wie Weininger ihn vorsieht) nicht zu gehen vermögen, werden sie zu Mördern; die Sexualität wird so zur Schuld des Mannes an der Frau« (Doppler 1997, 382). Obwohl in der überwiegenden Mehrheit der Texte Trakls männliche Figuren als (sexuelle) Aggressoren auftreten (Don Juan im dramatischen Fragment »Don Juans Tod«, der Knecht in »Die junge Magd«), bietet sich Blaubarts Braut Elisabeth ihrem Gatten der Regieanweisung zufolge »wie verzaubert« (ITA I, 348) in einer Art Blutrausch dar, und Maria Magdalena stellt die »Verzückungen ihres Körpers« (ebd., 77) im Tanz ohne Scham zur Schau, ehe sie Jesus begegnet. Den Lustmördern stehen zahlreiche Knabenfiguren (Sebastian, Elis, Helian, Kaspar Hauser) gegenüber, die zwar keineswegs unsinnlich, aber insofern unschuldig sind, als sie keine Gewalt ausüben. Dem versehrten Körper kommt in Trakls Dichtung viel Raum zu. Tod, Schmerz, Krankheit und Verfall bedrohen und formen die Physis der Figuren: Sie »verwesen« (»Im Dorf«,

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»Föhn«, »Traum des Bösen«, »Allerseelen«), sind (wie) »Aas« (»Die junge Magd«), »Gebein« (»Drei Blicke in einen Opal«) und »Gerippe« (»Föhn«), »menschliche Ruinen« in einer »Schädelstätte« (»Psalm« [I]) oder ein »Ungebornes« (»Heiterer Frühling«, »Allerseelen«). Dennoch können sie im Zustand zunehmender Entkörperung zu Akteuren werden: »Die tote Rahel geht durchs Ackerland« (»Der Spaziergang«, ITA I, 530), »leise rührt des toten Freundes Hand / Und glättet liebend Stirne und Gewand« (»Trübsinn«, ITA II, 96). Die »Ästhetik des Schmerzes« (Hermann 1998, 175) in Trakls Werk beschäftigte schon Martin Heidegger: »Alles Beseelte ist […] nicht nur schmerzlich gut, sondern einzig auf diese Weise auch wahrhaft; denn kraft der Gegenwendigkeit des Schmerzes kann das Lebende sein Mitanwesendes in seiner jeweiligen Art verbergend entbergen« (Heidegger 2018, 58). Iris Hermann weist darauf hin, dass Schmerz bei Trakl auch deshalb ambivalent sei, weil er »von den agierenden Figuren [gerade da] erlitten [wird], […] wo sie ihn anderen zufügen« (Hermann 1998, 184). Selbst Lachen und Lächeln dienen nur selten dem Ausdruck von Freude. »[F]rohes« (»Helian«, ITA II, 257) und »purpurnes Lachen« (»Abend in Lans«, ITA III, 208) bilden hier Ausnahmen; meist sind Lachen und Lächeln negativ konnotiert (»du lächelst oft beklommen«: »Frauensegen«, ITA I, 436; »kränkliches Lächeln«: »In Venedig«, ITA IV.1, 212) oder explizit bedrohlich: »Der Mörder lächelt bleich im Wein« (»Romanze zur Nacht«, ITA I, 492), »Ein böses Herz lacht laut in schönen Zimmern« (»Menschliche Trauer«, ebd., 466), »O dein Lächeln im Dunkel, traurig und böse, daß ein Kind im Schlaf erbleicht« (»Verwandlung des Bösen«, ITA III, 289). In engem Zusammenhang mit dem Körper steht das Motiv des Spiegels. An die Augen und den Blick gebunden, dient er der »Selbstprüfung und Selbstbegegnung« (Schneider 1954, 101) wie der narzisstischen Reflexion. Zeigt der Spiegel nur einen Ausschnitt, birgt er die Gefahr, zu einer Fragmentierung des Körpers beizu-

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tragen, die bis zum Ichverlust führen kann. Als »Schnittpunkt sich kreuzender, antagonistischer Linien« (Hermann 1998, 178) garantiert er kein naturgetreues Abbild, »sondern bewirk[t] vor allem Ana- und Metamorphosen« (ebd., 180). Andrew Webber differenziert drei Formen von Begehren, denen der Spiegel Raum biete: »for sexual encounter, for ›reflection‹ on the self, and for textual figures. Sexual desire, the desire for an integral sense of self, and the desire for poetic authenticity are all at stake when the mirror is under threat« (Webber 1990, 36). Dies ebnet den Weg für psychoanalytische Lesarten, insbesondere unter Bezug auf Jacques Lacans Theorie des Spiegelstadiums (vgl. Webber 1990, 40; Hermann 1998, 176).

Literarische Verfahren der Körperdarstellung Wie anhand der Motivwahl ersichtlich, erscheint der Körper in Trakls Werk nicht als kohärente Entität, sondern fragmentiert und »amorph« (Hermann 1998, 187). Dass Trakls Lyrik trotz Nominal- und Reihungsstils den Eindruck des Dynamischen vermittelt, liegt an der Prävalenz von Bewegungsverben und -substantiven. Sie dienen einerseits dazu, (menschliche) Körper im Raum darzustellen, wenngleich Trakl ihre Position oft als prekär kennzeichnet, wenn sie etwa ›schwanken‹ (vgl. Wetzel 1971, 558; vgl. Glimois 2004, 210–212). Andererseits schreibt Trakl Bewegungen, die in der Regel mit Menschen oder Tieren assoziiert werden, auch nichtmenschlichen Akteuren zu. Nicht nur Tiere, Menschen und Pflanzen ›taumeln‹, ›stürzen‹ oder ›fallen‹, auch »Sterne«, »ein Weiheklang« oder »ein Brunnen« (Wetzel 1971, 169 f.). In »Die Raben« »verzückt [sich]« ein Acker (ITA I, 396); »Das sanfte Korn schwillt leise und verzückt«, »Knospen knistern heiter« und »Der Wald strömt durch den Abend« (»Heiterer Frühling«, ebd., 452 f.); »Dann hebt ein Baum vor dir zu kreisen an« (»Der Spaziergang«, ebd., 529); »Aus braunen Mauern tritt ein Dorf, ein Feld« (»Im Dorf«, ITA II, 412). Komposita wie

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»Blumenfratzen« (»Drei Blicke in einen Opal«, ITA II, 145) und »Blütenkrallen« (»Die schöne Stadt«, ITA I, 405) heben die Trennung zwischen Kreatur und pflanzlicher Natur gänzlich auf. Auf die Entgrenzung des Körpers in Trakls Texten wurde vielfach hingewiesen. Schon Karl Ludwig Schneider spricht von einer »Umrißschwäche des Menschen bei Trakl« (Schneider 1954, 97), die dieser mittels »Ablösung des Adjektivs vom Merkmalsträger und […] Verselbständigung des Merkmals durch […] Sub­ stantivierung« (ebd., 99) bewirke. Er unterscheidet »zwei Gruppen von Bildern«, deren eine »durchweg auf ein Auslöschen der Körperumrisse ausgeht, die zweite […] die menschliche Gestalt in einem Zustand gespenstischer Starre erscheinen läßt« (ebd., 98). Glimois begreift den Körper als Knotenpunkt von Präsenz und Absenz, der nur selten als kohärente Einheit auftritt. Ganz, wenn auch in unterschiedlichem Grade abstrahiert, ist er lediglich als ›Schatten‹, ›Leib‹ oder ›Gestalt‹ (vgl. Glimois 2004, 205). Anorganisches wird belebt, Organisches erscheint hingegen als aus anorganischen Komponenten zusammengesetzt. Hermann verweist auf die zahlreichen »harte[n] Materialien« (Hermann 1998, 185), die die Körper der Figuren in »Traum und Umnachtung« bilden: so »[versteinert] das Antlitz der Mutter«, die Schwester hat »steinerne[] Augen«, der Knabe einen »steinerne[n] Mund[]« und »metallene[] Schultern«, sein Herz zerbricht »kristallen« (ITA IV.1, 73– 76). Die Hände der Menschen sind »erstarrt[]«, »hart« und »wächsern«, in jenen der Sterbenden blutet das Brot, der Mutter hingegen wird es »zu Stein« (ebd., 76). Trakls Metaphern zeigen den Körper so als »hart, unnahbar, aber auch […] zerbrechlich« (Hermann 1998, 186). Hans Esselborn richtet die Aufmerksamkeit auf eine weitere Funktion des Körpers, die weder rein motivisch ist, noch als literarisches Verfahren bezeichnet werden kann, sondern poetologische Fragen aufwirft. Esselborn zufolge bildet der Körper die Basis für den Rhythmus von Trakls Texten, insofern »Gedichte […] im Rah-

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men der szenischen Sprache als Beschreibung von dramatischen Vorgängen in der dritten Person oder als Äußerungen eines an der Aktion Beteiligten in der ersten und zweiten Person« (Esselborn 1981, 70) aufgefasst werden. Dieser Rhythmus sei das »Ergebnis einer Körperbewegung« (ebd., 69). Unter Bezug auf Heinz Wetzel (Wetzel 1972) spricht Esselborn von drei Phasen in Trakls Dichtung. Das Frühwerk sei von einem – mit Wetzel gesprochen – »kreisende[n] Rhythmus« (ebd., 158) der »zyklische[n] und ungerichtete[n] Bewegungen« (Esselborn 1981, 71) geprägt. Den in der mittleren Werkphase zentralen Bewegungsformen »Neigen und Fallen« entsprächen »rhythmisch offene[] Verse« (ebd.), während der »gebrochene traditionelle Rhythmus der späten Phase« durch »heftige[] Bewegung und dramatische[s] Gegeneinander« (ebd.) charakterisiert sei. Mit der Gründung des Rhythmus auf den Körper steht Trakl Esselborn zufolge in einer lyrischen Tradition, die mit dem frühen 20. Jahrhundert einsetzt und von Hugo von Hofmannsthal über Georg Heym bis zu Bertolt Brecht und Gottfried Benn reiche (ebd., 71 f.).

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Krieg Thomas Traupmann

Lexematisch taucht der Krieg in Trakls Œuvre erstaunlich selten auf. Die Konkordanz führt ihn als einzelnes Substantiv bloß ein einziges Mal an (vgl. Wetzel 1971, 373) und verweist auf die Variante »Krieg und Waffengetümmel vergangener Zeiten« (ITA II, 89) der zweiten Fassung von »Nachtseele« aus dem Frühjahr 1914, die von Trakl dann zugunsten der bereits in der ersten Fassung erwogenen »Blut und Waffengetümmel« (ebd.) wieder zurückgenommen wird. In Derivationen und Komposita begegnet der Krieg etwas häufiger; thematisch und motivisch durchzieht er – semantisch je unterschiedlich nuanciert – ab 1910 das (lyrische) Werk einigermaßen kontinuierlich. Den breitesten Überblick diesbezüglich bietet Krause (2014). Was überhaupt als Trakls Kriegslyrik (oder als Kriegswerk) zu klassifizieren sei, bleibt freilich nicht einfach zu beantworten. In einem simplen Referenzbegehren werden sich die Wirklichkeitsbezüge der Gedichte nicht auflösen lassen, zumal Trakls Texte an einen Nullpunkt des Sprechens – auch vom Krieg (her) – gar nicht erst gelangen möchten (vgl. Christen 2017, 71). Den Überlegungen Csúris, der die Kriegsthematik struktural auf einen »inner-seelischen Konflikt

T. Traupmann (*)  Fachbereich Germanistik, Paris Lodron Universität Salzburg, Salzburg, Österreich E-Mail: [email protected]

des Ichs« reduziert und diesen in einem grundsätzlichen »Doppelprinzip des Untergangs und seiner virtuellen Überwindung« umgesetzt sieht (2019, 28 f.), soll im Folgenden nicht weiter nachgegangen werden.

Kontrastierungen: Zur Kriegssemantik in  Gedichte (1913) 1910 entsteht »Die schöne Stadt« mit der folgenden Strophe: »Zitternd flattern Glockenklänge, / Marschtakt hallt und Wacherufen. / Fremde lauschen auf den Stufen. / Hoch im Blau sind Orgelklänge« (ITA I, 405). Das Gedicht verdeutlicht, inwiefern kriegerische Bilder – auch solche mit melancholischer Grundierung wie die späteren Textstufen von »Heiterer Frühling«, in denen »[s]ein traurig Lied singt träumend ein Soldat« (ITA I, 452) – durch die poetische Sinnlichkeit der (Natur-)Darstellungen relativiert werden. Militärische Motive im Allgemeinen sind in Trakls frühem Werk tendenziell positiv konnotiert (vgl. Krause 2014, 59f.). Kriegssemantik zieht Trakl auch für dezidierte Naturschilderungen bei, wie »der Hummeln Schlachtgetümmel« (ITA I, 361) in »Märchen« zeigt. Gerade anhand der Schlachtmotivik lassen sich allerdings auch erste Brüche in den genannten idyllisierend-ästhetisierenden Bildern festmachen. »An Angela«, wohl im Frühjahr 1912 verfasst (vgl. ITA I, 543), macht die se-

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_86

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mantische Verschiebung im Übergang von der ersten zur zweiten Fassung sichtbar. Das Verspaar »In goldnen Wolken wogt ein Schlachtgewühle / Und Hyazinthnes treibt aus wirren Kressen« (ebd., 552) wird später deutlich negativer konnotiert: »In goldnen Wolken wogt ein Schlachtgewühle / Von Fliegen über Fäulnis und Abszessen« (ebd., 554). Generell lässt sich vor allem an den Texten, die den charakteristischen, ab 1910 zusehends dominanter werdenden Reihungsstil aufweisen, beobachten, dass Trakl Soldaten ohne dezidierten Kriegszusammenhang neutral bis positiv figuriert und diese mit Vorstellungen der Stärke und Reinheit verknüpft, das Motiv der Schlacht hingegen überwiegend negativ codiert bleibt (vgl. Krause 2014, 60). Die beinah nüchterne, weitgehend entkontextualisierte Inszenierung des soldatischen Synonyms der »Wache« erschließt sich in einem Vorgriff auf drei Texte aus dem Jahr 1913 – »In der Heimat«: »Durch blaue Luft der Ruf der Wache klirrt« (ITA II, 426), ähnlich dem Nachlass-Text »Mit rosigen Stu­fen …«: »Stählern klirrt der Ruf der Wachen« (ITA III, 238), sowie »Unterwegs« (II): »Der dunkle Flug der Dohlen; am Platz zog eine Wache auf« (ITA II, 478). Das Jahr 1912 ist für die vorliegenden Zusammenhänge in mehrfacher Hinsicht relevant. Im Oktober dieses Jahres setzt der Erste Balkankrieg ein, womit ein realgeschichtlicher Kriegszustand vorliegt, von dem Trakl als Heeresapotheker zumindest mittelbar betroffen ist (Abb. 86.1). Seine gegenüber Erhard Buschbeck Anfang November brieflich geäußerte Diagnose »Arbeit, Arbeit – keine Zeit – es lebe der Krieg!« (ITA V.1, 231) wird man allerdings nur ironisch lesen dürfen (vgl. Weichselbaum 2016, 135). Ebenfalls in diesem zeitlichen Umfeld verfasst Trakl mit »Menschheit« und »Trompeten« erstmals zwei Gedichte, die die Forschung ausdrücklich und im engeren Sinne als ›Kriegsgedichte‹ (vgl. Bridgwater 1981, 97) klassifiziert hat, wobei insbesondere das letztgenannte als Blaupause der späteren Kriegslyrik gelten kann (vgl. Millington 2020, 104). In »Menschheit« bedient sich Trakl des Reihungsstils und einer eher freirhythmischen Gestaltung, um in

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der ersten Gedichthälfte das »Sinndefizit[]« der Kriegseindrücke hervorzukehren (Krause 2014, 60): »Menschheit vor Feuerschlünden aufgestellt, / Ein Trommelwirbel, dunkler Krieger Stirnen, / Schritte durch Blutnebel; schwarzes Eisen schellt; / Verzweiflung, Nacht in traurigen Gehirnen: / Hier Evas Schatten, Jagd und rotes Geld« (ITA II, 110). Die zweite beinahe durchgängig jambische Hälfte setzt dagegen kontrastiv Abendmahl und Passion Christi. Eine – dann auch formal realisierte – inhaltliche, antithetisch grundierte Zweiteilung lässt sich bei »Trompeten« ebenfalls ausmachen. Seine erste Strophe in der Letztfassung (Textstufe 6 D) lautet: »Unter verschnittenen Weiden, wo braune Kinder spie-

Abb. 86.1  Trakl in Uniform 1912; Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Nachlass Ludwig von Ficker.

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len / Und Blätter treiben, tönen Trompeten. Ein Kirchhofsschauer. / Fahnen von Scharlach stürzen durch des Ahorns Trauer, / Reiter entlang an Roggenfeldern, leeren Mühlen« (ITA II, 191). Eine frühere Variante des dritten Verses ist im Kriegsbezug noch dezidierter: »Scharlachfarben, Marschtakt stürzt durch Staub und Stahlschauer« (ebd., 190). Der letzte Vers der zweiten Strophe greift die Bilder der ersten erneut auf: »Fahnen von Scharlach, Lachen, Wahnsinn, Trompeten« (ebd., 191). Trakls eigener Aussage zufolge ist dieser Vers »eine Kritik des Wahnsinns, der sich selbst übertönt« (ITA V.1, 253). In der ersten Strophe wird das kulturhistorische Bild des Krieges bei aller mythischen Qualität (vgl. Millington 2020, 102) mit einer »starke[n] Gegenwartskomponente« (Michler 2016, 387) versehen, der in der zweiten Strophe eine bukolisch anmutende Szene zur Seite gestellt wird. Insgesamt behält der Krieg eine bedrohliche, gar ›urtümliche‹ Qualität (vgl. Doppler 2001, 75); er widerspiegelt sich auch in den Naturerscheinungen (»verschnittene[] Weiden«, »Ahorns Trauer«). Eine explizite Bezugnahme auf eine zeitgenössische Kriegssituation erfolgt im Text des Gedichtes nicht, man findet eine solche allerdings in den Publikationszusammenhängen: Wie schon »Heiterer Frühling« erscheint nämlich auch »Trompeten« in der vom »Akademischen Verband für Literatur und Musik« in Wien herausgegebenen Zeitschrift Der Ruf, und zwar diesmal in einem Sonderheft zum Thema »Krieg«, das im November 1912 anlässlich des Ersten Balkankrieges publiziert wird. Von einem pazifistischen Vorhaben kann dabei freilich keine Rede sein (vgl. Weichselbaum 2016, 136); eher verschleift das Heft die militärische und die künstlerische Bedeutung und Gestik der Avantgarde (vgl. Michler 2016, 386). Trakl gibt sich brieflich zunächst gegenüber Buschbeck, dem Mitherausgeber der Zeitschrift, etwas unsicher, ob »das Gedicht nicht zu sehr aus dem Rahmen einer kriegerischen Nummer des Rufs [fällt]«, hält dieses aber dennoch für »gut dafür zu verwenden« (ITA V.1, 243). In einem weiteren Brief an Buschbeck äußert Trakl – erfolglos – den Wunsch, sein Gedicht auf der

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letzten Seite des Zeitschriftenheftes gedruckt zu finden, damit »nach der letzten Zeile der geneigte Leser nicht auf die erste Zeile eines kriegerischen Gesanges von Paul Stephan hinübergleitet« (ebd., 245). Doppler (2001, 75) hat diesbezüglich zu differenzieren angemahnt, handle es sich doch hier nicht um Kritik am Krieg per se, sondern an einem überzogenen Kriegspathos. Krieg bleibe für Trakl an diesem Punkt seines Œuvres jedenfalls insgesamt »in der Ambivalenz von möglicher Erneuerung und wahnhafter Extase [sic]«, seine Haltung entsprechend »zwiespältig«. Punktuell greifen auch noch zwei weitere Texte aus dem Band Gedichte von 1913, in dem neben »Die schöne Stadt«, »Heiterer Frühling«, »In der Heimat« und »Menschheit« auch die zitierte, gegenüber dem Ruf leicht überarbeitete Fassung von »Trompeten« abgedruckt wird, die Kriegsthematik auf, stehen allerdings wie das Gros der bisher behandelten Gedichte einem engeren Verständnis von Kriegslyrik eher fern. Der »Psalm« (I), zunächst als zweites von Trakls Gedichten überhaupt im Brenner erschienen, verlagert den Krieg geographisch auf eine »Insel der Südsee« und dort ins Zeremoniell: »Man rührt die Trommeln. / Die Männer führen kriegerische Tänze auf« (ITA II, 24). »Helian« wiederum, neben »Menschheit« ebenfalls im Brenner veröffentlicht, setzt einer solchen, auch sonst in Trakls Œuvre vorhandenen Vorstellung des Krieges als einer maskulin konnotierten, tugendhaften Handlung einen Zustand von Leid, Verlust und Tod entgegen (vgl. Krause 2014, 61 f.): »Am Abend versinkt ein Glockenspiel, das nicht mehr tönt, / Verfallen die schwarzen Mauern am Platz, / Ruft der tote Soldat zum Gebet« (ITA II, 261). Die vormals neutrale bis positive Semantisierung des Soldaten wird damit aufgehoben; außerdem verweist eine Variante auf die Ersetzbarkeit von »Wache« durch »Soldat« (ebd., 253). Der »tote Ruf der Wache« (ITA IV.2, 84) taucht als Variante im Jahr 1914 in »Rote Gesichter …« wieder auf. »Helian« ist überdies unter den Texten Trakls, die Kurt Pin­thus in seine Anthologie Menschheitsdämmerung aufnimmt, der einzige mit Kriegsbezug.

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Verzeitlichung: Der Krieg in Sebastian im Traum (1915) Mit den Gedichten, die 1915 im Band Sebastian im Traum versammelt werden, der auch das schon zitierte »Unterwegs« enthält, differenziert sich die Kriegssemantik bei Trakl weiter aus. Der Soldat kann dann, wie in »Winternacht« von Ende 1913, als Bild des Vergleichs für Durchhaltevermögen dienen (ITA III, 367: »wie ein Soldat, der eine schwarze Schanze stürmt. Avanti!«). Immerhin in materialer Hinsicht ergibt sich ein Bezug zum Kriegsministerium: Das Blatt mit den frühesten Niederschriften von »Winternacht« ist ein zunächst von einem Beamten mit einer Liste von Unterlagen für eine Bewerbung Trakls ebendort beschriebenes Kanzleipapier (ebd., 352). Der »blaue Panzer des Kriegers« (ITA II, 470) wird von Trakl aber auch dem Polemiker Karl Kraus in dem nach ihm betitelten Gedicht zugedacht. »Abendländisches Lied«, ebenfalls von Ende 1913, zieht eine historische Perspektive des Krieges ein über die Anrufung »O, ihr Kreuzzüge und glühenden Martern / Des Fleisches« und den Verweis auf die »Kriegsleute«, die die »frommen Jünger« substituieren (ITA III, 420) und sich durch die schon angedeuteten männlichen Tugenden der Glaubensstärke und der Beständigkeit auszeichnen. Die Szenerie bettet Trakl in »Abendländisches Lied« in eine lineare historische Entwicklung ein, die auf eine apokalyptisch anmutende Endzeitlichkeit zuläuft, wie er sie im Band Sebastian im Traum insgesamt variiert (vgl. Millington 2020, 178 u. 181). Aus dem thematisch nahestehenden »Abendland« (II) sind ferner die »sterbenden Völker« (ITA IV.1, 255) als Verweis auf einen Kriegszustand gelesen worden (vgl. Doppler 2001, 76).

Trakls Gedichte im Angesicht des Ersten Weltkriegs Als dritte große Gedichtgruppe bleibt die Serie von Trakls Veröffentlichungen im Brenner 1914/15 zu untersuchen. Wie Methlagl (1989,

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109 f.) resümiert, wird der Krieg in den Vorkriegs- und Nachkriegsausgaben der Zeitschrift als Leitmotiv ebenfalls thematisch, nicht bloß im Jahrbuch des Brenner, das als einzige Ausgabe während des Ersten Weltkrieges im März 1915 erscheint und mit einem textuellen »Epitaph« für Trakl einsetzt. Dieses bezieht jenen Aphorismus (vgl. ITA IV.2, 323) ein, den Trakl vor seiner Abfahrt mit dem Militärtransport nach Galizien am 24.8.1914 an Ludwig von Ficker überreicht hat. Im Mai/Juni 1914 verfasst Trakl »Das Herz«, das die schon in früheren Gedichten Trakls angedeutete zivilisatorische Krise auf einen Höhepunkt bringt, auf dem Gesellschaftsbeziehungen zum bewaffneten Konflikt degeneriert sind. Der Krieg ist hier in größere historische und mythische Abläufe eingebunden, zugleich aktualisiert Trakl über ihn einmal mehr das apokalyptische Repertoire. Die »Jünglingin« (ITA IV.2, 131) tritt als walküren­ hafte Figur auf, wie sie in späteren Texten, etwa »Klage« (II) und »Grodek«, erneut erscheinen wird (vgl. Millington 2020, 211–213). Der zweite Abschnitt zeichnet mit wenigen heterogenen Bildern, die lexikalische Bezüge zu »Trompeten« aufweisen, ein Kriegsszenario: »Des Abends blaue Taube / Brachte nicht Versöhnung. / Dunkler Trompetenruf / Durchfuhr der Ulmen / Nasses Goldlaub, / Eine zerfetzte Fahne / Vom Blute rauchend, / Daß in wilder Schwermut / Hinlauscht ein Mann. / O! ihr ehernen Zeiten / Begraben dort im Abendrot« (ITA IV.2, 131). In den handschriftlichen Entwürfen wird der Krieg sogar noch unmittelbarer evoziert. Dort ist die Rede von »[d]unkle[n] Soldaten«, vom »Stahl«, der »durchzuckte«, sowie vom »Lachen« je nach Überarbeitungsstufe »gewaltiger«, »heimtückischer« oder »vergessner« »Schlachten« (ebd., 128–130). Ähnlich wie »Das Herz« fusioniert auch das annähernd zeitgleich entstandene Gedicht »Die Schwermut« Krieg, Männlichkeit und Melancholie: »Ihr Soldaten! / Vom Hügel, wo sterbend die Sonne rollt, / Stürzt das lachende Blut – / Unter Eichen / Sprachlos! O grollende Schwermut / Des Heers; ein strahlender Helm / Sank klirrend von purpurner Stirne« (ITA IV.2, 231). Das »Männergebein« des letzten Abschnittes ist in Varianten

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– mit deutlich expliziterem Kriegsbezug – noch »Schlachtengebein« beziehungsweise »Kriegergebein« (ebd., 221). Punktuell liest sich »Die Schwermut« wie eine Vorwegnahme von »Grodek«. Eine Variante des Helmmotivs findet sich zeitgleich in »An«, der ersten Fassung von »Die Heimkehr« (ITA IV.2, 243). Krause (2014, 67) liest es als Erlösungsphantasie des Schlachtentodes: »Als sänke ein goldner Helm von blutender Stirne / Stille endet der Tag, / Schaut Kindheit sanft aus schwärzlichen Augen an« (ITA IV.2, 242). Das »Heer« taucht sonst bei Trakl nur in Tierbeschreibungen der frühen Lyrik auf: als »Heer von wilden Vögeln« (ITA I, 442) in »Melancholie des Abends«; als »Rabenheer« (ITA I, 355) in »Jahreszeit«; als »Heer von Ungeziefer, Mäusen, Ratten« (ITA I, 439) in »Im Mondschein«. Eine innerhalb der Brenner-Veröffentlichun­ gen zusammengehörige Gruppe bilden drei weitere Texte Trakls aus dem Sommer 1914. »Der Abend«, dessen erster Vers »[m]it toten Heldengestalten« (ITA IV.2, 248) einsetzt, und »Die Nacht«, mit dem an ein Konfliktszenario erinnernden Zeilenpaar »Golden lodern die Feuer / Der Völker rings« (ITA IV.2, 259), funktionieren über eher zurückgenommene Hinweise auf den Krieg. Ähnliches gilt für »Das Gewitter«, dessen zweiter Abschnitt auf den Zeilen endet: »Der Väter gewaltiger Groll, die Klage / Der Mütter, / Des Knaben goldener Kriegsschrei / Und Ungebornes / Seufzend aus blinden Augen« (ITA IV.2, 147). Insbesondere der letztere der drei Texte wurde wiederholt von der Forschung als Kriegsgedicht klassifiziert, im Sinne einer Deutung des Krieges als befreiender Katastrophe oder in konträrer Interpretation als Warnung vor dem Krieg (vgl. Sauermann 1999, 202 f.). Die drei Gedichte erscheinen am 15.7.1914 im letzten Brenner vor Kriegsbeginn; sie sind Trakls letzte Publikationen zu Lebzeiten. Bevor Trakl den Militärtransport nach Galizien besteigt, übergibt er einen Sonderdruck dieses kleinen Konvoluts an Ficker, versehen mit einer Widmung an Tirol (vgl. ITA IV.2, 134). Es mag darin ein Grund zu finden sein, warum Fickers retrospektiver brieflicher Äußerung vom 5.12.1914 zufolge diese drei Gedichte »Kriegs-

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visionen in einer ganz vergeistigten Art enthalten« (Ficker 1986–1996, II, 58). Eine gerne beigebrachte Bemerkung aus Karl Röcks (1976, 248) Tagebuch vom 22.6.1914 – »Trakl vom Soldaten, vom Krieg« – hat sich dagegen relativ wahrscheinlich auf dessen in der Tagebuchnotiz ebenfalls genannte Studie Nation und Konfession bezogen und mit Trakls Œuvre nichts zu tun (vgl. Sauermann 1999, 203). Noch bevor Trakl nach Galizien kommt, verfasst er im August 1914 in Innsbruck »Im Osten«, das der Brenner von 1915 postum drucken wird. Den Titel hat man zurecht auf den an der Ostfront drohenden Krieg bezogen (vgl. ITA IV.2, 319); zugleich versieht er das Gedicht durchaus mit einem gewissen Exotismus des Unbekannten und auch ›Degenerierten‹ (vgl. Millington 2020, 217). Der Text selbst stellt den Krieg mit Hölderlinscher Prägung dar, liest sich aber bei aller Stilisierung wie ein Gedicht unmittelbar von der Front (vgl. Bridgwater 1981, 105 f.), zumal erneut punktuelle Überschneidungen mit »Grodek« vorliegen. Gleich die erste Strophe gestaltet den Krieg zu einem unentrinnbaren Naturereignis, wodurch die Darstellung abermals zur Mythologisierung tendiert: »Den wilden Orgeln des Wintersturms / Gleicht des Volkes finstrer Zorn, / Die purpurne Woge der Schlacht, / Entlaubter Sterne« (ITA IV.2, 322). In der zweiten Strophe tritt eine anthropomorphisierte Nacht auf, der Fokus verengt sich auf die unmittelbaren Beteiligten der Kriegshandlungen: »Mit zerbrochnen Brauen, silbernen Armen / Winkt sterbenden Soldaten die Nacht. / Im Schatten der herbstlichen Esche / Seufzen die Geister der Erschlagenen« (ebd.). Die dritte Strophe führt eine weitere Gewaltszene ein, die den Einbruch des Krieges als Überwältigung der Zivilisation schildert (vgl. Millington 2020, 220): »Dornige Wildnis umgürtet die Stadt. / Von blutenden Stufen jagt der Mond / Die erschrockenen Frauen. / Wilde Wölfe brechen durchs Tor« (ebd.). Die Wildheit ist das durchgängige Motiv aller drei Strophen; Krieg wird zuletzt in seiner Bestialität ausgestellt. Die apokalyptische Endzeit des Krieges kann nun – etwa im Abgleich zu »Das Gewitter« – nicht mehr als anzustrebende

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Reinigung k­ onnotiert werden, sondern ist ausschließlich »negative Entfesselung animalischer Gier« (Krause 2014, 63). Mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs wird Krieg neben einem Thema und Motiv seiner Texte zu einem zunächst mittelbaren, bald unmittelbaren Schreibumstand für Trakl. Im Feld – das meint nach der Schlacht bei Grodek und vor der Einlieferung ins Krakauer Garnisonsspital (vgl. Weichselbaum 2016, 143) – hat Trakl freilich nach von Ficker (1966, 204) kolportierter Selbstaussage »blutwenig« geschrieben, einzig »Klage« (II) und »Grodek« entstehen. Beide heben sich allerdings umso stärker von ihrer Gegenwart ab, wenn man bedenkt, dass Lyrik die inflationär gebrauchte (und das meint zugleich: missbrauchte) Gattung des Krieges darstellt: Julius Babs – allerdings als propagandistischer Beleg für das deutsche Kulturvolk vorgenommener – Schätzung zufolge seien alleine im August 1914 in Deutschland täglich knapp 50.000 Gedichte mit Kriegsbezug verfasst worden (vgl. Sprengel 2004, 770 f.). Zwar gibt es keine Hinweise auf eine Kriegsgegnerschaft Trakls (vgl. Weichselbaum 2016, 141); in die sonst grassierende ›poetische Mobilmachung‹ (vgl. Vogl 2000, 555) fügt er sich jedoch ebenso wenig ein. Von einem »Kriegslied«, das Trakl laut dem dort am 15.11.1914 abgedruckten Nachruf auf ihn der Reichspost versprochen habe, berichtet Ficker (1988, 51), dass Trakl es in Krakau vor seinen Augen »zerknittert und zerrissen« habe. Aus Krakau übersendet Trakl dann mit seinem sogenannten ›Testamentsbrief‹ (vgl. HKA I, 546 f.) vom 27.10.1914 auch die versprochenen Abschriften von »Klage« (II) und »Grodek« an Ficker. Eine Erstfassung von »Grodek« mit ausführlicherem Schluss erwähnt Ficker; sie muss jedoch als verschollen gelten (vgl. ITA IV.2, 333). »Klage« (II), ein Gedicht, das mit »Schlaf und Tod« einsetzt und abermals die »Schwermut« (ebd., 332) in einen Kriegszusammenhang stellt, lässt sich bei aller Abwesenheit unmittelbarer Kriegsbezüge als Resonanz auf Trakls persönliche Kriegserlebnisse erachten (vgl. Bridgwater 1981, 107). Es greift zudem über die »eisige Woge / Der Ewigkeit«

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sowie den zerschellenden »purpurne[n] Leib« (ebd.) die »purpurne Woge der Schlacht« aus »Im Osten« lexikalisch auf, um auf ein kriegerisches Zerstörungspotenzial zu verweisen. Auch »Grodek« steht »Im Osten« thematisch nahe, bedient sich jedoch allgemein zahlreicher Versatzstücke aus früheren Texten Trakls (vgl. etwa Mayer 2010, 77–80), die nicht unbedingt semantisch nur dem Krieg zuzurechnen sind. »Grodek« wirft mithin in besonderem Maße die Frage nach einer idiosynkratischen Sprache des Krieges auf. Mayer (2010, 80) zufolge erhält »Grodek« erst durch den Titel »seinen spezifischen, datierbaren, exakten Kriegscharakter«. Krause (2014, 65) verweist dennoch nachdrücklich auf den »spezifisch konstruktiven Aspekt der letzten Kriegsgedichte«, der gerade biographistischen Simplifizierungen entgegensteht. Kriegsbezüge an sich finden sich im Text des Gedichtes freilich zuhauf: die »tödlichen Waffen«, »Sterbende Krieger, die wilde Klage / Ihrer zerbrochenen Münder«, »Rotes Gewölk« und »zürnender Gott« sowie das »vergoßne Blut« oder die »schwarze Verwesung«, aber auch »die Geister der Helden« und, mit offensichtlichem Bezug zur Passion Christi, »die blutenden Häupter« (ITA IV.2, 338). Natur mit Kriegsvokabular zu semantisieren (wie etwa die »Waffen« in einer Variante von »Dezembersonett« aus dem Jahr 1912 der Naturgewalt zugeschrieben werden; ITA I, 488) ist an diesem Punkt des Œuvres für Trakl keine Option mehr, vielmehr bilden »die herbstlichen Wälder«, »die goldenen Ebenen / Und blauen Seen« (ITA IV.2, 338) den Kontrastbereich für die hereinbrechende Kriegsgewalt. Von den übrigen hier behandelten Gedichten hebt sich »Grodek« insofern ab, als es mit der »stolzere[n] Trauer« und den »ehernen Altäre[n]« (ebd.) Phrasen aus dem Kriegsdiskurs der Zeit aufgreift (vgl. Bridgwater 1981, 109). Dagegen teilt es mit anderen spätesten Texten, dass es in apokalyptischer Manier ein Bild der Endzeitlichkeit und des universellen Untergangs ohne Hoffnung auf Erlösung realisiert (vgl. Millington 2020, 227 f.). Ebenfalls am 27.10.1914 schickt Trakl noch einen weiteren Brief an Ficker. Im Format ist dieser dem ›Testamentsbrief‹ ähnlich, über-

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sendet Trakl »[a]nbei« doch abermals zwei Gedichttexte: eine »Überarbeitung« von »Menschliches Elend« mit dem neuen Titel »Menschliche Trauer« sowie eine »Korrektur« (ITA V.2, 699) der ersten Strophe von »Traum des Bösen«. Beides nimmt Trakl vom Garnisonsspital aus vor. Sofern sie zur veränderten Wiederveröffentlichung gedacht sind – der Brief gibt darüber keine Auskunft –, bleibt auch für diese beiden Texte aus dem Band Gedichte zu bedenken, inwiefern sie damit rückwirkend zu Kriegslyrik werden. Der Brief, Trakls letztes handschriftliches Zeugnis vor seinem Ableben, ist als Nachsendung relativ nüchtern gehalten; die übrige Feldpost aus der Zeit an der Ostfront dagegen verbindet, dass sie – nach anfänglicher Verunsicherung, ob das »neue[] Buch« Sebastian im Traum »durch die Kriegsereignisse ohne Beachtung geblieben« sei (ITA V.2, 655), dem Bericht über eine »außerordentlich schön[e]« (ebd., 656) Fahrt Richtung Galizien und der Meldung, in Galizien »bis jetzt noch nichts zu tun gehabt« (ebd., 658) zu haben – bald von depressiver Verstimmung durchdrungen ist. Hinter den »großen Ereignissen der jüngsten Zeit« (ebd., 660) verbirgt sich nichts Geringeres als die Schlacht von Grodek (ebd., 661); und schon in zeitnahen Briefen vermeldet Trakl, »ganz niedergedrückt von Traurigkeit« und »krank […] vor unsäglicher Trauer« zu sein sowie »recht oft in eine unsägliche Traurigkeit« zu verfallen (ITA V.2, 668). Nach Fickers Besuch sei ihm, wie Trakl im ›Testamentsbrief‹ formuliert, »doppelt traurig zu Mute« (ITA V.2, 690). Eine Woche später ist Trakl tot. Der Krieg ist für ihn als Kontext des Werks zuletzt eben zugleich eine doppelte Zäsur: Er setzt diesem Werk und Trakls Leben gleichermaßen ein Ende.

Literatur Bridgwater, Patrick: Georg Trakl and the Poetry of the First World War. In: Walter Methlagl/William E. Yuill (Hg.): Londoner Trakl-Symposion. Salzburg 1981, 96–113. Christen, Felix: Logiken des Sinns – Logiken der Schrift. Überlegungen zur Textgenese und Deutung

523 von Trakls später Dichtung. In: Uta Degner/Martina Wörgötter (Hg.): Literarische Geheim- und Privatsprachen. Literaturwissenschaftliche und linguistische Perspektiven. Würzburg 2017, 67–79. Csúri, Károly: Trakls ›Kriege‹. Wirklichkeit und poetische Fiktion. In: Detlef Haberland/Csilla Mihály/Magdolna Orosz (Hg.): Literarische Bilder vom Ersten Weltkrieg. Exemplarische Analysen. Wien 2019, 26–44. Doppler, Alfred: Gewalt und Klage [1997]. In: Ders.: Die Lyrik Georg Trakls. Beiträge zur poetischen Verfahrensweise und zur Wirkungsgeschichte. Salzburg 2001, 72–81. Ficker, Ludwig: Der Abschied. In: Ders. (Hg.): Erinnerungen an Georg Trakl. Zeugnisse und Briefe. Salzburg 31966, 195–218. Ficker, Ludwig von: Briefwechsel. 4 Bde. Hg. von Ignaz Zangerle, Walter Methlagl, Franz Seyr und Anton Unterkircher. Innsbruck 1986–1996. Krause, Frank: »Über zerbrochenem Männergebein/ Die stille Mönchin«. Krieger und Krieg im lyrischen Werk Georg Trakls. In: Burcu Dogramaci/Friederike Weimar (Hg.): Sie starben jung! Künstler und Dichter, Ideen und Ideale vor dem Ersten Weltkrieg. Berlin 2014, 59–67. Mayer, Mathias: Der Erste Weltkrieg und die literarische Ethik. Historische und systematische Perspektiven. München 2010. Methlagl, Walter: Der Brenner im Krieg. In: Klaus Amann/Hubert Lengauer (Hg.): Österreich und der Große Krieg. 1914–1918. Wien 1989, 109–113. Michler, Werner: Avantgarde, Krieg, Trompeten. Formund Gattungsstrategien bei Georg Trakl und im österreichischen Expressionismus. In: Uta Degner/Hans Weichselbaum/Norbert Christian Wolf (Hg.): Autorschaft und Poetik in Texten und Kontexten Georg Trakls. Salzburg/Wien 2016, 377–391. Millington, Richard: The Gentle Apocalypse. Truth and Meaning in the Poetry of Georg Trakl. Rochester, NY 2020. Röck, Karl: Tagebuch 1891–1926. Hg. u. erläutert v. Christine Kofler. Salzburg 1976. Sauermann, Eberhard: Verfremdung eines Naturereignisses. In: Hans-Georg Kemper (Hg.): Gedichte von Georg Trakl. Stuttgart 1999, 189–208. Sprengel, Peter: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900–1918. Von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. München 2004. Vogl, Joseph: Krieg und expressionistische Literatur. In: York-Gothart Mix (Hg.) Naturalismus, Fin de siècle, Expressionismus. 1890–1918. München 2000, 555– 565. Weichselbaum, Hans: Das Thema »Krieg« bei Georg Trakl und im zeitgenössischen literarischen Umfeld in Salzburg. In: Sieglinde Klettenhammer/Johann Georg Lughofer (Hg.): Georg Trakl. Interpretationen, Kommentare, Didaktisierungen. Wien 2016, 135–154. Wetzel, Heinz: Konkordanz zu den Dichtungen Georg Trakls. Salzburg 1971.

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Landschaft Paul Keckeis

Eine Aufzählung jener Gedichte, die im Titel eine explizite topographische Referenz enthalten und damit auf eine konkrete Landschaft verweisen, lässt die Signifikanz von Trakls Beitrag zur Literaturgeschichte der Landschaft nur ansatzweise erahnen: »Abend in Lans«, »Am Mönchsberg«, »Anif«, »Grodek«, »Hohenburg«, »In Venedig«, »In Hellbrunn«, »Die drei Teiche von Hellbrunn«, »Musik im Mirabell«, »St. Peters-Friedhof«. Um immerhin anzudeuten, wie intensiv Trakls Lyrik am zeitgenössischen Landschaftsdiskurs teilhat, müsste diese Liste um die Vielzahl jener Gedichte ergänzt werden, die im Titel auf anonyme Landschaften verweisen oder Landschaftselemente enthalten: Vorstadt, Stadt, Dorf, Wald, Waldsaum, Moor, Park, Friedhof, Kirche, Garten, Hügel. Weiters könnte diese Aufzählung durch Gedichte erweitert werden, die mittels Nennung atmosphärischer Begriffe schon im Titel Landschaftsassoziationen hervorrufen: Morgen, Abend, Gewitterabend, Nacht, Dämmerung, Winterdämmerung, Winterabend, Winternacht, Winter, Frühling, Sommer, Sommersneige, Herbst, Herbstabend, Mondschein. Die Forschung hat jedenfalls in zahlreichen Beiträgen wiederholt

P. Keckeis (*)  Institut für Germanistik, Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, Klagenfurt am Wörthersee, Österreich E-Mail: [email protected]

auf die zentrale Bedeutung der ›Landschaft‹ als dominantes Wortfeld in der Lyrik Trakls hingewiesen (vgl. zuletzt Görner 2015).

Anti-pastorale Seelenlandschaften Hauptmerkmal der Traklschen Landschaften ist, dass sie nicht wiedererkennbare Abbildungen realer Landschaften sind; selbst jene Gedichte, die explizite topographische Bezüge enthalten, repräsentieren zumeist keine kohärente Landschaft. Schon Heinz Wetzel hat darauf hingewiesen, dass durch die lyrische Rekonfiguration dekontextualisierter Landschaftselemente in Trakls Gedichten kein »einsichtiger Bildzusammenhang« (Wetzel 1966, 102) entstehe; im Zuge der Intensivierung ihres »Zeichencharakters« erhielten die isolierten Landschaftswörter »die Tiefe ihrer ganzen möglichen Bedeutung zurück«, dem Leser trete die »ganze Fülle möglicher Assoziationen« (ebd., 103) entgegen. Diese Grundtendenz bestätigt sich in Einzelinterpretationen einer Vielzahl von Gedichten. Exemplarisch sei hier auf Alfred Dopplers Vergleich der überlieferten Textstufen des Gedichts »Untergang« hingewiesen. Doppler charakterisiert den Weg von den ersten Entwürfen zur letzten Fassung als »Abstraktionsprozeß«, im Zuge dessen Trakl »aus Landschaftselementen ein abstraktes Bild« (Doppler 2001, 139) baue; die Überarbeitung ziele auf

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eine ›klangliche Verdichtung‹ der Szene, deren Gehalt in der letzten Fassung nicht länger »referentiell vermittelt« ist und nicht mehr »decodiert oder paraphrasiert« werden kann (ebd., 140). Die bislang umfassendste Studie zur Landschaft in Trakls Gedichten wurde von Hildegard Steinkamp vorgelegt. Ausgangspunkt ihrer Monographie, die maßgebliche textanalytische Grundlagen erarbeitet, bildet die Beobachtung, dass die Raumdimension bei Trakl stets doppelt kodiert sei: Neben der »topographischen Landschaft« repräsentierten die Gedichte zugleich eine »Seelenlandschaft« (Steinkamp 1988, 43). Als dominante Räume in Trakls Lyrik identifiziert Steinkamp: Garten, Hügel und Ebene, Gebirge und Tal. Die zentrale Funktion der Landschaftswörter bestehe in der zeitlichen Konturierung sowohl der zyklisch strukturierten Zeiträume des Tages und des Jahres innerhalb der Gedichte – die dominante Jahreszeit bilde der Herbst, die dominante Tageszeit der Abend –, als auch lebens- und kulturgeschichtlicher Zeiträume. Den Gedichten »Anif«, »Abendlied«, »Abendländisches Lied« und »Grodek« misst Steinkamp in ihrer Analyse des Traklschen ›Landschaftscodes‹ besonderen Stellenwert bei. Mit Bezug auf Roland Barthes’ Mythosbegriff konzeptualisiert Steinkamp Trakls Landschaftsbilder als neuzeitlichen »Gegenmythos sowohl zu christlichen Erlösungsmythen als auch zu antiken Götter- und Heroenmythen« (ebd. 271); dessen ideologiekritisches Potential liege darin, »den entfremdeten, an seiner Beziehungslosigkeit zu tradierten Wertesystemen (hier: dem Christentum) wie zeitgenössischen Strömungen (hier: der Verstädterung) leidenden Menschen in eine Gemeinschaftsbindung« (ebd., 270) zurückzuführen. Dieser affirmativen Deutung der symbolischen Funktion der Landschaft in Trakls Œuvre stehen verschiedene Interpretationshypothesen der jüngeren Forschung entgegen. Der psychoanalytisch orientierten Interpretation Jacques Le Riders zufolge verrät sich in der charakteristischen Verwandlung der »äußere[n] Welt« in ein »inneres Erlebnis« eine »Regressionstendenz«; Trakls Landschafts-

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bilder artikulierten den »Wunsch nach Zerlösung und Auslöschung des Ich, die wiederum eine Vereinigung mit dem Nicht-Ich bedeutet, eine Sehnsucht nach Ichverlust und Aufhebung der Subjektivität in der Objektivität einer Landschaft ohne Menschen« (Le Rider 2009, 118). Hinsichtlich der literaturhistorischen Einordnung der Traklschen Landschaften hat die Forschung wiederholt einerseits auf Trakls produktive Aneignung der pastoralen Tradition, andererseits auf seine intensive Rezeption der französischen Moderne hingewiesen. Russel Brown beschreibt die Grundtendenz der Landschaftsgestaltung bei Trakl als ›instinktiven Verstoß‹ gegen die Regeln der Pastorale: »Trakl’s poems are anti-pastoral in that they deny the idyllic in the natural world or at least present the idyllic in a sharp polarity with the demonic, the Hirt versus the Jäger« (Brown 1996, 223). Mario Zanucchi zufolge lassen Trakls amimetische Landschaften auf dessen Lektürepräferenzen schließen: »Die symbolistische Technik der Seelenlandschaft […] stellt Trakl in die Nachfolge Verlaines« (Zanucchi 2016, 636). Diese These scheint sich in komparatistischer Perspektive zu bestätigen: Laura Cheie führt die lyrische Verwandtschaft zwischen Trakl und dem rumänischen Dichter George Bacovia, die sich nicht zuletzt in frappierenden Ähnlichkeiten ihrer Landschaftsgestaltung zeige, gleichfalls auf deren voneinander unabhängige Auseinandersetzung mit dem französischen Symbolismus zurück (vgl. Cheie 2002). Rüdiger Görner erweitert das kontextuelle Spektrum der Bezüge, indem er Trakls Landschaften mit dem zeitgenössischen, auch außerliterarischen Landschaftsdiskurs in Beziehung setzt. Ausgehend von einer historischen Koinzidenz zwischen Georg Simmels Philosophie der Landschaft, Ludwig Meidners expressionistischem Gemälde Apokalyptische Landschaft und Trakls Gedicht »Landschaft« – alle sind im Jahr 1913 entstanden – unternimmt Görner eine ausführliche Relektüre der zentralen, den Traklschen Landschaftsdis-

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kurs konstituierenden Gedichte. Allein dadurch, dass es die im Titel evozierten Rezeptionserwartungen nur bruchstückhaft erfüllt und lediglich Landschaftselemente enthält, repräsentiere »Landschaft« (ITA III, 160) ein paradigmatisches Landschaftsgedicht von Trakl. Das Gedicht stehe auch deshalb »exemplarisch für Trakls poetisches Verfahren«, weil die Landschaft in einem Vergleich der beiden überlieferten Fassungen als ein Produkt des Schreibprozesses lesbar wird: »Bevor das Gedicht ›Landschaft‹ diese zumindest scheinbar thematisiert, eine solche aufruft und – das ist das Besondere – gleichzeitig von ihr abstrahiert, liegen Wort- oder Sprachlandschaften vor uns, wie sie Trakl auf dem Papier entstehen ließ« (Görner 2015, 47). Selbst jene Gedichte, die im Titel konkrete topographische Bezüge enthalten und damit einen gewissen referentiellen Gehalt erwarten lassen, ließen sich oft nur als poetologische Landschaften adäquat rezipieren; neben »Hohenburg« und »Anif« verweist Görner in diesem Zusammenhang auf das Gedicht »Am Mönchsberg«, das auf den Textstufen 4 D und 5 D mit der Strophe endet: »Also rührt ein spärliches Grün das Knie des Fremdlings, / Das versteinerte Haupt; / Näher rauscht der blaue Quell die Klage der Frauen« (ITA III, 187). Durch das Konjunktionaladverb, als ein in einer Landschaftsbeschreibung »unvermutete[s] Wort«, werde das Gedicht »von seiner konkreten Landschaftlichkeit abgelöst« und vollziehe eine »Überführung ins Logotopische« (Görner 2015, 56). Trakls Landschaften, so viel lässt sich an dieser Stelle bereits festhalten, sind reich an intertextuellen Bezügen – von der pastoralen Tradition über den romantischen Landschaftsdiskurs, die moderne französische Lyrik und den zeitgenössischen, auch außerliterarischen Diskurs –, entwickeln zugleich aber auch eine besondere Eigenständigkeit. So zeigt sich ihr innovatives Potential beispielsweise im Kontext des Brenner, dessen Landschafts- und Heimatdiskurs Trakl maßgeblich beeinflusste (vgl. Ender 2017).

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Werkchronologische Tendenzen Fast ausnahmslos formulieren oder folgen die vorliegenden literaturwissenschaftlichen Arbeiten zu Trakls lyrischen Landschaften expliziten oder impliziten Thesen einer werkchronologischen Entwicklung. Gemeinsam ist ihnen die Beobachtung, dass Trakls Lyrik von Anfang eine besondere Häufung von Landschaftswörtern aufweise, seine Landschaften sukzessive aber immer abstrakter würden. Bereits WeeKong Koh, der Trakls Landschaftsgestaltung »in ihrem flexiblen Wandlungsprozeß« (Koh 1979, 144) untersucht, beschreibt das Verhältnis zwischen Trakls Früh- und Spätdichtungen als amimetische Steigerung; während sich die »mimetische Absicht« im Frühwerk immerhin noch »rekonstruieren« ließe, würden sich die späteren Landschaftsbilder ihrem »Realsubstrat« zunehmend entziehen und sich in »intuitiv-imaginäre Seelenbilder« verwandeln (ebd.). Koh zufolge lässt sich diese werkchronologische Tendenz in vielen Fällen auch im Vergleich zwischen den verschieden Textstufen desselben Gedichts – die These wird am Beispiel der Gedichte »Musik im Mirabell«, »Die drei Teiche in Hellbrunn«, »Der Wanderer« und »Die Nacht« veranschaulicht – nachvollziehen. Steinkamp hat in einer, auf Heinz Wetzels Konkordanz zu den Dichtungen Georg Trakls (1971) aufbauenden, tabellarischen Erfassung der Häufigkeit der Landschaftswörter (vgl. Steinkamp 1988, 318– 328) in Trakls Œuvre herausgearbeitet, dass sich die räumlichen Akzente in der Chronologie des Werks von ›Garten‹ zu ›Hügel‹ und ›Ebene‹ und schließlich zu ›Gebirge‹ und ›Tal‹ verschieben. Hermeneutisch ergänzt Steinkamp diesen quantitativen Befund durch seine Einbettung in lebensgeschichtliche, biographische Zusammenhänge: In den Gedichten der zweiten und dritten Entwicklungsphase – als Beispiel werden hier »Abendlied« und »Anif« genannt – gelte die mittels spezifischer raumzeitlicher Konfigurationen »jeweils erinnernd zurückgerufene Lebensphase dem Sprecher als Modell für eine sinnerfüllte menschliche Existenz«; in

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den Gedichten der vierten Entwicklungsphase – Steinkamp wählt hier das Beispiel »Grodek« – trete an die Stelle dieser »Rückbesinnung« das »Lebensschicksal« des ›sterbenden Kriegers‹ (Steinkamp 1988, 182). Ohne die Validität dieser Thesen in Frage zu stellen, soll hier zugleich auf wesentliche Kontinuitäten in Trakls Landschaftsgestaltung hingewiesen werden. Nicht erst die ins Apokalyptische gesteigerten Gedichte der letzten Werkphase stehen in merklicher Distanz zu einer mimetischen Tradition der Landschaft; vielmehr entfalten bereits viele der frühen und mittleren Landschaftsgedichte Trakls ihr volles semantisches Potential erst als prekäre Idyllen. In diesem Sinn enthält das erstmals im November 1912 im Brenner publizierte dreistrophige Gedicht »Verklärter Herbst« bereits im Titel ein solches illusionsstörendes Signal. An Heines Ironisierung romantischer Sprechweisen erinnernd – die dritte Strophe lautet: »Es ist der Liebe milde Zeit. / Im Kahn den blauen Fluss hinunter / Wie schön sich Bild and Bildchen reiht – / Das geht in Ruh und Schweigen unter« (ITA II, 50) – werden die »lieblichen Bilder« in diesem Gedicht, dass sich selbst als anachronistisch enttarnt, der »Vergänglichkeit preisgegeben« (Gorgé 2004, 94). Als Beispiel einer dezidiert anti-idyllischen Landschaft wäre etwa an das zwischen Juli 1910 und Februar 1912 entstandene, an den apokalyptischen Städtebildern des Frühexpressionismus orientierte Gedicht »Vorstadt im Föhn« zu denken. Geschildert wird hier eine »Stätte öd und braun«, die »von gräulichem Gestank durchzogen« ist, nahe eines Flusses befindet sich ein Schlachthaus, »ein Kanal speit plötzlich feistes Blut«; lediglich in den letzten beiden Strophen wird, als »Erinnerung an ein früheres Leben«, eine vage idyllische Stimmung evoziert: »Aus Wolken tauchen schimmernde Alleen, / Erfüllt von schönen Wägen, kühnen Reitern. / Dann sieht man auch ein Schiff auf Klippen scheitern / Und manchmal rosenfarbene Moscheen« (ITA I, 573). Bereits in diesen früheren Gedichten, die sich durch ihre formale Konventionalität und ihren referentiellen Gehalt von den späteren deut-

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lich unterscheiden, wird die Idylle in Frage gestellt und schlägt mitunter auch »ins dämonisch Undurchschaubare« (Gorgé 2004, 109) um. So unterscheiden sich auch Früh- und Spätwerk Trakls nicht in erster Linie hinsichtlich der metaphorischen oder allegorischen Dimension der Landschaft, sondern vor allem hinsichtlich ihrer formal zunehmend avancierten Gestaltung, wie sich exemplarisch an den ersten beiden, eine Spannung zwischen Idylle und Untergang hervorrufenden Strophen von »Abendländisches Lied« zeigen ließe. Als »Ausdruck einer existenziellen Krise« (Gorgé 2004, 97) gedeutet, repräsentiert das Landschaftsmotiv in Trakls Gedichten nicht die seelische Befindlichkeit einer lyrischen Diskursinstanz, die in ein individuelles Schicksal verstrickt wäre, sondern wird, »das allgemeine Leid und die Verlorenheit des gealterten Menschengeschlechts« widerspiegelnd, gleichsam zum Indikator der »Befindlichkeit eines ganzen, dem Untergang geweihten Zeitalters« (ebd., 110). Ähnlich argumentiert Jacques Le Rider in einem Vergleich zwischen den beiden motivisch scheinbar weit auseinanderliegenden Gedichten »Passion« und »Grodek«, dass die »Logik der Farben und die Landschaftsmotive« in beiden Fällen die Interpretation nahelegten, »dass ein persönliches Erlebnis zur Chiffre eines Weltzustandes und ein apokalyptisches Ereignis der Menschheitsgeschichte, der Erste Weltkrieg, zum Gleichnis der eigenen Existenz werden« (Le Rider 2009, 122). Trakls Landschaften gehen über den »kritischen Diskurs« des Expressionismus, in dessen Zentrum der »Horror der modernen Urbanität« (Görner 2015, 53) steht, weit hinaus; ihre Eigenständigkeit verdankt sich vielmehr dem intensiven Prozess einer klanglichen und motivischen Verdichtung, deren lyrisches Resultat originäre, stimmungshafte und assoziationsreiche Texträume sind. Als besonders prägnantes Beispiel einer solchen Reduktion sei abschließend die erste Strophe des im Juli 1914 noch in Innsbruck entstandenen Gedichts »Die Nacht« zitiert: »Dich sing ich wilde Zerklüftung, / Im Nachtsturm / Aufgetürmtes Gebirge; / Ihr grauen Türme / Ueberfliessend von höllischen Fratzen,

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/ Feurigem Getier, / Rauhen Farnen, Fichten, / Kristallnen Blumen. / Unendliche Qual, / Dass du Gott erjagtest / Sanfter Geist, / Aufseufzend im Wassersturz, / In wogenden Föhren« (ITA IV.2, 259).

Literatur Doppler, Alfred: Die Lyrik Georg Trakls. Beiträge zur poetischen Verfahrensweise und zur Wirkungsgeschichte. Salzburg/Wien 2001. Brown, Russell E.: Trakl’s landscapes. Is that man a hunter or a shepherd? In: Thomas Kerth/George C. Schoolfield (Hg.): Life’s Golden Tree. Essays in German Literature from the Renaissance to Rilke. Columbia (SC) 1996, 201–224. Cheie, Laura: Landschaften der Seele bei Georg Trakl und George Bacovia. In: Horst Fassel (Hg.): Deutsche Regionalliteratur im Banat und in Siebenbürgen im Vielvölkerraum. Cluj 2002, 157–168. Ender, Markus: Der »Himmel als Landschaft«. Bemerkungen zum Wandel literarischer und ikonischer Raumtopoi in der Innsbrucker Literaturzeitschrift Der Brenner. In: Markus Ender/Ingrid Fürhapter/Iris Kat-

529 han/Ulrich Leitner/Barbara Siller (Hg.): Landschaftslektüren. Lesarten des Raums von Tirol bis in die PoEbene. Bielefeld 2017, 498–513. Gorgé, Walter: Landschaftsbilder in der Lyrik Georg Trakls. Zur Gestaltung und Funktion einiger Motive anhand ausgewählter Beispiele. In: Régine BattistonZuliani (Hg.): Funktion von Natur und Landschaft in der österreichischen Literatur. Bern et al. 2004, 93– 110. Görner, Rüdiger: Georg Trakl oder: Das Gedicht als Landschaft. In: Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv 34 (2015), 47–62. Koh, Wee-Kong: Der Wandlungsprozeß der Landschaftsgestaltung in der Lyrik Georg Trakls. Versuch einer Interpretation auf Grund der Varianten. Bamberg 1979. Le Rider, Jacques: Zur Intermedialität von Text und Bild bei Trakl. In: Károly Csúri (Hg.): Georg Trakl und die literarische Moderne. Tübingen 2009, 113–122. Steinkamp, Hildegard: Die Gedichte Georg Trakls. Vom Landschaftscode zur Mythopoesie. Frankfurt a.M./ Bern/New York 1988. Wetzel, Heinz: Zum Verständnis der Dichtungen Trakls. In: Monatshefte 58/2 (1966), 97–114. Zanucchi, Mario: Transfer und Modifikation. Die französischen Symbolisten in der deutschsprachigen Lyrik der Moderne (1890–1923). Berlin/Boston 2016.

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Voraussetzungen und Transformationen Das Vokabular, die Topoi und die Ikonographie der Melancholie, wie sie sich in der Antike, im Mittelalter und insbesondere in der Frühen Neuzeit ausgebildet haben (vgl. Starobinski 2016; Theunissen 1996; Klibansky/Panofsky/ Saxl 1979), sind in Trakls Dichtung fast durchgehend präsent. Bereits das Eröffnungsgedicht der »Sammlung 1909« bindet die Erinnerung an den Traum einer herbstlich-dunklen Landschaft an »trauriger Worte Widerhall – / Doch konnt’ ich ihren Sinn nicht verstehn« (ITA I, 232): an eine von Trauer affizierte und im rhetorischen Sinne des Worts dunkle – nicht verständliche – Sprache. Konfigurationen von Wahrnehmung und Erinnerung, Affekt und Sprache prägen trotz entscheidender Veränderungen in Trakls Werkphasen auch die späteren ›Melancholie‹-Gedichte. Einschlägig dafür ist vor allem der erste Gedichtband mit »Melancholie des Abends«, »Melancholie« (I) (zum selben Textkomplex gehören auch die späteren Gedichte »Leise« sowie »Melancholia«), »In ein altes Stammbuch« (der Titel lautet beim Erstdruck im Brenner noch

F. Christen (*)  Germanistisches Seminar, Ruprecht-KarlsUniversität Heidelberg, Heidelberg, Deutschland E-Mail: [email protected]

»An die Melancholie«, vgl. dazu ITA II, 99) und »Trübsinn«. Aber auch späte Gedichte wie »Melancholie« (II) und »Die Schwermut« führen Melancholie und Dichtung auf eine Weise eng, die schon früh die These nach sich zog, Trakls Kunst sei »um einen bestimmten inneren Kern gelagert«, nämlich »das Melancholische« (Kossat 1939, 23). Stilbildend gewirkt haben dürfte neben Verlaine (Poèmes saturniens, 1866; Trakl hat wahrscheinlich die von Stefan Zweig 1907 in zweiter Auflage herausgegebenen Gedichte Verlaines benutzt, die Poèmes saturniens ebd. 7–24) vor allem Baudelaire, dessen Spleen-Gedichte aus den Fleurs du mal (1857–1868) Stefan George in seinen Trakl wohl bekannten ›Umdichtungen‹ Die Blumen des Bösen (1901) mit »Trübsinn« überschreibt – also mit einem Titel, den auch Trakl im ersten Gedichtband verwendet (vgl. Benzenhöfer 1990, 271 f.). Die melancholischen Topoi werden in den Fleurs du mal dabei keineswegs nur aufgegriffen, sondern – wie dann auch bei Trakl – reflektiert und transformiert (vgl. Starobinski 1989; Dufour 1988). Die Forschung hat der ubiquitären Rede von ›Melancholie‹, ›Schwermut‹ und ›Trübsinn‹ in Trakls Œuvre wiederholt ihre Aufmerksamkeit geschenkt. Nach ersten Hinweisen bei Kossat (1939, 23–38, Kap. »Das Melancholische bei Georg Trakl«) hat Reuter in ihrer Innsbrucker Dissertation (1949) Schwermut als eine Grundstimmung der modernen Dichtung in den Werken Rainer Maria Rilkes, Georg Trakls und

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Hugo von Hofmannsthals zu bestimmen versucht, während sich Müller in ihrer Münchner Dissertation der »Verknüpfung von Melancholie und mythischer Schau« (Müller 1956, 9) bei Trakl gewidmet hat. In den 1970/80er Jahren erscheinen entsprechende psychologisch orientierte Studien von Bergsten (1971) und Kleefeld (1985). Der Komplex der Gedichte »Melancholie« (I), »Leise« und »Melancholia« wird von Killy (1973) textkritisch kommentiert und von Kemper (1973) mit Blick auf Probleme der Deutung analysiert. Studien zu einzelnen Gedichten (etwa von Höllerer 1992 [1956] zu »Trübsinn«) stehen Deutungen gegenüber, die sich einer Gesamtsicht auf das Werk unter dem Aspekt der Melancholie widmen (Benzenhöfer 1990; Millington 2012). Gerade eine Arbeit wie diejenige Millingtons zeigt, dass sich die diesbezügliche Forschung noch keineswegs erschöpft hat, sondern neuere Untersuchungen zu Trakls Sprache und Poetik ebenso wie zu seinen Quellen und Kontexten – bis hin zu seinem self-fashioning als Autor (vgl. Wolf 2016) – auch neue Perspektiven auf Diskursformationen der Melancholie in seinem Werk eröffnen. Aufschlussreich sind dafür neben den Gedichten auch die Briefe. In Trakls Korrespondenzen erweist sich ›Melancholie‹ als ein durchaus flexibler Begriff, wie auch die humoralpathologische Rede von Melancholie (wörtlich: ›Schwarzgalligkeit‹) ein uneinheitliches, historisch variables Krankheitsbild umfasst und in der sich allmählich ausbildenden modernen Psychologie und Psychiatrie ein reges Nachleben entwickelt hat, obschon sie auf Vorstellungen referiert, die mit den Nervenmodellen des 18./19. Jahrhunderts nicht mehr kompatibel sind (vgl. Starobinski 2016). Im Spätherbst 1912 schreibt Trakl aus Innsbruck an Buschbeck: »In Wien aber ›strahlt‹ die Sonne am ›heiteren‹ Himmel und die ›weiche Melancholie‹ des Wienerwaldes ist auch nicht ›ohne‹« (ITA V.1, 236). In der pointiert sprachkritischen Gegenüberstellung von Innsbruck und Wien wird mit der ›weichen Melancholie‹ eine Form zitiert, die in der Tradition der leichten, ›süßen‹ Melancholie steht (franz. douce mélancolie, engl. sweet melancholy) und einen Gegensatz

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zu schwereren, als Krankheit begriffenen Formen bildet (eine qualitative Unterscheidung, wie sie im Rückgriff auf ältere Quellen besonders einflussreich Robert Burton in seiner Anatomie der Melancholie von 1621 herausgestellt hat). Die traditionell mit Blick auf die Voraussetzungen wissenschaftlicher und künstlerischer Produktivität positiv konnotierte ›süße‹ bzw. ›weiche‹ Melancholie setzt Trakl jedoch in ebenso distanzierende wie ironische Anführungszeichen. Sie kontrastiert mit einem Krankheitsdiskurs, den er ein halbes Jahr zuvor, ebenfalls an Buschbeck aus Innsbruck schreibend, exemplifiziert: »Allerdings glaube auch ich, daß ihr mich eher in Wien aufscheinen sehen werdet, wohl als ich selber will. Vielleicht geh ich auch nach Borneo. Irgendwie wird sich das Gewitter, das sich in mir ansammelt, schon entladen. Meinetwegen und von Herzen auch durch Krankheit und Melancholie« (ITA V.1, 196). Hier verbindet sich der Exotismus des Reisewunsches, der sich schon bei Baudelaire in »Le Voyage« mit kolonialen Phantasien vermengt und auch an Rimbauds Abschied von Europa gemahnt (die biographischen Umstände waren Trakl über Zweigs Rimbaud-Darstellung bekannt; vgl. Wolf 2016, 152), mit der im Bild des Gewitters benannten Affirmation einer elektrischen ›Entladung‹ durch die unmittelbar neben die »Krankheit« gestellte »Melancholie«. Deutlicher noch heißt es in einem Brief an Karl Kraus vom 12.12.1913: »In diesen Tagen rasender Betrunkenheit und verbrecherischer Melancholie sind einige Verse entstanden, die ich Sie bitte, entgegenzunehmen« (ITA V.2, 559). Die Kontiguität von »rasender Betrunkenheit« (in welcher der Brief mit Blick auf den Schriftduktus »offensichtlich […] geschrieben worden« ist; ebd., 560), »verbrecherischer Melancholie« und Dichtung – im Brief folgen denn auch tatsächlich die ›entstandenen Verse‹: das Gedicht »Ein Winterabend« – weist gegenüber Kraus die Möglichkeit einer melancholischen Autorschaft aus, die sich weniger an einem romantischen Modell sehnsuchtsvoller Melancholie, mehr an den poètes maudits Baudelaire, Verlaine und Rimbaud orientiert. Beispielgebend dafür dürfte Stefan Zweigs frühe Monographie

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Verlaine (1905) gewirkt haben, die Verlaine als Melancholiker ausweist und auf die Trakl wiederholt zurückgreift (vgl. Millington 2012, 98). Auf Henri Fantin-Latours Gemälde »Un coin de table«, das Trakl als Schwarzweiß-Reproduktion bei Zweig finden konnte, nimmt der an der Tischecke neben Verlaine sitzende Rimbaud die durch Dürers Kupferstich »Melencolia I« kanonisch gewordene Pose des Melancholikers mit auf die Hand gestütztem Kopf ein (vgl. Wolf 2016, 148 f.). In dem offenkundig nach Fantin-Latours Gemälde arrangiertem Foto der Salzburger Dichterrunde »Minerva« von 1906 ist Trakl derjenige, der wie Rimbaud in melancholischer Körperhaltung am Tisch sitzt, erkennbar allerdings nicht an der Geste des auf die Hand gestützten Kopfes, wie sich auf den ersten Blick vermuten ließe (so Wolf 2016, 149; tatsächlich handelt es sich um eine Trakl auf die Schulter gelegte Hand), sondern am geneigten Haupt – einem wesentlichen Element bildlicher Darstellungen von Melancholie. Im Gedicht »In ein altes Stammbuch« fügt Trakl diese habituelle Verkörperung der Melancholie in eine jahres- und lebenszeitliche Entwicklung ein: Dem Vers »Demutsvoll beugt sich dem Schmerz der Geduldige« folgt am Ende des Gedichts der Satz »Schaudernd unter herbstlichen Sternen/ Neigt sich jährlich tiefer das Haupt« (ITA II, 105).

Poetiken der Melancholie Der früheste Beleg für Trakls Verwendung des Wortes ›Melancholie‹ findet sich im Gedicht »Zigeuner« der »Sammlung 1909«: »Die Sehnsucht glüht in ihrem nächtigen Blick / Nach jener Heimat, die sie niemals finden. / So treibt sie ein unseliges Geschick, / das nur Melancholie mag ganz ergründen« (ITA I, 204). Die projektive – romantisierende und dabei stereotypisierende – Darstellung in diesem frühen Gedicht nimmt mit der »Sehnsucht« nach einem immer anderen Ort den melancholischen Reisetopos auf (wohl orientiert an Baudelaires Gedicht »Zigeuner auf der Reise«; George 1901, 29) und verbindet ihn mit einer der Melancholie zugeschriebenen Erkenntnisleistung, wie sie

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seit der einflussreichen pseudo-aristotelischen Verbindung von Melancholie und überragender geistiger Begabung topisch geworden ist (vgl. Theunissen 1996). Während in der zweiten Strophe des Gedichts die belebte Landschaft die Reisebewegung figuriert (»Die Wolken wandeln ihren Wegen vor, / Ein Vogelzug mag manchmal sie geleiten«), erweisen sich die »Lieder« in der dritten Strophe als das Medium melancholischer Erkenntnis: Wenn sie »von ererbtem Fluch und Leid« »schluchzen«, so »ergründen« sie ebenjenes »unselige[] Geschick«, von dem in der ersten Strophe die Rede ist. Damit ist das Lied – und metonymisch darf man wohl ergänzen: das Gedicht – nicht nur als Ort melancholischer Klage, sondern auch und gerade als Mittel melancholischer Erkenntnis bestimmt. In der Abfolge der Gedichte von 1913 leistet zunächst »Melancholie des Abends« eine Integration der Melancholie in die Sprache von Trakls Dichtung. Anders als in den Briefen ist das Wort ›Melancholie‹ hier einer poetischen Idiomatik unterworfen, welche über die Ambiguität des Genitivs nicht nur von einer »Melancholie« spricht, die »des Abends« auftritt, sondern den Abend selbst als melancholisch begreifen lässt. Damit ist die Struktur gefunden, die Millington ganz allgemein als metonymisches Verhältnis von affektivem Zustand des Sprechers »with the environmental features he describes« zu bestimmen versucht (Millington 2012, 103) und die in diesem Gedicht nicht nur als Darstellung der Wahrnehmung anstelle von Ich-Aussagen begreiflich ist, sondern auch als eine Wahrnehmungsreflexion, die etwa in der Selbstansprache in Vers 11 am Gegenstand des Sehens zweifelt: »Und etwas täuscht dir vor ein Feuer« (ITA I, 442). Die poetische Kritik der Wahrnehmung folgt der Abnahme des Lichts beim Übergang vom ›Abend‹ in die Nacht und dem folgenden Blick in eine scheinbar nicht mehr begrenzte Dunkelheit des Gesichtsfeldes: »Der dunkle Plan scheint ohne Maßen« (V. 9). Zu topischen Elementen melancholischer Rede – dem »Wild«, dem »Bach«, der mehrfach benannten Dunkelheit bzw. Schwärze – tritt eine allmähliche Veränderung der Perspektive vom gesenkten Kopf, welcher den Blick

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auf den »Bach« freigibt (V. 4–7), nicht aber auf die »Sterne« (V. 8), über eine ›plane‹ Sicht (V. 9–12) hin zu einem Blick in den »Himmel« (V. 13) in der beschließenden Strophe. Es ist diese wechselnde Ausrichtung des Blicks – zur Erde hinab und zum Himmel empor – die bereits die antike Topologie der Melancholie, insbesondere aber die literarische und ikonographische Tradition seit dem 16. Jahrhundert geprägt hat (vgl. Starobinski 1989, 47 f.). Baudelaires Gedicht »Le Cygne«, »dieses große Gedicht der Melancholie« (ebd., 60), lässt einen der Gefangenschaft entflohenen Schwan »[z]um blauen himmel der lächelt mit grausamem spott / Auf zuckendem halse den kopf in die höhe richten / Als wende er sich in bittrem vorwurf an Gott« (George 1966–1969, XIII/ XIV, 131). In Trakls Gedicht verbindet sich dieser schon bei Baudelaire nicht mehr enthusiastische, nur mehr anklagende Blick zum Himmel mit einer melancholischen Reisefantasie: mit der Ahnung der »Bewegung« eines Vogelschwarms »[n]ach jenen Ländern, schönen, andern« (V. 13–15). Das Versprechen einer linear-horizontalen Fortbewegung wird allerdings im letzten Vers in einen Zustand steter Wiederholung überführt und damit zurückgenommen: »Es steigt und sinkt des Rohres Regung«. Diese mit der Melancholie verbundene Zyklik ist auch der poetische Grundgedanke des Gedichts »In ein altes Stammbuch«: »Immer wieder kehrst du Melancholie« (ITA II, 104). Und er findet im Entwurf »Melancholia« einen geradezu formelhaften Ausdruck für eine Reflexion, die sich nur mehr um sich selbst bewegt: »Gedankenkreis, der trüb das Hirn umwittert« (ITA III, 18). Der Titel des Gedichts »Trübsinn« ist denn auch mehr als nur eine Übersetzung des Baudelaireschen »Spleen«: Mit dem ›Sinn‹ ist nicht nur das betrübte Gemüt angezeigt, sondern auch die wie in »Melancholie des Abends« getrübte, mitunter täuschende Wahrnehmung und die nichtlineare, zirkuläre Bewegungsrichtung (»Ein alter Mann dreht traurig sich im Wind«, ITA II, 95, Textstufe 3 D ff.). Das bei Trakl spezifisch melancholische Kreisen ist außerdem mit dem der Melancholie traditionell zugehörigen Planeten Saturn (vgl. Kleefeld 1985, 265 f.; Kli-

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bansky/Panofsky/Saxl 1979, 125–214) verbunden: »Am Abend wieder über meinem Haupt / Saturn lenkt stumm ein elendes Geschick. / Ein Baum, ein Hund tritt hinter sich zurück / Und schwarz schwankt Gottes Himmel und entlaubt« (ebd., V. 9–12). Der »Hund«, der spätestens seit Dürers »Melencolia I« ebenfalls zum festen Inventar der Melancholiedarstellung gehört (vgl. Klibansky/Panofsky/Saxl 1979, 322  f.), tritt in Trakls Versen gleichsam aus sich selbst heraus und wird damit womöglich dem wahrnehmbaren Bildbereich entrückt. Der »Himmel«, zu dem sich das »Haupt« erhebt, erscheint trotz Saturn sternenlos »schwarz« und bietet, da er »schwankt«, dem Blick keinerlei Halt. Die Darstellung führt damit in eine Art Black-out, dem im letzten Vers zwar ein »Licht« gegenübersteht, das aber die Dunkelheit eher zu vergrößern scheint: es »ruft Schatten in den Zimmern wach.« Reflexe dieser affektiven Sprachbildlichkeit lassen sich auch im zweiten Gedichtband finden, etwa in den ersten Versen von »Anif«: »Erinnerung: Möven, gleitend über den dunklen Himmel / Männlicher Schwermut« (ITA III, 330, Textstufe 2 T ff.). Es sind aber vor allem die beiden späten Gedichte »Melancholie« (II) und »Die Schwermut« (wohl im Mai und im Juni 1914 entstanden, vgl. ITA IV.2, 191, 215), die noch einmal eine bedeutende Neuerung in Trakls Melancholiedarstellung einführen. In diesen Gedichten überschreitet die Melancholie das Terrain individueller Affekt-, Wahrnehmungs- und Sprachreflexion hin auf eine breitere gesellschaftliche Perspektive (vgl. Görner 2014, 233–266; Millington 2012, 109). Noch vor Beginn des Ersten Weltkriegs entstehen so in der hymnischen Sprache der späten Gedichte zwei Texte, die kollektive Instanzen der Melancholie bzw. Schwermut benennen, seien es die »Soldaten« im Gedicht »Die Schwermut« oder schlicht »jedes Antlitz«, das »[v]oll Tränen […] und verschlossen« ist (»Melancholie« [II]; ITA IV.2, 199). Damit entwirft der späte Trakl eine durchaus kriegskritisch gestimmte Poetik der Melancholie, deren Fluchtpunkt der Tod der apostrophierten »Soldaten« ist und als deren letzter Reflex sich das letzte Gedicht, »Grodek«, begreifen lässt.

88 Melancholie

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Musik Rüdiger Görner

Eingelassen in die kreuzsternförmige Grabplatte auf dem Friedhof von Mühlau bei Innsbruck, wohin auf Betreiben seines Förderers, Ludwig von Ficker, die sterblichen Überreste Georg Trakls von Krakau überführt und am 7. Oktober 1925 wiederbestattet wurden, befindet sich eine Metalltafel mit der Gravur des lebensdatenlosen Dichternamens, versehen mit einem Stern und einer Leier. Ihre Saiten sind gerissen; eine Pflanze durchwirkt sie. Apollons ausgedienter Leier hat sich die Natur bemächtigt, auch wenn Trakl meist eher auf der Seite des Dionysos zu finden gewesen war. Dieses Grab hatte der junge Paul Celan auf seinem Weg von Wien nach Paris, im Sommer des Jahres 1948, aufgesucht dabei auch den hochbetagten von Ficker in dessen Hohenburg besucht und ihn zu Trakl befragt. Trakls Musikalität soll bei diesem Gespräch eine nicht unerhebliche Rolle gespielt haben, gerade wenn man bedenkt, dass Trakls »Hohenburg«Gedicht einen »Fremdling« als einen »Tönenden« apostrophiert, der in diesem leeren Anwesen eine »mondeshelle Sonate« vernimmt und die »Silberstimme des Windes im Hausflur« (ITA III, 302).

R. Görner (*)  School of Languages, Linguistics, and Film, Queen Mary University of London, London, UK E-Mail: [email protected]

Das hatte ohnehin seine Berechtigung, denn von der ersten bis zur letzten Zeile klingen die Gedichte Trakls, dunkel zumeist, in Moll-Tönen; sie können nicht anders, auch wenn zuletzt »zerbrochene[] Münder« (ITA IV.2, 338) wilden Klagegesang nicht nur anstimmen, sondern Klage sind. Dem menschlichen Musikinstrument, der Stimme und ihrem Organ, dem Mund, droht in den späten Gedichten Trakls geräuschvolle Zerstörung. Es ist das Geräusch des Zerbrechens – neben dem der Münder der »sterbenden Krieger« die »zerbrochenen Arme« eines »kindlichen Leichnams«, den die Erde »auswarf«, wie es im Prosagedicht »Offenbarung und Untergang« heißt (ITA IV.2, 71). Doch schon in einem der frühen Gedichte verglich der Dichter den Mund einer »jungen Magd« mit einer »Wunde« (ITA I, 425). So kurz die Zeitspanne auch war, die zwischen dieser Sonorik des Untergangs und den »Sonatenklängen« von Trakls lyrischen Anfängen lag, der Weg dorthin erwies sich als lang, gesäumt und durchwirkt von zunehmend schrillen, aber auch eindringlich klingenden Dissonanzen, vorgetragen aber in klangvollen Sprachformen. Sie verdanken sich im Wesentlichen einem Stilmittel: ausgeprägtem Vokalismus. Trakls Dichtung ist von Anbeginn von Vokalen bestimmt und auf vokale Vermittlung angelegt. Zwar bedient sich Trakl dabei auch onomatopoetischer Verfahren; Lautmalerei, Klangnachahmung jeglicher Art und Schall-

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wortbildung, verstärkt durch Alliteration, waren ihm vertraut; aber diese Seite des Expressiven in seiner Lyrik erklärt nicht, was es mit der Musik, genauer: dem Musikalischen in seinen Gedichten auf sich hat. Es ist eine Klangwelt, in der sich symbolistische, impressionistische und expressionistische Behandlung sprachmusikalischer Arbeit treffen und kreuzen, zeitgerechter gesagt: hybridisieren. Es sind Sprachklanghybride, die in Trakls Dichtungen entstehen und wirksam werden – und das komplementär zu seiner betonten Verwendung von Farbwörtern. Farbtönungen und klangliche Einfärbungen bedingen in dieser Lyrik einander.

Sonatenklänge: Trakls musikalische Erziehung und ihre Überführung ins lyrische Frühwerk Für Trakl gehörte Musik zu seinen ästhetischen Elementarerfahrungen. Er selbst spielte Klavier, jedoch zunehmend im Schatten seiner jüngeren, musikalisch hochbegabten Schwester Grete. Sie hätte es beinahe bis zur Konzertpianistin gebracht nach Unterricht bei Paul de Conne in Wien und Meisterklassen bei Ernst von Dohnányi in Berlin. In Salzburg hatte sie wie ihr Bruder Georg früh Klavierunterricht bei August Brunetti-Pisano erhalten, einem angehenden Komponisten, der zu dieser Zeit mit einer Ouvertüre zur Gerhart Hauptmanns Dichtung »Die versunkene Glocke« in Erscheinung getreten war, Gretes große Begabung erkannte und sie sogar zum Komponieren angeregt haben soll. (Basil 1965, 42). Der Familienlegende entsprechend, kolportiert von Trakls Bruder Fritz, konnte der angehende Dichter wenig mit Mozart anfangen, dafür umso mehr mit der Musikwelt Richard Wagners, Franz Liszts und Frédéric Chopins. Das mochte an den musikalischen Vorlieben seines literarischen Idols, Charles Baudelaire, gelegen haben oder an einem unterschwelligen Protest gegen den Sohn Salzburgs schlechthin; bemerkenswert bleibt freilich, dass er Klavierauszüge Wagnerscher Musikdramen zumindest teilweise zu meistern verstand und technisch den

R. Görner

Anforderungen der Musik Liszts und Chopins annähernd gewachsen war. Diese frühe musikalische Prägung setzte sich nach 1905, als Trakls lyrisches Schaffen erste Gestalt annahm, poetisch fort; von einer weiteren musikalischen Ausübung des Dichters ist nichts bekannt. Trakl musiziert fortan im Gedicht, wobei das musikalische Verhältnis zur Schwester noch konkret in »Unterwegs« (II) nachklingt: »Im Nebenzimmer spielt die Schwester eine Sonate von Schubert« (ITA II, 481). Ursprünglich stand da »Beethovens Appassionata« (Textstufe 1 H), wobei der Variantenapparat den kritischen Vermerk belegt: »unsäglich die App[assionata]« (ebd., 478, Textstufe 2 H), ein deutlicher Hinweis auf eine musikalische Geschmacksverschiebung – eher überraschend – weg von einem genau bezeichneten Musikstück, Beethovens op. 57, mit seiner Leidenschaftlichkeit in f-Moll, hin zu einem lyrischen Singen von, wie zu vermuten steht, Schuberts späten Klaviersonaten. Gerade »Unterwegs« (II) zeigt, dass auch der Rahmen von Trakls musikalischem Geschmack in Bewegung geraten war: von der nicht mehr Beethovenschen zur Schubertschen Sonate und, wenig später im Gedicht, zum »Lied zur Guitarre, das in einer fremden Schenke erklingt« (ebd., 481). Gleichzeitig fällt auf, dass die besagte Musik-Zeile (»Im Nebenzimmer […]«) nicht gerade ›musikalisch‹ wirkt im Vergleich zu anderen Versen Trakls, sondern betont prosaisch, ein protokollartiger Feststellungssatz im Grunde. Einen eigentlichen Sprach-Klang, ja ein sich differenziertes lyrisches Klangbild erzeugt der folgende Satz, der sich über zwei Verse erstreckt: »Sehr leise sinkt ihr Lächeln in den verfallenen Brunnen, / der bläulich in der Dämmerung rauscht. O, wie alt ist unser Geschlecht« (ebd.). Daran schließt sich ein »Flüstern« an, ein Decrescendo, und Diminuendo, wie es für Trakls nuancierte lyrische Sprachpartituren, als die sich seine thematisch wie räumlich ausgreifenden späten Gedichte erweisen, charakteristisch ist. Dabei sollte man sich vor Augen und Ohren halten, wie dieses Dichten einsetzte: mit »gedankenmusikalischen« Wendungen (Basil 1965,

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58), etwa in »Die drei Teiche in Hellbrunn«, aber auch in der »Romanze zur Nacht«, die den Sinnkontrast dennoch reimend klingen lässt: »Die Mutter leis’ im Schlafe singt. / […] / Im Hurenhaus Gelächter klingt« (ITA I, 492). Musikalische Bilder verweisen dabei nicht unbedingt auf ein konkretes Klanggeschehen. »Im roten Laubwerk voll Guitarren …« etwa ertönt kein Gesang, fehlt jeder Verweis auf die Wirkung dieses Ensembles von Instrumenten. Und selbst im längst von der Stadt Salzburg werbewirksam eingesetzten Gedicht »Musik im Mirabell« findet sich erst in der zweiten Fassung die allseits zitierte Schlusszeile: »Das Ohr hört nachts Sonatenklänge« (ITA I, 250). Von der Überschrift abgesehen bezeugt nur der erste Halbvers die ›Musikalität‹ des Ortes: »Ein Brunnen singt.« Durch den Punkt setzt er sich vom zweiten Halbvers ab, der in seiner Klang-Bewegung kontrastiv wirkt: »Der Wolken stehn«; in der ersten Fassung trennt beide Versteile nur ein Komma, wodurch sich die Gleichwertigkeit dieser kontrastiven Verselemente betont sieht und hört (ebd., 247).

Wohllaut: Zur Musikästhetik der Gedichte (1913) In dieser Lyrik ist das Hören immer auch ein Sehen und umgekehrt: die Musik eine Farbe und die Farbe ein Klangwert. Um sich eine sprachklangliche Vorstellung davon zu machen, was der zeitgenössische Leser von Trakls Dichtung wahrnehmen konnte, lohnt ein konzentriertes Horchen in die einzige zu Lebzeiten des Dichters erschienene Sammlung, die Gedichte von 1913. Auch wenn sie in der für den literarischen Expressionismus wichtigen durch Kurt Wolff in Leipzig verlegten »Bücherei Der Jüngste Tag« erschienen ist, genügt der Verweis auf die Klangexpressivität nicht, um den Charakter des Musikalischen in dieser Sammlung zu fassen. Zugegeben, ein expressiver »Schrei« kreischt bereits durch das erste Gedicht »Die Raben«, ein »harter« zumal, aber trifft auf das Kontrastive der »braunen Stille« ebenso wie ihr »Keifen«.

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Diese Geräuschkontraste bereiten das buchstäblich unerhörte Bild vor, mit dem das Gedicht schließt, das man zu sehen und dessen »Zittern« zugleich zu hören vermeint: »Und plötzlich richten nach Nord sie den Flug / Und schwinden wie ein Leichenzug / In Lüften, die von Wollust zittern« (ITA I, 396). Das folgende Gedicht »Die junge Magd« lässt eine Amsel »kläglich flöten« und endet mit einer besonderen klanglichen Wirkung: »Traumhaft klingt im braunen Weiler / Nach ein Klang von Tanz und Geigen, / Schwebt ihr Antlitz durch den Weiler, / Weht ihr Haar in kahlen Zweigen« (Textstufe 3 T, ITA I, 426 f.). Erwähnenswert ist das deswegen, weil die träumerische Echowirkung durch die ungewöhnliche Wiederholung ein und desselben ReimWortes, nämlich »Weiler«, diesen behaupteten Widerhall auch erzeugt. Auch das gehört zu Trakls ausgeprägtem Verständnis des Musikalischen und seiner lyrischen Umsetzung und nicht nur sprachliche Klangmalerei; es bewirkt ein geradezu strukturelles Hören, ein In-das Gedicht-Horchen und ein Dem-Gedicht-Nachlauschen. Die »Fülle des Wohllauts« in Thomas Manns Roman Der Zauberberg hätte auch auf die Gedichte Trakls gemünzt sein können, zumal sie diesen Begriff kennen, nur dass er darin vom »Schmerz des Geduldigen« ausgeht und Unwägbares enthält: »Tönend von Wohllaut und weichem Wahnsinn« (ITA II, 105). In einer Anthologie von Musik-Gedichten müssten nahezu alle Gedichte Trakls aufgenommen werden, so prominent ist dieses Motiv in seinem lyrischen Schaffen gewesen, eben weil es auch seine Grundlage war. Die Entstehung des Gedichts aus dem Gewebe der Klänge erlaubte Trakl, Klänge auf Klänge zu reimen und Singen auf Singen: »Zitternd flattern Glockenklänge, / Marschtakt hallt und Wacherufen. / Fremde lauschen auf den Stufen. / Hoch im Blau sind Orgelklänge. // Helle Instrumente singen. / Durch der Gärten Blätterrahmen / Schwirrt das Lachen schöner Damen / Leise junge Mütter singen« (»Die schöne Stadt«, ITA I, 405). In diesen Gedichten vermittelt die Musik« zwischen Innen und Außen: in ein »verlassenes

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Zimmer« spielt durch das Fenster »eine Orgel herein« (ITA I, 265), wodurch die Schatten »an Tapeten« ins Tanzen geraten. Überhaupt die Orgel – mögen auch die Geigen sanft tönen, und mag sich auch »Narziß im Endakkord von Flöten« spiegeln, neben der Flöte (des Pan) behauptet sie, die ›Königin unter den Instrumenten‹, in Trakls Gedichten eine Sonderstellung, offenbar nicht nur wegen ihrer Klangfülle, sondern weil sie »Klang und Schein« mischt, wie es in »Geistliches Lied« heißt (ITA I, 503). Wenn jedoch die Orgeln ihren vielgestaltigen Wohlklang an die Natur verlieren, werden sie zu den »wilden Orgeln des Wintersturms«, so im späten Gedicht »Im Osten« (ITA IV.2, 322). In jedem Fall authentisch wirkt dagegen, dass im Atem des Göttlichen ein Saitenspiel erwacht (»Kleines Konzert«, ITA I, 537). Als nicht minder genuin treten musikalische Formen in diesen Gedichten in Erscheinung: Zimmer, »erfüllt von Akkorden und Sonaten« nebst »Endakkorden eines Quartetts« (ITA II, 24) und dem sanften Verklingen eines Dreiklangs (»Nachtlied« [III], ITA II, 388). Allein auf der Grundlage dieser Zitate scheint eine Beziehung zu den beiden Abschnitten zur Lyrik (5 und 6) in Nietzsches Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik unabweisbar. Nun lässt sich mit Verweisen auf Nietzsche bei Trakl zwar »alles und nichts erfassen« (Mayer 2009, 87), doch gerade die von Nietzsche behauptete »Identität des Lyrikers mit dem Musiker« trifft den Sachverhalt in Trakls Lyrik genau. Und mehr noch: Nietzsches Feststellung, dass das »Ich« des Lyrikers aus dem »Abgrunde des Seins« töne und daher »seine ›Subjektivität‹ im Sinne der neueren Ästhetiker eine Einbildung« sei, ja dass der Lyriker, als »dionysischer Künstler , gänzlich mit dem UrEinen, seinem Schmerz und Widerspruch, eins geworden« sei »und das Abbild dieses Ur-Einen als Musik« produziere, trifft ins Zentrum dessen, was Trakls Musiklyrik spiegelt. Darüber hinaus erklärt diese Analogie zu Nietzsches Argumentation auch, weshalb Trakl in seinen Gedichten so auffallend sparsam mit dem »Ich« umging. Es verschwindet geradezu hinter der lyrischen Musik, löst sich im Sprachklang auf und artikuliert sich gleichzeitig durch ihn.

R. Görner

Wer oder was bringt nun diese Musik hervor? In Trakls Gedichten ist vorstellbar, dass der heilige oder dionysische »Wahnsinn« dies vermag, und zwar, wie es in »Helian« heißt, in Form eines »sanfte[n] Saitenspiels« (ITA II, 261). Dabei ist zu beachten, dass das Ich des »heiligen Bruders«, von dessen Wahn das Gedicht spricht, seinerseits in dieser Musik der Saiten »versunken« – und damit im (Ver-)Schwinden begriffen ist. Intensivierte sich nun diese Musikbezogenheit in Trakls zweiter, von ihm zwar doch Korrektur gelesener, aber erst posthum erschienener Sammlung Sebastian im Traum oder auch in anderen seiner Gedichte? Davon kann nicht wirklich die Rede sein. Es bleiben einige der Hauptmotive erhalten: das einsame Saitenspiel, die silberne Stimme, der »verblichene Akkord«, die Flöte mit wechselnder Verbindung (Williams 1996), einmal »des Lichts«, einmal »des Tods« (ITA III, 290), eine »Abendsonate« (ITA III, 233), die Abendglocke, deren Klang versinkt: Allein die Klagelaute gewinnen an Intensität – von der »[b]linde[n] Klage im Wind« (ITA IV.1, 135) bis zur »wilden Klage« in »Grodek« (ITA IV.2, 338). Dann wiederum finden sich Gedichte, die das Musikalische nicht eigens thematisieren, in ihrer Sprache aber solchermaßen das Musikalisch-Rhythmische durch melismatische Fügungen evozieren, dass sie Komponisten dazu anregten, sie zu vertonen. Zu denken ist hierbei etwa an das Gedicht »Nachts« (»Die Bläue meiner Augen ist erloschen in dieser Nacht«, ITA II, 436), das von Anton Webern, Theodor W. Adorno und Heinz Holliger musikalisch interpretiert wurde (Buhr/Zenck 2001).

Melos des Wortes: Auf den Spuren von Trakls Musikpoetik Nicht minder auffällig ist, dass die Musikalisierung der Sprache« in Trakls Lyrik vergleichsweise spät systematisch untersucht wurde (Doppler 1991/1995; Neri 1996; Neymeyr 2001), wobei noch immer eine zusammenhängende Studie zu dieser Thematik Desiderat

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geblieben ist. Eine solche musikorientierte Lesart der Gedichte Trakls findet ihre werkinterne Rechtfertigung in Gedichten wie »Wintergesang in a-Moll« und einer der wenigen frühen Rezensionen Trakls, die zwar einem Drama galt (Monna Violanta von Gustav Streicher), aber auf eine kardinale poetologische Aussage zulief: Es sei möglich, Sprache tonartenhaft wirken zu lassen. Zudem könne das »Melos des Wortes« gewichtiger sein als dessen Bedeutung. So wie der »Mollklang« der Sprache »nachdenklich und träumerisch stimmen« könne, so vermag ein »voller, eherner Ton in Dur« in »fliegender Steigerung« ein Drama zuletzt »in einem dionysischen Gesang der Lebensfreudigkeit« auflösen (ITA I, 111). Dieses Dionysische befasste Trakl früh. Als »dionysisch Antlitz« tritt es bereits im Dramenfragment »Don Juans Tod« in Erscheinung (ITA I, 150). Der entschieden nicht-mozartische Musikbezug wird im Monolog des Don Juan beim Anblick der Leiche Donna Annas virulent. Er will – sterbend (?) – neu leben lernen: »(Er taumelt ans Fenster und stößt es auf) Hier öffne ich dem Leben weit die Pforten, / Und atme ein die Welt, bin wieder Welt, / Bin Wohllaut, farbenheißer Abglanz – bin / Unendliche Bewegung! – Bin!« (ITA I, 149). Er atmet somit die Welt als eine ätherische Musik ein, um Klang werden und als Klang weiter sein zu können. Dass sich Musik als Bewegung realisiert und Bewegung Musik sichtbar macht, thematisiert auch Trakls früher Dialog »Maria Magdalena« (1906). Ein Marcellus berichtet seinem Freund, wie er einst die Verrufene, eine SaloméGestalt, tanzen sah: ihr Körper war Rhythmus, die ekstatischen Rhythmen verkörperte sie. Dass sie zuletzt eine Dionysos-Statue umarmte, passt ins Bild des Fin de siècle und entspricht dessen femme fatale-Klischee. Dass über ihr dann in der Phantasie dieses Marcellus der Himmel eine »blaue Glocke« wurde, die man tönen zu hören glaubte, gehört bereits genuin zur poetischen Klangwelt Trakls. Selten finden sich in seinem Werk konkrete Anspielungen auf musikalische Vorlagen, zumindest selten so deutlich wie im Puppenspiel-

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Fragment »Blaubart« (1910), wo eine weitere femme fatale, die wenig heilige Elisabeth, Schuberts Liedvertonung von Wilhelm Müllers »Der Lindenbaum« parodiert. Aus den Zeilen »Ich träumt’ in seinem Schatten / So manchen süssen Traum« wird in ihrem Mund: »Träumt gestern unter dem Lindenbaum / An Vaters Haus einen bösen Traum« (ITA I, 347). In Trakls Dichtungen sucht Musik als »dunkler Wohllaut« (ITA II, 341) die Seele heim. In seinen Briefen findet sie nahezu keine Erwähnung, sieht man von Hinweisen auf das in ihm wütende »infernalische[] Chaos von Rythmen und Bildern« (ITA V.1, 131) einmal ab, von Hinweisen auf seine »dionysische« Befindlichkeit und den »pöbelhaften Skandal während des Schönberg-Konzerts« in Wien, über den er am 2. April 1913 in »Innsbrucker Zeitungen« liest. Trakl ergreift dabei Partei für den »Künstler« Arnold Schönberg, dessen Aufführung von Werken der Zweiten Wiener Schule (Weber, Zemlinsky, Berg) zu einem Tumult im Musikvereinssaal geführt hatte. Trakls Dichter-Freund, Erhard Buschbeck, führendes Mitglied im Wiener »Akademischen Verband für Literatur und Musik«, hatte in diesem Chaos anscheinend einen der Schönberg-Gegner geohrfeigt, worü­ ber der Operettenkomponist Oscar Straus in der Gerichtsverhandlung, über die Trakl in der Presse las, den Satz der Sätze zu Protokoll gab: Das Klatschen der Ohrfeigen war noch »das Melodiöseste, das man an diesem Abend zu hören bekam« (Krones 2012). So sehen wir Trakl also mittelbar auf Seiten der musikalischen Avantgarde der Zeit. Denn der »Wohlklang« der Musik schloss für Trakl die Aufspaltung ins Klangvoll-Dissonantische, ja den ›Missklang‹ ein. Was Wunder, dass sich gerade die Avantgarde seiner Dichtungen und ihrer musikalischen Behandlung der Sprache besonders annehmen sollte, namentlich durch Anton Webern (Shreffler 1992/94; Gerber-Wieland, 2002). Denn das Sprachmelodiöse im Werk Trakls bleibt als kontrapunktische Form zu inneren Widersprüchlichkeit dieses Dichtens hörbar und damit als Wortklangbild ihrer Modernität.

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Mutter Kira Kaufmann

Die Mutter ist neben der Schwester eine zentrale Figuration in Trakls Werk, mit deren komplexer Ausfaltung zugleich ein Konflikt verbunden ist, der die Trakl-Forschung immer wieder dazu anregte, Werk und Biographie des Dichters programmatisch aufeinander zu beziehen. Die Mutter erscheint als Vexierbild zwischen Biographie und Poetik, wobei die Annäherung an diese Figuration des Weiblichen von diskursiven Vorentscheidungen bestimmt ist. So wird mit Identifikation der ›Mutter‹ und des ›Mütterlichen‹ zugleich ausgesagt, was eine Frau sowohl sein kann als auch soll. Die Benennung des »mütterlichen Körpers« ist ein performativer Akt, der Weiblichkeit als Geschlechtsidentität ebenso normiert wie diskursiviert (Butler 1991, 11, 123–208). Um die Erscheinungsweisen und Bedeutung der Mutter im Werk für einzelne Positionen der Forschungsliteratur nachzuzeichnen, muss zunächst auf die historische Person Maria Trakl, Georg Trakls Mutter, eingegangen werden.

Zu Trakls Mutter Maria Catherina Trakl, geb. Halik In den biographischen Beschreibungen gilt Maria Trakl als zurückgezogene Frau, kühl und reserviert, das Verhältnis zur Mutter als probK. Kaufmann (*)  Institut für Germanistik, Universität Wien, Wien, Österreich E-Mail: [email protected]

lematisch (vgl. Basil 1983, 27; Weichselbaum 2014, 24). Dokumente und Selbstaussagen von Maria Trakl gibt es kaum, in ihrem Nachlass gibt ein Konvolut an Briefen eines unbekannten Adressaten Rätsel auf (Weichselbaum 2014, 24–26). Häufig tritt in Darstellungen das Attribut der Kälte zutage, das sich im Entzug mütterlicher Wärme und fehlender Geborgenheit geäußert habe. Aufgrund der prosperierenden Geschäfte war es der Familie Trakl möglich, in Salzburg einen gehobenen Lebensstil zu verwirklichen, Wohnadressen, Bildung der Kinder sowie Klavierunterricht geben davon Zeugnis. Die Erziehung der Kinder oblag einer französischen Gouvernante namens Marie Boring aus dem Elsass, römisch-katholisch von Bekenntnis. Das Biographem der kalten Mutter wird kontrastiert mit der warmherzigen Bonne, gleichlautend sind zudem die beiden Namen der Frauen. »Maria« und »Marie« verweisen auf einen weiteren Bedeutungsraum, der in Trakls Gedichten aufgerufen wird, nämlich jenen der Jungfrau Maria, Mutter Jesu. Vielfache Erwähnung findet die Sammelleidenschaft Maria Trakls und ihr Sinn für das Schöne (vgl. Basil 1983, 27 f.; Spat 2003, 50; Weichselbaum 2014, 25). Sie besaß eine Antiquitätensammlung von Porzellan, Gläsern, alten Stoffe, insbesondere Brokaten, und Barockmöbeln, die sie selbst restaurierte. Die Kinder beschreiben nachträglich, dass sich die Mutter vom Familienleben ab- und ihrer Samm-

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lung tageweise zuwandte (vgl. Bondy 1952). In die museale Welt versunken, gilt Maria Trakl in den biographischen Darstellungen als interessante Figur und »weiblicher Sonderling«, »ohne mütterliche Ausstrahlung, aber von starker musikalischer Sensibilität«, die sich als Person entzog, als Mutter nicht greifbar war, aber dem Haushalt eine schöngeistige Atmosphäre zu verleihen wusste (Basil 1983, 28). Aufgrund dieser ambivalenten Familienkonstellation sei sie dem Dichter Georg Trakl zu einem Objekt der »Hassliebe« geworden (Vgl. Basil 1983, 28; Spoerri 1954, 42). Neuere Darstellungen sind in diesem Punkt um Differenzierung bemüht. Gertrud Spats Roman Maria T. widmet sich dezidiert der Perspektive der Mutter, die als IchErzählerin zu Wort kommt. Als ebenso biographischer wie fiktiver Bericht beschreibt der Roman die elterliche Ohnmacht ob der vermuteten inzestuösen Zusammenkünfte der beiden Kinder Grete und Georg (Spat 2003, 70), verweist aber zugleich auf ein tragisches Nahverhältnis von Mutter und Sohn, die sich in einer familiären Außenseiterposition spiegeln, ohne einander zu finden. Der Topos der kalten, abweisenden Mutter wurde von der Forschung als biographische Implikation übernommen und in Interpretationen zumeist zum dominierenden Faktor stilisiert. Psychoanalytische Lektüren entzünden sich an einer pathologischen Mutter-Kind-Dyade, die zu einer ödipalen Konfliktsituation ausgeweitet wird. So zeigen nach Kleefeld Trakls poetische Sprachfiguren »Konflikte des Selbst mit den mütterlichen Imagines«, die auf Störungen der frühen Objektbeziehungen zurückzuführen seien (Kleefeld 1988, 96). Goldmann wertet in seiner tiefenpsychologischen Studie nach C.G. Jung die »Mutter« neben »Maria« und der »Schwester« als eine Anima-Gestalt, die sich in vielen weiteren Rollen abzeichne (vgl. Jung 1976, 96). Bei Identifizierung der Mutter über alle Werkgruppen hinweg kommt es mitunter zu einer diffusen Ausweitung: Die Mutter zeige sich in Maria Magdalena, der Dirne, der Nonne, der Kleinen, der Waise sowie in den Mägden und Nymphen (vgl. Goldmann 1957, 117).

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Zur »Mutter« in Trakls Werk Die Konkordanz zeigt das Wort »Mutter« häufig in Form von Genetiv-Attributen, etwa das »ernste Antlitz der Mutter« (»Anif«, ITA III, 331), die »Stille der Mutter« (»Geburt«, ITA III, 416), die »nächtige Gestalt seiner Mutter« (»Traum und Umnachtung«, ITA IV.1, 74), die »dunkle Klage der Mutter« (»Offenbarung und Untergang«, ITA IV.2, 69), der »gramvolle[] Schatten« (»Abendland« (II), ITA IV.1, 245) und die »dunkle Kühle« (»Sommer. In Sonnenblumen gelb …«, ITA III, 227) der Mutter. Die Mutter erweist sich somit als poetische Projektionsflächen in der Reihe jener Figurationen, die als Hauptwort in einer dem Genitiv eigentümlichen Spannung von Zugehörigkeit und Beschaffenheit stehen. Ein Blick auf die Verben zeigt den Handlungsraum der Mutter: sie singt (»Romanze zur Nacht«, »Die schöne Stadt«), verwest (»Allerseelen«), »trug das Kindlein im weißen Mond« (»Sebastian im Traum«, ITA III, 232), zagt (»Klage« [I]), sitzt (»Herbst«), wohnt im kahlen Baum und »sieht mich mit meinen traurigen Augen an« (»In der Hütte des Pächters…«, ITA IV.2, 184, Z. 54 f.). Mutterschaft rückt das Kind und damit den eigenen Ursprung, die matrilineare Verbindung der Geborenen mit der Welt, thematisch in den Vordergrund. Spiegelbildlich begegnet im »Dramenfragment« die eigene Abkunft im Angesicht der Angehörigen (»meine[] eigenen Augen«), wobei der Blick auf das ›Eigene‹ ein äußerlicher bleibt. Die Mutter ist eine Gestalt der Ferne, die mittels Anrufung in Relation zum lyrischen Kosmos des Gedichtes gesetzt wird. Allerdings wird die im literarischen Text beschworene Mutter rhetorisch auf Distanz gehalten durch die Kontingenz der Struktur (Klangfiguren, Metrum, sprachliche Bilder), wodurch die Figuration ebenso erzeugt wie gebannt wird. Berühmt für mütterliche Härte und Kälte ist jene Stelle aus »Traum und Umnachtung«, worin »der Mutter unter leidenden Händen das Brot zu Stein ward« (ITA IV.1, 76). In »Sebastian im Traum« ist es die »frierende Hand der Mutter« (ITA III, 232, V. 14), an welcher

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der Knabe über den Friedhof von St. Peter geführt wird. Die zyklische Struktur des Gedichts zeigt allerdings in den Wiederholungen zudem die parallel gesetzte »harte[] Hand des Vaters« (V. 26) und die »knöcherne[] Hand des Greises« (v. 48). Auch der erste Satz von »Traum und Umnachtung« ruft Vater, Mutter und den Knaben auf, kurz darauf wird die »Gestalt der Schwester« eingeführt (ITA IV, 73). Die Mutter ist somit zwar eine von anderen familiären Prototypen umringte Figur, allerdings kommt ihr unter diesen eine exponierte Position zu, die sich nicht selten auch in ihrer strukturellen Verankerung im Gedicht niederschlägt: Im Gedicht »Das Gewitter« steht die Klage der »Mütter« alleine als freistehender Vers, umgeben vom Groll der Väter und dem Kriegsschrei des Knaben (ITA IV.2, 149). In »Metamorphose« erfolgt die dreimalige Anrufung auch in den Worten »O Mutter du, Maria!« (ITA I, 98). Eine ähnliche Wiederholung, allerdings ohne das Wort »Mutter«, lässt sich auch in »Blutschuld« finden, worin die dreimalige Bitte erfolgt »O verzeih uns Maria in deiner Huld« (ITA I, 96). Streichungen zeigen, dass die Substantive Mutter, Vater, Knabe, aber auch Schatten, Nacht, Wald und Stern in der Genese der Gedichte abwechselnd auftauchten. Die Festlegung der semantischen Grenzen im lyrischen Mutter-Bild geschieht vor dem Hintergrund einer prinzipiellen Dynamik innerhalb einer stabilen Bildsprache des Traklschen Figureninventars.

Zur »Mutter« in der Trakl-Forschung Die Deutung der Mutter-Figur bleibt bis heute eng mit der Biographie Trakls verbunden, wenngleich psychoanalytische und theologische Interpretationsansätze je eigene theoretische Akzente setzten. Sehr der Lebensgeschichte Trakls verpflichtet ist die 1932 als Dissertation eingereichte Untersuchung Felix Brunners (vgl. Brunner 1932). Er unternimmt eine erste zusammenfassende Darstellung von Lebenslauf und Werk, wobei er vor allem auf Erstausgaben sowie Aussagen und Sammlungen von Zeit-

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genossen zurückgreift. Brunner unterscheidet in Bezug auf die »Mutter« zwischen Stoff und Motiv (Brunner 1932, 119–121). Von (tragischer) Mutterschaft handeln – in Brunners Lesart – die Gedichte »Frauensegen« und »Die junge Magd«. Als Motiv findet die Mutter in zweifacher Hinsicht Verwendung: einerseits verbunden mit Stille und Sanftmut und andererseits als quälendes Bild. Letzteres trete vor allem in den autobiographisch gefärbten Prosadichtungen auf. Insgesamt hebe sich die Mutter als Klagende und Leidende von den vergleichsweise »farblosen« Vätern ab (Brunner 1932, 120). Eine psychoanalytische  Interpretation der Mutterbilder unternimmt Gunther Kleefeld (vgl. Kleefeld 1988). Analog zur Auseinandersetzung mit dem Traum gelte es, zum latenten Gehalt des Gedichts vorzudringen und in der manifesten Oberfläche des poetischen Textes die verdrängten Inhalte, Ängste und uneingestandene Wünsche des Dichters zu eruieren. Die Tiefenhermeneutik nähert sich somit über »szenisches Verstehen« den unbewussten Beziehungsfiguren und liest die Gedichte als komplexe Psychodramen (vgl. Kleefeld 1988, 76, 86). Die Mutter-Kind-Beziehung, die bei Trakl als biographisch belastet gilt, begründe diesem Ansatz zufolge eine Ambivalenz, die das gesamte Werk durchzöge. In »Traum und Umnachtung« finde sich bereits im Eingangssatz ein ödipales Beziehungsdreieck (Kleefeld 1988, 78): »Am Abend ward zum Greis der Vater; in dunklen Zimmern versteinerte das Antlitz der Mutter und auf dem Knaben lastete der Fluch des entarteten Geschlechts« (ITA IV.1, 73). Das Selbst, das die Mutter zugleich begehrt und hasst, zieht den Zorn des Vaters auf sich (vgl. Kleefeld 1988, 85). Im Fokus von Kleefelds Interpretation steht neben »Romanze zur Nacht« und »Drei Blicke in einen Opal« das Gedicht »An die Verstummten«, in dem das Wort »Mutter« zunächst nicht auftaucht. Das Gedicht sei nur vordergründig ein Stück Großstadtlyrik, Kleefeld liest es als Symbolisierung einer Geburtsszene, womit der Hure eine Mutterrolle zugewiesen wird (»Hure, die in eisigen Schauern ein totes Kindlein gebärt«; ITA III, 351). Der Knabe oder

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das Kind werden als Selbstrepräsentanzen des Dichters gewertet. Mit Blick auf die symbolischen Beziehungsfiguren nennt Kleefeld drei Mutterbilder: die steinern-abweisende Mutter, die zur »Hure« oder »Greisin« degradierte Mutter und die mater dolorosa, die Mutter als gequältes Objekt (Kleefeld 1988, 87). Schließlich erweitert er diese Trias mütterlicher Imagines um eine archaische Mutter, in deren Schoß als einem Ort der Geborgenheit und des Friedens sich das primärnarzisstische Ich zurücksehnt. In diesem Kontext gerät das Wasser zur symbolischen Repräsentanz von Freuds »ozeanische[m] Gefühl[]« (vgl. Freud 1999, XIV, 422). Aggressive, sadistisch anmutende Szenen (z. B. in »Blaubart«, »Traum und Umnachtung«) kämen neben regressiven Verschmelzungswünschen zu stehen – eine Ambivalenz, die sich in der Farbe Blau widerspiegle: »Das Blau hat bei Trakl unverkennbar eine mütterliche Aura« (Kleefeld 1988, 90). Das ›blaue Rauschen‹ wird sowohl mit dem mütterlichen Element des Wassers als auch mit dem blauen Gewand der Madonna assoziiert (vgl. »Traum und Umnachtung«, ITA IV.1, 74). Als Beleg zitiert Kleefeld Karl Kraus, der aus der Gegenüberstellung von verfrühten ›Siebenmonatskindern‹ und verspäteten ›Vollkommenen‹ ein spannungsgeladenes Weltgefühl ableitet: »Zurück zu dir, o Mutter, wo es gut war« (Kraus 1912, 24). Durch den Doppelcharakter des Wassers als einerseits »sanft umhüllendes«, andererseits »verschlingendes Element« wirkt die archaische Mutter mitunter auch bedrohlich, wie Szenarien des Ertrinkens zu erkennen geben (Kleefeld 1988, 91). Der weibliche Schoß begegne als verschlingender Mund (vgl. »Gesang zur Nacht«), »Verschmelzungswunsch hat sich verkehrt in Vernichtungsangst« (Kleefeld 1988, 92). Das Gedicht »Klage« (I) zeige, wie das Selbst letztlich der Macht der archaischen Mutter verfällt. Die böse Mutter erzeuge ein Selbst, das sich fragmentiert (Kleefeld 1988, 95). Eindrückliches Zeugnis hierfür gebe das an kahler Mauer zerschellende »kindlich Gerippe« aus »Föhn« (ITA IV.1, 136), wobei zuvor die Mauer über den Stein, die Riffe,

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Wogen und Dunkelheit der Nacht mit dem semantischen Wirkungsraum der Mutter metonymisch verknüpft wurde. Kleefelds psychoanalytische Interpretation identifiziert die Mutter unmissverständlich als dasjenige Objekt, an dem das Selbst zugrunde geht. Auch Goldmann konstatiert das Vorherrschen von düsteren und verzweifelten Bildern, worin die Mutter mit Schmerz, Grauen und Tod in Verbindung gesetzt wird (vgl. Goldmann 1957, 119), wertet den Verschmelzungswunsch allerdings als positive Erfahrung im Sinn eines Abstiegs zu ebenso grundlegenden wie vorgeordneten Archetypen (Katabasis). Mit diesen Voraussetzungen ist er in der Lage, in Trakls Werk eine Entwicklung hinsichtlich der Mutter-Figuration zu erkennen: »So wandelt sich das Bild der Mutter von der konventionellen Gestalt der tröstenden Gottesmutter Maria, wie sie der jugendliche Dichter von der katholischen Umwelt annahm, bis zur mythisch-heidnischen Form« (Goldmann 1957, 122). »Abendland« (II) zeige etwa eine größere Mutter, die »nicht dienende Magd ist, sondern Erhalterin in der Tiefe wie Demeter zu Eleusis« (Goldmann 1957, 121). In »Offenbarung und Untergang« stehe der Abstieg schließlich im Zeichen der Mutter und verspräche eine Auflösung, ein »Eingehen[] in Nacht und Meer« (Goldmann 1957, 122). Goldmanns Lektüre, auf die mythische Bedeutung von Figuren und Farben gerichtet, vollzieht eine Transformation von der Identifikation menschlicher Gestalten zur Emanation archetypischer Symbolik, die nach C.G. Jung im kollektiven Unbewussten angelegt ist (vgl. Jung 1976, 13–87). Nicht nur psychoanalytische, sondern auch religiöse Deutungen wissen mit der familiären Trias von Vater, Mutter und Kind zu arbeiten, in welcher sie jene familiäre Grundstruktur erkennen, in der sich das Christliche durch übergeordnete Herrschaft des Heiligen Vaters weltlich abbildet. Die Diskrepanz von irdischem und überweltlichem Dasein erfährt besondere Konkretion in den Frauenfiguren. Unter Verweis auf den Namen »Maria« stellt Kleefeld fest, dass in Trakls Dichtung »die Madonna in die Reihe der Muttergestalten« rückt (Kleefeld 1988, 81). Als

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Mutter Maria und Mutter Gottes sei die Mutterimago sowohl Instanz schmerzvoller Anrufung (in »Metamorphose«) als auch die gequälte Mutter, aufgerufen durch die Gestalt der Magd (Madonna als Magd Gottes vgl. Kleefeld 1988, 82). In religiösen Deutungen wird die Sexualisierung der Mutterfigur auf eine separate Frauengestalt, die Magd, übertragen und zugleich ausgelagert. Der Jesuit Alfred Focke deutet Trakls Werk ausgehend von der Schuld des Geborenen. Im Zentrum von Trakls Dichtung stünde eine Gestalt, »die er immer wieder die ›Schwester‹ nennt« (Focke 1954, 196), wobei die Anwendung der beiden eschatologischen Szenarien von Offenbarung und Untergang auf die Gestalt der Frau, Schwester und Mutter zusammenführe. Die Mutter zeige sich vor allem als Klagegestalt: Die Todesklage der Mütter beweine die Zwietracht des Geschlechts, denn das neue Leben ist der Verwesung ausgeliefert. Die Vereinigung des Geschlechts in der Liebe führe in eine zu Lebzeiten unauflösbaren Konflikt. Liebe und Verwesung begegnen bereits im Gedichtzyklus »Die junge Magd«. Die Magd ist nach Focke jene Frau, »die der Knechtschaft des Geschlechtlichen dient« (Focke 1954, 203). Trakls Dichtung sei in letzter Konsequenz ein religiöses Erlebnis, worin wir »die Gestalt Mariens als Vollendung des Fraulichen erahnen sehen« (Focke 1954, 210). Die leibliche Schwester Grete sei für Trakl nur ein Ausgangspunkt, »sie wird ihm die schwesterliche Frau, das Sinnbild alles Weiblichen in und außer ihm, sein Verhältnis zu ihr wird zum Urbild aller Liebe und Liebenden« (Focke 1954, 211). Fockes theologische Interpretation sieht eine Transzendierung der biologisch-irdischen Voraussetzungen im aufgerufenen poetischen Bild. Der Vers »Unter Sternen« aus »Klage« (II) (ITA IV.2, 332) sei, wie auch der Schluss von »Grodek«, hervorgegangen aus der finalen Anrufung der Schwester: »Sie erscheint ihm als die Schwester und die Frau und die Mutter in wahrhaft metaphysisch wesenhafter Bedeutung. Ihr gilt sein letzter Gruß, sein letztes Gesicht« (Focke 1954, 231, Hervorheb. i. Orig.).

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Ausblick Die skizzierte Spannung von Geschlecht, Sexualität und Erlösung, wie sie für die Figur der Mutter in psychoanalytischen und religiösen Deutungen erörtert wurde, führt letztlich zurück zu Otto Weiningers Konzeption von Geschlecht und Charakter, in der für die Frau zwei Typen, nämlich »Mutter« und »Dirne«, vorgesehen sind (vgl. Weininger 1903, 280–213). Der Sexualität kommt in dieser Unterscheidung eine Schlüsselfunktion zu. Die Mutter erscheint als gebärende Erhalterin der Gattung, während die Prostituierte für sexuelle Freizügigkeit steht und letztlich ein Mysterium bleibt, dem es aus Sicht des Männlichen zu widerstehen gilt. Die Probleme, die sich aus diesem misogynen Grundkonflikt um 1900 ergeben, werden diskursiv durch die beiden Positionen von Otto Weininger und Sigmund Freud gerahmt: Die Forderung nach idealistischer bzw. metaphysischer Überwindung der Körperlichkeit steht der Anerkennung einer Dynamik der Psyche und eines unbewussten Trieblebens gegenüber. »Verschlingung von Idealismus und Sexualität« in den Gedankenkreisen von Freud und Weininger lassen sich vielfach in der Thematik der expressionistischen Dichtung wiederfinden (vgl. Doppler 2001, 146), zudem können die Interpretationsversuche der Mutterfigur als spätes Echo dieser grundlegenden Positionen gelesen werden. In Trakls Werk werden Aspekte dieses Weiblichkeitsdiskurses aufgerufen. Sie bleiben als ästhetische Aporien bestehen, wenngleich sie von Interpretationen unter großer theoretischer Anstrengung vorgeblich aufgehoben wurden. Die Instrumentalisierung der Mutter-Figuration geschieht vor einer synekdochischen Hinwendung an einzelne Gedichte, wobei Verbindungslinien über auftauchende Widersprüche hinweg konstruiert und zu einem geschlossenen Ganzen homogenisiert werden. Neuere Forschungspositionen, die von der Komplexität der Gedichte, auch in ihrer historisch-kritischen Genese, ausgehen, sind für die intrikate Verwiesenheit von Gedicht und Diskurs sensibilisiert: »nicht

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nur, dass die vielfachen Fassungen der ›einzelnen‹ Gedichte als Varianten der Gedichte erkennbar werden; die Gedichte selbst werden – bei Trakl sichtbarer als bei anderen Autoren seiner Zeit – zu Varianten des Diskurses (Dusini 2009, 199). Werkdiskursive Fragestellungen wie jene nach der Mutter auf der Basis einzelner Gedichtlektüren zu erarbeiten, bedeutet eine methodologische Herausforderung und bildet ein Forschungsdesiderat. Einer »notwendig daraus resultierenden Erklärungsintensität« (ebd.) gilt es nicht nur für die »Mutter«, sondern auch für die »Frau« in Trakls Werk unter heutigen Bedingungen aufs Neue zu begegnen.

Literatur Basil, Otto: Georg Trakl. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek b. Hamburg 1983. Bondy, Barbara: »Ein Kind wie wir anderen auch …« Unterhaltung mit dem Bruder Georg Trakls. In: Die neue Zeitung, Nr. 28 vom 2.2.1952, 9. Brunner, Felix: Der Lebenslauf und die Werke Georg Trakls. Wien 1932. Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Aus dem Amerikanischen von Kathrina Menke. Frankfurt a.M. 1991 (engl. 1990).

K. Kaufmann Doppler, Alfred: Georg Trakl und Otto Weininger. In: Ders.: Die Lyrik Georg Trakls. Beiträge zur poetischen Verfahrensweise und zur Wirkungsgeschichte. Salzburg/Wien 2001, 146–157. Dusini, Arno: Variante, Invariante. Georg Trakls ›Kaspar Hauser Lied‹. In: Károly Csúri (Hg.): Georg Trakl und die literarische Moderne. Tübingen 2009, 199–218. Focke SJ., Alfred: Georg Trackl. Liebe und Tod. Wien/ München 1954. Freud, Sigmund: Gesammelte Werke. Hg. von Anna Freud, Ewald Bibring, Willy Hoffer und Lilla VeszyWagner. Frankfurt a.M. 1999. Goldmann, Heinrich: Katabasis. Eine tiefenpsychologische Studie zur Symbolik der Dichtungen Georg Trakls. Salzburg 1957. Jung, Carl Gustav: Die psychologischen Aspekte des Mutterarchetypus. In: Ders.: Die Archetypen und das kollektive Unbewusste. Olten/Freiburg i. B. 1976 (Gesammelte Werke, Bd. 9,1), 67–123. Kleefeld, Gunther: Mutterbilder. Symbolische Beziehungsfiguren in den Gedichten Georg Trakls. In: Hans Weichselbaum (Hg.): Trakl-Forum 1987. Salzburg 1988, 71–99. Kraus, Karl: Georg Trakl zum Dank für den Psalm. In: Die Fackel 14, H. 360–362 (7.11.1912), 24. Spat, Gertrud: Maria T. Eine Mutter. Frankfurt a.M./ Basel 2003. Spoerri, Theodor: Georg Trakl. Strukturen in Persönlichkeit und Werk. Eine psychiatrisch-anthropographische Untersuchung. Bern 1954. Weichselbaum, Hans: Georg Trakl. Salzburg 2014. Weininger, Otto: Geschlecht und Charakter. Wien/Leipzig 1903.

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Okkultismus Gunther Kleefeld

Mit ›Okkultismus‹ sei im Folgenden ein disparates Diskursfeld bezeichnet, das sämtliche Traditionen des Geheimwissens einschließt, deren Formgeschichte sich von der Spätantike bis in die Gegenwart erstreckt. Wenn Trakls Lyrik als ›hermetisch‹ bezeichnet wird, so wird nicht nur ihre Verschlossenheit auf einen geläufigen Begriff gebracht – vielmehr wird sie damit eben dieser okkulten Überlieferung zugeordnet, die zurückreicht bis ins hellenistische Alexandria, bis zur Gestalt des Hermes Trismegistos, des legendären Ahnherrn der Alchemie. Er gilt als Verfasser des Corpus hermeticum, einer Sammlung von Traktaten, in denen die synkretistische Geisteswelt der Spätantike dokumentiert ist. Die 1471 von Marsilio Ficino ins Lateinische übersetzten hermetischen Schriften gewannen seit der Renaissance einen großen Einfluss auf das europäische Geistesleben, begründeten eine eigene Tradition okkulter Wissenschaften, denen hinfort weder die Kirche, noch die aufklärerische Vernunft den Garaus machen konnten (vgl. Doering-Manteuffel 2008). Im späten 19. Jahrhundert erhielt das okkulte Denken neuen Auftrieb. 1875 konstituierte sich in New York die Theosophische Gesellschaft;

G. Kleefeld (*)  Freiburg i.B., Deutschland E-Mail: [email protected]

Mitbegründerin Helena Petrovna Blavatsky stieß mit ihrem Hauptwerk The Secret Doctrine (1888), das hermetisch-gnostisches Erbe mit buddhistischen Elementen anreicherte, gerade in Künstlerkreisen auf breites Interesse. Wie die Malerei, so hat auch die Lyrik der Moderne okkulte Impulse aufgenommen. Die Stammväter des französischen Symbolismus, Baudelaire, Rimbaud und Mallarmé, ließen sich bei der Entwicklung ihrer neuen ars poetica von zeitgenössischen Okkultisten und den hermetischen Schriften inspirieren (dazu Pauen 1994, 95 ff.); auch die expressionistische Avantgarde zeigte reges Interesse an Okkultismen aller Art (dazu Pytlik 2006). In seinem epochemachenden und Trakl sicher bekannten Buch Über das Geistige in der Kunst beruft sich Kandinsky 1910 explizit auf Blavatsky und deren deutschen Schüler Rudolf Steiner (Kandinsky 1973, 43). Wie ein erhaltenes Skizzenblatt belegt, ließ sich Trakls Schwester Margarete in Berlin anhand der Vorträge Steiners über die Johannesapokalypse (Steiner 1979) in dessen theosophische Geheimlehre einweihen (Kleefeld 2009, 15 ff.). Auch im Innsbrucker Brenner-Kreis wurde die Theosophie thematisiert. So befasste sich der Kulturphilosoph Carl Dallago kritisch mit dem Blavatsky-Mitarbeiter Franz Hartmann (dem neben Steiner wichtigsten Wegbereiter der Theosophie im deutschsprachigen Raum) und dessen ›geheimwissenschaftlicher‹ Deutung von Bibel-

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_91

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texten; auf Dallagos Beitrag im Brenner-Heft vom 1. Mai 1914 folgt Trakls Gedicht »Abendland« (II). Ein ganz besonderes Faible für das Okkulte hatte Trakls Innsbrucker Freund Karl Röck: Er beschäftigte sich intensiv mit Zahlenmystik, entwickelte dabei eine geradezu kultische Verehrung der Sieben, die auch bei seiner Anordnung der ersten Gesamtausgabe Trakls (1919) zum Tragen kam. Röcks von ihm selbst behaupteter Einfluss auf Trakl steht zur Diskussion (dazu Kleefeld 1996, 227 ff.).

Die Mystik der Zahlen Schon der Titel der dritten Abteilung von Sebastian im Traum – »Siebengesang des Todes« –zeigt, dass auch Trakl dieser Zahl Reverenz erweist. Anregung gab da nicht allein Stefan George mit seinem zyklisch strukturierten Gedichtband Der siebente Ring (1907). Die Sieben begegnet ja in zahllosen Mythen und Riten, sie steht im Zentrum der Astrologie und Alchemie; in der Bibel, die Trakl als Bildarsenal ausgiebig genutzt hat, wimmelt es nur so von Heptaden, vom Schöpfungsbericht über die mosaischen Reinigungsrituale und die von Jesus geforderte 70 mal 7fache Vergebung bis hin zum Buch mit den 7 Siegeln. In seiner Auslegung des Pentateuch preist Philo von Alexandria über Seiten hinweg die wunderbaren Eigenschaften der Sieben (Philo 1909, 60 ff.); als heiliger Zahl wurde ihr in der patristischen Bibelexegese ebenso hohe Bedeutsamkeit zugeschrieben wie in den esoterischen Schulen der frühen Neuzeit, die sich für die mysteria numerorum interessierten – so etwa von Agrippa von Nettesheim in seinem Kompendium hermetischer Künste (Agrippa 1987, 245 f.). Dieser zahlenmystischen Tradition ist schließlich auch Steiner verpflichtet, der seine theosophische Kosmologie auf die Sieben und ihre Potenzierungen gegründet hat (vgl. Steiner 1910). Mit solchen Potenzierungen operiert nun auch Trakl. 49 Gedichte enthält sein Gedichtband von 1913, der mit sieben Gedichten aus Reimquartetten beginnt. An siebter Stelle steht »Winterdämmerung«, das aus 71 Wörtern ge-

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baut ist – und exakt in dessen Zentrum, auf Position 36, steht dabei die Sieben: »Und vor Satans Flüchen drehen / Jene sich im Kreis und gehen / Nieder siebenfach an Zahl« (ITA I, 498 f., Textstufe 5 D). Diesem Kreis der 7 Krähen entspricht der einleitende Siebenerzyklus, der dann potenziert wird in den 49 Gedichten, die das Buch enthält. Das Schlussgedicht trägt den Titel »Helian« – ein Name, über den viel gerätselt wurde. Ein gematrisches Experiment bringt hier ein verblüffendes Resultat. Transponiert man nach dem in der Numerologie beliebten Zahlenalphabet die Buchstabenfolge in eine Zahlenfolge, so ergibt sich für »Helian« folgende Rechnung: (8 + 5 + 12 + 9 + 1 + 14) = 49. Die Zahl dieses Namens entspricht damit exakt dem Platz des Gedichtes in der Sammlung, als letztes von 49 Gedichten. Subtiler noch hat Trakl bei der Komposition seines zweiten Gedichtbands mit der Sieben operiert. Die erste Abteilung von Sebastian im Traum, die ihren Titel mit dem des Buches teilt, gliedert sich in zwei Siebenerzyklen und ein abschließendes Prosagedicht, also das Schema 7 + 7 + 1 = 15. Und das wird wieder potenziert: Der ganze Band zählt 7 × 7 + 1 = 50 Gedichte. Die Zahlen 15 und 50 erweisen sich dabei als numerologische Erhöhungen der Acht (7 + 1), die den Kirchenvätern als Zahl der Auferstehung und des Heils galt (vgl. Meyer 1975, 139). Das Erlösungswerk Christi wird im Alten Testament präfiguriert vom göttlichen opificium mundi; die ältesten Passionswege gliederten sich daher in 7 Stationen, deren letzte den Kreuzestod des Erlösers darstellte. Die Auferstehung steht damit auf Platz 7 + 1 = 8. Die Kreuzwegstationen wurden später auf 14 verdoppelt und so rückte die Auferstehung, nach Christi Grablegung, auf Platz 15. Dieses Passions-Schema 7 + 7 + 1 korrespondiert somit klar mit dem Passions-Thema in Trakls zweitem Gedichtband. Bei der Komposition seiner Gedichte, Zyklen und Gedichtsammlungen hat Trakl offenkundig auf numerische Verhältnisse geachtet. Dass er dabei gelegentlich selbst die Anzahl der Buchstaben im Auge hatte, belegt sein Gedicht »Landschaft«. Auch da steht am Anfang die Sieben: »Septemberabend…« (ITA III, 160). Die

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Eingangszeile umfasst 49 Buchstaben, wie die mit ihr korrespondierende Eingangszeile des zweiten Quartetts. Jedes Quartett zählt exakt 200 Buchstaben, das macht für die 8 Zeilen 400 Buchstaben. Und wie die 15 und die 50, so ist auch die 400 eine arithmologische Potenzierung der Zahl des Heils: 7 + 72 + 73 + 1 = 400. Wie ein mittelalterlicher Baumeister, so hat auch der Spracharchitekt Trakl sein Bauhüttengeheimnis.

Satanische Verse Ein Kreis sieben satanischer Krähen spiegelt sich in einem Zyklus von sieben Gedichten: Hat Trakl satanische Verse geschrieben? Das 1907 entstandene Gedicht »Der Heilige«, in dem die Madonna bei einem christlichen Asketen »grausam-unzüchtige« Visionen weckt (ITA I, 88), zählt jedenfalls dazu. Das Baudelaire verpflichtete Gedicht erweist sich als poetische Illustration Trakls zu einem 1906 in der Fackel abgedruckten kulturkritischen Essay des Salzburger Schriftstellers und Trakl-Bekannten Karl Hauer, der unter dem Titel »Erotik der Keuschheit« die christliche Sexualmoral aufs Korn genommen hatte: »Je strenger die Tugend geübt wird, desto mehr wachsen die Begierden, und in dem zerquälten Hirn des Heiligen tauchen von Zeit zu Zeit erotische Visionen auf, die in ihrer halluzinatorischen Kraft die Erotik Neros und Heliogabals beschämen. Der Heilige nennt es ›Versuchung‹« (Hauer 1906, 10). Dieser Figur hat Trakl nicht nur sein Gedicht gewidmet, mit ihr identifiziert er sich auch 1908 in einem Brief: »Ich habe die fürchterlichsten Möglichkeiten in mir gefühlt, gerochen, getastet und im Blute die Dämonen heulen hören, die tausend Teufel mit ihren Stacheln, die das Fleisch wahnsinnig machen« (ITA V.1, 68). Auch dieses stilisierte Selbstporträt des Dichters knüpft klar an Hauer an, zugleich an Weiningers Ausführungen über das dichterische Genie (Weininger 1903, 131 ff.). Das blasphemische Madonnengedicht erweist sich insofern als ein poetologischer Schlüsseltext: Der von Visionen des Bösen bedrängte Christenmensch wird als Prototyp des modernen Künstlers begriffen.

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Das Christentum, so Hauer, habe die Sexualität zwar unterdrückt und beschädigt, sie andererseits aber auch vergeistigt und damit ganz neue ›erotische Visionen‹ ermöglicht. Als Paradebeispiel dient ihm der Satanismus: »Im Satanismus sehen wir die Idee der Sünde ungeheure erotische Phantasien gebären, neben denen alle sexuellen Tatsächlichkeiten verblassen« (Hauer 1906, 10). Zwei Kultbücher der Jahrhundertwende empfiehlt Hauer in diesem Zusammenhang, Przybyszewskis Die Synagoge Satans (1897) und Huysmans’ Là-bas (1891). Beide Bücher befassen sich mit der Geschichte des Satanskultes, der als ›Gnosis des Bösen‹ seit der Spätantike eine subversive, untergründige Gegenströmung zum Christentum war. Huysmans Protagonist Durtal arbeitet an einer Biographie des Gilles de Rais (Huysmans 1994, 49 ff.), des Kampfgefährten der Jeanne d’Arc, der später als Kinderschänder und Massenmörder zum historischen Vorbild der BlaubartFigur wurde (vgl. auch Bataille 1967). Ihr hat Trakl 1910 ein Puppenspiel gewidmet, in dem es ausgesprochen sadistisch zur Sache geht. Die »Blutbrautnacht« des »Blaubart« hat die Konturen einer schwarzen Messe. Das satanische Puppenspiel greift ein Thema auf, das in Trakls späterer Dichtung stets präsent bleibt. So agiert Anfang 1914 im Prosagedicht »Traum und Umnachtung« ein Knabe in ›grausam-unzüchtiger‹ Blaubart-Manier: »Haß verbrannte sein Herz, Wollust, da er im grünenden Sommergarten dem schweigenden Kind Gewalt tat« (ITA IV.1, 74). Auch der Kermor im Dramenfragment »In der Hütte des Pächters …« (ITA IV.2, 156–190) ist eine solch satanische Gestalt. Im Jägerkostüm positioniert sich der Blaubart als Gegenspieler des Christus; das biblische Bild vom guten Hirten, der seine Lämmer weidet, findet bei Trakl in brutaler Konsequenz seine Umkehrung im Bild vom Jäger, der das Wild erlegt und ›ausweidet‹: »Unter dem Haselgebüsch weidet der grüne Jäger ein Wild aus. Seine Hände rauchen von Blut […]«, ITA III, 287). Systematisch invertiert wird die christliche Glaubenswelt auch in »De profundis« (II). »Ich harre des Herrn« heißt es im Psalm 130, den der Gedichttitel zitiert; im Text tritt eine

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Waise auf, deren Verlangen nach einer unio mystica deutlich sexualisiert wird: »ihr Schoß harrt des himmlischen Bräutigams.« Der aber bleibt aus, statt eines guten Hirten erscheint ein Abgesandter der Hölle, der grausame Jäger. »Hunde zerfleischen den süßen Leib«, so lautet eine später gestrichene Zeile in der Handschrift (ITA II, 117). Insofern ist das Trakl-Gedicht eine Kontrafaktur zur christlichen Brautmystik des Mittelalters, etwa der ekstatischen Jesus-Minne der Mechthild von Magdeburg (Kleefeld 2009, 84 ff.). Wie aus einer Postkarte hervorgeht, hat Trakl auch ein der literarischen Schule des Marquis de Sade entstammendes weiteres Kultbuch der Décadence gelesen, nämlich Octave Mirbeaus Le Jardin de Supplices (1899). Es war unter dem Titel Der Garten der Qualen 1901 in deutscher Übersetzung erschienen und in der k. u. k.-Monarchie umgehend verboten worden. Die Postkarte ist auf den 4.-6.7.1909 zu datieren (ITA V.1, 93) und nimmt offensichtlich Bezug auf die Uraufführung von Oskar Kokoschkas Einakter Mörder, Hoffnung der Frauen – auch dies ein skandalträchtiges, ausgesprochen ›grausam-unzüchtiges‹ Stück. Mit ihrer Blaubart-Thematik ist Trakls Dichtung keineswegs allein in der literarischen Moderne. In ihrer Drastik und in der Pervertierung christlicher Bildsprache steht sie in der Traditionslinie der ›schwarzen Literatur‹ de Sades, Poes und Baudelaires. Die Imagination des Bösen gehört zu den konstitutiven Merkmalen von Trakls Werk, wobei der direkten Adressierung Luzifers (ITA IV.2, 31–37) die Ausfaltung der Sünde zur Seite tritt. Dazu gehört auch der Geschwisterinzest, wie ihn nicht nur die Schlusszeile von »Traum des Bösen« alludiert (ITA I, 517) – ein mit Blick auf Trakl oft biographistisch verkürztes Sujet.

Chymische Passion Auf eine weitere Spur poetisierten Geheimwissens führt »Abendländisches Lied«, ein Gedicht, das im Wunschbild einer androgynen Auferstehung kulminiert: »Aber strahlend heben die silbernen Lider die Liebenden / Ein Geschlecht.

G. Kleefeld

Weihrauch strömt von rosigen Kissen / Und der süsse Gesang der Auferstandenen« (ITA III, 420). Der Androgyn ist ein okkultes Erbstück Trakls, das der Vorstellungswelt der Alchemie entstammt. In deren Laboratorien sollte nicht bloß Gold hergestellt werden, es ging nicht nur um materielle, sondern immer auch um spirituelle Prozesse: Ziel des magnum opus war eine »Katharsis der Gegenstände, zugleich mit der der Seelen« (Bloch 1976, 753). Der alchemistische Heilsplan ist eine Variante jener gnostischen Häresie, die von der Kirche über Jahrhunderte bekämpft, doch nie besiegt wurde, der Vorstellung von der Selbsterlösung des Menschen. Ihre Wurzeln hat die Alchemie in antiken Mysterienkulten, in denen es um das Leiden, den Tod und die Auferstehung eines Gottes ging. Dieses Passionsmysterium wurde auf die Materie projiziert (vgl. Eliade 1992, 160), und so erscheint die alchemistische Prozedur als eine Folge von ›chymischer Hochzeit‹, Tod, Verwesung und Auferstehung, als eine Passionsgeschichte. Der ›Stein der Weisen‹, der im hermetischen Gefäß in komplizierten Läuterungsstufen (auf-) erstehen sollte, figuriert in der alchemistischen Ikonographie als mann-weiblicher Rebis (res bina = Doppelding) – er wird als Androgyn imaginiert. Bei Trakl lässt sich die Herkunft des Motivs zurückverfolgen. Er hatte im Herbst 1913 Emil Luckas Die drei Stufen der Erotik gelesen, in dem aus Novalis’ Geistlichen Liedern zitiert wird: »Einst ist alles Leib, / Ein Leib. / In himmlischem Blute / Schwimmt das selige Paar« (Lucka 1913, 207). Diese Zeilen, auf die Trakl klar Bezug nimmt, werden wiederum nur verständlich vor dem Hintergrund der Theosophie Böhmes, die Novalis studiert hatte. In seinem Genesis-Kommentar Mysterium Magnum (1623) führt Böhme aus, dass Gott den Adam als Androgyn, als ›männliche Jungfrau‹ geschaffen habe. Beim Sündenfall sei dem Adam sein weiblicher Anteil, die ›himmlische Jungfrau‹ abhandengekommen, nach ihr sei er hinfort auf der Suche. Böhme, der sich durchwegs alchemistischer Terminologie bedient, erklärt Christus schließlich zum wahren Stein der Weisen: Nur er könne den Adam ›mit himmlischem Blute tin-

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gieren und heilen‹ und das ursprüngliche androgyne Wesen restituieren (vgl. Böhme 1958, VII, 117 ff.). Die neue Theosophie brachte um 1900 Böhmes Schriften wieder ins Gespräch, damit auch seinen androgynen Adam. Bei zahlreichen theosophisch tingierten Autoren taucht er denn auch auf, etwa in Przybyszewskis Erzählung Androgyne, die das Motiv so entschlüsselt: »Gottgefühl: Er-Sie! Androgyne!« (Przybyszewski 1906, 107). Wenn Trakl in seinen Gedichten immer wieder »Die goldne Gestalt / Der Jünglingin« (ITA IV.2, 131) beschwört, so rückt er damit in den Kontext dieser von okkulten Traditionen inspirierten Literatur. Auch das hochrekurrente Motiv des Geschwisterinzests, das zunächst Trakls Poetik des Bösen zuzuordnen war, findet einen wichtigen zweiten Bezugspunkt in der Rebis-Figur. In der alchemistischen Ikonographie wird sie dargestellt als Ergebnis einer conjunctio des Geschwisterpaars Sol und Luna, mithin einer inzestuösen Verschmelzung. Das Inzestmotiv ist ein Element der alchemistischen Bildersprache, derer Trakl sich bedient. So ist sein Sonnenjüngling Helian offensichtlich auf der Suche nach einer Schwester: »Immer tönt der Schwester mondene Stimme / Durch die geistliche Nacht« (ITA III, 76). Und da nun dem Mond alchemistisch das Silber zugeordnet ist, mag dem Adam seine verlorene himmlische Braut auch erscheinen als »silberne Rose / Schwebend über dem nächtlichen Hügel« (ITA IV.1, 116). Ein exquisites Exemplar in Trakls Florilegium ist schließlich die »Georgine« (ITA IV.2, 120), die den ›Georg‹ sprachalchemistisch transmutiert in eine androgyne ›Jünglingin‹.

Das erlösende Haupt Hat Trakl, wie Baudelaire, sein poetisches Schaffen als alchemistische Kunst begriffen? Wie aus zwei Briefen hervorgeht (ITA V.1, 126; 161), sieht er sich als ›Verseschmied‹. Die Analogie liegt auf der Hand: Wie der Alchemist, so hat es der Schmied mit Metallen zu tun. Vom poetischen Schmiedehandwerk ist nun in den Schlusszeilen des Gedichts »An

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die Verstummten« die Rede: »Aber stille blutet in dunkler Höhle stummere Menschheit, / Fügt aus harten Metallen das erlösende Haupt« (ITA III, 351). Mit den »Verstummten« sind die Dichter angesprochen; Produkt ihrer Schmiedekunst ist »das erlösende Haupt«. Natürlich assoziiert sich Christus: Entwirft Trakl hier das Bild einer christlichen Dichtung, wie Ludwig von Ficker suggerierte, als er diese Zeilen am Ende seines Vorworts zum 1919 erstmals wiedererscheinenden Brenner zitierte? Das Metall, mit dem der Schmied es zu tun hat, meint einen Zustand der Seele, der überwunden werden muss, es kennzeichnet den gefallenen Adam: »O, des Menschen verweste Gestalt: gefügt aus kalten Metallen« (ITA IV.1, 144). Wenn solches Metall zum erlösenden Haupt werden soll, so impliziert dies einen Prozess der Schmelzung, Läuterung und Transmutation: Die Schmiedewerkstatt gewinnt damit Züge eines alchemistischen Labors. Das Opus des Dichters wird hier zum Stein der Weisen, zur erlösenden Tinktur. Kein Priester spricht sein ›ego te absolvo‹, kein ›sola fide‹ gilt – in Gestalt des Gedichts erschafft der Schmied sich seinen Erlöser selbst. Das ist beileibe nicht orthodox christlich, vielmehr die alte gnostischalchemistische Häresie. Wenn Trakls Artistenevangelium den Dichtern nun auch eine Bereitschaft zum ›Bluten‹ abverlangt, so verbindet sich der poetisch-alchemistische Prozess mit einem Passionsgeschehen. Die beiden Zeilen sind denn auch aus 15 Wörtern geschmiedet, das »Haupt« steht numerisch auf dem Platz des Heils. Trakl hat das Gedicht dann in die 7 + 7 + 1 Titel zählende Abteilung »Siebengesang des Todes« platziert – unmittelbar vor sein Gedicht »Passion«. In dieser Schmiedewerkstatt arbeitet ein ›verstummter‹ Dichter. Produkt seines Schaffens ist nicht ein Text, der etwas ›sagen‹, sich als lyrischer Diskurs dem Leser mitteilen will, sondern eine Textur, ein kunstvoll ›zusammengeschmiedetes‹ Gefüge, eine suggestive Kon­ stel­lation von Worten. Der Dichter schweigt, er arbeitet mit seinem Material, er löst und fügt die Worte, bis er sie transmutiert hat in »[t]önendes Gold« (ITA II, 313). Diese Kunst kann zu Recht als ›hermetisch‹ bezeichnet werden.

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Literatur Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt a. M. 31976. Böhme, Jacob: Mysterium Magnum, oder Erklärung über das Erste Buch Mosis. In: Sämtliche Schriften. Faksimile-Neudruck der Ausgabe von 1730 in 11 Bänden. Hg. von Will-Erich Peuckert. Stuttgart 1958. Dallago, Carl: In Berührung mit Theosophie. In: Der Brenner 14 (1914), 615–636. Doering-Manteuffel, Sabine: Das Okkulte. Eine Erfolgsgeschichte im Schatten der Aufklärung. Von Gutenberg bis zum World Wide Web. München 2008. Eliade, Mircea: Schmiede und Alchemisten. Mythos und Magie der Machbarkeit. Übers. von Emma von Pelet. Freiburg i. B. 1992. Hauer, Karl: Erotik der Keuschheit. In: Die Fackel 192 (1906), 8-14. Huysmans, Joris-Karl: Tief unten. Übers. von Ulrich Bossier. Stuttgart 1994. Kandinsky, Wassily: Über das Geistige in der Kunst. Bern 101973. Kleefeld, Gunther: Maß und Gesetz. Zahlenkompositorik in Georg Trakls Gedichtband Sebastian im Traum. In: Károly Csúri (Hg.): Zyklische Kompositionsformen in Georg Trakls Dichtung. Tübingen 1996, 227–289.

G. Kleefeld Kleefeld, Gunther: Mysterien der Verwandlung. Das okkulte Erbe in Georg Trakls Dichtung. Salzburg 2009. Lucka, Emil: Die drei Stufen der Erotik. Berlin/Leipzig 1913. Meyer, Heinz: Die Zahlenallegorese im Mittelalter. Methode und Gebrauch. München 1975. Pauen, Michael: Dithyrambiker des Untergangs. Gnostizismus in Ästhetik und Philosophie der Moderne. Berlin 1994. Philo von Alexandria: Über die Weltschöpfung. In: Die Werke in deutscher Übersetzung. Hg. von Leopold Cohn et al. Berlin 1909 ff., Bd. I, 28–89. Przybyszewski, Stanislaw: Androgyne. Berlin 1906. Pytlik, Priska (Hg.): Spiritismus und ästhetische Moderne – Berlin und München um 1900. Dokumente und Kommentare. Tübingen 2006. von Nettesheim, Agrippa: De occulta philosophia. Drei Bücher über Magie. Nördlingen 1987. Weichselbaum, Hans (Hg): Androgynie und Inzest in der Literatur um 1900. Salzburg 2005. Weininger, Otto: Geschlecht und Charakter. Wien/Leipzig 1903. Steiner, Rudolf: Die Apokalypse des Johannes. Ein Zyklus von zwölf Vorträgen mit einem einleitenden öffentlichen Vortrag gehalten in Nürnberg vom 17. bis 30. Juni 1908. Dornach 61979 (GA 104). Steiner, Rudolf: Die Geheimwissenschaft im Umriss. Leipzig 31910.

Pathos, Pathologie und Pathologisierung

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Arno Dusini

»Wenn auch diesem Buch sehr vieles mangelt, vor allem jene Harmonie und Klarheit, die ein Gedicht erst zu einem Kunstwerk macht, so glaube ich doch, daß an meiner Arbeit jedermann die lebendige Kraft, die den Menschen zu sich selbst führen kann, wird schätzen dürfen; ist mir doch zu Mute, als lernte ich in unsäglicher Mühsal langsam das reden, was die Seele will« (DuB 567): Trakls späte Sätze, mit einem Korrekturabzug von Sebastian im Traum einst Adolf Loos zugedacht, formulieren nochmals jene Problematik, die sein Schreiben von allem Anfang an durchzieht und im poetologischen Rekurs auf die historisch-literarische Figur des Kaspar Hauser ihre wohl nachdrücklichste Ausformung gefunden hat – die Grenze zwischen Sprechen und Kultur. Für deren Überwindung steht im »Kaspar Hauser Lied« bekanntlich der Wunsch: »Ich will ein Reiter werden« (ITA III, 325). Wobei der Wortlaut dieses Wunsches, neben vielen anderen Bezügen (vgl. Christen 2016), auch einen zu einem zeitgenössischen Zeitschriftentext aufweist. Datiert mit 15. September 1909 – Trakl lebt gerade studienhalber in Wien – eröffnet die Berliner Halbmonatschrift Das literarische Echo mit dem Aufsatz »Das

A. Dusini (*)  Institut für Germanistik, Universität Wien, Wien, Österreich E-Mail: [email protected]

neue Pathos« von »Stefan Zweig (Wien)«. In großem Bogen konstruiert der Text einen Begriff von »Pathos«, der vom »Urgedicht« als einem »modulierte[n], kaum Sprache gewordene[n] Schrei« (Zweig 1909, Sp. 1702) bis herauf in die Gegenwart führt – nach langer Brechung durch das Medium der Schrift und der entsprechenden Ausbildung einer »poetischen Sprache« (ebd.) könne das Gedicht wieder zurückkehren zum »ursprünglichen, innigen Kontakt zwischen dem Dichter und dem Hörer« (ebd., 1703). Das »neue Pathos«, so Zweig, müsse »das Wort vom Papier wieder aufreissen in die Luft, das Gefühl nicht sorgfältig als eine Heimlichkeit dem einzelnen anvertrauen, sondern in den Gischt einer Masse schleudern« (ebd., 1704). Als konkretes Vorbild nennt Zweig, dem wie Trakl die Dichter des französischen Symbolismus nahe stehen, das ebenfalls französischsprachige lyrische Werk des belgischen Dichters Émile Verhaeren: »›Ditez‹, dieser Anruf, der wie eine Geste ist, das drängende ›encore, encore!‹ sind in seinen Gedichten schon zu Rufen erstarrt, wie jeder Reiter für sein Pferd gewisse Worte hat, um aus ihm die letzte Kraft herauszuholen. Solche Worte sind nichts anderes als umgesetzte rednerische Gesten. Das dumpfe ›Oh!‹ ist die Geste der Beschwörung […]. Bis zur Fieberhitze sind diese Gedichte emporgetrieben« (ebd., 1706). Neben dem intertextuell überraschenden »Reiter«-Vergleich sowie der Entsprechung zu

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_92

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Trakls eigener Auskunft aus dem Juli 1910, wonach die besondere »Form« seiner Gedichte geschaffen sei von »lebendige[m] Fieber« (ITA V.1, 126), ist es vor allem Zweigs rhetorische, zutiefst apostrophische Bestimmung des Gedichts, die den »Pathos«-Begriff weit über seine tradierte schulrhetorische Verwendung hinaus dem Verhältnis von politischer Dichtung und Öffentlichkeit aufschließt. Der im »Kaspar Hauser Lied« geäußerte Wunsch, »Reiter« werden zu wollen, wird vor diesem Hintergrund als Anliegen erkennbar, durch den dichterischen Redeakt Individuelles in und mit Allgemeinem zu vermitteln – so wie sich das auch in einem Brief vom Januar 1912 ausgesprochen findet, in dem Trakl zur Überarbeitung eines seiner Gedichte anmerkt: »Es ist umso viel besser als das ursprüngliche als es nun unpersönlich ist, und zum Bersten voll von Bewegung und Gesichten. Ich bin überzeugt, daß es Dir in dieser universellen Form und Art mehr sagen und bedeuten wird, denn in der begrenzt persönlichen des ersten Entwurfs« (ITA V.1, 174). In der Frage nach dem Verhältnis von Individuellem und Allgemeinem kristallisiert sich aber nicht nur das primäre Anliegen der Traklschen Poetik, sondern auch eine nach wie vor virulente Verlegenheit der Auseinandersetzung mit seinem Werk. Trakls eindrückliche Identifikation vom April 1912: »Wozu die Plage. Ich werde endlich doch immer ein armer Kaspar Hauser bleiben« (ITA V.1, 192) macht sein Schreiben im Radius des expressionistischen ›O Mensch-Pathos‹, das schon etymologisch die Frage nach dem Leid mitschleppt, ansprechbar für Pathologisierungen, die allerdings in auffälliger Spannung stehen zu den sprachlichen Qualitäten, die man Trakls Gedichten sofort attestierte. Um nur drei Zeugnisse in Erinnerung zu rufen: Else Lasker-Schüler spricht in dem handschriftlich am 14. Oktober 1915 an Karl Kraus übersendeten Gedicht »Georg Trakl« von dem Dichter als von »Martin Luther« und von seinen Gedichten als von »singende[n] Thesen« (Lasker-Schüler 1996–2010, I.1, 181). Kasimir Edschmid formuliert 1917: »Da ist das süße Farbspiel, aus Verwesung das Göttliche mit krankhafter Schönheit suchend, bei […] Georg Trakl,

A. Dusini

der die Natur mit elegischen Gesichten nie gesehener Schönheit erfüllte« (Edschmid 1982, 53). 1919 spricht Albert Ehrenstein von der »unübertrefflichen Vollkommenheit der Gedichte« (Ehrenstein 1989–2004, V, 81). Dass gerade das Vollkommene der sprachlichen »Form und Art« ihre eigene sprachpathologische Seite idiosynkratisch verhandle (so ließe sich übrigens – mit Betonung auf »Lied« – die oszillierende Titulierung »Kaspar Hauser Lied« paraphrasieren), das mag für Trakl Ausdruck dichterischer Notwendigkeit gewesen sein, für die Literaturwissenschaft hingegen ist sie nicht selten Gelegenheit und Anlass, einen ›Nimbus der Person‹ (Streeruwitz 2015, 18) zu zelebrieren, in dem Leben und Werk bis zur Ununterscheidbarkeit amalgamiert und gegeneinander aufgeladen werden. Drogenabhängigkeit, auch im nächsten Familienumkreis, Inzest, Umgang im Milieu der Prostitution, Melancholie, Depression, Schizophrenie und Kriegstraumatisierung – das sind lebensgeschichtliche Fakten (vgl. dazu zuletzt Hans Weichselbaum 2014), die, wenn sie die Texte interpretatorisch überwuchern, den Mehrwert des Schreibens, die sprachliche Leistung der Traklschen Gedichte zu kassieren drohen. Des Autors notwendige Verwiesenheit auf die normierenden Sprechbedingungen seiner Zeit kommt dabei zu kurz; sie verschwindet in den Händen der Literaturwissenschaft unter einer Genealogie lyrischen Sprechens, die Trakl freilich selbst abgetastet hatte, die des poète maudit, also jener Diskurs-Figur, die es gegen alle dichterische Intention erlaubt, die Gründe für die Ausschließung aus dem Sozialen in der Person des Ausgeschlossenen selbst zu autopsieren. Mit anderen Worten: Die Bekräftigung der Dichtungsgenealogie löscht ausgerechnet das sprechpragmatische – mit Stefan Zweig würde man wohl sagen: – rhetorische Fundament der Traklschen Dichtung. Alles »Pathos« muss der Pathologisierung als persönlicher Redeüberschuss erscheinen, wo dieser notwendig eine Vermittlung zwischen dem Individuellen und dem Sozialen meint. Auffälligerweise scheinen nun aber gerade die Untersuchungen der pathologischen Seite von Trakls Lebensumständen mit seinen Texten

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Abb. 92.1  Trakl, Frontalaufnahme 1909 oder 1910, oval; Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Nachlass Ludwig von Ficker.

besser zurechtzukommen als die Trakl-Philologie – das Werk, nicht Absolutum hermeneutischer Anstrengung, ist ihnen schlichtes Symptom. Zu nennen ist da zuallererst Theodor Spoerris »psychiatrisch-anthropographische« Studie Georg Trakl, Strukturen in Persönlichkeit und Werk« von 1954: sie macht im Licht der Schizophrenie-Diagnose insbesondere auf Figuren von ›Gegensätzlichkeit‹ und ›Zwiespalt‹ in Trakls Werk aufmerksam. Zu erwähnen ist auch die an C. G. Jung geschulte Studie »Georg Trakl. Person und Mythos« von Erich Neumann von 1959; sie hat explizit »nicht das Ganze seiner Dichtung« im Auge, sondern deutet »das eine, zentrale Problem seines Daseins […]: die Gestalt der Schwester« im Sinn einer vorpersonalen, archetypischen Bindung (Neumann 1995, 236). Zu nennen ist weiterhin The Poet’s Madness von 1981, das Buch des Trakl-Forschers Fran-

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cis Michael Sharp, der den negativ besetzten Begriff der ›Schizophrenie‹ durch den der ›metanoia‹ (Sharp 1981, 40) ersetzt haben möchte und »the art of psychotics« von der nichtkünstlerischen Psychopathologie durch die – bei Trakl durch den Krieg zerstörte – Aussicht unterschieden sieht, »that the alienation from the common mind may not be permanent or irreversible« (Sharp 1981, 42). Die 1985 erschienene Abhandlung von Gunther Kleefeld, Das Gedicht als Sühne, unternimmt es, Trakls Dichtung psychogenetisch als »konstitutiven Konflikt zwischen Natur und Kultur, zwischen Triebstruktur und Gesellschaft« (Kleefeld 1985, 24) auszubuchstabieren. Dem deklarierten »Versuch einer Psychobiographie« stellt Kleefeld eine an Freud ausgerichtete, »tiefenhermeneutische« Lektüre des Werkes bei (vgl. Kleefeld 1985). Dass diese auf Trakls Pathologie konzentrierten Untersuchungen zunehmend soziale und gesellschaftliche Kontexte mit einbeziehen, ist auf eine fachspezifische Fortentwicklung des Begriffs der »Schizophrenie« zurückzuführen, die im Krakauer Garnisonsspital 1914 noch unter der Bezeichnung »Dement. Praec.« firmierte (ITA VI, 255). Generell überspringen die genannten Arbeiten indes die ›linguistische Wende‹ ihres Untersuchungsobjekts. Trakls Werk wird der Logik psychologischer, psychiatrischer oder psychoanalytischer Symptome unterworfen, ohne dass die für die sprachliche Anamnese geläufigen Termini problematisiert würden; so verweisen etwa die rekurrent auftauchenden Begriffe von ›Bildersprache‹ bzw. ›Sprachbildern‹ ungeschieden auf eine ›ut pictura poiesis‹-Tradition, in der sich Trakl 1910 (im Kontext der vermeintlichen Plagiierung seiner Texte durch Ludwig Ullmann) mit dem Ausdruck von der »bildhafte[n]«, »heiß errungene[n] Manier« (ITA V.1, 126) distinkt positioniert hatte. Durch die strikte Zurückweisung des Biographischen – etwa im Rückzug auf strukturalistische Formalismen – ist indes jener verführerischen Tendenz zur Pathologisierung der Texte, die sich in der literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit Trakl spiegelt, nicht zu entkommen. Der Grund für eine solche Patho-

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logisierung liegt in den meisten Fällen in einem ungeklärten Verhältnis der systemisch am Redeakt beteiligten Instanzen, das für die lyrische Gattung anderen Regeln zu folgen scheint als für die dramatische, mit der Trakl begonnen hatte, oder die prosaische, mit der Trakls Sebastian im Traum endet. Mit den systemisch am Redeakt beteiligten Instanzen sind die vier: ›Person‹, ›Autorschaft‹, ›Perspektive‹ und ›Figur‹ gemeint. Sie finden sich je nach Gattung nicht nur terminologisch auf je eigene Weise ausdifferenziert, sondern werden je nach Gattung auch auf besondere Weise gegeneinander durchlässig gemacht. Das betrifft zuallererst die Instanz der empirischen Person Georg Trakl, die, anders als dies vielfach geschieht, mit dem literarischen Autor nicht ident zu setzen ist – ihr Leben läuft dem Schreiben bekanntlich immer auch voraus oder geht ihm hinterher. Davon zu unterscheiden ist der »Autor« als Instanz im Sinn von Autorschaft, als Ort einer agonalen, nicht bloß reproduktiven sprachlichen Auseinandersetzung der empirischen Person mit den Sprachen und Diskursen ihrer Zeit. Uta Degners Vorschlag, Trakls Autorschaft als ›infirm‹ zu bezeichnen (vgl. Degner 2016), lässt sich unter anderem als Vorbehalt gegen eine Verwechslung von ›Autorschaft‹ (als einem Raum sprachlicher Konfrontation) und einem Begriff von Autor verstehen, in den die Person widerstandslos eingeht. Von einer Würdigung der Diskrepanzen zwischen Person und Autorschaft ist aber auch die dritte Instanz, die Instanz der lyrischen Perspektivierung erfasst – jene pronominale Auszeichnung der Organisation von Welt, für die hinsichtlich des Gedichts traditionell der Begriff des »lyrischen Ich« steht. Die für Trakl so charakteristische wie auffällige Zurückhaltung bzw. Rücknahme dieses »Ichs« wäre dann aber nicht nur Kennzeichen einer infirmen Autorschaft, sondern im selben Moment Ausdruck eines ungesicherten Verhältnisses zwischen Autorschaft und Person, das sich im instabilen Text-Szenario von Zugehörigkeiten und Ausschlüssen niederschlägt. »[R]eden« lernen, was »zu sich selbst

A. Dusini

führen kann« – das ließe sich als entsprechende Formel lesen. Und schließlich stellt sich in vierter Instanz die Frage nach den Figuren, die in den Gedichten über ein komplexes Zusammenspiel von Namen, Verben und anderen Attribuierungen vorgestellt werden, »Helian« beispielsweise, die »Jünglingin«, »Gott«, eben »Kaspar Hauser« (zu dem es von Trakl übrigens auch ein verloren gegangenes »Puppenspiel« gab) oder auch die »ungebornen Enkel«. Sie werden vom Gedicht nicht nur in besonderer Weise figuriert, angesprochen und disponiert, sondern sind auch Teil einer kulturellen Ausarbeitung dessen, wie sich ›Person‹ allgemein denken lässt. Angesichts von Trakls ›vollkommenen‹ Gedichten wird von daher eine Beantwortung der Frage, was »den Menschen zu sich selbst führen« könne, gerade nicht über die bloße »Form«, sondern nur über eine Rekonstruktion dieser »Form« in ihrer »Formgebung« möglich, d. h. über eine Analyse der diskursiven Bedingungen dieses außerordentlichen Sprechens (Bourdieu 2017, 116). Ohne deren Einbezug droht eine implizite Pathologisierung der Texte, die den sprachlichen Mehrwert der Gedichte in die empirische Person bannt und deren Beschädigungen in der sprachlichen und poetischen Dimension der Texte wiederholt. Trakls ›pathetische‹ Überschreibung von ›Pathologischem‹ ist gerade nicht durch Pathologisierung zu fassen. Seine Gedichte gehen in die andere Richtung – sie stellen auf sprachliche Integration und nicht auf jene Ausschlüsse ab, die das Pathologische überhaupt erst produzieren.

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Rausch Gabriela Wacker

Die Rausch-Thematik in Trakls Œuvre wird in der Trakl-Forschung schon seit langer Zeit ausgeklammert bzw. nahezu tabuisiert. Dies liegt vornehmlich daran, dass der Vorwurf des Biographismus im Raum steht und dieser eine unvoreingenommene Lektüre von Trakls Gedichten unter Berücksichtigung ihrer ästhetischen Qualitäten zu behindern droht. Als biographischer Hintergrund ist zu erinnern, dass Georg Trakl ab 1905 durch seine dreijährige Tätigkeit als Apothekerlehrling in der Salzburger Apotheke ›Zum weißen Engel‹ in der Linzer Gasse, wo er als Vorbereitung für sein Pharmaziestudium praktiziert, durch sein anschließendes Pharmaziestudium in Wien und später als Militärapotheker im Lazarett leicht Zugang zu verschiedenartigen Substanzen und Drogen findet, mit denen er experimentieren kann (vgl. Weichselbaum 2014, 48). Sein übermäßiger Drogenkonsum ist durch Selbstzeugnisse, Briefe an und Berichte von Freunden dokumentiert. Bereits als junger Mann ist er demnach ein starker Raucher und bestreicht seine Zigaretten eigens mit einer Opiumlösung (vgl. Weichselbaum 2014, 41). Zudem ist er ein starker Trinker: Wein und Schnaps sind seine bevor-

G. Wacker (*)  Deutsches Seminar, Eberhard Karls Universität Tübingen, Tübingen, Deutschland E-Mail: [email protected]

zugten alkoholischen Getränke, die er in großen Mengen geübt zu sich nimmt. An seinen Freund und Förderer von Ficker schreibt er beispielsweise, er habe seinen Kummer in einem »Meer von Wein« (ITA V.2, 522) ertränkt. Ferner ist er übermäßig süchtig nach Süßigkeiten (vgl. Weichselbaum 2014, 41). Trakl erwähnt bereits 1905 gegenüber seinem Freund Karl von Kalmár seinen Chloroform-Konsum als Ausgleich zum vielen Arbeiten und kommentiert seine Drogenerfahrung mitunter kritisch: »Um über die nachträgliche Abspannung der Nerven hinwegzukommen, habe ich leider wieder zum Chloroform meine Zuflucht genommen. Die Wirkung war furchtbar. Seit acht Tagen leide ich daran – meine Nerven sind zum Zerreißen. Aber ich wiederstehe der Versuchung, mich durch solche Mittel wieder zu beruhigen, denn ich sehe die Katastrophe zu nahe« (ITA V.1, 45). Trakl probiert sehr wahrscheinlich bereits ein Jahr zuvor, also mit siebzehn Jahren, erstmals dieses Narkotikum (vgl. Kupfer 2002, 228). An anderer Stelle bezeichnet er den Tod im Ätherrausch als herrlich (vgl. Basil 1965, 51, Sattler 2010, 226). Die Drogen dienen ihm allgemein als Mittel zur Flucht aus der für ihn unerträglichen Lebenswirklichkeit, im Besonderen sollen sie ihm auch über seine Schaffenskrisen hinweghelfen. Zur Sedierung des Bewusstseins nimmt Trakl vorrangig Veronal ein, wie er es selbst festhält: »Das Veronal hat mir einigen Schlaf vergönnt« (ITA V.1, 283, vgl. Weichselbaum 2014, 43).

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Auch Trakls mehrfacher Konsum von Kokain, Morphium, Meskalin und Opium ist bekannt (vgl. Sattler 2010, 222 f.; Thumser-Wöhs 2017, 290). Sein eigenes Leiden an den verheerenden Folgen seiner Sucht und seines Drogenmissbrauchs wird durch die Schuldgefühle seiner Schwester Grete gegenüber nochmals verstärkt, die er wohl ebenfalls bereits als Achtzehnjährige zum Drogenmissbrauch verführt (vgl. Kemper 2014, 109; Kemper 2016, 224). Dass erbliche Veranlagungen zum Drogenkonsum vorliegen und die drogenabhängige Mutter den Kindern als negatives Vorbild dient, ist insofern naheliegend, als Trakl seine Mutter selbst als »Opiumesserin« (ITA VI, 250) bloßstellt. Am 3. November 1914 stirbt Trakl an einer Überdosis Kokain im Garnisonsspital von Krakau, nachdem er geistig zerrüttet aufgrund der schmerzlichen Erfahrungen als Militärapotheker bei der Schlacht von Grodek 1914 zur Untersuchung seines Geisteszustandes in das Spital gebracht wird (vgl. Weichselbaum 2014, 41).

›Gesichte‹: Trakls Poetik des Rauschtraums Der Drogenkonsum bestimmt indes nicht nur augenfällig die Rausch-Biographie Trakls und seine unheilvolle Beziehung zu seiner ebenfalls Drogen konsumierenden Lieblingsschwester Grete, sondern prägt auch seine Poesie. Eindringlich und umfassend hat zuletzt Hans-Georg Kemper in seiner Studie Droge Trakl. Rauschträume und Poesie (Kemper 2014) den Rausch als den entscheidenden Hintergrund für die vielen halluzinativen Bilder im Traklschen Thesaurus offengelegt und Trakls poetische »Rauschträume« (vgl. Kemper 2016, 229) detailliert vorgestellt. Der Studie zufolge wird unter dem Schleier der Poesie nicht nur das von der TraklPhilologie viel und kontrovers diskutierte Inzestmotiv verborgen. Auch die einer Traumwelt zugehörigen Bilder entspringen einer spezifischen Rausch-Verdichtung, sodass sie »zumindest Ausdruck einer poetisch inszenierten Intoxination« (Kemper 2014, 15) sind. Der öffentliche

G. Wacker

tabuisierte Drogenkonsum findet demzufolge im Bereich der Kunst einen geeigneten Ort, um von Trakl überhaupt thematisiert werden zu können (vgl. Kemper 2014, 15). Dass zwischen dem biographisch belegten, unmittelbaren Rauschkonsum und seiner poetischen Rauschdarstellung zu unterscheiden ist, liegt in der Natur der Sache. Bei der poetischen Durchdringung und Verarbeitung der Rauschträume kann und soll es nicht darum gehen, Trakls Poesie als unmittelbaren Ausdruck seiner Rauscherfahrungen zu verstehen. Denn eine simultane Gestaltung, d. h. eine gleichzeitige Versprachlichung und Poetisierung der Rauscherfahrung, ist für den Berauschten nicht möglich, da dieser im Zustand des Rausches nicht in der Lage ist, gleichzeitig poetisch tätig zu sein (vgl. Kemper 2014, 15, 38). Allerdings scheint nach einem gewissen zeitlichen Abstand eine poetische Verdichtung der Rauscherfahrungen durchführbar zu sein, zumal das Erinnerungsvermögen an diese relativ stabil ist (vgl. Kemper 2014, 38). Hervorzuheben ist demnach, dass Trakl in seinen Gedichten kein Traum- oder Rauschprotokoll anfertigt, sondern er vielmehr seine Gedichte in mühseliger und bewusster Arbeit in einem zeitlichen Abstand zum Drogenkonsum gestaltet hat (vgl. Pfisterer-Burger 1983, 22). Dieser Gestaltungszwang oder diese Sucht nach der mehrfachen Überarbeitung der Gedichte ermöglicht nicht zuletzt eine besondere »ästhetische Reflexion seiner Sucht« (Kemper 2014, 15) und stellt vielleicht zeitweise auch einen Drogenersatz oder eben eine alternative Form von Suchtverhalten dar (vgl. Kemper 2014, 35, 56). Viele der Traklschen Gedichte lassen sich unter Rekurs auf die Wahrnehmungsformen von ›Rauschträumen‹ jedenfalls besser und auch anders verstehen, obwohl sich bei Trakl anstelle des Begriffs ›Rauschträume‹ häufig der Begriff ›Gesichte‹ findet (vgl. Kemper 2014, 148 f., 193). Dieser unterstreicht einerseits den prophetischen Tenor der Lyrik und das von Trakl adaptierte Autorschaftsbild des visionären Sehers (vgl. Wacker 2013, 256 f.); andererseits umschreibt er euphemistisch den »Rauschtraum«, da dieser zur damaligen Zeit in der Öffentlichkeit tabuisiert ist (vgl. Wacker 2013, 293, 372;

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Kemper 2014, 13–14; Kemper 2016, 221). Ein umgearbeitetes Gedicht lobt Trakl etwa mit den Worten, dass es nun »zum Bersten voll von Bewegung und Gesichten« (ITA V.1, 174) ist. Dass seine ›Gesichte‹ ihn körperlich zu affizieren beginnen, könnte ein Hinweis auf die physischen Folgen seines Drogenkonsums sein: »Seltsame Schauer von Verwandlung, körperlich bis zur Unerträglichkeit empfunden, Gesichte von Dunkelheiten, bis zur Gewißheit verstorben zu sein, Verzückungen bis zu steinerner Erstarrtheit; und Weiterträumen trauriger Träume« (ITA V.1, 321). Trakls Förderer und Freunde wie Mahrholdt, Heinrich, von Ficker, Leitgeb, Röck und Zangerle bedienen sich indes der Seher-Topoi und dabei häufig des Begriffs ›Gesichte‹, um Trakl als herausragenden Prophet seiner Zeit zu adeln: »Seine Bildwelt mitzuteilen, bediente sich Trakl der Sprache als eines heiligen Mittels. Er unterwarf sich seinen Gesichten; als Künstler war ihm aufgegeben, sie durch die Sprache zu verlebendigen. Der Wohllaut seiner Verse quoll aus dem Gesehenen« (Marholdt 1959, 77).

Der Rausch als Inspirationstopos Diese doppeldeutige Lesart der ›Gesichte‹ – als Sakralisierung des Dichteramtes einerseits und poetisch umkleidete Mittelung von Rauschintoxikationen andererseits – zieht sich durch die verschiedenen Briefäußerungen Trakls und seiner Freunde und prägt die Motivik und Ästhetik seiner Gedichte maßgeblich. Es lässt sich diskutieren, inwiefern Trakl und seine Förderer seine spezifischen Drogenprobleme – insbesondere in den Briefen – in die salonfähige und biblisch fundierte Seher-Thematik einbetten, um sie zu verschleiern und den eigentlichen Kern, die Suchtproblematik, zu verbergen (vgl. Wacker 2013, 293). In Trakls Gedichten lässt sich nämlich häufig eine Zusammenstellung von Inspirationstopoi und Rausch-Thematik beobachten, etwa prägnant in »Geistliches Lied«: »Gottes blauer Odem weht / In den Gartensaal herein, / Heiter ein. / Ragt ein Kreuz im wilden Wein« (ITA I, 503), oder in »Ein Herbstabend«: »Der Trunkne

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sinnt im Schatten alter Bogen / Den wilden Vögeln nach, die ferngezogen« (ITA II, 384). Für seine Rauschdichtung hat Trakl prominente Vorbilder, mit denen er sich intensiv auseinandersetzt. Dazu zählen Nietzsches verherrlichende Würdigung des Dionysischen als Kunsttrieb sowie die ›Drogen-Poesie‹ von Baudelaires Paradis artificiels (vgl. Wacker 2013, 392 f.), Rimbauds (vgl. Mahrholdt 1959, 65; Böschenstein 1978, Wacker 2013, 293 f.) und Verlaines (vgl. Kemper 2014, 27, 115). Insbesondere Verlaines Festhalten am »Mythos der ›reinen Kindheit‹« (Weichselbaum 2014, 65) und seine gleichzeitige Flucht in den Alkoholrausch sind eine vorbildhafte, paradox angelegte Kombination, die sich in Trakls Sehnsucht nach Reinheit, Unversehrtheit und kindhafter Vollkommenheit sowie seinem Verfall und seiner Betäubung durch Rauschmittel wiederfindet. Die von Nietzsche als Ausdruck von Lebensbejahung gefeierte Macht des Dionysischen fasziniert Trakl früh. Im dritten seiner »Drei Träume« sieht ein prophetisches Ich den ewigen Kreislauf zwischen apokalyptischem Niedergang und neuem Leben, in dem wir »Die ewig gleiche Tragödia« spielen, »Und deren wahnsinnsnächtige Qual / Der Schönheit sanfte Gloria / Umkränzt als lächelndes Dornenall« (ITA I, 233 f.). Die Schönheit fungiert dabei wie der Schein im Sinne Nietzsches, die contradictio in adiecto »lächelndes Dornenall« verweist auf eine Grenzfigur zwischen Dionysischem und Apollinischem, die daran erinnert, dass der schöne Schein der Poesie den Rausch und das Dionysische zu ummänteln bzw. einzurahmen vermag. Das in »Verwandlung des Bösen« verwendete Bild »Du, ein grünes Metall und innen ein feuriges Gesicht« (ITA III, 290), knüpft an diese paradoxale Figur an. Verse wie »Mutter trug das Kindlein im weissen Mond, / Im Schatten des Nussbaums, uralten Hollunders, / Trunken vom Safte des Mohns, der Klage der Drossel« (ITA III, 232), die im Titelgedicht »Sebastian im Traum« des gleichnamigen Zyklus den Auftakt bilden, verweisen auf den seit der Romantik bekannten RauschTopos als Inhalt und Katalysator für das Dichten. Insbesondere die bei Trakl sehr häufig ver-

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wendeten Motive Mohn und Wein sind hervorzuheben. Der bei Trakl vielfach erwähnte Mohn oder Mohnsaft – wie etwa in den Versen »Aus schwärzlicher Wolke / Träufelt bitterer Mohn« (ITA IV.1, 248) – gilt seit der Romantik als Metapher für die Droge Opium (vgl. Kemper 2014, 67 f., Kemper 2016, 220). Für Novalis und andere Romantiker bot der Rauschtraum den Weg zur ekstatischen Entgrenzung und zum Un- und Überbewussten (vgl. Kemper 2014, 15). Dieses Erbe der Romantik verdichtet Trakl etwa in seinem Epigramm »An Novalis«: »In zarter Knospe / Wuchs dem Jüngling der göttliche Geist, / Trunkenes Saitenspiel« (ITA III, 311, vgl. Kemper 2016, 221). Auch in diesem Fall ist die Verbindung von Inspiration und Trunkenheit augenfällig. Das »trunkene[] Saitenspiel« ist auf Novalis‘ poetisch gestaltete Rauschträume, etwa in den Hymnen an die Nacht oder im Heinrich von Ofterdingen, zurückzubeziehen (vgl. Kemper 2014, 68 f. und 73). Auch die teilweise mit der Novalis-Imago verschwimmende Elis-Figur in »An den Knaben Elis« kann als »mantischer Rauschträumer« (Kemper 2014, 227 f.) gesehen werden, heißt es doch über Elis entsprechend: »Du aber gehst mit weichen Schritten in die Nacht, / die voll purpurner Trauben hängt / und du regst die Arme schöner im Blau« (ITA II, 451). Die inspirative und prophetische Komponente der Rauscherfahrung zeigt sich anhand der prophetischen Elis-Figur mit ihren »mondenen Augen« (ebd.), die mit der Schau des Gerechten in Verbindung gebracht werden: »O! wie gerecht sind, Elis, alle deine Tage« (ebd., 454). Ein ähnliches Bild vom prophetischen Rauschträumer findet sich ferner in »Träumerei am Abend«: »Dem einsam Sinnenden löst weißer Mohn die Glieder, / Daß er Gerechtes schaut und Gottes tiefe Freude« (ITA I, 562). Der Hinweis auf den Konsum von Alkohol (Wein), Mohn oder Gift in Trakls Lyrik verdeckt überdies den Konsum harter Drogen wie Kokain (vgl. Kemper 2016, 221, Millington 2011). Verse wie »Verflucht ihr dunklen Gifte, / Weißer Schlaf!« (ITA IV.1, 24) und »Mit schwarzem Flügel / Rührt die Knabenschläfe der Nacht, / Schnee, der leise aus purpurner Wolke sinkt«

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(ITA III, 416) könnten demnach Trakls massive Rausch-Erfahrungen aufrufen und zugleich poetisch verschleiern.

Synästhesie und Wahrnehmungsschärfung: zur Lyrisierung von Rauschwirkung bei Trakl Neben den vielen Motiven zum Thema Rausch in Trakls Gedichten ist die poetische Verdichtung von Rauschwirkungen bedeutsam. Typisch hierfür sind insbesondere hypersensible Wahrnehmungen in allen Sinnesbereichen, synästhetische Erfahrungen, ein intensiviertes Farbempfinden, Veränderungen und Verunklärungen des Raum- und Zeitempfindens u. a., die sich allesamt in Trakls verdichteten Rauschträumen finden (vgl. Kemper 2016, 221). Werden die verschiedenen Wahrnehmungsweisen in den Gedichten Trakls genauer betrachtet, so fallen insbesondere Illusionen, Transformationen und Halluzinationen, Empfindungen von Ich-Entgrenzung und die Übertragungen eigener Gefühle auf die Natur auf (ebd., 222). Der oben hervorgehobene Themenkomplex der unversehrten Kindheit bei Trakl, die angesichts des Einbruchs des Rausches und des Dionysischen gefährdet erscheint, kann exemplarisch mit Blick auf Rauschwirkungen hervorgehoben werden. Die durch Drogenkonsum gesteigerte Sensibilität schlägt sich etwa in einer spezifischen Klanghörigkeit nieder, insbesondere durch die häufige Verwendung von Alliterationen und Assonanzen, so im Gedicht »Kindheit« (II), in dem es heißt: »Und in heiliger Bläue läuten leuchtende Schritte fort« (ITA III, 30). Der Vers erinnert wiederum an den verstorbenen Rauschträumer der »Elis«-Gedichte und verdichtet exemplarisch synästhetische Erfahrungen und ein intensiviertes Farbempfinden, wie es für die Wirkung halluzinogener Drogen typisch ist. Das in »Kindheit« (II) ebenfalls aufgerufene Thema der Erinnerung – nicht nur an Elis, sondern überhaupt an »erzählte Legenden« – belegt das veränderte Raum- und Zeitempfinden anschaulich. Der im Gedicht an-

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klingende Rausch könnte die Ursache für derartige veränderte Raum- und Zeitempfindungen sein. Auch Bilder der Transformation sind bei Trakl zahlreich (vgl. Kemper 2014, 229), etwa wiederum mit (auch poetologischem) Blick auf die knabenhafte Elis-Gestalt (»Dein Leib ist eine Hyazinthe«; ITA II, 451). Ferner kennzeichnet die Elis-Figur eine »Poetik der Kälte« (Kemper 2014, 238): »Blaue Tauben / trinken nachts den eisigen Schweiß / der von Elis‘ kristallener Stirne rinnt« (ITA II, 455). Ein Gefühl von Größenwahn bei gleichzeitiger Erstarrung des Körpers, der sich in Bildern von körperlicher Stigmatisierung und einer Poetik der Kälte manifestiert, sind ebenfalls häufig vorkommende Rauschwirkungen, die Eingang in Trakls Poesie gefunden haben. Bilder eines drogeninduzierten »Ineinander von Hitzewallungen und Kältegefühlen« (Kemper 2014, 239) unterstreichen einen leibhaften Ausdruck der Klage. Beispiele für eine derartige Erkaltung des Körpers werden auch im Zusammenhang mit dem Schneeals Kokain-Motiv lesbar. Derartige Schnee- und damit Kokain-Affizierungen finden sich häufig in den stigmatisierten Stirn-Beschreibungen verschiedener Figuren, am prominentesten im »Helian«-Gedicht: »Da Helians Seele sich im rosigen Spiegel beschaut / Und Schnee und Aussatz von seiner Stirne sinken« (ITA II, 262). Zu erinnern ist in diesem Kontext, dass »Helian« schon im sechsten Vers den Rausch annonciert: »Abends auf der Terrasse betranken wir uns mit braunem Wein« (ITA II, 260). Die auffällige Wahrnehmungsschärfe kann überdies die starke Fixierung auf immer wiederkehrende Bilder und Ideen erklären (vgl. Kemper 2014, 55). In seiner Krankenakte im Garnisonsspital in Krakau wird etwa Trakls Leiden an »Gesichtstäuschungen« und sein Hören von »Glockenläuten« festgehalten (ITA VI, 250). Dies mag zum Beispiel das häufig vorkommende Motiv des Glockenläutens und des Tönens, das wie ein Rauschen als Ausdruck des Rausches anmutet, erklären: »Ein sanftes Glockenspiel tönt in Elis’ Brust / am Abend, / Da sein Haupt ins schwarze Kissen sinkt« (ITA II, 455). In »Zu Abend mein Herz« (vgl. Kemper 2014, 102; Millington 2012, 280 f.) wird der Zusammen-

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hang von Rausch und Tönen noch deutlicher exponiert: »Dem Wanderer erscheint die kleine Schenke am Weg. / Herrlich schmecken junger Wein und Nüsse. / Herrlich betrunken zu taumeln in dämmernden Wald. / Durch schwarzes Geäst tönen schmerzliche Glocken. / Auf das Gesicht tropft Tau« (ITA II, 124). Auch in »Frühling der Seele« (II) wird eine »sanfte Trunkenheit / Im gleitenden Kahn« (ITA III, 383) im Zusammenhang mit dem Tönen erwähnt, die an Hölderlins sobria ebrietas erinnert und zudem Nietzsches Bild vom apollinisch konnotierten Kahn inmitten der dionysischen See vor Augen stellt (Nietzsche 1999, I, 28), das sich in abgewandelter Form auch in »Geistliche Dämmerung« (Textstufe 4 D) wiederfindet: »Befährst du trunken von Mohn / Den nächtigen Weiher, // Den Sternenhimmel« (ITA III, 76). Diese begrenzte Trunkenheit begleitet das feierliche Rauschen der Wasser und ein leises Tönen der Sonne im »Rosengewölk am Hügel« (ITA III, 383). Doch mahnen die mantisch anmutenden »dunklen Rufe der Amsel« an den drohenden Verlust der zweifach angerufenen »Reinheit«; inwiefern diese durch den Rausch hergestellt oder vielmehr zerstört wird, bleibt in der Schwebe. Auch eine zeitweise aufscheinende idyllische Vision in »Traum und Umnachtung« kulminiert in einer Sehnsucht nach Reinheit, freigesetzt durch eine grüne Kapsel mit Mohn als dezentem Hinweis auf die entgrenzende Wirkung von Drogen: »und er sah das Sternenantlitz der Reinheit. Golden sanken die Sonnenblumen über den Zaun des Gartens, da es Sommer ward. […] Silbern blühte der Mohn auch, trug in grüner Kapsel unsere nächtigen Sternenträume« (ITA IV.1, 75). Das Tönen kehrt bei Trakl auch im Zusammenhang mit dem durch den Mohnsaft inspirierten Gesang wieder und beides wird weiterhin mit dem romantischen Kunstideal der blauen Blume korreliert, sodass letztlich der Rausch – trotz all der körperlichen und geistigen Gefährdungen – als Movens für die Poesie und sogar als eine Poetisierung der Welt im Geiste der Romantik profiliert wird. Der Titel eines hierzu relevanten und poetologischen Gedichts lautet passend zur Verschleierung des Drogenkonsums »Verklärung«: »Stille wohnt / An deinem Mund der herbstliche

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Mond, / Trunken von Mohnsaft dunkler Gesang; // Blaue Blume, / Die leise tönt in vergilbtem Gestein« (ITA III, 344). Die Paradoxa in Trakls Dichtung – gerade das (nur logisch widersprüchliche) ›Zugleich‹ der verschiedenen Ebenen, etwa derjenigen der Erlösung und des Verfalls, der Reinheit und der Unreinheit, des Sprechens und des Schweigens, des Lebens und des Todes – lassen sich ebenfalls im Horizont des Rausches erklären, wonach dessen Einbruch sowohl ein Gefühl der Erhebung und der Wahrnehmung einer inspirativen Bilderflut als auch der Vernichtung und der Sprachlosigkeit zu ermöglichen scheint. Als adäquate und innovative Umsetzung des Einbruchs inspirativer Bilderfluten kann überdies die Simultaneität des Disparaten im Reihungsstil gelten (vgl. Kemper 2014, 145).

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G. Wacker Kemper, Hans-Georg: Droge Trakl. Rauschträume und Poesie. Salzburg/Wien 2014. Kemper, Hans-Georg: »Wer sind wir?« Trakls »Erinnerung« im Vexierbild poetischer Rauschträume. In: Uta Degner/Hans Weichselbaum/Norbert Christian Wolf (Hg.): Autorschaft und Poetik in Texten und Kontexten Georg Trakls. Salzburg/Wien 2016, 213–233. Kupfer, Alexander: Göttliche Gifte. Kleine Kulturgeschichte des Rausches seit dem Garten Eden. Stuttgart 2002. Mahrholdt, Erwin: Der Mensch und Dichter Georg Trakl. In: Erinnerung an Georg Trakl. Zeugnisse und Briefe. Salzburg 21959, 21–90. Millington, Richard: Snow from Broken Eyes. Cocaine in the Lives and Works of Three Expressionist Poets. Bern et al. 2012. Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München 1999. Pfisterer-Burger, Kathrin: Zeichen und Sterne. Georg Trakls Evokationen lyrischen Daseins. Salzburg 1983. Sattler, Eve: Vergiftete Sensationen. Soziale und kulturelle Dimensionen des Rauschmittelkonsums im literarischen Expressionismus 1910–1914. Düsseldorf 2010. Thumser-Wöhs, Regina: »... zauberlacht Unlust in blaue Herrlichkeit.« Sucht und Kunst im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Innsbruck/Wien/Bozen 2017. Wacker, Gabriela: Poetik des Prophetischen. Zum visionären Kunstverständnis in der Klassischen Moderne. Berlin/Boston 2013. Weichselbaum, Hans. Georg Trakl. Eine Biographie mit Bildern, Texten und Dokumenten. Salzburg 1994. Weichselbaum, Hans: Georg Trakl. Salzburg/Wien 2014.

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Schwester Ulrike Tanzer

Grete Trakl Zu seiner jüngsten Schwester Margarethe, genannt Grete, entwickelte Georg eine intensive Beziehung, die bis heute für Spekulationen sorgt. Georg schwärmte für seine Schwester bereits während der Gymnasialzeit. Er sah in ihr »das schönste Mädchen, die größte Künstlerin, das seltsamste Weib« (Spoerri 1954, 39). Für den Bruder Fritz war Grete »ein vergnügtes junges Mädchen, bis sie später ganz unter seinen [d. h. Georgs] Einfluss geriet. Sie las alle seine Bücher mit, und sie steckten viel zusammen« (Bondy 1952, 9). Das gegenseitige Verständnis und Vertrauen gipfelte in Wunschvorstellungen voneinander – als Dichter und als Pianistin. Grete Trakl war musikalisch sehr begabt und erhielt Klavierunterricht bei August Brunetti-Pisano, dem langjährigen Präsidenten der Kunstgesellschaft »Pan« in Salzburg. Dieser Musiker, der als Komponist der Spätromantik anhing, dürfte Grete auch zum Komponieren ermuntert haben. 1901 wurde Grete für drei Jahre in das katholische Internat der Englischen Fräulein nach St. Pölten geschickt. Im Schuljahr 1903/04 besuchte dort die Schwester Minna als Internats-

U. Tanzer (*)  Brenner-Archiv, Universität Innsbruck, Innsbruck, Österreich E-Mail: [email protected]

schülerin einen Sprachkurs. Ab Herbst 1904 war Grete im ebenfalls katholischen Erziehungsheim für junge Mädchen »Notre Dame de Sion« in der Burggasse in Wien, die allen Konfessionen offenstand. Die Schulwahl ist durchaus interessant, zumal in Salzburg die Ursulinen seit 1695 Schulen für Mädchen führten. Während die Englischen Fräulein in St. Pölten für ihre »HöhereTöchter-Schule« (eine fünfklassige Volksschule und eine dreiklassige Bürgerschule) bereits 1896 das Öffentlichkeitsrecht erhielten, begann in Salzburg erst 1903 der Aufbau der Bürgerschule bei den Ursulinen als Oberstufe der Pflichtschule, 1906 mit Öffentlichkeitsrecht (Leitinger/ Mayr 1995, 34 f.). Wie bei Georg, der ins Akademische Gymnasium und nicht in die evangelische Schule geschickt wurde, legten die Eltern auch bei Grete Wert auf die beste Ausbildung. Darüber hinaus könnte auch die Trennung der Geschwister eine Rolle gespielt haben. Die Trakl-Forschung ist über das Verhältnis der Geschwister gespalten. Manche sehen darin eine starke erotische Komponente, die zum Inzest führte. Gestützt wird diese These durch sekundäre Quellen wie den Brief Ludwig von Fickers an Werner Meyknecht (vgl. Ficker 1967, 111–122), die Recherchen Theodor Spoerris und Otto Basils Befragungen (vgl. Sauermann 1984). Hans Weichselbaum ist hier mangels direkter Aussagen Trakls zurückhaltend. Ein Dokument für die Beziehung zwischen Bruder und Schwester ist ein Exemplar von Gustave Flau-

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_94

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berts Roman Madame Bovary, das Georg 1908 Grete schenkt, mit der Widmung: »Meinem geliebten kleinen Dämon, der entstiegen ist dem süßesten und tiefsten Märchen aus 1001 Nacht. in memoriam! Georg. Salzburg, im Sommer d. J. 1908« (ITA V.1, 67). Grete Trakl schrieb sich mit September 1908 an der k.k. Akademie für Musik und darstellende Kunst in die Ausbildungsklasse für das Hauptfach »Klavier, II. Jg.« (bei Paul de Conne) ein und belegte die Lehrveranstaltungen »Klavier-Kammermusik, II. Jg.« (bei Wilhelm Bopp), »Chorschule« (bei Richard Stöhr) und »Harmonielehre für Schülerinnen«. Sie konnte sich aber laut Jahresbericht »wegen Erkrankung oder sonstiger Ursachen« der Übertritts- oder Reifeprüfung nicht unterziehen. Ab März 1909 folgte sie nicht mehr dem offiziellen Unterricht, vielleicht nahm sie Privatstunden (Weichselbaum 2014, 70). In Wien wurde Gretes Beziehung zu Erhard Buschbeck enger. Es ist anzunehmen, dass Grete in dieser Zeit durch ihren Bruder mit Drogen bekannt gemacht wurde. In einem Brief Gretes an Buschbeck heißt es: »[…] ich komme nicht Sie wegen des Opiums zu belästigen – obwohl ich von ganzer Seele hoffe daß Sie es mir in den nächsten Tagen beschaffen werden. Mir ist etwas Entsetzliches geschehen. An Georg’s Gesicht u. Laune sehen Sie einen ganz schwachen Abglanz eines Teiles meiner Schmerzen« (Weichselbaum 2014, 78). Buschbeck war für beide Geschwister eine Vertrauensperson. Ein inzestuöses Verhältnis der beiden wies er zurück: »Zwischen Trakl und seiner Schwester Grete hat es niemals so etwas wie eine Blutschuld gegeben, was diesbezüglich in den Gedichten steht ist lediglich ein Aufrücken von Gedankensünde, die niemals in die Realität herübergegriffen hat« (Weichselbaum 2014, 78 f.).

Zur Figur der Schwester in Trakls Werk Zweifellos spielte Grete nicht nur im Leben, sondern auch im Werk eine zentrale Rolle. Die literarische Figur der Schwester kommt 60mal

U. Tanzer

vor, ohne bedeutungsgleiche Wörter wie »Jünglingin« oder »Fremdlingin«, vom frühen Einakter Totentag bis zum späten Gedicht »Grodek« als »der Schwester Schatten«. Ab 1912 taucht die Figur gehäuft auf, im Zusammenhang mit dem Androgynitäts-Motiv, vielleicht auch verstärkt durch die räumliche Distanz der Geschwister. Als Beweis für den Inzest wird häufig das frühe Gedicht »Blutschuld« aus dem Jahr 1909 zitiert. Weichselbaum sieht das Gedicht hingegen als Ausdruck der Wagner-Verehrung Trakls, der sich für den Inzest in der Walküre begeisterte (Weichselbaum 2014, 55). Das Thema ist in der Literatur der Jahrhundertwende häufig zu finden und bei Schriftstellern wie Robert Musil und Thomas Mann präsent (vgl. Weichselbaum 2005). Bei Trakl werden aber weder »die den Geschlechterdualismus aufhebende inzestuöse Vereinigung der Geschwister noch die androgyne Vorstellung von einem Geschlecht im Sinne der christlichen Eschatologie bzw. säkularisierter Androgynitätsvorstellungen« positiv dargestellt. Im Gegenteil, »die Vereinigung des Gleichen erweist sich in Trakls Dichtungen als triebhaft und gewalttätig« (Klettenhammer 2010, 139). Im Gedicht »Passion« wird die Sehnsucht nach Aufhebung des Getrennten, die »im narzisstisch besetzten Mythos von der Geschwisterliebe« (Klettenhammer 2010, 140) kulminiert, ins Zerstörerische gewendet. In »Abendland« (II) werden »der Schwester Tränen« erwähnt, in »Offenbarung und Untergang« nach der sadomasochistischen Begegnung zwischen »der Schwester« und dem »Ich« auf die Ikonographie Christi angespielt. In »Traum und Umnachtung« wird der Wahnsinn der Schwester zum Wahnsinn des Bruders, der über »sein eigenes Blut und Bildnis herfiel« und dem »in zerbrochenem Spiegel« als »ein sterbender Jüngling, die Schwester erschien«. In Zeilen wie »die Nacht das verfluchte Geschlecht verschlang« werden apokalyptische Bilder der Gewalt und Auslöschung evoziert. Dennoch finden sich in den letzten Gedichten »positiv besetzte Epiphanien des Androgynen« (Klettenhammer 2010, 140), die christliche Erlösungsvorstellungen aufrufen, Sinnbilder einer letzten Hoffnung.

94 Schwester

In den Teilzyklen von Sebastian im Traum gehören die Figur der ›Dirne‹ und die Figur der ›Schwester‹ zu den zentralen Figurationen des Weiblichen (Klettenhammer 1996, 195). Im Oktober 1912 wurde zudem Otto Weiningers 1903 erschienenes Geschlecht und Charakter, das Trakl gelesen hat, in der Zeitschrift Der Brenner kontrovers diskutiert. Erotik, Sexualität und Geschlechtsmoral beherrschten den Diskurs der Brenner-Mitarbeiter, zwischen den geschlechterdualistischen Positionen eines Weininger und eines Karl Kraus changierend. Bei Trakl lösen im Gedicht »Ruh und Schweigen«, das den Teilzyklus »Siebengesang des Todes« einleitet, Androgynität und ›Schwester‹-Vision das ›Dunkel‹ und die ›rote Pein‹ der Geschlechtlichkeit ab. Die Figur der Schwester in den Sammlungen Gedichte, Sebastian im Traum und in den Brenner-Veröffentlichungen von 1914/15 rückt häufig nur fragmentarisch ins Blickfeld: durch ihren »Augenbogen«, ihr »Lächeln«, ihre »Lider«, ihren »Stirnenbogen« (ITA II, 281 f.), ihre »mondene Stimme« (ITA III, 76), ihre »steinernen Augen« (ITA IV.1, 76), ihre »blauen Brauen« (ITA IV.2, 311), ihren »blutende[n] Mund« (ITA IV.2, 69), ihr »weiße[s] Antlitz« (ITA IV.2, 70) oder ihren »Schatten« (ITA IV.1, 124). Schauplätze der Begegnung mit der Schwester sind der »Garten« (ITA I, 583), das »Nebenzimmer« (ITA II, 481) und der »Hain« (ITA IV.2, 338), verstärkt treten aber auch irrealvisionäre Räume wie »schwarze Verwesung« (ITA IV.2, 338), »Lichtung« (ITA III, 383), »Spiegel« (ITA IV.1, 66), »verwesende[] Bläue« (ITA IV.2, 69) oder »kristallene Klippen« (ITA IV.2, 70) auf. Es besteht die Tendenz, die Figur der Schwester ins Visionäre zu heben, als eine erscheinende und entgegentretende Gestalt. Ihr zugeordnet sind der Herbst, der Abend und die Nacht. Nur in »Frühling der Seele« (II) vollzieht sich die Begegnung mit der Schwester am »Mittag« (ITA III, 383). Trotz dieser wiederkehrenden räumlichen und zeitlichen Fixpunkte erfährt ihre Gestalt seit 1914 eine eindeutige Bedeutungsveränderung, die auch die Komposition des Zyklus »Sebastian im Traum« durchdringt. Während der erste Teilzyklus eine Reihe

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männlicher, homoerotisch konnotierter Identifikationsfiguren enthält, neben Helian und Elis, auch Sebastian und Kaspar Hauser, enthält der zweite Teilzyklus eine Reihe von weiblichen Projektionsgestalten wie Sonja und Afra, verbunden durch die Figur der Prostituierten. Im dritten Teilzyklus wird die Geschlechterpolarität, repräsentiert durch die Schwester, schließlich aufgehoben. Sie wird zur Erlöserfigur. In den Gedichten »Ruh und Schweigen« von September/Oktober 1913 und »Abendländisches Lied« von Dezember 1913 entwirft Trakl Gegenbilder zur aus den Fugen geratenen Gegenwart: Die androgyne Epiphanie der Schwester tritt als ein »strahlender Jüngling« an die Stelle der »erloschenen Engel« (ITA III, 251 f.), die Vorstellung von ›Einem Geschlecht‹ evoziert Konzepte der christlichen Eschatologie. Wenige Wochen später werden diese Zuschreibungen bereits wieder in Frage gestellt. Das Anfang 1914 entstandene »Passion«, das im Zyklus »Siebengesang des Todes« auf die Gedichte »Ruh und Schweigen« und »Geistliche Dämmerung« folgt, in denen die Schwester-Vision eng mit dem Übertritt in einen anderen Zustand verbunden ist, wendet sich ins Zerstörerische. Am Ende stehen Gewalt und Auslöschung. In den letzten Gedichten Trakls wird die Schwester als das »einzig erreichbare Du« (Doppler 1992, 45) in einer Situation äußerster Not und Verzweiflung beschworen.

Zur Katastrophik der geschwisterlichen Beziehung Nach dem Tod des Vaters Tobias Trakl am 18. Juni 1910 wurde Grete unter die Vormundschaft ihrer Mutter und ihres Stiefbruders Wilhelm gestellt. Grete entschloss sich nach Berlin zu gehen und bei Ernst von Dohnányi ihre Ausbildung zur Pianistin fortzusetzen. Sie besuchte von 1. Oktober 1910 bis Ostern 1911 die Hochschule für Musik in Berlin-Charlottenburg und belegte das Hauptfach Klavier. Wie bereits in Wien legte sie keine Abgangs- oder Reifeprüfung ab. Sie verlobte sich mit Arthur Langen, der zweiter Direktor der Curfürs-

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tin-Oper in Berlin war. Die Mutter und Georg stimmten schließlich 1912 Gretes Großjährigkeit zu. Die Eheschließung mit Arthur Langen fand schließlich am 17. Juli 1912 in Berlin statt. Im Frühjahr 1914 kamen besorgniserregende Nachrichten aus Berlin: Grete Langen-Trakl hatte Ende März 1914 eine Fehlgeburt erlitten. Georg fuhr nach Berlin, um seiner Schwester beizustehen. Die Ehesituation Gretes verschlechterte sich. Laut Scheidungsurteil vom März 1916 lebten die Ehepartner ab November 1914 getrennt voneinander. Grete war mit ihrem privaten Klavierlehrer Richard Buhlig (vgl. Bax 2014), einer »Capacität auf dem Gebiete der Musik« (Weichselbaum 2016, 406), eine Beziehung eingegangen (Weichselbaum 2014, 156 f.). Ab wann Grete Trakl bei Buhlig Klavierstunden nahm, ist nicht gesichert. Jedenfalls schickte sie ihm etwa einen Monat nach ihrer Hochzeit mit Arthur Langen einen Brief mit 15 Gedichten ihres Bruders Georg, in Form von Typoskripten oder von ihr angefertigten Abschriften. Die drei Abschriften von Grete Langen führten auch zu einer Überlegung hinsichtlich des Gedichtes »Helians Schicksalslied« (vgl. Langen 1983, 161), als dessen Verfasserin bisher Grete galt. Es ist anzunehmen, dass »das Gedicht, in dem eine Vereinigung im Tod besungen wird, also nicht von Grete, sondern von ihrem Bruder Georg stammt« (Weichselbaum 2016, 409). Trakl war vom Scheitern der Ehe Gretes tief getroffen. Als Teilvormund hatte er seine Einwilligung gegeben, um damit seiner Schwester die Ausbildung zur Konzertpianistin zu ermöglichen. Sein Abschied aus Berlin sollte ein Abschied für immer sein. In seinem Testament, das sich in den Händen Ludwig von Fickers befand, hatte Trakl seine Schwester Grete Langen, geb. Trakl, als Universalerbin eingesetzt. Trakl hinterließ neben Kleidungsstücken, Schuhen und persönlichen Gegenständen Barmittel in der Höhe von 164 Kronen und 95 Heller sowie eine Browning-Pistole mit Munition. Es ist mit großer Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass sich Grete Langen-Trakl (Abb. 94.1), geschieden und verarmt, mit dieser Waffe am 21. September 1917 in Berlin, Potsdamerstraße 134a das Leben

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Abb. 94.1  Margarethe Jeanne (Grete) Trakl 1916; Georg Trakl Forschungs- und Gedenkstätte Salzburg.

nahm. Ihr Grab am Friedhof St. Matthäi wurde aufgelassen (vgl. Stockhammer 2014).

Zur Aufarbeitung der Geschwisterbeziehung in Forschung und Kunst Die Auseinandersetzung mit der »Schwester« in Trakls Werk ist so vielschichtig wie kompliziert – biographisch, wissenschaftlich und künstlerisch. Die Quellenlage ist unbefriedigend, die Gedichte und Briefe Trakls werden oftmals als Steinbruch für Interpretationen und Spekulationen genommen. Das Motiv der Schwester hat zuerst Walter Methlagl auf der Basis textimmanenter Analysen beschrieben (vgl. Methlagl 1969). Die Forschungsliteratur hat in den darauffolgenden Jahren unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt. Während Eberhard Sauermann u. a. die Genese des Gedichtes »Abendland« (II) mit der Fehlgeburt von Grete in Verbindung bringt (vgl. Sauermann 1984),

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deutet Gunther Kleefeld die Gestalt der Schwester vor dem Hintergrund der psychoanalytischen Narzissmustheorie (vgl. Kleefeld 1985). Achim Aurnhammer interpretiert die »geschwisterliche Androgynie-Utopie« versöhnlich und als Gegenbild zur »heillosen Gegenwart« (Aurnhammer 1986, 284). Hans-Georg Kemper versucht in seinem Ansatz Literatur und Biographie zu verbinden. Trakls Versuch, seine biographische Situation in Poesie zu verwandeln und damit zu bereinigen, scheitere. Die »poetische Sühnehandlung« schlage »immer wieder in Selbstbestrafung um«, die »narzißtische Spiegelung […] der Bruder-Schwester-Beziehung zerbricht« (Kemper 1992, 101). Gertrud Spats Biographie, die Trakls Mutter Maria genauer in den Blick nimmt, bezieht zum Verhältnis zwischen den Geschwistern – im Unterschied zu Hans Weichselbaum – eindeutig Stellung. Die Eltern sind schockiert, aber letztlich machtlos. Nüchtern wird geschildert, wie der Mutter die Fäden entgleiten, sie letztlich in ihrer Überforderung auch die Drogensucht der Tochter verdrängt (vgl. Spat 2003). Im Film Tabu – Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden aus dem Jahr 2012 (Drehbuch: Ursula Mauder, Regie: Christoph Stark) wird die äußerliche Ähnlichkeit der Geschwister hervorgestrichen und ebenfalls die Liebesbeziehung ausgespielt. Grete (Peri Baumeister) wird von ihrem Bruder Georg (Lars Eidinger) schwanger, sie ist die treibende Kraft in einer zerstörerischen Beziehung. 2014 erschien die bereits erwähnte Biographie von Marty Bax mit dem Titel Immer zu wenig Liebe. Grete Trakl. Ihr feinster Kuppler. Ihre Familie. Bax zeichnet eine musikalisch hochtalentierte Frau, die – traumatisiert durch familiäre Konflikte und die strenge Internatserziehung – versucht, sich durch ihre Heirat mit Arthur Langen als Künstlerin emanzipieren zu können. Dieser Blick, der das eindimensionale Bild Grete Trakls als Muse und Verhängnis ihres berühmten Bruders zurecht zu rücken sucht, führte zu einer neuen Auseinandersetzung: 2015 wurde an der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien ein künstlerisch-wissenschaftliches Projekt zu Grete Trakl initiiert.

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Literatur Aurnhammer, Achim: Androgynie. Studien zu einem Motiv in der europäischen Literatur. Köln/Wien 1986, 267–284. Bax, Marty: Immer zu wenig Liebe. Grete Trakl. Ihr feinster Kuppler. Ihre Familie. 2014. Online unter: https://baxbooks.eu/downloads/immer-zu-wenigliebe-grete-trakl/ (5.3.2021). Bondy, Barbara: »Ein Kind wie wir anderen auch …« Unterhaltung mit dem Bruder Georg Trakls. In: Die neue Zeitung, Nr. 28, 2.2.1952, 9. Doppler, Alfred: Die Stufe der Präexistenz in den Dichtungen Georg Trakls. In: Ders.: Die Lyrik Georg Trakls. Wien/Köln/Weimar 1992, 33–45. Ficker, Ludwig von: Denkzettel und Danksagungen. Aufsätze und Reden. Hg. von Franz Seyr. München 1967. Kemper, Hans-Georg: Georg Trakls »Schwester«. Überlegungen zum Verhältnis von Person und Werk. In: Zur Ästhetik der Moderne. Festschrift für Richard Brinkmann zum 70. Geburtstag. Tübingen 1992, 77–104. Kleefeld, Gunther: Das Gedicht als Sühne. Georg Trakls Dichtung und Krankheit. Eine psychoanalytische Studie. Tübingen 1985. Klettenhammer, Sieglinde: Figuration des Weiblichen in der Lyrik Georg Trakls. In: Zyklische Kompositionsformen in Georg Trakls Dichtung. Szegeder Symposion. Hg. von Károly Csúri. Tübingen 1996, 189–215. Klettenhammer, Sieglinde: Das Geschlecht des Brenner 1910–1914. In: Zeitmesser. 100 Jahre »Brenner«. Hg. vom Forschungsinstitut Brenner-Archiv der Universität Innsbruck. Innsbruck 2010, 111–142. Langen, Margarete: Helians Schicksalslied. In: Gerhard Rusch/Siegfried J. Schmidt (Hg.): Das Voraussetzungssystem Georg Trakls. Braunschweig/Wiesbaden 1983, 161. Leitinger, Helga/Mayr, Waltraud: Die Ursulinenschulen – ein historischer Überblick. In: 300 Jahre Ursulinen Salzburg. Frauenbilder – Frauenbildung zwischen Tradition und Innovation 1695–1995. Hg. von Konvent der Ursulinen der Römischen Union in Salzburg. Salzburg 1995, 23–44. Methlagl, Walter: Georg Trakl: »Schwesters Garten«. Interpretation aus dem Gesamtwerk. In: Johannes Erben/Eugen Thurnher (Hg.): Germanistische Studien. Innsbruck 1969, 249–275. Sauermann, Eberhard: Zur Datierung und Interpretation von Texten Georg Trakls. Innsbruck 1984. Spat, Gertrud: Maria T. Eine Mutter. Frankfurt a. M./ Basel 2003. Spoerri, Theodor: Georg Trakl. Strukturen in Persönlichkeit und Werk. Eine psychiatrisch-anthropographische Untersuchung. Bern 1954. Stockhammer, Harald: A 367/14 Bezirksgericht Hall in Tirol – Das Verlassenschaftsverfahren nach Georg Trakl. Versuch einer allgemein verständlichen ›Übersetzung‹ des Aktinhaltes und der damit verbundenen rechtlichen Vorgänge mit zeit-, literatur- und rechts-

572 geschichtlichem Hintergrundmaterial. In: Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv 33 (2014), 109–125. Weichselbaum, Hans (Hg.): Androgynie und Inzest in der Literatur um 1900. Salzburg 2005. Weichselbaum, Hans: Georg Trakl. Salzburg 2014.

U. Tanzer Weichselbaum, Hans: Unbekannte Gedichte und Prosa Georg Trakls entdeckt. Ein Bericht. In: Uta Degner/ Hans Weichselbaum/Norbert Christian Wolf (Hg.): Autorschaft und Poetik in Texten und Kontexten Georg Trakls. Salzburg/Wien 2016, 405–424.

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Seele Mathias Mayer

Zwar nimmt in der Literatur des Expressionismus die Vorstellung der ›Seele‹ eine prominente Rolle ein, aber wie in anderen Bereichen auch ist Trakls Umgang mit diesem schwer zu fassenden Konzept ganz eigenständig. Formelhafte Wendungen wie »Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden« (aus »Frühling der Seele« [II], ITA III, 383) oder der Anfang von »Im Dunkel«: »Es schweigt die Seele den blauen Frühling« (ITA IV.1, 147) sind für seine Bilderwelt repräsentativ und darin Ausdruck einer rhizomartig verbundenen Metaphorik, die das ganze Werk durchzieht. Als Einzelwort wie in zahlreichen Zusammensetzungen (wie ›Herbstseele‹ oder ›Knabenseele‹) begegnet die »Seele« in der Lyrik und Prosa Trakls häufig, auch in den Titeln einiger Gedichte: »Allerseelen«, »Seele des Lebens«, »Herbstseele«, »Nachtseele« oder »Frühling der Seele«. Die Frage nach der historischen Herleitung und der zeitgenössischen Kontextuierung ist daher für die Einschätzung von Trakls Wortgebrauch relevant, wenn auch nicht als Erklärung seiner ganz eigenen Stimme jemals ausreichend.

M. Mayer (*)  Philologisch-Historische Fakultät, Universität Augsburg, Augburg, Deutschland E-Mail: [email protected]

Der Seelen-Diskurs um 1900 Für die Generation der Nietzsche-Leser nach 1900 muss es erheblich gewesen sein, dass in seinen Schriften der »populäre und falsche Gegensatz von Seele und Körper« (Nietzsche 1999, I, 139) in Frage gestellt worden war; für Nietzsche ist die Seele allenfalls eine »Hypothese« (ebd., V, 27), oder, wie er seinen Zarathustra verkünden lässt, »nur Etwas am Leibe« (ebd., IV, 39). Somit hatte Nietzsche mit den Traditionen aufgeräumt, die als Konzeption der »schönen Seele« die Ästhetik der Klassik mitbestimmt hatten (Schiller 1987, V, 468 f.) oder als »Schlaf des Geistes« (im Anthropologie-Abschnitt der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften; Hegel 1991–2000, X, 43–49) deren idealistisches Erbe ausgemacht hatten. Ludwig Noack bezeichnet 1858 Seele und Geist als bewegliche Größen, die nur in Wechselbeziehung mit dem Leib begriffen werden können (Noack 1858–1863, I, 11). Ernst Mach hält es für eine »rohe Anschauung« und ungeeignet, »im Hirn noch nach einem Punkt als Sitz der Seele« zu suchen, um »die vermeintliche psychische Einheit zu retten« (Mach 1922, 21; vgl. auch Scheerer 1995, 52). Am Ende des 19. Jahrhunderts ist die Seele vor allem ein Objekt der Medizin und des psychologisch-psychiatrischen Diskurses. Bei Sigmund Freud überwiegt die Formulierung vom »Seelenleben« und dem »seelischen Apparat«,

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_95

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und Trakls Wiener Zeitgenosse Arthur Schnitzler zeigt in einer seiner Komödien die Unschärfe des mit diesem Wort verknüpften Vorstellungsfeldes, wenn es heißt »die Seele … ist ein weites Land« (Schnitzler 1977–1979, VI, 71). Ein neues Interesse an den »Seelenständen« – so der Untertitel seines Romans Die gute Schule (1890) – hat schon Hermann Bahr als Zeichen einer Überwindung des Naturalismus und des antimetaphysischen Zeitgeistes ausgerufen. Es geht dabei um die Wendung nach innen, um die Aufmerksamkeit auf das Unbewusste und die Träume, das Ich, die Nerven und die Sensationen, wie sie von der zeitgenössischen Literatur in der impressionistischen Lyrik oder dem flüchtigen Feuilleton aufgezeichnet wird. Freuds Psychoanalyse steht als eine Art Archäologie des Unbewussten neben der Hypnose, in der es darum geht, das Unbewusste gleichsam heraufzuholen. In Bahrs Artikel »Die neue Psychologie« (1890) heißt es: »Das immer nur: états des choses, die ewigen Sachenstände hat man satt, und gründlich; nach états d’ames, nach Seelenständen, wird wieder verlangt« (Bahr 1890, 507). Knut Hamsun hat zeitgleich gefordert, die »heimlichen Bewegungen, die unbeachtet in abseitsliegenden Regionen der Seele geschehen«, zu erfassen (Høystad 2017, 308), Joris-Karl Huysmans etwa erwartete die Heraufkunft eines »Jahrhundert[s] der Seele« (Rothe 1977, 41). Das ist nicht weit entfernt vom »Bergwerk der Seele«, das zeitgleich Rilke (»Orpheus, Eurydike, Hermes«, 1904) und Max Dessoir (Das Doppel-Ich, 1896) berufen (Fick 1993, 128). Im Umkreis des Spiritismus definiert Carl du Prel die Seele als »sehenden, zweckbewußt organisierenden ›Willen zum Leben‹; sie sei ein erkennendes Unbewußtes, das, auch ›an sich‹ betrachtet, als der metaphysische ›Grund‹ der irdischen Form, nicht in der allgemeinen Weltsubstanz verfließe, sondern seine Individualität, als die Organisationskraft eines Geschöpfs, behalte« (ebd., 124). Zuvor schon hatte der für die Mentalität der Avantgarde um 1900 einflussreiche Maurice Maeterlinck eine Reihe weltanschaulicher Essays – auch in deutscher Übersetzung – herausgebracht, in der seine Lektüren u. a. von Nova-

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lis, aber auch der Mystik (etwa Ruysbroecks) fortleben. Vor allem in der Sammlung Schatz der Armen (deutsch 1898) geht es um den Versuch, die Andersheit des Unbewussten sprachlich einzukreisen. Maeterlinck, dessen Marionettenspiele nicht zuletzt für Trakls »Blaubart«-Stück bedeutsam werden, schreibt über das »Erwachen der Seele«, dass sich »das Reich der Seele täglich mehr verbreitet. Sie ist unserem sichtbaren Wesen viel näher und nimmt an allen unseren Handlungen viel mehr teil, als vor zwei oder drei Jahrhunderten« (Maeterlinck 1892, 14). Gerade die bei Maeterlinck immer wieder gegebene Umgebung vom Schweigen der Seele und ihrer Nähe zum Tod wie zum Unbewussten ist für viele Autoren der Zeit faszinierend. Trakls Affinität zur Dunkelheit der Seele korrespondiert mit einer ganzen Reihe von zeitgenössischen Bemühungen, die Materialität der Seele und ihre Unsagbarkeit zusammenzudenken. Georg Lukács hatte 1911 seine wichtige Essaysammlung unter den Titel Die Seele und die Formen gestellt, Karl Joel brachte mit Seele und Welt von 1912 den »Versuch einer organischen Auffassung« heraus. 1913 folgte Walther Rathenau mit Zur Mechanik des Geistes oder Vom Reich der Seele, das den ätzenden Spott Robert Musils herausforderte (im Essay »Anmerkung zu einer Metapsychik«, dann fortgesetzt in »Das hilflose Europa« mit der These: »Wir haben nicht zuviel Verstand und zuwenig Seele, sondern wir haben zuwenig Verstand in den Fragen der Seele« [Musil 2016–2021, X, S. 130]). Dass sich die neomystischen und spiritistischen Entgrenzungen des Seelen-Diskurses ins Irrationale verirren, hat Musil scharf herausgearbeitet. Besonders deutlich wird seine Kritik in der Figur der Diotima aus dem Mann ohne Eigenschaften, die der schwedischen Essayistin Ellen Key – der Autorin von Die Entfaltung der Seele durch Lebenskunst (1903) – nachgebildet ist. Aber auch die Expressionisten kamen nicht ohne den Begriff der Seele aus, wie schon Hermann Bahr 1916 festgestellt hat. Der Mensch sei »ein Werkzeug seines eigenen Werkes geworden, er hat keinen Sinn mehr, seit er nur noch der Maschine dient. Sie hat ihm die Seele weggenommen. Und jetzt will ihn die Seele wieder haben. Darum geht es. Alles,

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was wir erleben, ist nur dieser ungeheure Kampf um den Menschen, Kampf der Seele mit der Maschine« (Bahr 1920, 110).

Zur semantischen Autonomisierung der Seele in Trakls Dichtung Bei Trakl finden sich unterschiedliche sprachliche Komplexe, in denen die Seele verortet wird. Dabei lässt sich eine schrittweise, nicht unbedingt chronologisch präzise belegbare Verselbständigung seines Bildergebrauchs beobachten, der sich aus den Gepflogenheiten der zeitgenössischen Lyrik löst. Zunächst sind es substantivisch gebildete Metaphern, wenn die Seele als Form gesteigerter Intensität etwa in der »Seele des Lebens« (ITA I, 508) erscheint. Der Titel »Nachtseele« ist als ambivalente Setzung der »Seele in der Nacht« wie der »Seele« als Wesen der Nacht gedeutet worden (Cellbrot 2003, 74 f.). Bilder wie »Frieden der Seele« (ITA III, 323) oder »Frühling der Seele« (ITA I, 479 und III, 383) arbeiten einer Verselbständigung des Komplexes »Seele« zu. Vielfach finden sich Genitiv-Konstruktionen, in denen die Seele nicht als Urheber, sondern als Objekt auftritt, wenn von der Melancholie die Rede ist, die als »Sanftmut der einsamen Seele« apostrophiert wird (»In ein altes Stammbuch«, ITA II, 105). Formulierungen wie »In der Stille / Erstirbt der bangen Seele einsames Saitenspiel« (»Unterwegs« [II], ITA II, 482) können noch im Rahmen einer symbolistischen Nietzsche-Nachfolge möglich scheinen, aber vom Artikel befreite Setzungen wie »Seele sang den Tod, die grüne Verwesung des Fleisches« (»An einen Frühverstorbenen«, ITA III, 402) gehören ganz in die Spracheigentümlichkeit Trakls. Gerade der weitgehend apersonale Gebrauch von »die Seele« ist für die Authentizität des Bildes entscheidend, kaum einmal begegnet die Formulierung »meine Seele« (ITA I, 152, 233 und 238), noch seltener Wendungen in der zweiten (ITA I, 67 und 217) oder dritten Person (ITA I, 102 und 562), einmal auch »unsre Seelen« (ITA I, 221). Auffallend ist dabei auch die Affinität, die zwischen der evokativ beschworenen Seele und

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einer Reihe von Adjektiven besteht, die den Charakter nicht nur der bangen (ITA II, 482; ITA IV.1, 135) oder einsamen Seele (ITA II, 105) ansprechen, sondern sie auch als »dunkel« oder »krank« charakterisieren: Sie steht in Verbindung mit der Nacht und entzieht sich damit jeder direkten Lesbarkeit: »O wie leise stand in dunkler Seele das Kreuz auf« (»Sebastian im Traum«, ITA III, 233) oder »O der Seele nächtlicher Flügel schlag« (ITA III, 420) am Beginn von »Abendländisches Lied«. Von der »nächtigen Seele« ist auch in »Offenbarung und Untergang« die Rede (ITA IV.2, 70). Trakls Lyrik kennt zwar die Adjektive »beseelt« und »seelenlos« (ITA I, 91 und 217), aber dem gewöhnlichen Wortgebrauch naheliegende Bildungen wie etwa »seelig« – immerhin ein HölderlinWort! – oder Anspielungen auf ihre Unsterblichkeit begegnen nicht. Desweiteren öffnet sich der Raum der bei Trakl kaum je semantisierbaren Farben, in dem die Seele in ihrer Dunkelheit bestätigt wird: »Die Seele friert im schwärzlichen Gewand« (ITA II, 40). Besonders intensiv und sprechend ist, im Anschluss daran, die Verbindung der Seele zur Farbe Blau, die bei Trakl einerseits Reminiszenzen der Romantik transportiert, aber auch zur Chiffre einer Unaussprechlichkeit werden kann. Im Gedicht »Herbstseele« lautet die dritte Strophe: »Bald entgleitet Fisch und Wild. / Blaue Seele, dunkles Wandern / Schied uns bald von Lieben, andern. / Abend wechselt Sinn und Bild« (ITA III, 111). In der metaphorischen Übertragung auf das Tier kann die Seele zum Ausdruck der Verletzlichkeit werden, wenn es in »Nachtseele« heißt: »Schweigsam stieg von schwarzen Wäldern ein blaues Wild / Die Seele nieder. / Da es Nacht war; über moosige Stufen ein schneeiger Quell« (ITA II, 90). Gerade hier ist aber gezeigt worden, dass syntaktisch offene Mehrfachbezüge sich nicht mehr unter einem einheitlichen Metaphernbegriff subsumieren lassen, sondern feldartig als semantische Überlagerungen zu charakterisieren sind (vgl. Cellbrot 2003, 67). Eine Anbindung an die Tradition der Metaphysik lässt sich ebenso wenig bestätigen wie der Anschluss an die Stimmungslyrik des Impressionismus.

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Die Seele als Schwellenraum Gelegentlich verselbständigt sich freilich die Seele zum Subjekt eines magisch unbestimmten Vorgangs, als essentielle Setzung wie in »Kindheit« (II): »Ein blauer Augenblick ist nur mehr Seele« (ITA III, 30), oder in »Frühling der Seele« (II): »Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden« (ITA III, 383). Der Deutungsraum des Wortes öffnet sich dort am weitesten, wo sich transitive und intransitive Vorgänge durchdringen, etwa zu Beginn des Gedichtes »Im Dunkel«: »Es schweigt die Seele den blauen Frühling« (ITA IV.1, 147). In seiner intensiven Erörterung von Georg Trakls Gedicht, das er als eine zusammenhängende Textlandschaft aufgefasst hat, widmete Martin Heidegger unter dem Titel »Die Sprache im Gedicht« gerade dem Vers »Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden« besondere Aufmerksamkeit. Die etymologische Fokussierung auf das Unterwegssein im Begriff des Fremden (Heidegger 2018, 36– 38) mag dabei problematisch sein, die Herausarbeitung der »Abgeschiedenheit« als »Ort seines Gedichtes« (ebd., 48) korrespondiert mit der Einsamkeit der Seele sowie den verwandten Semantiken von Dunkelheit, Nacht und Traum, zu denen auch Schmerz, Bangigkeit und Krankheit gehören. Alain Badiou rechnet Trakl unter die sieben entscheidenden Dichter, die zwischen Hölderlin und Celan in Europa das »Zeitalter der Dichter« geprägt haben: Es besteht laut Badiou wesentlich in der »Absetzung der Kategorie des Objekts und der Objektivität als notwendige Form der Darstellung« (Badiou 2010, 60). Speziell bei Trakl erkennt er, wie das Subjekt der Dichtung die »Stelle des Todes« einnimmt (ebd., 86). Die quasi-metaphysische Dichtung stehe mit ihrer wesentlichen Orientierungslosigkeit und »gleißender Schroffheit« für eine »desorientierende Diagonale«, die sie in die »gerichteten Vorstellungen der ›Geschichte‹ einzieht (ebd., 59). In diesem Kontext bildet die Seele als Schwellenraum, der das Menschliche und seinen Anspruch auf Unsterblichkeit mit der Vergänglichkeit von Natur und dem Tier verbindet, eine entscheidende Position. Inmitten der grundsätzlichen Polyvalenz

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fast aller sprachlichen Strukturen in Trakls Lyrik (vgl. Philipp 1971, 135), die »als einzige dem Wort seine Freiheit zurückzugeben vermag, indem sie es radikal herausnimmt aus den Vorentscheidungen der an die Sprache gebundenen Wirklichkeit«, wird der Komplex der Seele kaum auf eine einfache Übersetzung festzulegen sein. Sie umschreibt sicher auch, aber zugleich mehr als »das dichterische Vermögen […], Vergangenes zu vergegenwärtigen« (Zuberbühler 1984, 108). Weder geht sie in der Konzeption des Ich oder der Psyche auf, noch folgt sie insgesamt der Tradition eines Unsterblichkeitsdenkens. Csúri beschreibt Trakls Textwelten unter Rückgriff auf Baudelaire und Hofmannsthal als »Landschaften der Seele« als visionäre Schau, in der aber »dem Ich eine zentrale Stellung« zugesprochen wird, wenn die Seele als »Vertretung des Selbst« gelesen wird (Csúri 2016, 39 f.). Die von Henri-Frédéric Amiel in seinem Tagebuch eingeführte und von Hermann Bahr im oben zitierten Artikel weitervermittelte Metapher von der ›Landschaft der Seele‹ findet sich auch bei Trakl auf der Textstufe 3 H von »Wenn wir durch unserer Sommer purpurnes Dunkel …« (ITA II, 358). In ihrer Dunkelheit und Fremdheit gewinnt die Seele überdies den Charakter einer poetologischen Chiffre für den Grenzbereich von Sagen und Schweigen, in dem die nächtig-traumhafte Dichtung Trakls insgesamt angesiedelt ist. Sie bildet einen Resonanzraum, in dem Menschliches und Tierisches, Gefühlhaftes und Moralisches (»Doch die Seele erfreut gerechtes Anschaun« [ITA II, 260]), Lebendiges und Vergängliches sich überlagern. Indem ihr das Schweigen als aktive, poetische Befähigung zugesprochen wird, gewinnt sie einen für das Werk Trakls insgesamt typischen Charakter der Stille, selten der Stummheit (»Die blaue Seele hat sich stumm verschlossen« [ITA IV.2, 199]) als einer semantisch unbesetzten Melancholie. Anders als der von Trakl schon 1908 distanziert charakterisierte Lyriker Artur Grobler, dem er bescheinigt, dass seine geradlinige, einfache Lyrik »von den Schicksalen einer lauteren Seele Bekenntnis ablegt« (Stockhammer 2016, 174), besteht die »Lauterkeit« seiner eigenen Texte

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gerade darin, »der eigenen Stille nun ungestört nachgehen« zu können, wie er im August 1914 an Wittgenstein schreibt (ITA V.2, 645). Trakls Lyrik ist in ihrer bildhaften Polyvalenz, die sich wie kaum eine andere der eindeutigen Semantisierung entzieht, eben nicht bekennende Seelenlyrik, aber sie findet in diesem Bild einen adäquaten Spiegel ihrer verinnerlichten Eigenheit, zu der der Anspruch von Gerechtigkeit und Wahrheit (Mayer 2016, 304) ebenso gehört wie die Erfahrungen von Schmerz und Schuld. Die »Seele« erweist sich als ein gültiges, weil nicht rational übersetzbares Bild dieser Lyrik.

Literatur Badiou, Alain: Manifest für die Philosophie. Übers. von Eric Hoerl und Jadja Wolf. Wien/Berlin 22010. Bahr, Hermann: Die neue Psychologie. In: Moderne Dichtung, Bd. 2, H. 2, Nr. 8., 1. August 1890, 507. Bahr, Hermann: Expressionismus. München 1920. Cellbrot, Hartmut: Trakls dichterisches Feld. Freiburg i.B. 2003. Csúri, Károly: Konstruktionsprinzipien von Georg Trakls Textwelten. Bielefeld 2016. Fick, Monika: Sinnenwelt und Weltseele. Der psychophysische Monismus in der Literatur der Jahrhundertwende. Tübingen 1993. Heidegger, Martin: Unterwegs zur Sprache. Frankfurt a. M. 22018 (Gesamtausgabe I.12). Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke in zwanzig Bänden. Hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt a. M. 1991–2000. Høystad, Ole Martin: Die Seele. Eine Kulturgeschichte. Übers. von Frank Zuber. Wien/Köln/Weimar 2017.

577 Mach, Ernst: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen. Jena 91922. Maeterlinck, Maurice: Der Schatz der Armen. Deutsch von Friedrich von Oppeln-Bronikowski. Florenz/ Leipzig 1892. Mayer, Mathias: »Gutes und Böses bereitet«. Zum Verhältnis von Ethik und Wahrheit bei Georg Trakl. In: Uta Degner/Hans Weichselbaum/Norbert Christian Wolf (Hg.): Autorschaft und Poetik in Texten und Kontexten Georg Trakls. Salzburg/Wien 2016, 295– 307. Musil, Robert: Gesamtausgabe. Hg. von Walter Fanta. Salzburg/Wien 2016–2021. Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München 1999. Noack, Ludwig: Psyche. Zeitschrift für die Kenntniss des menschlichen Seelen- und Geisteslebens. Leipzig 1858–1863. Philipp, Eckhard: Die Funktion des Wortes in den Gedichten Georg Trakls. Linguistische Aspekte ihrer Interpretation. Tübingen 1971. Rothe, Wolfgang: Der Expressionismus. Theologische, soziologische und anthropologische Aspekte einer Literatur. Frankfurt a. M. 1977. Schiller, Friedrich: Sämtliche Werke. Hg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert. München 81987. Schnitzler, Arthur: Das dramatische Werk. Frankfurt a. M. 1977–1979. Scheerer, E.: Seele. Philosophie der Psychologie seit 1850. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von Joachim Ritter. Darmstadt 1995, Bd. IX, 51– 89. Stockhammer, Harald: Vom Lichtquell. Eine (bisher unbekannte) Rezension von Georg Trakl im Kontext oder: Ein Phantom wird gesucht. In: Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv 36 (2016), 173–175. Zuberbühler, Johannes: »Der Tränen nächtige Bilder«. Georg Trakls Lyrik im literarischen und gesellschaftlichen Kontext seiner Zeit. Bonn 1984.

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Tiere Vera Thomann

Obwohl Tiere im Werk Georg Trakls allgegenwärtig sind, ist man ihrer Funktion bis anhin nicht systematisch nachgegangen. Die Forschung hat die Tierfiguren Trakls eher beiläufig als »Kippfiguren zwischen Wirklichkeitsbezug und referenzlosem bloßem ›Requisit‹« (Klessinger 2016, 281), als nur mehr »sich selbst meinende Bilder« (Preisendanz 1966, 241) oder als »konstant bleibende Verweisungsfunktion, von der sich nur sagen läßt, daß sie auf ein ganz bestimmtes Etwas ziele, ohne daß dieses Etwas im Letzten allerdings klar definiert werden könnte« (Cosentino 1972, 123), ausgelegt. Es scheint vor diesem Hintergrund deshalb wenig sinnvoll, von einer allgemeingültigen Funktion der Animalität bei Trakl auszugehen oder gar eine vergleichende Motivgeschichte aller Traklschen Tierfiguren vornehmen zu wollen. Die Tiere Trakls können jedoch auf ihre individuellen und speziesspezifischen Verweisfunktionen geprüft werden, d. h. erstens hinsichtlich des Zusammenwirkens der Sprachfiguren auf der Vers- und Gedichtebene, zweitens als über die einzelnen Gedichte hinausweisende Rekurrenz und drittens hinsichtlich der auf einen lyrischen Außenraum verweisenden Gattungs- und Artnamen. Allererst gilt es dafür im Werk Trakls zwi-

V. Thomann (*)  Institut für Germanistik, Universität Wien, Wien, Österreich E-Mail: [email protected]

schen zoologisch unbestimmten Oberbegriffen (darunter Tier und Wild), einzelnen Tierklassen (z. B. den Vögeln) sowie bestimmten Gattungsund Artnamen (z. B. der Amsel oder der Fledermaus) zu differenzieren.

Zoologisch unbestimmte Tiere: ›Tier‹ und ›Wild‹ Die zoologisch unbestimmten Oberbegriffe weisen bei Trakl eine größtmögliche Vagheit aus, einerseits klassifikatorisch hinsichtlich der Tierart und andererseits quantitativ hinsichtlich der Menge der Tiere. Ist von ›dem‹ Wild die Rede (z. B. in »Geburt«: »O, die moosigen Blicke des Wilds«, ITA III, 416), verbleibt sowohl die Tierzahl als auch die Tierart der jagdbaren Wildtiere unbestimmt. Auffallend ist nun, dass gerade die größtmögliche klassifikatorische und quantitative Vagheit bei Trakl auf der Versebene Lokalisierungen, Verzeitlichungen und Klärungen hinsichtlich der Beschaffenheit der Tiere mit sich zieht – topologisch etwa »[a]m Waldsaum« (ITA III, 30), »im Dornengestrüpp« (ITA II, 455), »im Haselgesträuch« (ITA I, 384) oder »am Hügel« (ITA IV.1, 246) und temporal in Form von Anbindungen an Jahres- und Tageszeit (»Schweigend erscheint die Nacht, ein blutendes Wild«, ITA IV.1, 144) sowie mithilfe von Markern der Iterativität (»Schwester, da ich dich fand an einsamer Lichtung / Des Waldes und Mittag war

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_96

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und groß das Schweigen des Tiers«, ITA III, 383). Für ›Tier‹ wie ›Wild‹ ist dabei eine die Jagdmetaphorik begleitende Vulnerabilität und Sterblichkeit konstitutiv, die sich kinetisch in einer Statik der Tierbewegung (»Im Dornenstrauch verendet weich ein Wild«, ITA I, 530) und in einem rekurrierenden, dem Tier zugehörigen liminalen Raum (»Still vergeht am Saum des Waldes / Ein dunkles Wild«, ITA III, 75) zeigt. Dabei werden ›Tier‹ und ›Wild‹ hinsichtlich ihrer Dynamik sowie farblichen Beschaffenheit meist bereits auf der Versebene präzisiert: dynamisch im Sanften, Weichen oder Leisen (»daraus bisweilen ein sanftes Tier tritt«, ITA II, 451) und adjektivisch oder adverbial anhand der Farben Rot oder Blau (z. B. »Blaues Wild, das unter Bäumen tönt«, ITA II, 280, oder »Der Saum des Waldes schließt blaue Tiere ein«, ITA II, 412). Dass der Grad an Unbestimmtheit von ›Tier‹ und ›Wild‹ zentral ist, kommt u. a. in Trakls Überarbeitungen von »An die Schwester« zum Ausdruck, in der »Ein blaues Wild« zum »Blauen Wild« korrigiert wird (ITA II, 280), oder in der Überarbeitung von »Geistliche Dämmerung«, in der Trakl zwischen »Das blaue Wild«, »Ein blaues Wild« und »Ein dunkles Wild« changiert (ITA III, 71). Insgesamt fungieren die Oberbegriffe Tier oder Wild bei Trakl folglich als Figurationen der Vagheit, die auf der Versebene durch klar geregelte syntaktische und statische Explikationen stabilisiert werden. An dieser Stelle sei außerdem darauf hingewiesen, dass die bei Trakl mit ›Tier‹ und ›Wild‹ aufgerufene Passionssymbolik in der Forschung mit den Kunstwerken Franz Marcs verglichen worden ist (vgl. Mönig 1996; Doppler 2016), insbesondere mit dem blauen Reh in Marcs Gemälde Tierschicksale (1913), in dessen Vorstudie (Sterbendes Reh, 1909) Marc die Ikonographie des Heiligen Sebastian mit der Vulnerabilität des gejagten Wilds kombiniert (Mönig 1996, 85 f.). Es kann deshalb eine bei Marc und Trakl verwandte Substitutionslogik des für den Menschen einstehenden, gewaltvoll erlegten und unschuldigen Wildtiers festgestellt werden, welche bei Trakl in zahlreichen lyrischen Überblendungen zwischen Mensch und Tier deutlich operationalisiert wird (z. B.

V. Thomann

in »Der Schatten«: »Sah ich meinen Schatten im Gras, / Gewaltig verzerrt, ein wunderlich Tier«, ITA I, 415, oder in »Verwandlung des Bösen«: »Du, ein blaues Tier, das leise zittert; du, der bleiche Priester, der es hinschlachtet am schwarzen Altar«, ITA III, 289). Im Unterschied zu Marc, der sich gesamthaft für eine »Animalisierung der Kunst« eingesetzt hat (Marc 1978, 98), vertraut Trakl in seiner Lyrik auf nach Spezies und Bestimmtheit differierende Animalisierungsgrade.

Tierklassen: Zu Trakls Vögeln Sind einzelne Tierklassen genannt, z. B. die Vögel, ist bei Trakl zwischen Singularisierung und Pluralisierung der Tiere zu unterscheiden. So ist der einzelne Vogel mehrheitlich klassifikatorisch bestimmt (z. B. als Amsel, als Drossel, als Krähe etc.), während der Vogelschwarm – als Vogelzug – gattungstechnisch undefiniert verbleibt. Die Singularisierung der Tiere geht dabei mehrheitlich mit einer Anbindung an die akustische Sinnesebene (vgl. Fassbind 1991), die Pluralisierung mit Verweisen auf die visuelle Sinnesebene überein: Während der Gesang des singulären Vogels einen zwar statischen und zeitlich undefinierten, allerdings räumlichakustischen Bezugspunkt bildet (»Elis, wenn die Amsel im schwarzen Wald ruft«, ITA II, 451), entwirft der Vogelzug eine dynamische Bewegung auf der horizontalen Ebene, die mit einer zeitlich-phänologischen Fixierung einhergeht (»Wenn es Herbst geworden ist […] / Und die runden Augen folgen dem Flug der Vögel«, ITA II, 260). Dass Trakl mit der Bestimmtheit seiner Tierfiguren, deren Umwelt und Dynamik experimentiert, ist insbesondere in der Textstufe 2 H von »Ruh und Schweigen« ersichtlich, in der er die Zeile »Ein schwarzer Vogel sinkt vom härenen Himmel« aus der Textstufe 1 H (ITA III, 250) zuerst mit »Ein singender Vogel sinkt vom härenen Himmel«, »Vögel sinken vom härenen Himmel«, »Ein Vogel hängt am härenen Himmel«, »Ein Kranichzug hängt am härenen Himmel« und »Schwarze Vögel kreisen am Himmel« substituiert, bevor er sie mit »Doch

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immer rührt der schwarze Flug der Vögel« ersetzt (ITA III, 251). Im Motiv des Vogelzugs kann durchaus auch eine Unentscheidbarkeit zwischen Einzeltier und Schwarm vorherrschen, was in »Melancholie des Abends« anhand der Verbkonjugation angezeigt wird, wenn »[e]in Heer von wilden Vögeln wandern« (ITA I, 442). Generell wird der Vogelzug als Referenz auf die Auspizien, d. h. als »Ankündigung eines zukünftigen Geschehens« (Esselborn 2016, 242) ausgewiesen. Die Vogel-processio ist derart als Zeichengebung denominiert, wobei die Traklschen Auspizien gerade keine Ausdeutungsaufgabe formulieren: »Es bleibt von der antiken Mantik und von der romantischen Zeichendeutung: ein ratloses Starren auf Mitteilungen, die offenbar für den Menschen bestimmt, doch völlig unzugänglich sind« (Staiger 1961, 283). Wenn »Schwalben irre Zeichen ziehn« (ITA I, 265), ist so auf einen Status der Zeichenoffenheit hingewiesen, der eine antike wie romantische Tradition von politischen, religiösen und hermeneutischen Praktiken in der Beobachtung und Deutung von Vogelflügen aufruft und simultan für nicht mehr zeitgemäß erklärt. Die semantische Undeterminiertheit der Schwalben korreliert bei Trakl jedoch gerade nicht mit einer innerlyrischen Ambiguität oder Undeterminiertheit der Vogelfiguren; denn die Vogelzüge weisen eine im Vergleich zum ›Tier‹ oder ›Wild‹ eher starke, wenn auch dynamisierte, Bestimmtheit aus. Die in Klasse, Zeit und Dynamik präzisierten Vogelzüge fungieren bei Trakl folglich nicht eigentlich als Figurationen der Vagheit, sondern werden erst anhand ihrer als semantisch unklar deklarierten Zeichengebung als uneindeutig markiert. Hierdurch wird suggeriert, dass die ›Lesbarkeit‹ der Tiere mit der Unlesbarkeit der Zeichen einhergeht – was nicht heißt, dass die tierischen Signifikanten innerlyrisch selbst wirre Zeichen darstellen, die zu deuten nicht möglich ist. Vielmehr gründet die ornithologische Falle bei Trakl darin, aufgrund der Unentschiedenheit zwischen Tier und Zeichen und der Rekurrenz des undeutbaren Vogelflugs die Vogelfiguren grundsätzlich als unzugängliche Mitteilungen und die wirren Zeichen als formulierten Deutungsauftrag zu verstehen (z. B.

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auch in den Gedichten »An den Knaben Elis« (ITA II, 427), »Traum des Bösen« (ITA I, 509), »Stundenlied« (ITA II, 456) oder »Unterwegs« (II) (ITA II, 471).

Hässliche und groteske Tiere Ein weiterer Tierverbund, der in der Forschung gemeinhin zusammengefasst wird, evoziert eine Ästhetik des Hässlichen und Grotesken (vgl. Anz 2010, 95) anhand mehrerer, kulturgeschichtlich als Ungeziefer markierten Tierarten, wie z. B. Ratten, Fliegen, Würmer oder Kröten. Auffallend ist hier wiederum, dass jene Tierarten als Menge (oder Meute, vgl. Deleuze/ Guattari 1992, 327) auftreten und kinetisch großflächige Dynamisierungen produzieren: Die Tiere wühlen (ITA II, 442), schwirren umher (ITA I, 426), oder »tauchen leise herauf«, ITA I, 399) und verursachen dabei Unordnung, Unrat und Zerfall in formaler, syntaktischer und topologischer Hinsicht. Jene Dynamisierungen beziehen sich dabei nicht nur auf die optischen, sondern ebenso auf »osmatische und akustische Vorstellungskomplexe« (Cosentino 1972, 41), wenn die Fledermäuse oder Ratten etwa schreien (ITA II, 128) und pfeifen (ITA I, 573) oder die Fliegen um Aas »singen« (ITA I, 466). Verfall, Ekel und Untergang können diesbezüglich motivgeschichtlich anhand der literarischen Konjunktur gewisser Tierarten kontextualisiert werden (vgl. die Ratten-Motivik bei Gerhart Hauptmann, Gottfried Benn und Georg Heym oder die Raben-Motivik bei Friedrich Nietzsche, Arthur Rimbaud, Charles Baudelaire und Else Lasker-Schüler). Jene Tierarten sind allerdings bei Trakl bereits innerlyrisch genuin ausdeutbar: Die Tierschwärme sind nicht nur »Konkretisationen eines Desorientierungsgefühls, das sich bis ins extrem Ekelhafte steigert« (Cosentino 1972, 40), sondern führen in ihrer Menge und Masse den Zerfall einer bisherigen Ordnung in die lyrische Komposition ein, welche meist eine Separation von Titel, Text und Tier verunmöglicht. Bei derart symbolisch aufgeladenen Tierverbünden ist demnach von einer poetischen Animalität auszugehen,

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die nicht mehr nur in Gattungs- und Artnamen lokalisierbar ist. Denn ungleich dem ›Wild‹ oder ›Tier‹ sind die Meute-Tiere durch eine spezifische Eigenaktivität, d. h. Mobilität, gekennzeichnet, und ungleich den Vogelzügen durch eine nicht einheitliche Mobilität bei einer durchaus klaren Semantisierung. Die Ratten, Fliegen oder Würmer tragen deshalb die sie einenden Zeichengebungen auch stilistisch in die durch sie dynamisierten Gedichte. Der Tierkomplex des Hässlichen bildet z. B. parallelistische, katachrestische, paronomastische und synästhetische Stilmittel aus – wenn das Schwingen des Mückenschwarms beispielsweise in »In einem verlassenen Zimmer« direkt in das Schwingen der Sensen übergeht (»Und ein Schwarm von Mücken schwingt. / Fern im Acker Sensen mähen«, ITA I, 265).

Animalisierungen Schließlich ist bei Trakl noch auf poetische Animalisierungen hinzuweisen, welche die anthropologische Differenz mithilfe lyrischer Stilmittel in beiderlei Richtungen aufheben bzw. die Inbezugsetzung von Mensch und Tier reziprok funktionalisieren. Einerseits anthropomorphisiert Trakl die Tierfiguren, z. B. wenn der Rattenchor »verliebt« pfeift (ITA I, 573), »Schwärme schwarzer Fliegen singen« (ITA I, 359) oder »[a]m Friedhof […] die Amsel mit dem toten Vetter [scherzt]« (ITA I, 583). Andererseits greift er ebenso auf eine Bestialisierung von Technik oder Unbelebtem (vgl. Cosentino 1972, 84) zurück, wenn in »Vorstadt im Föhn« etwa »die Röte durch die Flut [kriecht]« (ITA I, 573). Therio- und Anthropomorphismus treffen sich denn auch in lyrischen Bezugsunklarheiten, in denen Tier und Mensch syntaktisch ineinander übergehen (vgl. z. B. die zweite Strophe von »Seele des Lebens«, in der unklar bleibt ob die »vor Gottheit« sich weitenden Lider dem Einsamen, dem Hirten oder dem Tier zugehörig sind, ITA I, 508). Ebenso ist auf Stabilisierungen im größeren Kontext der Gedichte hinzuweisen, wenn Parallelismen Mensch und Tier über mehrere Verse hinweg in Bezug set-

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zen, vgl. z. B. »Folg ich der Vögel wundervollen Flügen […] / Träum ich nach ihren helleren Geschicken« (ITA I, 227), »Möven schrein am Fensterrahmen / […] Kinder kreischen im Spitale« (ITA I, 411) oder »Und der Hahn zum letzten kräht […] ’ / Und ein Engel singt im Hain« (ITA I, 503). Selten dienen Tiere dazu, Derealisationen zu produzieren, wie etwa in »Die schöne Stadt«: »Rösser tauchen aus dem Brunnen. / Blütenkrallen drohn aus Bäumen« (ITA I, 405). In Trakls Lyrik ist folglich nicht ausschließlich von einer Fülle der Tierfigurationen, sondern ebenso von einer Prominenz von animalisierenden Stilfiguren auszugehen.

Zur Zoopoetik Trakls Generell ist die Zoopoetik Trakls innerhalb der Spannungsfelder Abstraktion und Konkretion, Statik und Dynamik, Zeichenoffenheit und Zeichenbestimmtheit, Singularität und Pluralität, Visualität und Akustik sowie Einheitlichkeit und Unordnung anzusiedeln, wobei Trakl die Tierfiguren streng ausbalanciert: Unbestimmtheit mit Konkretion und Statik (das ›Tier‹ oder ›Wild‹), Konkretion und Einheitlichkeit mit Zeichenoffenheit (z. B. die Vögel) sowie Dynamik und Unordnung mit Zeichenbestimmtheit (z. B. der Tierkomplex der grotesken Tiere). Werden ›die‹ Tiere Trakls vereinheitlicht, kann dieser je spezifische Balanceakt der Tierfigurationen, der auf der Versund Gedichtebene, als vergleichende Rekurrenz innerhalb der Lyrik Trakls sowie in der Referenz auf ein lyrisches Außen zu beobachten ist, die maßgebliche Beweglichkeit des Gedichtraums in Bezug auf den Themenbereich Animalität nicht sichtbar machen. Die Tiere Trakls stellen deswegen nicht einfach Realitätseffekte dar, die auf »eine potentielle empirische Außenwelt« (Preisendanz 1966, 244) verweisen oder die eine »Darstellung des Tieres um seiner selbst willen« verunmöglichen (Cosentino 1972, 36), vielmehr fußt ihre Funktion für die Lyrik Trakls in der potenziellen Feststellbarkeit einer inner- und außerlyrischen Ausbalancierung. Wird bei Baudelaire und Rimbaud noch »die irreale Vereinigung des

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dinglich und logisch Unvereinbaren« (Cosentino 1972, 68) thematisch, ist diese bei Trakl folglich poetisch bereits derart funktionalisiert, dass die Tierfiguren in Anlehnung an Friedrich Nietzsche als ›noch nicht festgestellt‹ zu verbleiben haben. Die anthropologische Differenz wird dementsprechend in Form einer poetischen Verunsicherung der stark determinierten respektive einer Fixierung der unterdeterminierten Oberbegriffe, Tierklassen- und -arten infrage gestellt, sodass Verszeile, Gedicht und Gedichtzyklen jeweils unterschiedliche Verweisfunktionen zu stärken oder zu schwächen haben. Animalität dient bei Trakl dergestalt zwischen Innen- und Außenraum der Gedichte als Aushandlungsmasse, wobei ihre Form einem ständigen lyrischen Balanceakt unterliegt.

Literatur Anz, Thomas: Literatur des Expressionismus. Stuttgart/ Weimar 22010. Cosentino, Christine: Tierbilder in der Lyrik des Expressionismus. Bonn 1972.

583 Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Üs. von Gabriele Ricke und Ronald Voullié. Berlin 1992. Doppler, Alfred: Sebastian als Autorkonfiguration. In: Uta Degner/Hans Weichselbaum/Norbert Christian Wolf (Hg.): Autorschaft und Poetik in Texten und Kontexten Georg Trakls. Salzburg/Wien 2016, 19–41. Esselborn, Hans: Poetologische Leitfiguren Georg Trakls. In: Uta Degner/Hans Weichselbaum/Norbert Christian Wolf (Hg.): Autorschaft und Poetik in Texten und Kontexten Georg Trakls. Salzburg/Wien 2016, 235–249. Fassbind, Bernard: Vogelruf und Vogelflug. Gedanken zu einem Motivbereich in Georg Trakls Gedichten. In: Paul Michel (Hg.): Tiersymbolik. Bern et al. 1991, 37–48. Klessinger, Hanna: Name und Welt. Wirklichkeitsbezüge in Georg Trakls Lyrik. In: Uta Degner/Hans Weichselbaum/Norbert Christian Wolf (Hg.): Autorschaft und Poetik in Texten und Kontexten Georg Trakls. Salzburg/Wien 2016, 271–283. Marc, Franz: Schriften. Hg. von Klaus Lankheit. Köln 1978. Mönig, Roland: Franz Marc und Georg Trakl. Ein Beitrag zum Vergleich von Malerei und Dichtung des Expressionismus. München 1996. Preisendanz, Wolfgang: Auflösung und Verdinglichung in den Gedichten Georg Trakls. In: Wolfgang Iser (Hg.): Immanenz und Ästhetik. Ästhetische Reflexionen. München 1966, 227–261.

Tod und Sterben

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Philipp Theisohn

Der Versuch, die Semantisierung und Diskursivierung des Todes in Trakls Werk auf den Begriff zu bringen, scheint so naheliegend wie zum Scheitern verdammt. So wird die TraklForschung zum einen seit jeher von der Überzeugung bestimmt, dass diese Dichtung in keiner Beziehung zum Tod steht, sondern selbst jene Beziehung ist. Dies gilt bereits für die sich vom christlichen Existenzialismus Kierkegaards herschreibenden Lektüren, die im Traklschen Tod »nicht Verneinung, sondern Erfüllung des Lebens« (Vietta 1947, 29), »keine Flucht, sondern de[n] archimedische[n] Punkt« erkennen, »aus dem die verlorene Ordnung der Werte wiedergewonnen werden« muss (ebd., 27). Der Einschätzung, dass in Trakls Gedichten bisweilen »der Tote selber spricht« und sich in Trakls Horizont die gesamte europäische Literatur in ein »Wechselgespräch über den Tod« verwandelt hat, findet sich in verwandelter Form aber auch in philosophischen Deutungen Trakls, etwa der Alain Badious, der konstatiert, dass das »Subjekt von Trakls Dichtung […] nur die Stelle des Todes ein[nimmt]« (Badiou 2010, 86) – und auch in der zeitgenössischen avancierten TraklPhilologie, für die stellvertretend Rüdiger Gör-

P. Theisohn (*)  Deutsches Seminar, Universität Zürich, Zürich, Schweiz E-Mail: [email protected]

ner bilanziert: »Trakls Gedichte zeugen vom Wirken der Toten und des Todes. Es handelt sich um Dichtungen in der ›Stunde unseres Absterbens‹ […]. Die ›Nähe des Todes‹ ist nicht nur Titel eines Gedichts, sondern Bedingung dieser Sprachkunstwerke, die ihrerseits die Macht des Todes nicht nur konstatieren, sondern lyrisch potenzieren. […] Am Tode hängt und zum Tode drängt in diesen Gedichten buchstäblich alles. Seine Embleme sind omnipräsent […]« (Görner 2014, 136 f.). Ebenjene Omnipräsenz versperrt – zum anderen – den analytischen Zugang zum Todeskomplex. So mag der Tod in Trakls Dichtung zwar bisweilen sogar allegorische Züge annehmen, wenn er etwa in »Traum und Umnachtung« als »ein gräulich Gerippe« »aus purpurnen Blumen« tritt (ITA IV.1, 74) oder in »Mit rosigen Stufen…« »knöchern grinst […] in schwarzem Nachen« (ITA III, 238). Gleichwohl ist er nicht als Figur zu denken, schon gar nicht als Motiv, sondern als eine Trope, aus der dieses Werk sich selbst zu erklären und zu begründen versucht. Jedes Wort, jeder Vers ist dem Tod entäußert und damit zugleich dessen Entäußerung. Trakls Rede vom Tod untersteht folglich keiner Repräsentationslogik, wenn sie uns diese auch von Zeit zu Zeit geradezu aufzunötigen scheint. Vielmehr materialisiert sich in ihr der Tod als ein Prinzip, das unentwegt neue Bilder erzeugt, in immer neuen Masken umgeht, anders gefasst: als ein poietischer Prozess.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_97

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Verstorbenheit: Trakls Werk und die Gemeinschaft der Toten Um somit überhaupt etwas zur Thanatologie Trakls sagen zu können, wird man zunächst voraussetzen müssen, dass es sich hierbei um ein Selbstverhältnis handelt, sich die Lyrik dem Tod nicht zuwendet, als sei dieser ein Sujet unter anderen, sondern dass sie aus ihm erst ihre Welt entstehen lässt, den Tod expliziert. »Seele sang den Tod, die grüne Verwesung des Fleisches«, heißt es in »An einen Frühverstorbenen« (ITA III, 403), und insofern der Tod eben nicht besungen, sondern gesungen wird, haftet er jedem Laut an, überzieht er den sich im Gesang entfaltenden Kosmos mit ›grüner Verwesung‹. Den Tod singen, das beschreibt in Trakls Poetologie den eigentlichen Schöpfungsakt. Und so schließt sich an den Einbruch des Todesgesangs in den Folgezeilen auch eine Genesis der Traklschen Ordnung an, der deren archetypische Requisiten entsteigen: »Und es war das Rauschen des Walds, / Die inbrünstige Klage des Wildes. Immer klangen von dämmernden Türmen die blauen Glocken des Abends« (ebd.). Lesen ließe sich jene Strophe – es ist die dritte des im Dezember 1913 entstandenen Gedichts – somit als mise en abyme, als jener Augenblick, in dem das poetische Prinzip seiner selbst ansichtig wird, seine Rede als Maskierung eines nicht aussprechbaren Zusammenhangs in den Blick bekommt. Indessen liegt das Geheimnis dieses Gedichts in der Situierung jenes Todesgesangs: Woher stammt er? Situiert ist er inmitten eines Geschehens von Trennung und Wiederbegegnung: Die erste Strophe erinnert ein »wir« – »sanfte Gespielen am Abend« –, das die zweite Strophe zerbricht: »Jener aber ging die steinernen Stufen des Mönchsbergs hinab, / Ein blaues Lächeln im Antlitz und seltsam verpuppt / In seine stillere Kindheit und starb; / Und im Garten blieb das silberne Antlitz des Freundes zurück, / Lauschend im Laub oder im alten Gestein« (ebd.). In der letzten Strophe finden sich die beiden wieder, kommt es zu »trautem Gespräch unter Ulmen«. Allerdings kehrt das Gedicht nicht mehr zum »wir« zurück, sondern verfällt im vorletzten Vers un-

P. Theisohn

versehens dem Traklschen ›Du‹. »In einsamer Kammer / Lädst du öfter den Toten zu Gast«, heißt es dort – und in diesem ›Du‹ wird das Gespräch mit dem Toten nun vom Innenraum ins Außen gewendet. Das Gedicht kündet nicht nur von diesem Gespräch, sondern lädt ein, öffnet sich einem Gegenüber. Zum Vorschein gelangt dabei eine Gemeinschaft, deren Angehörige beständig ihre Position zu wechseln scheinen und nicht mehr deutlich voneinander zu unterscheiden sind. Wer empfängt den Frühverstorbenen, wer erblickt dessen Geist, der am Abend »stille im Zimmer erschien«? Die vierte Strophe kennt nur ein schauendes Subjekt, »jener« wird es genannt: »Stunde kam, da jener die Schatten in purpurner Sonne sah / Die Schatten der Fäulnis in kahlem Geäst«. Zugleich jedoch verweist ›jener‹ auf ›jenen‹ zurück, der zwei Strophen zuvor ins kindheitliche Sterben gegangen ist und nun wiederkehrt. Unklar ist, wer im Geist des Frühverstorbenen verbleibt oder kommt (wie auch nicht zu bestimmen ist, wem »das silberne Antlitz des Freundes« zuzuordnen ist, das nach jenem Versterben metonymisch »im Garten« zurückgelassen wird). Diese Vertauschbarkeit der Positionen, von Empfangenden und Empfangenen, gründet sich in der Teilhaftigkeit des Sterbens, des ›Einander-Sterbens‹: ein dativus ethicus, der in Trakls Werk eng mit der Vorstellung der ›Bruderschaft‹ verknüpft ist. (So stirbt in »Der Spaziergang« dann auch ein »Bruder […] dir in verwunschnem Land« [ITA I, 530].) Wem ein anderer stirbt, der erhält zugleich Einlass in die Verstorbenheit, der wird selbst zum Medium des Todes, zu einem ›Frühverstorbenen‹, und er sieht nicht allein die Verwesung in den Dingen, die Schatten und die Fäulnis, sondern er treibt sie zugleich hervor – wie die »Blaue Blume«, über welche sich die romantische Wurzel dieser Thanatopoiesis verrät (vergl. hierzu auch Csúri 2016, 195 f.). Sein und Erkennen fallen in eins: Den Todesgesang, der »der Kehle des Tönenden« (ITA III, 403) entrinnt, zu vernehmen, seine Spuren zu gewahren, heißt immer auch, schon im Tod zu stehen, ihn zu sprechen. Nur der »Faun mit toten Augen« sieht die »Schatten, die ins Dunkel gleiten« (»Musik im Mirabell«, ITA I, 250).

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Erklärbar werden hieraus nicht nur nicht die für sich genommen trivialen Phänomene der lebenden Toten, »die sich in den Betten wenden« (»Mit rosigen Stufen …«, ITA III, 329) und deren »Antlitz sich am Fenster regt« (»Menschliche Trauer«, ITA I, 467). Die poetische Mobilisierung des ›Toten‹ als qualitas, deren radikalisierte Form sich in Abstrakta wie »Schweigend verlässt ein Totes das verfallene Haus« (»Siebengesang des Todes«, ITA IV.1, 144) zeigt, weist auf die Gemeinschaft von Stimme und Totenwelt. Es ist indessen die einzige Gemeinschaft, die diese Stimme kennt, die einzige Berührung und Vermischung, die sie überhaupt vollzieht. Die in »Traum und Umnachtung« berufene »Wollust des Todes« (ITA IV.1, 75), die sich mit den »Kinder[n] eines dunklen Geschlechts« verbindet, zeugt von der uneinholbaren Intimität des Sterbens. Der schwüle Eros des Todes, der schon in Baudelaires »La Mort«-Zyklus sich aus den »lits pleins d’odeurs légères« erhebt (Baudelaire 2008, I, 126), zieht bei Trakl dort auf, wo »[n]ym­phische Hände« »[d]es Todes ernste Bedürfnis bereiten« (»Melancholia«, ITA III, 18). Er ist insbesondere ein Privileg der Liebenden, die sich in ihrer Todesverbundenheit erkennen und die in »Die blaue Nacht…« bekennen: »Leise berühren sich unsre verwesten Hände« (ITA III, 244). Erst jenes gemeinsame Eingehen ins Sterben kann überhaupt Liebe, kann das »Du« und das »Wir« begründen, wie es auch die Dichtung begründet, den orphischen Gesang, der »ein Totes im Abendgarten« beklagt (»Passion«, ITA IV.1, 124) und der erst ertönen kann, wo gestorben wurde. ›Verstorbenheit‹ kennzeichnet somit sowohl das Wesen von Stimme und Gesang als auch das der Gestalten und Dinge, die sie umgeben und mit denen sie ihr Gespräch führt. Das gilt für die Knabengestalten, deren »Schritt und Stille« immer noch im »dämmernden Garten« zu vernehmen ist (»Stundenlied«, ITA II, 462), natürlich für die Dichterimago des Elis (ITA II, 451), aber auch für die Trakls Werk durchziehenden bekannten und unbekannten Stimmen (auch für die »von Frauen, die längst verstarben«; ITA I, 193) und am Zaun lehnende Astern (ITA III, 19). Sie alle sammeln sich an jenem Ort,

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von dem aus das Leben sich in morbider Verwandlung zu zeigen beginnt.

Sterbende und Verwesende: Zur Poetisierung tödlicher Prozesse Charakteristisch für Trakls Gedicht bleibt die Auflösung des Todes als Absolutum in Prozesse: in den Verfall, den Untergang, in die Verwesung, ins ›Hinübersterben‹. Die Diesseitigkeit des Todes bleibt an dessen Fortschreiten und Haltlosigkeit gebunden, der Tod vollzieht sich an der Welt und man kann diesen Vollzug miteingehen oder mitansehen. Der Dynamisierung des Todes korrespondieren auf rhetorischer Ebene die Enallage und auf grammatischer Ebene das Gerundium. Die Enallage – sofern man sie bei Trakl überhaupt als eine solche erkennen will und kann, gehört sie doch zur Matrix seiner Poetik – lässt das Mortifizierte qua Adverbialisierung als Aktivum sagbar werden, wenn etwa in »Melancholie des Abends« der Wald »sich verstorben breitet« (ITA I, 442) oder – abermals – ungenannte »Jene« »verstorben aus kahlen Zimmern treten« (»Helian«, ITA II, 261). Die Gerundien wiederum, vor allem in Trakls Spätphase sichtbar, gelten der Sichtbarkeit morbider Prozessualität, den »verwesenden Bäumen« (ITA IV.2, 42), den »[v]erwesende[n] Menschen« (ITA IV.2, 30), dem »verwesend Geschlecht« (IV.2, 248). Handelt es sich scheinbar nur um zwei unterschiedliche Akzentuierungen von Mortalität, so sind diesen nicht von ungefähr in Trakls Werk doch recht bündig die Verben ›sterben‹ und ›verwesen‹ als Affirmation und Erkenntnis der tödlichen Gestaltungskraft zugeordnet. Das ›Sterben‹ verweist auf ein Ahnen, das Bewegung hervorruft, etwa bei den Faltern in »Es geht ein alter Weg…«, die »tanzen, als stürben sie bald« (ITA II, 402). Wer stirbt, der bewegt sich auf den Tod hin, selbst dort noch, wo er ihm auszuweichen scheint. Wenn Trakl in jenem Entwurfskomplex, der mit den Worten »Jene singen den Untergang …« eröffnet, in der Überarbeitung zum Vers »Wo vordem ein Baum war, ein blaues Wild im Busch / Öffnen sich zu lauschen ster-

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ben die weichen Augen Helians« vordringt (ITA II, 229), dann unterstreicht das Oxymoron der sich zum Sterben öffnenden Augen gerade jene Todesgestimmtheit des Sehens. Sterben ist Vorbereitung, ist Rückzug, ist Wohnen, etwa in »braune[m] Gehölz, / Wo zu sterben ein einsames Tier wohnt« (»Am Moor«, ITA III, 90). Sterben ist Geste, ein ›Verneigen‹ vor dem Tod (ITA II, 42), mitunter ästhetische Haltung. Im Sterben liegt Schönheit; »schön ist der sterbende Mensch und erscheinend im Dunkel« (ITA II, 217), und umgekehrt liegt dem Schönen, insbesondere dem schönen Gesang immer auch das Sterben nahe. Es sterben des »Hirten sanfte Flöten« (»Rondel«, ITA II, 53), »die dunkle Klage der Frauen« (»Siebengesang des Todes«, ITA IV.1, 144), »[a]m Chor der Knaben süße Stimmen« (»Die Kirche«, ITA II, 156). Das Verb ›ersterben‹ unterhält in Trakls Thesaurus sogar eine nahezu ausschließliche Beziehung zu Stimme und Saitenspiel (wohingegen alles ›Erstorbene‹ – Finger, Hände, Antlitz, Spiegel, Haus – wiederum tonlos ist). Demgegenüber steht das Verwesen, das in den unterschiedlichsten Formen, in höchster Konkretion (»O des Menschen verweste Gestalt«, ITA IV.1, 144) wie in der Maximalabstraktion der oben bereits diskutierten »grünen Verwesung« oder der »grüne[n] Löcher voll Verwesung« (»Im roten Laubwerk voll Guitarren …«, ITA I, 482) erscheint. Vom Sterben trennt das Verwesen, dass es nicht verlässt, sondern verlassen wird: Der Mensch verwest, »insofern er sein Wesen verliert« (Heidegger 2018, 42), das Sterbende hingegen lässt in seiner Vorbereitung zum Tode die verwesende Welt gerade hinter sich. Was stirbt, tritt in ein formatives Verhältnis zum Tod; was verwest, sieht sich nicht im Sterben – doch es wird gesehen vom Auge der Gestorbenen: Hirten (»Im Dorf«, ITA II, 412), Mütter mit Kindern (»Allerseelen«, ITA I, 472), Völkerscharen (»Drei Träume«, ITA I, 233). In der ›schwarzen Verwesung‹, in die in »Grodek« alle Straßen münden (ITA IV.2, 338) und in der die Schwester im Schlussvers von »Ruh und Schweigen« erscheint (ITA III, 252), verdichtet sich schließlich die Wesensentleerung der Welt zum Äußersten, unrettbar Formlosen,

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dem auch die Körperlichkeit, die Wollust des Todes gehört. (Also etwa auch die Hände der Liebenden.)

Des Todes reine Bilder: zur heilsgeschichtlichen Kennung von Trakls Thanatologie Die dem Tod zugesprochene Erschließungskraft wird somit von einer fundamentalen Ambivalenz bestimmt. Die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Toten ist einerseits Grundbedingung jedweder Ästhetisierung des Lebens, für der »Schönheit schimmernde Fülle«, mit der der Tod sein Antlitz verhüllt und dadurch die »Tote[n] tiefer träumen macht« (»St. Peters-Friedhof«, ITA I, 240). Andererseits gewahrt der Abgestorbene zugleich die Präsenz der Verwesung, das unaufhaltbare Entgleiten der Form. Sieht man einmal davon ab, dass jene Dialektik von verlockendem Todestraum und grausem Todeswachen, in der »Schlaf und Tod« – prominent in »Klage« (II) – zu Geschwistern werden, sich bereits in Baudelaires »Le rêve d’un curieux« vorgebildet findet, so verbindet sie sich auch mit einer eschatologischen Perspektivierung der Dichtung. Stets bleibt diese befleckt, aussätzig, muss sie ihre Form den Verfallserscheinungen abringen. Das Gedicht steht stets auf der Schwelle von tödlicher Verewigung und tödlicher Vernichtung. Es ist sowohl »Ort der Hoffnung, indem an ihm der Tod als Erlösender aufscheinen kann«, als auch »der Ort der Hoffnungslosigkeit, weil [es] die Welt dem Urteil des Todes unterwirft« (Renz 1999, 25). In der Konsequenz bleibt Trakls Dichtung durchweg gespannt auf den kathartischen Eintritt des Todes. Die wiederkehrenden Anrufungen »O Tod!«, »O die Nähe des Todes!« (ITA II, 206, 303; ITA III, 155, 233), an die sich immer neue Vorstellungsinhalte – Kreuze am Hügel, gelbe Häupter in steinernen Mauern, der kranken Seele verfallener Bogen, Schweigen und Kindheit – knüpfen, zeugen einerseits von der morbiden Aufladung der Imagination, entziffern sich andererseits aber auch als Wunsch nach endgültiger Transgression, der Überwindung der blo-

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ßen »Nähe«. Im aus der »Nähe des Todes« erwachsenden Hortativ »Lasset uns beten« (ITA II, 303) artikuliert sich zweifellos eine Erlösungsvorstellung, die durchaus an christologische Deutungsmodelle anschlussfähig wäre, wie sie sich zuletzt bei Neri finden (Neri 1996, 50). Man darf den heilsgeschichtlichen Zug von Trakls Todesanbetung keinesfalls verkennen. Indessen verlässt diese nie den ästhetischen Diskurs. Vor die Besetzung der Thanatopoiesis durch die Christologie, die Auflösung des ›absoluten Tods‹ in das ›absolute Leben‹, das Christus wäre (ebd.), setzt Trakls Gedicht die Besetzung des christlichen Raums durch den absoluten, vollends des Verfalls überhobenen Tod. So schauen in »Die schöne Stadt« als auch in »Winkel am Wald« aus »braun erhellten Kirchen« bzw. »von Kirchenfenstern« »des Todes reine Bilder« (ITA I, 405, 583). Nicht um ›Darstellungen‹, um ›Bilder des Todes‹ handelt es sich hier, sondern vielmehr um Bilder, die dem Prisma der tödlichen Einbildungskraft entstammen. Dort, in der Kirche als baugewordener

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Erlösungsbotschaft, besitzen sie noch ihre uneinsehbare, unbeschreibliche Reinheit. Aus dem ›Schaun‹ der Todesbilder hervor tritt aber erst das Idyll der Stadt Trakls: auch sie eine Dichtung, auch sie eine Maskierung des Todes.

Literatur Badiou, Alain: Manifest für die Philosophie. Übers. von Eric Hoerl und Jadja Wolf. Wien/Berlin 22010. Baudelaire, Charles: Œuvres complètes. Nouvelle édition. Texte etabli par Claude Pichois. Paris 2008. Csúri, Károly: Konstruktionsprinzipien von Georg Trakls Textwelten. Bielefeld 2016. Görner, Rüdiger: Georg Trakl. Dichter im Jahrzehnt der Extreme. Wien 2014. Heidegger, Martin: Unterwegs zur Sprache. Frankfurt a. M. 22018 (Gesamtausgabe I.12). Neri, Matteo: Das abendländische Lied. Georg Trakl. Würzburg 1996. Renz, Christine: Tod als bergende und ent-bergende Heimat. In: Hans-Georg Kemper (Hg.): Gedichte von Georg Trakl. Stuttgart 1999, 11–26. Vietta, Egon: Georg Trakl. Eine Interpretation seines Werkes. Hamburg 1947.

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Traumtheoretische Kontexte Während das Wortfeld ›Traum‹ in Trakls dichterischem Werk überaus häufig vorkommt, taucht es in seinen Briefen kaum auf. Berichte oder auch nur Erwähnungen eigener Träume fehlen ganz – ebenso wie Überlegungen zu ihrer Entstehung, Bedeutung und Funktion, was bei Trakls notorischer Theorieabstinenz auch nicht verwundert. Die Frage nach seiner Traumauffassung kann daher nur spekulativ und über den Abgleich mit den Theorieangeboten im zeitgenössischen Traumdiskurs beantwortet werden. Wie Ulrik Brendels 1913 in Der Brenner erschienene Satire »Ein Traum und seine Deutung« beweist (Brendel 1912/13), war die Traumtheorie Sigmund Freuds und seiner psychoanalytischen Schule (direktes Angriffsziel der Satire ist der Freudianer Wilhelm Stekel) in Trakls intellektuellem Umfeld durchaus bekannt, entsprach aber kaum dessen Dichterbild. Sehr viel näher liegt für Trakl die romantische Traumtheorie, deren Wirkungsgeschichte sich – mit diversen Variationen und weltanschaulichen Neubesetzungen – quer durch das 19. Jahrhundert zieht und mindestens bis zu

M. Engel (*)  Fachrichtung 4.1 Germanistik, Universität des Saarlandes, Saarbrücken, Deutschland E-Mail: [email protected]

C.G. Jung reicht (vgl. Engel 2002, 2016 und 2019). Wichtig sind hier vor allem drei Aspekte: 1) Gleichsetzung von Traum und Poesie: Der Traum gilt – wie Märchen, Mythen und Legenden – als naturpoetische Form, die einem vorzeitlichen, prä-modernen Weltverhalten und Weltbild entspricht, das noch nicht von der Vernunft, ihren Kategorisierungen und rationalen Verknüpfungsregeln bestimmt war, sondern von der Imagination. 2) Traum als Zugang zu einem trans-individuellen ›Unbewussten‹: ›Unbewusst‹ ist hier die unvordenkliche Einheit des Subjekts mit dem Grundprinzip alles Seins. Dessen Konzeption variiert im 19. Jahrhundert besonders stark und reicht etwa von der romantischen ›Weltseele‹ bis zum Schopenhauerschen oder Nietzscheanischen ›Willen‹. An diesem Unbewussten partizipieren zu können, verleiht der Dichtung und ihrer Symbolik die Autorität höheren Wissens, macht den Dichter zum ›Seher‹. 3) Traum / Träumerei / Halluzination / Rausch: Ansatzweise schon in der Romantik, geradezu systematisch dann aber im französischen Symbolismus werden diese Erfahrungsmodi bis zur Ununterscheidbarkeit vermengt. Sie stehen für ›andere‹ Bewusstseinszustände, die aus der konventions- und verstandesgeprägten empirischen Weltsicht hinausführen (Dieterle 2019). Bei allen sich im Werkverlauf ergebenden Akzentverschiebungen bleibt das Wortfeld ›Traum‹ bei Trakl dominant positiv konnotiert und mit der Dichtung und ihrem apollinischen

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_98

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Potential verbunden. Am ungebrochensten wird das im Frühwerk formuliert, wenn Trakl auf den Traumbegriff aus Friedrich Nietzsches Geburt der Tragödie (Goldmann 2013) zurückgreift und der ›animalischen‹ Welt des Willens die »traumgeschaffne[n] Paradiese« (»Ermatten«; ITA I, 206) seiner Dichtung gegenüberstellt: »meine ganze, schöne Welt, voll unendlichen Wohllauts« mit ihren ›geträumten‹ »Bildern«, »die schöner sind als alle Wirklichkeit« (Brief vom 5.10.1908; ITA V.1, 68). Auch wenn sich Trakls Dichtung später nachhaltig dem Negativen und Hässlichen öffnet und der Traumbegriff – vor allem in der Verbindung mit dem Rausch-Motiv – deutlich ambivalenter wird, geht seine positive Konnotation nie ganz verloren.

Oneiropoetik? Die Poetik fiktionaler Träume beruht wesentlich auf deren Abweichungsqualität: Träume sind ›anders‹ als die ihren Ko-text bestimmende Wachrealität. Das betrifft nicht nur die traumtypischen ›Bizarrerien‹, also Brüche mit dem lebensweltlich kurrenten Wirklichkeitsbegriff in der Darstellung von Objekten, Personen und Handlungen, sondern auch die extreme Fluidität der Traumwelt, in der die Gesetze von Raum, Zeit, Kausalität und Identität außer Kraft gesetzt sind (Engel 2017). In Trakls Dichtung stellen solche Abweichungen aber den Normalfall dar. Zudem treten markierte Träume nur selten auf und sind in ihrer Poetik von Nicht-Träumen kaum zu unterscheiden. Ließe sich bei Trakl also pauschal von einer ›traumhaften‹ Schreibweise sprechen, die spezifisch oneirische – oder, wie Kemper zu spezifizieren sucht, ›rauschtraumhafte‹ (Kemper 2014) – Züge auch dort trägt, wo keine markierten Träume vorliegen? Das trifft allenfalls in Einzelaspekten zu: Als traumhaft ließe sich etwa die Aufhebung der Grenze zwischen Innenund Außenwelt beschreiben, durch die sich alle Außenvorgänge als Ausagieren innerer Konflikte begreifen lassen; ebenso gilt dies für die extreme raum-zeitliche Instabilität von Trakls fiktionalen Welten. Doch sind beides eben zugleich gän-

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gige Verfahrensweisen der symbolistischen und expressionistischen Poetik. Und die Bizarrerien in Trakls Poetik können fast immer auch als Varianten uneigentlichen Sprechens begriffen werden, als verabsolutierte metonymische oder metaphorische Schreibweisen, die die charakteristischen Bedeutungsabweichungen uneigentlicher Rede auch dort aufweisen, wo sich eine ›eigentliche‹ Bezugsebene nicht mehr rekonstruieren lässt. All dies kennen wir als gängige Verfahren der literarischen Moderne; sie als ›traumhaft‹ zu erklären, würde nicht nur den Begriff inflationieren, sondern auch eine Normalisierungsebene der ›Eigentlichkeit‹ implizieren, die die radikalen sprachlichen Innovationen moderner Dichtung auf unzulässige Weise reduziert. Von Oneiropoetik sollte daher nur dort gesprochen werden, wo zumindest schwache Traummarkierungen vorliegen (Engel 2017, 28).

Markierte Träume Traummarkierungen können auf dreierlei Weise gesetzt werden: 1) durch das Wortmotiv ›Traum‹; 2) durch die Werktitel; 3) durch klare Abgrenzung eines Traumes von seinem Ko-text, was oft durch Einschlaf- und / oder Aufwachsignale geschieht. Das Wortmotiv ›Traum‹ und seine Abwandlungen (»wie im Traum«, »träumerisch«, »traumhaft«, »traumwandelnd«, etc.) finden sich in Trakls Werk sehr häufig, besonders intensiv in den ersten beiden Werkphasen. In romantischer Tradition ist damit einfach ein von Alltagsrealität und Alltagsbewusstsein getrennter, meist tagträumerischer Zustand indiziert. Die ›träumerische‹ Sehnsucht kann sich dabei sowohl – wie etwa, in noch sehr konventioneller Motivik, im frühen Prosatext »Traumland« – auf einen spirituellen Raum jenseits der sinnlichen Welt richten wie auch auf rauschhafte sinnliche Erfüllung (so z. B. in »Die junge Magd«). Titelmarkierungen gibt es, in sehr überschaubarer Zahl, quer durch das Gesamtwerk. Einen Sonderfall stellt das frühe Gedicht »Drei Träume« dar, weil hier ein rein rhetorischer Traumgebrauch vorliegt. In symbolistischen

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Bildern werden in drei ›Träumen‹ drei Modi der Welterfahrung und -deutung dargestellt, die sich zueinander verhalten wie These, Antithese und Synthese: Verfallswissen, dionysische Alleinheitserfahrung und (Nietzsche-geschulte) Bejahung der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Aber auch jenseits dieser rhetorischen Traumverwendung lässt sich keines von Trakls markierten Traum-Gedichten einfach als Mimesis einer Traumerfahrung begreifen. In »Der Traum eines Nachmittags« entwirft allenfalls die Mittelstrophe eine dionysische Tagträumerei. »Traumwandler« basiert auf der Opposition zwischen dem einstigen Traum von Liebe und der gegenwärtigen, desillusionierten Weltsicht. Auch in »Träumerei am Abend« wird – halb als Tagträumerei, halb als Rauscherlebnis (»löst weißer Mohn die Glieder«) – eine Erinnerung aus der unschuldigen Kindheit heraufbeschworen, die aber nur ein vereinzeltes, eher metaphorisch verdichtetes als anschauliches Bild ist: »Angelens Sterne, fromm zum mystischen Bild geschlossen« (ITA 1, 562). Das Sonett »Traum des Bösen« setzt, entgegen der durch den Titel erweckten Erwartungshaltung, mit dem Erwachen der zentralen Persona (»ein Liebender«) ein und unterscheidet sich so kategorisch von üblichen fiktionalen Traumdarstellungen. Die Bilder des Oktetts lassen sich als zwar lose gereihte, aber im Wahrnehmungszusammenhang plausible Außenweltimpressionen begreifen, die der erwachte »Liebende« durch das Fenster seines Zimmers sieht. Ein Titelbezug wird erst mit dem Beginn des Sextetts erkennbar: »Aus bleichen Masken schaut der Geist des Bösen«. ›Traum‹ meint hier also keinen Nachttraum, sondern eine ›visionäre‹ Deutung der vorangegangenen Wirklichkeitseindrücke, die deren ›Maskierung‹ durchdringen kann. Im Gedichtband Sebastian im Traum stehen durch den Buchtitel quasi alle Texte unter ›Traum‹-Vorbehalt, was auch als Versuch gedeutet werden kann, den Lesern einen Zugang zur fremden Sprachwelt der Texte zu eröffnen. Sowohl das Titelgedicht wie auch das das Buch schließende Prosagedicht »Traum und Umnachtung« (mit seinem zwar nicht von Trakl

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stammenden, aber von ihm gebilligten Titel) entwerfen – ganz wie andere, nicht als Traum markierte Texte der Sammlung – in der losen Reihung von metaphorisch verfremdeten Kleinszenen Bilder aus dem Leben der jeweiligen Zentralfigur zwischen geistiger und sinnlicher Welt. Auch »Nachts« (in der Niederschrift war als Titel zunächst »Nachts im Traum« notiert; ITA II, 434) skizziert eine solche Kleinszene, die als ganz real gesetzt ist. »Träumerei«, das nicht zum Gedichtband gehört, aber der gleichen Werkphase entstammt, entwirft in lockerer Impressionenfolge eine ungewöhnlich positive Frühlingsszenerie, bei der die ›Träumerei‹ in der positiven Fügung der Motive zu liegen scheint. Am ehesten mag noch das späte Gedicht »Der Schlaf« ein alptraumhaftes Rausch-Erlebnis schildern; aber selbst hier bleibt unklar, ob dieses tatsächlich erzählt oder nur metaphorisch umschrieben wird. Der bisherige Befund ist paradox: Während das Wortfeld ›Traum‹ überaus häufig vertreten ist, wirken die seltenen Titelmarkierungen eher irreführend, da sie weder eindeutig Nacht- noch Tagträume anzeigen. Zielführender ist daher die dritte Gruppe der Traummarkierungen: die Abgrenzung im Ko-text. Wiederum ist deren eindeutigste Form die unergiebigste. Gerade bei klar abgegrenzten Träumen fehlt bei Trakl eine detaillierte Ausführung des Traumgeschehens. Im Puppenspiel-Fragment »Blaubart« etwa sagt Elisabeth: »Träumt gestern unter dem Lindenbaum / An Vaters Haus einen bösen Traum« (ITA I, 347); nur aus dem Kontext lässt sich erschließen, dass es sich um einen erotischen Traum gehandelt haben muss. In »Psalm« (I) heißt es, erneut ununterscheidbar zwischen wörtlicher und metaphorischer Ausdrucksweise oszillierend: »Die fremde Schwester erscheint wieder in Jemands bösen Träumen. / Ruhend im Haselgebüsch spielt sie mit seinen Sternen« (ITA II, 24). Umfangreicher ist die Traumschilderung im späten Dramenfragment »In der Hütte des Pächters…«, aber nur, weil hier wieder ein Sonderfall vorliegt: Der im Schlaf – und Traum – sprechende und damit seinen Traum zumindest erahnbar machende Kermor sieht im Erwachen die »traumwandelnde« Johanna; doch

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scheinen schon ihrer beider Träume in Bezug zueinander gestanden haben (ITA IV.2, 188– 190). Damit öffnen sich die abgeschlossenen Träume wieder zum gemeinsamen Textraum.

Grenzverwischungen Am bezeichnendsten für Trakls Traumpoetik sind die schwachen, oft unsicheren oder wider­ sprüchlichen Anfangs- und/oder Endmarkie­ rungen für traumartige Zustände, in denen die Traumgrenze eher verwischt als eindeutig markiert wird. Dies kann hier nur an vier ausgewählten Beispielen illustriert werden, die zugleich die wichtigsten Verfahren aufzeigen sollen, mit denen Trakl die Grenzen zwischen Wahrnehmung und Traum aufhebt. Die ersten beiden Strophen von »In den Nachmittag geflüstert« (vgl. Dieterle 2020, 345–348) reihen in jeweils einem Verspaar Impressionen aus einer Herbstlandschaft. Die Verse 9 und 10 markieren dann einen Wechsel der Realitätsebene: »Stirne Gottes Farben träumt, / Spürt des Wahnsinns sanfte Flügel« (ITA II, 151). Damit ist das folgende Verspaar als halluzinative Tagträumerei ausgewiesen, in der sich die herbstliche Verfallsstimmung zur visionären Schau verdichtet: »Schatten drehen sich am Hügel / Von Verwesung schwarz umsäumt« (ebd.). Eine ähnlich klare Ausgangsmarkierung fehlt jedoch. Die vierte und letzte Strophe scheint zeitlich und räumlich vom bisherigen Geschehen getrennt zu sein: Es dämmert nun, und das lyrische ›Du‹ des Gedichtes kehrt, wohl an feiernden Menschengruppen vorbeigehend, von seinem Spaziergang nach Hause zurück. Das letzte Verspaar lautet dann aber »Und zur milden Lampe drinnen / Kehrst du wie im Traume ein« (ebd.). Die Verstörung der Tagtraumvision hat die Realitätsgewissheit also so sehr erschüttert, dass nun der gesicherte Innenraum zum träumerischen Schein geworden ist. Was hier, trotz des Zeilenstils, noch als deutlich erkennbarer prozeduraler Ablauf gestaltet wurde, wird in anderen Gedichten zum frei einsetzbaren Gestaltungsmittel. In »Föhn« (ITA IV.1, 135) etwa finden sich gleich meh-

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rere Traummarker: Im »Abendgeläut« »verwandelt« »die weiße Nacht« »Schmerz und Plage« des »Lebens« in »purpurne Träume«, verlängert damit quasi die Leiden des Tages noch in die Nacht hinein, sodass »die bange Seele« »im Schlummer aufseufzt«. Das scheint die Anfangsmarkierung eines Traumgeschehens zu sein. Doch weder sind die vorausgehenden Verse klar als Taggeschehen markiert, noch gibt es eine Endmarkierung des Traumes. Ob der Untergang der Zentralfigur im Schlussvers »Silbern zerschellt an kahler Mauer ein kindlich Gerippe« ein metaphorisiertes Realgeschehen oder ein wörtlich zu nehmendes Traumgeschehen ist, bleibt so unklar. Das Prosagedicht »Winternacht« (ITA III, 367) weist eine für Trakls reifes Werk ungewöhnlich eindeutige Handlungsfolge auf: Das lyrische ›Du‹ verlässt »nach Mitternacht« »betrunken von purpurnem Wein« die Gesellschaft, wandert nächtlings durch die Winterlandschaft, schläft im Schnee ein und wird am Morgen vom dörflichen Glockenläuten geweckt. Damit ist der Hauptteil des Textes, die nächtliche Wanderung, als sich intensivierendes halluzinatives Rauscherlebnis markiert. Trotz dieser klaren Rahmensetzung bleibt der Wahrnehmungsstatus des Hauptteils jedoch ungewiss. Das liegt sowohl an der Unsicherheit der Fokalisierung, die zwischen Außen- und Innensicht (bis hin zu erlebter Rede) schwankt, wie auch, erneut, am oft ununterscheidbaren Oszillieren zwischen wörtlicher und metaphorischer Rede. Die Wendung »Ein roter Wolf, den ein Engel würgt« lässt sich so gleichermaßen als Vision des Trunkenen wie als metaphorisierter Kommentar der Erzählinstanz lesen. »Klage« (II) (ITA IV.2, 332) beginnt mit den Versen: »Schlaf und Tod, die düstern Adler / Umrauschen nachtlang dieses Haupt: […]«. Der Doppelpunkt scheint alles Folgende als Traumvision auszuweisen, worauf auch der wie indirekte Rede wirkende Konjunktiv in Vers 4 hindeuten könnte (Kemper 2014, 324). Doch schon im nächsten Satz setzt Trakl wieder den Indikativ, und auch sonst fügt sich der Text nicht der durch die Eingangsmarkierung gesetzten Erwartungshaltung. Neben dem be-

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reits an »Winternacht« beschriebenen Oszillieren von Fokalisierung und Tropik ist es hier vor allem die Generalisierung der Aussage, die den Traumstatus in Frage stellt: »Des Menschen goldnes Bildnis / Verschlänge die eisige Woge / Der Ewigkeit« (ITA IV.2, 332) ist kein wahrnehmbares Traumbild mehr, sondern eine bereits allegorisch gedeutete apokalyptische Vision.

Fazit Plausibel gestaltete Nachtträume wird man bei Trakl vergebens suchen, ebenso klare Abgrenzungen zwischen Traum, Tagträumerei, Rausch und Halluzination. In den meisten Fällen meint ›Traum‹ bei Trakl eine poetisch gestaltete Vision, mit den Worten des Autors: ein »Gesicht«. Will man von Oneiropoetik sprechen, so besteht diese bei Trakl vor allem in der systematischen Unterminierung des ontologischen Status poetischer Aussagen, in der Aufhebung der Grenzen zwischen Außen- und Innenwelt, Wahrnehmung und Vision. Wenn der Traum in der Romantik ein bevorzugtes Mittel zur ›Romantisierung‹ der Welt darstellt, so dienen bei Trakl Traummarkierungen aller Art mit ihrer Verwischung der Trennlinie zwischen ›Wirklichkeit‹ und Traum zur Visionierung seiner poetischen Welt.

Literatur Brendel. Ulrik: Ein Traum und seine Deutung. In: Der Brenner 3 (1912/13), 318–322. Denneler, Iris: Konstruierter Alptraum. Georg Trakls Prosa Traum und Umnachtung. In: Bernard Dieterle (Hg.): Träumungen. Traumerzählung in Film und Literatur. St. Augustin 1998, 263–282. Dieterle, Bernard: Le rêve et les paradis artificiels (Thomas de Quincey, Jacques-Joseph Moreau de Tours,

595 Henri Michaux). In: Ders./Manfred Engel (Hg.): Historizing the Dream/Le rêve du point de vue historique. Würzburg 2019 (Cultural Dream Studies 3), 441–457. Dieterle, Bernard: Rêve et poésie. In: Ders./Manfred Engel (Hg.): Mediating the Dream/Les genres et médias du rêve. Würzburg 2020, 333–360. Engel, Manfred: Naturphilosophisches Wissen und romantische Literatur. Am Beispiel von Traumtheorie und Traumdichtung der Romantik. In: Lutz Danneberg/Friedrich Vollhardt/Hartmut Böhme/Jörg Schönert (Hg.): Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert. Tübingen 2002, 65–91. Engel, Manfred: Szientistische Wendung und naturphilosophische Kontinuitäten in der deutschsprachigen Traumtheorie zwischen 1850 und 1900. In: Marie Guthmüller/Hans-Walter Schmidt-Hannisa (Hg.): Das nächtliche Selbst. Traumwissen und Traumkunst im Jahrhundert der Psychologie. Bd. l: 1850–1900. Göttingen 2016, 37–59. Engel, Manfred: Towards a Poetics of Dream Narration (with examples by Homer, Aelius Aristides, Jean Paul, Heine, and Trakl). In: Bernard Dieterle/Manfred Engel (Hg.): Writing the Dream/Écrire le rêve. Würzburg 2017, 19–44. Engel, Manfred: Novalis und die Traumtheorie der Romantischen Anthropologie. Zur wissenspoetischen Rekonstruktion einer Emergenz. In: Nicholas Saul (Hg.): »Construction der transscendentalen Gesundheit«. Novalis und die Medizin im Kontext von Naturwissenschaften und Philosophie um 1800; Blütenstaub. Jahrbuch für Frühromantik 5 (2019), 191–205. Goldmann, Stefan: Traum. In: Christian Niemeyer (Hg.): Nietzsche-Lexikon. Darmstadt 22013, 376 f. Kemper, Hans-Georg: Gestörter Traum. Georg Trakls Geburt. In: Silvio Vietta/Ders.: Expressionismus. München 1975, 229–285. Kemper, Hans-Georg: Droge Trakl. Rauschträume und Poesie. Salzburg 2014. Kupfer, Alexander: Göttliche Gifte. Kleine Kulturgeschichte des Rausches seit dem Garten Eden [1997]. Berlin 2002. Simon, Klaus: Traum und Orpheus. Eine Studie zu Georg Trakls Dichtungen. Salzburg 1955. Stern, Martin: Der Traum in der Dichtung des Expressionismus bei Strindberg, Trakl und Kafka. In: Therese Wagner-Simon/Gaetano Benedetti (Hg.): Traum und Träumen. Traumanalysen in Wissenschaft, Religion und Kunst. Göttingen 1984, 113–132.

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Wahnsinn Erik Schilling

Der Begriff ›Wahnsinn‹ taucht in Trakls Werk an zahlreichen Stellen und nicht immer in konsistenter Verwendung auf. Beispiele finden sich in den Gedichten (z. B. in »Winkel am Wald«, »Psalm« (I), »Drei Blicke in einen Opal« oder »Helian«) über »Sebastian im Traum« (z. B. »Sebastian im Traum«, »Passion« oder »An die Verstummten«) bis hin zu Nennungen in weiteren Gedichten und Prosatexten (z. B. »Traum und Umnachtung«, »Offenbarung und Untergang«). ›Wahnsinn‹ steht für Trakl dabei in semantischer Nähe zu den Begriffen ›Melancholie‹, ›Schwermut‹ und ›Trübsinn‹ (Benzenhöfer 1990, 215). Insofern pathologische und psychologische Aspekte durch andere Beiträge in diesem Handbuch abgedeckt werden, konzentriert sich der folgende Beitrag auf die poetologische Komponente des Wahnsinns. Entwickelt werden soll diese zunächst schwerpunktmäßig am Gedicht »In ein altes Stammbuch«, ehe die dabei zum Vorschein kommenden Strukturen auf weitere Gedichte bezogen und dabei auch auf andere semantische Aspekte des Begriffs – Wahnsinn als Form der Melancholie, des Rausches oder der wahren Einsicht – ausgeweitet werden.

E. Schilling (*)  Institut für Deutsche Philologie, LudwigMaximilians-Universität München, München, Deutschland E-Mail: [email protected]

»In ein altes Stammbuch« stellt verschiedene Empfindungen bzw. Charaktereigenschaften nebeneinander: Melancholie, Sanftmut, Einsamkeit, Schmerz, Geduld, Wahnsinn, Leid. Schon in der ersten Strophe wird die Grundstimmung des Sprechers skizziert, die Melancholie dabei direkt angesprochen: »Immer wieder kehrst du Melancholie, / O Sanftmut der einsamen Seele. / Zu Ende glüht ein goldener Tag« (ITA II, 105). Auffällig ist, dass die Melancholie – durchaus im Einklang mit moderner psychologischer Erkenntnis zu bestimmten Formen von Depression, etwa von bipolaren Störungen – als zyklisch wiederkehrend gefasst wird und dabei mit einem »goldene[n] Tag« alterniert. Das Gedicht ist auf der Schwelle des Übergangs zur Melancholie situiert, wie es das Glühen andeutet, das als Sonnenuntergang verstanden werden kann, und wie es die zweite Strophe mit dem Bild der Dämmerung dann konkretisiert: »Demutsvoll beugt sich dem Schmerz der Geduldige / Tönend von Wohllaut und weichem Wahnsinn, / Siehe! es dämmert schon« (ebd.). Die Melancholie wird hier als »Schmerz« näher bestimmt, die erforderliche Haltung des Sprechers als Geduld. Gleichzeitig aber ist die Stimmung mit den Attributen des tönenden Wohllauts und des weichen Wahnsinns beinahe sanft beschrieben. Mit der Dämmerung bildet die zweite Strophe den Übergang hin zur Nacht, die am Beginn der dritten Strophe erwähnt wird: »Wieder kehrt die Nacht und klagt ein Sterbliches / Und es leidet ein anderes mit« (ebd.).

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Dem goldenen Tag der ersten Strophe steht also die Klage der Nacht gegenüber, dem Glühen das Sterben. In den letzten beiden Versen schließlich wird das, was zunächst für den Wechsel von einem Tag zu einer Nacht ausgesagt war (mit Andeutungen des Zyklischen dieses Vorgangs), auf einen größeren zeitlichen Rahmen bezogen. Nun kommen die Jahreszeiten ins Spiel sowie die Veränderung, die mit dem Subjekt im Laufe der Jahre einhergeht: »Schaudernd unter herbstlichen Sternen / Neigt sich jährlich tiefer das Haupt« (ebd.). Inwieweit wird in diesem Gedicht nun der Wahnsinn als poetologisches Konzept entwickelt? Auffällig ist zunächst, dass das Wort »Wahnsinn« exakt im Zentrum des Gedichts steht: Es ist das 29. von insgesamt 57 Wörtern (den Titel ausgenommen). Schon formal ist der Wahnsinn also eine Art Scheitel- oder Schwellenpunkt, an dem die eine Hälfte in die andere übergeht. Darüber hinaus ist der Wahnsinn klanglich durch die W-Alliteration hervorgehoben (»Wohllaut und weichem Wahnsinn«). Unterstrichen wird dies in den beiden Versen, die das Wort »Wahnsinn« rahmen, durch die Parallelisierung zweier unterschiedlicher Sinne am Versanfang: »Tönend« trifft auf »Siehe!«. Syntaktisch gehört letzteres zwar zum Beobachten der anbrechenden Dämmerung, doch lässt es sich auf den Wahnsinn zurückbeziehen, von dem es gerade nicht durch ein Satzende, sondern nur durch ein gliederndes Komma getrennt ist. Die Zentralstellung des Begriffs lässt sich zusätzlich zu den formalen und klanglichen Elementen auch inhaltlich belegen: Die Verbindung von Wahnsinn und Sehen (im Sinne tieferer Schau oder Einsicht) ist seit der Antike kanonisch und in der Literaturgeschichte vielfach poetologisch gewendet worden. So spricht etwa Nietzsches erster ›Dionysos-Dithyrambus‹ von »Wahrheits-Wahnsinne« (Nietzsche 1999, VI, 380). Aus diesem sinkt der Sprecher des Dithyrambus am Ende des Tages »abwärts, abendwärts, schattenwärts, / von Einer Wahrheit / verbrannt und durstig« (ebd.). Das Kompositum »Wahrheits-Wahnsinn« bezieht sich bei Nietzsche auf Platons Phaidros in der Übersetzung

E. Schilling

Schleiermachers, die das griechische Nebeneinander von maniké und mantiké mit ›Wahnsagekunst‹ und ›Wahrsagekunst‹ nachbildet (Groddeck 1991, 38). Weil Trakl Nietzsche »maßgebliche[] Impulse« verdankt, die aus seiner Lyrik »nicht wegzudenken« (Methlagl 1995, 89) sind, lässt die Verbindung von Wahnsinn und Sehen in »In ein altes Stammbuch« aufhorchen. Wie Nietzsche verbindet Trakl Wahnsinn und tiefere Einsicht eng miteinander, wobei jeweils auch das verletzende Element betont ist. Bei Nietzsche ist darüber hinaus gerade der Dichter zu einer solch tieferen Einsicht prädestiniert. Anders als der Philosoph, der ›Freund der Wahrheit‹, ist er zwar »Nur Narr! Nur Dichter!« (so der Titel des ersten ›Dionysos-Dithyrambus‹), doch das ›nur‹, das dem Narren und Dichter beigegeben ist, kann entweder als abwertend oder als positiv-verstärkend verstanden werden: Entweder ist die als Narr und Dichter bezeichnete Figur nur Narr und Dichter – oder sie besitzt Fähigkeiten, die nur ein Narr und Dichter hat. Für Trakl lässt sich eine vergleichbare Verbindung von Wahnsinn, Erkenntnis und Dichtertum beobachten. In »Winkel am Wald« wird der Wahnsinn als Zugang zur Wahrheit beschrieben: »Auch zeigt sich sanftem Wahnsinn oft das Goldne, Wahre« (ITA I, 583). In »Drei Blicke in einen Opal« ist stärker das Ambivalente des Wahnsinns betont, wenngleich dies ihm nicht die ästhetischen Aspekte nimmt: »Mönche der Wollust bleiche Priester, / Ihr Wahnsinn schmückt mit Lilien sich schön und düster« (ITA II, 144). Und auch »In ein altes Stammbuch« stellt eine Nähe von Wahnsinn und Dichtung her, indem es den Wahnsinn mit dem Attribut »[t]önend von Wohllaut« parallel setzt (ITA II, 105): Der Wahnsinn führt nicht nur zu Einsicht (»Siehe!«), sondern ist gleichzeitig verbunden mit angenehmem Klang. Dies lässt sich vor dem Hintergrund von Trakls so rhythmusund klangbewusster Dichtung zweifellos auch poetologisch verstehen. »In Stammbücher pflegte man in vergangenen Tagen kurze Gedichte über ein vorherrschendes Lebensgefühl, Leitworte für den

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Lebensweg des Freundes zu schreiben« (Lachmann 1954, 156). Dass Trakl sein Gedicht nach dieser Tradition benennt, unterstreicht den poetologischen Aspekt zusätzlich. Es handelt sich um ein Gedicht, in dem die Rolle des Dichtens und des Dichters verhandelt wird – und diese ist mit Melancholie und Wahnsinn untrennbar verbunden. Der Dichter leistet eine poetische Darstellung von Grenzphänomenen, die zwischen zwei Polaritäten oszillieren oder sich gerade auf der Schwelle zwischen diesen befinden. Trakls Dichtung lässt sich deswegen als ›liminal‹ beschreiben (Schilling 2018). Gleichzeitig lässt sich damit zeigen, dass die Vorstellung vom ›Wahnsinn‹ eng mit der Annahme verbunden ist, Trakls Gedichte seien hermetisch und damit der Interpretation besonders schwer zugänglich. In der Forschung ist das hermeneutische Dilemma beinahe ein Topos: Das Werk entziehe sich »wie kaum ein anderes grundsätzlich der semantischen Kontrolle« (Mayer 2009, 87), es inszeniere »dunkle und hermetische Innen-Räume« (Neymeyr 2002, 542). Peter von Matt entwickelt von dieser Beobachtung ausgehend die These, dass die Gedichte mit ihrem »ständigen Hin und Her zwischen […] divergierenden Sinnkonstruktionen« zwei verschiedene »Verstehensweisen« herausforderten: einerseits das Zusammenfügen der Textelemente »zu einem homogenen Sinnzusammenhang«, andererseits die »Leugnung jeglicher durchgehender Bedeutungsstruktur« (von Matt 1982, 58). Gleichzeitig aber geht der Wahnsinn an der Dichtung nicht folgenlos vorbei. Erneut lässt sich dies an »In ein altes Stammbuch« exem­ plarisch vorführen: Das Gedicht zitiert und dekonstruiert die traditionelle Gedichtform des Sonetts – ähnlich wie es »Melancholie« (I) mit der Liebeselegie und deren Beschreibung der Geliebten von Kopf bis Fuß unternimmt. »In ein altes Stammbuch« lässt sich als dekonstruiertes Sonett verstehen – und damit erneut als kritische Auseinandersetzung mit einer zentralen Form der Liebesdichtung: Die ersten beiden Strophen des Gedichts haben jeweils drei Verse, die letzten beiden Strophen jeweils zwei Verse. Gegenüber den je zwei Quartetten und Terzetten des

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Sonetts fehlt also je ein Vers. Auch das klassische Versmaß des Sonetts – der Endecasillabo – wird zitiert (etwa in den elf Silben von Vers 4), doch die meisten Verse bleiben demgegenüber Fragment. Reime sind gar nicht vorhanden. »In ein altes Stammbuch« betont damit – ebenso wie »Melancholie« (I) –, dass die Tradition der Dichtung noch wirksam ist (nicht zufällig wird das Gedicht angeblich in ein »altes Stammbuch« geschrieben), aber nur gebrochen fortgeführt werden kann. Eine Welt, in der die Melancholie immer wiederkehrt und die von Wahnsinn gekennzeichnet ist, kann die Liebe weder heroisch-überzeitlich gestalten (wie die Liebeselegie) noch ironisch-gegenwärtig (wie das barocke Sonett mit seiner Aufforderung zum Carpe Diem). Der Welt der Melancholie wohnt in der Gegenwart der Verfall der Zukunft inne; im Moment des Kusses sind die Lippen bereits welk, im Moment des Augen-Blicks brechen die Augen bereits im dunklen Tod. Vor diesem Hintergrund lassen sich auch andere Gedichte, in denen das Wort ›Wahnsinn‹ eine Rolle spielt, poetologisch fassen. In »Psalm« (I) etwa gilt gleich im ersten Abschnitt: »Der Wahnsinnige ist gestorben« (ITA II, 24), und das »verlorene[] Paradies« ist durchaus eines der Dichtung, wie Hinweise in den folgenden Zeilen unterstreichen. So haben »[d]ie Nymphen […] die goldenen Wälder verlassen«, und nur »Endakkorde eines Quartetts« sind noch zu hören. Eine ähnliche Verbindung von Wahnsinn und Dichtung wird in »Passion« vorgenommen, in dem schon zu Beginn »Orpheus silbern die Laute rührt« (ITA IV.1, 124) und im späteren Verlauf der »sanfte[] Wahnsinn« in einem Atemzug mit »nächtigem Wohllaut« genannt wird; auch tönt »dunkler Verzückung / Voll das Saitenspiel«. Das Konzept des Wahnsinns ist bei Trakl daher sowohl im Sinne psychologischer und pathologischer Phänomene zu verstehen. Insbesondere aber handelt es sich – die Tradition antiker Literatur aufgreifend, die Trakl u. a. über Nietzsche kannte, die man aber auch aus seiner Hölderlin-Lektüre ableiten kann – um ein poetisches Bild von Dichtung. Der Wahnsinn macht den Dichter zu einer Grenzfigur, die tiefer sehen

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kann als andere Menschen und damit »oft das Goldne, Wahre« (ITA I, 583) erkennt. Gleichzeitig ist der Wahnsinn ein Zustand der Gefahr, weil er mit Nacht und Tod verbunden ist.

Literatur Benzenhöfer, Udo: Melancholie und Schwermut in den Gedichten Georg Trakls. In: Dietrich von Engelhardt/ Horst-Jürgen Gerigk/Guido Pressler/Wolfram Schmitt (Hg.): Melancholie in Literatur und Kunst. Hürtgenwald 1990, 214–228. Groddeck, Wolfram: Friedrich Nietzsche: »Dionysos-Dithyramben«. Bd. 2: Die »Dionysos-Dithyramben«. Bedeutung und Entstehung von Nietzsches letztem Werk. Berlin/New York 1991. Lachmann, Eduard: Kreuz und Abend. Eine Interpretation der Dichtungen Georg Trakls. Salzburg 1954.

E. Schilling Mayer, Mathias: Nietzsche-Verwerfungen bei Georg Trakl. In: Thorsten Valk (Hg.): Friedrich Nietzsche und die Literatur der klassischen Moderne. Berlin/ New York 2009, 87–100. Methlagl, Walter: Nietzsche und Trakl. In: Rémy Colombat/Gerald Stieg (Hg.): Frühling der Seele. Pariser Trakl-Symposion. Innsbruck 1995, 81–118. Neymeyr, Barbara: Trakls lyrische Quintessenz. Poetologische Décadence-Reflexion und Hermetik in seinem Gedicht »Helian«. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 121 (2002), 529–547. Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München 1999. Schilling, Erik: Liminale Lyrik. Freirhythmische Hymnen von Klopstock bis zur Gegenwart. Stuttgart 2018. von Matt, Peter: Die Dynamik von Trakls Gedicht. IchDissoziation als Zerrüttung der erotischen Identität. In: Horst Meixner/Silvio Vietta (Hg.): Expressionismus. Sozialer Wandel und künstlerische Erfahrung. München 1982, 58–72.

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Wald Philipp Theisohn

Trakl und die Tradition der literarischen Wälder Trakls Werk erhebt sich zu einer Zeit, in der die große mentalitätsgeschichtliche Transformation europäischer Walderfahrung bereits abgeschlossen ist. Die dominante romantische Imago der ›Waldeinsamkeit‹, von der die Welt »so weit« entfernt liegt, dass die »Quellen« wieder vernehmbar werden und die himmlische Transzendenz im »Sternenkleid« der »Mutter Gottes« wieder sichtbar wird (Eichendorff 1985–1993, I, 313 f.), durchläuft bereits in der realistischen Erzählliteratur eine entscheidende Hybridisierung. Diese – und Stifter ist diesbezüglich sicherlich ihr markantester Exponent – führt das poetologische Tabu epigonaler Romantikadaption mit der Logik der Kulturalisierung zusammen: Der volkswirtschaftlich wie touristisch intensiv genutzte Wald kann zwar kein Refugium der ›freien Dichtung‹ mehr sein, in den angepflanzten und abgebauten Hölzern aber finden sich immer noch die Rückstände des Wilden und Verbotenen, das literarisch als »romantische Ressource« (Schubenz 2020, 433) genutzt und weiterverarbeitet werden kann.

P. Theisohn (*)  Deutsches Seminar, Universität Zürich, Zürich, Schweiz E-Mail: [email protected]

Für die Lyrik stellt der Komplex jenes verzaubert-entzauberten Waldes, die Überblendung von silva und foresta (vergl. Descola 2011, 90), eine zusätzliche Herausforderung dar, denn im Unterschied zur narrativen Verhandlung muss sich die Brechung romantischer Walddichtung in ihr ganz auf Gestus und Ort des Sprechens reduzieren. Vorgebildet – und für Trakls poetisches Selbstverständnis zweifellos bedeutsam – finden sich die einschlägigen Experimente in Conrad Ferdinand Meyers Naturlyrik, in welcher das Ich und der Wald nur im Opfer sich zusammenschließen können. Im Wald erscheint der Stimmträger nurmehr als ein »zu Tod gehetztes Wild« (Meyer 1958–1996, I, 69), das die Waldeinsamkeit alludierende »Abendrot im Walde« wird an das Verscheiden des Ichs geknüpft: »Strömt das Blut aus meinen Wunden? / Oder ist’s der Abendschein?« (ebd.) Die Dichtung, die sich in den Wald flüchtet, die im Wald zu sprechen anhebt, muss als Wildes zugrunde gehen, Objekt werden. Die Verschmelzungsfantasien, die bei Meyer sich immer wieder auf Tiere und Pflanzen beziehen, enden regelhaft mit der Dissoziation und Vernichtung des Ichs (etwa in »Noch einmal«, das in der Betrachtung des Adlerflugs den Adler sukzessive zum lyrischen Auge werden lässt, um von dort schließlich den Jäger mit den Worten »entsende das Erz!« zur Tötung der Stimme aufzufordern (ebd., I, 140). Wo die Dichtung aber nicht überleben kann, da muss ein anderer ihren Platz einnehmen. Meyer

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vollzieht diesen Tausch in »Jetzt rede du!«; das »Du«, in der ersten Strophe als »[v]iellieber Wald« apostrophiert, erscheint als einstiger Empfänger von Bekenntnissen, des »geträumten Glücks« und der Klage von »wahre[m] Schmerz« (ebd., I, 70). In der zweiten Strophe soll diese Confessio nun der Rede des Waldes weichen, einem »dunkle[n] Hort«, dem »das Wort« gelassen wird. Was sich aber dem lauschenden Ich mitteilt, ist nur des »Wipfelmeers gewaltig Rauschen«, ein Störgeräusch: Die dem Wald eingeschriebene Subjektivität muss unverständlich werden, überlagert sich mit einer fundamentalen Fremdheit. So, wie die Dichtung vom Wald verschlungen werden muss, so kann auch der Wald selbst nicht mehr Dichtung werden. Schweigen und Geräusch, Opfer und Orakel sind die Erscheinungsformen, in denen er der modernen Lyrik überhaupt noch begegnet – und die von Trakl extensiv ausgeschritten werden.

Der Wald als Sprachraum Der Traklsche Wald untersteht durchaus einer Werkentwicklung, was sich insbesondere im Blick auf das Frühwerk zeigt, das etwa in »Traumland« (1906) noch ungebrochen sentimentalische Waldszenen spiegelt, in denen das Ich »tagsüber in den Wäldern herumstreifte, mich in der Einsamkeit und Stille so froh fühlte, […] mich müde dann ins Moos streckte, und stundenlang in den lichten, flimmernden Himmel blickte« (ITA I, 66). Indessen halten diese Inszenierungen nicht lange vor, und bald schon setzt ein Wandlungsprozess ein, in dessen Verlauf Trakls Gedicht den Wald als Sprachraum erkundet. Die Anfänge dieser Expedition sind spätestens in dem im Mai / Juni 1909 entstandenen Sonett »Von den stillen Tagen« zu verorten, einem Gedicht, das um den Stimmverlust kreist, um »der Augen stumme Klage«, um ein »man«, das »Worte sucht für eine traurige Geste, / Die schon verblasst in Schweigen ungemessen« (ITA I, 212). Erst das letzte Terzett findet zur Sprache: »Die roten Wälder flüstern und ver-

P. Theisohn

dämmern / Und todesnächtiger hallt der Spechte Hämmern / Gleichwie ein Widerhall aus dumpfen Grüften« (ebd.). Dort, wo die Worte fehlen, wird das Flüstern der Wälder vernehmbar. Das jedoch, was man diesem Flüstern entnehmen kann, ist ein Sterben. Trakls Wald ist ein unwiederbringlich ›Erstorbenes‹. Zwei Jahre später wird »Melancholie des Abends« mit dem Vers »– Der Wald der sich verstorben breitet –« (ITA I, 442) eröffnen und den Wald als eine Sphäre markieren, die sich langsam, schattenhaft ausdehnt und im Bach und im Wild, das »zitternd aus Verstecken« hervortritt, ihre Emissäre hat. Jenseits des Frühwerks verliert der Wald jedoch seine Stimme (und wird sie mit Trakls Ende erst wiederfinden). Schon die Anfangsverse von »Seele des Lebens« aus dem Dezember 1911 erkennen: »Verfall, der weich das Laub umdüstert, / Es wohnt im Wald sein weites Schweigen« (ITA I, 508). Das »Schweigen« als Sprache des Verfalls setzt sich fortan als Modus silvanischer Präsenz in Trakls Werk fest. In »Kleines Konzert« »schweigen goldne Wälder« (ITA I, 537), in »Verklärter Herbst« »schweigen Wälder wunderbar« (ITA II, 50); in »Nachtseele« steigt »Schweigsam […] von schwarzen Wäldern ein blaues Wild« (ITA II, 90); »Verwandlung des Bösen« schließlich versammelt in einer (sich im Folgesatz wiederholenden) syntaktisch offenstehenden Beziehung Szene, Schweigen und Begriff: »Unter dem Haselgebüsch weidet der grüne Jäger ein Wild aus. Seine Hände rauchen von Blut und der Schatten des Tiers seufzt im Laub über den Augen des Mannes, braun und schweigsam; der Wald« (ITA III, 289). Man darf jenes Verstummen des Waldes freilich nicht als ein ›Versagen‹, eine Zurückweisung des poetischen Sprechens verstehen. Vielmehr sind das vom Verdämmern umschattete ›Flüstern‹ und das als Sprache des Todes sich einstellende Schweigen nur zwei unterschiedliche Ausfaltungen einer sich im Wald verdichtenden Rede des Übergangs. Als »des Einsamen Gefährten« (ITA II, 50) erscheint die Stimme des Waldes in jener Welt, die der Einsame auf der »Wanderschaft zum Tode«

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(Heidegger 2018, 20) durchzieht. Das Schweigen der Wälder unterbricht die Rede der Vielen. Es markiert die Leerstelle, in welcher die Dichtung ihren Ort, ihre eigene Sprachgemeinschaft finden kann. Auf der anderen Seite bleibt diese Sprachgemeinschaft bestimmt durch den Gegensatz zu all jenen, die in einer eingerichteten Sprache zugrunde gehen müssen – und dieser Gegensatz, dieser Unterschied im Sterben wird laut, dringt aus dem Wald so deutlich wie verheerend in die Welt. Trakls Spätwerk entdeckt diese letale Stimme des Waldes noch einmal. So ahnt »Abendland« (II) im April 1914 bereits: »Hinstirbt der Väter Geschlecht / Es ist von Seufzern / Erfüllt der Abendwind, / Dem Geist der Wälder« (ITA IV.1, 246). Die Klage vom »verwesend Geschlecht«, das – wie nur wenig später »Der Abend« weiß – »kalt und böse« in der »Stadt« wohnt (ITA IV.2, 248), ist nicht nur Echo des Untergangs, sondern selbst herbeigesungener und geseufzter Untergang. Und so beginnt dann auch Trakls bekanntestes, am Ausgang seines Lebens stehendes Gedicht mit dem Wald, genauer: mit »herbstlichen Wälder[n]«, deren abendliches ›Tönen‹ das horride Bild eines Schlachtfelds in die Welt setzt (ITA IV.2, 338), einen Gesang »[v]on tötlichen Waffen«, »[s]terbende[n] Krieger[n]« – und abermals von sich »im Weidengrund« sammelnder Stille. »Grodek« als letzter großer Gesang der silva lässt die Gewalt dieser Dichterin vollends hervortreten. Indessen ist über ihre Geschichte damit noch wenig gesagt. Wie Alfred Doppler aufgewiesen hat (Doppler 1992, 124 f.), begegnet der Wald in Trakls Werk infolge einer Verirrung, im unvorsichtigen Verlassen der »kindlichen Gärten« (ITA III, 383). »Frühling der Seele« (II) kartiert den Weg des Verirrten: Am Ende der ersten Strophe wird der Garten verlassen, schon zeigen sich die Insignien der Waldesherrschaft – die Wasser, das »schreitende Tier« und erneut »die Stille des Tannenwalds«, deren Botschaft noch ungesehen bleibt (»Wo sind die furchtbaren Pfade des Todes«). Erst die vierte Strophe enthüllt die Urszene des Traklschen Waldes: »Schwester, da ich dich fand an einsamer Lichtung / Des Waldes und Mittag war

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und groß das Schweigen des Tiers; / Weiße unter wilder Eiche, und es blühte silbern der Dorn; / Gewaltiges Sterben und die singende Flamme im Herzen« (ebd.). Alles kommt auf jener Waldeslichtung zusammen. Hier die Gemeinschaft der Geschwister und das sich im Schein ihres »Mittags« einstellende Schweigen; dort der Gesang der Flamme und das ›gewaltige Sterben‹. Von dieser Stelle her wäre die poetologische (und keinesfalls biographische) Bestimmung des Waldes her zu denken, zerfließt das Gedicht doch über die in der Folgestrophe austretenden Wasser zum Schlussvers in den »sanfte[n] Gesang des Bruders am Abendhügel« (ebd.).

Die »Legende des Walds« Wird der Wald nicht nur im ›fernen Rund‹ beschaut, sondern dringt man tief in ihn vor, so kommt man unweigerlich vor jener Verflechtung von Lust und Tod zu stehen, als deren Agenten mitunter die Jäger erscheinen, etwa in einem Brief Trakls an Irene Amtmann aus dem Oktober 1911: »Es kommt vor, dass ich tagelang herumvagabundiere, […] in den Wäldern, die schon sehr rot und luftig sind und wo die Jäger jetzt das Wild zu Tode hetzen« (ITA V.1, 161). Sieht man einmal davon ab, dass jene Zeilen deutlich Meyers »Abendrot im Walde« anklingen lassen (in denen das Ich eben selbst als ›gehetztes Wild‹ wiederkehrt), so rühren sie auch an eine verborgene Genealogie der Waldexistenz. Der Zusammenhang, der in »Frühling der Seele« (II) für einen kurzen Moment offen zutage tritt, wird jenen überantwortet, die in den Wäldern wohnen und die sich in zwei Gestalten teilen: »Schön ist der Wald, das dunkle Tier, / Der Mensch. Jäger oder Hirt« (ITA III, 392). Jener Dichotomie, die in »Die Sonne« sich ausspricht, ist auf den Grund zu gehen: Der Wald ist es, der den Menschen in ein Verhältnis zum ›dunklen Tier‹ rückt, ihn »Jäger oder Hirt« sein lässt. Nur in seiner Seinssphäre erlangen diese Worte ihre Bedeutung, treten sie in ein Verhältnis zum Schönen. »Jäger oder Hirt«, das Amt, zu töten oder zu hegen: Beides

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steht in unmittelbarer Beziehung zu jenem mittäglichen Geheimnis, der Verbindung von Lust und Tod, das im Innern des Waldes verborgen liegt und an das Jäger wie Hirten, wo immer sie auch in diesem Werk auftauchen, zurückgebunden bleiben. Bildet der Jäger eine das Verdrängte stets wiederholende und darüber das Rot des getöteten Wilds selbst annehmende (vergl. ITA IV.1, 67) Figuration der Waldexistenz, so kommt den Hirten vielmehr die Aufgabe zu, das Geheimnis zu schützen, im Werk zu verbergen. Gelegentlich, wenn man sie schlafend antrifft (so in »Der Wanderer«), entzieht sich das Geheimnis ihrer Kontrolle und alsbald verrät »der blühende Wind, die Silberstimme / Des Totengleichen // Leise sagend die vergessene Legende des Walds« (ITA III, 176). Die »Legende des Walds«, seine Begründungserzählung, ruht unter den Hirten, auch wenn sie immer wieder an die Oberfläche zu drängen beginnt. Bisweilen lassen sie sich bei der Arbeit am Geheimnis beobachten. So beginnt die Druckfassung von »Ruh und Schweigen« mit einem Akt der Verdrängung: »Hirten begruben die Sonne im kahlen Wald« (ITA III, 251). Schreitet man die Textstufen zurück, so wird deutlich, dass mit der Sonne zugleich eine ganze Reihe an Bildlichkeiten begraben wird, in denen die beiden am Ende des Gedichts im Zeilensprung nun Getrennten – »Ein strahlender Jüngling: / Die Schwester in Herbst und schwarzer Verwesung« – noch ineinander verflochten waren (»Weiße Wange an purpurne Fische gelehnt« [1 H] resp. »Bleiche Wange an purpurne Schlangen gelehnt« [2 H]; ebd., 250). Denneler hat die im Wald begrabene Sonne in ihren Verwandlungen durchs Werk zurückverfolgt und sexualmythologisch gedeutet (Denneler 1984, 167–176); grundsätzlich ließe sich mit ihr die Hirtenbestattung als Ausstellen wie Verbergen inzestuöser Imagination verstehen. (Dennelers These, dass das Begraben der Sonne in »Ruh und Schweigen« mit deren Entfernung aus den »Elis«-Entwürfen einhergeht und somit den »wichtigsten Schritt« zu deren Entwicklung ausmacht [ebd., 172], lässt sich hingegen leider nicht halten, da ihr noch die falsche Werkchronologie der HKA zugrunde liegt.) Festzu-

P. Theisohn

halten bleibt, dass der Gesang wie das Schweigen des Traklschen Waldes in einer Szene unverstellten wie todgeweihten Begehrens gründet. Auf diese Szene aber gründet sich die auf den Wald zu gerichtete Bewegung des ›Wanderers‹ und seiner Dichtung.

Am Waldsaum Jene Verhaftung im waldlichen »Untergang«, wie er dem Knaben Elis durch »die Amsel im schwarzen Wald« verkündet wird (ITA II, 433), trennt, wie bereits oben dargelegt, die Dichtung von der sie umragenden Landschaft und deren Rede. Zugleich bleibt das Geschehen innerhalb des Waldes meist Reminiszenz, Erinnerung, legendarisch (»Die Nymphen haben die goldenen Wälder verlassen«, »Psalm« [I], ITA II, 24). Der Wald öffnet sich dem Gedicht weitaus weniger, als dass er ihm von Weitem sich ankündet, schweigt und tönt. Manchmal »strömt« er auch »durch den Abend herb und fahl« (»Heiterer Frühling«, ITA I, 453). Umso bedeutsamer aber wird bei Trakl der liminale Raum, der »Waldsaum«, an dem sich die Verse immer wieder entlang bewegen. »Ein guter Hirt / führt seine Herde am Waldsaum hin«, heißt es in »Elis« (ITA II, 454); und in dieser Weisung verordnet sich Trakls Lyrik, die auch das gefährliche Abirren von jenem schmalen Pfad kennt (»Im roten Wald verliert sich eine Herde«, ITA III, 25), den steten Aufenthalt in der Ambivalenz. Wie Cellbrot am Beispiel von »Nachtseele« aufzeigt, handelt es sich beim Waldsaum um einen »Niemandsort, er ist purer Übergang«, semantische wie strukturelle Schwelle (Cellbrot 2003, 83). Was sich am Waldsaum ereignet, ist immer sowohl selbstbezügliche Entfaltung wie völlige Entäußerung, Erblühen und Verwesen (die »Blumen des Winters« in »Nachtseele« [ITA II, 92] gehören syntaktisch dem einen wie gemäß dem Strophenbau dem anderen). Eingeschrieben ist dem Waldsaum dabei immer auch die Dialektik von Erwachen und Dämmern (»Hohenburg«, ITA III, 302), von Sprechen und Schweigen, von Gleiten und Erstarren. »Leise erstarrt am Saum des Wal-

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des der Schrei der Hirschkuh« (»Landschaft«, ITA III, 160); ein Schrei, der nicht vernommen werden kann, der aber eben doch in ›Erstarrung‹ da ist, im Waldsaum verharrt. Wenn auch in »Winkel am Wald« am »Saum des Walds ein einsam Schicksal heiter gleitet«, während die »Nacht […] – der Ruhe Engel – auf der Schwelle« erscheint (ITA I, 582), so ist dieser Bahn doch auch das Wissen sowohl um den eigenen Ort im Untergang wie auch um den Grund der Distanz eingeschrieben, die zwischen dem Wald und der Dichtung noch immer liegt. Trakls Lyrik des Waldsaums wird getragen von der Sehnsucht nach den Stimmen des Ersterbens, nach dem eigenen Verstummen, in dem sich auch das einst im Wald Begrabene wieder der Erinnerung darbietet: »Am Saum des Waldes will ich ein Schweigendes gehen, dem aus sprachlosen Händen die härene Sonne sank« (ITA IV.2, 70).

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Literatur Cellbrot, Hartmut: Trakls dichterisches Feld. Freiburg i. B. 2003. Denneler, Iris: Konstruktion und Expression. Zur Strategie und Wirkung der Lyrik Georg Trakls. Salzburg 1984. Descola, Philippe: Jenseits von Natur und Kultur. Üs. von Eva Moldenhauer. Berlin 2011. Doppler, Alfred: Die Verwandlung des Gartens. Das Weiterwirken eines Motivs. In: Adrien Finck/Hans Weichselbaum (Hg.). Antworten auf Georg Trakl. Salzburg 1992, 120–129. Eichendorff, Joseph von: Werke in sechs Bänden. Hg. von Wolfgang Frühwald, Brigitte Schillbach und Hartwig Schultz. Frankfurt a. M. 1985–1993. Meyer, Conrad Ferdinand: Sämtliche Werke. Historischkritische Ausgabe. Hg. von Hans Zeller und Alfred Zäch. 15 Bände. Bern 1958–1996. Schubenz, Klara: Der Wald in der Literatur des 19. Jahrhunderts. Geschichte einer romantisch-realistischen Ressource. Göttingen 2020.

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Wasser Laura Cheie

Das Wasser ist eine Konstante der Seelen- und Sprachlandschaften Trakls wie auch eine seiner zentralen poetologischen Metaphern, die sich über lautlich-musikalische, bildliche, intertextuelle Analogien und Verweise mit verschiedenen thematischen Bildkonstellationen verbindet. Dabei rezipiert Trakl eine reichhaltige Symbolik märchenhafter, mythologischer, religiöser wie auch romantischer und moderner Wasservorstellungen der Jahrhundertwende und des Expressionismus. Gemäß seinem eigenen Bekenntnis gehört das Wasser zu Trakls intensivsten Erlebnis- und Erinnerungsbildern; in einem Gespräch mit Carl Dallago im Hause Ludwig von Fickers soll er behauptet haben, »bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahr überhaupt nichts von seiner Umwelt bemerkt zu haben, außer dem Wasser« (Limbach 1966, 122).

L. Cheie (*)  Colectivul de limba şi literatura germană, Universitatea de Vest din Timişoara, Timişoara, Rumänien E-Mail: [email protected]

Mythologisierung: Das Wasser in Trakls früher Dichtung Es ist daher nicht befremdlich, dass das WasserMotiv schon in Trakls frühen Dichtungen häufig auftritt (vgl. Wetzel 1971, 750–752.). Bis 1909 stehen die Wasserlandschaften in Parks und Gärten oder als Teil phantastischer (Innen-)Welten noch unter dem erkennbaren Einfluss einer Schwarzen Romantik, die Trakl zusammen mit dem französischen Symbolismus, der Literatur und Philosophie der Dekadenz, dem Wiener Ästhetizismus und Jugendstil rezipiert. So fügen sich Rauschtraumbilder (vgl. Kemper 2014, 120–122) wie jene der »dunklen Seen«, der »niegesehʼne[n] Meere« und »unergründlichen Meere[n]« (ITA I, 233) im Gedichtzyklus »Drei Träume« zu kolossalen ekstatischen Landschaften der Seele, die selbst als »dunkler Bronnen« Bilder »ungeheurer Nächte« (ebd.) imaginiert. Diese hier noch latente kreativitätsfördernde Dimension des Wassers wird sich im Laufe des Werks zum poetologischen Prinzip eines dichterischen Bildentwurfs entwickeln. Im vom Großraum des Parks und des Gartens dominierten Frühwerk (Steinkamp 1988, 51) jedoch zieren singende, plätschernde, rauschende Brunnen und Fontänen sowohl die unheimlichen Orte eines ästhetisierten Verfalls (»Farbiger Herbst«), als auch Plätze der traumhaft-nostalgischen Erinnerung (»Andacht«) oder Räume

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_101

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verbotener Liebe und verheerender Schuld (»Blutschuld«). Die grünlich-blauen Wasser des Teichs spiegeln in jugendstilhaft-dekadenter Szenerie einen zarten Todesschlaf (»Verlassenheit«) wie phantomhafte Sphinxgesichter (»Die drei Teiche in Hellbrunn«). Zum Dekor der frühen Wasserlandschaften gehören gleichfalls sagenhafte Gestalten, wie jene der Faune, Nymphen und Sirenen im Sinne einer noch epigonalen Mythologisierung des Fluiden, wobei antike, märchenhafte und neuere literarische Mythen zusammenfallen können. So verweist das der Wasserfee Melusine gewidmete Gedicht durch seine Sprachmelodie, aber auch durch die eigenartige Verquickung von Fiebertraum, magischer Erotik und Tod auf Goethes lyrische Verarbeitung der Erlkönig-Legende. Sirenen und Melusinen erinnern in Trakls früher Dichtung an jene sinnlich-erotische, faszinierende wie bedrohliche Anziehungskraft des Wassers, die der Undine- und Melusinenmythos seit der Romantik tradiert und die Wasserwelt als eine Sphäre des Fremdartigen und Magischen erscheinen lässt. In »Blutschuld« legt so das Rauschen des Sirenenbrunnens die seit der Antike überlieferte Vorstellung einer verhängnisvollen Verführung und gefährlichen Leidenschaft nahe. Trakl ersetzt zwar den fatalen Gesang der Sirenen durch das Rauschen des Brunnens, was die Beziehung zum Wasser trotz allegorischer Verkleidung transparenter macht, doch ist die Verbindung des Wassers mit der Musik in der frühen Lyrik ebenfalls explizit gegeben. In »Drei Träume« schafft der dunkle Brunnen – »[b]ewegt von namenlosen Gesängen« (ITA I, 233) und wohl auch unter dem Einfluss Nietzsches (Kemper 1984, 286) – der Seele neue Welten. Die Musikalisierung des Wassers etwa durch das Singen des Meeres in »Ballade«, des Brunnens in »Farbiger Herbst« oder durch die Verschmelzung eines schmerzvollen Liedes mit dem Rauschen nächtlicher Fluten in »Nachtlied« folgt noch der Ästhetik romantischer Stimmungsbilder. Stilles wie fließendes Wasser agiert in der frühen Lyrik meistens als natürlicher Spiegel von mitunter Abstraktem, womit schon eine kreative Dimension der Wasservorstellung bei Trakl gegeben ist, die hier allerdings noch oft klischeehaft an-

L. Cheie

mutet. So wird im Bild apollinisch geklärter Fluten in »Einklang« »die tote Zeit« (ITA I, 221) eingefangen, was an schon seit Heraklit bekannte Denkmuster anschließt, die fließende Gewässer zu Projektionsflächen zeitlicher Dynamik werden lassen, allerdings auch das schon vom Tod bewohnte Wasser der späteren Dichtung vorwegnimmt.

Entrealisierung: Trakls Wasserpoetik 1910–1912 Wenn die vieldiskutierten Traklschen Farben in den Dichtungen bis 1909 noch an reale landschaftliche Chromatik erinnern, so beginnen sich diese gerade auch in Bezug auf das Wasserbild in der zweiten Schaffensphase, genauer: in den Texten zwischen 1910 und 1912 an der ›entrealisierenden‹ Ästhetik des Expressionismus zu orientieren. Somit nimmt die abstrakte, ja psychologische Bedeutung der Farben in den Wasserlandschaften dieser Phase zu. Zwischen Verklärung und religiös angehauchter Vergeistigung schwankt das Rinnen des blauen Flusses inmitten des Verfalls in »Seele des Lebens«, während die Kahnfahrt auf dem blauen Fluss in »Verklärter Herbst« zur Veranschaulichung des ebenfalls im expressionistischen Kontext neu gewonnenen lyrischen Kompositionsprinzips, des Reihungsstils, dient, eben zu verbildlichen: »Wie schön sich Bild an Bildchen reiht« (ITA II, 50). Klare, intensive expressionistische Farben haben in dieser Schaffenszeit eine teils konkretisierende, teils abstrahierende Funktion. So muten die blutroten Fluten (»Vorstadt im Föhn«) und die blutbefleckten Linnen im Wasser des Kanals (»Winterdämmerung«) im urbanen Umfeld sowie der grüne Tümpel, in dem Verwesung »glüht« (»Kleines Konzert«), fast naturalistisch an, verweisen zugleich auf Seelenlandschaften des Verfalls. Auch die Dynamik des Wassers zeigt auf verschiedene Entwicklungslinien. Wenn der singende Brunnen in der zweiten Fassung des Gedichts »Musik im Mirabell« an die frühere Musikalisierungstendenz des Fluiden erinnert, so führt das leise Gleiten des Baches in

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»Melancholie des Abends«, im Gegensatz zur expressionistischen Bewegungsästhetik, in die milde fallende Gestik der späteren Texte ein. Gestik gehört zu Trakls ›szenischer Sprache‹, die nach Hans Esselborn Momente einer dramatischen Handlung unter anderem durch Mimik, Gestik, Körperbewegung zu poetischen Szenen verdichtet und gleichfalls »den Rhythmus als Ergebnis einer Körperbewegung in einen übergreifenden Handlungszusammenhang integriert« (vgl. Esselborn 1981, 69). Gesten wird dadurch eine poetologische Bedeutung zugeschrieben, die sich im Modellieren der Traklschen Versmelodie offenbart. So haben laut Esselborn Gedichte des Frühwerks, in denen vor allem zyklische Bewegungen vorkommen, einen kreisenden Rhythmus. Die Gedichte der mittleren Phase, wo eine abwärts strebende Dynamik wie das Neigen, Fallen, Sinken dominiert, weisen einen fallenden Rhythmus auf, während die Gedichte der letzten Periode, jene der heftigen Bewegungen, durch einen gebrochenen, hektischeren Rhythmus gekennzeichnet sind. Ebenso werden Trakls Wasserbilder gebärdensprachlich, durch am Fluiden entwickelte Bewegungen – wie beispielsweise jene des Hinuntersteigens, sich Beugens, Versinkens – inszeniert, wodurch Landschaftsausschnitte zu dramatischen wie symbolträchtigen Szenerien der Seele stilisiert werden, die zugleich subtil auf das kreative Potenzial der Wasserwahrnehmung in Trakls Werk verweisen. An stygische Gewässer erinnernd, heißt es in »Psalm« (I) – in Reminiszenz an Rimbaud (vgl. Grimm 1959, 297): »Und die Schatten der Verdammten steigen zu den seufzenden Wassern nieder« (ITA II, 25). Das Leben spendende Element rückt somit in die Nähe des antiken Todesreiches oder wird sogar mit der Hölle gleichgesetzt (vgl. Hepp 1987, 55), wodurch auch die wiederholt auftretenden Kahnfahrten der späteren Dichtungen an jene erinnern, auf welchen Charon die Schatten der Verstorbenen über den Totenfluss in die Welt des Hades setzte. In »Der Wanderer« etwa kehrt »Jener […] wieder und wandelt an grünem Gestade / Schaukelt auf schwarzem Gondelschiffchen durch die verfallene Stadt« (ITA III, 178); auf der Textstufe 3

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D von »Siebengesang des Todes« fährt ›jener‹ wiederum »Auf schwärzlichem Kahn […] schimmernde Ströme hinab« (ITA IV.1, 144 f.), während in »Abendland« (II) »Auf schwarzen Kahn / Hinüberstarben Liebende« (ITA IV.1, 254). Imaginierte Kahnfahrten verbildlichen in Trakls rauschtraumhaften Seelenlandschaften, in nächtlicher Umgebung den Mondlauf nachzeichnend, ein symbolisches Pendeln zwischen Leben und Tod, Irdischem und Himmlischem, Wirklichem und Metaphysischem auf der Suche nach Erlösung und Vereinigung mit dem Himmlischen im Tod (vgl. Csúri 2016, 172, 201). Allmählich nehmen bei Trakl die Wasser des Todes selbst eine leichenhafte Gestalt an (wenn etwa »Ein steinerner Bogen / […] sich im Spiegel faulender Wasser verzückt« [ITA II, 216]), wodurch sich Trakls schwarze, frierende, verpestete Gewässer (»Helian«, »Verwandlung des Bösen«) nicht nur als unheimliche Spiegel oder Schwellen zum Totenreich, sondern zugleich als vom Tode bewohnte Orte erkennen lassen. Das mondähnliche Befahren des Wassers, oft in der Gestalt des Fischers, sowie rekurrente Gesten der Bespiegelung zeigen dabei verstärkt ab der mittleren Schaffensphase, wie Wasservorstellungen Trakls Textwelten neu ordnen können. In der »Abendmuse« taucht »Endymion […] aus dem Dunkel alter Eichen / Und beugt sich über trauervolle Wasser nieder« (ITA II, 46); im »Nachtlied« wiederum beugt sich Elais »Antlitz / […] sprachlos über bläuliche Wasser« (ITA II, 388). Das gänzliche Versinken im Fluiden prägt sodann Gedichte wie »Unterwegs« (II) (»Sehr leise sinkt ihr Lächeln in den verfallenen Brunnen«, ITA II, 481); in »Elis« versinken dann »Zeichen und Sterne / […] leise im Abendweiher« (ITA II, 455) und verwandeln diesen – in der »Verwandlung des Bösen« – schließlich in einen »Sternenweiher« (ITA III, 290).

Das Wasser als poetologische Matrix Es ist in der Forschung mehrfach festgestellt worden, dass Trakl matrixartige, ja obsessiv eingeübte Konstruktionsprinzipien bei seinen poetischen Landschaftsentwürfen einsetzt, wie z. B.

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Kreis- und Zielkompositionen als Wiederkehr und Entwicklung von klangästhetischen, syntaktischen, bildlichen, semantischen, motivischen Korrespondenzen und Symmetrien (vgl. Kemper 1970), musikalische sowie mythopoetische Strukturen (vgl. Doppler 1992; Braungart 1996), metaphorisierte poetisch-kognitive Schemata von Tages- und Jahreszeitenzyklen, von Akten der Transparenz und Ich-Spaltung, des Untergangs und der virtuellen Transzendierung (vgl. Csúri 2016) oder obsessiv bewahrte, kreativitätsfördernde Matrixvorstellungen wie jene des Runden und Halbrunden (vgl. Cheie 2004). Wie der gut dokumentierte Variantenapparat der Dichtungen festhält, entwickelt sich zunehmend auch das Wasser, beispielsweise durch das Zusammenführen der umfassenden Semantik des Wasserspiegels und jener des Wassergrabes – also der Verschmelzung von spiegelnder Oberfläche und gewölbter Tiefe – aus einem wiederkehrenden Motiv zu einer poetologischen Matrix für komplexe Bildentwürfe. Dabei verarbeitet Trakl grundlegend mythisch-literarische Vorstellungen, wie sie durch Narziß und Ophelia präfiguriert werden. »Über dem Gießbach wölbt sich der knöcherne Steg / Folgt Narziß die dunkle Gestalt der Kühle«, heißt es in einer Vorstufe zu »Der Wanderer« (ITA III, 173), während Ophelia in den Varianten des Gedichtentwurfs »Lange lauscht der Mönch…« dem Wassergrab eine neue Dimension verleiht. »Schön ist Opheliens Wahnsinn, / Der alte Weiher, der durch die Weiden rinnt«, der schließlich den Wassertod als »Versunkenes Wohnen in blauen Höhlen der Schwermut« (ITA II, 206) in religiöse Abstraktion steigert. Durch die Zusammenführung von narzisstischer Selbstbespiegelung und ophelienhaftem, totem oder todähnlichem Wohnen im Wasser sowie durch eine kreative Wahrnehmung des Wassers als ambivalenter Schnittfläche von oben und unten (vgl. Cheie 2004, 90–98), findet Trakl schließlich zu neuen Bildanalogien und -konstellationen, deren Poetik auch außerhalb expliziter Wasserlandschaften auf die modellierende Logik der Wasserbilder zurückverweist. So zeigt der

L. Cheie

Variantenapparat der Gedichtentwürfe, wie jener von »Wenn wir durch unserer Sommer purpurnes Dunkel…« (ITA II, 356), wie die Oszillation zwischen dem Sich-Neigen über dem Wasser und dem Eintauchen in den Wasserspiegel, zwischen Wasserspiegel und »Grotte« eine zunehmend abstrakte Landschaft der Versenkung in die seelische Tiefe der Melancholie konstruiert, die wiederum der Mensch erst durch deren Kontemplation im Wasserspiegel erkennt und quasi konkret bewohnen kann. Die am Wasser entwickelte Gebärdensprache löst sich allmählich vom diesem ab und wird auf andere Bildfelder übertragen, in welchen jedoch die früher wasserbezogene Gestik erkenntlich bleibt. Der Variantenapparat dokumentiert dabei wie das Konservieren und Variieren von mit Wasser assoziierten Bewegungen in unterschiedlichen Kontexten zur Steigerung der Mehrdeutigkeit und Verwandlung des poetischen Bildes beitragen. So klingt beispielsweise das Sich-Neigen über Wasserspiegel in der Trauergestik der Nacht in »Untergang« nach, wenn es heißt: »Über unsere Gräber / Beugt sich die zerbrochene Stirne der Nacht« (ITA II, 369, Textstufen 4 T ff.). Desgleichen lassen sich hermetische Sprachbilder – wie die Varianten bezeugen – auf ursprüngliche Wasserbilder zurückführen. So beispielsweise in »Ruh und Schweigen«: »In blauem Kristall / Wohnt der bleiche Mensch, die Wang’ an seine Sterne gelehnt« (ITA III, 251). In den von Verfall, Tod und todähnlichem Schlaf, rauschhaftem Wahnsinn, inzestuöser Leidenschaft, Schmerz und Sündenfall geprägten Landschaften lassen sich auch christliche Vorstellungen von der Läuterung des schuldbeladenen spätzeitlichen Menschen durch die »Taufe in keuschen Wassern« (»An Mauern hin«, ITA III, 196) erkennen – und damit eine Suche nach Erlösung und Geborgenheit, die das Medium des Fluiden über die Vergeistigung suggerierende Farbe Blau an mythische Zeitalter schuldloser Existenz (»Kindheit« (II), »An den Knaben Elis«) bindet. In Trakls poetischen Rekonstruktionen einer präexistenten paradiesischen Geborgenheit im Was-

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ser oder in den mit diesem verwandten blauen Höhlen oder Gewölben verschiedener Seelenlandschaften identifiziert die psychoanalytisch argumentierende Forschung Hypostasen archaischer Mütterlichkeit, Orte eines pränatalen Daseins (vgl. Kleefeld 1988: 88–89). Das zu eisiger Transparenz stilisierte Wasser, oft in der Form kristallener Tränen oder kristallener Wogen (»Abendland« [II], »Offenbarung und Untergang«, »In Hellbrunn«), führt in die felsige, monumental-apokalyptische Landschaft der Spätdichtung ein, in welcher die Verhärtung des Fluiden auf die klare schneeige Kühle des Gletschers, Bergstroms und Bergsees in einer bedrohlichen Bergwelt (»Der Abend«, »Die Nacht«, »Die Schwermut«) deutet. Gespiegelt werden hier nun die tiefgreifenden Ängste einer aus den Fugen geratenen Welt, in welcher zwar heroische Aufopferung und hymnische Klage, aber keine Erlösung und Geborgenheit mehr möglich ist. Das Wasser selbst partizipiert nun als zerstörerische Macht in abstrakten Kälte-Bildern, wie »eisige Woge / Der Ewigkeit« (ITA IV.2, 332), »blaue Woge / Des Gletschers« (ITA IV.2, 260) – und wird somit Teil einer wohl auch kokainbedingten »Poetik der Vereisung« (vgl. Kemper 2014, 324). Symbolisch kehrt es dann als »purpurne Woge der Schlacht« (»Im Osten«, ITA IV.2, 332) in der endzeitlichen Szenerie des Krieges in einer der letzten Seelenlandschaften Trakls wieder.

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Literatur Braungart, Wolfgang: Zur Poetik literarischer Zyklen. Mit Anmerkungen zur Lyrik Georg Trakls. In: Károly Csúri (Hg.): Zyklische Kompositionsformen in Georg Trakls Dichtung. Szegeder Symposion. Tübingen 1996, 1–27. Cheie, Laura: Die Poetik des Obsessiven bei Georg Trakl und George Bacovia. Salzburg/Wien 2004. Csúri, Károly: Konstruktionsprinzipien von Georg Trakls lyrischen Textwelten. Bielefeld 2016. Doppler, Alfred: Die Lyrik Georg Trakls. Beiträge zur poetischen Verfahrensweise und zur Wirkungsgeschichte. Wien/Köln/Weimar 1992. Esselborn, Hans: Georg Trakl. Die Krise der Erlebenslyrik. Köln/Wien 1981. Grimm, Reinhold: Georg Trakls Verhältnis zu Rimbaud. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 9 (1959), 288-315. Hepp, Marianne: Kommentar zu ausgewählten Gedichten Georg Trakls. Pisa 1987. Kemper, Hans-Georg: Georg Trakls Entwürfe. Aspekte zu ihrem Verständnis. Tübingen 1970. Kemper, Hans-Georg: Nachwort. In: Georg Trakl: Werke – Entwürfe – Briefe. Hg. von Hans-Georg Kemper und Frank Rainer Max. Stuttgart 1984, 269–320. Kemper, Hans-Georg: Droge Trakl. Rauschträume und Poesie. Salzburg/Wien 2014. Kleefeld, Gunther: Mutterbilder. Symbolische Beziehungsfiguren in den Gedichten Georg Trakls. In: Hans Weichselbaum (Hg.): Trakl - Forum 1987. Salzburg 1988, 71–99. Limbach, Hans: Begegnung mit Georg Trakl. In: Erinnerung an Georg Trakl. Zeugnisse und Briefe. Salzburg 31966, 119–126. Steinkamp, Hildegard: Die Gedichte Georg Trakls. Vom Landschaftscode zur Mythopoesie. Frankfurt a. M. et al. 1988. Wetzel, Heinz: Konkordanz zu den Dichtungen Georg Trakls. Salzburg 1971.

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Zeit/Zeiten Hans Esselborn

Die Tag- und Jahreszeiten, Merkmale zahlreicher Titel, bilden in der Lyrik Trakls einen auffälligen und wesentlichen Bedeutungsrahmen, sei es als Begleiterscheinung und Implikat oder als Auslöser und Determinant der jeweiligen entscheidenden Vorgänge. In den Jugendgedichten ist die Situation noch anders; konkrete Zeitangaben sind selten und die romantische Auffassung der Nacht steht z. B. im Zyklus »Gesang zur Nacht« ganz im Vordergrund. Der folgende Beitrag behandelt nicht die erzählenden und dramatischen Texte Georg Trakls, da die Zeit hier bekanntermaßen eine andere Rolle spielt. Auch die späten Prosagedichte werden nur am Rande berücksichtigt, da hier vielfache Zeitverläufe in episch gereihten Ereignisketten vorgeführt werden und die drei Texte an Rauschprotokolle erinnern, in denen erkennbare biographische Momente verfremdet und dramatisiert wiederkehren. Der Stimmungs- und Bedeutungswert der Tag- und Jahreszeiten ist aber dem in den lyrischen Texten vergleichbar. Obwohl die Festlegung des lyrischen Textes auf einen bestimmten Zeitpunkt üblich ist, zeigen sich doch bei Trakl besondere Phänomene, nämlich die durchgängige Parallelisierung

H. Esselborn (*)  Institut für deutsche Sprache und Literatur, Universität zu Köln, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected]

von Tag und Jahr, die Tendenz zu einem (teilzyklischen) Zeitverlauf und die einseitige Übergewichtung des Endes der Perioden. Der Naturkreislauf, der ein konstitutives Merkmal der europäischen Lyrik darstellt, wird besonders als Wechsel von Licht und Dunkelheit bei Trakl auf vielfältige Weise auf das individuelle und kollektive Leben übertragen, auf Gefühlsauf- und abschwung, auf die Abfolge von Liebesfrühling und Wintereinsamkeit, auf den Lebenslauf von der Kindheit bis zum Alter, sowie auf historische Zeitalter und auf religiöse wie mythische Kon­ stellationen. Zunächst soll gezeigt werden, welche Tagund Jahreszeiten in den Gedichten genannt, beschrieben und suggeriert werden, dann welche Zeitdimensionen der Autor in Einklang mit seiner Epoche erstehen lässt und schließlich, welche Bedeutungsmuster sich durch den Zeitverlauf ergeben. Die grundsätzliche Angabe konkreter Tag- und Jahreszeiten in den Gedichten wurde zwar von der Forschung immer registriert und mit dem Generalthema Verfall und Untergang verbunden, aber erst in jüngster Zeit gab es, angeregt von der umfassenden Begrifflichkeit der Kreis- und Zielkomposition (Kemper 1970, 97) spezielle Untersuchungen dazu. Csúri (2016, 26) nennt »die abstrakt-semantische Komposition, die zahlreichen Trakl-Gedichten zugrunde liegt«, »Schemata der a) Tages- und Jahreszeitenzyklen, b) Transparenzakte, c) Ich-Spaltung sowie der d) Untergangsprozesse und ihrer virtuellen Über-

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_102

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windungs- oder Transzendierungsversuche«. Für diesen Artikel sind die Schemata a) und ihre Verknüpfung mit d) relevant.

Darstellung der Zeit Die permanente Parallelität von Tag- und Jahreszeit zeigt sich in Titeln wie »Ein Herbstabend«, »Ein Winterabend«, »Winternacht«, »Winterdämmerung« und Verbindungen wie »Septemberabend« (ITA III, 155 u. 160), »Novemberabend« (ITA IV.2, 131), »Herbstesnacht« (ITA IV.2, 232) oder »Des Herbstes Weg und Kreuze gehen in Abend ein« (ITA II, 144). Es gibt Texte, die nur von einem einzigen Zeitpunkt geprägt sind wie »Verfall« (II) vom Herbst, »Musik im Mirabell« vom Abend, »Winterdämmerung« vom Winter und der Nacht, »Der Spaziergang« vom Nachmittag, »Romanze zur Nacht« von der Mitternacht, »Die Ratten« (ITA I, 399) vom »herbstliche[n] Mond« oder »Die Raben« und »Die Bauern« vom Mittag bzw. der »Mittagszeit«. Meist wird ein Teil des zeitlichen Zyklus präsentiert (vgl. Steinkamp 1991, 147), vom Sommer oder Mittag über den Herbst oder Abend zum Winter oder der Nacht (»An den Knaben Elis«, »Elis«) oder ein kleinerer vom Herbst und Abend bis zur Nacht (»Drei Blicke in einen Opal«, »Die Verfluchten«). Nur ganz ausnahmsweise wird eine Rückkehr an den Anfang des Zyklus, zu Morgen und Frühling angedeutet (»Die Sonne« und »Passion«, ITA IV.1, 120: »Tritt der rosige Engel / Des Morgens aus dem Grabe der Liebenden«), weshalb man besser von finalem Verlauf (Esselborn 1996) als von zyklischem (Csúri 2016) sprechen sollte: »both day and year proceed in Trakl’s poems toward their ends« (Steinkamp 1991, 148), Ein vollständiger Ablauf erscheint im »Kaspar Hauser Lied« parallel zum Jahresverlauf oder in »Jahr« in angedeuteter Form (»der Duft der Veilchen«, »schwankende Ähren im Abend«, »Samen«, »der Tränen nächtige Bilder«; ITA IV.1, 311), ein gemischter Zyklus vom Frühling über Sommer und Abend zur Nacht in »An Johanna«.

H. Esselborn

Hinter die Evokation des Herbstes und des Abends treten die Bilder vom Mittag und Sommer zurück. Selten wird der Morgen oder der Frühling evoziert, so in »Frühling der Seele« (II) (ITA III, 383) mit dem Tagesverlauf (»erlöschen rings die Sterne«, »Mittag war«, »Nachmittag«, »Abendhügel«) oder dieser nur angedeutet in »Heiterer Frühling« (ITA I, 453): »An Weiden baumeln Kätzchen sacht im Wind«, »Das sanfte Korn schwillt leise und verzückt«, »Der Wald strömt durch den Abend herb und fahl« und »Die Liebenden blühn ihren Sternen zu / Und süßer fließt ihr Odem durch die Nacht.« Gelegentlich werden die Zeiten durch andere Ausdrücke bezeichnet wie »Vesper« (ITA I, 482) oder »Allerseelen« (ITA I, 472) oder durch Naturdinge angedeutet, so die Jahreszeiten durch Blumen (»Veilchen«, »Sonnenblumen« oder »Astern«)  oder landwirtschaftliche Produkte (»Korn«, »Wein«). In »Verklärung« (ITA III, 343) heißt es: »Ein Kranz von Veilchen, Korn und purpurnen Trauben / Ist das Jahr des Schauenden.« Für den Herbst speziell stehen oft Farben und Blätterfall, aber auch Weinlese und Vogelflug, für den Winter Eis und Schnee, für den Tageslauf Bewegungen der Sonne und des Mondes, vgl. »Ruh und Schweigen« (ITA III, 251): »Hirten begruben die Sonne im kahlen Wald. / Ein Fischer zog / In härenem Netz den Mond aus frierendem Weiher.« Manchmal zeigen menschliche Aktivitäten und Gebräuche die Zeit an, z. B. die Arbeit der Bauern den Mittag und Sommer, die Wanderung des »Einsamen« den Tag und seine Einkehr in die Schenke den Abend oder die »Liebenden« die Nacht. Ausführlich wird mit ländlichen Szenen der Verlauf vom »Frühlingsnachmittag«, über den »Sommer« bis zum »Herbst« (»Musik und Tanz in schattigen Kellern«) im »Stundenlied« (ITA II, 462) präsentiert. Manchmal ist die Tages- und Jahreszeit assoziativ aus Helligkeit und Dunkel, Wärme und Kälte oder aus dem biologischen Rhythmus von Aufschwung und Ermatten, Liebe und Tod zu erschließen. Seit den mittleren Gedichten wird die Verbindung der Zeit mit dem Verfalls- und Untergangsgeschehen immer enger, wie Wen-

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dungen wie »das sterbende Laub« oder »schreit […] der nächtliche Vogel / Über des Mondenen Schritt / Tönt ein eisiger Wind« (»Anif«, ITA III, 331) zeigen, sodass die reine Zeitangabe hinter ihre spezifischen Assoziationen zurücktritt.

Zeitdimensionen und ihre Entsprechung zur Zeit Trakls Da in Trakls Gedichten Alltagsszenen und Naturlandschaften mit übertragbarer Bedeutung beschrieben werden, kann man von einer Alltagszeit der äußeren Vorgänge wie einer Stimmungszeit des Beobachters sprechen, »einer abstrakt-verborgenen Ich-Figur, die an der Oberfläche der Textwelten selten auch formal erscheint« (Csúri 1996, 51). Hier lohnt es sich, eine Oberflächen- von einer Tiefenstruktur zu unterscheiden. Die Texte sind geprägt vom Verfall der Natur und der menschlichen Umwelt bzw. vom Ende der Aktivität des Ich. Entsprechend dem Fortrücken der Zeit können die Texte entweder mit einem ruhigen Untergang oder einer gewaltsamen Zerstörung enden, manchmal ergibt sich auch eine gezielte Ambivalenz von guten und bösen, schönen und hässlichen Vorgängen der Alltags- und Stimmungszeit. Reale und surreale Vorgänge passieren in Texten wie »Heiterer Frühling« und »Der Spaziergang« mit Hilfe des typischen frühen Zeilenstils Revue. Wie der Mittag, Pans Stunde, von Sinnlichkeit bestimmt ist (»Frühling der Seele« (II), ITA III, 383: »Mittag war und groß das Schweigen des Tiers«), so die nächtliche Natur von Zerstörung (»Die Ratten«, »Winterdämmerung«). Die Gedichte sind entweder durch simultane, aber disparate Ereignisse geprägt, so in »Romanze zur Nacht«, oder zeigen einen finalen Verlauf, während »[d]ie Zeit verrinnt« (»Der Spaziergang«, ITA I, 530). So mündet in »Abendmuse« (ITA II, 46) der Stimmungsbogen in der Nacht im Zeichen der mythologischen Figur Endymions, des Geliebten der Mondgöttin, im »schmerzlichen Ermatten« als Abkehr von der Welt und der Zuwendung zu einem geistigen, dichterischen Geschehen: »sin-

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ken balde ein die Lider und öffnen sich zu fremden Sternenzeichen.« Ähnlich endet »In den Nachmittag geflüstert« (ITA II, 151) nach der Beschreibung natürlicher Vorgänge mit der Ruhe des Ich: »[k]ehrst du wie im Traume ein.« Der Wechsel der Jahreszeit ist in »Kleines Konzert« untrennbar verknüpft mit den kälter werdenden Farben des Regenbogens und dem Stimmungsabfall des verborgenen Beobachters vom emotionalen Aufschwung bis zum dissonanten Endgefühl. Die ablaufenden Naturvorgänge werden in den mittleren Gedichten auf die Lebenszeit von Figuren übertragen, wobei die bekannten Metaphern vom Frühling des Lebens und Lebensabend als Brücken dienen können. Die »Elis«Gedichte verorten sein Leben und Sterben in einer Umwelt, die vom Verlauf der Tages- und Jahreszeit geprägt ist (vgl. das »Kaspar Hauser Lied«). In den mittleren, eigenrhythmischen Texten gibt es zwei neue Arten von Zeit, die man Erlebnis- und Schicksalszeit nennen könnte. Der »Einsame« oder »Fremdling« als Stellvertreter des Ich geht wandernd durch die Landschaft und erlebt Begegnungen, in denen er verwandelt seine Probleme wieder findet (»Der Wanderer«, »Föhn«, »Am Moor«). Diese Struktur, in der der Raum eine größere Rolle spielt, endet meist mit dem Ende des Tages oder Jahres in Resignation oder Ruhe. Wir bekommen in den Texten der mittleren Zeit aber auch Fragmente des Lebenslaufes des verborgenen, dichtenden Ich präsentiert, von der verborgenen Kindheit (in »Sebastian im Traum« sogar der Embryonalzeit!) über die glückliche Jugend und Liebe zur sexuellen Katastrophe voller Schuld und Sünde bis zum vorläufigen Ende in der Gegenwart der Gedichte. Je nach der Akzentuierung stehen die Texte im Zeichen des Heils oder Unheils im mythischen oder christlichen Sinne (vgl. Csúri 2016, 320 ff.): »nahes Unheil« mit der Andeutung einer nächtlichen verbotenen Liebe: »Die Kerzenflamme, die sich purpurn bäumt« (»In der Heimat«, ITA II, 426) und »Aussätzige[n], die zur Nacht vielleicht verwesen« (»Traum des Bösen«, ITA I, 517).

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In vielen Gedichten dieser Zeit ist die Erlebniszeit vom Einbruch der erinnerten Vergangenheit oder einer visionären Zukunft in die Gegenwart geprägt, ein Bruch, der durch ein Präteritum oder seltener ein Perfekt markiert ist, welches ein schicksalhaftes Ereignis anzeigt. Man kann bei diesem Verlauf auch an Freuds Schema der Wiederkehr des verdrängten Traumas in der Gegenwart denken. Die Struktur der Erinnerung, des aktiven Gedenkens und der Vision ist geteilt in die Gegenwart des sprechenden Ich und die frühere Zeit mit ihrer möglichen Wiederkehr, also nicht final, sondern rekursiv. Diese Zeitdifferenz ist durch Tages- und Jahreszeiten angedeutet, so die idyllische Kindheit und die glückliche Liebe wie deren Wiedererscheinen durch Frühling oder seltener Morgen, die vom Verlust geprägte Gegenwart aber vom Abend oder Herbst. So erscheint die Vergangenheit am Ende von »Kindheit« (II) (ITA III, 30): »doch manchmal erhellt sich die Seele, / Wenn sie frohe Menschen denkt, dunkelgoldene Frühlingstage.« Das »Abendlied« (ITA II, 340) beginnt so: »Am Abend, wenn wir auf dunklen Pfaden gehn, / Erscheinen unsere bleichen Gestalten vor uns.« Die Schicksalszeit der Liebesbegegnung wird im Präteritum dann so beschrieben, nachdem von »Frühlingsgewölken« gesprochen wurde (ebd., 341): »Da ich deine schmalen Hände nahm, / Schlugst du leise die runden Augen auf. / Dieses ist lange her.« Das Gedicht endet mit der visionären Wiederkehr der verlorenen Geliebten: »Doch wenn dunkler Wohllaut die Seele heimsucht, / Erscheinst du Weisse in des Freundes herbstlicher Landschaft.« Die Abfolge von Gegenwart, Vergangenheit und deren Wiederkehr kann statt mit Hoffnung aber auch mit Unglück und Resignation enden, wenn die Schicksalszeit als nächtliche sexuelle Katastrophe erscheint z. B. in »Nachts« oder »Unterwegs« (II) (ITA II, 482): »O, wie dunkel ist diese Nacht. Eine purpurne Flamme / Erlosch an meinem Mund. […] / Lass, wenn trunken von Wein das Haupt in die Gosse sinkt.« »Stundenlied« (ITA II, 462) beginnt mit dem sexuellen Trauma (»Purpurn zerbrach der Gesegneten Mund«) und endet nach einer Schilderung gegenwärtiger Vorgänge im Zeichen von

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Frühling, Sommer und Herbst mit der Wiederkehr »des verstorbenen Knaben« am Abend. Die sexuelle Schicksalszeit kann aber auch in christlicher Perspektive in einem sanften Sterben enden: »Lass uns beten. / In dieser Nacht lösen auf lauen Kissen / Vergilbt von Weihrauch sich der Liebenden schmächtige Glieder« (»Nähe des Todes«, ITA II, 303 aus den »Rosenkranzliedern«, die am Schluss den biblischen Todesengel Azrael beschwören). Ein vergleichbares Schicksal ist im »Siebengesang des Todes« (ITA IV.1, 144) angedeutet, der in seiner dramatischen Abfolge intensiver gegensätzlicher Vorgänge an einen Drogentraum erinnert, wenn nach der sexuellen gewaltvollen Katastrophe (»jagte der Mond ein rotes Tier / Aus seiner Höhle; / Und es starb in Seufzern die dunkle Klage der Frauen«) am Ende ein glückliches Vergessen im Zeichen des Rauschgifts steht: »es sank / Friedlich das ergrünte Gezweig auf ihn, / Mohn aus silberner Wolke« (vgl. Kemper 2014). Die Erlebnis- und Schicksalszeit hat die Tendenz, die persönlichen Ereignisse zu entindividualisieren und die Figuren wie den Fremdling und die Schwester zu ikonisieren. Man könnte wegen der typischen Wiederkehr auch von Mythisieren unter Einbeziehen christlicher Elemente sprechen, denn »Wiederholungen mythischer Archetypen sind für den Mythos grundlegend« (Braungart 1996, 4). Elis und Orpheus gehen wie Endymion, Helios und die Zyklopen bei Trakl auf den antiken Mythos zurück, den Trakl aus der Schullektüre von Ovids Metamorphosen kannte. Mit »Helian« und »Sebastian im Traum« werden die Evangelien und die Geschichte der Märtyrer angesprochen. Kleefeld (2009) ergänzt diese Quellen durch eine Fülle hermetischer, alchemistischer und gnostischer Anspielungen. In den späten hymnischen Gedichten dominiert dann die kollektive Katastrophenzeit einer apokalyptischen Nacht des Abendlandes, in der die Vergangenheit mit dem aktuell drohenden gewaltsamen Untergang kurzgeschlossen ist. Die Zeitangaben bezeichnen dann nicht mehr eine historische Zeit als den Bedeutungsrahmen des Geschehens, sondern unmittelbar die Katastrophe selbst.

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Neben der Alltagszeit folgen Trakls Gedichte auch einer kosmischen Zeit, die mit den Entitäten Sonne, Mond und Sterne angezeigt wird und die über das individuelle Schicksal hinaus auf die gesamte Schöpfung und ganze Menschheit übertragbar ist. Fast ausnahmslos stehen die Texte Trakls im Zeichen von Verfall und Untergang. Eine ganz seltene Ausnahme ist »In Hellbrunn«, wo im Blick auf die Vergangenheit der Zeitverlauf im Frühling verharrt. Zerstörung und Tod, die als finales Ende die gesamte Natur und das irdische Leben bestimmen, bedrohen auch perspektivisch die Stellvertreterfiguren des Ich. Neben dem allmählichen Untergang gibt es auch seltener den plötzlichen und gewaltsamen, der mit der Finsternis, dem Bösen, Schuld und Strafe verbunden ist. Das kollektive Böse erscheint z. B. in »Dämmerung« (II) (ITA II, 57) in dionysischer Gestalt: »Und nächtens stürzen sie aus roten Schauern / Des Sternenwinds, gleich rasenden Mänaden.« Die sexuelle Konnotation wird in anderen Texten wie in »Die Verfluchten« (ITA II, 441) deutlicher ausgeführt, im Bild der Pest und Medusa: »Ein Nest von scharlachfarbnen Schlangen bäumt / Sich träg in ihrem aufgewühlten Schoß. / Die Arme lassen ein Erstorbenes los«. Die kosmische Zeit kann Ausdruck des Naturmythos sein. An den Mythos des strafenden Gottes, Zeus oder Jahwe, erinnert das wiederkehrende, aber in sich finale Naturphänomen des Gewitters mit der Abfolge von Spannung, Blitz und Donner und beruhigendem Regen oder historisch gewendet von Krise, Zerstörung und Erschöpfung. Nah am zeitlichen Ablauf des Naturvorgangs ist das frühe Gedicht »Der Gewitterabend«, das einen »Kreis der Leidenschaft […] vom Erwachen des Triebes oder der Lebensenergie über das Zunehmen der Spannung bis zu ihrer Entladung in einer Aktion oder einem Zusammenbruch« verbildlicht (Esselborn 1996, 95). Die aktuelle Krise der Vorkriegsgesellschaft spiegelt das späte »Das Gewitter« als Katastrophenzeit in mythischen Bildern. Die kosmische Zeit erscheint im Konzept der Zeitalter manchmal als historische Zeit des Niedergangs, so in »Abendländisches Lied« mit

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der Abfolge von Antike, Mittelalter mit Kreuzzügen und Mönchen und dem in der Gegenwart drohenden Untergang, dem aber das Hoffnungsbild der Liebenden entgegengesetzt wird. »Aber strahlend heben die silbernen Lider die Liebenden / Ein Geschlecht. Weihrauch strömt von rosigen Kissen / Und der süsse Gesang der Auferstandenen« (ITA III, 420). Trakl stand mit seinem persönlichen Lebensgefühl im Einklang mit dem Fin de siècle, das in der Dekadenz das unausweichliche Schicksal der Gegenwart sah. Diese wurde als schöner Untergang gedacht, wie er markant im Bild von Salzburg als »Die schöne Stadt« erscheint. In »Abendland« (II) liegt dagegen der Akzent auf der zerstörerischen Zivilisation der Gegenwart. Gegen Ende seines Lebens wächst bei Trakl das persönliche Krisenbewusstsein, das seine Entsprechung in der Zeitstimmung am Vorabend des Ersten Weltkrieges findet. So stellen fast alle späten Gedichte eine gewaltsame Zerstörung dar, die im Tod, suggeriert durch den Winter, endet, z. B. »O Herz / Hinüberschimmernd in schneeige Kühle« (»Das Herz«, ITA IV.2, 131). Das Gedicht spricht auch von den »ehernen Zeiten« und erinnert so an das dritte, degenerierte Zeitalter aus Ovids Metamorphosen (vgl. Esselborn 2011, 229). Das paradiesische erste, goldene und das ambivalente zweite, silberne Zeitalter sind ebenfalls in den Gedichten Trakls permanent vertreten; Ovids viertes, eisernes ist bei Trakl mit dem dritten der schrecklichen Gegenwart verschmolzen. »O des Menschen verweste Gestalt: Gefügt aus kalten Metallen, / Nacht und Schrecken versunkener Wälder« (»Siebengesang des Todes«, ITA IV.1, 144; prominent erscheint der »Stahl« am Ende von »Der Schlaf«, ITA IV.1, 24). So wie das christliche Modell der Apokalypse einen guten Neuanfang nach dem Untergang der bösen Welt im Jüngsten Gericht beschreibt, erhoffte auch der politische Expressionismus die Chance eines besseren Neuanfangs nach der Zerstörung der alten Welt im Krieg. In den späten expressionistischen Gedichten Trakls finden sich Andeutungen des apokalyptischen Denkens z. B. in »Die Heimkehr« oder die Idee der »Läuterung« als Auf-

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gabe des Dichters in »An die Verstummten« und »Das Gewitter«. Eine Erlösung im christlichen Sinne, verbunden mit einem ruhigen und friedlichen Ende der Zeit zeigen Texte wie »Herbstseele« und »Ein Winterabend«, wo das Abendmahl als Versöhnung das Ende bestimmt. Ein Neuanfang wird symbolisch im traditionellen Bild des Schmetterlings beschworen: »Die Liebenden in Faltern neu erglühn« (»Heiterer Frühling«, ITA I, 530) oder als Auferstehung verbunden mit dem rosigen Sonnenaufgang am Ende von »Abendländisches Lied« und von »Die blaue Nacht …« (ITA III, 244): »Ein rosiger Engel aus den Gräbern der Liebenden tritt.« »Winternacht« (ITA III, 368) endet nach dem Bild des bestraften Prometheus (»Gottes Geier zerfleischen dein metallenes Herz«) mit dem hoffnungsvollen Sonnenaufgang: »Aus dem östlichen Tor trat silbern der rosige Tag.«

Die Zeiten als Signale oder Bestandteile von Heil- oder Unheil Trakls Gedichte bieten mit wenigen Ausnahmen »die Wiedergabe einer von Verfall und Untergang geprägten Welt« (Kemper 1984, 301), die durch Abend und Nacht bzw. Herbst und Winter signalisiert wird, also dem dunklen und kalten Ende des Naturzyklus. Auch der Sommer wird meist in die Abwärtsbewegung einbezogen und nur der Frühling scheint einen Aufschwung zu markieren. Zerstörung und Tod als finale Perspektive prägen in den Texten die Landschaft, den Alltag, das Schicksal der Figuren und die Repräsentanten des verborgenen Ich in der Tiefenstruktur, des wahrnehmenden Sprechers (separate Sinnesorgane) einerseits und des erlebenden Subjekts andererseits (besonders der »Einsame«, der »Fremdling«, vgl. Esselborn 1981, 152 ff.). Ebenso gilt dies für das kollektive Geschehen, die Natur, den Mythos und die Geschichte Europas, die in den späten Texten zur Katastrophe tendiert. In der jeweiligen Gestaltung dieses allgemeinen Schicksals entfalten die Texte aber trotz der auffällig wiederkehrenden gleichen Motive und Metaphern eine je eigene Version vor allem am Schluss der Texte.

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Im allgemeinen zeitlichen Rahmen kann Heil oder Unheil mit Hilfe christlicher und mythischer Anspielungen suggeriert werden. Daneben gibt es auch Texte, die unentschieden zwischen beiden Möglichkeiten schwanken. Das Ende kann allmählich und friedlich, als Verfallen und Ermatten eintreten oder gewaltsam und plötzlich, als Zerstörung und Katastrophe. Beide Möglichkeiten können in »Herbst und schwarzer Verwesung« (»Ruh und Schweigen«, ITA III, 252) enden, also im endgültigen Tod und Nichts wie am Schluss von »Verwandlung des Bösen«: »Dem folgt unvergängliche Nacht« (ITA III, 290) und von »Traum und Umnachtung«: »die Nacht das verfluchte Geschlecht verschlang« (ITA IV.1, 69). Das Bemühen des Autors besteht aber darin, dieses hoffnungslose Ende zu vermeiden oder Alternativen zu finden, zumindest aber Negatives mit Positivem auszubalancieren, wie mit der schon bemerkten »Gegenbildlichkeit« z. B. der Schilderung glücklicher Zeiten wie der Kindheit und der ersten Liebe geschieht, die mit dem Frühling assoziiert werden. Die Beobachtung des Verfalls der Natur und des Verlustes an Lebendigkeit kann in den frühen Reimgedichten zu einer besinnlichen und dichterischen Einkehr am Abend führen wie in »Abendmuse« und »In den Nachmittag geflüstert«. Ebenso ist eine ergebene Resignation und Einwilligung in den Untergang möglich, die an eine christliche Haltung erinnert wie in »Verklärter Herbst« und »In ein altes Stammbuch« (»Demutsvoll beugt sich dem Schmerz der Geduldige«, ITA II, 105). In den reimlosen Gedichten der mittleren Zeit nach 1912 erscheint die Tendenz zu Verwesung und Tod oft in Gestalt des Verlusts der glücklichen Vergangenheit. Durch Erinnerung, Gedenken oder Vision kann in der Erlebniszeit des Einsamen oder Abgeschiedenen dem die Wiederkehr des Verlorenen entgegengesetzt werden, so in Gestalt des mythischen, unsterblichen Knaben Elis oder der wiederauftauchenden Figuren des glücklichen früheren Ich und der immer stärker zum Idol überhöhten Schwester seit den »Rosenkranzliedern«. Trakl schafft sich damit einen persönlichen Mythos, dessen herbstliche und abendliche Erlebniszeit auf ein Fort-

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leben der verlorenen Vergangenheit in der Form der Dichtung hindeutet (vgl. Vietta und Kemper 1975, 239), so der Schluss von »Offenbarung und Untergang«: »und da ich anschauend hinstarb, starben Angst und der Schmerzen tiefster in mir; und es hob sich der blaue Schatten des Knaben strahlend im Dunkel, sanfter Gesang« (ITA IV.2, 70). Die problematische Alternative in den mittleren und späten Gedichten ist die Wiederkehr traumatischer nächtlicher Momente, die mit Zerstörung, Gewalt, Aufruhr und verbotener Sexualität verbunden sind. Zu den verschiedenen Formen der Schicksalszeit gehört die Anspielung an den mythischen Aufstand der Titanen und ihre Bestrafung z. B. in »Die Nacht« und »Klage« (II), sowie der Abfall Luzifers von Gott z. B. in »Verwandlung des Bösen« und »An Luzifer« um »Mitternacht« mit einer Parallele zu Ikarus. Rebellion wird wie die verbotene und gewalttätige Sexualität als böses schuldhaftes Verbrechen identifiziert, das zur Vernichtung durch die Strafe führt. Mythos und christliche Lehre geben aber auch Hoffnung auf die Überwindung des Todes, die meist nur als paradoxes Ereignis angedeutet wird, so der Neuanfang nach der »Mitternacht« in »Untergang« (ITA II, 369), womit der Zyklus des Tages wieder begonnen würde, oder im Zeichen des Morgenrots und Frühlings in »Abendländisches Lied«. Der Naturzyklus endet zwar bei Trakl in der Regel final mit Tod und Dunkelheit, aber er hält potentiell den Neubeginn mit Leben und Licht offen. Insgesamt bieten die direkten und indirekten Angaben der Tag- und Jahreszeit einen Bedeutungsrahmen, der die Ober- und Tiefenstruktur übergreift und bald das Ziel des Verfalls und Untergangs signalisiert, bald einen Auslöser und Determinanten des negativen Geschehens oder eine differenzlose Gleichzeitigkeit von Vergangenheit und Gegenwart darzustellen scheint. Letzteres gilt vor allem für die späten Gedichte, in denen der Zeitverlauf ein impliziter Teil des bedeutungsvollen Geschehens ist. Die Mythisierung der Zeit selbst kann sich auf das Modell der Apokalypse und der Zeitalter Ovids stützen, weil die kosmische Zeit immer schon zum My-

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thischen tendiert und z. B. die Sterne bei Trakl Schicksalssterne sind, so wie der Vogelflug, über das Zeichen des Herbstes hinaus die Sehnsucht aus dem Irdischen hinweg verkörpert. Immer aber sind, wie gezeigt werden konnte, die Hinweise auf die alltägliche oder kosmische Zeit in den Gedichten Trakls, die eine Alltagszeit, Stimmungszeit, Erlebniszeit, Schicksalszeit und Katastrophenzeit konstituieren können, markant, sprechend und bedeutungsvoll. Sie liefern einen Orientierungsrahmen oder einen Halt gegen den allseitigen Verfall und das unabsehbare Chaos der Welt, das in Trakls Gedichten zu Wort kommt. »Dagegen wird nun das Gedicht gestellt, und zwar so, dass es das Chaos nicht aufhebt […], aber zu bändigen sucht« (Killy 1960, 46).

Literatur Braungart, Wolfgang: Zur Poetik literarischer Zyklen. Mit Anmerkungen zur Lyrik Georg Trakls. In: Károly Csúri (Hg.): Zyklische Kompositionsformen in Georg Trakls Dichtung. Tübingen 1996, 1–28. Csúri, Károly: Konstruktionsprinzipien von Georg Trakls lyrischen Textwelten. Bielefeld 2016. Esselborn, Hans: Georg Trakl. Die Krise der Erlebnislyrik. Köln/Wien 1981. Esselborn, Hans: Wiederkehr und Ende. Zyklische und finale Strukturen in Gedichten Georg Trakls. In: Károly Csúri (Hg.): Zyklische Kompositionsformen in Georg Trakls Dichtung. Tübingen 1996, 87–106. Esselborn, Hans: Der antike Mythos in der klassischen Moderne. In: Katarzina Jaśtal/Agnieszka Palej/Anna Dąbrowska/Paweł Moskała (Hg.): Variable Konstanten. Mythen in der Literatur. Dresden/Wrocław 2011, 227–236. Kemper, Hans-Georg: Georg Trakls Entwürfe. Aspekte zu ihrem Verständnis. Tübingen 1970. Kemper, Hans-Georg: Nachwort zu: Georg Trakl. Werke – Entwürfe – Briefe. Stuttgart 1984. Kemper, Hans-Georg: Droge Trakl. Rauschträume und Poesie. Salzburg 2014. Killy, Walther: Über Georg Trakl. Göttingen 1960. Kleefeld, Gunther: Mysterien der Verwandlung. Das okkulte Erbe in Georg Trakls Dichtung. Salzburg/Wien 2009. Steinkamp, Hildegard: Trakl’s Landscape Code. Usage and Meaning in his Later Poetry. In: Eric William (Hg.): The Dark Flutes of Fall. Columbia (SC) 1991, 134–166. Vietta, Silvio/Kemper, Hans-Georg: Expressionismus. München 1975.

Teil XVII

Rezeption

Zur literarischen und philosophischen Auseinandersetzung mit Trakl

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Philipp Theisohn

Vorsatz Wenn die folgenden Ausführungen sich explizit der »Auseinandersetzung« mit Trakl in Literatur und Philosophie verschreiben, so unterstehen sie hiermit bereits einer vorgängigen Unterscheidung. »Auseinandersetzung«: Das verlangt zum Ersten ein zumindest konzeptuelles Verständnis von Trakls Dichtung und im Zweifel auch ihrer geistigen, ästhetischen oder kulturhistorischen Kontexte, zum Zweiten sodann den produktiven Umgang mit diesem Verständnis. Die Klarheit dieser Kriterien unterläuft die Konkretion: Wo genau verläuft etwa die Trennlinie zwischen einer epigonalen und einer intertextuellen Bezugnahme auf Trakl? Lässt sich die Evokation und Stilisierung der ›Figur‹ Trakl – beispielsweise in Else Lasker-Schülers zweizeiligem Epitaph von 1917 – bereits als eine Form der ›Auseinandersetzung‹ verstehen? Die Grenzziehung fällt bisweilen schwer, zumal in anderer Hinsicht auch eine Bezugnahme denkbar ist, die über die ›Auseinandersetzung‹ hinausgeht. So ließe sich aus Wittgensteins Äu-

P. Theisohn (*)  Deutsches Seminar, Universität Zürich, Zürich, Schweiz E-Mail: [email protected]

ßerung gegenüber Ludwig von Ficker, »ich verstehe sie [Trakls Gedichte, P.T.] nicht; aber ihr Ton beglückt mich« (Wittgenstein an von Ficker, 28.11.1914, Wittgenstein 1969, 22), durchaus folgern, dass Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus und Trakls Gedichte über ebendiesen Ton an einem gemeinsamen Projekt, nämlich zum Beispiel der Einheit von Ethik und Ästhetik arbeiten (Janik 1990). In diesem Fall bewegen sich beide Akteure im gleichen Diskursraum und begegnen sich dort auch. Allerdings erklärt sich ihr Denken und Schreiben nicht auseinander, sondern mit Blick auf das sie einschließende Dritte, das sie jeweils in ihrer eigenen Weise erhellen und dadurch auch in der Textwelt des jeweiligen Gegenübers neu verständlich werden lassen. Solch eine Rekonstruktion diskursiver Gemeinschaft ist gleichwohl nicht wirkungsgeschichtlich zu fassen. Das Augenmerk dieses Beitrags liegt somit vornehmlich auf den sich mehr oder minder explizit auf Trakl beziehenden poetischen wie philosophischen Komplexen, wobei Vollständigkeit nicht angestrebt werden kann. Die Zahl insbesondere der lyrischen Trakl-Kontrafakturen und Reminiszenzen ist gewaltig, der Einfluss von Trakls Dichtung auf die Lyrik des 20. Jahrhunderts so offensichtlich (vergl. Weichselbaum 2013), dass er exemplarisch dort aufgewiesen sei, wo seine Transformation auch literaturgeschichtliche Bedeutsamkeit erlangt hat.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_103

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Trakl mit Kierkegaard: zur frühesten Rezeption im Umfeld des Brenner Trakls Rezeption zu Lebzeiten untersteht einer gespaltenen Wahrnehmung, die nicht zuletzt durch die besondere publizistische Konstellation bedingt wird, in die sein Werk eingelassen ist. Einerseits erscheinen seine beiden Gedichtbände im Leipziger Kurt Wolff Verlag, der erste davon 1913 als Band 7/8 der Reihe »Der jüngste Tag«, wodurch Trakl nach außen hin in die Phalanx des Expressionismus einrückte. Trakl steht hier in einer Linie mit Carl Ehrenstein, Emmy Hennings, Franz Werfel und Ferdinand Hardekopf, aber auch mit Kafka, dessen Der Heizer im gleichen Jahr in der Reihe erschien. Von hier aus lässt sich eine Traditionslinie der Trakl-Rezeption weiterverfolgen, die sich dann mit der postumen Aufnahme von zehn Gedichten Trakls in Kurt Pinthus’ Menschheitsdämmerung 1919 verfestigt. Gelesen wird diese Dichtung dort als Stimme in einer generationellen ›Symphonie‹, als Zeugnis der gleichen Wirklichkeitszertrümmerung, die man auch bei Alfred Lichtenstein, Jakob van Hoddis oder August Stramm findet und deren eigene Prophezeiung sich an ihr im Ersten Weltkrieg erfüllt. Eine solche Perspektivierung Trakls hält der vergleichenden Lektüre freilich nicht stand. Nicht zuletzt die ländliche Sujetorientierung als auch die immer wieder auftretende romantisierende Kehre trennen Trakls additiven Zeilenstil von dem seiner expressionistischen Zeitgenossen. Auf der anderen Seite bleibt die Auseinandersetzung mit Trakls Werk trotz seiner frühen Eingliederung in die deutschsprachige Avantgarde zunächst auf einen kleinen Kreis, nämlich das Umfeld des Brenner beschränkt. Tatsächlich verantwortet dieses Umfeld zu großen Teilen selbst diese Exklusivität und trägt für die einstweilige Nicht-Rezeption Trakls außerhalb Österreichs eine nicht unerhebliche Mitverantwortung. Infolge der Zerwürfnisse und Fehden, die insbesondere das Verhältnis der Brenner-Herausgeber- und Autorschaft zu den führenden Zeitschriften des deutschen Expressionismus, zum Sturm und zur Aktion,

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unterhalten, fallen auch Trakls Gedichte unter die Logik der Lagerbildung (Klettenhammer 1990, 235–248). Zeichneten für diese Entgegensetzung nicht zuletzt die von Kierkegaards Paradoxalchristentum eingeholten Grundsatzdebatten im Brenner verantwortlich, die sich schlecht mit der politisch-aktionistischen Seite der deutschen Expressionisten vertrugen, so avanciert Trakl im Tod zur Ikone dieser programmatischen Profilierung der Zeitschrift, wie sie sich dann auch im Brenner-Jahrbuch 1915 manifestiert, das das Gedenken an Trakl mit Theodor Haeckers Übersetzung von Kierkegaards Vom Tode verbindet. Diese geistige Einhegung Trakls, in deren Horizont dann auch wie von selbst die Zusammenführung von Text und ›Gestalt‹ erfolgt, wird zweifellos maßgeblich vom Selbstverständnis der Gedenkenden getragen. Doch auch wenn die »irrige Vorstellung, der Dichter habe sich zu Lebzeiten in Innsbruck in einem esoterischen Zirkel bewegt und habe dessen apokalyptische Sicht auf die Wirklichkeit programmatisch mitvollzogen« (Methlagl 1981, 18), schon längst der literarhistorischen Aufarbeitung zum Opfer gefallen ist, so lässt sie sich als eine Deutungsfolie gleichwohl nicht übergehen; liegt in ihr doch bereits der gedankliche Kern der existenzialistischen Rezeption Trakls nach dem Zweiten Weltkrieg beschlossen. Von Interesse ist dabei erwartungsgemäß weniger die Frage nach einer ›Kierkegaardschen Confessio‹ Trakls, die es de facto nicht gibt. Auch ist die durch Hans Limbach kolportierte Auseinandersetzung Trakls mit Carl Dallagos Nietzscheanismus und der diesem entgegengesetzte Selbstentwurf »Ich bin Christ« (Limbach 1926, 106) in diesem Zusammenhang nur von sekundärer Bedeutung. Rezeptionsgeschichtlich relevant wäre hingegen die Beziehung zwischen der Kierkegaard-Lektüre im Brenner-Umfeld und den Identifikationsangeboten, die Trakls Dichtung dieser Lektüre unterbreiten konnte. Den ersten Hinweis gibt Haeckers oben erwähnte Übersetzung von Kierkegaards Vom Tode, die im fünften Jahrbuch des Brenner eingefasst wird von Trakls letzten Gedichten und einem Abdruck von »Offen-

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barung und Untergang«. Die Einschaltung Kierkegaards erfolgt an dieser Stelle programmatisch: Vom Tode stellt hier weniger einen Nekrolog dar, als dass der Text vielmehr Trakls Schaffen und Erscheinung kommentiert und dabei selbst einer nekrologischen Poetik unterstellt. Entscheidend ist dabei zunächst die Position des ›Ernstes‹, in die sich nur einfinden kann, wer »den Tod denkt, ihn als sein eigenes Los denkt, und […] so fertig bringt, was ja der Tod nicht vermag: daß er ist und der Tod auch ist« (Kierkegaard 1915, 20). Das ist die Position, an der dieser früheste Rezipientenkreis Trakls Dichtung verortet: Es handelt sich um eine Rede, die im Bewusstsein des eigenen Todes erfolgt. Zentral wird hierbei – noch zu Lebzeiten Trakls – der Begriff der »Abgestorbenheit«, der von Kierkegaards Die Krankheit zum Tode (Kierkegaard 1957, 42 = XI, 157) über Haeckers Schrift Sören Kierkegaard und die Philosophie der Innerlichkeit (1913) und deren ausführliche Besprechung durch Carl Dallago 1914 in den Brenner wandert (Dallago 1914, 526). Bereits ein Jahr zuvor hatte Karl Borromäus Heinrich die eigene Sprechposition in der Zeitschrift dadurch markiert, indem er in ihr zwei »Briefe aus der Abgeschiedenheit« veröffentlichte, deren zweiter ein nachhaltig wirksames Trakl-Portrait ist, das dann auch im Erinnerungsbuch von 1926 wieder abgedruckt wird. Abgestorben, abgeschieden sein, wird dort bereits zur eindeutigen Kennung von Dichtergestalt wie Dichtung: Trakl spricht aus einem Jenseits heraus, er »steigt […] in seine Seele hinab, er versinkt in sich selber«, »seine Stimme [klang] nicht zum Nachbarn gewendet, sondern wie von weither; in ihrem Ton lag Grollen« (Heinrich 1913, 509, 512). Vorbereitet wird durch diese Jenseitsstellung natürlich in erster Linie die Phänomenalität des poeta vates. Begründet ist die Abgeschiedenheit – eine Verortung, die im »Gesang des Abgeschiedenen« durch Trakl aufgenommen wird – freilich durch die Teilhabe an einer überpersönlichen Wirklichkeit, am »Hinsterben des Abendlandes«, dessen »Offenbarung« Heinrich im »Helian« zu entdecken

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glaubt (ebd., 515). Trakls Lyrik gibt Zeugnis von einer untergehenden Welt. (Fühmanns »Erfahrung« wird später hier anschließen.) Sie ist Ausdruck eines Menschen, »der seine Zeit in sich trug und an ihr litt« (Mahrholdt 1926, 82) – und sie weiß auch um die Ursache dieses Leidens. Eingelassen sei diese Dichtung in das Bewusstsein einer Versündigung, die sich mit Kierkegaard nicht nur als eine Fortpflanzung der Erbsünde von Generation zu Generation, sondern als ein notwendiges Herabsinken in Sünde durch die Geschichte der Menschheit hindurch verstehen lässt – eine Geschichte, die ohne Versündigung in der Geschlechtlichkeit nicht existiert (Kierkegaard 1958, 47 = IV 319). Dass »die Menschheit [nie] so tief gesunken [war]«, dass sie »gar nicht so tief sinken« konnte, wie Trakl Limbach zufolge konstatiert haben will (Limbach 1926, 107), fügt sich in das christologische Deutungsschema schlüssig ein. Trakl ist nicht nur Seher, sondern trägt auch »die Botschaft des unverfälschten Christentums im Herzen« (Mahrholdt 1926, 82), insofern er die Sündhaftigkeit der Welt auf sich nimmt und die Buße stellvertretend für die »Menschheit« durchleidet. In dieser Projektion des ›Selbstopfers‹ wurzelt die christologische Verklärung Trakls und die Deutung seiner Verse als »Erlöserspur« (von Ficker 1926, 202). Ihren Ankerpunkt im Werk finden sie in jener Zettelnotiz, die Trakl »vor seinem Abgang ins Feld« im August 1914 übergeben haben will und die auch das Eingangsmotto des Brenner-Jahrbuchs 1915 bildet: »Gefühl in den Augenblicken totenähnlichen Seins: Alle Menschen sind der Liebe wert. Erwachend fühlst du die Bitternis der Welt, darin ist alle deine ungelöste Schuld; dein Gedicht eine unvollkommene Sühne« (ITA IV.2, 323). Der letzte Halbsatz weist bereits den Weg in die Poetologie: Das Gedicht ist Sühne – und zugleich ist es darin notwendig unvollkommen, denn es führt die Schuld, die zu sühnen ist, in ihren luziferischen Aspekten immer mit sich, lässt somit ein Bewusstsein von Versündigung überhaupt  erst entstehen. Wie Kierkegaards Angst erklärt Trakls Lyrik einerseits »die Erbsünde nach rückwärts auf ihren Ursprung zu« (Kierkegaard 1958, 44)

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und stiftet andererseits dadurch auch wieder die Grundlage eines Erlösungsdenkens, wie es von Fickers »Vorwort zum Wiederbeginn« des Brenner 1919 im Rückgriff auf Trakls »An die Verstummten« (»Aber stille blutet in dunkler Höhle stummere Menschheit, / Fügt aus harten Metallen das erlösende Haupt«) beruft. Bezieht eine solche Stilisierung Trakls als Künder von Verfall und Wiedergeburt – mit all den daraus entstehenden Härten in der konkreten Interpretationsarbeit – ihre Legitimation fraglos vor allem aus dem Kontext einer durch den Weltkrieg geprüften, dezimierten und um ihr Reflexionsforum gebrachten geistigen Gemeinschaft, so ist sie auch nicht ohne Konsequenzen für die ontologische Einordnung der Dichtung. Insofern sie nicht den Tod als Gegenstand, als Sujet hat, sondern selbst aus dem »totenähnlichen Sein[]« kommt, ist sie – folgt man Kierkegaards Vom Tode – Ernst und eben nicht »Stimmung« (Kierkegaard 1915, 19). Das Wesentliche an dieser Unterscheidung ist der fehlende Einbezug eines Andern: Den Tod eines Anderen zu imaginieren, mag erschüttern; sich aber in die »Gleichheit des Todes« versetzen, macht einsam (ebd., 38). Einsamkeit, in Kierkegaards Horizont das Grundbedürfnis jedes Menschen, in dem »Geist ist« (Kierkegaard 1957, 64 = XI 176), zeichnet aber auch die Traklsche Sprache in ihrer Unverständlichkeit. Ferdinand Ebner, der im Brenner Auszüge seiner Schrift Das Wort und die geistigen Realitäten (1921) vorveröffentlichte, stellt die Verbindung postum her: »Wer das Bedürfnis hat, vom andern verstanden zu werden – und am stärksten hat es das Genie und leidet am meisten darunter – wer in der Unbefriedigtheit dieses Bedürfnisses und nicht anders die Einsamkeit des Lebens gewahr wird, der will immer auch noch die Respektierung seiner Einsamkeit von den andern: […]. Je tiefer sich ein Mensch in der Einsamkeit seines Lebens versteht, desto mehr hebt sich sein Bedürfnis verstanden zu werden von selber auf« (Ebner 1920, 248). Die Unverständlichkeit von Trakls Lyrik findet ihren Grund im Status der Einsamkeit als Gleichwerden mit dem Tod, dessen Entscheidung ebenfalls unverständlich bleibt: »der Tod selbst erklärt nichts«

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(Kierkegaard 1915, 47). Sichtbar wird durch Trakl somit kein innerweltlicher Sinn, in seinen Bildern gestaltet er letzten Endes immer nur das ›Verstummen‹ vor dem Anderen. Er bleibt der »Unkenntliche«, wie ihn Kierkegaards Kritik der Gegenwart – im Juli 1914 im Brenner veröffentlicht – nennt. Derjenige, der Gott untersteht, kann in einer Welt der »Nivellierung« nicht mehr hervortreten, ohne dass sein Wort selbst kontaminiert würde. Er darf sich nicht »unterstehen direkt zu helfen, sich direkt zu äußern, direkt zu lehren«; bleibt er seiner Weisung treu, kann er der verarmten Wirklichkeit nur durch die »leidende Handlung« entgegentreten, Zeichen geben (Kierkegaard 1914, 883 f.). Und als eine solche liest man hier Trakls Gedichte: als ein Vermächtnis »aus des Einsamen knöchernen Händen« (ITA II, 303). (Nicht von ungefähr gehört »Nähe des Todes« zu den prominenteren Texten im Brenner-Umfeld.)

Eine »linoshaft Mÿthische[]« Gestalt: Die Anfänge der literarischen TraklBeschwörung Die Semantik, die sich mit jener ersten Rahmung von Trakls Dichtung verbindet, verbleibt keineswegs im Brenner-Kreis und entstammt auch nicht diesem allein, sondern findet sich durchaus auch bei Zeitgenossen wie Rilke wieder, der – auch er ein Bewunderer des »Helian« – 1915 an Ficker schreibt, dass in der Lektüre Trakls »selbst der Nahstehende immer noch wie an Scheiben gepreßt diese Aussichten und Einblicke erfährt, als ein Ausgeschlossener: denn Trakl’s Erleben geht wie in Spiegelbildern und füllt seinen ganzen Raum, der unbetretbar ist, wie der Raum im Spiegel« (von Ficker 1986– 1996, II, 91). Die spatiale Imagination dieser Dichtung entlang des Paradigmas ›Ausgeschlossen/Eingeschlossen‹, also die wörtliche Auslegung von ›Hermetik‹, schreibt sich auch hier fort, wobei – wie in jeder Veranschlagung hermetischer Zeichenordnungen – das eigentlich Interessante die Grenzverläufe zwischen lesender und gelesener Welt sind. In Rilkes ›Spiegel‹-Metapher wird dabei unausgesprochen eine

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intrikate Verschränkung von Gedicht und Rezeption formuliert: Wer den gespiegelten Raum einsieht, wird immer auch selbst gespiegelt, gehört mithin selbst in diesen Raum und konstituiert diesen mit, wird sich selbst dabei also zugleich unverfügbar wie überhaupt erst in einem konkreten Wirklichkeitszusammenhang zum Bild sichtbar. Dass sich die Bildwelt Trakls vom ihr begegnenden Subjekt so wenig lösen lässt wie sie ihm verfügbar ist: Diese Struktur ließe sich auch über die zweite Allusion erhärten, die Rilke in diesem Brief einflicht, wenn er »Trakl’s Gestalt« »zu den linoshaft Mÿthischen« zählt (ebd., 87). Der mythologische Umriss, in den Trakl hier einrückt, der Umriss des Musensohnes Linos, wird primär bestimmt durch einen Gesang, der über den Sänger tödlich hereinbricht. Linos, nach Diodorus der Entdecker von Sprachrhythmus, Erfinder der griechischen Letternschrift und Meister der Dichtkunst, vermag zwar Orpheus und Thamyras in Dichtung und Saitenspiel zu unterweisen, an Herakles scheitert er jedoch und wird – nachdem er dessen Unbegabtheit mit Ruten bestraft hat – von diesem mit der Lyra erschlagen (Diod. Sic. 1967, 305–307 =  III.67.1/2). Indessen gibt Rilke in der ersten der Duineser Elegien (die 1912 entstanden ist) dem Mythos dann noch eine andere Wendung: »Ist die Sage umsonst, daß einst in der Klage um Linos / wagende erste Musik dürre Erstarrung durchdrang; / daß erst im erschrockenen Raum, dem ein beinah göttlicher Jüngling / plötzlich für immer enttrat, das Leere in jene / Schwingung geriet, die uns jetzt hinreißt und tröstet und hilft«, heißt es dort (Rilke 1996–2003, II, 203 f.). Damit aber wird der Ursprung der Dichtung, die »erste Musik« nicht beim Dichter selbst, sondern erst aus der aus seinem Tod erwachsenden Klage verortet. Erst im (Selbst-)Ausschluss des Sängers aus dem Raum der Rede kann in diesem Raum Dichtung entstehen, können an seiner Stelle dort Schwingungen freigesetzt werden. Rilkes Schwingungspoetik, eng mit seiner Konzeption eines ätherischen Raums verknüpft (Christian 2020), kann sich Trakls Beispiel umgehend anverwandeln: Der Dichter, der schon zeitlebens ein Ab-

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geschiedener ist, schafft in der Entscheidung zur Seklusion seinen Worten den Raum, in welchem diese mit und durch diejenigen, die sie empfangen, zu einer anderen, ›erschrockenen‹ Wirklichkeit sich fügen. Sein tatsächlicher Tod mag dabei Anlass zum Gedenken geben, erweist sich jedoch nur als die letzte Folge dieser Konstellation und verbürgt die Unwiderruflichkeit der Leere. Ungeachtet der oben bereits angesprochenen programmatischen Spannungen zwischen dem Brenner und der Aktion – Spannungen, die nicht zuletzt auf das Wirken Karl Kraus zurückzuführen sind (Klettenhammer 1990, 242) – publizieren mit Albert Ehrenstein und Else LaskerSchüler ein Mitarbeiter und eine Mitarbeiterin der Aktion auch im Brenner. Es ist kein Zufall, dass just diese beiden dann auch jeweils Gedenkgedichte anlässlich von Trakls Tod verfasst und publiziert haben. Ehrensteins Gedicht, 1915 in Die weißen Blätter veröffentlicht, besingt dabei trochäisch ein Du, das im Untergang seinen Wiederaufgang erfährt (Ehrenstein 1989–2004, IV/1, 91). Die Entgegensetzung von ›Steigen‹ und ›Sinken‹, die bereits in den beiden Eingangszeilen (»In dem Baum, der aufwärts wandert, / geht die Glocke ABEND unter«) eingefasst ist, bestimmt die drei Quartette bis zum Schluss: Nach dem Abstieg in den »Schatten blauer Tiefe« begibt sich das Du auf »lichte Reise«, die es »zum stillen Reigen, / hoch und höher über allem« führt. Nicht das Jenseits erscheint dabei als Reich des Todes, sondern die ›Lebensheimat‹, in welcher der Besungene eben bereits ein Totendasein führen musste. Die Schlusszeile stellt zudem die Einlösung jener Pragmatik in Aussicht, die der Lyrik per definitionem entzogen ist, warten in der Höhe »über allem« doch »Wo, Warum und Wann und Wie.« Die Dichtung – und folglich Ehrensteins Gedicht selbst – erscheint hierin als die notwendige Sprache des Exils, deren Unverständlichkeit im ›toten‹ Diesseits nicht aufgehoben werden kann. Die Widmungsgedichte Else Lasker-Schülers zählen zweifellos zu den bekanntesten Dokumenten der literarischen Trakl-Rezeption. Sie verdanken sich der persönlichen Begegnung in Berlin im März 1914, in deren Rahmen Trakl

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Lasker-Schüler seinen Band Gedichte überlassen (Lasker-Schüler 1996–2010, VII, 28) und die sich auf Trakls Seite im Lasker-Schüler gewidmeten »Abendland« (II) manifestiert hat (ITA IV.1, 201). Zwei Wochen vor seinem Tod hatte sich Lasker-Schüler noch bei Ficker nach Trakls Aufenthalt erkundigt, um diesem ins Feld »Chokolade senden« zu können (Lasker-Schüler 1996–2010, VII, 65). Die Nachricht von Trakls Tod trifft sie schwer (»ich bekam sofort einen Herzkrampf und kann noch nicht richtig atmen«, ebd.), zumal sie auch mit Trakls Schwester Grete, die mit dem Berliner Theaterverleger Arthur Langen verheiratet war, bekannt ist und dieser in ihrem untröstlichen Zustand zunächst sogar nächtlichen Beistand leistet (ebd., 66). (Bald darauf wird sie sich, abgeschreckt von Gretes Antisemitismus, von dieser abwenden; ebd., 72 f.) Wenn sich auch die explizite Kommunikation zwischen beiden Werken auf die jeweiligen Widmungsgedichte und insgesamt fünf Briefe beschränkt (die beiden Briefe Trakls – darunter eine am 25. Oktober aus dem Krakauer Lazarett abgeschickte, die Adressatin aber zu spät erreichende Verzweiflungsnachricht [ITA V.2, 680] – sind noch dazu verschollen), so ist sie als solche dennoch ernst zu nehmen. So ist auch das »Georg Trakl †« überschriebene Gedicht, das Lasker-Schüler im Oktober 1915 an Karl Kraus schickt und das noch im gleichen Jahr im Zeit-Echo erscheint, mehr als ein Nekrolog. Inszeniert wird Trakl dort als Gegenüber eines poetischen Dialogs: »Wir stritten über Religion; / Aber immer wie zwei Spielgefährte; / Und bereiteten Gott von Mund zu Mund; / Im Anfang war das Wort!« (LaskerSchüler 1996–2010, I.1, 181). Die Differenz in diesem Streit markiert das Gedicht vordergründig als eine interkonfessionelle: Trakls Gedichte verwandeln sich in »singende Thesen«, evozieren einen historischen Phänotyp: »Er war wohl Martin Luther.« Leicht ist es, solche Zeilen zu biographisieren und auf Trakls durchaus prononcierten Protestantismus zu beziehen. Indessen führt der Luther-Vergleich hier eben auch einerseits zum Reduktionismus der Heiligkeit auf das »Wort« (in dem Gott ›bereitet‹ wird),

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anderseits aber auch auf die Buße, der das ganze Leben der Gläubigen unterstellt sein soll (denn das ist eben die erste der 95 Thesen Luthers) – und die sich wiederum mit dem Verständnis der Dichtung als Akt der ›Sühne‹ (s. o.) verbindet. Zugleich bettet das Gedicht die Göttlichkeit des Wortes in das Narrativ der Epiphanie ein. Trakls Worte, die »Auf blauen und weißen Wolken« hervorkommen, weisen auf die himmlische Abkunft des Besungenen: »Er war als Knabe einmal schon im Himmel« – und dorthin kehrt er zurück, nachdem er, »[s]eine dreifaltige Seele […] in der Hand«, in den »heiligen Krieg« gezogen und dort gestorben ist. Die Christologie des Erinnerungsbildes wird dabei gerahmt durch Isotopien, die Lasker-Schüler und Trakl tatsächlich teilen und auf unterschiedliche Weise bespielen: die Augen, der Himmel, die Wolken, die Seele, der Abend, der Schatten, das Zimmer. Nicht zuletzt die ›blaue Wolke‹ als Gesicht des oder der Geliebten verbindet die Dichtung beider: Bei Trakl erscheint sie in »Unterwegs« (II) (»Eine blaue Wolke / Ist dein Antlitz auf mich gesunken in der Dämmerung«, ITA II, 481); bei Lasker-Schüler in »Aber deine Brauen sind Unwetter…« (»Ich bin ein Stern / In der blauen Wolke deines Angesichts«, Lasker-Schüler 1996–2010, I.1, 178). Ungleich bekannter als jenes erste Gedicht auf Georg Trakl ist Lasker-Schülers zweizeiliges Epitaph, erstmals 1917 in ihren Gesammelten Gedichten abgedruckt: »Georg Trakl erlag im Krieg von eigener Hand gefällt. / So einsam war es in der Welt. Ich hatt ihn lieb« (ebd., 198). Auffällig erscheint hier die erneute Kopplung Trakls an den »Krieg«; sie wird sich in Lasker-Schülers Werk dann noch ein drittes Mal wiederholen, denn auch das bereits 1907 veröffentlichte »Mein Lied« widmet sie beim Wiederabdruck in den Gesammelten Gedichten »Meinem gefallenen, lieben Krieger Georg Trakl« (Lasker-Schüler 1996–2010, I.2, 147). Im Epitaph wird die martialische Kulisse seltsam gebrochen. Zum Ersten metrisch, denn der ›marschierende‹ Jambus kann erst in der zweiten Zeile in reiner Form voranschreiten, in der ersten Zeile wird er durch die Doppelsenkung, deren erste Trakls Vorname »Georg«, deren

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letzte die »eigene Hand« ausmacht, noch aus dem Tritt gebracht (Hamburger 2003, 217 f.). Erst mit der Selbstauslöschung wird der Rhythmus des Krieges somit bestimmend. Trakl ist »Krieger« nur, insofern er den Krieg sich einverleibt, ihn an sich vollzieht. Dieser Krieger fällt nicht, sondern er fällt sich. Die auffällige Verbwahl lässt den Krieg gleichwohl nicht als Instigator dieses Todes erscheinen, sondern nur als Modus, in dem sich ein Schicksal erfüllt: Trakl ›erliegt im Krieg‹ – einer Krankheit. Dieses reicht in seiner Bedeutsamkeit weit über das hinaus, was im ersten Widmungsgedicht Lasker-Schülers der – in Anführungszeichen gesetzte – »heilige Krieg« genannt wird. Das Leiden und der Tod jenes Kriegers sind tieferen Ursprungs, entstammen einer grundsätzlichen Befragung der Welt, die mit dem Selbstmord Trakls verschwindet und durch den Krieg verdeckt wird. Die im Binnenreim »gefällt« – »Welt« hergestellte Verbindung von Freitod und Einsamkeit kann dabei in beide Richtungen, als kausale wie als resultative Folge gelesen werden: Ein Mensch stirbt »von eigener Hand« und die lyrische Stimme verspürt hierdurch die Einsamkeit; ein Mensch muss von eigener Hand sterben, weil es »so einsam« »in der Welt« war. Was die Deutungen trennt: Im ersten Fall erklärt der Schlusssatz »Ich hatt ihn lieb« die gefühlte Welteinsamkeit der Sprechinstanz, im zweiten Fall stemmt sich der Satz ihr entgegen – die Liebe der Trauernden bezeugt des Einsamen Trug. In eins gelesen: Die Einsamkeit erfüllt sich an beiden, am Betrauerten wie an der Trauernden, und jene geteilte Einsamkeit bezeugt zugleich, dass die Welt tatsächlich einst nicht »so einsam war«. In der Gegenwart jedoch assoniert das »lieb« mit »Krieg« und die Liebe ist als eine unerfüllte ins Präteritum gefallen. Zurück bleibt eine verhinderte Rede, und man mag durchaus an Trakls Nachricht an Lasker-Schüler aus dem Lazarett erinnern, deren verspätetes Eintreffen – »ich wäre ja sofort abgereist« (ITA V.2, 680) – diese schicksalhaft deutet. Schon früh befreit sich das Erinnern Trakls und die in diesem Erinnern sich abzeichnende Persona zugleich von persönlicher Bekannt-

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schaft. Zu den ersten, die Trakl öffentlich gedenken, ohne ihn gekannt zu haben, gehört neben Albert Ehrenstein etwa Johannes R. Becher. Bereits in seinem Weltkriegsgedicht »An Europa« (1916) hatte Becher die im Krieg gefallenen Dichter gereiht, unter ihnen – neben Ernst Stadler, Hans Leybold und Alfred Lichtenstein – »Du Georg Trakl aber –: einsamstes (melancholisches) Gedicht« (Becher 1966, 218). Im gleichen Jahr veröffentlicht Becher auch das Gedicht »Der Entfernte · Georg Trakl« in den Weißen Blättern. Trakl erscheint darin weniger als derjenige, der ›entfernt wurde‹ als vielmehr als ein ›entfernter Verwandter‹. Die Anfangs- und Schlussstrophe, die beide mit den Versen »Er geht durch Wälder. Lautlos unbewegt. / Wo gar kein Raum ist in der Luft zum Schrein« (ebd., 289) eröffnen, entwerfen eine Traklsche Landschaft, die in der zweiten Strophe mit Mond, Sternen und dem »schwarzen Quell« (den es allerdings bei Trakl in schwarz nicht gibt) mit weiteren Requisiten aus Trakls Thesaurus angereichert wird. Den Träumer, der schlafend »sich ins Horn des Hirsches« einhängt, führt sein Weg in den Folgestrophen sodann in Szenerien, die eindeutig dem deutschen Expressionismus zugeschlagen werden müssen; in die Großstadt, wie sie Becher selbst etwa in »Erwachen der Städte« anruft: »Böller«, »Festsalut«, »gestreckte Schlote«, »der Straße bunter Ton«, gefolgt von zerklüfteter Syntax, Neologismen, Verbalsubstantiven (»Wo Brüllen …. Haufen schleifen an. Lang Wischen –«), die so typisch für den Frühexpressionismus wie untypisch für Trakl sind. Die Faszination der vom Menschen entkoppelten Stimmmechanik, die im »Grammophon« aufgerufen wird, teilen diese Welten nicht. Die Bechersche Avantgarde bleibt somit der Traum eines entfernten Toten, der gleichwohl – der Reihungsstil verrät es noch – Verwandtschaft bleibt und seinen Kopf am Ende »brüderlich ins Moosgestein« schlägt. Im literarischen Diskurs des Folgejahrzehnts ist Trakls Fortleben nicht wirklich reichhaltig dokumentiert. Für das Umfeld des Brenners ist die Umbettung und neuerliche Beerdigung Trakls auf dem Mühlauer Friedhof 1925 nochmals Anlass zur Auseinandersetzung;

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außerhalb Österreichs sind vereinzelte Lebenszeichen zu sichten, die in literarischer Hinsicht vernachlässigbar scheinen, die gleichwohl Auskunft über das Trakl-Bild der 1920er zu geben vermögen. Zu ihnen zählt etwa der Kurzessay »Über Georg Trakl«, den der erst 17jährige Klaus Mann einen Monat vor Trakls zehntem Todestag 1924 in der Weltbühne veröffentlicht. Es handelt sich zweifelsfrei um einen Text aus der Defensive: Ein Jugendlicher begründet sein Einstehen für Trakl, führt seine Lieblingsgedichte an (»Verfall« (II), »Traum des Bösen«, die »Elis«-Lieder), zieht den Hölderlin-Vergleich und charakterisiert Trakls Dichtung als »ununterbrochenes, verworren-süßes Lied von seiner untröstbaren, von seiner tiefen, tiefen Schwermut« (Mann 1924, 504). Erschwert wird dieses offensichtlich identifikationsgetriebene Portrait jedoch durch den Einspruch von außen: »Ihr sagt von ihm: Seine Technik wiederholt sich. Sein Wortschatz ist kein allzu großer. Wäre er nicht früh gestorben – fast ein Knabe noch –, es wäre auf die Dauer ein wenig langweilig geworden« (ebd., 505). Referenziert wird somit zunächst einmal eine abwertend-kritische Haltung gegenüber Trakls Werk, deren Vertreter (»ihr«) nicht genannt werden. Geschlossen werden kann aus Manns Einlassung gleichwohl, dass es einen lebendigen Diskurs über den Stellenwert von Trakls Dichtung gibt, dass dieser Diskurs – abseits der Verehrung im BrennerUmfeld – Trakls Sonderstellung innerhalb der Lyrik der Modernen nicht unhinterfragt lässt, sondern die reduktiven Züge seiner Poetik bisweilen auch gegen seine Dichtung wendet. Bedeutsam ist in gleichem Maße, dass Manns Verteidigung auf die ästhetisch-technischen Vorbehalte überhaupt nicht eingeht, sondern ihnen nur ein einziges, ganz auf die Gestalt Trakls zielendes Argument entgegenstellt: »Er aber war der Schwermütigste von Allen« (ebd.). Sichtbar wird das Trakl-Bild der 1920er auch in Robert Walsers Gedicht »An Georg Trakl«, das 1928 in der Prager Presse abgedruckt wurde und sich auf den ersten Blick als »rückhaltlose Bewunderung« (Bönnighausen 2004, 55) ausnimmt. Gleichwohl darf man seinen Werkkontext nicht außer Acht lassen, denn auch,

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wenn der Trakl-Leser vorgibt, »immer würden deine Verse mir zum Schmause / gereichen« (Walser 2008 ff., III.4.1, 353) und er sich bei der Lektüre wie von »eine[r] prächt’ge[n] Chaise« getragen fühlt: Walsers Widmungsgedichte – auch die an Hesse und Rilke – spielen stets auch mit dem Klischee, das die Bedichteten umgibt (Stiemer 2010). So nähert sich Walsers Gedicht in keinster Weise dem Traklschen Ton oder Bildfeld, sondern ruft einerseits die – eben auch bei Mann schon beschworene – Hölderlin-Verwandtschaft auf und sprengt das tradierte Raster der Trakl-Verehrung andererseits mit den Versen »in einem ganz / bestimmten Sinne käme mich im Zimmer, / umglänzt vom Glanz und von dem Schimmer / der wundervollen Worte, die du fandest / kein einz’ger trauriger Gedanke an« (Walser 2008 ff., III.4.1, 353). Die Rezeptionshaltung, die hier beschrieben wird, steht in geradem Gegensatz zu der in Klaus Manns Essay beschworenen identifikatorischen ›Schwermütigkeit‹, man könnte auch sagen: Walsers Gedicht entlarvt diese Haltung als Pose, die nicht nur bestimmten Rezipienten, sondern tatsächlich dem Literaturbetrieb als solchem zugerechnet werden kann. Das Gedicht zeichnet, genau besehen, das Bild, unter dem Trakl bereits Eingang in den Kanon gefunden hat (im Gegensatz zu Walsers eigener Lyrik) – und stellt dem die Individuallektüre seiner Dichtung entgegen. Ein bemerkenswertes, wenn auch ephemeres Dokument der frühen Trakl-Rezeption liegt schließlich in der germanistischen Abschlussarbeit vor, die Annemarie Schwarzenbach 1931 im Rahmen ihrer Promotionsprüfungen (es handelt sich nicht um ihre Dissertation) an der Universität Zürich einreicht – Robert Faesi hatte ihr das Thema Trakl aufgetragen (Fähnders/Tobler 2004, 50 f.). Erwartbar ist die Fokussierung der ›Dichterpersönlichkeit‹, das Zusammendenken von Werk und Biographie, aus der die Diagnose einer »abnorme[n] Empfindsamkeit und Verletzlichkeit« erwächst; eine Gestalt, die in allem, was sie tut, »einem frühen Tod entgegen zu eilen« scheint (Schwarzenbach 2004, 61 und 63). Auch der Hölderlin-Vergleich wird abermals extensiv bemüht (ebd., 76 f.). Interessant ist anderes: Schwarzenbach verortet Trakls

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Gedichte einerseits diesseits der ›Brutalität‹ des Expressionismus und reiht diese stattdessen, beispielgestützt, in die Traditionslinie der symbolistischen Dichtung von Rimbaud über Hofmannsthal bis Rilke ein. Andererseits attestiert sie Trakls Lyrik eine »gewisse Primitivität des Erlebens« und eine Phantasie, die »krankhaft und häufig abstossend« ausfällt (ebd., 74). So langt sie am Ende bei sich in Trakls Person vereinenden »Gegensätze[n] der Empfindungsart« an, deren Entgegensetzung sich aber womöglich »uns nur« als eine solche zu erkennen gibt. Erklärung für das Rätsel »Trakl« findet sie in der Unterwerfung eines Dichters durch sein Objekt: Hier macht einen »die ganze Wirklichkeit […] leiden« und »nicht der Schmerz der Anderen, sein eigener Schmerz erschüttert ihn« – weswegen es auch »falsch« wäre, »Trakls Dichtung eine ethische Tendenz beizumessen« (ebd., 69). Die Ästhetisierung dieses Leidens am Wirklichen aber hat einen Namen: Verfall. Ablesen lässt sich an Schwarzenbachs Aufsatz – und das lässt ihn dann eben doch bedeutsam werden –, dass eine literaturgeschichtlich ausdifferenzierte Betrachtung von Trakls Werk zu Beginn der 1930er Jahre bereits eingesetzt hat und im Verweis auf den Modus des ›Erlebens‹, wenn auch rudimentär, eine phänomenologische Perspektive auf Trakls Dichtung ausgeprägt wird. Diese wird im gleichen Jahrzehnt in Werner Meyknechts Münsteraner Dissertation Das Bild des Menschen bei Georg Trakl (1934) weiter ausgebaut werden; ansonsten untersteht die Rezeption Trakls ab 1933 einer anderen Einhegung.

Zum Trakl-Bild der NS-Zeit Die nationalsozialistische Kulturpolitik hat Trakls Dichtung zweifellos ihren Narrativen eingepasst und diskursiv eingeengt, ihre Rezeption jedoch nicht unterbunden. Trakl zählte nicht zur ›artfremden Literatur‹, seine Werke wurden nicht verbrannt, sondern 1938 sogar neu herausgegeben und in dieser Edition zweimal neu aufgelegt (Sauermann 2016, 33 f.). Auch Trakls Frühwerk erschien, herausgegeben von

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Erhard Buschbeck, unter dem Titel Aus goldenem Kelch erstmals 1939. 1940 bemühte sich die Reichsschrifttumskammer Wien sogar um die unbefristete Übernahme der Pflege von Trakls Grab auf dem Mühlauer Friedhof – zum Missfallen Fickers, dem die Grabpflege unterstand (ebd., 116). Wie fügt sich solcher Respekt aber zur durchaus gängigen Einordnung Trakls als poetischer Exponent eines geschichtlichen ›Verfalls‹, als dessen Katalysator der Erste Weltkrieg und die ihm folgende Neuordnung der europäischen Großmächte, als dessen literarischer Indikator aber wiederum die Avantgarden, allen voran der (oftmals als ›jüdisch‹ etikettierte) Expressionismus galten? Nicht, dass Trakls Rezeption von diesem Narrativ unberührt geblieben wäre. Bereits die von Adolf Bartels betriebene völkische Literaturgeschichtsschreibung charakterisiert Trakl in diesem Zusammenhang mit Blick auf dessen Rauschmittelkonsum als »weichste[n] und haltloseste[n] dieser [expressionistischen] Dichter« und seine Gedichte als »rein assoziativ« (Bartels 1924–1928, III, 933). Auf der anderen Seite wird Trakls slawische Abstammungslinie mütterlicherseits bisweilen als Beurteilungskriterium seiner Lyrik herangezogen, um in der ›Blutmischung‹ einen von Trakl selbst erkannten und als »Fluch des entarteten Geschlechts« (wie es in »Traum und Umnachtung« heißt) poetisierten rassischen Verfallsprozess zu verorten (Sauermann 2016, 105). Gleichwohl handelt es sich dabei eher um Randerscheinungen. Die Umdeutungsmechanik, mit der sich der Nationalsozialismus Trakl zuwendet, wird vielleicht am deutlichsten in Josef Nadlers in vierter Auflage völlig umgearbeiteter Literaturgeschichte des deutschen Volkes (1938–1941) sichtbar, deren vierter Band Trakl nicht nur ganze zweieinhalb Seiten widmet, sondern sogar das Faksimile von »An Mauern hin« beigibt. Wie Ernst Jünger, der 1934 Trakl attestiert, er habe jenen »Zusammenhang, den das alte Österreich mit der Verwesung besitzt«, erfasst und sei »in die äußersten Tiefen ihres [der Verwesung] lautlosen Schmerzes eingedrungen« (Jünger 2018, XIV, 161), so lässt auch Nadler Trakl zu einem Diagnostiker werden, dessen Gedichte das »verfallende Leben«

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aufspüren und in sich aufnehmen, um es dann im Sprung ins Jenseits, in der »Befreiung des Geistigen und Göttlichen« zu läutern und zu überwinden (Nadler 1938–1941, IV, 456 f.). So avanciert Trakl hier zum Heros, der prometheisch eine Wirklichkeit ertragen muss, deren Niedergang aus nationalsozialistischer Sicht so gerechtfertigt wie folgerichtig war. »Schließlich überwältigt ihn der erschütternde Gedanke, am Ende einer todgeweihten Familie und inmitten einer verwesungsreifen Welt zu stehen, auf dem Sprunge, mit ihr ins Grab zu stürzen. Trakl war kein kranker, sondern ein starker Mensch mit einem dämonischen Triebleben. Weil er das Geschöpfliche und Tierhafte des Menschen in jeder Welle des Blutes spürte, hat er auch die Widerwelt von Körper und Seele am grauenhaftesten empfunden, daher das Wissen um die Natur des Bösen und um die Natur des verwesenden Lebens in einem ungewöhnlichen Maße besessen« (ebd., 457). Aus solchen Ausführungen erschließt sich die prismatische Stellung, die Trakl innerhalb der nationalsozialistischen Literaturgeschichtsschreibung zukommt und deren Verlaufslinien Eberhard Sauermann so präzise wie verdienstvoll nachgezeichnet hat (Sauermann 2016). Diejenigen, die die literarische Moderne für ein Dekadenzsymptom halten, lesen ihn als Krieger in einer von Anfang an verlorenen Schlacht und stellen ihn als Exempel des ›guten Expressionismus‹ neben Georg Heym und Ernst Stadler. Diejenigen, die sich an dem von Nadler apostrophierten »dämonischen Triebleben« stoßen, werden auf die religiöse Gegenwelt verwiesen und auf den ›Sprung‹, der aus einer überkommenen Welt zur »Heimkehr ins Göttliche« (Nadler 1941, IV, 457) ansetzt (und – das ist der hier kaum zu überhörende Subtext – aus einem untergegangenen Österreich zur Heimkehr ins Deutsche Reich). Einer Unterform dieser Lesart verdankt sich dann auch die zeitgleich einsetzende betont christianisierende Rezeption Ignaz Zangerles oder Heinrich Ellermanns, aus der dann das hervorgeht, was später die ›TraklKirche‹ genannt wird (Sauermann 2016, 105 f.). Diejenigen schließlich, die weder mit der Dichtung der Avantgarden noch mit deren religiö-

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ser Überfrachtung in Berührung kommen wollen, können Trakl weiterhin als den literarischen Strömungen enthobenen Wiedergänger Hölderlins entdecken, als der er dann – wenngleich in herabgestufter Prominenz – neben Rilke und George tritt. Festgehalten werden darf freilich, dass Trakl keine übermäßige Bedeutung im literarischen Kosmos des Nationalsozialismus zukam. Portiert wurden vor allem »Verklärter Herbst«, »Ein Winterabend« und – das als »Bekenntnis zur Opferbereitschaft« umgedeutete – »Grodek« (ebd., 49–51). Wenn auch mit Josef Weinheber der wohl am stärksten protegierte NS-Lyriker sich immer wieder zu Trakl bekennt und ihn zum »größten österreichischen Dichter« erklärt (ebd., 95 f.), so vollzieht sich die literarisch produktive Rezeption Trakls in den 1940er Jahren doch vor allem in einem Werk, das von der faschistischen Repression durchschnitten wird: bei Celan.

Celan und Trakl Dass Celans Lyrik nicht nur an Trakl ›erinnert‹, sondern tatsächlich mit Trakls Dichtung arbeitet, ist bereits hinreichend dokumentiert worden (Böschenstein 1992; Grube 2013) – nicht zuletzt durch Celan selbst, der »den Einfluß Trakls« offen eingeräumt (Wiedemann 2000, 532) und darüber hinaus sich Trakls Poetik auch über einschlägige Forschungsliteratur genähert hat. Auch im Horizont der Goll-Affäre, in der Celan sich gegen Plagiatsvorwürfe verteidigen musste (Theisohn 2009, 501–517), fällt Trakls Name immer wieder als Prüfstein der Aushandlung von legitimer und illegitimer lyrischer Aneignung. Aber wie gestaltet sich Celans Rückbezug auf Trakl konkret? Im Blickpunkt stehen zunächst vor allem Celans frühe Dichtungen, die sich in seinem 1948 erschienenen Gedichtband Der Sand aus den Urnen sammeln. Die Anknüpfung dieser Dichtung an Trakl lässt sich in der Regel über den Traklschen Thesaurus rekonstruieren, der sich in bestimmten Gedichten aufhäuft. Beispielhaft etwa in »Herbst (Ängstlich)«, das mit »Esche«,

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»Gewölk«, »Karren« gleich drei recht unzweifelhaft Trakls Kosmos entnommene Wörter aufweist (Celan 1990 ff.; I.1, 38); in »Irrsal« gilt Gleiches für das »Rosengewölk« (ebd., 101), das sich in Trakls »Frühling der Seele« (II) findet. Auch dort, wo die lexikalische Auffälligkeit gering scheint, lassen sich eigentümliche Verbindungen von Wortfeldern registrieren, die auf eine spezifische Rekurrenz schließen lassen. So bewegt sich etwa »Schöner Oktober« eindeutig an »Grodek« entlang, ruft mit den »Sterbenden«, dem »Herbst«, dem »Blut«, »Wald« und »Schwesterlein« sowie den Farbadjektiven »golden« und »rot« die Deutungsmatrix des Prätexts auf (ebd., 138). Gleichzeitig wird dabei deutlich, dass die bei Trakl noch ineinander spielenden Bildebenen von Herbst und Krieg bei Celan in ihrem wechselseitigen Bezug reflektiert und auch formal – in der Strenge des daktylisch geführten Kreuzreims – geordnet werden. Wo »Grodek« keine Juxtaposition kennt, keinen Kommentar, dort wird bei Celan der Krieg nun als solcher in den »Soldaten« und »feindlichen Salven« adressiert und mit der Sinnfrage konfrontiert, wird also eigentlich Sujet. Mit Blick auf das spätere Werk Celans lässt sich im Weiteren konstatieren, dass die Auseinandersetzung mit Trakls Farbpoetik weitergesponnen wird. Christoph Grube hat in der Sichtung von Celans Trakl-Ausgabe nachweisen können, dass Celan durchgehend Farbsubstantive, -adjektive und -adverbien unterstrichen hat (Grube 2013, 37–44) – und dass diese eingehende Beschäftigung mit den Farben Trakls, gestützt auf die Forschungen Walther Killys, in unmittelbarem Zusammenhang mit Celans Entwicklung eines ›neuen dichterischen Sprechens‹ Ende der 1950er Jahre und in Bewegung auf die »Meridian«-Rede (1960) hin steht (ebd., 110). Die Loslösung der Farben nicht nur von den mit ihnen behafteten Gegenständen, sondern auch von der Vorstellung ihrer Ursprünglichkeit und damit auch vom Konzept einer ›Farbsymbolik‹ ist für diese Re-Lektüre Trakls zentral; »das Traklsche Gedicht ist […] bereits in der Wolle gefärbt, so oder so, es bleibt, blau oder braun, das Gedicht« (Celan 1990 ff., XVI, 39). Wie sich aus einer Anmerkung Ce-

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lans in seinem Exemplar von Husserls Die Idee der Phänomenologie (Grube 2013, 107–111) schließen lässt, sieht Celan in Trakls Dichtung die Absetzung der Farbe als Essenz eines Vorstellungsinhaltes von dessen Existenz vollzogen. Die Farbwörter bei Trakl qualifizieren demnach ihre vermeintlichen ›Träger‹ nicht mehr, sondern bringen diese erst hervor, wechseln zwischen ihnen und führen deren semantische Valenz dabei mit sich. Dieser Reflexion korrespondiert in Celans Werk die konsequente Reduzierung der Farbadjektive und ihre zunehmende Autonomisierung qua Nachstellung, wie sie sich dann ab Sprachgitter (1959) finden lässt (»Tafelwand, grau«, »Ginsterlicht, gelb«, »Findlinge, Sterne, schwarz«, »Stunden, maifarben«, »Die Steine, weiß« etc., Celan 1990 ff., V, 34, 36, 47, 51, 61) sowie im Farbneologismus, der dann in massierter Form vor allem in Atemwende (1967) zu beobachten ist (›absageweiß‹, ›zeitgrün‹, das »Rotverlorene« etc.). Abseits dieser keineswegs zufälligen, sondern gesuchten strukturellen Verwandtschaft zu Trakl, als deren weiterer Ausweis auch die bei Trakl sich abzeichnende, bei Celan sich dann vollends Bahn brechende Verblosigkeit gelten kann (vergl. Böschenstein 1992, 116 f.), muss an dieser Stelle auf eine bemerkenswerte Koinzidenz hingewiesen werden, die im Nachschatten der ›Goll-Affäre‹ zutage tritt. Mit Immanuel Weißglas’ »Er« (geschrieben 1947) erscheint 1970 ein Prätext der »Todesfuge« im Druck; eine Emergenz, die Celan womöglich in den Freitod getrieben hat. Beide Texte schließen sich jedoch über einen dritten zusammen, nämlich über Trakls »Psalm« (I), dessen vorletzte Zeile lautet: »In seinem Grab spielt der weiße Magier mit seinen Schlangen« (ITA II, 25). Bei Weißglas wird daraus »ER spielt im Haus mit Schlangen« (Weißglas 1994, 107), bei Celan »Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen« (Celan 1990 ff., II.1, III.1, 65 f.); und beide Gedichte ließen sich auch tatsächlich als Aktualisierungen des »Psalm« (I) lesen. So ist über die Beziehungen zwischen »Er« und »Todesfuge«, die ja dann im »Grab in den Lüften« und im »Der Tod ist ein Meister aus Deutschland« über weitere Korrespondenzen gesteuert werden, bereits

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hinreichend viel geschrieben worden. In Bezug auf Trakls »Psalm« (I) lassen beide Gedichte erkennen, dass sie einerseits die Räumlichkeit der letzten Gedichtstrophe Trakls sowohl nutzen als auch verschieben. Die bei Trakl mit dieser Strophe einbrechende »Düsternis«, in der »tote[] Waisen […] an der Gartenmauer« liegen, »Engel mit kotgefleckten Flügeln« aus »grauen Zimmern treten« und »frühere Leben« vorbei gleiten (ITA II, 25), beruft und benennt im Grunde die bei Weißglas und Celan referenzierte Wirklichkeit des Lagers. Gerade deswegen wird sie in ihrer Bildlichkeit eben nicht übernommen, sondern nur über das ›Schlangenspiel‹ alludiert, das sowohl bei Trakl als auch in »Er« und der »Todesfuge« mit dem »Grab« verknüpft, bei den letzten beiden jedoch in die Lüfte entrückt ist. Und hier ist vielleicht die entscheidende Brechung zu sehen: Der »Psalm« wird beschlossen durch den Einbruch der Transzendenz, die Zeile »Schweigsam über der Schädelstätte öffnen sich Gottes goldene Augen« (ebd.). Bei Weißglas und Celan fehlt dieser Blick aus dem Jenseits; der Tod, die Gräber sind in ihren Gedichten bereits das ›Darüber‹. Dort, wo Trakl Erde und Himmel weitmöglichst auseinandertreibt, wird bei ihnen der Himmel mit den Toten bevölkert; Erlösung birgt er keine mehr.

Heidegger, der Ort von Trakls Gedicht und die Folgen Celans phänomenologische Auseinandersetzung mit Trakl Ende der 1950er Jahre erfolgt mit höchster Wahrscheinlichkeit bereits unter dem Eindruck einer anderen Trakl-Lektüre (Jamme 2012, 268 f.), nämlich Heideggers Abhandlungen »Die Sprache« (1950) und »Die Sprache im Gedicht« (1952). Beide Texte zählen nicht nur zu den kryptischsten Trakl-Auslegungen, sondern auch zu den kryptischsten Texten in Heideggers Werk, und ihr Verständnis setzt zunächst einmal den philosophischen Argumentationshorizont voraus, vor dem sie sich entfalten. So ist es Heideggers primäres Anliegen, »das Wesen der Sprache« zu erörtern, ohne dieses »auf einen Begriff« zu brin-

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gen (Heidegger 2018, 10), denn just die Verbegrifflichung wäre es, die das Wesen der Sprache verdeckt. Die Verdeckung ihres eigenen Wesens ist ein wesentlicher Aspekt der Phänomenologie der Sprache; das, was sie ausmacht, verschwindet hinter ihrem ›Gebrauch‹, dem »Gerede«, wie es in Sein und Zeit (1926) genannt wird. Dort findet sich auch bereits die Unterscheidung zwischen dem Wesen der Sprache und der Sprache als ›Ausdruck‹, als ›symbolischer Form‹, als »das ›bedeutende‹ Gliedern der Verständlichkeit des In-der-Welt-seins« (Heidegger 1963, 161). Im neuerlichen Nachdenken über das Wesen der Sprache kehrt Heideggers Spätwerk nun zur Problemstellung zurück, die »Sprache selbst« anschaulich werden zu lassen – und stößt dabei auf Trakls Dichtung, die ihn nach eigener Auskunft seit den ersten Abdrucken im Brenner 1912 begleitet (Heideggervon Ficker 2004, 8), als Ausweis des ›rein Gesprochenen« (Heidegger 2018, 14). So wendet er sich in »Die Sprache«, als Vortrag 1950 auf der Bühlerhöhe gehalten, Trakls »Ein Winterabend« zu – und diese Hinwendung setzt sich zum Ziel nicht die Interpretation, sondern »ein Sprechen von der Sprache des Gedichts her« (Christen 2021, 197). Die Form der ›Auslegung‹ legitimiert sich über die Ontologie der Sprache: Unzugänglich ist ihr Wesen dort, wo sie in innerweltlicher Referenzialität gefangen ist; ›rein‹ liegt sie hingegen dort vor, »worin die Vollendung des Sprechens, die dem Gesprochenen eignet, ihrerseits eine anfangende ist« (Heidegger 2018, 14). Die Dichtung befindet sich just in diesem Anfang der Vollendung, sie kommt nicht in der Bedeutung an – und um zu erkennen, was die Sprache ist, muss man in diesem Anfang verbleiben, das Gedicht mitsprechen, fortsprechen, »nach-sagen«. Das, was Sprache tut – von der »lautliche[n] Äußerung innerer Gemütsbewegungen« bis zum »bildhaft-begriffliche[n] Darstellen« (ebd., 13) – , wird als Tätigkeit der Sprache allein nur im Gedicht ansichtig. Und so findet Heidegger die Sprache dann auch in »Ein Winterabend« vor. Das Gedicht »ruft« die Dinge ins »Anwesen« und als Gerufenes zugleich ins »Abwesen« (ebd., 18). Die

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erste Strophe versammelt in Schneefall, Abendglocke, Tisch und Haus »Himmel und Erde, die Sterblichen und die Göttlichen« im »Geviert« der Welt; die zweite Strophe ruft in ihren letzten beiden Zeilen (»Golden blüht der Baum der Gnaden / Aus der Erde kühlem Saft«) »die Welt zu den Dingen hin« (ebd., 21) und fasst die zuvor Versammelten als Versammlung (was sie erst »Welt« werden lässt), an deren Tor die Wanderer »auf dunklen Pfaden« gelangen. Die dritte Strophe schließlich legt die Situierung der Sprache im Gedicht offen. Heideggers Auslegung kreist hier ganz um die zweite Zeile »Schmerz versteinerte die Schwelle«, in der jene »Innigkeit« von Dingen und Welt, das Übergehen der Dinge in »das Gebärden von Welt« einerseits, die Ereignung der Welt als ein »Gönnen von Dingen« als »Unter-Schied« gegeben ist (ebd., 22). Von dieser Schwelle aus, herab, spricht Trakls Gedicht: Es ruft Welt und Dinge zueinander, führt sie aber nicht relational ineinander über, sondern hält sie im Sprachereignis in der Schwebe. Über Heideggers Auslege- und Zitationsverfahren, die dem Text des Gedichtes gegenüber durchaus glättend agieren und nicht zuletzt sich auch durch ein ›Überlesen‹ auszeichnen, ist bereits das Wesentliche gesagt worden (vergl. etwa Christen 2021, 205–210). Die Gefangenheit seiner Lektüre in der »Konvertierbarkeit zwischen Erörterung und Erläuterung« hat Derrida zum Ausgangspunkt seiner Re-Lektüre des Textes gemacht (Derrida 2021, 36). Markus Wild wiederum hat treffend analysiert, inwiefern Heideggers »Die Sprache spricht« den Gedanken der »Zwiesprache« evoziert und den Akt der Auslegung mit der illokutionären Kraft des Ausgelegten auflädt (Wild 2020, 55 f.). Klammert man diese für einen Augenblick aus, so wäre zunächst nachzuskizzieren, was hier eigentlich geschieht. Folgt man Heidegger, so legt in Trakls Gedicht die Sprache ihr Wesen diesseits des Bedeutens offen. Wie die Abendglocke spricht die Sprache »als das Geläut der Stille«, wie die aus Schmerz versteinerte Schwelle »west [sie] als der sich ereignende Unter-Schied für Welt und Dinge« (Heidegger 2018, 27). Man kann diese Auslegung poetologisch verständlich ma-

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chen: Die in Trakls Gedicht aufscheinende Sprache verrät den Ort, dem die Sprache entstammt – kein menschlicher Ort, sondern der Ort, der Dinge und Welt in ihre Unterscheidung ruft und zugleich aufeinander bezieht. ›Gestillt‹ ist an diesem Ort die Reglosigkeit, versteinert (und damit zugleich manifestiert) der Schmerz der Unterscheidung. Trakls Dichtung starrt auf diesen Beginn der Sprache, sie ist – in ihrem Nachsprechen des Beginns – selbst der Beginn dieser Sprache und lässt diejenigen, die es fortsprechen, in diesen Beginn, auf die Schwelle treten. Veranschlagt wird damit eine Phänomenalität der Sprache, in der Allegorisiertes, Allegorie und Allegorese in eins fallen und deren Erkundung dementsprechend ihren Gegenstand nicht erhellt, sondern immer weiter verdunkelt. In gesteigerter Form findet dieses Verfahren seine Fortsetzung im Vortrag »Die Sprache im Gedicht. Eine Erörterung von Georg Trakls Gedicht« (1952), der 1953 im Merkur erscheint. In systematischer Hinsicht baut der Text auf »Die Sprache« auf. Charakterisiert wird er zunächst durch das Postulat, dass das »Gedicht« gerade nicht im Ausdruck zu suchen ist, sondern immer »im Ungesprochenen verbleibt« (Heidegger 2018, 33), sodass Trakl – wie »[j]eder große Dichter« – »nur aus einem einzigen Gedicht« dichtet (ebd.). Diese Voraussetzung bestimmt einerseits Heideggers Lektüre, die nun nicht mehr bei einem einzigen Gedicht Trakls verbleibt, sondern, geleitet von der Wortsemantik, von Gedicht zu Gedicht springt. Andererseits leitet sich aus der Präsupposition des ›einen Gedichtes‹ auch die Aufgabenstellung der ›Erörterung‹ ab: nämlich eben die Suche nach dem »Ort« von Trakls Gedicht, aus dem dessen »Sagen« hervorgeht. In diesem Zusammenhang ruft Heidegger zunächst Vertrautes auf. Ausgehend von der »Frühling der Seele« (II) entnommenen Zeile »Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden« bestimmt er »[a]lles Sagen der Dichtungen Georg Trakls« als »auf den wandernden Fremdling versammelt. Er ist und er heißt ›der Abgeschiedene‹« (ebd., 48). Gegeben sind damit Richtung und Abgrenzung: Der in und mit der Sprache wandernde Fremd-

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ling bleibt fremd, insofern er in den »Untergang« gerufen ist (wie Heidegger »Sebastian im Traum« referenziert), in einen Tod, der freilich in die »dämmernde Bläue des Heiligen« führt (ebd., 70) und »das Verlassen der verwesten Gestalt des Menschen« (ebd., 42) bezeichnet. Fremd werden diejenigen, die diesen Pfad beschreiten, in der Konsequenz dem »verwesenden Geschlecht«, das »entzweit und zerschlagen […] nicht mehr in den rechten Schlag zu finden« vermag (ebd., 46). Enggeführt wird dabei Trakls Isotopie des ›Verwesens‹ mit dem Projekt einer offenstehenden Menschheit einerseits, dem einer offenstehenden Sprache andererseits: Wer zu den Verwesenden zählt, der wähnt sich fertig, es verschließen sich ihm auch die Bedeutungen und er spricht eine Sprache, die – wie das in »Die Sprache« ausgeführt wird – »ein vergessenes und darum vernutztes Gedicht« ist, »aus dem kaum noch ein Rufen erklingt« (ebd., 28). Demgegenüber versteht der Fremdling den Menschen als ein in seinem Wesen immer noch Verhülltes, ein ›noch nicht fest gestelltes‹ Tier (ebd., 41), dessen Anfang er dichtend entgegenschreitet. Wer seiner Dichtung lauscht, folgt ihm nach, wird selbst zum Wanderer (ebd., 64). In jenem ›Unterwegs‹ erkennt Heidegger den Ort von Trakls Gedicht. Von hier aus erschließen sich ihm nicht nur die Traklschen Fügungen des ›Wahnsinns‹ (als Zustand desjenigen, der ›ohne Sinnen‹ ist, also kein innerweltliches Ziel besitzt), des ›Geistlichen‹ und des ›Geistes‹ (ersteres bestimmt als eine vom Geist bestimmte, aber eben nicht der Rationalität verpflichtete und mit ihr verwesende Abgeschiedenheit, zweiteres verstanden als das ›Außer-sich-Sein‹, das »die Seele in das Unterwegs« jagt, ebd., 56). Auch die Schlusszeilen von »Grodek« liest er in diesem Licht: Die vom Schmerz genährte »heiße Flamme des Geistes« wird Heidegger zur äußersten Verdichtung jenes Übergangs, dessen Sprache Trakls Dichtung spricht. In ihrem Jenseits wartet eine Generation, die nicht den gefallenen Kriegern entstammt, nicht deren Kinder sein kann, sondern aus einer noch unbenennbaren Kluft hervorgehen wird, nämlich einer noch ›ungeborenen‹ Menschheit (ebd., 62). Ist der Ort des Gedichts aber erst einmal durch die-

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sen Übergang bestimmt, durch eine Einkehr von Mensch und Sprache ins Dämmern, in »das Land des Abends«, das »Trakls Dichtung singt« (ebd., 75), dann folgt hieraus auch eine fundamentale Neubestimmung ihrer Semantik. Insofern Trakls Gedicht, wie oben dargelegt, »aus einer Versammlung« spricht, so gründet ihre Mehrdeutigkeit nicht in der »Unsicherheit des poetischen Umhertastens«, sondern vielmehr in einer einzigartigen »Strenge des Lassenden«, einer ›höheren Eindeutigkeit‹ (ebd., 71). Die Überformung von Trakls Dichtung durch Heideggers Allegorese, die zweifellos auch im Dienst einer Modernekritik steht, welche man – mit der gleichen Kritik an der Reduktion des Geistigen auf das Rationale – auch in der Einführung in die Metaphysik von 1935 findet (Derrida 1992, 112), ist nicht zu bezweifeln. Jedoch markieren die beiden Vorträge auch innerhalb von Heideggers Denkentwicklung einen spürbaren Einschnitt. Tatsächlich begegnet hier, im Rückgriff auf Trakl, die rückhaltlose Affirmation eines quasi-transzendentalen, dem philosophischen Zugriff entzogenen Subjekts erstmals in Heideggers Werk. Die Hypostasierung von Trakls Gedicht und damit auch die eminente Bedeutung der Auslegung Heideggers für die Rezeptionsgeschichte Trakls rührt von dorther: Man kann dieser Dichtung nichts Erhellendes mehr hinzusetzen, weil in ihr die Sprache in ihrer größtmöglichen Klarheit sich selbst ausspricht. Exponiert und fortgeschrieben wurde Heideggers Trakl-Lektüre insbesondere durch Derrida, der sich sowohl 1985 in einem Typoskript, das posthum unter dem Titel Geschlecht III veröffentlicht wurde, als auch in De l’esprit. Heidegger et la question (1987) mit »Die Sprache im Gedicht« auseinandergesetzt hat. (Vgl. zu Derridas Heideggerlektüre Krell 2007, Marder 2020.) Den Gestus der Lektüre übernimmt Derrida von Heidegger: So, wie dieser Trakls Dichtung ›nach-sagt‹, so ist es Derridas Anliegen, diesem Nachsagen wiederum zu ›folgen‹, »um ihm ohne barbarische Gewalt, ohne ungerechte oder untreue Gewalt zu folgen, um ihn zu verstehen, ohne sich in der stummen Passivität des Kommentars einzuschließen« (Derrida 2021, 12). Erst im Eintritt,

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in der Wiederholung der Geste, die Heideggers Auslegung gegenüber Trakls Gedicht einnimmt, kann er die Auslegung befragen, ihre Prämissen und ihren eigenen ›Ort‹ zur Sprache bringen. Im Blick steht dabei dann freilich weniger Trakls Dichtung als vielmehr das, was Heidegger mit dieser zu sagen gedenkt – und in welchem Verhältnis dieses Sagen zu Heideggers vorigen Bestimmungen von Geist und Geschlecht steht. Im Rahmen dieser Betrachtungen ist deswegen – Heideggers Trakl-Rezeption beschließend – vor allem Derridas Einschätzung dessen, was Heideggers Lektüre im Kern motiviert, von Bedeutung: »er möchte nicht nur zeigen, daß Trakls Gedicht […] die Grenzen der Ontotheologie überschritten und über sie hinausgegangen ist, er möchte zeigen, daß wir das Überschreiten, das ein Überwinden ist, erst dann denken können, wenn wir von diesem Gedicht ausgehen« (Derrida 1992, 102). Eine Derrida selbst ›überschreitende‹, in ihrem Habitus weitaus aggressivere Lesart von Heideggers Trakl unternimmt 1993 der später als ›Vater des Akzelerationismus‹ gehandelte Philosoph Nick Land. In einem »Spirit and Teeth« betitelten Aufsatz beginnt Land damit, die Rezeptionskette von ihrem Anfang her aufzurollen. Er verweigert sich ostentativ der Zurückhaltungsgeste der Phänomenologie und legt diese als einen sokratischen Haltungsschaden der westlichen Philosophie aus, den er bereits wenige Jahre zuvor in »Narcissism and Dispersion in Heidegger’s 1953 Trakl Interpretation« entblößt hat. Gerade am Gegenstand ›Trakl‹ will Land aufzeigen, dass die phänomenologische Tradition seit Husserl über Heidegger bis hin zu Derrida dem »humanistische[n] Anspruch […] einer abbildlichen Philosophie« untersteht, als deren Chiffre der »Geist« dient und die genau deswegen gar nicht in der Lage ist, Trakl zu verstehen, da dieser sich der »von der phänomenologischen Dogmatik erdrückte[n] Suspension« verweigert (Land 2023, 53). So führt Land nun Geist und Geschlecht über Trakl auf eine andere Weise zusammen: Anhand der »Passion« entnommenen Verse »Zwei Wölfe im finsteren Wald / Mischten wir unser Blut in steinerner Umarmung / Und die

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Sterne unseres Geschlechts fielen auf uns« (ITA IV.1, 117) bestimmt er Trakls Gedichte als »lykanthropische Vektoren der Ungeduld, der Zuckkrankheit« (Land 2023, 56), als Dokumente eines tiergewordenen Geistes, der Heideggerschen ›Flamme‹ zwar noch verwandt, aber tatsächlich ein »wölfische[s] Feuer«, eine fundamentale »Verwirrung des Werdens«, unpolitisch, anorganisch, viral (ebd., 60). Lands zweifellos von Bataille sich herleitende Lektüre sieht in Trakl folglich eine Feier der »Inferiorität«, die ihre humanistischen Deuter und Ausleger tollwütig, pestilenzhaft befällt, ihre Zähne in sie schlägt. Eine Figuration dieser Dichtung eines ›inferioren Geschlechts‹ (die sich von Rimbaud herleitet) ist der Werwolf, eine andere die Ratte. Beide lagern in einem »Wildnis-Terrain«, das Trakls Dichtung »mit einer entsetzlichen Verletzlichkeit« durchforscht (ebd., 67), im komplexen Raum einer Animalität, die zwar einem durchaus auch theologisch abgestützten Humanismus entstammt, sich aber am Ende gegen den Menschen wenden, des Menschen Feind werden muss.

Zwischen Adoration und Aversion: Trakl als literarisches Vermächtnis im Nachkrieg Als Heidegger seine beiden Vorträge zur Sprache hält, ist Trakl schon kein neu zu entdeckender Autor mehr, sondern hat auf dem literarischen Feld bereits deutliche Spuren hinterlassen. Der stilistische Einfluss seiner Dichtung auf die lyrische Produktion der Nachkriegszeit ist enorm und evoziert – wie es dann wenig später auch Benns Lyrik widerfahren wird – eine Rezeptionsdynamik, die zwischen Epigonalität und Abwehrhaltung schwankt. Die Innenansichten dieser wechselhaften Beziehung zu Trakl hat der von Adrien Finck und Hans Weichselbaum 1992 herausgegebene Band Antworten auf Georg Trakl zutage gefördert. Unverkennbar erscheint Trakls Vermächtnis als Last wie als Orientierungspunkt bei der zweiten Avantgarde, namentlich in den Publikationen der Wiener Gruppe, in denen es – wie H.C. Art-

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mann selbst konstatiert – »es sehr ›getrakelt‹« habe (Finck/Weichselbaum 1992, 48). Auffällig ist jedoch zugleich, dass Trakls Dichtung zwar in ihrer Bedeutsamkeit stets gewürdigt wird, ihre Bedeutung für das eigene Schaffen – das gilt etwa für Ernst Jandl, für Hilde Domin wie für Albert Drach und Friederike Mayröcker – jedoch stets kategorisch zurückgewiesen wird (ebd., 63 f., 73, 83). Einen extensiven wie exemplarischen Fall der Auseinandersetzung mit Trakl hat man im jungen Thomas Bernhard vor sich, der seinen Weg, angeleitet von der Imago Trakls, noch auf dem Feld der Lyrik sucht – und diesen Weg dann im Bewusstsein des eigenen Ungenügens abbricht. 1957 kommt Bernhard im Rahmen einer Umfrage des österreichischen Akademikerbundes zu einem klaren Befund. So habe Trakl zwar »für Österreich […] bis heute als einziger Lyriker von Rang etwas zur modernen Poesie beigetragen, wahrscheinlich, weil er, wie wenige, verachten konnte und verachtet wurde« (Bernhard 2003–2015, XXII.1, 569). Seine Hinterlassenschaft ist jedoch toxisch: »Der Einfluß Trakls auf meine eigne Arbeit war vernichtend. Hätte ich Trakl niemals kennengelernt, wäre ich heute weiter« (ebd.). Tatsächlich sind die Spuren Trakls in Bernhards – von ihm selbst verachteten – Gedichtwerk beträchtlich. Die ruralen Landschaften (etwa in »Heimkehr« oder »Am Abend«) und Gestalten (»Der Bauer«, »Lied der Magd«), auch die teils liedhaften Strukturen, gepaart mit der typischen Artikellosigkeit und den gebrochenen Personifikationen, wie sie sich beispielhaft in »Pfarrgarten in Henndorf« finden (»Sonne lehnt sich an die Bäume / und das Fenster ruht sich aus«, ebd., XXI, 31) stehen ganz in Trakls Schuld. Andererseits verzichten Bernhards Gedichte nahezu vollständig auf die für Trakl charakteristische Farbenpoetik und rekurrieren in der Regel auf ein Ich, das bei Trakl höchst selten in Anspruch genommen wird. (Zu Trakls Präsenz in Bernhards Lyrik vgl. ausführlicher Finck 1992). Für Bernhard bleibt Trakl somit ein Lehrer der ›Verachtung‹; als Dichter vermag er ihm schon bald nicht mehr zu folgen.

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Auch im Fall von Marie Luise Kaschnitz liegen Anerkennung und Distanzierung Trakls nah beieinander. Ihr ursprünglich unter dem Titel »Warum ich nicht wie Georg Trakl schreibe« 1965 im Hessischen Rundfunk versendeter Essay enthält gleichwohl Aufschlussreiches. Trakl, den sie als Jugendliche so wenig verstanden hat, »wie die jungen Leute heute Paul Celan verstehen mögen« (Kaschnitz 1981–1989, VII, 305), wird Kaschnitz zum Dichter des jugendlichen Untergangs. Es ist eine identifikatorische Lektüre, die sie beschreibt; eine Verschwisterung mit dem »Verbotene[n] und Gefährliche[n]« (ebd., 311), eine vermutete Wesensgleichheit, die von einer »Empfindlichkeit für das Leiden von Menschen und Tieren« geprägt wird und in ein »wilde[s] Sichaufbäumen gegen die eigene Ohnmacht« mündet (ebd.). Gleichwohl bleibt bei Kaschnitz von dieser Empathie nur die Einsicht, »daß niemand Verse schreiben kann, der nur für sich selbst und nicht auch für die andern spricht« (ebd., 314). Über Trakl führt sie der Weg zu Hölderlin, der ihr »härter und großartiger« dünkt. Und so beginnt sie ihr Werk, »Trakl nicht nachahmend, ihm nicht einmal folgend, mit Gedichten […], die eher Lob als Klage sind, in denen die Liebe ins Licht gerückt wird und das Unglück nur wie eine Wolke über den blühenden Landschaften des Lebens erscheint« (ebd., 316). Recht präzise fasst Kaschnitz indessen das Spannungsverhältnis, das sie zunächst zu Trakl hin und dann von ihm forttreibt: Es ist der ›schmerzliche Neid‹ des wortgewordenen ›ersten Erwachens‹ durch die »Erschütterung« des Wortes, das Primat der Jugendlichkeit, das sie überwinden muss und das sie in Trakls Dichtung aufgespeichert findet. So bemerkenswert wie typisch sind die Vergleichsparameter, die sie dabei anführt: In Hölderlin erkennt Kaschnitz das Urbild Trakls, in Celan dessen Nachfahren; ihr Teil bleibt freilich, »die Botschaften weiterzugeben, die ich von meinen Zeitgenossen empfing« – und folglich die Distanzierung von den Dunkelheiten.

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Fühmanns »Erfahrung mit Georg Trakls Gedicht«

der eigenen Biographie, in der sich ihm der Sinn des Gedichts immer wieder er- und verschließt. Über den Vater, der 1914 – wie Fühmann kolportiert – gemeinsam mit Trakl als Heeresapotheker bei Przemýsl seinen Dienst versehen und sich dreißig Jahre später über einem Gedichtband des Sohnes an dessen »Spinnerei« erinnert haben soll, werden zu Beginn des Textes Subjekt und Objekt der Lektüre biographisch verschaltet und hierdurch spiegelungsfähig. In Trakls »Untergang« erkennt der 23jährige Fühmann nicht nur die nahende Kriegsniederlage des Deutschen Reiches, sondern auch die damit einhergehende Entleerung des eigenen Lebens, das bisher durch einen katholisch gefärbten Nationalsozialismus ausgefüllt wurde. Im »Psalm« (I) entziffert sich ihm die Wirklichkeit der russischen Kriegsgefangenschaft; in der »Menschheit vor Feuerschlünden aufgestellt« erschließen sich ihm Auschwitz und in der Folge die eigene Verstricktheit ins Verbrechen (ebd., 53). Trakls Gedicht folgt Fühmann – nicht zuletzt in Gestalt des ›kotbefleckten Engels‹ – und geht ihm zugleich voraus; es »prophezeit, was schon da ist, man sieht es nur nicht« (ebd., 31). Die Engführung von Dichtung, Privatgeschichte und Menschheitsvision kulminiert am Ende in der »Grodek«-Lektüre: »Grodek liegt vor Troja, Grodek liegt vor Auschwitz; und im Licht dieser drei Feuer des Abendlandes bleibe Jeder mit Trakls Gedicht allein« (ebd., 222). Zum Zweiten, auf anderer Ebene, aber ist Fühmanns ›Erfahrung‹ auch eine Erfahrung im Umgang mit Trakl, eine Erfahrung mit dem Bekenntnis zu und einem Abschwören von dieser Dichtung. In einer antifaschistischen Frontschule zum Kommunismus bekehrt und ab 1949 in der DDR kulturpolitisch engagiert, verinnerlicht Fühmann die marxistische Kritik an der Literatur der ›Dekadenz‹ als eine Exposition der »Enthumanisierung der zwischenmenschlichen Beziehungen«, aus der heraus eine rein »ästhetische[n] Wertung des Menschen und seiner Grundsituation« gerechtfertigt, jedes kritische Element auf Seiten der Kunst durch die herrschende Ideologie somit »in ohnmächtige Resi-

1975 erschien – mit mehrjähriger Verspätung – die erste, schmal gehaltene Trakl-Anthologie der DDR im Verlag Philipp Reclam, Leipzig. Das Nachwort hätte ursprünglich Franz Fühmann verfassen sollen; da dieser nach eigener Aussage noch weit davon entfernt war, sich »Essayistisches […] zutrauen« zu können, fiel die Wahl des Verlags schließlich auf Stephan Hermlin. Für eine zweite Anthologie, die 1981 bei Reclam erschien, kam man wieder auf Fühmann zurück. Dieser stellte eine weitaus umfangreichere Gedichtauswahl auf der philologischen Grundlage der HKA zusammen und steuerte den gewünschten Trakl-Essay bei, der nun allerdings wiederum viel zu lang geraten war. Eine deutlich gekürzte Fassung wurde der Ausgabe als Begleitband mit dem Titel Gedanken zu Georg Trakls Gedicht beigegeben. Nur ein Jahr später, 1982, fand Fühmann im Rostocker Hinstorff Verlag einen Ort, um den vollständigen Text – nun unter dem Titel Vor Feuerschlünden. Erfahrung mit Georg Trakls Gedicht – zu publizieren. Der Titel ist in mehrerer Hinsicht sprechend. So steht hier tatsächlich kein ›Gedanke‹, sondern ›Erfahrung‹ in doppeltem Sinne im Blickpunkt. Zum Ersten perspektiviert Fühmann Trakls Dichtung unter der Prämisse, dass ein Gedicht erst dadurch zum Gedicht wird, insofern »ein Leser es konstituiert«, dass mithin der »objektive[r] Charakter« des Gedichts »ganz aus dem Subjektiven stammt« (Fühmann 1982, 91). Das Gedicht ersteht in der Anmutung einer vorausliegenden Gegebenheit von Welt, die allerdings erst aus der ›Erfahrung‹ seines Lesers ihre Konkretion erhält. Die Besonderheit von Trakls Lyrik liegt für Fühmann darin, dass sie diese Verschlingung von Unbestimmtheit und Konkretion durchsichtig werden lässt – »Konkretes Dunkles« sei sie (ebd., 76). Legitimiert wird aus ihr aber vor allem ein Verständnis von Auslegung als Lebenserzählung: Fühmann verknüpft in seinem Essay seine Trakl-Lektüre mit

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gnation umfunktioniert« werde (ebd., 112). Zugeschlagen wird der Dekadenz dabei erwartungsgemäß auch ausdrücklich Trakls Werk – und Fühmanns zweite ›Erfahrung‹ mit Trakls Werk gestaltet sich somit als eine produktive Auseinandersetzung mit dem Konzept literarischer Dekadenz. Immer wieder von Selbstzweifeln und Selbstverzweiflung angefochten (auf deren Höhepunkt er sich sogar anschickt, sein Exemplar von Trakls Gedichtsammlung – es ist die 1913 in der Reihe »Der Jüngste Tag« erschienene Zusammenstellung – zu verbrennen), sucht und findet Fühmann seine Verteidigungsstrategie in Sachen Trakl im Enthüllungscharakter des Verfalls. Was bei Trakl verfällt, setzt zugleich etwas frei, das für Fühmann sich als das ›Humane‹ darstellt (ebd., 114). Dem Vorwurf der Ästhetisierung des Leidens – und Auschwitz bildet dabei immer wieder den Argumentationshintergrund – begegnet er mit einer Umkehr der Leserichtung. Dass »Trakl ja nicht sterbende Kinder mit Blumen, sondern Blumen mit sterbenden Kindern verglichen« hat, dass er damit »die Schutzlosen in seinen schönen Garten genommen« hat; dass er seine Welt mit Wunden durchsetzt und im Verfall überall den Schmerz zeigt, der aus einem Mitleiden erwächst, einem totalen Mitleiden, in dem ›alle Straßen in schwarze Verwesung münden‹ – hierin liegt die »Nachricht vom Menschen« (ebd., 188), die die dekadente Dichtung freisetzt. Erst gegen Ende gesellt sich zu Fühmanns Erfahrung mit Trakls Gedicht auch Trakls Biographie. Gelesen und geschrieben wird sie, wird Trakls Leben dabei nicht als eine geschlossene Formation, die in einem oder keinem Verhältnis zu dem sie überdauernden Werk steht. Vielmehr kommt es Fühmann gerade darauf an, das »Schöpferleben« in seinen Zügen zu entziffern, die in der Nachwelt des Werks liegen und in denen allein ihm Trakl dann auch zum »Bruder« (ebd., 40) zu werden vermag. Erfahrbar wird seine Dichtung dabei als »das Werk eines nicht lebbaren Lebens, das als Objektives blieb, Zeichen für die zahllosen Nur-Subjektiven, von denen keine Spur mehr zeugt« (ebd., 186). Es ist diese Position der Marginalisierten,

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der ›unlebbaren Leben‹, des »Wahnsinnigen«, deren Stimme Fühmanns Essay im Kampf zwischen »Doktrin und Dichtung« verteidigt (ebd., 205); eine Stimme, die – zumindest momenthaft (vergl. Wetzel 1992, 180) – auch die seine ist.

Thomas Kling: Trakl mit Trakl lesen Unter den deutschsprachigen Lyrikern der jüngeren Vergangenheit zeigt sich der Rückbezug auf Trakl am deutlichsten bei Thomas Kling. Kling, der Trakl nicht nur zu seinen »frühesten und intensivsten Lektüreerlebnissen« (Kling 2020, IV, 207), sondern auch – gemeinsam mit Benn – zu den »erste[n] Namen für das deutschsprachige Gedicht, für die Weltliteratur überhaupt« (ebd., 67) zählt, sucht und findet dabei weniger in Trakl, als vielmehr in der von Trümmern verstellten Verwandtschaft zu Trakl sein Sujet, in einer Erinnerungsarbeit, deren Grenzen und Gesetze bei Kling selbst wieder Teil der poetischen Aushandlung werden. Einerseits ist dabei zu ermitteln, welche Elemente der Traklschen Poetik überhaupt noch sichtbar werden, ihren Weg in ein im Jahr 1977 einsetzendes Werk finden können. Gesichtet werden von Kling »Trakls den Drogen geschuldete autistische Tiefgekühltheit« (ebd., 68), auch von den »zeitlupenhaften Bildblitzen der Welt Trakls« (ebd., 292) ist die Rede. Das können die Anknüpfungspunkte sein, an denen sich Traditionslinien zwischen den Modernismen anheften können, die Betonung der ›Tiefgekühlheit‹ Trakls weist recht zielsicher einen Weg in die ›Coldness‹-Ästhetik um 1980. Eine Annäherung an, ein Sprechen mit und über Trakl unterliegt bei Kling immer den Bedingungen der eigenen historischen Verortung und Entfernung, die stets mitreflektiert werden muss. Die Anrufung Trakls erfolgt – wie das dann zeitgleich auch in der dänischen Rezeption bei Strunge der Fall ist (s. u.) – aus den Ruinen, Stadtlandschaften und Ruderalflächen der Gegenwart. So windet sich »evokation (›keine beschönigungen‹)« 1986 durch die Schriftzüge der Mauern und Wände und verfolgt diese – »trakls kabel / abtasten« (Kling 2020, I, 427) – bis an

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ihren Ursprung, bis zum »sprüher trakl« zurück. Das Graffiti erscheint als »gekabelter trakl«, als eine Medienspur, die vom unwiederbringlich Verlorenen ins Jetzt verläuft, die aber nie Klarheit auf diesen Ursprung verschaffen, sondern nur Schrift über Schrift schichten kann, »georgische palimpseste« erzeugt. Was »trakl« noch zu sein vermag, das entscheiden keine Literaturgeschichten, sondern erschließt sich eher noch an den mit Edding verzierten Haltestellen und Gemarkungsschildern, den Häuserzeilen. Klings Trakl ruht in den Resten, im Schmutz und im »vielarmige[n] hinkrakeln«. Es handelt sich um eine materiell verschliffene Entität, die man nur mühsam und komprimiert sichten kann. So wird die Verzerrung des Blicks auf Trakl bereits aufgefangen im »trakl zeitraffer«, der sich in Klings Nachlass aus den Jahren 1979– 1981 findet. Neben den in der linken Textspalte kapitalisierten Zeilen »G NIMMT M.« und »G. FIXT KOKS« (Kling 2020, III, 409) finden sich in der rechten Spalte neun Zeilen in Minuskeln, in denen sich Stummfilmgeschichte, Erster Weltkrieg und Trakl-Biographie überlagern. Das Übergreifen der Ebenen bestimmt die Logik des Gedichtes: Aus Chaplins Tortenwürfen werden »chaplins to t nwürfe«, die Hektik der Massenaufnahmen wird Frontgeschehen (»es rennen graue männchen / […] / in die bajonettangriffe«), das Feuer des Krieges hinterlässt »geschmolzene stumm filme«, während umgekehrt die Mobilisierung die Menschen in Stummfilmakteure, in »grobkörniges menschen material« verwandelt. Am Ende dieses Filmstreifens flackert in einer kurzen Sequenz Trakls Leben auf: »g. als sanitäter, und g. im / schneegestöber –: g. mitten / im kraterraster, grodek 1914.« Hinter der Verschmelzung von Medium und Geschichte, der ›grobkörnigen Wirklichkeit‹ scheint aber, zieht man die linke Spalte hinzu, noch eine höhere Einheit auf: Die grobkörnige Realität der Droge, in der sich dem Konsumenten »G.« das Kommende, sein Werden und Ende zeigt. Das Gedicht imaginiert mithin Trakl durch Trakl – und markiert zugleich die Patina, die es von seinem Gegenstand trennt. In Umkehrung findet sich im Zyklus brennstabm (1991) das Kapitel »Aufnahme Mai

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1914«, das – nimmt man den Vorsatz aus – fünf Verse mit fünf Schwarz-Weiß-Aufnahmen kontrastiert, die dem Bildfundus der Kriegsmarine entstammen und als »Sequenzmuster […] die Serie ›Flottmachung – Auslaufen – Kriegshandlungen‹« organisieren (Trilcke 2012, 137). Bleiben auf den ersten Blick die Beziehungen zwischen Bildfolge und Text im Dunkeln – eine Zusammenhangslosigkeit, die Wulf Segebrecht in der FAZ zum Anlass einer Grundsatzkritik an brennstabm diente, die wiederum eine Replik Klings nach sich zog (Kling 2020, IV, 137) –, so gibt spätestens der vierte Vers »gifte. di fielen. TRAKL (27)« (Kling 2020, I, 347) den Hinweis auf den Gegenstand des Textes, nämlich das berühmte Fotoporträt Trakls aus dem Mai 1914 (Abb. 103.1). In der Ekphrasis eines Bildes, das nicht gezeigt wird, und der Reproduktion von Bildern, die nicht beschrieben werden, arbeitet Kling die beiden Sujets in der ihnen gemeinsam zugrundeliegenden Stimmung heraus. Trakls

Abb. 103.1   Trakl, Kniestück en face, Mai 1914; Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Nachlass Ludwig von Ficker.

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Pose und Konterfei avanciert zum Psychogramm seiner Zeit: Von Anfang an unterliegen Bild und Text, Figur, Werk und Geschichte einer gespaltenen Dynamik, die Kling im Vorsatz verdichtet: »der sizzta cool /  + is am plazzn« (ebd., 339) – Gelassenheit und Furor liegen dicht beieinander und bald schon kommen sie über der Beschreibung aus der Balance. »gefaltet, beherrscht; di beherrschtn hände« (ebd., 341) wandelt sich im Folgevers zu »gefaltet. In leicht vorgebeugter spannun’« (ebd., 343). Die Selbstkontrolle reicht nicht mehr aus, um die darunterliegende Nervosität zu kaschieren, und so, wie die ruhigen Genrebilder der Hafen- und Matrosenszene in Seestücke, in Seekriegsbilder umschlagen, so steht auch Trakls Leben auf dem beschriebenen Porträt schon vor dem Ausbruch, geschwächt von zu »fielen« Giften, im Kräfteverschleiß schon gezeichnet durch »ringe unter befallenen augn« (ebd., 345). Auch hier aber wird die Droge als Ermöglichungsbedingung des Aushaltens und damit auch der sprachlichen Figuration dieses Übergangszustandes gesetzt. »HAT NOCH EIN HALBES JA + GRAMM« endet das Kapitel (ebd., 349). Das halbe Gramm – Kokain mag es sein – hält die Figur noch zusammen, sobald der Vorrat aufgebraucht ist, bricht sie zusammen wie die politische Ordnung Europas. Es gibt also keine Rückkehr zu Trakl, nur das Erspüren einer verschlossenen Nähe, wie es sich etwa auch in »Mühlau, †«, im sechsten Kapitel von brennstabm enthalten (ebd., 312), abzeichnet. Das Gedicht kreist offensichtlich um Trakls Grab in Mühlau, versammelt sich an ihm, suggeriert ein Zwiegespräch (»was wir besprachn« sind seine ersten Worte, ebd., 312). Die Stätte öffnet sich jedoch nicht; sie bleibt »grobes plattngrau«, das ist »seine« – Trakls – »abdekkun’«, darunter »polnisch überführte[r] staubkleb«, darüber »hoch- / ziehende nebel, hellzte line-düsternis«, über Innsbruck wie über dieser Dichtung. Ein Gespräch wird da geführt, ins Sprechen vertieft sind zwei im Gehen, ein Dialog zwischen »einer lebendn aus wien mit einem aus«. Diese beiden bilden das eingangs aufgerufene »wir« – und die zweite, ausgesparte

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Hälfte, die nur durch die maskuline Kennung »mit einem« markiert wird, legt nahe, dass der Gesprächspartner ein Unbenennbarer, Entzogener bleibt, ein Toter aus Salzburg. Wer aber spricht das Gedicht – und wer kann vom »wir sprechen«? Ist die Position dieser Stimme der Nullpunkt? Wird hier erneut durch Trakl über Trakl gesprochen? Auch in »Der Erste Weltkrieg« (1999) wendet sich Klings Gedicht nochmals auf Trakl zurück (Kling 2020, II, 294 f.). Dort ist es die Symbiose von Bruder und Schwester, die inzestuöse Sexualität, in der sich nicht nur die Sprechpositionen vertauschen, sondern die tatsächlich auch als Textarbeit entziffert wird. »Georg« erkennt sich als »kopist«, der seine Worte aus em Tabu gewinnt, denn »die sprache ist die schwe- / ster ich gehe mit der schweren schwester ins bett«. Dass der Krieg diese Liebe nicht überdauern ließ und die Autopsie des Krieges sie wieder freilegt, verbindet das Gedicht mit dem poetischen Konzept des Gedichtzyklus (vergl. Kling 2020, IV, 272 f.). Dass diese Liebe am Ende erst Schrift, schon bald aber vernichtete Schrift, verbrannte Briefschrift wurde, zeichnet das Bewusstsein des Gedichtes selbst: Die schwesterliche Schrift, das »sprachhaus« verglimmt, wird »kohle«, »engelkohle«. Übrig bleibt ihr seltsam verschobener Aufschein in der Dichtung: »dein letternschwerer körper wird / beschriftet und kopiert« (Kling 2020, II, 295).

Zur Übersetzung und Verbreitung von Trakls Werk über den deutschsprachigen Raum hinaus Bereits kurz nach Trakls Tod überschreitet sein Werk den deutschen Sprachraum. Schon 1917 werden vereinzelte Gedichte von Bohuslav Reynek ins Tschechische übersetzt – und auch in der Folge bleibt der Einfluss von Trakls Werk auf die tschechische Dichtung, etwa auf František Hrubín, Vilém Závada, Jan Zahradníek und Zbyněk Hejda, erheblich (vergl. Malý 2012; Fühmann selbst hat Hrubíns Gedicht »Der Leser am Fluss.

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Über den Gedichten von Georg Trakl« ins Deutsche gebracht). Die ersten Übersetzungen Trakls ins Englische erfolgen Anfang der 1920er Jahre, eine erste englischsprachige Anthologie folgt 1943, eine italienische und eine spanische 1949, eine französische und eine schwedische 1956, eine japanische 1959 (vergl. Ritzer 1983, 41– 73). Anfang der 1980er Jahre ist Trakls Werk bereits in 21 Sprachen übersetzt – und entfaltet dementsprechend auch seinen Einfluss in anderen Literaturen. Nicht nur die Probleme, die in der Übersetzung Trakls auftreten, sind mittlerweile extensiv diskutiert worden (vergl. Finck/ Weichselbaum 1991); auch finden sich entsprechende Rezeptionsstudien für Ungarn (Berta 1991), England (Hamburger 1992) und Italien (Gheri 2007) sowie Autopsien der formativen Wirkung Trakls auf das Werk seiner Übersetzer ins Englische (James McAuley, vergl. Maver 2021) und Spanische (Antonio Gamoneda, vergl. Breysse-Chanet 2009). In den USA wurde die Rezeption Trakls durch die von Robert Bly und James Wright 1961 publizierte Zusammenstellung Twenty Poems of Georg Trakl deutlich in Richtung einer Mythopoetik des »subconscious mind« gelenkt; insbesondere Wright amalgamiert im Weiteren Trakls Bilderwelt in seiner eigenen Dichtung und spricht von ihm als »Father of my sound« (vergl. Gustafson 2014, insbes. 645). Einen sowohl zeittypischen wie in besonderer Weise erschließungskräftigen Tradierungsfall stellt Trakls dänische Rezeption dar. Waren 1963 schon zehn Trakl-Gedichte in einer Übersetzung von Ivan Malinovski in einer Anthologie erschienen, so beteiligen sich am ersten umfangreichen und illustrierten Trakl-Gedichtband mit dem Titel Mod Midnat (»Um Mitternacht«, 1969) neben Malinovski vier weitere Übersetzer. Auf fruchtbaren Boden fällt die dänische Übersetzung schon bald: Entdeckt wird sie von der Lyrik der ›Ny dansk bølge‹, die um 1980 einerseits den Anschluss an die europäischen Modernisten – neben Trakl insbesondere Rimbaud und Baudelaire – sucht, andererseits deren Poetik grundlegend resituiert. Explizit wird dieser Bezug etwa bei Søren Ulrik Thomsen, der

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sich nicht nur in der Gestaltung seines Gedichtbandes City Slang (1981) explizit vom Layout der Trakl-Übersetzung leiten lässt, sondern diese auch als seine »poetische Bibel« betrachtet (vergl. Thomsen o. J.). Sichtbar wird Trakls Erbe zweifellos dann bei Michael Strunge, der einerseits Trakls Farbenpoetik und Fügungen übernimmt (wobei insbesondere die Dunkelmetaphorik erkundet und ausgeschritten wird, etwa die ›schwarze Sonne‹ die in Strunges »Der er en krop af lys gennem mørket« wiederkehrt), andererseits dieser einen eigentümlichen Realitätseffekt unterlegt, insofern die bei Trakl noch ›versteinte‹ (Heidegger) resp. ›hervorbrechende‹ Realität des Schmerzes bei Strunge tatsächlich in der Oberfläche der technisierten Großstadt gesucht und dort ausgehalten wird. An die Stelle des Idylls, das von seiner Auflösung her durchschienen wird, tritt die Auflösung, von der her das Idyll nur noch erinnert werden kann. Konsequent stellt Strunge Trakls »schöner Stadt« (in Mod Midnat als »Den smukke By« enthalten) 1981 sein Gedicht »Den hæslige by« (»Die häßliche Stadt«) gegenüber, in der »des Todes reine Bilder«, die »Orgelklänge« und die »[h]elle[n] Instrumente«, die bei Trakl durch »der Gärten Blätterrahmen« singen (ITA I, 403), in eine »Todesdisco« verwandeln, angesiedelt in einer von »Neonaugen« durchleuchteten Welt (Strunge 2019, 305). Zu den bekanntesten Trakl-Apologeten außerhalb des deutschsprachigen Raums zählt nicht zuletzt auch Jon Fosse, der Literaturnobelpreisträger des Jahres 2023, der nicht nur ostentativ immer wieder auf Trakls Bedeutung für seine eigene Lyrik verweist (ein Einfluss, der tatsächlich auch spürbar wird), sondern 2019 auch eine eigene Übersetzung von Sebastian im Traum ins Nynorsk veröffentlicht hat.

Trakl im 21. Jahrhundert Die weltliterarische Auseinandersetzung mit Trakl hält bis zum heutigen Tag an. Zu ihren jüngeren Zeugnissen zählt etwa ein Gedichtband des chilenischen Lyrikers Jaime Luis Hue-

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nún, der 2003 mit dem Premio Pablo Neruda ausgezeichnet wurde und den Titel Puerto Trakl – »Port Trakl« – trägt. Handeln Huenúns Gedichte tatsächlich immer wieder den Zwiespalt zwischen der Lyrik als ›Universalsprache‹ und den Interferenzen zwischen europäischer Lyriktradition (auch Novalis und Rilke tauchen hier auf) und lateinamerikanischer Kulturtradition – Huenún tritt prononciert auch publizistisch für die Mapuche ein, von denen er väterlicherseits abstammt – aus, so bleibt Trakl doch gleichwohl hier ein allen Dichtern gemeinsamer Ort wie Nichtort. »A Puerto Trakl los poetas, vienen a morir«: ›Nach Port Trakl kommen die Dichter zum Sterben‹ (Huenún 2001, 5); das erzählt man dort mit einem Lächeln in ›allen Sprachen der Welt‹. Es ist ein unwirtlicher Ort, keine ›Morgue der Engel‹, eine Bar, Rotlichtmilieu; man kommt vielleicht für einen Gin. Ein Ort, an dem die Stimme des heimatlosen Seefahrers noch nicht bleiben kann, an dem sie aber ihre Gedichte deponiert, die von ihrer endlosen Wanderung zeugen. Eine Form der kontrafakturischen Annäherung an Trakl wählt wiederum der USamerikanische Lyriker Christian Hawkey. Sein 2010 veröffentlichter Band Ventrakl setzt sich zum Ziel, aus Trakls Werk und Vita Neues zu bauen, indem es auf unterschiedlichste Art und Weise seinen Gegenstand indexikalisch beleuchtet. Die gezielte Verunklärung des Unterschieds von Dichtung und Übersetzung im Blick sucht sich Hawkey berühmte Trakl-Bilder (und vor allem Bildausschnitte), um von ihnen her neu zu dichten. Er wählt Farben als Leitkategorie, um aus dem Werkbestand Gedichte wie »BLUETRAKL«, »REDTRAKL«, »WHITETRAKL« etc. zu formen, und schießt auf einen Trakl-Gedichtband, um dann mit einem Wörterbuch die Überreste zu übersetzen (Hawkey 2010, 8). In den verschiedenen Formen der »Umdichtung«, die immer ein »poem woven around another« bleibt, arbeitet Hawkey dabei ein fortschreitendes Verständnis des Untergangs heraus (ebd., 45). Ventrakl will ein ›Geist um einen Geist‹ sein (ebd., 6), Wohnstätte eines Geistes, dem sich Hawkey nahefühlt in der Gegenwart des Krieges. (Dementsprechend schließt

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der Band mit einer Übersetzung von »Grodek«.) Trakls Sprache sieht Hawkey durch den heraufziehenden Ersten Weltkrieg mitgeformt wie seine eigene durch die amerikanischen Kriege im Irak und in Afghanistan – und so wendet er sich Trakl zu, »to find, across a century, a locus of resonant and courageous melancholy« (ebd., 9).

Marcel Beyer: Die Geschichte als Verschreiben von Trakl Unter den Gegenwartslyrikerinnen und -lyrikern deutscher Sprache ist Marcel Beyer derjenige, bei dem sich die Auseinandersetzung mit Trakl kontinuierlich und am sichtbarsten ereignet. So überschreibt Beyer, im Modus der Annäherung an Trakl Thomas Kling eng verwandt und von diesem auch registriert (vergl. Kling 2020, IV, 240), bereits 1997 in seinem Gedichtband Falsches Futter Trakls »Verklärter Herbst«. Beyers »Verklirrter Herbst« transponiert Trakls Gedicht in eine Weltkriegskommunikation; das bereits bei Trakl als ›Verklärung‹ ausgestellte und hierin gebrochene romantische Kunstlied verschleift nun mit dem Funkverkehr der Front. Trakl-Versatzstücke durchziehen ein letztlich nicht zu dekodierendes, aber die Grauen von Krieg und Shoah evozierendes Nachrichtengefüge. Aus »Gewaltig endet so das Jahr« (ITA II, 50) wird »Der Funker: ›Ver-.‹ Gewaltig endet so der Tag« (Beyer 1997, 27), »Bild an Bildchen« avanciert zur Sender-Empfänger-Kodierung, das wunderbare Schweigen der Wälder verwandelt sich in Telegraphengeräusch: »Die Drähte brummen sonderbar«. Der »Landmann« ist nun ein »Landser«, und auch dieser befindet, auf des Funkers Bitte hin, sich zu melden: »Es ist gut«. Dementsprechend ›reiht‹ sich dort, wo der Herbst nicht ›verklärt‹, sondern ›verklirrt‹ ist, am Ende auch nicht mehr »Bild an Bildchen«, sondern »Leich an Leiche«. Das Hinabsteigen in diesen anderen, verklirrten Herbst macht folglich eine andere, somit verdoppelte Verklärung sichtbar. Hier wird kein Gedicht »nach Auschwitz« geschrieben, um Adornos Verdikt aus »Kulturkritik und Gesellschaft« zu bemühen (Adorno 1998, X.1, 30);

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vielmehr wird ein Gedicht bewusst durch Auschwitz verstellt, im Summen der Drähte aufgelöst und neu zusammengesetzt. Erhalten bleibt dabei die Dreistrophigkeit, erhalten bleibt auch mancherorts Tonalität und Tonfall – woraus dann etwa die Pervertierung erwächst, dass der bei Trakl »auf der Reise« grüßende Vogelzug (ITA II, 50) in den »Viehwaggons auf Nebengleisen« (Beyer 1997, 27), sprich: im Deportationszug wiederkehrt. Der herbstliche Gesang hängt nun in den Leitungsmasten; »des Einsamen Gefährten« sind längst verschwunden und der bei Trakl verkündete Untergang in »Ruh und Schweigen« erweist sich als Gräberfeld. Trakls Gedicht erweist sich hier als eine seltsame ›Vor-Schrift‹ der Geschichte. Umgekehrt zeigt sich die Geschichte als etwas, das in dieser Dichtung bereits mitgeführt wird, aber eben nicht prophetisch, sondern als ein zerschnittener, geflickter, manipulierter Code, dessen Reinform verlassen wurde und der nur noch momenthaft, im Anklang gehoben werden kann. Dies gilt in ähnlicher Weise auch für Beyers Überschreibung von »An die Verstummten«, die 17 Jahre nach »Verklirrter Herbst« unter dem Titel »An die Vermummten« in der Sammlung Graphit (2014) erscheint. In struktureller Hinsicht verdoppelt Beyer Trakls Gedicht: In zwei Durchgängen wiederholt »An die Vermummten« die Traklsche Folie nicht nur in der Strophengliederung (drei Strophen, fünf, vier und zwei Verse), sondern auch – nicht ganz durchgehend – im Metrum und weitestgehend, im zweiten Durchgang dann deutlich aufweichend, auch die Vokalfolge. Zwischen 2014 und 1913, das Entstehungsjahr von »An die Verstummten«, drängt sich bei Beyer die jüngste Gegenwart: Aus Trakls »Wahnsinn der großen Stadt« (ITA III, 351) wird im ersten Vers der »Wahnsinn Abbottabad«, das pakistanische Versteck Osama Bin Ladens, in dem dieser am 2. Mai 2011 von Spezialeinheiten der Navy Seals erschossen wurde (Beyer 2014, 154). Die Konfrontation zwischen islamistischem Terrorismus und US-amerikanischem Suprematismus wird im ersten Durchgang als ein von Trakls Gedicht geschautes wie das Gedicht verstellendes Szenario lesbar. Deutbar wird dieses Szenario entsprechend nicht nur über die Versreste,

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die noch von unten her bei Beyer aufleuchten (zuvorderst der Beginn des sechsten Verses »RASEND PEITSCHT GOTTES ZORN«), sondern vor allem über das Überschriebene, etwa »die Stirne des Besessenen«, die man instinktiv dem gesuchten al Qaida-Führer zuordnen würde, die aber im ersten Teil von Beyers Gedicht durch den übers Anwesen fliegenden Helikopter verdeckt wird, sodass die Besessenheit hier die Seiten wechselt. Entscheidend ist gleichwohl, dass Beyers Pastiche zum Ersten das Zeitgeschehen als ein medial Vermitteltes, wo nicht als eine aus der Medialität erst entstehende Ereignishaftigkeit zeigt (hierzu ausführlich Hain 2019, 211–213). Die aus »schwarzem Material« gefügten Bilder sind Produkte der Berichterstattung, die Welt teilend in das Gefilmte und Ungefilmte (zu dem das Verhör des toten Kindes im »Nebenraum« gehört), in das Behauptete (wie die Seebestattung der Leiche Bin Ladens in Vers 3) und Ungesprochene, das von Stroboleuchten Erfasste und das ›vermummt‹ Bleibende. Zum Zweiten wird gerade auf dieser Reflexionshöhe auch Trakls Gedicht sein poetologischer Wert zugemessen. In die Bilder, die man sich von jenem Spezialeinsatz macht, mischt sich dem lyrischen Bewusstsein die in ihm zuvor niedergelegte Bildlichkeit: Die von Trakls Gedicht gestifteten Lemmata, das Blut, das Metall, das Haupt, vermengen sich, gesprochen oder nicht, mit der Vision des Attentats und seiner Begleitumstände, etwa des defekten Helikopters, den man nach dem Einsatz vor Ort zurückgelassen und zerstört hat und auf den der letzte Vers des ersten Teils »Flüche, RAUS, WARTE, Metall, das Getöse. Kein Laut« verweist (Beyer 2014, 154). Zum Dritten aber geht aus dieser Medienreflexion eine neue Subjektivität hervor, eine Gemeinschaft der ›Vermummten‹, in der Trakls Gestalt in bisher ungesehener Weise mit Zeitgenossen überblendet wird. So bildet den Ausgangspunkt des Gedichts – laut Marcel Beyer – die bereits von Kling aufgegriffene Aufnahme Trakls aus dem Mai 1914, dem Beyer eine Ähnlichkeit mit dem amerikanischen Rapper Marshall Bruce Mathers III, besser bekannt als Eminem, attestiert (Braun 2015). Aus dieser

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verspürten Ähnlichkeit resultiert im ersten Vers des zweiten Teils das Epitheton »Slim Shady vom Waagplatz« (Beyer 2014, 155), wobei »Slim Shady« ein von Eminem erdachtes Alter Ego repräsentiert, wohingegen der Waagplatz auf Trakls Salzburger Geburtshaus verweist. Über die phänomenale Nähe zu Eminem verbindet sich Trakl dann aber auch mit der im ersten Teil stroboskopisch gesichteten Gestalt Bin Ladens, den Eminem in seinem – ein Jahr nach 9/11 natürlich skandalösen – Musikvideo zum Track »Without me« (2002) als mit einem »unterm Frotteeturban« und einem erkennbar angeklebten Vollbart parodiert hat. Bin Laden wird zu »Slim Shady IM TRAUM« (auch dies erkennbare Trakl-Reverenz), ein Produkt des »Billig-TV«, während das, was hinter der gläsernen Oberfläche wartet, nicht gesichtet werden kann. Wo bei Trakl »in dunkler Höhle stummere Menschheit« blutet, da sind es bei Beyer die Vermummten, die man nicht zu sehen bekommt, so viele Bilder man von ihnen auch zu besitzen vermag. Trakl – Eminem – Bin Laden: Verbunden sind die drei hier noch über die Oberfläche der Droge, das »Haschisch im Hof«, das »Tütchen SARIN«, den »fiebrigen Blick«, dem bisweilen »rosenfarbene Moscheen« (ITA I, 573) – diese Trakls »Vorstadt im Föhn« entstammend – sich zeigen. Die ›Bruderschaft‹, von Trakl in »Untergang« ausgerufen und insbesondere bei Fühmann auf den »Bruder Trakl« zurückgewendet, erweitert sich bei Beyer – auch sein Gedicht beschwört den »magische[n] Bruder« – zu einer unheimlichen phänotypischen Reihe der GezeigtUngezeigten, denen die »harten Metalle[]« mitunter »das erlösende Haupt« nicht mehr fügen (ITA III, 351), sondern zertrümmern.

Lutz Seiler: Trakl als Stifter einer morbiden Sozietät Im Jahr 2014 – hundert Jahre nach seinem Tod und im gleichen Jahr, in dem auch Beyers Graphit erscheint – kehrt Trakls Gedicht noch auf einer anderen Bühne, nämlich in Lutz Seilers mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Roman Kruso wieder. Eingebettet ist es dort

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in eine Robinsonade in den letzten Jahren der DDR: Der Germanistikstudent Edgar Bendler, durch den Tod seiner Freundin traumatisiert, verlässt Halle, sucht einen neuen Lebensinhalt als Abwäscher in der Ausflugsgaststätte »Der Klausner« auf Hiddensee und findet Halt in der utopischen Gemeinschaft der ›Schiffbrüchigen‹ um Alexander Krusowitsch, genannt ›Kruso‹. Die enge Freundschaft, die sich zwischen Edgar und Kruso entwickelt, wird dabei einerseits gestützt durch die beiden eignende Erfahrung der Verlassenheit: Auch Krusos Leben ist durch einen Verlust gezeichnet, das Verschwinden seiner Schwester Sonja vor Hiddensee. Gerade hierin kommt nun – andererseits – die verbindende Kraft von Trakls Lyrik zum Tragen. Edgar hat sie im Rahmen seines Studiums kennengelernt, eigentlich soll sie das Sujet seiner Abschlussarbeit sein, stattdessen dient sie ihm als Sedativum in der Krise. In seinem Kopf – er memoriert alle Verse – ziehen die Gedichte mit ihm nach Hiddensee, wo Edgar drei von ihnen an einem der Gemeinschaftsabende zum Vortrag bringt: »Die Verfluchten«, »Sonja« und »Psalm« (I). Kruso erkennt in ihnen die Nachricht der verschollenen Schwester (so erscheint in »Psalm« [I] die »fremde Schwester […] in Jemands bösen Träumen«, ITA II, 21) und erbittet von Ed die Niederschrift der Gedichte. Später wird diese Bitte erweitert werden um den Vortrag all jener Trakl-Verse, »in denen die Schwester vorkam« (Seiler 2014a, 326). Trakl und sein Vermittler avancieren hierüber zum Medium einer Kommunikation mit den Toten, denn Kruso wird anfangen, die Texte fortzuschreiben, einen eigenen lyrischen Ton zu finden, »der aus Trakl etwas Eigenes machte, eigene Worte, eigene Gedanken, eine ungeheuerliche Transformation« (ebd., 188). Diese Transformation vollendet sich mit Krusos Tod; in der Leiche blickt Edgar »ein Kindgesicht mit Friedhofsblick […] – das Gesicht Georg Trakls« entgegen (ebd., 420). Seiler, der in Edgar Bendler nicht nur ein biographisches Alter Ego erschaffen hat, sondern auch seine eigene Begegnung mit Trakl fiktionalisiert hat (die zweifellos stark durch Fühmanns Vor Feuerschlünden geprägt wurde, vergl. Seiler

103  Zur literarischen und philosophischen …

2014b), lotet in Kruso das utopische Potenzial einer verschütteten Moderne aus, zu der neben Trakl dann auch Artaud und Rimbaud – auch er hat einen Wiedergänger im Roman – gehören. ›Utopisch‹ wird Trakl hier als Stifter einer morbiden, nicht zuletzt auch politisch abgestorbenen Sozietät. Kruso kehrt zurück zu jener allerersten Figuration des ›lebenden Toten‹ Georg Trakl, zur Gemeinschaft der Abgeschiedenen, die man am Ende des Romans in den Listen ertrunkener Republikflüchtlinge im Archiv der dänischen Staatspolizei wiederfindet. Erst dort geht Edgar Bendler auf: »Trakl war nicht nur ein Trauma, er war auch eine Sehnsucht gewesen« (ebd., 467).

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Zu den Vertonungen von Georg Trakls Lyrik

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Eckhart Nickel und Philipp Theisohn

Trakls Musikalität Trakls Nähe zur Musik ist biographisch ausführlich und hinreichend belegt. Schon die Erziehung durch die Eltern, vor allem durch seine ästhetisch interessierte Mutter, war stark musikalisch geprägt. Maria Trakl trug Sorge, dass, wie damals in behüteten Bürgerfamilien üblich, alle Kinder Musikunterricht nahmen. »Trakl spielte, wie all seine Geschwister, Klavier – den Berichten nach sogar sehr gut« (Basil 1965, 41 f.). Seine Lieblingsschwester Grete baute ihr Talent sogar zu einer Karriere als Konzertpianistin aus; in nicht wenigen Gedichten wird die Präsenz des Klavierspiels, insbesondere von Sonaten reminisziert: So spielt etwa in »Unterwegs« (II) »[i]m Nebenzimmer […] die Schwester eine Sonate von Schubert« (ITA II, 481, die Sonate ersetzt die durchgestrichene Appassionata Beethovens, ebd., 475), in »Musik im Mirabell« und in einer Vorstufe von »Leise« vernimmt das Ohr »Sonatenklänge« (ITA I, 250; ITA II, 397); im »Psalm« (I) wiederum sind »Zimmer erfüllt von Akkorden und Sonaten«

P. Theisohn (*)  Deutsches Seminar, Universität Zürich, Zürich, Schweiz E-Mail: [email protected] E. Nickel  Frankfurt a. M., Deutschland E-Mail: [email protected]

(ITA II, 24). Dokumentiert ist Trakls Interesse an Wagner (so soll er im Winter 1908/09 in der Hofoper das von Mahler dirigierte Tristan und Isolde angehört haben, ITA V.1, 86), eine erstaunlich frühe und hellsichtige Wertschätzung Schönbergs (vergl. Trakls Brief an Buschbeck vom 1.4.1913, ITA V.2, 372 f.), seine Mitgliedschaft im Wiener »Akademischen Verband für Literatur und Musik«, dessen Leiter ab 1911 Erhard Buschbeck war und dem auch Schönberg und Webern angehörten. Die Verbindung von Musik und Sprache bzw. Literatur stellt der junge Trakl indessen bereits 1908 in einer Rezension zur Dichterlesung Gustav Streichers dar, wo er vom »Mollklang dieser Sprache« spricht, der ihn dazu verführt, dem »Melos des Wortes zu lauschen und nicht zu achten des Wortes Inhalt und Gewicht« (ITA I, 111). Im Oktober des gleichen Jahres wendet Trakl in einem Brief an seine Schwester Hermine die musikalische Begrifflichkeit auch bereits zurück auf seine eigene Imagination: »Heute ist diese Vision der Wirklichkeit wieder in Nichts versunken […] und ich lausche, ganz beseeltes Ohr, wieder auf die Melodien, die in mir sind, und mein beschwingtes Auge träumt wieder seine Bilder, die schöner sind als alle Wirklichkeit! Ich bin bei mir, bin meine Welt! Meine ganze, schöne Welt, voll unendlichen Wohllauts« (ITA V.1, 68). Die Terminologie zeugt vom tiefen Bewusstsein einer Verbindung von Musik und Dichtung, und es über-

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_104

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rascht nicht, dass Trakl seinen Dichtungen oft Titel gab, die direkt an musikalische Figuren gemahnen (»Musik im Mirabell«, »Kleines Konzert«, »Kaspar Hauser Lied«, »Gesang des Abgeschiedenen«, »Sommersonate«, »Träumerei«, »Einklang«, um nur einige nennen). In der seiner Lyrik ureigenen Rhythmik, Melodik und Klangfärbung, die den Gedichten mitunter den Charakter von Musikstücken verlieh, kann Trakl mit Recht als Komponist der Sprache, als Musiker unter den Poeten gelten. Oder, wie Camill Hoffmann bereits 1919 im Kunstblatt vermerkt: »Georg Trakl, seit 1915 tot, war der Unvergleichliche, dessen geheime musikalische Erfülltheit jede Zeile ganz durchtränkte. Keiner schrieb so bezaubernde Mystik der Klänge wie er« (Hoffmann 1919, 61). Tatsächlich hat die Frage nach der Musikalität von Trakls Dichtung auch eine gewisse Forschungstradition begründet, deren Anliegen es zunächst ist, »in den musikalischen Bauprinzipien einen der für Trakls Lyrik bestimmenden Strukturzüge darzustellen« (Hellmich 1971, 17). Schon Walther Killy stellt den klanglichen Aspekt in den Vordergrund: »Der ›Sinn‹ dieser Gedichte ist mit ihrer Musik untrennbar verbunden; […]. Welcher Art er sei, sagen sie nicht. Sie schlagen nur Töne an, geben unserer Imagination Richtungen […]. Das Auf- und Abklingen der Vorstellungen selbst ist eine Figuration dieser Vergänglichkeit. Die offenen Räume, welche die Deutungen vergebens mit Gedankengut zuzuschütten trachten, sind Gegenstand dieser Verse. Ihre Widersprüchlichkeit, ihre oft unheimliche Vieldeutigkeit will nicht festgelegt werden. Man kann sich ihre Musik und Struktur wohl inhaltlich bewusst zu machen suchen; aber ihren Gehalt fixieren hieße genau das ums Leben bringen, was ihn und des Hörers Bewegung ermöglicht« (Killy 1967, 50). Gleichwohl konstatiert die Forschung einen »spezielle[n] Melos« der Traklschen Lyrik, deren »Klang […] festen, ja, mathematisch fixierbaren Gesetzen unterworfen« sei (Hellmich 1971, 130). Musik ist in den Gedichten somit selbst formal angelegt, wie Hellmich es etwa mit Blick auf die Figur des Leitmotivs sowie der poetischen Gleichstellung von

E. Nickel und P. Theisohn

Klang und Bild herausarbeitet (ebd., 55–71; 88). Doppler erweitert die Analysen um den Aspekt der kompositorischen Ästhetik bei Trakls Zeitgenossen in der Musikwelt, nicht zuletzt auch bei  Anton Webern, dem Schöpfer der ersten Vertonungen des Dichters: »Das Anklingenlassen von Themen und ihre Reduktion bis auf ein Wort […] ist ein durchgehendes Stilprinzip Trakls« (Doppler 1995, 75). Unter Bezugnahme auf die der Phänomenologie entlehnte Feldtheorie wird schließlich von Gerber-Wieland die Klanglichkeit der Dichtung Trakls als ein ›Sinnstrang‹ begriffen, der im Zusammenwirken mit anderen Sinnsträngen komplexe Bedeutungsnetze innerhalb des sprachlichen Feldes generiert. Dementsprechend dient auch das »klangliche Moment von Trakls Lyrik […] nicht zur lautlichen Illustration, sondern legt Verweisungszusammenhänge in der TextWelt offen, die Deutbarkeit und Deutung anzeigen« (Gerber-Wieland 2002, 26 f.). Diese Überlegungen sind nicht zuletzt deswegen wichtig, weil erst unter der Voraussetzung einer im Gedicht angelegten klanglichen Bedeutungsebene – wie immer sie sich auch im Einzelnen ausdifferenzieren mag – die zahlreichen Vertonungen von Trakls Lyrik (Winkler zählt 1998 mehr als 400 Einzelvertonungen von rund 100 Komponisten; Winkler 1998, 32) tatsächlich auch als ›Interpretationen‹, als Realisationen von Sinnpotenzial lesbar werden.

Trakl-Vertonungen Die musikalische Bezugnahme auf Trakls Werk kennt – wie Winkler dies expliziert – unterschiedliche Grade der Abstraktion, die von der »unreflektierte[n]«, ans Volkslied grenzenden Adaption insbesondere im Chorlied über die kunstliedhafte Vertonung und die Trakls Text fragmentierende Umsetzung (etwa in Holligers »Siebengesang« oder Kelterborns »Drei Fragmenten für Chor«) bis zur völlig textlosen Referenz bei Willy Burkhard oder Klaus Schulze reichen (Winkler 1998, 307 f.). Der Schwerpunkt der sich anschließenden Ausführungen liegt zweifellos auf den Kompositionen in

104  Zu den Vertonungen von Georg Trakls Lyrik

Kunstliedtradition, die den Kern von Trakls musikalischer Rezeption bilden. Mit Blick auf Winklers Vertonungsstatistik ist festzuhalten, dass »Verklärter Herbst« (25 Kompositionen), »Ein Winterabend« (21) und »Rondel« (17) mit Abstand am häufigsten vertont wurden, gefolgt von »Im Frühling« (II), »Klage« (II) (jeweils 10), »In ein altes Stammbuch« und »Grodek« (jeweils 9). (Zur detaillierten Aufstellung der vertonten Gedichte vergl. Winkler 1998, 338– 345.)

Webern Am Beginn der musikalischen Auseinandersetzung mit Trakls Werk stehen Anton Weberns Vertonungen. Insgesamt handelt es sich um sieben vollendete Stücke und neun Skizzen, entstanden zwischen 1915 und 1921. Sechs der sieben Stücke – »Die Sonne«, »Abendland« (I), »Abendland« (II), »Abendland« (III), »Nachts« und »Gesang einer gefangenen Amsel« – bilden später Weberns Opus 14 (»Sechs Lieder nach Gedichten von Georg Trakl für eine Singstimme, Klarinette, Baßklarinette, Geige und Violoncell«, uraufgeführt auf den Donaueschinger Musiktagen 1924). Das siebte Stück »Ein Winterabend« geht als Schlusslied in Opus 13, »Vier Lieder für Sopran und Orchester« ein (uraufgeführt im Februar 1928 in Winterthur). Begegnet ist Webern Trakls Lyrik nach eigenem Bekunden erstmals im Brenner 1914. Sie hat bei ihm sogleich einen »tiefen Eindruck« hinterlassen, sodass er sich unmittelbar die erste Sammlung der Gedichte und, nachdem er von Trakls Tod erfahren und Schönberg darüber unterrichtet hat, auch Sebastian im Traum anschafft (Brief an Schönberg vom 11.11.1914, zit. nach Shreffler 1995, 25). Festzuhalten ist zunächst, dass bereits die von Webern eigens für die Trakl-Lieder in Anschlag gebrachte Chromatik dafür sorgt, dass die Komposition ohne einen »fixen Bezugspunkt« bleibt und das Gedicht einem »klanglichen Schwebezustand« überantwortet wird (Gerber-Wieland 2002, 261). Dabei bildet die – offensichtlich stets zuerst notierte – Gesangs-

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stimme in Weberns Kompositionen die einzig durchgängige Instrumentallinie, während die übrigen Instrumente – das gilt für das orchestral begleitete »Ein Winterabend« wie für das nur vier Instrumentalstimmen umfassende Opus 14 – immer wieder aussetzen, sich abwechseln und dort, wo sie sich übereinanderschichten, eine semantische Verdichtung anzeigen, die interpretatorisch jedoch kaum einzuholen ist. Die Gesangslinie setzt den Text mit wenigen melismatischen Ausnahmen syllabisch um, ›deklamiert‹ das Gedicht, dessen grammatische Struktur und Strophenaufbau ungebrochen in die Komposition übernommen werden (so etwa die Dreiteiligkeit in »Ein Winterabend«, vergl. Andraschke 1988, 96). In der Melodieführung scheint sich der Gesang hingegen vollständig von den Bedeutungsstrukturen des Textes zu lösen. Hieraus resultiert im Gesamteindruck eine Inversion: »Der Gesang strebt zur Instrumentalisierung, die Instrumente tendieren zur Vokalisierung« (Gerber-Wieland 2002, 261). In jener »Setzweise«, durch welche sich »die instrumentalen Phrasen unterm Gebot des unerbittlich differenzierenden Gehörs solange« teilen, »bis von Instrument zu Instrument nicht übrig bleibt als der einzelne Ton«, erkennt Adorno Weberns Einzigartigkeit – und gerade hierin erscheint ihm auch Trakl als »der wahrhaft gemäße Dichter Weberns« (Adorno 1998, XVII, 207). In den »Trakl-Liedern« habe dieser »seinen Gegenstand gefunden«, dienen diesem doch »die äußerste Kunst der kompositorischen Technik, das wachste kritische Bewußtsein, die bewußteste Formdisziplin […] allein dazu, die Musik aller vorgegebenen Regel, aller willkürlich-geistgesetzten Bindung, aller Architektur und Symmetrie zu berauben, bis sie wahrhaft klingt wie der Gesang einer gefangenen Amsel« (ebd.). Grundsätzlich ist zu diskutieren, ob und inwiefern Text und Musik in Weberns Trakl-Liedern überhaupt miteinander agieren. Zenck dekretiert etwa mit Blick auf die Vertonung von »Gesang einer gefangenen Amsel«, dass die Annäherung an Trakl hier gerade durch die Indifferenz gegenüber dem Text erfolge (Zenck 1977, 241). Auch von Fischer konstatiert zwar in Bezug auf die Vertonung von »Nachts«, dass

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die auf der höchsten Note des Stücks (c3) in fortissimo gespielten Achtel durchaus eine Klimax anzeigen, die auf die Worte »Dein roter Mund besiegelte« fällt, dass dem Vers »O! wie stille brannte das Licht« das »ruhiger« und »ritardando« entspricht (von Fischer 1992, 11). Gleichwohl bewertet auch er Weberns Zugang zu Trakls Lyrik als »direct and emotional rather than sophisticated and formalistic« (ebd.) und erkennt in der Gesangslinie ein bewusst aufgeladenes, überhastetes Verlesen des Textes. Shreffler wiederum veranschlagt eine a-mimetische Beziehung zwischen Text und Musik, in der das Gedicht nicht einfach musikalisch ›reflektiert‹, sondern sich die Komposition vielmehr analog zum Text verhalten würde (Shreffler 1995, 242). Shreffler verweist in diesem Zusammenhang auf Weberns Skizzen, die eine intensive Auseinandersetzung mit der Bildlichkeit der Gedichte dokumentieren, über welcher Trakls »infernalisches Chaos von Rhythmen und Bildern« (ITA V.1, 131) sukzessive verschwindet und durch Weberns eigene Bilder und Rhythmen ersetzt wird (Shreffler 1995, 243). Gerber-Wieland schließlich kritisiert die Trennung von musik- und textbezogener Lektüre grundsätzlich und hält die isolierte Analyse des kompositorischen Anteils für »technischkonstruktivistische Zahlenverklammerungen«, die die »gegenseitige Bedingung von Expression und Konstruktion« überdecken (Gerber-Wieland 2002, 39). Dem setzt sie ein beide Ebenen zueinander in Bezug setzendes, aufwändiges Interpretationsverfahren entgegen, das etwa rhythmische Analogiebildungen, die Markierung chromatischer Bereiche und melodische Verlaufsformen als semantisierbare Strukturelemente erkennt, mit deren Hilfe Trakls Gedicht durch Webern neu lesbar wird. So rücken etwa in »Die Sonne« die Verse »Ist ein Gutes und Böses bereitet« und »Schön ist der Wald, das dunkle Tier« eng zueinander, insofern beide Melodielinien auf das zweigestrichene h hinführen (ebd., 205); in »Abendland I« wiederum wird das »Frühlingsgewitter« der Schlusszeile durch Webern ins ritardierende Pianissimo gesetzt und damit zur Verflüchtigung gebracht (ebd., 216 f.); im »Gesang einer gefangenen

E. Nickel und P. Theisohn

Amsel« spiegelt sich sodann die gesangliche Tonhöhenkonstellation von »So leise« mit der von »ersterbend«, während die Geige die das »So leise« unterlegende absteigende Phrasierung noch einmal verkürzt wiederholt, worin – wie Gerber-Wieland es deutet – sich »das Unausweichliche« »versinnbildlicht« (ebd., 254).

Hindemith und Adorno Unter den Komponisten der frühen TraklVertonungen tritt als Antipode Weberns insbesondere Hindemith hervor, der 1920 »Trompeten« für Sopran und Klavier, 1922 dann »Die junge Magd« als sechs Ensemblelieder für Altstimme, Flöte, Klarinette und Streichquartett vertont. Insbesondere die zweite Komposition, die wie Trakls Gedicht in sechs Teile sich gliedert, verdient gesonderte Beachtung, zumal unter Hindemiths frühen Kompositionen »Die junge Magd« die einzige ist, die er selbst auch später noch als vollwertig gelten lässt (Bork 2006, 182). Hindemith folgt in der Satzform einerseits sehr strikt der gleichmäßigen Struktur von Trakls Zyklus, indem jedes der sechs Lieder dreiteilig nach dem Muster ABA aufgebaut ist. Die Verpflichtung auf das Schema entspricht dabei nicht allein dem kompositorischen Grundverständnis des frühen Hindemith, sondern in diesem Fall auch Trakls Text, der das Dasein der Magd nahezu naturhaft zu fassen versucht und schon im ›Auf- und Niedergehen‹ der Eimer eine regelhafte, zyklische Bewegung annonciert. Indessen wird diese Gleichförmigkeit bei Hindemith zwar im Aufbau und in der melodischen Übersetzung der Themen durch die Einzelstimmen hindurch evoziert, jedoch ist es die Abweichung von der Symmetrie, die Verschiebung von Proportionen durch die Einleitungen und Überschneidungen der Melodik der Einzelteile (bereits im ersten Lied taucht im zweiten Teil die den ersten Teil bestimmende absteigende E-Dur-Tonleiter auf), die den Liedern ihre Spannung verleiht. Wird also das jeweilige Thema in der Einleitung durch eine Stimme vorgegeben (im zweiten, fünften und sechsten Lied durch die Flöte, im dritten Lied durch die Klarinette), um sodann durch

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das durch das Streichquartett aufgenommen und kontrapunktisch weitergeführt zu werden, so ergeben sich die Momente, in denen die Individualisierung einer Stimme hörbar wird, vorwiegend aus jenen Inkongruenzen inmitten des Gleichlaufs. Auffällig ist, dass die Gesangsstimme dabei gerade zurückzustehen scheint, während sich neben ihr insbesondere die Viola mit einem ungleich größeren Ambitus als Trägerin der Einzelmelodik erweist (vgl. Bork 2006, 196 f.). Inszeniert wird hierin nicht zuletzt auch ein Verschwinden der Stimme, ein Vergehen des Subjekts in der Wirklichkeit als steter Rekurrenz von Themata. »So wie sich für die junge Magd keine Möglichkeit des Entrinnens aus der Monotonie des Alltags eröffnet […], kreist auch der musikalische Satz beständig um dasselbe motivische Material« (Bork 2006, 192). Adorno, der später seine »verstohlene Liebe« zur ›Jungen Magd‹ bekennen wird (Adorno 1998, XVII, 237), hat sich Trakl kompositorisch zweimal zugewandt. Zum einen im dritten der »Vier Lieder für eine mittlere Stimme und Klavier, op. 3« (1928), das – zwischen zwei Gedichten von Theodor Däubler und Georg Heyms »Letzte Wache« – sich Trakls »In Venedig« annimmt; zum anderen in der zwischen 1938 und 1941 entstandenen »Klage«, die insgesamt sechs Trakl-Gedichte (»Im Park«, »Nachts«, »Im Frühling« [II], »Entlang«, »Sommer« und »Klage« [II]) für Singstimme und Klavier vertont. In musikgeschichtlicher Hinsicht stellen die Lieder, wie das Böttinger mit Blick auf die Vertonung von »Entlang« festgehalten hat, eine Auseinandersetzung mit der orthodoxen Zwölftontechnik dar. (Böttinger spricht sogar von »Ketzerei«, Böttinger 1989, 64 f.) Der Berg-Schüler Adorno folgt dort durchaus der Reihentechnik mit Umkehrungen und Krebsen, durchsetzt diese aber mit Zehnerreihen, schreitet diese ›entlang‹, ruft das strenge Ordnungsprinzip im selben Maße auf, wie er es auch immer wieder durchbricht. In der Melodik grundsätzlich viel näher bei Webern als bei Hindemith, unternehmen Adornos Vertonungen Deutungsversuche, obschon sie Trakls Texten in der Rhythmik zunächst auch über Unwegsamkeiten schlicht syllabisch zu folgen scheinen. Wo

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»In Venedig« insbesondere durch die Dehnung von Silben die Wortfelder ›Nacht‹, ›Gesang‹ und ›Einsamkeit‹ hervorhebt (Winkler 1998, 146), da führen die »Klage«-Lieder in ihrer sich in Arpeggien langsam aufbauenden Akkordik zu jenen Schwebezuständen, die auch bereits Weberns Vertonungen charakterisieren, und die Winkler insbesondere durch das »Quartmotiv […], das ambivalent ist und in verschiedene Richtungen führen kann«, evoziert sieht (ebd., 155). Strukturbildend mit Blick auf den Text wirkt die Akkordik dann abermals im Schlussgedicht, das die Verfallslogik des Zyklus in die ›Klage‹ auslaufen lässt: »Schlaf und Tod, die düstern Adler« aus dem ersten Vers (ITA IV.2, 332), sind über den Akkord sowohl mit dem Schlussbild, dem »schweigenden Antlitz der Nacht«, als auch mit Vers 9, der »Schwester stürmischer Schwermut«, die den zweiten Liedteil eröffnet, verbunden. In der klanglichen Überblendung der drei Aspekte fügt das zum Ende hin verklingende Klavierspiel die bläulich-nächtliche Welt der beiden Anfangslieder, aus denen sich der Rahmen eines Erinnerungsszenarios bildet, zum allmählichen Abstieg durch die Jahreszeiten hindurch. Der Rahmen schließt sich, doch mit der Rückkehr in die Nacht wird auch das Vergehen, das Bewusstsein des Todes dieser »Klage« eingeschrieben.

Nach den Liedern Wie Winkler korrekt festhält, wird diese erste Phase der musikalischen Trakl-Rezeption, die nicht bei Adorno endet und an der sich neben den erwähnten Komponisten etwa auch Hanns Eisler, Lilly Reiff-Sertorius, Adolf Busch oder Friedrich Wildgans beteiligen, ganz durch die Orientierung am ›Lied‹-Konzept bestimmt (Winkler 1998, 164). Die Folgegeneration nähert sich Werk und Gestalt Trakls hingegen als einem bereits kulturell implementierten, dem unmittelbaren Zugriff somit entzogenen Komplex. Bleibt Trakl auch in der wiederaufgenommenen Reihentechnik der Darmstädter Schule ein Thema (prominent etwa in Camillo Tognis kammermusikalischer Vertonung des »Helian« [1954; 1961]), so schlägt sich die zu-

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nehmende Entfernung vom ›Urtext‹ vor allem im zunehmend spielerischen Umgang mit diesem bzw. in dessen Einbezug als kulturelles Zitat nieder, von der Collage aus mehreren Trakl-Texten bzw. deren Ergänzung durch andere Autoren über die Entgrenzung zu größeren Themenkomplexen. Dies gilt bereits für Hans Werner Henzes Kammerorchesterstück »Apollo et Hyazinthus« (1949), das im Schlussteil im Kantatenstil, getragen von Cembalo und Altstimme, Trakls »Im Park« vertont. Die Vertonung wird hier gleichwohl dem Gesamtkonzept unterworfen; sie ist »als Klagegesang auf den Tod des Hyazinthus gedacht […] und gleichzeitig als Einverständnis mit dem früh verstorbenen Dichter, von dem ich gelernt habe, was das heißt: Verwandlung des Bösen, Siebengesang des Todes, Hölle des Schlafs, das sanfte Zyanenbündel der Nacht«, wie Henze selbst 1953 in einem Beitrag für Radio Bremen erklärt (Henze 1964, 11). Henzes Wahl von »Im Park« gilt somit dem motivischen Kontinuum, das sich vom Hyakinthos-Mythos, der aus dem Blut des getöteten Geliebten die klagende Blume ersprießen lässt, bis zu Trakl führt, dessen Gedicht »im alten Park« die »Stille gelb und roter Blumen« vernimmt, die selbst »sanfte[] Götter«, auch in Trauer befangen sind (ITA II, 158). Eine noch weiter reichende Abstrahierung vollzieht sich dann in Heinz Holligers »Elis«Nocturnes (1961), denen Trakls gleichnamiges Gedicht bzw. die Figur des Knaben Elis nur noch als Mottogeber für Rhythmenfolgen dienen, die wiederum auf die indische Mondmythologie verweisen und somit die »mondenen Augen« des Elis (ITA II, 433) in ein globalkulturelles Projekt der Himmelfahrt überführen, an dessen Ende dann auch Elis’ »Herz am einsamen Himmel« schaukelt (ebd., 455). Die Transpositionsarbeit gilt in diesem Fall eindeutig nicht der musikalischen Aus- und Umgestaltung des Textes als vielmehr dem Ausbau eines durch Trakl angelegten Konzeptes figuraler Mythenschöpfung, dem Holliger eine neue Matrix stiftet, die zwar einleitend ausführlich kommentiert wird, ihre Wirkung aber wortlos entfaltet. Als eine Fortführung dieses Projekts ließe sich dann auch Peter Ruzickas »Elis«-

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Komposition für Mezzosopran, Oboe und Orchester (1969) verstehen, die, zweifellos stark von Holliger beeinflusst, gerade die Unmöglichkeit einer analytischen Annäherung an Trakls Gedicht zum Anlass nimmt, die Musik zum ›Seismographen‹ der poetischen Struktur werden zu lassen (Winkler 1998, 230). Mit Ausnahme des mittleren Satzes kommt auch Ruzicka ohne Singstimme aus; tatsächlich wird es jedoch schwer, hier von ›Vertonung‹ zu sprechen, wenn damit nicht die Vertonung des Verhältnisses selbst gemeint sein soll, das zwischen Trakl und seinen Rezipienten besteht. Die so distanzierte wie merklich freiere Beziehung zu Trakls Texten schlägt sich zeitgleich in Kompositionen nieder, die einzelne Gedichte segmentieren, rekodieren oder neu zusammensetzen. Zu den prominentesten Exemplaren gehört sicherlich André Boucourechlievs »Grodek«-Vertonung (1963; 1969), die die letzten sieben Zeilen des Gedichts massiv verändert, »die Geister der Helden, die blutenden Häupter« löscht und die Verse »O stolzere Trauer! ihr ehernen Altäre / Die heiße Flamme des Geistes nährt heute ein gewaltiger Schmerz« (ITA IV.2, 338) durch das schlichte »O bitterer Tod« ersetzt (von Fischer 1992, 15). Getilgt ist damit alle Offenheit der Traklschen Zeilen: Der Kriegstod wird unbegehbar, einsinnig, sein Schrecken ›bitter‹, er gibt nichts zu denken. Zugleich wird das Gedicht durch einen Vorsatz aus »Offenbarung und Untergang« der Schwester zugeordnet; es ist ihr »blutender Mund«, der die Verse spricht, durch die ihr eigener »Schatten« schwankt. Die deutliche Botschaft dieser Umgestaltung – der Krieg ist nicht zu ästhetisierende, schon gar nicht zu verrätselnde Schrecknis – wird dadurch unterstützt, dass die Vertonung die Sopranstimme einfach mit der Flöte interpunktionslos fließen lässt, während die drei Schlagzeuggruppen die Akzentuierungen übernehmen. Erst mit der Silbe »Tod« löst sich die Flöte in einem dreifachen Fortissimo auf dem viergestrichenen c los und tritt an die Stelle der Stimme, der im Nachklang nur noch die Worte »Die ungeborenen Enkel« bleiben. Der wiederkehrende Eingriff in die Textkonstitution prägt dann auch die Trakl-Ver-

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tonungen ab 1980, die Winkler in ihrer großen Mehrheit dem von ihr so genannten »Salzburger Kreis« zuordnet, zu dem sie unter anderem Klaus Ager, Cesar Bresgen, Johannes Kotschy und Rolf Maedel zählt, deren Grundlage »häufig Textcollagen aus verschiedenen Trakl-Zitaten« bildet (Winkler 1998, 248 f.). Umgekehrt beginnt sich die Komposition nun ganz bewusst auch für den fragmentarischen Charakter von Trakls Dichtung zu interessieren. Rudolf Kelterborn hatte die Fragmentarisierung in seinen »Fünf Madrigalen für grosses Orchester und zwei Solostimmen« (1969) noch selbst vollzogen, indem er aus Trakls »Sommer« die letzten fünf Verse herauslöst und sie gerade nicht vertont, sondern zur Kommentierung des musikalischen Geschehens nutzt. Manfred Trojahn sucht sich hingegen in seiner »nachtwandlung« (1983/1984) gezielt Fragmente aus Trakls Nachlass, um diese, geführt von einem atonal abgefassten Mezzosopran, je nach Textlänge – bisweilen handelt es sich nur um einen Vers – mit mehr oder weniger dichter Instrumentierung begleiten zu lassen, wobei die Kompositionen bisweilen an ›minimal music‹ erinnern und in der Tonalität – wie die Fragmente auch – offenstehen, ihren semantischen Anschluss nicht mehr finden. Vom musiktheoretischen Diskurs weitgehend unbeachtet, jedoch keineswegs von ihm zu trennen, erreicht die kompositorische Begegnung mit Trakl indessen den Höchstgrad an Abstraktion mit einer melancholischen Space-Modulation, die Klaus Schulze, Pionier der elektronischen Musik, auf seinem 1978 erschienenen Album X unter dem Titel »Georg Trakl« veröffentlicht. Getragen wird das Stück, das in der (mittlerweile wieder verfügbaren) Ursprungsfassung 26 Minuten dauert, durch eine eintaktige, sich unaufhörlich wiederholende Bassfigur, der zunächst eine klagende Oberstimme, im weiteren Verlauf eine Streicherfläche und dezente Schlagzeugbegleitung zugesetzt werden. Schulze nutzt Trakl dabei als Prüfstein: Ihm geht es um die Überführung humanoider Kulturprofile – zu denen neben Trakl auch Nietzsche, Kleist, Frank Herbert, Ludwig II. und Friedemann Bach zählen – in Wellenfunktionen, um

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die synthetisch-serielle Emulation des Gefühlkomplexes, der sich mit der Chiffre ›Trakl‹ verbindet.

Trakls Fortleben im musikalischen Underground Ist es bereits mit Blick auf die frühesten Vertonungen auffällig, dass Trakls Lyrik eine besondere Attraktivität für Jugendkompositionen besitzt, dass mithin dieses Gedicht den Fragestellungen der Adoleszenz eine spezifische Offerte zu unterbreiten scheint, so verwundert es nicht, dass Trakl sowohl mit seiner Dichtung wie auch als Kulturzitat Eingang in die Jugendmusikkulturen des späten 20. Jahrhunderts findet. Seine Verortung ist dort freilich recht eindeutig: Wiederaufgegriffen wird Trakl insbesondere in der zweiten Gothic-Welle resp. in den deutschen Gothic-Spielarten, die in ihm, wie aber überhaupt im deutschen Expressionismus, einen Vorfahren zu erkennen vermeinen. Das gilt etwa für die Hamburger Formation »Cancer Barrack«, die ihr 1991 erschienenes Album »Welcome to the Cancer Barrack« mit einem düsteren Ambientstück eröffnet, über welches das Wort »Grodek«, in unmenschliche Tiefen gepitcht, in einer dreieinhalbminütigen Schleife läuft. Das Bayreuther Darkwave Duo »Das Ich« deklamiert hingegen im Titeltrack ihres 1994 erschienenen Albums Staub Trakls »Verfall« (II), während die aus Österreich stammenden »L'Âme Immortelle« auf ihrem Debüt »Lieder die wie Wunden bluten« (1997) sich nicht nur im Titel direkt auf Trakls »Nachtlied« (I) beziehen und dieses auch gleich mitvertonen, sondern mit »Die tote Kirche« auch ein zweites Gedicht aus der ersten Phase als Abschluss wählen. Offensichtlich wird dabei freilich, dass diese Rückbezüge vor allem auf die pathetische Absicherung einer wahnsinnigen, sich vermeintlich in Todesnähe befindenden Sprecherposition abzielen. Ungleich interessanter hebt sich davor die Kollaboration des französischen Industrialduos »Étant Donnés« mit Michael Gira, dem Frontmann der »Swans«, ab, aus der 1999 eine Komplettvertonung von »Offenbarung

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und Untergang« hervorgeht. Im Gegensatz zu den sich in der Regel doch eher naiv und identifikatorisch ausnehmenden Trakl-Annäherungen im Wave / Gothic-Bereich besticht das Album durch die Perspektivierung des Textes als einer uneinholbar fremden Schrift: Über einer sich langsam verschiebenden Dark Ambient-Kulisse liest Gira, des Deutschen hörbar nicht mächtig, Trakls Text im Original und verweigert somit gerade die Illusion geistiger oder emotionaler Nähe. Trakls popkulturelles Fortleben im 21. Jahrhundert markiert indessen wohl niemand so gekonnt wie der 2022 verstorbene Kristof Schreuf (vormals »Kolossale Jugend«), der sein 2010 erschienenes Album »Bourgeois With Guitar« mit jenem berühmten, 1909 oder 1910 entstandenen Frontalporträt Trakls versieht, das ihn mit nacktem Hals und starrem Blick zeigt. Erwin Mahrholdt hat in diesem Bild das »Antlitz eines Verbrechers« erkannt: »die Stirn niedrig und eingeengt zwischen dem kellnermäßig gescheitelten Haare und einem Gesichte voll erschreckend starker Triebhaftigkeit: lüstern sich einbohrenden Augen, einer Nase mit geblähten Nüstern und dem Munde mit seinen wollüstigen Zügen« (Mahrholdt 1926, 32). Schreuf greift sich ganz bewusst dieses Bild, collagiert es mit einigen Aquarellstrichen zum blumigen Portrait eines langhaarigen Hipsters mit pinkem Hemd und Krawatte – und unterstellt damit einem zum Triebwesen stilisierten Trakl eine Sammlung an minimalistisch-verträumten Covern angestaubter Pop- und Rocksongs der 1970er und 80er Jahre von Judas Priest bis Donna Summer. Auch diese erscheinen in einem anderen Jahrhundert vermeintlich nur in anderem Kostüm; die eruptive Kraft, die ihnen einst innewohnte, bleibt dennoch nurmehr ferne Erinnerung.

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Entwicklung, Wege und Perspektiven der TraklForschung

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Rüdiger Görner

In der Geschichte der Trakl-Forschung schwankt ihr Bild mehr als das Werk. Auch wenn in diesem »der Schwester Schatten« schwankt – und das bis zuletzt im Gedicht »Grodek« in einem »Hain«, der sich über die Gründe für dieses »Schwanken« ausschweigt (ITA IV.2, 338). Dafür hat sich die Forschung umso beredter über den Schatten der Schwester auf Person und Werk Trakls geäußert. Phasenweise konnte man den Eindruck gewinnen, als sei die Frage nach dem tatsächlichen oder imaginierten Inzest und die damit verbundene selbstbezichtigende Schuldzuweisung des Dichters für die Biographen und Interpreten das entscheidende Problem des Phänomens namens ›Trakl‹ schlechthin. Die poetische Gültigkeit dieses schmalen, aber wirkungsmächtigen Werks steht längst außer Frage und ist literaturgeschichtlich vielfach beglaubigt – besonders im Zusammenhang mit der expressionistischen Dichtung, aber auch darüber hinaus. Über die Frage jedoch, was dieses ›Darüber-hinaus‹ bedeutet, in welche Richtung(en) dieses Werk weist, gehen die Meinungen naturgemäß auseinander. Dass mit dem epochengeschichtlichen Verorten der Dichtung

R. Görner (*)  School of Languages, Linguistics, and Film, Queen Mary University of London, London, UK E-Mail: [email protected]

Trakls letztlich nur etwas Oberflächliches erreicht ist, dämmert jedem, der sich eingehender mit ihr auseinandersetzt.

Textgeschichte. Erste Deutungsansätze Die Deutungsgeschichte dieser Dichtungen beginnt, wie nicht anders möglich, mit ihrer Editionsgeschichte. 1913 erschienen im Kurt Wolff Verlag in Leipzig als Doppelband in der Reihe Der jüngste Tag, vom jungen Lektor Franz Werfel betreut, Trakls Gedichte. Damit stand er in einer Reihe mit Walter Hasenclever, Franz Kafka, Ferdinand Hardekopf, Emmy Hennings, Carl Ehrenstein und Franz Werfel selbst, deren Dichtungen in dieser neuen Reihe für anspruchsvolle zeitgenössische Literatur zuvor veröffentlicht wurden. Eine nur unwesentlich veränderte Neuauflage brachte der Verlag 1917, nachdem wiederum Wolff Trakls zweiten Gedichtband, Sebastian im Traum, posthum verlegt hatte. Trakl hatte noch die Korrekturen lesen können und damit auch die Anordnung der Gedichte autorisiert. Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg legte der seit 1912 mit Trakl befreundet gewesene Mitarbeiter bei der für den Dichter so wichtigen Kulturzeitschrift Der Brenner, Karl Röck, eine erste Gesamtausgabe der Gedichte erneut im Kurt Wolff Verlag vor. Ebenso prägend wie irreführend an der Röck-

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2_105

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schen Edition war sein Einteilungsverfahren und die in thematischen Gruppen angeordneten Gedichte, die einen Vorgriff auf ihre Deutung darstellten. Die folgenden Ausgaben der Dichtungen von 1928 und dann 1938 (erstmals bei Otto Müller in Salzburg, der fortan zum Hauptverlag für Trakliana wurde), jeweils mit einem Vorwort von Ludwig von Ficker versehen, übernahmen im wesentlichen Röcks Schema. Ein Novum bot dann unmittelbar nach 1945 die in der Schweiz von Kurt Horwitz besorgte Gesamtausgabe, die in einem Anhang »Zeugnisse und Erinnerungen« versammelte und damit einen entschieden biographischen Zugang zu den Gedichten zu befördern verhalf. Weniger ins Gewicht fielen die zwischen 1920 bis 1939 erschienenen Einzelausgaben, wobei Trakls Freund Erhard Buschbeck wiederum bei Otto Müller erstmals die »Jugenddichtungen« unter dem Titel Aus goldenem Kelch herausbrachte. Der eigentlich qualitative Sprung in der Editionsgeschichte erfolgte durch Walther Killy und Hans Szklenar, deren zweibändige historisch-kritische Gesamtausgabe von 1969 beinahe dreißig Jahre lang die verbindliche Grundlage der Auseinandersetzung mit Trakl bildete. Doch erst die 1995 bis 2014 von Eberhard Sauermann und Hermann Zwerschina erarbeitete sechsbändige historisch-kritische Innsbrucker Werk- und Briefausgabe mit Faksimiles der handschriftlichen Texte ermöglichte das genaue Nachverfolgen der jeweiligen Textgenesen und Bearbeitungsphasen. Sie zeigt Trakls Arbeitsweise, sein Entwerfen und Verwerfen sowie des Dichters Feilen, Überarbeiten und die minutiösen Korrekturen, die er Fassung um Fassung vornahm. Einen ersten Überblick über die »Druckund Textgeschichte Georg Trakls« lieferte Ludwig Dietz (Dietz 1962), wie überhaupt die früh einsetzende Bemühung um ein möglichst vollständiges Bibliographien der Werke von und über Trakl auffällt (Meyknecht 1935; Kossat 1939; Feilecker 1947; Ritzer 1956 u. 1983; Brown 1970; Wetzel 1971; in Fortsetzung dann im Rahmen der Trakl-Studien), erstmals durch Ernst Bayerthal im Rahmen seiner pionierhaften kritischen Untersuchung von Georg Trakls Lyrik

R. Görner

(Bayerthal 1926). Das überschaubare Werk generierte nämlich eine schon bald nur noch schwer überschaubare Sekundärliteratur. Diese ›Textzeugen‹ befanden sich in Gesellschaft von biographischen Zeugnissen der Freunde Trakls, Erinnerungen daran, wie er ›wirklich‹ war. Die herausragenden Beispiele dafür reichen von Erhard Buschbecks dreifa­ cher Würdigung (Buschbeck 1917; 1920; 1926), Ludwig von Fickers gleichfalls mehrfachen Erinnerungen (Ficker 1920; 1926; 1954; 1960; 1967), von Karl Borromäus Heinrich (1926) und Erwin Mahrholdt (1926) bis zu Trakls Mitschüler und Apotheker Heinz Klier, der die kurze, aber verheerende Fronterfahrung mit ihm bis zuletzt mit dem traumatisierten Dichter teilte (Klier 1914). Noch Otto Basil kam 1965 in seiner bahnbrechenden biographischen Studie Georg Trakl, die 2010 in 19. Auflage vorlag und damit nach wie vor die (zu Recht) mit weitem Abstand verbreitetste biographische Quelle über den Dichter ist, zu folgendem pointierten Befund über die Trakl-Forschung bis in die frühen sechziger Jahre: »Gewissermaßen aus Tradition geriet die Trakl-Deutung in die Hände von Personen, die eine Art Glaubensgemeinschaft bilden, eine Trakl-Kirche – dieses Wort ohne Ironie gebraucht. Die Trakl-Kirche mit ihrer Hierarchie von Deutern und Kommentatoren beanspruchte nicht nur den Primat in der Trakl-Forschung, sondern auch Unfehlbarkeit des Urteils und den Nimbus der Orthodoxie. Kurz, der Dichter fiel einer grundsätzlich metaphysischen Denkmalspflege anheim, die seine grobstoffliche irdische Existenz, auch die Pathogenese seines Werkes, geflissentlich sublimierte oder pietätvoll einzunebeln versuchte. Das Trakl-Bild wurde von diesen Gläubigen in ihrer Kirche aufgestellt, und nun blickt es, wie eine Ikone silbern und in den andern Trakl-Farben schimmernd, weihrauchumwölkt auf uns hernieder« (Basil 1965, 8 f.). Zur Veränderung dieser wenig hilfreichen hagiographischen Herangehensweise hat nicht zuletzt Basil selbst beigetragen; die editionskritischen Leistungen von Killy, Szklenar und schließlich von Sauermann und Zwerschina haben dann das Erarbeiten eines authentischeren

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Bildes von Trakl entscheidend gefördert. Gleiches gilt für die Gründung des Brenner-Archivs (1964), das eine quellenkritische Erschließung des Trakl-(Teil)Nachlasses erst ermöglichte. In Folge haben seine Direktoren (Walter Methlagl, Johann Holzner und seit 2014 Ulrike Tanzer) gerade auch die Kontextualisierung von Trakls Schaffen und Wirken forschungsstrategisch zu einem ihrer Hauptanliegen gemacht. Folgerichtig war denn auch Sauermanns und Zwerschinas Arbeit an der historisch-kritischen Innsbrucker Ausgabe der Werke Trakls im Brenner-Archiv angesiedelt. Diese institutionelle Ausrichtung der Trakl-Forschung erhielt durch die Gründung der Georg-Trakl-Forschungsund Gedenkstätte in Salzburg 1973 eine zweite Säule. Die dortigen Sammlungen, namentlich der Nachlass der Trakliana von Erhard Buschbeck, bleiben verbunden mit der Schenkung biographisch wertvoller Memorabilien durch die älteste Schwester Trakls, Maria Geipel. Hier ist es die singuläre Leistung von Hans Weichselbaum als dem Leiter dieser Forschungsstelle, das biographische Material kritisch aufgearbeitet und in einer Bild- und Dokumentationsbiographie erschlossen zu haben (Weichselbaum 1994 / vollständig überarbeitete Neuausgabe 2014). Als (Mit-)Herausgeber der Trakl-Studien hat Weichselbaum wesentlich an neuen Akzentsetzungen in der Trakl-Forschung mitgewirkt.

Bisherige Forschungsansätze Philologie und Hermeneutik beargwöhnen einander nicht selten. Kaum ein editorisches Großprojekt der letzten Jahrzehnte, bei dem dieses Spannungsverhältnis keine Rolle gespielt hätte. Eine solche Ausnahme stellt jedoch die historisch-kritische Ausgabe der Werke Trakls dar, deren Verfahrensweise und Wert, soweit erkennbar, nicht in Frage gestellt worden sind. Nun veraltet nichts schneller als vermeintliche ›Neuansätze‹. Hierfür wiederum liefert die Deutung der Dichtungen Trakls ein markantes Beispiel. In der Wahrnehmung Trakls im ersten Jahrzehnt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs galt Martin Heideggers essentialistische

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Deutung dieses Dichters als die entscheidende Neuausrichtung in der Auseinandersetzung mit seinem Werk. Er verstand Trakls Dichtungen als ›ein einziges Gedicht‹ (Heidegger 2018, 33) und sah in Trakl den »Sänger des noch verborgenen Abendlandes – das Prophetische, Sängerhafte in heilloser Zeit« (Hinze 1977, 258). Bei Heidegger tritt Trakl eben gerade nicht als poète maudit in Erscheinung, sondern als ein personifizierter Wesenskern von Dichtung als Seinsform. »Der stark emotionsgesteuerten Identifikation der Nachkriegsgeneration mit Trakls melancholischen Gedichten kamen Heideggers Definitionen eher entgegen, doch ließ seine allzu versöhnliche Sicht alle Elemente des Krankhaften und Häßlichen, der paranoiden Angst und Drogenverfallenheit außer Acht, die wichtige Komponente[n] des Gesamtbildes sind« (Hinze 1977, 258). So umstritten Heideggers Art des Zugangs zu Trakl auch war, zum Teil heftige Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten (Schneider 1953; Vietta 1953; Rey 1956), sie schärfte dennoch das Bewusstsein dafür, in Trakl nicht nur den Expressionisten zu sehen, wie dies Gottfried Benn in seiner Anthologie Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts (1955) bekräftigte. Angesichts von Heideggers sprachontologischem Interesse an Dichtung und Deutung, das ihn zunächst zu Hölderlin und Rilke geführt hatte, danach dann zu Trakl, ereignete sich eine Re-Kanonisierung dieses Dichters und katapultierte ihn in die erste Reihe der großen deutschsprachigen Lyriker. In dieser Hinsicht konnte ein Überblicksaufsatz zur Heidegger-Debatte Mitte der Sechziger Jahre befinden, dass Trakl damit ins Zentrum der (Sinn-)Frage nach dem »Ort des Logos« in der Moderne gerückt sei (Falk 1963, 192). Zu einer überraschenden Abkehr von seiner eigenen Deutungsposition kam es bei Heidegger im Jahr des fünfzigsten Todestages von Trakl (1964), offenbar unter dem Eindruck der Debatte, die seine Interpretation von 1953 ausgelöst hatte. Ludwig von Ficker hatte ihn nach Innsbruck eingeladen, um dort den Gedenkvortrag zu halten, was Heidegger jedoch ablehnte. Der Philosoph sprach von seinem »Irregeleitetsein« gegenüber Trakl und gab brieflich zu: »Ich

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erkenne die gedankliche und sprachliche Mittellosigkeit«, seinerseits dieser Dichtung zu entsprechen (zit. nach Hinze 1977, 250). Die Rede von Heideggers »Trakl-Wende« (ebd., 252) ging um. Immerhin war auf diese Weise ein Schlussstrich unter die frühen Jahre der Ablehnung Trakls durch ein verständnisloses Publikum gezogen, »das in den hermetisch verschlossenen Gedichten die ›Gebilde eines Irren‹ sah« (Bithell 1939, 470). Zwar galt Trakl während der nationalsozialistischen Epoche dank seiner protestantisch-österreichischen Herkunft nicht unmittelbar als suspekt, »wurde aber als ›unwerte‹ bis ›dekadent entartete‹ Kunst weder neu verlegt noch offiziell gelesen und als ›rührend atavistisches Überbleibsel‹ der präfaschistischen Literatur abgetan« (Hinze 1977, 251), sofern man von der dritten Auflage der Gesamtausgabe im Jahr des ›Anschlusses‹ 1938 absieht. Bereits 1947 wartete dann Egon Vietta mit einer bündigen Werkinterpretation auf, die Trakls poetische Leistung in vergleichende Zusammenhänge stellte, etwa zu Jean-Paul Sartres Einakter Huis Clos, der Tragödie eines Intellektuellen, der vor seinem Gewissenskonflikt versagt. Vietta reflektiert Nähe und Unterschiede zu Rilke, Stefan George und Else Lasker-Schüler, zieht Parallelen zu Giacomo Leopardi und dessen »depressiv-bedrückten« Stimmungsgehalten (Vietta 1947, 21), wobei er den Unterschied zu den Expressionisten hervorhebt: Trakl habe nicht rebelliert, keine Aufrufe verfasst, nicht Veränderung propagiert, sondern das Leiden am Zustand der Welt artikuliert. Es lohnt, Viettas Einschätzung vollständig zu zitieren, weil sie Stoffkomplexe enthält, die erst viel später in der Trakl-Forschung bestimmend werden sollten: »Er [Trakl] ist kein Deuter der Krise wie Paul Valéry oder Prophet wie Franz Marc, der in phantastischen Gesichten eine künftige Welt skizziert. Aber er ist ein erschreckendes Barometer der seelischen Verdunkelung, die sich über dem Kontinent des Optimismus, des Fortschritts, der intellektuellen Expansion zusammenballt. Er ist auch kein Pessimist wie der Franzose Céline. Seine Trauer greift über die zeitliche Situation hinaus ins Ewig-Mensch-

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liche. Es ist die Trauer vor der menschlichen Unzulänglichkeit überhaupt« (Vietta 1947, 27 f.). Für Vietta bedeutet Trakls Dichtung ein unaufhörliches »Wechselgespräch über den Tod«, Trakl, der von sich behaupten konnte, an Hall »wie ein Toter« vorbeigefahren zu sein (ITA V.1, 283). Aber nicht Heidegger bedeutete die große Wende in der Trakl-Forschung; nicht er lieferte den wesentlichen Neuansatz, sondern Literaten und Publizisten, dann erst Fachwissenschaftler, letztere angeführt von Reinhold Grimm, der mit seinem bahnbrechenden Aufsatz »Georg Trakls Verhältnis zu Rimbaud« (Grimm  1959) den Blick für das erstmals schärfte, was man heute die Intertextualität in Trakls Dichtungen nennt. Mit einer vergleichenden, den Rahmen des literarischen Expressionismus vermessenden Stilanalyse wartete Walter Muschg 1961 auf, wobei er auf das Besondere der Dichtungsart Trakls hinwies – in Abgrenzung von Lasker-Schüler, Gottfried Benn, Franz Werfel und Oskar Kokoschka –, wenn er, die Trakl-Debatten sinnvoll versachlichend, schreibt: »Trakls persönlicher Ton ist durch die syntaktisch einfachen, an Ausrufen und Inversionen reichen, alogisch gereihten Sätze bedingt; nur an dunklen Stellen oder in äußerster Erschütterung tritt bei ihm die Ellipse auf: ›Ihr wilden Gebirge, der Adler / Erhabene Trauer‹« (Muschg 2009, 672). Unter den journalistischen Beiträgen zum Trakl-Jahr 1964 fiel der Artikel des jungen Karl Heinz Bohrer auf, der unter dem Titel »Zersprungene Paradiese« zu einer radikalen Neubewertung Trakls aufrief, abgeleitet von der »radikalen Neuerung der Metaphorik« in diesen Dichtungen, ihrer »alogischen Bildlichkeit, irrealen Farbgebung« und »dieser zum artistischen Prinzip erhobenen Alchimie des Worts« (Bohrer 1964). Er legte nahe, bei Trakl das im Sinne Hölderlins ›Rettende‹ als die eigentliche Gefahr verstehen zu lernen. Wegweisend wurde daraufhin, wie erwähnt, Otto Basils bildbiographische Darstellung, die bereits in ihrem einleitenden erzählten Forschungsüberblick (»Trakl und die Trakl-Deutung«) zwei Fragen formulierte, die bis heute von Bedeutung geblieben sind: »Ist das Werk Georg Trakls ein poetisches Myste-

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rium, das sich nur dem theologisch geschulten Blick enthüllt, beziehungsweise diesem eher als – radikal gesprochen – dem klinischen? Ist die Schönheit seines in Sprachbilder gebannten Todesernstes enträtselbar, und wer besitzt den Schlüssel dazu?« (Basil 1965, 13). Zum Kardinalthema ›Inzest‹ schrieb er sich und künftigen Biographen ins Stammbuch: »Trakl erlitt eine inzestuöse Bindung, und die davon Betroffene war seine jüngste Schwester Margarethe […], die ihm innerlich und äußerlich, sogar physiognomisch ähnelte. […] Im Rahmen einer Biographie darf diese Beziehung weder dramatisiert noch zum alleinigen Angelpunkt gemacht werden, um den die Trakl-Welt sich dreht. Man darf sie aber auch nicht metaphysisch vernebeln, beziehungsweise wegzuretuschieren versuchen […].« (Basil 1965, 15). Waren die Inzest-Gelüste, so galt es zu folgern, Trakls (unbewusste) ›Rache‹ an der ungeliebten, weil unnahbaren Mutter (Hartung 1987), oder entsprangen sie narzisstischen Empfindungen, Akten der Selbstliebe angesichts der so großen Ähnlichkeit zwischen diesen beiden Geschwistern, buchstäblich einem Komplex, der für alle psycho-poetologischen Zugänge zu Trakl virulent geblieben ist (vgl. Kleefeld 1985)? Das »zersprungene Paradies«, das Bohrer mit Trakls manisch-wiederholter Anrufung »O« in Beziehung setzte, kehrte noch bei Harald Hartung in seiner Würdigung Trakls in der Bruchform der »zerbrochenen Spiegel« wieder (Hartung 1987). Von Basil bis Weichselbaum spielen Bilder in der Darstellung von Leben und Werk Trakls eine entscheidende Rolle, offenbar dem Wunsch entsprechend, das schwer Erklärbare anschaulich werden zu lassen, wobei beide es dem Leser überlassen, dieses vielfach abgebildete Gesicht zu interpretieren – als Antlitz des modernen Dichters mit Dandy-Gesicht, Verbrechervisage oder als gefallener Engel, mal grobschlächtig, mal mit fein geschnittenen Profil ebenso gut wie nachlässig gekleidet, schneidig sogar in Uniform, ganz anders als Rilke zu jener Zeit, den die Uniform zu einer Gestalt des Jammers werden ließ.

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Zwei Aphorismen sind von Trakl überliefert, dessen einer zum festen Bestand der Trakl-Deutungen gehört, weil er geradezu idealtypisch von einem christlich geprägten Existentialismus zeugt, wie Trakl ihn, durch Carl Dallago vermittelt, im Brenner-Kreis von Søren Kierkegaard aufgenommen hat: »Gefühl in den Augenblicken totenähnlichen Seins: Alle Menschen sind der Liebe wert. Erwachend fühlst du die Bitternis der Welt; darin ist alle deine ungelöste Schuld; dein Gedicht eine unvollkommene Sühne« (ITA IV.2, 323; vgl. Klinger 1988). Trakl hatte seinem Förderer, Ludwig von Ficker, diese Aufzeichnung kurz vor seinem Transport zur Front am 24. August 1914 übergeben. Mündlich soll er hinzugefügt haben: »Aber freilich – kein Gedicht kann Sühne sein für eine Schuld« (Basil 1965, 146). Kaum eine Erörterung Trakls, die nicht diese vier bis fünf Thesen, die sich aus diesem »Gefühl« ergeben, zumindest erwähnt (vgl. u. a. Hartung 1987). Man kann sie jedoch schwerlich als ›poetologisch‹ bezeichnen, wie ja überhaupt poetologische Äußerungen Trakls fehlen. Entsprechend finden sich bei Trakl auch keine im eigentlichen Sinne poetologischen Gedichte. Dass es zu diesen ›Thesen‹ überhaupt kommen konnte, setzte offenbar eine von Trakl genau bezeichnete Stimmung voraus: ein Empfinden, welches das Sein des Todes fühlt. Und diesem Empfinden verdankt sich dieses humane Bekenntnis (»Alle Menschen sind der Liebe wert.«) im Kontrast zur conditio mundi, einer »Bitternis«, die sich aus der menschlichen »Schuld« ergibt. Sie wiederum ist Anlass, durch den Kunstakt (das »Gedicht«) für diese »Schuld« einzustehen – im Wissen, dass diese »Schuld« dadurch nicht aufzuheben ist. Noch das vollkommen wirkende »Gedicht« kann diese Schuldauflösung nicht leisten. Das Problem der Autorschaft, dem sich die Forschung besonders im Gefolge von Trakls hundertstem Todestag stellte, findet in der Auseinandersetzung mit der »Schuld« ihren entscheidenden Ausgangspunkt (Degner/Weichselbaum/Wolf 2016). Was hatte Trakl mit dieser »Schuld« gemeint? Im Zentrum steht dabei in der Forschung wiederholt das

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frühe Gedicht »Blutschuld« (1909), das erstmals im Werk Trakls ›Sühne‹ für vermuteten Inzest durch ein Gedicht zu versuchen scheint – und dies durch eine dreimalige Marien-Anrufung als Echo auf eine dreimalige Einbekennung der »Schuld« – ungewöhnlich genug für den Protestanten Trakl. Diese poetische ›Sühne‹ reicht vom ›Beten‹ zum ›Träumen‹ und ›Schluchzen‹, wobei der Inhalt der Litanei unverändert bleibt: »Verzeih uns, Maria, in deiner Huld!« – die sich bezeichnender Weise auf »Schuld« reimt (ITA I, 96). Kann das Gedicht damit andeuten, dass selbst im Glauben an die (schein-)erlösende »Huld« eine »Schuld« liegt? Die Forschung hat wiederholt verdeutlicht, wie die »Selbstbegegnung des Ichs« das Schuldbekenntnis bedingte (Eybl 2016, 69–82), wobei die Grundfrage die nach den sprachlichen Formen dieses Zusammenhangs bleibt: Wie bildet sich diese Einsicht poetisch (ab)? Zur Analyse der Sprachgestalt von Trakls Gedichten werden zunehmend andere Wissenschaftsbereiche herangezogen, etwa die Kognitionswissenschaft mit ihrem Zentralbegriff des »embodiment« oder auch der Figuration. So hat Hans Esselborn am Beispiel des Gedichts »Ruh und Schweigen« gezeigt, wie sich die Textbewegung »über Raumstruktur und optische Gestik von erstarrter Außen- / Innenwelt hin zur Öffnung der abgeschlossenen Innerlichkeit des Subjekts auf Kommunikation mit der Außenwelt« vollzieht. Damit stellt sich überhaupt die Frage nach der Art der poetischen Kommunikation, die das Traklsche Gedicht an sich und überhaupt intendiert oder ermöglicht (Esselborn 2016). Eine weiterführende Kontextualisierung des Inzest-Problems bei Trakl erbrachte der richtungsweisende Forschungsband Androgynie und Inzest in der Literatur um 1900. (Weichselbaum 2005). Dieser Zusammenhang legte nahe, das erotisch aufgeladene Umfeld Trakls kulturpsychologisch auf die Lebensproblematik des Dichters zu beziehen. Dieser Band war eine Marke auf dem Weg zu einer umfassenden Erschließung des literarischen und psychologischen Umfelds der Dichtungen Trakls, die sich dann auch im Forschungsband Georg Trakl

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und die literarische Moderne von Károly Csúri wirkungsvoll fortsetzte, der hermeneutische Verfahren der Trakl-Deutung in erweiternde Bezüge auch kulturwissenschaftlicher Art stellte. Doch legten die Beiträge zu diesem Band auch Wert auf die binnenästhetische Untersuchung der Zusammenhänge (und Widersprüche) zwischen der schieren ›Schönheit‹ von Trakls Sprache als einem primären Wahrnehmungsfaktor, ihrer vermeintlichen ›Dunkelheit‹ und damit schwierigen Verständlichkeit (Csúri 2009). Zur »Autorschaft« Trakls gehört auch seine Selbstanalyse und Selbstbezichtigung, was oft übersehen wird (dagegen Hartung 1987). Kaum bezweifelbar ist, dass er seine Seinsverfasstheit als Grundlage seines Dichtens verstanden hat. Rückhaltlos bekannte er in einem Brief an Ludwig von Ficker vom 26. Juni 1913: »Zu wenig Liebe, zu wenig Gerechtigkeit und Erbarmen, und immer zu wenig Liebe; allzuviel Härte, Hochmut und allerlei Verbrechertum – das bin ich. Ich bin gewiß, daß ich das Böse nur aus Schwäche und Feigheit unterlasse und damit meine Bosheit noch schände. Ich sehne den Tag herbei, an dem die Seele in diesem unseeligen von Schwermut verpesteten Körper nicht mehr wird wohnen wollen und können, an dem diese Spottgestalt aus Kot und Fäulnis verlassen wird, die ein nur allzugetreues Spiegelbild eines gottlosen, verfluchten Jahrhunderts ist« (ITA V.2, 451). Man kann in diesem erschütternden, von Extremzuständen geprägten Eingeständnis, das den ausgelebten Willen zum Bösen für weniger verwerflich hält als den aus »Schwäche« sublimierten, eben auch die ›innere‹ Rechtfertigung für ein kontextualisierendes Deuten von Leben und Werk Trakls sehen (Görner 2014, 267–306). Denn Trakl verstand sich offenbar zu diesem Zeitpunkt geradezu als Repräsentant der Zeitverhältnisse. Zudem flicht er in dieses ebenso existentiell wie psychologisch bedeutsame Bekenntnis eine Anspielung auf ein Wort Goethes ein, dem er ja sonst – ebenso wie Mozart gegenüber – skeptisch eingestellt war: die »Spottgestalt aus Kot und Fäulnis« verweist deutlich, aber in seiner Negativität noch intensiviert, auf Fausts Wort über Mephisto in Marthens Garten: »Du Spottgeburt von Dreck und Feuer!«

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(v. 3536). Nicht minder erstaunlich, dass Trakl noch in seiner Schlusswendung des Briefes zwei Schlüsselbegriffe aus Goethes Faust, »gerettet«, auf Gretchen gemünzt, und »erlöst«, auf Faust bezogen, sich zueigen macht: »Gott, nur einen kleinen Funken reiner Freude – und man wäre gerettet; Liebe – und man wäre erlöst« (ITA V.2, 451). Dass dabei die ›Gretchen‹ / (Schwester) ›Grete‹-Analogie für Trakl bedeutsam gewesen sein könnte, dürfte mehr als nur Vermutung sein. Der genaue Blick auf Trakls absorbierende Lektüre Baudelaires und Rimbauds sollte den Blick nicht für andere Einflüsse verstellen. Sinnvoll aufgearbeitet ist zum Beispiel die Nähe von Trakls Gedicht »An den Knaben Elis« zu E.T.A. Hoffmanns Die Bergwerke zu Falun (Stinchcombe 1964; Lacheny 2012). Ebenso greifbar ist die bislang nicht untersuchte Nähe der MönchFigur(en) bei Trakl zu Hoffmanns Die Elixiere des Teufels; dort findet sich sogar die sprachliche Wendung »todähnliche[r] Zustand« (Hoffmann 1985–2004, II.2, 238), die in Trakls oft zitiertem Wort vom »Gefühl in den Augenblicken totenähnlichen Seins« (ITA IV.2, 323) wiederaufscheint. Diese Beispiele für (wahrscheinliche) intertextuelle Verhältnisse noch in den Selbstaussagen Trakls belegt, wie wichtig es bei ihrer Deutung ist, tentativ vorzugehen, sich tastend möglichen Bedeutungen anzunähern. Zu diesem Deuten gehört seit Ludwig Wittgensteins berühmt gewordener Bemerkung gegenüber Ficker (Ficker 1986–1996, II, 53) auch der »Ton« dieser Dichtungen. Wittgenstein sprach davon, dass ihn dieser Ton »beglückt« habe, dieser viel berufene »betörend« melancholische, aber auch »harte« und schmerzliche Ton, wie ihn Hartung benannte (Hartung 1987). Dieser »Ton« verdankt sich der Sprachartistik Trakls, die er mit dem Abgründigen einer gräßlichen Wirklichkeit kontrastiert, eine Sprachmagie, die gleichzeitig die Wahrheit über das Dasein verhüllt und enthüllt (Görner 2016). Es ist diesem »Ton« mit literaturwissenschaftlichen Mitteln allein nicht eigentlich beizukommen. Daher haben nüchterne poetische Analysen der Lyrik Trakls Ähnlichkeit mit musikwissenschaftlichen PartiturStudien: Sie können sagen, wie ein Vers oder

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eine Phrase gebaut sind, nicht aber welche Wirkung diese Konstruktion erzeugt. Das jeweilige Klangbild bedarf der Aufführung, ein Trakl-Gedicht ebenso wie eine Sonate. Trakls abgründige Vokalität, dieses scheinbare Schwelgen in Farben, das aber auch einem Ersticken des Blicks gleichkommen kann, erfordert stimmliche Umsetzung. Das ist ein Aspekt, der in der Trakl-Forschung regelmäßig vernachlässigt wird. Zur inhaltlichen Erschließung dieses Werkes haben in der nach-hermeneutischen Phase seit ungefähr 1980 Arbeiten beigetragen, die bildkünstlerische Verfahrensweisen in der Moderne zu Trakls Dichten in Beziehung setzten (etwa Sprengel 1994; Coelln 1995); weniger überzeugen können Arbeiten, die Ansätze der kritischen Theorie mit Trakl verbinden, um in seinem Dichten poststrukturalistische Vorgriffe zu orten (Williams 1993). Ohnedies bleibt die Frage nach dem »Prophetischen« in Trakls Gedichten eine eher Verlegenheit auslösende Thematik; selbst Basil hatte diese Auffassung noch gefördert, wenn er schrieb, dass Gedichte wie »Menschheit« (1912) und »Im Osten« (vor seiner Einberufung im August 1914 in Innsbruck entstanden) das Kriegsgeschehen visionär angesagt hätten (Basil 1965, 31). Angesichts von Versen wie: »Menschheit vor Feuerschlünden aufgestellt, / Ein Trommelwirbel, dunkler Krieger Stirnen, / Schritte durch Blutnebel; schwarzes Eisen schellt; / Verzweiflung, Nacht in traurigen Gehirnen« (ITA II, 110) ist ein solches Urteil durchaus verständlich, für die Deutung jedoch nur bedingt tauglich. Wichtiger sind die Vergleiche der kontrastiv eingesetzten Sprachregister in den Gedichten (1913) bis hin in die letzten Dichtungen. Weitere Arbeit ist zu leisten, wenn es um die Eigenwertigkeit Trakls im Kontext der Moderne geht. Nehmen wir beispielsweise den Befund Judith Ryans, Rilke betreffend: seine Form des Modernistischen sei sowohl »elegiac and restorative« gewesen (Ryan 2004, 221). Damit wird deutlich, was bei Trakl nicht vorliegt: der Versuch einer »Restauration«, eines Wiederstellens von lebensbejahendem »Aufsingen«. Wohl war ihm das Elegische vertraut, nicht aber dieses Sich-Aufbäumen gegen den Verfall. In Ab-

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grenzung zu den Entwicklungen in der Moderne gilt es gleichfalls festzuhalten und weiter zu untersuchen: Trakl befand sich nicht unterwegs zur Abstraktion wie etwa Schönberg mit seinem zweiten Streichquartett (op. 10), das bei seiner Aufführung in München im Januar 1911 Wassily Kandinsky dazu inspirierte, diesen Weg auch in der bildenden Kunst zu beschreiten. Trakl in der Gesellschaft der Dada-Gruppe ist schlicht nicht vorstellbar. Er abstrahierte nicht vom Inhalt und setzte diesen mit dem Material gleich, sondern beharrte auf der Mitteilung in ungewohnter Form, die sich scheinbar herkömmlicher Mittel bediente, dabei aber an die Grenzen des Sagbaren reichte und gleichermaßen von einer Abstraktion des Sagens Halt machte. Trakls Gedichte schulen und bedienen den ungewohnten Blick und den Blick auf das Ungewohnte und Abgründige auf der Oberfläche: »Am Abend ward zum Greis der Vater; in dunklen Zimmern versteinerte das Antlitz der Mutter und auf dem Knaben lastete der Fluch des entarteten Geschlechts« (ITA IV.1, 73). Es ist diese Bewegung vom Besonderen ins Verhängnisvoll-Allgemeine.

Forschungsperspektiven »Die Geschichte der Literatur ist die Geschichte ihres Kommentars«, konstatierte Uwe Kolbe (Fühmann 2000, 535). Es ist der erste Satz seiner »Paralipomena« zu Franz Fühmanns »Erfahrung mit Georg Trakls Gedicht« Vor Feuerschlünden, die Fühmann zu einem Dokument der Selbstbegegnung und einsichtsreichen Interpretation des Traklschen Werks wurde. Es ist der seltene Fall eines Literaten, der durch seine Interpretation in Gestalt eines Großessays, nicht wenige Forschungsarbeiten hinter sich lässt, was bis in die Analyse der sprachlichen Feinstruktur und ihren Bedeutungszusammenhang reichen kann: Das »Hermaphroditische ist ein Charakterzug von Trakls Dichtung; dem Leser ist Trakls Vorliebe für das Neutrum aufgefallen, für substantivierte Adjektive, darin Männlich und Weiblich auch in der Sprache zum Sächlichen verschmolzen sind; statt ›der Blust‹ oder ›die Blüte‹: ein Blühendes« (Fühmann 2000,

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220). Betrachtungen zu Person und Werk Trakls stellte Fühmann für einen weiterhin gültig bleibenden Generalvorbehalt: »Nichts ist ärgerlicher und gerade bei Trakl, als das unerträglich versimpelnde Gleichheitszeichen zwischen Poesie und Biographie, und seine Setzer geben sich zudem noch so eingeweiht« (Fühmann 2000, 201). Da nun einstweilen keine weiteren runden Trakl-Jahre anstehen, kann die kritische Befassung mit Trakl, seinem Schaffen, Umfeld und Nachwirken in ruhigeren Bahnen verlaufen. So förderlich und medienwirksam die Ausrichtung der geistes- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen an ›Jahrestagen‹ sein kann, die zu solchen Anlässen entfaltete Betriebsamkeit hat unweigerlich auch etwas Selbstzweckhaftes. Immerhin erbrachte das Trakl-Jahr 2014 ein bereits erwähntes Tagungs- und Publikationsprojekt, das für die künftigen Wege der TraklForschung wesentliche Impulse gegeben haben dürfte: Autorschaft und Poetik in Texten und Kontexten. Das sind Stichworte und Inhalte, die Vorgaben gleichen – sei es im Bereich der Analysen von »Wirklichkeitsbezügen« in Trakls Lyrik (Klessinger 2016), der Entwicklung des lyrischen Subjekts (Sauermann 1986; Christen 2016; Degner 2016; Görner 2016; Mengaldo 2016), sei es im Hinblick auf die Beschäftigung mit Trakls »poetischen Leitfiguren« (Esselborn 2016; Wacker 2016; Wolf 2016; Stieg 2016) oder zeit- und kulturgeschichtlichen Kontexten (Holzner 2016; Michler 2016). Was die ›Leitfiguren‹ Trakls betrifft, fügte es sich, dass ein bislang unbekanntes Hölderlin-Gedicht Trakls entdeckt und inzwischen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde (Weichselbaum 2016). Trakl hatte es in den dritten Band seiner von Wilhelm Böhm besorgten Hölderlin-Ausgabe von 1905 eingetragen; er enthielt die Dramen und Übersetzungen Hölderlins, Empedokles, Ödipus, Antigone, auf die Trakl wiederum in poetischer Form reagierte. Der erste Vers der zweiten Strophe »So ward ein edles Haupt verdüstert« (DuB 304) klingen unüberhörbar Ophelias Worte über Hamlet aus der Übersetzung Schlegels und Tiecks an: »Oh, welch ein edler Geist ist hier zerstört!« (Shakespeare 1987, III, 524) Für die Forschung bietet dies einen weite-

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ren Anlass, sich mit der Intertextualität bei Trakl zu befassen, in diesem Fall aber auch mit der möglichen Prägung des von Trakl vielbemühten »O[h]« durch diese Ausdrucksgeste Ophelias. Auch wenn dies eher rückwärtsgewandt klingt, aber das ›Wesen‹ der Dichtung Trakls gilt es weiter zu ergründen. Es fällt ohnedies auf, dass mittlerweile wieder geradezu essentialistische Fragestellungen mit Trakl in Verbindung gebracht werden, wenn zum Beispiel das Problem der »Gewissheit« (Ortlieb 2016) Aufmerksamkeit findet oder die Frage nach dem »Verhältnis von Ethik und Wahrheit bei Georg Trakl« (Mayer 2016). Ihre eingehende Fortsetzung und Weiterführung fand diese Untersuchungsweise in einer Studie, die sich dem Wahrheitsgehalt poetischer Formen bei Trakl annahm (Millington 2020). Sie orientiert sich an den Sprachformen des Wachstums, die bei Trakl gleichzeitig auch den wachsenden Verfall meinen (Millington 2020, 62). Betont man den Entwicklungsgedanken in seiner Lyrik, dann lässt er sich beispielsweise daran festmachen, dass die anfänglichen parataktischen Thesenverse sich in hypotaktische Auffächerungen verwandeln, etwa im Gedicht »An den Knaben Elis«: Die Nebensätze werden bei Trakl zu einem Mittel atmosphärischer und gestalthafter Differenzierung (Millington 2020, 130). Zentral bleibt hierbei weiterhin die Frage nach der Art der (Nicht-)Entwicklung in diesem Dichten. Zugespitzt gefragt: Hat Trakl im Grunde nur ein Gedicht geschrieben (was Heidegger nahelegte) und dieses dann – sprachkompositorisch genau kalkulierend – vielfach variiert? Oder können wir von einer genuinen Entwicklung in seinem lyrischen Schaffen ausgehen, wobei wiederholt zu untersuchen bleibt, was ›Entwicklung‹ des poetischen Materials ›wirklich‹ bedeutet, sprich: wie es sich im jeweiligen Gedicht verwirklicht? Inzwischen hat sich jedenfalls überdeutlich erwiesen, dass Trakls Werk mit postmodernen Ansätzen nicht sinnvoll beizukommen ist. Es stellt nun einmal inhaltlich gewichtige, existenzielle Fragen nach dem Sein des Bösen, dem Letalen in Kultur und Zivilisation und nach dem Seinscharakter des Wortes. Zugänge zu Trakl,

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die diese Grundfaktoren übersehen oder ignorieren wollen, können am Sinngehalt dieses Werkes nur vorbeigehen. Das bedeutet wiederum nicht, dass gerade Trakls Dichtungen – und sie sind es in einem sprachverdichtenden Sinne von nach wie vor hypnotischer Wirkung – sich dazu eignen, nach dem zu fragen, was poetische Androgynie bedeutet und wie es bestellt ist um jenes von Trakl so oft bemühte Wort ›Geschlecht‹. Es betrifft das weiter untersuchenswerte Wechselverhältnis von Sexus und Genealogie. Hinzu kommen das Fragen nach Phänomenen wie Autoerotisierung im Gedicht, Sublimierung als ästhetische Überformung von Traumata, Charakter der poetischen Rauscherfahrung und Aussagegehalt der Metaphorik Trakls – auch und besonders im Vergleich zur Metaphernbildung in der Dichtung seiner Zeit. Hier wäre nochmals auf das Phänomen des nur schwer klassifizierbaren »Tons« in den Dichtungen Trakls zurückzukommen und zu fragen, ob und wie er sich sinnvoll zu den Diskursen über »Stimmung« in Beziehung setzen und auf diese Weise neu untersuchen ließe (Killy 1972; Meyer-Sickendiek 2012; Gisbertz 2009/2011). Zur Trakl-Forschung gehören auch weiterhin Wirkungsanalysen, zumal im Fall eines Dichters, der Literatur in besonders intensiver Weise auf sich selbst hatte einwirken lassen. Was dieses Wirken ex negativo bedeuten kann, hatte Thomas Bernhard bereits 1957 unverblümt ausgesprochen und damit ein Hauptproblem des Trakl-Epigonik benannt: »Der Einfluß Trakls auf meine eigene Arbeit war vernichtend. Hätte ich Trakl niemals kennengelernt, wäre ich heute weiter« (Bernhard 2003–2015, XXII, 569). Was geht von Trakls Werk aus? Wirklich eine lähmende Suggestivität, wie Bernhard meinte? Es spricht einiges dafür, zumal die kritischphilologische Arbeit nun getan zu sein scheint, dass sich die an Trakl interessierte Literaturwissenschaft künftig weniger als eine reine Trakl-Forschung verstehen sollte, sondern als eine Poetologistik der literarischen Moderne. Denn Trakls Dichtungen stellen die Frage nach dem, was das ›Verstehen‹ von lyrischen Gebilden bedeutet, immer wieder neu. An ihrem Beispiel zeigt sich, wie wichtig es ist, nicht

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ein bloßes vordergründiges Verstehen, etwa durch ›Entschlüsselung‹ bestimmter Farbwortmetaphern oder sprachlicher Figurationen (Tropen), mit gültigem Erschließen zu verwechseln. Trakl fordert den Rückbezug und die Rückbesinnung auf elementare Voraussetzungen literarischer Interpretation als einer Form von Approximation. Die diesen Dichtungen eigene Logik verfügt über eine sprachästhetisch berückende Folgerichtigkeit. Sich dieser spezifischen Logik – im Sinne Käte Hamburgers – zu stellen, dürfte von künftigem Interesse sein. Mit ihr verbunden ist das, was Adorno den »Rätselcharakter« des Kunstwerks genannt hat. Kunst stellt Werk für Werk einen Gestalt gewordenen Ausnahmezustand dar. Die Rätselhaftigkeit der Kunst habe »von altersher die Theorie der Kunst irritiert. Daß Kunstwerke etwas sagen und mit dem gleichen Atemzug es verbergen, nennt den Rätselcharakter unterm Aspekt der Sprache«, konstatierte Adorno in seiner Ästhetischen Theorie (Adorno 1998, VII, 182). Mit Blick auf Trakl wie überhaupt gilt es, sich zu diesem Phänomen zu verhalten; und das meint zu untersuchen, wie sich mit diesem schlicht zutreffenden Befund in den jeweiligen Werkinterpretationen umzugehen ist. Hier liegt die bleibend große Herausforderung, die von Trakls Dichtungen ausgeht: ihre Rätselhaftigkeit zu beschreiben und in ihrer kontextabhängigen Funktion zu klären. Neue Entwicklungen in der Lyrik-Interpretation haben oftmals ihren Ausgangspunkt bei Trakl genommen, wenn man etwa an Walther Muschg und Walter Killy denkt. Das ist nicht der Fall gewesen in dem noch jüngeren Forschungsfeld der sogenannten Lyrikologie, deren Grundlegung ganz ohne Verweis aus Trakl ausgekommen ist. Umgekehrt aber gilt, dass die analytische Begrifflichkeit der Lyrikologie sich künftig durchaus an der Interpretation von Trakls Dichtungen (selbst-)kritisch erproben kann – am Problem der Autorschaft, Äußerungsstruktur, Textwelt u. a. (Zymner 2019; Müller 2019). Hinzu kämen bei Trakl eingehende Untersuchungen zur Temporalität in dieser Dichtung, das Verhältnis zum Gestern, dem Gewordenen und der bleibenden Gegenwart des

R. Görner

Vergangenen. Je mehr von »Verfall« in diesen Texten die Rede ist, je hartnäckiger hält er sich; dieser Verfall verfällt nicht. An ein Verjähren der durch diese Verse evozierten Verhältnisse ist nicht zu denken. Voraussetzung für Interpretationen der Lyrik Trakls ist mithin das Erfassen ihrer Andersartigkeit. Ihre Solitärhaftigkeit bedingt eine bestimmte Art vermittelnden Verstehens, die das Zeitübergreifende in diesen lyrischen Konstatierungen berücksichtigt. Zentral bleibt hierbei die Frage, wie Trakl mit den Extremen, die er in seiner Zeit und in sich selbst wahrnahm, poetisch umging. Gerade daraus ergeben sich vielfache Anknüpfungsmöglichkeiten für eine textsensible Weiterführung einer kontextbewussten Auseinandersetzung mit Trakl.

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Zeittafel 1887 Georg Trakl kommt am 3. Februar in Salzburg als viertes von sechs Kindern des Eisenhändlers Tobias Trakl (1837–1910) und seiner Frau Maria, geb. Halik (1852–1925), zur Welt. 1891 Am 8. August wird Trakls Lieblingsschwester Margarete Jeanne – genannt Grete – geboren. 1892 Trakl wird in die katholische »Übungsschule« eingeschult. 1897 Eintritt in das humanistische Staatsgymnasium am Salzburger Universitätsplatz. 1900 Trakl muss wegen ungenügender Leistungen in Mathematik und Latein die vierte Gymnasialklasse wiederholen. Klavierunterricht. 1904 Trakl unternimmt erste dichterische Versuche unter dem Einfluss von Lenau, Baudelaire, Verlaine, Hofmannsthal, George, wird Mitglied des Dichtervereins »Apollo« (später »Minerva«). Erste Experimente mit Chloroform. 1905 Abbruch des Gymnasiums nach der siebten Gymnasialklasse aufgrund ungenügender Leistungen in Griechisch, Latein und Mathematik. Am 18. September beginnt er ein dreijähriges pharmazeutisches Praktikum in der Salzburger Apotheke »Zum weißen Engel«. 1906 Am 31. März wird Trakls Einakter Totentag am Stadttheater Salzburg aufgeführt, am 15. September folgt der zweite Einakter Fata Morgana, der bei den Kritikern komplett durch-

fällt, worauf Trakl die Textbücher beider Stücke vollständig vernichtet. Zeitweilige Mitarbeit beim Salzburger Volksblatt, wo am 12. Mai mit »Traumland« auch ein erster Prosatext Trakls im Druck erscheint. Einsetzender Konsum von Morphium und Veronal, später auch Kokain und womöglich Curare, hinzu kommt zunehmend exzessiver Alkoholkonsum. 1908 Trakl legt vorzeitig die Tirocinalprüfung ab und siedelt nach Wien um, wo er sich für ein Pharmaziestudium an der Universität immatrikuliert. Trakl liest Rimbaud (in deutscher Übersetzung) und intensiviert die eigene lyrische Produktion. 1909 Trakl besteht die Vorexamina. Im August oder September übergibt er Erhard Buschbeck eine Sammlung seiner Jugendgedichte, die sog. »Sammlung 1909«. Auf Vermittlung von Hermann Bahr erscheinen am 17. Oktober im Neuen Wiener Journal drei Gedichte Trakls (»Einer Vorübergehenden«, »Vollendung« und »Andacht«). Grete Trakl wird Schülerin Paul de Connes an der Wiener Musikakademie. 1910 Trakl schließt sein Studium als Magister der Pharmazie ab und kehrt zunächst nach Salzburg zurück. Zum 1. Oktober tritt er den Präsenzdienst als Einjährig-Freiwilliger bei der k. u. k. Sanitätsabteilung Nr. 2 in Wien an. Sein Vater stirbt, seine Schwester Grete zieht nach Berlin um. 1911 Nach Ablauf des Freiwilligenjahres tritt Trakl in der Salzburger Engel-Apotheke eine Stelle als Rezeptarius an. Finanzielle Nöte, ver-

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stärkte depressive Anfälle. Trakl entscheidet sich für eine militärische Laufbahn und wird am 1. Dezember zum Landwehrmedikamentenakzessisten im Leutnantsrang ernannt. 1912 Ab April Probedienst in der Apotheke des Innsbrucker Garnisonsspitals, nach Ablauf des Probedienstes Übernahme als Heeresapotheker. Auf Vermittlung von Robert Müller lernt Trakl Ludwig von Ficker, den Herausgeber des Brenner, kennen und veröffentlicht von nun an in der Zeitschrift regelmäßig Gedichte. Bekanntschaft mit weiteren Brenner-Mitarbeitern sowie mit Karl Kraus, Adolf Loos und Oskar Kokoschka. Buschbeck bemüht sich beim Verlag Albert Langen um die Publikation einer ersten GedichtAnthologie unter dem Titel »Dämmerung und Verfall«. Grete Trakl heiratet am 17. Juli in Berlin den Buchhändler Arthur Langen. Auf eigenen Wunsch wird Trakl Ende November in die Reserve versetzt und tritt nach zweimonatigem Aufschub am 31. Dezember eine Stelle im Wiener Arbeitsministerium an. 1913 Am 1. Januar – nach einem zweistündigen Arbeitstag – quittiert Trakl seine Stelle im Arbeitsministerium und kehrt nach Innsbruck, später nach Salzburg zurück. Vollendung des »Helian«. Am 19. März lehnt der Verlag Arthur Lagen Trakls Anthologie ab. Interesse meldet hingegen der Leipziger Verleger Kurt Wolff an, in dessen Verlag Ende Juli die Gedichte als Trakls erste (und zu seinen Lebzeiten einzige) Buchpublikation erscheinen. Ab Mitte Juli arbeitet Trakl vier Wochen als Beamter im Wiener Kriegsministerium. Im August Reise nach Venedig in der Gesellschaft von Adolf und Bessie Loos, Karl Kraus, Peter Altenberg, Ludwig und Cissi von Ficker. Abermals Geldnöte, schwere Depressionen, Veronalvergiftung. Weiterhin Publikationen im Brenner. 1914 Grete Trakl erleidet im März eine Fehlgeburt, ihr Bruder reist zu ihr nach Berlin. »Verzweiflungsbrief«. In Berlin Bekanntschaft mit Herwarth Walden und Else Lasker-Schüler. Rückkehr nach Innsbruck in verheerendem Zustand. Der Kurt Wolff Verlag sagt die Publikation der zweiten Gedichtanthologie Sebas-

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tian im Traum zu, im Mai erhält Trakl die ersten Bürstenabzüge, die er im Juni und Juli korrigiert. Zugleich bewirbt er sich beim Niederländischen Kolonialamt auf eine Anstellung im Sanitätsdienst in Holländisch-Indien, zwei Wochen später auf eine Stelle als Heeresapotheker der österreichischen Miliz in Albanien. Über Ludwig von Ficker erhält Trakl eine Geldspende Ludwig Wittgensteins in der Höhe von 20.000 Kronen, die Trakl aber nicht abzuholen vermag. Nach der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien am 28. Juli wird Trakl am 5. August »zur aktiven Dienstleistung« bei seiner Innsbrucker Einheit vorstellig. Diese wird an die österreichisch-russische Front nach Galizien entsendet und zwischen dem 8. und 11. September bei Grodek in Stellung gebracht. Die 3. Armee der Österreicher verliert die Schlacht gegen die Brusilow-Armee, während seines Dienstes in der Sanitätskolonne muss Trakl in einer Scheune neunzig Schwerverwundete ohne ärztliche Assistenz betreuen. Auf dem Rückzug unternimmt Trakl den Versuch, sich zu erschießen und wird anschließend »zur Beobachtung des Geisteszustandes« ins Krakauer Garnisonsspital Nr. 15 verbracht. Am 24. Oktober besucht ihn dort Ludwig von Ficker, dem er nach der Abreise noch einen »Testamentsbrief« nachsendet, dem auch die Gedichte »Klage« (II) und »Grodek« beiliegen. In der Nacht auf den 3. November vergiftet sich Trakl nach Angaben der Ärzte mutmaßlich mit Kokain, worauf er am Abend desselben Tages an einer »Herzlähmung« verstirbt. Am 6. November wird er auf dem Rakoviczer Friedhof in Krakau bestattet. 1915 Im Brenner-Jahrbuch, das mit einer Fotografie Trakls eröffnet, erscheinen Trakls sieben letzte Gedichte sowie »Offenbarung und Untergang«. Im Kurt Wolff Verlag erscheint Sebastian im Traum, rückdatiert auf das Erscheinungsjahr 1914. 1917 Ein Jahr nach ihrer Scheidung von Arthur Langen erschießt sich Grete Trakl in Berlin, vermutlich mit der Pistole aus dem Nachlass ihres Bruders.

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1919 Eine erste Gesamtausgabe von Trakls Gedichten erscheint unter der Herausgeberschaft von Karl Röck mit dem Titel Die Dichtungen im Kurt Wolff Verlag. 1925 Überführung von Trakls Gebeinen aus Krakau nach Innsbruck. 7. Oktober: Beisetzung der Gebeine auf dem Neuen Mühlauer Friedhof. 1939 Trakls Jugenddichtungen, herausgegeben von Erhard Buschbeck, erscheinen unter dem Titel Aus goldenem Kelch im Salzburger Otto Müller Verlag.

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Personenregister

A Adorno, Theodor W., VI, 38, 105, 108, 540, 644, 653– 655, 670 Ager, Klaus, 657 Agrippa von Nettesheim, Heinrich Cornelius, 550 Aicher, Anton, 170 Aischylos, 433 Altenberg, Peter, 339, 480 Amiel, Henri-Frédéric, 576 Amtmann, Irene, 15, 49, 481, 603 Angelou, Maya, 350 Angelus Silesius d.i. Johannes Scheffler, 441 Anton, Moritz, 417 Anzengruber, Ludwig, 489 Arc, Jeanne d’, 551 Archilochos, 236 Arnim, Bettina von, 65 Artaud, Antonin, 647 Artmann, Hans Carl, 637 Asmus, Martha, 415 Äsop, 350 Astner, Carl, 490 Aumüller, Heinrich, 8, 44, 90 B Bab, Julius, 522 Bach, Friedemann, 657 Bachmann, Ingeborg, 258 Bacovia, George, 526 Bahr, Hermann, 13, 14, 16, 45, 46, 59, 62, 129, 368, 439, 492, 574–576 Barth, Karl, 87 Barthes, Roland, 526 Bataille, George, 637 Baudelaire, Charles, 9, 64, 67, 71, 76–78, 91, 122, 177, 202, 248, 262, 271, 303, 306, 341, 351, 378, 414, 415, 423, 429, 432, 436, 439–441, 447, 459, 498, 500, 507, 511, 531–534, 538, 549, 551–553, 563, 576, 581, 582, 587, 588, 643, 667

Baumeister, Peri, 571 Baumfeld, Lisa, 68, 236, 415, 424 Bayerthal, Ernst, 662 Becher, Johannes R., 81, 87, 629 Beck, Anna Maria, 4 Beck, Georg, 4 Beethoven, Ludwig van, 538, 651 Beißner, Friedrich, 120 Benedikt, Heinrich, 8 Benjamin, Walter, 101, 440, 500 Benn, Gottfried, 85–87, 175, 183, 185, 497, 512, 515, 581, 637, 640, 663, 664 Berg, Alban, 17, 541, 655 Bergson, Henri, 511 Bernhard, Thomas, 638, 669 Bertaux, Pierre, 65 Beyer, Marcel, 78, 644–646 Bin Laden, Osama, 645, 646 Blavatsky, Helena Petrovna, 549 Blumenberg, Hans, 107 Bly, Robert, 643 Boccaccio, Giovanni, 271 Böhm, Wilhelm, 65, 668 Böhme, Jacob, 552, 553 Bopp, Wilhelm, 568 Boring, Marie, 6–8, 36, 44, 49, 91, 543 Bossong, Nora, 262 Boucourechliev, André, 656 Bourdieu, Pierre, 558 Brecht, Bertolt, 175, 258, 515 Brendel, Ulrik, 591 Bresgen, Cesar, 657 Bruckbauer, Franz, 60, 62, 156, 165, 435 Bruegel d.Ä., Pieter, 190, 231, 351 Brunetti-Pisano, August, 7, 44, 538, 567 Brunner, Felix, 118 Büchner, Georg, 63, 73, 144, 160, 361–363 Buhlig, Richard, 24, 471–474, 570 Bunsen, Robert, 56 Buoninsegna, Duccio di, 241 Burkhard, Willy, 652

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2

677

678 Burton, Robert, 532 Busch, Adolf, 655 Buschbeck, Erhard, 7–10, 13–22, 29, 30, 40, 43–48, 50, 55, 56, 59, 61, 62, 83, 85, 107, 117–121, 129– 132, 145, 177, 197, 209, 247, 261, 269, 273, 287, 299, 300, 342, 374, 385, 386, 413, 417, 427, 429, 439, 472, 473, 480, 481, 483, 484, 492, 518, 519, 532, 541, 568, 631, 651, 662, 663 Butler, Judith, 543 C Cage, John, 471 Caravaggio, Michelangelo Merisi da, 241 Caventou, Joseph Bienaimé, 55 Celan, Paul, 78, 181, 191, 258, 312, 501, 537, 576, 632– 634, 638 Céline, Louis-Ferdinand, 664 Chagall, Marc, 501 Chaplin, Charles, 641 Chopin, Frédéric, 538 Conne, Paul de, 12, 538, 568 Craig, Edward Gordon, 159 D Dallago, Carl, 19, 23, 25, 29, 48, 64, 68, 92, 130, 175, 367–369, 371, 549, 550, 607, 624, 625, 665 Da Ponte, Lorenzo, 166 Däubler, Theodor, 25, 369, 499, 655 Debussy, Claude, 439 Dehmel, Richard, 300, 301 Deleuze, Gilles, 581 Demmer, Ilse, 118, 120, 165, 431 Derrida, Jacques, 635–637 Dessoir, Max, 574 Diodorus Siculus, 627 Dohnányi, Ernst von, 16, 472, 538, 569 Domin, Hilde, 638 Dostojewskij, Fjodor, 9, 19, 60, 62, 67, 71–73, 91, 94, 285, 307, 316, 318 Drach, Albert, 638 Dürer, Albrecht, 533, 534 E Ebner, Ferdinand, 626 Edschmid, Kasimir, 81, 82 Ehrenstein, Albert, 35, 45, 119, 283, 369, 556, 627, 629 Ehrenstein, Carl, 624, 661 Eichendorff, Joseph von, 67, 349, 354, 415, 423, 601 Eidinger, Lars, 571 Einstein, Carl, 101 Eisler, Hanns, 655 Ellermann, Heinrich, 632 Eminem d.i. Marshall Bruce Mathers III, 645, 646 Ernst, Paul, 65

Personenregister Esterle, Max von, 20, 23, 44, 65, 128, 129, 367, 449 Ettlinger, Josef, 63 Eulenberg, Herbert, 170 Evers, Franz, 300 F Falkner, Gerhard, 107 Fantin-Latour, Henri, 533 Ficino, Marsilio, 549 Ficker, Cissi von, 19, 22, 25, 49, 339, 483 Ficker, Ludwig von, 13, 15, 19–25, 27–30, 43–50, 59, 65, 66, 68, 83, 84, 92, 95, 97, 117–121, 123, 124, 130–133, 175, 189, 197, 213, 216, 221, 247, 253, 265, 273, 281, 287, 299, 333, 335, 339, 345, 347, 350, 353–355, 359, 367–371, 373, 374, 389, 390, 395, 399, 401, 403, 405, 478–481, 473, 484, 520–523, 537, 553, 561, 563, 567, 570, 607, 623, 625, 626, 628, 631, 634, 662, 663, 665–667 Ficker, Paula von, 49 Ficker, Rudolf von, 21, 25, 45, 49 Flaubert, Gustave, 12, 63, 567 Fontane, Theodor, 53–55 Franz Joseph I., Kaiser von Österreich, 89 Franzos, Karl Emil, 63 Freud, Sigmund, 138, 161, 362, 436, 511, 546, 547, 557, 573, 574, 591, 616 Friedheim, Carl, 490, 493 Fühmann, Franz, 27, 37, 262, 625, 639, 640, 642, 646, 668 Funck-Brentano, Claudine, 60 G Gadamer, Hans-Georg, 60, 100 Gamoneda, Antonio, 643 Gaulke, Johannes, 61 George, Stefan, 64, 65, 67, 68, 72, 76, 78, 177, 198, 202, 203, 300, 341, 369, 414, 415, 424, 432, 440, 498, 531, 533, 534, 550, 632, 664 Gilm, Hermann von, 67 Ginzkey, Franz Karl, 62, 492 Gira, Michael, 657, 658 Giraud, Albert, 439 Godeffroy, Richard, 54 Goethe, Johann Wolfgang von, 65, 67, 157, 166, 170, 608, 666, 667 Götz, Jakob, 90 Götz, Valentine, 3, 89 Grabbe, Christian Dietrich, 157, 166 Grafe, Felix, 68 Greiner, Leo, 242 Greve, Felix Paul, 61 Grimm, Franz, 9 Grimm, Jacob und Wilhelm, 171 Grobler, Artur, 68, 492, 576 Gryphius, Andreas, 428 Guattari, Félix, 581

Personenregister Günther, Johann Christian, 28, 68, 396 H Haecker, Theodor, 370, 624, 625 Hahn, Ulla, 199 Halick, Augustin Mathias, 3 Halik, Agnes, 4 Halik, Maria, 3, 4, 6, 10, 11, 13, 15–18, 20–22, 29, 36, 49, 89, 90, 117, 139, 432, 472, 543, 544, 562, 569–571, 651, 665 Hamburger, Käte, 670 Hamsun, Knut, 574 Hardekopf, Ferdinand, 624, 661 Hardenberg, Friedrich von, VI, 66, 67, 71, 73, 74, 76, 205, 206, 219, 277, 289, 306, 379, 453–455, 459, 499, 504, 552, 564, 574, 644 Hartmann, Franz, 549 Hasenclever, Walter, 661 Hauer, Karl, 17, 21, 44, 47, 59, 309, 551 Hauptmann, Carl, 87 Hauptmann, Gerhart, 87, 538, 581 Hauser, Kaspar, 11, 18, 44, 61, 64, 66, 73, 76, 77, 83, 131, 285, 300–302, 555, 558 Hauser, Otto, 64 Hawkey, Christian, 644 Hebbel, Friedrich, 166 Hegel, Friedrich, 573 Heidegger, Martin, VI, VII, 98, 106–108, 120, 128, 179, 190, 202, 214, 215, 228, 271, 311, 342, 349, 376, 498, 499, 514, 576, 588, 603, 634–637, 643, 663, 664, 669 Heine, Heinrich, 67, 71, 73, 240, 415, 424, 528 Heinrich, Karl Borromäus, 20, 21, 23, 24, 28, 44, 48, 65, 83, 84, 131, 132, 273, 283, 333, 335, 339, 355–357, 387, 460, 471, 473, 483, 563, 625, 662 Heiseler, Henry, 424 Hejda, Zbyněk, 642 Hellingrath, Norbert von, 66, 382, 451 Hennings, Emmy, 624, 661 Henze, Hans Werner, 656 Heraklit, 608 Herbert, Frank, 657 Hermlin, Stephan, 639 Herzig, Josef, 56 Hesse, Hermann, 236, 630 Heym, Georg, 85, 86, 515, 581, 632, 655 Heynicke, Kurt, 505 Heyse, Paul, 62 Hiller, Kurt, 81 Hindemith, Paul, 654, 655 Hinterhuber, Carl, 10, 53–55 Hoddis, Jakob van, 84, 624 Hoffmann, Camill, 652 Hoffmann, E.T.A., 206, 424, 667 Hofmann, August Wilhelm von, 56 Hofmannsthal, Hugo von, 11, 36, 61–63, 68, 98, 102, 103, 110, 175, 177, 206, 215, 236, 325, 368,

679 402, 415, 419, 477, 498, 505, 515, 531, 576, 631 Hohenems, Markus Sittikus von, 375 Hölderlin, Friedrich, VI, VII, 11, 19, 59, 64–66, 71, 73– 76, 93, 95, 176, 180, 183, 206, 214, 224, 227, 229, 231, 236, 242, 262, 266, 276, 277, 285, 288, 292, 301, 303, 304, 310–312, 325, 326, 337, 341, 356, 363, 382, 386, 390, 407, 408, 415, 420, 436, 449–451, 453, 454, 459, 481, 521, 565, 575, 576, 599, 630, 632, 638, 663, 664, 668 Holitscher, Arthur, 61 Hollaender, Friedrich, 221 Holliger, Heinz, 310, 540, 652, 656 Horaz, 453 Hrubín, František, 642 Huchel, Peter, 258 Huenún, Jaime Luis, 643, 644 Husserl, Edmund, 633, 637 Huysmans, Joris-Karl, 551, 574 I Ibsen, Henrik, 9, 53, 54, 62, 156, 167 J Jakobson, Roman, 106, 181 Jandl, Ernst, 638 Jesus von Nazareth, 67, 93, 94, 141–143, 145, 146, 171, 224, 292, 296, 297, 435, 513, 543 Joachimi-Dege, Marie, 65 Joel, Karl, 574 Jülg, Bernhard, 368 Jung, Carl Gustav, 544, 546, 557, 591 Jünger, Ernst, 497 K Kaerrick, Elisabeth, 60 Kafka, Franz, 82, 176, 624, 661 Kaiser, Georg, 87 Kalckreuth, Wolf Graf von, 64 Kalmár, Karl von, 44, 46, 479, 561 Kandinsky, Wassily, 86, 157, 233–236, 289, 497–499, 549, 668 Kaschnitz, Marie Luise, 638 Kassner, Rudolf, 46 Katschthaler, Johann Baptist, 90 Keats, John, 53, 54 Keißner, Gustav, 67 Kelterborn, Rudolf, 652, 657 Key, Ellen, 574 Keyserling, Eduard von, 202 Kierkegaard, Søren, 71, 370, 381, 585, 624–626, 665 Klammer, Karl Anton, 11, 60, 64, 77, 85, 213, 217, 243, 258, 341 Klee, Paul, 86, 87 Kleist, Heinrich von, 159, 657

680 Klier, Heinz, 662 Kling, Thomas, 78, 640–642, 645 Klopstock, Friedrich Gottlieb, 386 Kokoschka, Oskar, 13, 17, 22, 23, 25, 29, 40, 552, 664 Kolbe, Uwe, 668 Kotschy, Johannes, 657 Kraus, Karl, 16, 17, 19–25, 28, 29, 38–40, 45–47, 50, 60, 68, 83, 84, 87, 94, 118, 128, 132, 189, 257, 309, 311, 312, 339, 355, 367–369, 381, 480, 483, 484, 520, 532, 546, 556, 569, 627, 628 L Lacan, Jacques, 323, 514 Lachmann, Hedwig, 61, 171 Land, Nick, 637 Langen, Arthur, 18, 24, 118, 427, 472, 483, 569–571, 628 Lasker-Schüler, Else, 24, 25, 29, 36, 49, 68, 83, 258, 353–357, 369, 381, 483, 556, 581, 623, 627– 629, 664 Leininger, Willi, 221 Lenau, Nikolaus, 4, 12, 62, 63, 71, 73, 166, 195, 236, 242, 391, 415, 441, 473 Leopardi, Giacomo, 664 Lessing, Gotthold Ephraim, 271, 272 Leybold, Hans, 629 Lichtenstein, Alfred, 84, 624, 629 Lievi, Cesare, 169 Liliencron, Detlev von, 67, 439 Limbach, Hans, 23, 62, 92, 175, 371, 624, 625 Lin, Chen, 6 Liszt, Franz, 538 Litzmann, Carl Conrad Theodor, 65 Loos, Adolf, 17, 21, 22, 25, 27, 38, 40, 45–48, 50, 83, 118, 119, 123, 127, 131, 295, 299, 339, 480, 482, 555 Loos, Bessie (d.i. Elizabeth Bruce), 22, 131, 299, 339 Lotman, Jurij M., 181, 225 Lucka, Emil, 22, 552 Ludwig II., 657 Luhmann, Niklas, 107 Lukács, Georg, 574 Luther, Martin, 145, 160, 244, 346, 556, 628 M Mach, Ernst, 573 Maedel, Rolf, 657 Maeterlinck, Maurice, 60, 62, 122, 155, 156, 158, 159, 167, 171, 233, 415, 423, 574 Mahler, Gustav, 13, 651 Mahrholdt, Erwin, 563, 662 Malinovski, Ivan, 643 Mallarmé, Stéphane, 439, 549 Mann, Klaus, 630 Mann, Thomas, 138, 339, 539, 568 Marc, Franz, 86, 157, 498, 499, 501, 580, 664 Mauder, Ursula, 571

Personenregister Maupassant, Guy de, 424 Mayröcker, Friederike, 78, 638 McAuley, James, 643 Mechthild von Magdeburg, 552 Meidner, Ludwig, 526 Meyer, Conny Hannes, 157, 162, 169 Meyer, Conrad Ferdinand, 67, 120, 349, 415, 423, 601, 603 Meyer, Georg Heinrich, 29, 119, 281 Meyerfeld, Max, 61 Meyer-Förster, Wilhelm, 491 Meyknecht, Werner, 15, 567 Michel, Robert, 21, 23, 48, 63, 309 Minnich, Karl, 13, 14, 18, 20, 44–46 Minor, Jacob, 67 Mirbeau, Octave, 552 Molière, 166 Molina, Tirso de, 166 Möller, Joseph, 56 Monteverdi, Claudio, 375 Mörike, Eduard, 67, 211, 304, 382, 408, 479 Moritz, Anton, 13–15, 37, 44, 64, 417 Mozart, Wolfgang Amadeus, 7, 166, 538, 666 Mühlholz, Lina von, 90 Müller, Gustav, 9, 21 Müller, Robert, 18, 22, 40, 47, 83, 101, 130, 247, 287, 321 Müller, Wilhelm, 541 Müller, Wolfgang, 195 Musil, Robert, 568, 574 N Neugebauer, Hugo, 368 Nietzsche, Friedrich, 9, 19, 23, 37, 60, 62, 71–73, 84, 87, 90, 95, 150, 155, 156, 158, 167, 168, 175, 177, 206, 224, 301, 331, 336, 340, 341, 347, 359– 361, 363, 368, 371, 378, 415, 417–420, 424, 466, 511, 540, 563, 565, 573, 575, 581, 583, 591–593, 598, 599, 608, 624, 657 Noack, Ludwig, 573 O Offenbach, Jacques, 490 Oppeln-Bronikowski, Friedrich von, 60 Orléan, Charles d’, 439 Ortega y Gasset, José, 178 Ovid, 301, 302, 305, 351, 382, 616, 617, 619 P Pelletier, Pierre-Joseph, 55 Perrault, Charles, 171 Petrarca, Francesco, 440 Philo von Alexandria, 550 Pinthus, Kurt, 82, 243, 325, 519, 624 Platon, 146, 147, 598 Poe, Edgar Allan, 424, 552

Personenregister Pokorny, Johann, 67 Praehauser, Ludwig, 67 Preiss, Margarete, 61 Prel, Carl du, 574 Przybyszewski, Stanislaw, 551, 553 R Rais, Gilles de, 551 Rakus, Theodor Georg, 90 Rathenau, Walther, 574 Rauterberg, Hermine von, 49 Reiff-Sertorius, Lilly, 655 Reynek, Bohuslav, 642 Riese, Walther, 65 Rilke, Rainer Maria, 25, 36, 60, 68, 72, 78, 87, 91, 94, 97, 101, 175, 177, 195, 254, 278, 287, 306, 340, 341, 405, 415, 477, 531, 574, 626, 627, 630–632, 644, 663–665, 667 Rimbaud, Arthur, 7, 11, 36, 44, 59, 64–66, 71, 72, 76– 78, 85, 95, 122, 124, 139, 195, 198, 202, 206, 217, 236, 240–245, 248, 250, 258, 262, 277, 287, 303, 304, 325, 341, 361, 362, 377, 378, 415, 432, 450, 459, 473, 483, 498, 511, 532, 533, 549, 563, 581, 582, 609, 631, 637, 643, 647, 664, 667 Röck, Karl, VI, 14, 15, 19, 21, 23, 24, 27, 48, 61, 63, 67, 97, 99, 119, 120, 128, 129, 239, 283–285, 299, 359, 369, 479, 483, 521, 550, 563, 661, 662 Rossini, Gioachino, 166 Roth, Mathias, 28, 29 Rutra, Arthur Ernst, 45 Ruysbroeck, Jan van, 574 Ruzicka, Peter, 656 S Sade, Marquis de, 552 Salome von Galiläa, 171 Sartre, Jean-Paul, 664 Schallner, Maximilian, 3 Schaukal, Richard von, 64, 68, 415, 424, 461 Schiller, Friedrich, 64, 67, 573 Schleiermacher, Friedrich, 100, 598 Schlickum, Oskar, 54 Schmid, Paula, 25, 131 Schneditz, Wolfgang, 120 Schneider, Franz, 54 Schneider, Karl Ludwig, 87 Schnitzler, Arthur, 61, 138, 368, 574 Schod, Anna, 3, 4 Schölermann, Wilhelm, 61 Schönberg, Arnold, 17, 471, 541, 651, 653, 668 Schönherr, Karl, 10, 129, 155, 489, 490 Schopenhauer, Arthur, 336, 347, 591 Schreker, Franz, 17 Schreuf, Kristof, 658 Schröder, Ernst, 172 Schröder, O. A., 61

681 Schubert, Franz, 538, 541, 651 Schuler, Alfred, 101 Schullern, Heinrich von, 490 Schulze, Klaus, 652, 657 Schwab, Franz, 13, 16, 27, 44–46 Schwarzenbach, Annemarie, 36, 630, 631 Seebach, Hans, 10 Seifert, Ludwig, 368 Seiler, Lutz, 262, 646 Senn, Johann, 67 Sertürner, Friedrich, 55 Shakespeare, William, 171, 668 Shaw, Bernhard, 60, 61 Shibasaburos, Kitasato, 249 Simmel, Georg, 526 Simonds, Paul-Louis, 249 Sinclair, Isaac von, 65 Solari, Santino, 375 Spengler, Oswald, 355 Spitteler, Carl, 60 Stadler, Ernst, 629, 632 Stark, Christoph, 571 Stefan, Paul, 40 Steiner, Carl, 4 Steiner, Rudolf, 466, 549, 550 Stekel, Wilhelm, 591 Stephan, Paul, 130, 519 Sterbini, Cesare, 166 Stifter, Adalbert, 601 Stöhr, Richard, 568 Stramm, August, 86, 183, 624 Straus, Oscar, 541 Streeruwitz, Marlene, 556 Streicher, Gustav, 10, 13, 45, 167, 491–493, 541, 651 Strindberg, August, 161 Strunge, Michael, 640, 643 Stupp, Johann Adam, 166 Summer, Donna d.i. LaDonna Adrian Gaines, 658 Sylvester, Julius, 22 Szondi, Peter, 161, 167 T Thomsen, Søren Ulrik, 643 Thorn, Eduard, 61 Tobisch, Lotte, 117 Togni, Camillo, 655 Tolstoi, Lew, 61, 63 Trakl, Fritz, 4–7, 9, 11, 12, 15–17, 20, 22, 29, 30, 36, 59, 89, 90, 117, 538, 543, 567, 651 Trakl, Georg, 3, 4 Trakl, Gustav, der jüngere, 4–6, 12, 16, 17, 20, 22, 29, 30, 36, 89, 90, 117, 543, 651 Trakl, Hermine, 4–7, 12, 16, 17, 20, 22, 29, 30, 36, 38, 49, 66, 89, 90, 117, 156, 480, 543, 651 Trakl, Margarete Jeanne, 4–7, 9, 11, 12, 14–18, 20, 22– 24, 28–30, 36, 44–46, 49, 50, 63, 89, 90, 94, 117, 123, 131, 139, 193, 269, 281, 345, 353, 355, 356, 373, 390, 399, 427, 431, 471–473,

682 478, 483, 509, 538, 543, 544, 547, 549, 562, 567–571, 628, 651, 665 Trakl, Maria, 4–7, 12, 16, 17, 20, 22, 25, 29, 30, 36, 44, 49, 89, 90, 117, 303, 389, 543, 651, 663 Trakl, Tobias, 3–6, 9, 10, 15, 16, 36, 59, 89, 90, 117, 543, 569, 651 Trakl, Wilhelm Maximilian, 3–6, 12, 15–18, 20, 22, 29, 30, 36, 89, 90, 117, 471, 543, 569, 651 Trebitsch, Siegfried, 61 Trojahn, Manfred, 657 Tucholsky, Kurt, 94 U Uhl, Frieda, 61 Ullmann, Ludwig, 15, 16, 22, 40, 59, 84, 129, 130, 209, 481 Unger, Harry, 221 Unus, Walther, 61 V Valéry, Paul, 664 Verhaeren, Émile, 555 Verlaine, Paul, 11, 64, 71, 76–78, 122, 139, 198, 206, 213, 231, 236, 262, 300, 301, 325, 378, 415, 432, 459, 461, 511, 526, 531–533, 563 Villon, François, 64 Vogl, August, 54 Volney, Constantin Francois, 356 W Wagner, Hermann, 63 Wagner, Richard, 13, 60, 72, 233, 340, 538, 568, 651 Walden, Herwarth, 24, 49, 86 Wallpach, Arthur von, 368, 369 Walser, Robert, 630

Personenregister Walter, Otto F., 94 Wassermann, Jakob, 64, 300, 301 Webern, Anton, VI, 17, 108, 310, 408, 540, 541, 651–655 Weinheber, Josef, 632 Weininger, Otto, 11, 19, 23, 60, 147, 171, 371, 511, 513, 547, 551, 569 Weißglas, Immanuel, 633, 634 Werfel, Franz, 20, 83, 87, 118, 484, 624, 661, 664 Wertheimer, Paul, 61 Wettstein, Richard, 56 Whitman, Walt, 371 Wiesner, Julius, 56 Wilde, Oscar, 10, 61, 143, 145, 155, 171, 490 Wildgans, Friedrich, 655 Wittgenstein, Ludwig, 25, 29, 38, 48, 50, 97, 102, 105, 367, 484, 577, 623, 667 Wolff, Kurt, 20, 82, 119, 132, 189, 269, 281, 282, 353, 478, 484, 539, 661 Wolfskehl, Karl, 65 Wright, James, 643 Y Yersins, Alexandre, 249 Z Zahradníek, Jan, 642 Zangerle, Ignaz, 120, 563, 632 Závada, Vilém, 642 Zech, Paul, 81 Zeis, Franz, 13, 21, 22, 48, 59, 213, 216, 339 Zeller, Hans, 120 Zeller, Othmar, 22 Zemlinsky, Alexander von, 541 Zillig, Winfried, 221 Zweig, Stefan, 11, 16, 64, 77, 300, 402, 461, 531–533, 555, 556

Sachregister

A Abend, 77, 87, 150, 181, 190, 220, 268, 305, 315, 325, 327, 360, 361, 363, 401, 406, 407, 514, 525, 526, 533, 545, 565, 569, 586, 601, 604, 616, 618, 628, 668 Abendglocken, Abendgeläut, 228, 262, 270, 504, 540, 594, 627, 635 Abendhügel, 603 abendliche Quellen, 270 Abendsonate, 540 abendwärts, 598 als Moment der Dichtung, 458 als Ort der Trauer, 459 blaue Klage des Abends, 374, 375 blauer, 305 blaue Taube des Abends, 382, 520 Einkehr am Abend, 614, 618 früher, 189, 220 heilige Stille des, 139 kalter und böser, 603 Land des, 636 Liminalität, Dämmerung, 138, 190, 254, 274, 407 Melancholie des, 391, 507, 533, 534 rote Abendstunden, 209, 211 Rückkehr der Herden am, 406 Schminken des, 460 schwüler, 490 Stimmung, 190, 385 Ton des, 400, 504 Tonlosigkeit des, 519 wechselt Sinn und Bild, 575 weißer, 374 Wiederkehr der Toten am, 275, 616 Abendland, 355, 639 Kulturideologie des Abendlandes, 356 poetische Tradition des Abendlandes, 112, 404 Trakl als Sänger des noch verborgenen Abendlandes, 663 Untergang des Abendlandes, 355, 401, 616, 625

Abendmahl, Eucharistie, 92, 93, 142, 224, 240, 242, 244, 309, 322, 357, 518, 618 Abgeschiedenheit, 342, 433, 576, 618, 625, 627, 635 Abort, 65, 249–251 Abstraktion, 39, 77, 86, 87, 128, 157–159, 180, 184, 223, 240, 291, 331, 378, 429, 481, 497, 498, 500, 501, 525, 527, 582, 608, 610, 611, 613, 615, 652, 657, 668 Acker, 84, 146, 161, 193–195, 223, 225, 227, 231, 499, 500, 514, 582 Adoneus, 225, 304, 321, 340, 373, 390 Adverbialisierung, 587 »Akademischer Verband für Literatur und Musik«, 16, 18, 21, 46, 47, 209, 247, 481, 519, 541, 651 Akzelerationismus, 637 Albanien, 25, 674 Alchemie, 99, 110, 307, 498, 549, 550, 552, 553, 616, 664 Alexandriner, 179, 269 Allegorie, Allegorese, 102, 104, 109, 137, 138, 240, 241, 273, 351, 595, 635, 636 allegorische Dimension der Landschaft, 528 Kaspar Hauser, 77 Luzifer, 47, 466 Sirenen, 608 Tageszeit, Jahreszeit, 401 Tod, 167, 292, 585 Androgynie, 110, 205, 206, 331, 382, 454, 552, 553, 568, 569, 571, 669 Anthropomorphismus, 386, 391, 396, 403, 423, 521, 582 Anthropophagie, 170 Antike, 75, 137, 277, 428, 436, 581, 598, 617 enthousiasmós, 408 Heroismus, 390 Lustprinzip, 436 Metrik, 39, 301, 304 Musik, 72 Mysterienkult, 552 Mythologie, 138, 140, 270, 277, 526, 608, 616 Poesie und Poetik, 146, 262, 396, 458, 599 Spätantike, 549, 551

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2

683

684 Todesvorstellung, 428, 609 Topologie der Melancholie, 531, 534 Antlitz, 129, 182, 209, 215, 275, 296, 349, 350, 361, 362, 429, 440, 508, 513, 534, 539, 586, 587, 609, 628, 658, 665 aussätziges, 215 bärtiges der Väter, 297 buntes, 428 des Todes, 588 dionysisches, 167, 541 ernstes, 544 erstorbenes, 588 graues, 504 mondenes, 509 reines, 301 schmerzensreiches, 439 schweigendes der Nacht, 395, 655 silbernes, 499, 586 steinernes, 505 Sternenantlitz, 565 versteinertes der Mutter, 341, 515, 545, 668 weißes, 324, 569 Apokalyptik, 37, 72, 87, 93, 161, 180, 181, 184, 205, 220, 241, 245, 248, 257, 356, 357, 361, 378, 392, 400, 401, 408, 447, 505, 508, 520–522, 526, 528, 549, 563, 568, 595, 611, 616, 617, 619, 624 Apollinisches Prinzip, 158, 170, 207, 331, 336, 359, 378, 418, 419, 563, 565, 591, 608 Apostel, 240, 241 Arkadien, 274, 277, 400 Artikel, 183, 575, 638 bestimmter, 183, 198, 244 unbestimmter, 183, 198 Askese, 11, 27, 63, 91, 94, 147, 513, 551 Ästhetik, 176, 178, 180, 367, 492, 493, 507, 540, 563, 623 Abweichungsästhetik, 99, 106 apokalyptische, 181 Ästhetisierung des Lebens, 588 christliche, 434 der Coldness, 640 der Klassik, 573 der Synästhesie, 498, 500 des Hässlichen, 76, 581 des l’art pour l’art, 175 des Morbiden, 361 des Rauschtraumgedichts, 161 des Schmerzes, 513, 514 des Verfalls, 39 expressionistische, 178, 608, 609 Genieästhetik, 98 Musikästhetik, 652 Produktionsästhetik, 103 Raumästhetik, 236 romantische, 608 symbolistische, 178 Ästhetizismus, 17, 38, 40, 98, 129, 175, 198, 291, 368, 414, 607

Sachregister Asyndetik, 75, 178, 214, 216, 232, 239, 304, 322, 418 Auferstehung, 62, 92–94, 145, 146, 241, 275–277, 292, 297, 322, 323, 331, 454, 550, 552, 618 Augen, 38, 62, 138, 146, 161, 203, 235, 251, 276, 306, 325, 429, 440, 458, 460, 465, 513, 514, 544, 602, 628, 651, 658 Augenbogen, 569 Augenhöhlen, 317, 318 blasse, 419 bläuliche, 277 blinde, 521 brechende, 599 der Augen stumme Klage, 602 dunkle, 76, 138, 458, 461, 463 erloschene Bläue der, 540 Gottes goldene, 62, 77, 87, 191, 259, 270, 634 in sich ruhende, 356 leere, 424 mondene, 205, 207, 509, 564, 656 Neonaugen, 643 purpurne, 406 runde, 179, 266, 276, 291, 374, 580, 616 sanfte, 275 schauende, 356 schwärzliche, 504 steinerne der Schwester, 515, 569 Sternenaugen der Kröte, 63 tote, 39, 586 zerbrochene, 276 Auschwitz, 639, 640, 644, 645 Aussatz, Aussätzige, 65, 66, 86, 213–216, 233, 274, 275, 277, 305, 565, 615 Autismus, 424, 640 Autor, Autorschaft, VI, 35, 103, 104, 110, 121, 129, 206, 241, 277, 300, 453, 454, 484, 489, 532, 558, 562, 624, 665, 666, 668, 670 B Ballade, 16, 61, 211, 414 Barock, VI, 6, 36, 428, 458, 543 Drama, 166, 177, 428 Lyrik, 28, 36, 90, 94, 259, 396, 460, 599 Bauer, Landmann, 93, 223, 224, 226, 227, 229, 274, 292, 325, 326, 644 Berlin, 15, 16, 18, 23, 24, 28, 30, 35, 49, 56, 81, 83–86, 129, 172, 281, 282, 339, 345, 353, 355, 373, 390, 471, 472, 482, 483, 538, 549, 555, 569, 570, 627, 628, 673, 674 Bewegungsästhetik, 512 Bibel, 8, 59, 61, 62, 65, 71, 78, 87, 89, 90, 92–95, 122, 131, 141, 142, 144, 145, 161, 194, 220, 224, 240, 241, 243, 244, 258, 270, 275, 276, 293, 301, 305, 306, 310, 312, 318, 329, 330, 347, 360, 361, 370, 408, 435, 446, 447, 511, 549– 551, 563, 616 Altes Testament, 87, 90, 92, 95, 161, 206, 207, 244, 245, 257, 275, 312, 346, 408, 432, 550

Sachregister Neues Testament, 95, 141, 143, 146, 147, 241, 297, 323, 407 Psalmen, 87, 94, 95, 160, 194, 244, 245, 257, 551 Blasphemie, 77, 94, 170, 363, 432, 433, 435, 551 »Blauer Reiter«, 86, 498 Blumen, 206, 414, 585 Astern, 67, 322, 323, 460, 614 Blaue Blume, 66, 73, 76, 205, 306, 347, 453, 454, 499, 565, 566, 586 des Winters, 604 Georginen, 460, 553 Hyazinthen, 205–207, 354, 408, 460, 518, 565 Lilien, 149, 150, 270, 271, 598 Osterglocken, 296, 297, 503 Reseden, 67, 316, 318, 324, 460, 461 Sonnenblumen, 66, 273, 318, 460, 565, 614 Veilchen, 374–376, 614 Wasserlilien, 150 Zyanen, 460, 461, 463, 656 Blut, 75, 160, 161, 170, 232, 240, 247, 254, 270, 297, 351, 368, 382, 390, 391, 401, 418, 433, 491, 500, 507, 513, 517, 522, 528, 553, 568, 601, 631–633, 645, 656, 657 blutbefleckte Linnen, 184, 513, 608 blutende Häupter, 400, 403, 512, 522, 656 blutende Lippen, 147 blutender Mund, 569, 656 blutendes Brot, 515 blutende Stirn, 205, 207, 521 blutende Stufen, 521 blutendes Wild, 579 Blutmischung, 637 Blutnebel, 184, 240, 242, 518, 667 Blutrausch, 155, 171, 513 blutrote Fluten, 608 Blutrünstigkeit, 171 Blutschuld, 433, 434, 568 Christi, 241 die Schläfen hämmerndes Blut, 225 himmlisches, 552 im Blut heulende Dämonen, 481, 551 lachendes, 402, 520 leise blutende Demut, 351 rauchendes, 381, 520, 551, 602 selbstvergossenes, 306 still blutende Menschheit, 626 tropfend wie Tau, 351, 423 Verbluten, 67, 351, 374, 414, 466 vergossenes, 403, 522 Böses, 64, 73, 193, 214–216, 297, 304, 316, 318, 322, 369, 371, 466, 481, 513, 551–553, 593, 617, 619, 632, 654, 666, 669 Ästhetisierung des Bösen, 414 Blumen des Bösen, 64 böse Mutter, 546 böser Abend, 603 böser Kosmos des Ichs, 305 böses Herz, 514 böses Lächeln, 514

685 Geist des Bösen, 214, 215, 297, 465, 593 glühendes Gefühl des Bösen, 316, 318 Masken des Bösen, 215 Traum des Bösen, 159, 213, 259, 446, 541, 593, 646 Brot, 92, 93, 161, 220, 224, 240, 242, 295, 309, 311, 322, 415, 515, 544 Bruder, 66, 73, 112, 183, 215, 259, 274, 277, 333, 335, 354, 432, 450, 540, 568, 586, 603, 642, 646 Bruder Trakl, 629, 640, 646 Kain, 424 Brunnen, 137, 138, 178, 201, 262, 322, 349, 363, 375, 446, 447, 514, 538, 539, 582, 607–609 Bukolik, 220, 274, 292 C Chaos, 82, 127, 211, 440, 481, 541, 619, 654 chaotische Textproduktion, 106, 335 China, 6, 478 Christentum, 19, 23, 24, 60, 62, 77, 84, 87, 89, 92–94, 131, 148, 172, 191, 241, 243, 245, 258, 270– 272, 277, 292, 296, 297, 347, 355, 370, 427, 431, 432, 526, 551–553, 610, 615, 616, 618, 619 Brautmystik, 552 christliche Ethik und Moral, 259, 273, 432, 433, 435, 551 christliche Ewigkeitsvorstellung, 428 christliche Ikonographie und Symbolik, 19, 139, 140, 190, 194, 240–242, 271, 277, 285, 297, 305, 370, 385, 428, 568 christliche Legendendichtung, 285 christliche Moral, Wertevorstellungen, 436 christlicher Existenzialismus, 665 christlicher Heroismus, 241 christliche Schmerzensästhetik, 513 christliche Tragödie, 433 Eschatologie, Heilsgeschichte, 87, 92, 106, 225, 239, 311, 312, 318, 323, 433, 436, 446, 447, 466, 526, 568, 569, 588, 589, 617, 618 Jenseits, 428, 435 Liquidation des Christentums, 62 Mystik, 306 Religion, Religiosität, 9, 10, 19, 24, 39, 87, 89, 92, 111, 220, 305, 441 Rituale, 92, 431 Soteriologie, 62 Trakl als christlicher Dichter, 87, 92, 95, 241, 370, 553, 589 Transzendenzlehre, 60 Zerstörer des Christentums, 73 D Dämon, Dämonen, VI, 12, 147, 167, 193, 194, 305, 360, 391, 481, 528, 551, 568, 632 Darmstädter Schule, 655 DDR, 37, 262, 639, 646

686 Décadence, 35–37, 40, 60, 64, 76, 82, 98, 177, 198, 248, 262, 276, 360, 414, 424, 432, 433, 435, 507, 552, 607, 608, 617, 639, 640 Depersonalisation, 235, 423, 424, 512 Depression, 6, 15, 17, 21–23, 127, 128, 523, 556, 597, 664, 673 Diminutiv, 228 Dionysisches Prinzip, 17, 142, 145, 155, 158, 167, 205, 207, 274, 327, 331, 359, 363, 378, 418, 540, 541, 563–565, 593, 598, 617 Dithyrambus, 598 Doppelgänger, Wiedergänger, 259, 363, 403, 423, 424, 440, 450 Dorf, 169, 189, 190, 219, 220, 270, 315, 337, 514 Dorn, 91, 92, 317, 335, 336, 407, 420, 500, 521, 579, 580, 603 Dornenall, 418, 420, 563 Dornenbogen, 61, 87, 335, 337 Dornenbusch, 61, 91, 92, 95, 161, 207, 243, 245, 271, 323 Dornenkrone, 61, 91, 143, 271, 420 Drogen, VI, 9, 14, 48, 49, 109, 110, 123, 562, 564 Alkohol, 9–11, 15, 16, 19, 22–24, 48, 128, 564 Barbiturate, 54 Chloroform, 9, 53, 54, 561, 673 Curare, 9 Drogenpoesie, 110, 378, 563 Haschisch, 646 Kokain, 9, 29, 53, 54, 57, 58, 379, 399, 562, 564, 565, 642, 673, 674 Meskalin, 562 Morphium, 58, 377, 562, 673 Opium, 9, 53–57, 296, 377, 379, 512, 562, 564 Veronal, 9, 22, 378, 379, 561, 673 Du, 165, 178, 219, 234, 255, 266, 304, 305, 322, 323, 406, 586, 587, 594, 602, 627 E Eifersucht, 171 Eisenbahn, Zug, 13 Einsamer, 83, 227, 229, 270, 277, 326, 327, 336, 341, 343, 489, 504, 506, 582, 602, 614, 615, 618, 626, 629, 645 Eis, Vereisung, 94, 165, 178, 232, 250, 274, 276, 336, 337, 395, 396, 522, 545, 565, 595, 611, 614, 615 Ekel, 22, 44, 65, 85, 130, 247, 347, 368, 414, 427–429, 581 Elegie, 81, 93, 179–181, 183, 205, 236, 242, 254, 266, 268, 304, 312, 360, 402, 407, 435, 458–460, 556, 599, 627, 667 Ellipse, 184, 185, 304, 316, 341, 391, 460, 664 Enallage, 587 Endecasillabo, 261, 457, 599 Endymion, 504, 609, 615, 616 Engel, 67, 91, 161, 217, 245, 258, 270, 274, 291, 297, 305, 311, 325, 360, 408, 594, 644, 665 bleicher, 270, 274, 277

Sachregister der Ruhe Engel, 605 eherner, 277 engelhaftes Schweigen, 182 Engelkohle, 642 Engelschöre, 420 Engelsgesang, 220, 582 Engelsharfen, 420 Engelssturz, 466 erloschene, 569 Jakobs Kampf mit dem Engel, 312 kristallne, 191 Luzifer, 465 mit kalten Stirnen, 347 mit kotgefleckten Flügeln, 62, 634, 639 mit kristallnem Finger, 305 rosiger, 614, 618 Silberstimme des, 298 Todesengel (Azrael), 171, 616 Enjambement, 179, 180, 193–195, 214, 231, 244, 253, 258, 316, 318, 346, 378, 382, 458, 465 Entsemantisierung, 97, 108 Entsubjektivierung, 104, 112, 178, 180, 203, 232 Epigone, Epigonalität, 177, 428, 601, 608, 623, 637, 669 Epiphanie, 183, 259, 306, 374, 376, 407, 440, 441, 569, 628 Erlebnislyrik, 232, 402 Erlösung, 72, 74, 93, 95, 142, 144, 145, 207, 244, 245, 248, 257, 259, 285, 305, 306, 312, 318, 331, 332, 360, 403, 408, 433, 434, 465, 466, 505, 521, 522, 547, 550, 566, 609–611, 626, 634 der Menschheit, 160, 245 Erlösungsakt des Kreuzes, 318 Erlösungsbedürftigkeit des Menschen, 92 Erlösungsbotschaft, 258 Erlösungssehnsucht, 74, 87, 434, 466 himmlische, 142 Selbsterlösung, 552 vom Sexus, 147 vom Tod, 241 Ernte, 161, 194, 225, 227, 322, 423 Eros, 10, 15, 22, 23, 64, 75, 138, 139, 143, 148, 167, 169, 191, 270, 316, 317, 440, 458, 459, 513, 551, 552, 567, 569, 587, 593, 608, 666 Esoterik, 98–101, 103, 109–112, 550, 624 Ethik, 95, 99, 127, 128, 131, 175, 356, 367–369, 403, 481, 623, 631, 669 Existenzialismus, 585, 624 Exotismus, 85, 258, 339, 519, 521, 532 Expressionismus, 30, 47, 60, 76, 81–84, 86, 87, 109, 130, 176, 178, 179, 183, 184, 232, 243, 266, 369, 402, 424, 497–500, 506, 511, 512, 526, 528, 538, 539, 547, 549, 556, 573, 592, 607–609, 617, 624, 629, 631, 632, 657, 661, 663, 664 F Fahne, 381, 382, 520 Farben, 65, 76–78, 182, 198, 202, 213, 223, 234–236, 240, 254, 255, 262, 267, 269–271, 288, 305,

Sachregister 317, 325, 350, 382, 406, 428, 433, 458, 461, 497–500, 511, 512, 538, 546, 575, 608, 614, 633, 644, 662, 667 als Essenz eines Vorstellungsinhaltes, 633 Autonomisierung der Farbadjektive, 77, 633 Bedeutungscharakter der Farbadjektive, 77 Blau-Komplex, 288 Chromatik, 235, 608 duftende, 234 Farbabstrakta, 223 farbenheißer Abglanz, 541 Farbensprache, 65 Farbenton, 233 Farblehre, 289 Farblosigkeit, 428 Farbmetapher, 500 Farbmetaphorik, 180 Farbneologismen, 633 Farbpalette, 270 Farbpoetik, 633, 638, 643 Farbsemantik, 266, 323, 497, 498 Farbspiel, 81, 556 Farbwortmetaphorik, 670 Gottes Farben, 254, 255, 594 grelle, 234, 266, 497 intensiviertes Farbempfinden, 564 kalte, 235, 236, 615 Klangwert der Farbe, 233, 234, 539 leuchtende, 138 Logik der, 528 Temperatur, 234 warme, 234 Farbtöne absolutes Grün, 235 blau, 39, 63, 66, 68, 73, 76, 86, 94, 179, 202, 205, 207, 210, 211, 216, 217, 220, 227, 234–236, 254, 270, 276, 277, 287–289, 297, 298, 305, 306, 315, 317, 323, 347, 349–351, 354, 374, 375, 382, 400, 406–408, 446, 447, 453, 454, 458, 498–501, 503, 504, 517, 518, 520, 522, 527, 528, 539, 541, 546, 563–566, 569, 573, 575, 576, 580, 586, 587, 602, 608, 610, 611, 619, 627, 628, 633 bläulich, 276, 277, 458, 538, 609, 655 blutrot, 608 braun, 63, 76, 161, 190, 194, 201, 247, 254, 266, 274, 277, 296, 315, 356, 368, 458, 461, 462, 483, 497, 499, 500, 505, 514, 518, 528, 539, 565, 588, 589, 602, 633 braungolden, 214, 217, 500 dunkelblau, 498 dunkelfarben, 266, 277, 463 dunkelglühend, 498 gelb, 231, 234–236, 270, 274, 498, 499, 504, 588, 633, 656 gelblich, 498 golden, 77, 86, 87, 105, 185, 190, 191, 202, 207, 214, 217, 220, 227, 233, 259, 270, 271, 274, 276,

687 289, 291, 295, 305, 322, 340, 342, 346, 349, 350, 374, 376, 382, 390, 391, 395, 396, 400, 401, 459, 461, 497–499, 505, 506, 509, 518, 520–522, 553, 565, 595, 597–600, 602, 604, 616, 617, 633–635 grau, 62, 195, 225, 231, 266, 270, 296, 297, 323, 497, 499, 503, 504, 528 grün, 37, 178, 223, 234–236, 296, 298, 301, 304, 324, 357, 361, 363, 406, 419, 497, 527, 551, 563, 565, 575, 586, 588, 602, 608, 609 grünlich, 608 kupfern, 406 opal, 497 orange, 235, 497 pastellfarben, 497 pestfarben, 64, 414 purpur, 270, 271, 276, 291–293, 301, 306, 317, 322, 323, 350, 390, 395, 397, 402, 406, 446, 497, 498, 500, 505, 508, 514, 520–522, 564, 585, 586, 594, 604, 611, 614–616 rosa, 248, 275 rosenfarben, 528, 646 rosig, 94, 270, 275, 277, 296, 297, 406, 454, 503, 505, 552, 565, 614, 617, 618 rot, 142, 181, 184, 190, 209, 210, 214, 223, 228, 234–236, 239, 240, 247, 254, 277, 299, 306, 317, 323, 406, 407, 458, 461, 497, 500, 507, 513, 518, 580, 594, 602–604, 616, 617, 633, 654, 656 rotbraun, 483 rotgolden, 270 rotversengt, 184, 499 scharlach, 316, 317, 519, 617 schwarz, 68, 85, 94, 97, 181–183, 191, 193, 194, 205, 207, 213, 214, 217, 225, 228, 231, 235, 239, 240, 254, 267, 270, 271, 274–277, 304, 306, 317, 323, 324, 330, 341, 378, 401, 406, 407, 450, 458, 460, 461, 499, 500, 504–508, 518– 520, 534, 564, 565, 575, 580–582, 588, 594, 604, 609, 618, 629, 633, 640, 667 schwärzlich, 342 silbergrau, 498 silbern, silbrig, 102, 138, 202, 214, 296–299, 302, 336, 341, 342, 374, 396, 401, 402, 406, 497, 499, 504, 505, 521, 537, 540, 552, 553, 565, 586, 594, 599, 603, 604, 616–618, 662 vergilbt, 62, 184, 232, 292, 498, 499, 504, 566 violenfarben, 236, 460 violett, 234, 236 weiß, 73, 178, 183, 184, 220, 229, 231, 249, 253– 255, 259, 266, 267, 274, 276, 277, 296, 323, 335–337, 356, 374, 378, 379, 382, 406, 407, 465, 503, 504, 506, 544, 564, 593, 594, 628, 633 zyanenfarben, 460, 461 Fehlgeburt, 24, 345, 353, 390, 483, 570, 674 Feld, 146, 194, 223–225, 233, 235, 236, 499, 514

688 Schlachtfeld, 28, 29, 50, 132, 242, 281, 368, 522, 625, 628 Feldtheorie, 39, 43, 83, 109, 160, 214, 215, 223–225, 305, 341, 354, 390, 435, 492, 575, 637, 652 Fenster, 28, 61, 138, 139, 150, 169, 177, 198, 210, 211, 213–215, 223, 224, 309, 311, 318, 361, 408, 424, 540, 541, 582, 587, 593, 638 Fieber, 85, 150, 209, 271, 360, 414, 423, 424, 481, 555, 556, 608 Fin de siècle, 11, 16, 40, 198, 439, 541, 617 Flamme, 60, 161, 211, 214, 215, 253, 341, 376, 402, 420, 465, 466, 603, 616, 636, 637, 656 Flöte, 233, 236, 400, 402, 403, 419, 540, 654, 656 Fluch, 14, 18, 37, 47, 131, 147, 160, 161, 245, 316, 360, 361, 370, 413, 533, 545, 568, 618, 631, 666, 668 Flug, 194, 195, 214, 229, 266, 297, 326, 349, 351, 374, 518, 539, 580, 581 Dichterflug, 262 Flügel, 62, 194, 255, 349, 350, 564, 575, 594, 634 Fluss, 8, 144, 227, 267, 298, 317, 327, 499, 528, 608, 642 Flüstern, 170, 171, 182, 248, 431–433, 450, 538, 602 Föhn, 318, 423 Formlosigkeit, 588 Fotografie, 22, 370, 389, 533, 641, 642, 658, 665, 674 Frankreich Französische Literatur, VI, 7, 62, 64, 65, 71, 73, 76, 78, 176, 198, 262, 362, 379, 405, 414, 415, 424, 441, 492, 511, 526, 527, 549, 555, 591, 607 Französische Sprache, 7, 77 Frauenfiguren, 73 femme fatale, 94, 414, 541 Greisin, 546 Heilige, 62, 66, 316, 433 Hure, Prostituierte, 39, 62, 94, 147, 315, 316, 545– 547, 556, 569 Jungfrau, 95, 147, 244, 292, 316, 513, 543, 552 Fremdling, Fremdlingin, 18, 66, 67, 73, 74, 84, 161, 178, 182, 183, 206, 274, 299, 346, 354, 356, 378, 407, 453, 454, 504, 527, 537, 568, 615, 616, 618, 635, 636 Futurismus, 86 G Galizien, 27, 44, 49, 63, 399, 483, 520, 521, 523, 674 Garten, 5, 64, 138, 177, 184, 198, 201–203, 216, 262, 275, 292, 298, 318, 322, 375, 406, 420, 445– 447, 499, 525–527, 539, 552, 569, 586, 587, 603, 607, 640, 643, 666 Gebet, 77, 90, 91, 94, 95, 191, 220, 224, 431, 433–435, 440, 519 Rosenkranz, 91, 143, 220 Geige, 233, 375, 539, 540, 653, 654 Geist, 61, 166, 195, 215, 216, 245, 274, 295, 355, 376, 385, 415, 459, 465, 500, 529, 573, 626, 632, 636, 637, 644, 668

Sachregister der Abgeschiedenheit, 107 der Gotik, 22 der Schmerzen, 465 der Wälder, 603 des Bösen, 214, 215, 297, 593 des Frühverstorbenen, 341 Flamme des Geistes, 402, 636, 656 Geisteskrankheit, 424, 511 Geistesnacht, 242 Geistesrevolution, 62 Gottes, 93, 454, 465, 564 Heiliger Geist, 25, 297 Geister, Gespenster, 150, 167, 210, 225, 402, 403, 521, 522, 586, 656 Geistlicher, Geistliches, 90, 219, 220, 336, 376, 509, 552, 636 Geld, 21, 24, 25, 239–241, 315, 316, 471, 483, 518 Geldgier, 241 Geldnöte, 17, 18, 21, 22, 24, 28, 30, 49, 59, 281, 471, 472, 480, 674 Honorar, 29 Gemeinschaft, 14, 45, 245, 258, 288, 322, 323, 385, 433, 526, 603, 623, 626, 645–647 der Verstorbenen, 586, 588 von Stimme und Totenwelt, 587 Gerundium, 587 Gesang, 73, 94, 130, 167, 184, 202, 220, 242, 275, 277, 292, 301, 340, 342, 350, 351, 374, 390, 391, 396, 423, 459, 505, 508, 519, 539, 541, 552, 565, 566, 580, 586, 587, 603, 604, 608, 617, 619, 627, 645, 653–655 Geschlecht, 11, 19, 37, 160, 285, 316, 318, 360, 538, 543, 547, 568, 569, 625, 637, 669 die Liebenden Ein Geschlecht, 505, 552, 569, 617 dunkle Liebe eines wilden Geschlechts, 374 entsetztes, 37 Fluch des entarteten Geschlechts, 37, 360, 361, 545, 631, 668 Geist und Geschlecht, 637 Geschlecht und Charakter, 547 Hinstirbt der Väter Geschlecht, 356, 357, 603 inferiores, 637 Kinder eines dunklen Geschlechts, 323, 360, 587 Sterne unseres Geschlechts, 637 Untergang des Geschlechts, 37, 274, 276 verfluchtes, 37, 360, 361, 568, 618 verwesendes, 587, 603, 636 Geschwister, 5, 213, 216, 478, 567, 568, 571, 603 Gewalt, Gewaltsamkeit, 72, 87, 158, 166, 168, 181, 190, 210, 228, 240, 254, 316, 317, 323, 361, 363, 386, 391, 401, 433, 511–513, 521, 522, 551, 568, 569, 580, 615–617, 619, 636, 644 Bildgewalt, 407 Naturgewalt, 522 Stimmgewalt, 391, 603 Ghasel, 457 Gift, Vergiftung, VI, 22, 25, 28, 29, 49, 54, 55, 64, 271, 377, 378, 414, 512, 562, 564, 616, 642, 646, 674

Sachregister Gitarre, 254, 316, 458, 459 Gleiten, 39, 74, 130, 177, 202, 270, 335, 395, 449–451, 457, 458, 461, 463, 490, 504, 519, 534, 565, 575, 604, 605, 608, 634 Glocke, 39, 87, 202, 228, 231, 262, 270–272, 309, 311, 385, 466, 504, 517, 538–541, 565, 594, 627, 635 Glockenspiel, 277, 455, 519, 565 Gnosis, 110, 466, 549, 551–553, 616 Golgatha, 62, 77, 87, 191, 257, 259, 270, 274, 277, 297, 323, 465, 466, 514, 634 Gothic, 657, 658 Gotik, 22, 61, 62, 124, 414 Gott, 62, 66, 75, 77, 93–95, 146, 160, 170, 182, 194, 233, 241, 243–245, 254, 255, 257–259, 271, 354, 435, 436, 465, 467, 513, 529, 534, 552, 558, 582, 619, 626, 628, 645 als Demiurg, 94, 552 furchtbarer Gott, 161 Gottes Abwesenheit, 94, 95, 245 Gottes Anwesenheit, 220 Gottes blaue Lider, 276, 277 Gottes blauer Odem, 93, 563 Gottes Brot und Wein, 311 Gottes Dienerin, 147 Gottes Farben, 254, 255, 594 Gottesferne, 92, 258, 292 Gottes Geier, 618 Gottes goldene Augen, 62, 77, 87, 191, 259, 270, 634 Gottes goldener Schrein, 270 Gottes Hände, 93 Gottes Odem, 183, 220 Gottes Schauern, 63 Gottes Schweigen, 87, 94, 191 Gottes Sohn, 92 Gottes tiefe Freude, 564 Gottes Tod, 60, 72 Gottgefühl, 553 Gottgesandtheit, 440 Gottlosigkeit, 370 Gottvergessenheit, 432 Gottverlassenheit, 95, 245 Sprache als Gott, 455 stiller, 274, 276 strafender, 93, 617 Verkehrung Gottes, 160 zürnender, 75, 401–403, 522 Götter, 147 Grab, 66, 74, 93, 139, 147, 220, 259, 271, 275, 296, 297, 330, 336, 337, 354, 382, 397, 414, 453, 503, 520, 537, 550, 570, 604, 605, 610, 614, 632– 634 Trakls Grab, 29, 50, 481, 537, 631, 642 Grauen, 184, 215–217, 223, 226, 323, 324, 326, 327, 382, 423, 463 Grausamkeit, 155, 159, 167, 419, 435, 480, 534, 551, 552 Groteske, 101, 240, 483, 511, 581, 582

689 H Habsburg, V, 3, 35–38, 40, 63 Halluzination, 361, 362, 378, 445, 512, 562, 564, 591, 594, 595 Hamlet, 65, 350, 668 Hässlichkeit, 60, 64, 65, 76, 86, 236, 368, 581, 582, 592, 615 Haupt, 74, 75, 87, 93, 156, 228, 275, 299, 301, 302, 342, 362, 395, 420, 449, 450, 481, 504, 507, 513, 527, 533, 534, 553, 565, 588, 594, 598, 616, 626, 645, 646, 668 Heimat, 4, 6, 29, 37, 44, 50, 137, 150, 258, 363, 369, 483, 533 Heimatkunst, 10, 491 Hendiadyoin, 229, 247 Hermetik, 38, 87, 93, 97, 99–102, 104, 108–112, 176, 267, 288, 304, 312, 363, 455, 498, 549, 553, 599, 610, 616, 626, 664 Herz, 90, 105, 138, 150, 185, 195, 297, 306, 336, 345– 347, 350, 351, 357, 363, 374, 381, 382, 414, 415, 435, 436, 465, 492, 514, 515, 532, 551, 603, 617, 618, 625, 628 Hexameter, 39, 179, 180, 266, 301, 401 Himmel, 89, 93, 137, 139, 161, 210, 211, 231, 248, 262, 270, 323, 326, 346, 351, 357, 406, 420, 503, 507, 508, 532, 534, 541, 565, 580, 602, 628, 634, 635 bleierner, 223, 224 blut-purpurner, 418 christlicher, 84 dunkler, 395, 534 einsamer, 105, 185, 656 Entleerung der, 420 gestirnter, 503, 508 Gottes, 94 Gottes schwarz schwankender, 534 härener, 580 Himmelreich, 61 Himmelskönigin, 391 tiefdunkler, 138 Hirn, Gehirn, 239, 240, 242, 255, 460, 463, 518, 534, 551, 573, 667 Hirte, 94, 220, 243, 244, 274, 275, 287, 329–331, 403, 508, 526, 551, 552, 582, 588, 603, 604, 614 Hof, 5, 149, 247, 249, 250, 646 Hoffnung, 588 Holländisch-Indien, 25, 674 Homoerotik, 206, 569 Humanität, Mensch, Menschheit, 27, 50, 60, 82, 85, 99, 108, 133, 138, 147, 149, 156, 167, 182, 190, 210, 211, 216, 224, 225, 227, 231, 232, 236, 240, 241, 244, 245, 254, 255, 259, 270, 273, 274, 288, 297, 301, 311, 346, 347, 351, 357, 360, 367, 369, 373, 386, 396, 401, 403, 406, 414, 428, 436, 465, 466, 482, 483, 499, 507, 508, 511, 512, 514, 515, 527, 555, 558, 573, 576, 581–583, 603, 610, 614, 615, 617, 625, 626, 629, 636, 637, 640, 641, 664 alle Menschen der Liebe wert, 27, 625, 665 Beziehung des Menschen zur Transzendenz, 257

690 blaue Gestalt des Menschen, 503 bleicher Mensch, 331, 610 conditio humana, 190, 356, 402, 459 der Mensch als lautgebendes Wesen, 211 der Mensch auf der Weltbühne, 428 der Menschheit heldenloses Trauerspiel, 414 des Menschen bloße Pein, 311 des Menschen goldnes Bildnis, 395, 396, 595 die nächtigen Pfade des Menschen, 406 die Verinnerlichung des Menschen, 419 dissoziierter Mensch, 291 Einsamkeit als Grundbedürfnis des Menschen, 626 Erlösung der Menschheit, 160 Erlösungsbedürftigkeit des Menschen, 92 frohe Menschen, 616 Gestalt des Menschen, 297, 546 Hände der Menschen, 515 Haus des Menschen, 138 homo ferus, 301 humane Wirkungsabsicht von Trakls Gedicht, 403 Kampf um den Menschen, 575 Mensch als Werkzeug seines eigenen Werks, 574 Menschenkenntnis, 19 Menschenleere, 322 menschenlose Landschaft, 526 Menschheitsgeschichte, 418, 528, 625 Menschheitsvision, 639 menschliche Destruktivität, 401 menschliche Schuld, 665 menschliches Leid, 240, 241, 245, 526 Mensch und Kosmos, 506–508 Mensch und Natur, 139, 140, 182, 254, 258, 363, 423, 441, 449 Mensch und Tier, 580, 582, 603, 632 Mensch und Transzendenz, 436 Nachricht vom Menschen, 640 neuer Mensch, 82 paradiesischer Mensch, 93 Pathos des Menschen, 556 positives Menschentum, 369 rein ästhetische Wertung des Menschen, 639 schön ist der Mensch und erscheinend im Dunkel, 275, 276 schön ist der sterbende Mensch und erscheinend im Dunkel, 588 Selbstvervollkommnung des Menschengeschlechts, 466 Sprache kein menschlicher Ort, 635 stummere Menschheit, 553, 626, 646 Trakl als Apotheker der Menschheit, VI Umrissschwäche des Menschen, 515 ungeborene Menschheit, 636 Untergang des Menschen, 72, 94, 447 Verfall des Menschen, 511 Verlorenheit des gealterten Menschengeschlechts, 528 Verschwinden des Menschen, 140 verwesende Menschen, 347 verweste Gestalt des Menschen, 553, 588, 617

Sachregister Wohnung des Menschen, 68 zerrissener Mensch, 232, 435 Hypallage, 194, 500 Hyperbel, 138 I Idylle, 39, 74, 75, 180, 190, 201, 205, 207, 227, 267, 274, 275, 287, 288, 292, 312, 322, 354, 363, 386, 400, 445, 446, 499, 517, 526, 528, 565, 589, 616, 643 Ikarus, 235, 351, 465, 466, 619 Impressionismus, 82, 129, 202, 203, 322, 368, 415, 497, 498, 538, 574, 575 Innsbruck, VII, VIII, 7, 13, 14, 17–23, 25, 27–29, 35, 39, 44, 47–50, 53, 54, 57, 60, 83, 90, 92, 93, 101, 103, 117, 119–123, 127, 131, 176, 257, 273, 281, 285, 299, 300, 309, 345, 360, 367–370, 373, 471, 473, 474, 477–481, 484, 493, 521, 528, 531, 532, 537, 541, 549, 550, 624, 642, 662, 663, 667, 674, 675 Inzest, 13–15, 94, 168, 216, 267, 306, 331, 414, 431, 432, 553, 556, 567, 568, 604, 610, 642, 661, 665, 666 Ironie, 39, 84, 85, 101, 228, 402, 436, 460, 467, 518, 532, 599, 662 J Jagd, Jäger, 39, 231, 232, 239, 240, 242, 254, 304, 518, 526, 551, 552, 601–604 Jahreszeiten Frühling, 67, 167, 169, 265, 287, 292, 297, 356, 363, 374–376, 386, 419, 499, 573, 576, 593, 613– 619, 654 Herbst, 4, 63, 74, 75, 78, 86, 184, 198, 220, 227–229, 235, 244, 249, 253–255, 262, 266–268, 270, 274, 276, 287, 288, 291, 292, 296, 297, 301, 304, 305, 322–327, 330, 346, 356, 382, 390, 400–402, 449, 450, 458, 459, 499, 508, 521, 522, 526, 533, 565, 569, 580, 594, 598, 603, 604, 614, 616, 618, 619, 633, 644, 645 Sommer, 184, 202, 203, 220, 235, 274–276, 292, 296, 297, 325, 340, 363, 459, 499, 551, 565, 614, 616, 618 Winter, 195, 231, 250, 254, 268, 274, 276, 296, 297, 301, 459, 499, 503, 521, 525, 540, 594, 604, 613, 614, 617, 618 Jerusalem, 140, 142, 145, 297 Judentum, 24, 49, 245, 259, 312, 355, 356, 631 Antisemitismus, 49, 355, 368, 628, 631 Jugend, Adoleszenz, VI, 8, 27, 43, 49, 138, 292, 295, 458, 546, 615, 630, 638, 657 Jugendstil, 16, 83, 147, 177, 178, 181, 498, 512, 607, 608 Jüngling, Jünglingin, 66, 141–143, 206, 329–331, 360, 458, 459, 461, 508, 509, 520, 553, 558, 564, 568, 569, 604, 627 Jung-Tirol, 368 »Jung-Wien«, 22, 40, 368

Sachregister K Kahn, 105, 185, 227, 336, 341, 342, 395, 505, 508, 528, 565, 585, 609 Kälte, Kühle, 63, 68, 178, 184, 205, 216, 228, 234–236, 266, 270, 276, 296, 316, 318, 324, 336, 337, 346, 347, 375, 390, 391, 400–402, 427, 458, 504, 506, 543, 544, 553, 565, 603, 610, 611, 615, 617, 635, 640 mütterliche, 6, 296, 543, 544 Poetik der Kälte, 565 Kanal, 184, 247, 341, 342, 368, 504, 528, 608 Katachrese, 582 Katholizismus, 3, 6, 8, 36, 61, 87, 89–92, 94, 392, 543, 546, 567, 639 Killy-Schock, VII, 101 Kind, Kindheit, 5, 6, 8, 76, 138–140, 179, 183, 190, 203, 206, 219, 220, 258, 266, 267, 285–289, 291, 292, 295–298, 315–317, 323, 346, 347, 356, 357, 454, 499, 521, 543–546, 551, 564, 582, 586, 588, 593, 613, 615, 616, 618, 636, 640 blasser Kinder Todesreigen, 190, 322 braune Kinder, 518 im Schlaf erbleichendes Kind, 514 Kinder eines dunklen Geschlechts, 360 Kinderschmerz, 459 mythische Kindheit, 288 reine Kindheit, 11, 563 Siebenmonatskinder, 46, 257, 546 totes Kind, 291, 374, 645 verstorbene Kindheit, 292 weiße Gestalt der Kindheit, 323 weißes Kind, 323 Kirche, 8, 39, 63, 87, 90, 91, 94, 170, 184, 190, 201, 213, 215, 220, 258, 262, 271, 295, 296, 310, 376, 415, 431, 525, 549, 552, 589 Kirchenlied, 160, 441 Kirchenväter, 550 Klage, 66, 73–75, 77, 95, 97, 143, 160, 179, 195, 205, 257–259, 262, 296, 298, 300–302, 304, 324, 350, 356, 361, 363, 374–376, 382, 390, 392, 395–397, 401, 402, 453, 455, 500, 521, 522, 527, 533, 537, 540, 544, 545, 547, 563, 565, 586, 588, 598, 602, 603, 611, 616, 627, 638, 655–657 Klassizismus, 67, 137, 368, 403 Klaustrophobie, 13 Klavier, 7, 11, 12, 15, 16, 21, 24, 44, 234, 472, 538, 543, 567–570, 651, 654, 655, 673 Knecht, 143, 223–225, 274, 275, 513 Kolonialismus, 25 Komik, 84, 359 Konkretion, VI, 37, 39, 92, 110, 128, 189, 190, 202, 225, 235, 254, 255, 335, 350, 356, 378, 396, 403, 419, 500, 506, 507, 525, 527, 539, 546, 581, 582, 608, 613, 623, 639 Korn, 161, 184, 224, 250, 322, 499, 514, 551, 614 Körper, 12, 49, 55, 145–148, 160, 178, 202, 205, 225, 226, 247, 275, 277, 291, 327, 370, 419, 432, 436, 458, 481, 511–515, 533, 541, 543, 563, 565, 573, 632, 666

691 Himmelskörper und Menschenkörper, 507 Klangkörper, 64 Körpergesten, 317, 318, 609 Körperlosigkeit, Entkörperung, 432, 514, 547 Körperpoetik, 205–207, 455 Körpersprache, 512 Lichtkörper, 206 Nachtkörper, 206 Resonanzkörper, 432 Textkörper, 378, 642 Krakau, 28, 29, 35, 50, 124, 281, 370, 395, 399, 522, 537, 562, 565, 674, 675 Krankheit, 11, 21, 27, 64, 82, 137–139, 177, 184, 191, 211, 233, 236, 357, 361, 391, 414, 424, 512, 513, 523, 532, 568, 575, 576, 629, 632, 637 Krankengeschichte, 28 krankhafte Phantasie, 631 Kränkliches, 235, 342, 343, 514 Nervenkrakheit, 6 zum Tode, 625 Kreuz, 61, 63, 87, 143, 146, 160, 185, 220, 271, 297, 318, 326, 405, 563, 575, 588, 614 Kreuzigung, 94, 141, 146, 147, 240, 241, 259, 297, 306, 323, 345, 465, 550 Kreuzweg, 305, 356 Kreuzzug, 520, 617 Krieg, 75, 81, 83, 86, 93, 239, 240, 370, 381, 386, 390– 392, 395, 399–403, 483, 512, 517–523, 545, 556, 557, 611, 617, 628, 629, 633, 641, 644, 656, 667 Erster Balkankrieg, 518, 519 Erster Weltkrieg, 26, 27, 29, 35, 38, 50, 53, 58, 78, 133, 281, 386, 387, 520, 522, 528, 534, 617, 624, 626, 631, 641, 642, 644, 661 Heiliger Krieg, 628, 629 Krieger, 75, 184, 242, 390, 391, 396, 401, 518, 520– 522, 528, 537, 603, 628, 629, 632, 636, 667 Kriegsgott, 403 Kriegslyrik, 130, 403, 518, 519, 521–523, 629 Kriegsministerium, 17, 21, 22, 48, 520, 674 Kriegssemantik, 517 Nachkrieg, 457, 637, 663 Zweiter Weltkrieg, 624, 639, 644 Kubismus, 86, 401 Kunst, 49, 402 Bildende, 13, 22, 86, 241, 526 gotische, 414 Kunstreligion, 414 Kunsttheorie, 81, 105, 233, 497, 670 Malerei, 157, 497, 498, 580, 668 Selbstporträt Trakls, 23, 44, 199 Kunstlied, 644, 652 L Landschaft, 89, 178, 179, 512, 525–528, 576, 607, 610, 629, 638 ohne Menschen, 526 Seelenlandschaft, 247, 391, 526, 607–609, 611

692 Leiche, 85, 166, 193–195, 216, 361, 414, 428, 539, 541, 609, 644–646 Leier, Lyra, Saitenspiel, 66, 183, 233, 236, 277, 341, 375, 454, 537, 540, 564, 575, 599, 627 Lexemautonomie, 104, 111, 179, 202, 276, 498, 633 Lider, 68, 179, 182, 297, 504, 569, 615 da er leise die Lider über ein Menschliches aufhebt, 182 deine Lider sind schwer von Mohn, 182 Gottes blaue, 276, 277 indes die Lider sich vor Gottheit weiten, 182, 582 müde, 202 oft sinken ihre Lider bös und schwer, 317, 318 silberne, 505, 552, 617 und Lider flattern angstverwirrt und leise, 182 vergilbte, 62 Liebe, 11, 137–140, 143, 147, 159, 171, 199, 214–217, 228, 267, 275, 291, 292, 297, 325, 327, 341, 357, 369, 435, 440, 458, 459, 465, 505, 514, 547, 571, 593, 599, 609, 614–618, 629, 638, 642, 666 alle Menschen der Liebe wert, 27, 625, 665 der Liebe milde Zeit, 228, 528 der Liebenden schmächtige Glieder, 616 die Gräber der Liebenden, 618 die Liebenden Ein Geschlecht, 552, 617 dunkle Liebe eines wilden Geschlechts, 374 Grab der Liebenden, 614 Hassliebe, 11 immer zu wenig Liebe, 369, 666 Liebeslyrik, 440, 455, 458, 459, 599 Liebestod, 166 Liebe – und man wäre erlöst, 667 Selbstliebe, 665 sich selbst verstoßende, 436 verbotene, 608, 615 Literaturkritik, 492 Luzifer, 465 Lyra, Saitenspiel, 458 Lyrikologie, 670 M Magd, 84, 178, 189, 190, 223, 537, 546, 547, 654, 655 Gottes, 146, 547 Magie, Magier, 48, 206, 259, 288, 336, 369, 455, 504, 507, 576, 608, 633 Sprachmagie, 77, 78, 667 Mantik, 206, 214, 215, 407, 565, 581, 619 Märchen, 195, 206, 347, 591 aus 1001 Nacht, 12, 333, 568 Maria, Mariologie, 91, 94, 138–140, 146, 147, 220, 244, 271, 292, 347, 414, 431, 435, 440, 441, 513, 544, 546, 666 Martyrium, Märtyrer, 205–207, 276, 277, 296, 297, 420, 435, 616 Marxismus, 639 Masochismus, Sadismus, Sadomasochismus, 13, 170, 172, 546, 551, 568

Sachregister Mauer, 150, 228, 274, 275, 277, 295, 336, 337, 346, 375, 504, 507, 514, 519, 546, 588, 594, 634 Medialität, 83, 104, 206, 419, 641, 645 Melancholie, 23, 64, 75, 76, 84, 128, 176, 228, 244, 254, 267, 268, 276, 309, 342, 346, 347, 368, 390– 392, 436, 458–461, 465, 466, 483, 507, 517, 520, 531–534, 556, 575, 576, 597, 599, 610, 629, 657, 663, 667 Schwermut, 356, 357, 369, 382, 385, 389, 390, 395– 397, 402, 414, 465, 466, 481, 520, 522, 531, 534, 597, 610, 630, 655, 666 Melos, 491, 541, 651, 652 Melusine, 608 Metall, 254, 515, 553, 563, 617, 618, 626, 645, 646 Metapher, Metaphorik, Metaphorologie, 65, 87, 94, 98, 99, 103, 104, 107, 138, 159, 170, 176, 178, 180, 181, 184, 190, 194, 210, 211, 227, 231, 235, 242, 247, 258, 291, 322, 323, 347, 350, 362, 378, 386, 391, 392, 395–397, 402, 403, 449, 454, 498, 501, 505, 515, 564, 575, 576, 580, 592–594, 615, 618, 626, 643, 664, 669, 670 absolute Metapher, 176, 391 Denunziation des Metaphorischen, 404 Farbmetapher, 180, 288, 500 kühne Metapher, 505, 506, 528, 573, 575 personifizierende Metapher, 210 poetologische Metapher, 607, 610 Metaphysik, 37, 39, 84, 111, 177, 191, 225, 248, 254, 257, 285, 433, 434, 547, 575, 576, 609, 662 Artisten-Metaphysik, 378, 417, 420 Metaphysikkritik, 574 metaphysische Obdachlosigkeit, 245 Metonymie, 143, 178, 179, 215, 347, 362, 391, 396, 508, 533, 586, 592 Militär, V, 7, 8, 10, 12, 16, 17, 19, 20, 23, 25, 27, 29, 39, 47, 50, 53, 54, 56–58, 241, 389, 517, 519–521, 561, 562, 674 mise en abyme, 586 Mitleid, 9, 640 Mittag, 194, 223–225, 569, 579, 603, 614, 615 Mönch, Mönchin, 44, 62, 91–93, 102, 184, 191, 206, 215, 265, 267, 270, 389–392, 436, 598, 617, 667 Mond, 27, 93, 145, 171, 178, 181, 231, 250, 296, 297, 329, 330, 336, 354, 377, 382, 403, 490, 503, 504, 507–509, 521, 537, 553, 566, 609, 614, 616, 617, 629 als Repräsentationsfigur der Schwester, 509 grinsender, 257 herbstlicher, 249, 508 in härenem Netz aus frierendem Weiher gezogener, 330, 508, 614 kalter, 504 magnetener, 257 mondene Augen, 205, 207, 564, 656 Mondener, 615 mondener Fluss, 505, 508 mondener Kahn, 336

Sachregister mondenes Antlitz, 509 mondenes Gestein, 331, 508 mondene Stimme, 507, 509, 553, 569 mondenes Zeitalter, 331 mondene Vision der verstorbenen Kindheit, 292 Mondeswolke, 397 Mondgöttin, 615 mondne Kühle, 401, 402 purpurner, 306 silberner, 401 verfallender, 298, 503, 504 versinkender, 504 weißer, 296, 503, 544, 563 Mord, 63, 160, 169, 245, 382, 432–434 Göttermord, 434 Moschee, 248, 528, 646 Mund, 66, 77, 85, 181, 182, 245, 291, 316, 336, 351, 356, 391, 407, 414, 423, 424, 429, 453, 500, 508, 513, 515, 537, 541, 546, 565, 569, 616, 628, 654, 656, 658 Musik, 7, 11, 12, 14, 17, 18, 35, 36, 63, 64, 72, 76, 78, 143, 233, 340, 375, 408, 436, 459, 471, 472, 497, 608, 614, 627, 651 als poetisches Prinzip, 86, 108, 179, 197, 198, 220, 303, 439, 454, 538, 539, 567, 570, 610 Kirchenmusik, 90 Musikalisierung, 198 Wortmusik, 162, 197, 540 Zwölftonmusik, 655 Mutter, 147, 257, 292, 295, 296, 315, 316, 323, 362, 432, 440, 503, 515, 539, 544–547, 563, 571 als anima-Gestalt, 544 als Vexierbild zwischen Biographie und Poetik, 543 archaische, 546 bleiche Gestalt der, 324 die frierenden Hände der, 296, 297 Erscheinung der Mutter in Schmerz und Graun, 323, 324 Gottes, 435, 601 Mütter als Mittlerfiguren des Schmerzes, 324 Mutter-Kind-Dyade, 544 Stille der, 504 versteinertes Antlitz der, 341, 515, 668 verwest die Mutter mit dem Kind, 190, 588 wie bleich die Mütter sind, 324 Mystik, 21, 48, 76, 98, 111, 149, 254, 306, 369, 435, 507, 574, 593, 652 Brautmystik, 552 Sexualmystik, 23, 147 unio mystica, 244, 552 Zahlenmystik, 109, 110, 285, 331, 550 Mythologie, 8, 140, 206, 235, 303, 330, 349, 350, 375– 377, 432–434, 458, 504, 511, 521, 604, 608, 627, 656 Apoll, 458, 459, 537 Ares, 403 Dädalus, 235, 236 Dionysos, 93, 146, 435, 537, 541 Endymion, 206

693 Faun, 586, 608 Helios, 273, 274, 616 Hyakinthos, 206, 350, 656 Hypnos, 138 Ixion, 347 Lethe, 267 Linos, 278, 627 Medusa, 617 Nymphe, 76, 102, 258, 375, 458, 544, 587, 599, 604, 608 Ödipus, 432, 544, 545 Orpheus, 61, 178, 277, 301, 302, 347, 374–376, 396, 499, 574, 587, 599, 616, 627 Pan, 63, 258, 277, 368, 403, 483, 540, 615 Sirenen, 350, 432, 433, 490, 608 Walküre, 403 Mythos, 11, 39, 85, 159, 248, 267, 288, 331, 376, 396, 401, 408, 418, 432, 435, 440, 447, 465, 499, 509, 519, 520, 526, 532, 546, 550, 557, 563, 591, 608, 610, 613, 615–619, 627, 656 der Geschwisterliebe, 568 Mythopoetik, 61, 610 Mythos Habsburg, 36–38, 40 Präsenz des Mythischen, 258 Trakl als mythische Gestalt, 278, 369, 627 Trakls Konzept figuraler Mythenschöpfung, 61, 656 N Narziss, Narzissmus, 236, 275, 350, 408, 424, 447, 467, 507, 514, 546, 568, 571, 610, 665 Nationalismus, 35, 90, 368 Nationalsozialismus, 631, 632, 639, 664 Natur, 75, 81, 86, 112, 168, 220, 225, 235, 255, 258, 276, 289, 295, 326, 327, 346, 363, 376, 381, 386, 402, 406, 407, 423, 450, 515, 517, 522, 537, 540, 556, 557, 564, 576, 615, 617, 618, 632 Absterben der, 254 als Effekt der Interferenz, 225 als Resonanzraum menschlicher Destruktivität, 401 belebte, 326 des Bösen, 632 Entfremdung von der, 235, 363 Hieroglyphenschrift der, 63 ichlose Wiedergabe der, 232 idyllische, 205 konstruktivistische Überwindung der, 235 schwesterliche Solidarität der, 403 unbelebte, 297 und Mensch, 139, 140, 182, 363, 441 und Psyche, 138 Verfall der, 94, 190, 326 Naturalismus, 9, 489, 491, 608 Antinaturalismus, 440, 499 Überwindung des N., 574 Nekrolog, 625, 628 Nerven, Nervosität, 36, 37, 532, 561, 574, 642 Nicht-Ort, Utopie, 82, 171, 258, 288, 292, 307, 347, 511, 571, 644

694 Nihilismus, 72, 140 Nonne, 87, 90, 91, 94, 191, 201, 544 O Ode, 66, 75, 325 Odem, 86, 94, 183, 220, 274, 341, 346, 349–351, 513, 563, 614 Okkultismus, 109, 347, 549, 550, 552, 553 Oper, 13, 72, 166, 375, 569 Opfer, VI, 91, 160, 166, 170, 225, 241, 245, 274, 292, 322, 323, 424, 465, 500, 601, 602, 624 Opferbereitschaft, 632 Selbstopfer, 240, 296, 625 Ophelia, 610, 668, 669 Orakel, 602 Orgel, 39, 63, 202, 220, 322, 517, 521, 539, 540, 643 P Papier, 110, 119, 123, 127, 479, 492, 520, 527, 555 Paradies, 92, 216, 258, 288, 446, 447, 505, 599, 665 Parataxe, 65, 75, 178, 180, 191, 198, 253, 316, 330, 360, 361, 395, 669 Park, 149, 150, 198, 216, 373, 375, 525, 607 Paronomasie, 397, 400, 582 Passionsgeschichte, 61, 62, 87, 92–94, 141, 142, 205, 207, 240, 241, 274, 275, 297, 305, 312, 331, 414, 420, 446, 466, 518, 522, 550, 552, 553, 580 Pastorale, 287, 288, 526, 527 Anti-Pastorale, 525 Pathologie, Psychopathologie, 209, 544, 556–558, 597, 599 Pathos, Pathetik, 11, 139, 177, 346, 386, 402, 519, 555, 556, 558, 657 Pest, 64, 249, 315–317, 370, 414, 481, 609, 617, 637, 666 Pflanzen Ahorn, 318, 519 Buchen, 181, 201 Eiche, 333, 335, 336, 374–376, 402, 504, 520, 603, 609 Föhren, 386, 504, 529 Holunder, 179, 183, 267, 275, 287, 336, 563 Kastanie, 277, 317 Mohn, 53, 161, 182, 296, 377, 379, 505, 507, 508, 563–566, 593, 616 Nussbaum, 297, 563 Palme, 67, 333, 335 Ulmen, 586 Phänomenologie, 631, 633, 634, 637, 652 Pharmazie, 9, 11, 12, 14, 16, 17, 46, 53–58, 378, 379, 492, 561, 673 Philologie, 38, 99, 100, 117, 120, 288, 557, 562, 585, 663, 669 Editionsphilologie, VII, 65, 103, 333, 334, 639 Plagiat, 15, 85, 129, 209, 632, 633

Sachregister poeta vates, Prophet, Seher, 90, 92, 99, 101, 109–111, 139, 146–148, 156, 206, 207, 274–278, 356, 361, 408, 418, 453–455, 562–564, 591, 625, 667 poète maudit, VI, 11, 64, 432, 556, 663 Polysyndeton, 142, 143, 193 Postästhetizismus, 112 Pronomen, 146, 229, 255, 378, 405, 506, 507 Protestantismus, 3, 4, 6, 8, 23, 36, 44, 89, 90, 92, 392, 628, 664, 666 Psychiatrie, 28, 124, 532, 557, 573 Psychoanalyse, 6, 109, 167, 323, 362, 436, 457, 498, 514, 526, 544–547, 557, 571, 574, 591, 611 Psychopathologie, 44, 48, 345 R Rätsel, Verrätselung, 98, 103, 124, 138–140, 145, 146, 148, 170, 171, 181, 183, 306, 312, 316, 350, 374, 375, 480, 656, 670 Rätselcharakter des Kunstwerks, 670 Rätsel Trakl, 631 Raumpoetik, 36, 39, 47, 48, 73, 90, 100, 122, 137, 141, 146, 159, 165, 198, 199, 210, 216, 217, 224, 225, 234, 235, 248, 253, 262, 292, 315, 341– 343, 345, 363, 383, 397, 424, 431, 440, 447, 455, 504, 507, 509, 512–514, 526, 549, 558, 561, 564, 565, 569, 575, 589, 592, 599, 607, 615, 626, 627, 629, 637, 642, 652 blaue Räume, 254 Liminalität, 165, 285, 580, 604 Raumsemantik, 217 Rausch, Trunkenheit, 9, 11, 23, 53, 94, 110, 123, 128, 145, 147, 158, 170, 177, 180, 191, 292, 296, 309, 327, 359, 360, 362, 378, 387, 431, 433, 435, 447, 454, 481, 483, 507, 512, 532, 563– 566, 592–594, 597, 616 Bilderrausch, 362, 363 Drogenpoesie, 562, 669 Rauschtraum, 161, 206, 363, 378, 454, 455, 504, 508, 512, 562, 564, 607, 609 romantischer Rausch, 379 Rauschen, Geräusch, 137–139, 159, 165, 179, 195, 220, 224, 225, 231, 288, 326, 327, 374, 395, 407, 423, 433, 527, 537–539, 546, 565, 586, 602, 607, 608, 644 Realismus, 497, 601 Reihungsstil, 78, 82, 84, 112, 157, 178, 180, 184, 209, 219, 232, 305, 316, 326, 512, 514, 518, 566, 608, 629 Reinheit, Reinigung, 86, 110, 155, 190, 203, 206, 245, 254, 258, 267, 270, 275, 276, 305, 311, 312, 316, 318, 347, 385, 387, 499, 518, 521, 550, 563, 565, 566, 588, 589, 643 Ritus, Rituale, 90–92, 143, 172, 224, 550 Romantik, 39, 73, 74, 86, 104, 137, 140, 150, 157, 166, 176, 205, 206, 261, 267, 303, 306, 307, 339, 347, 350, 363, 368, 375, 379, 405, 408, 449,

Sachregister 453–455, 527, 528, 532, 563–565, 575, 581, 586, 591, 592, 595, 601, 607, 608, 613, 644 Romantizismen, 139 Schwarze, 607 Rondel, 439 Russland, 23, 27, 62, 63 Russische Literatur, 9, 62, 492 Russische Malerei, 233, 234 Russische Musik, 7 S Saitenspiel, 275 Sakralität, Sakralisierung, 74, 111, 112, 217, 241, 346, 402, 435, 441, 563 Salzburg, VI, VII, VIII, 4, 6, 8, 10–18, 20–23, 25–27, 29, 30, 35, 36, 39, 40, 44, 45, 50, 53, 54, 60, 62, 68, 81, 89–91, 117, 129, 131, 137, 140, 141, 145, 149, 155, 156, 165, 167, 171, 193, 198, 199, 201, 239, 247, 249, 269, 281, 287, 295, 297, 310, 355, 373, 375, 383, 413, 439, 472– 474, 478, 480, 489–493, 533, 538, 539, 543, 551, 561, 567, 568, 617, 642, 646, 657, 662, 663, 673–675 Salzburger Kreis, 657 Satan, Satanismus, 194, 414, 415, 550, 551 Luzifer, 465–467, 552, 619, 625 Saturn, 22, 64, 432, 461, 507, 531, 534 Schatten, 24, 138, 150, 194, 215, 217, 245, 250, 254, 265, 267, 297, 298, 346, 347, 353, 362, 374, 378, 403, 428, 445, 446, 461, 482, 512, 515, 534, 540, 545, 586, 602, 609, 628 alter Bogen, 563 blauer des Knaben, 619 blauer Tiefe, 627 bläuliche, 458 der Fäulnis, 586 der herbstlichen Esche, 402, 521 der Kirchenfürsten, 375 der Schwester, 374, 402, 568, 569, 656, 661 der Toten, 346 der Verdammten, 609 des Baums, 301 des Mörders, 361 des Nussbaums, 214, 297, 563 des Tiers, 602 die ins Dunkel gleiten, 39, 586 drehen sich am Hügel, 594 Evas, 239–241, 518 gramvoller, 544 Herzen des Schattens, 347 kraus verzerrte, 427 lange Verstorbener, 376 Leise verließ am Kreuzweg der Schatten den Fremdling, 356 phantastische, 249 sah ich meinen Schatten im Gras, gewaltig verzerrt, ein wunderlich Tier, 580 Schattenbezirk, 389

695 schattenwärts, 598 Schattenwelt, 427, 428 Schizophrenie, Dementia praecox, 556, 557 Schlachthof, 247, 383, 473 Schlaf, 138, 160, 161, 206, 216, 217, 219, 220, 239– 241, 248, 258, 285, 298, 312, 342, 343, 351, 378, 379, 395, 397, 481, 500, 504, 514, 522, 539, 564, 588, 592–594, 604, 608, 610, 629, 655, 656 des Geistes, 573 Gott des Schlafs, 138 Schlafmittel, 9, 377, 379, 561 Schlafwandeln, 295, 298 Schläfe, 29, 68, 182, 205, 207, 225, 374, 505–507, 513 Schmerz, 21, 63, 73–75, 84, 91, 253, 257, 273, 306, 311, 312, 323, 337, 342, 353, 376, 386, 396, 440, 454, 459, 465, 466, 513, 514, 540, 546, 547, 568, 576, 577, 594, 597, 608, 610, 619, 631, 635, 638, 640, 643 Ästhetik des Schmerzes, 514 demutsvoll beugt sich dem Schmerz der Geduldige, 533, 539, 597, 618 die heiße Flamme des Geistes nährt heute ein gewaltiger Schmerz, 228, 402, 636, 656 Erscheinung der Mutter in Schmerz und Graun, 323 gemeiner, 414 Kinderschmerz, 459 Mütter als Mittlerfiguren des Schmerzes, 324 nächtliches Haus der Schmerzen, 453 schmerzensreiches Antlitz, 439, 440 schmerzliche Glocken, 565 schmerzliches Ermatten, 615 schmerzzerrissene Brust, 466 Schoß als Ursprung von Schmerz, 513 sprachloser, 356 versteinerte die Schwelle, 311, 635 wahrer, 602 Schnee, VI, 68, 181, 231, 273, 275–277, 301, 309, 311, 336, 347, 382, 406, 501, 506, 564, 565, 575, 594, 611, 614, 617 Schönes, Schönheit, 6, 38, 40, 74, 81, 82, 99, 113, 142, 145–148, 150, 158, 201–203, 205, 232, 270, 271, 275, 276, 301, 311, 350, 361, 420, 459, 514, 528, 534, 539, 543, 556, 563, 564, 573, 592, 603, 615, 617, 640, 651, 665 das Schöne als göttliches Leiden, 420 der Schönheit sanfte Gloria, 420 der Schönheit schimmernde Fülle als verhülltes Antlitz des Todes, 588 Entkoppelung von Schönheit und Moral, 414 Kunstschönes, 440 Nähe des Schönen zum Sterben, 588 Schönheit der Landschaft, 512 Schönheit von Trakls Sprache, 666 unerträgliche Schönheit der Sprache, 147 verkehrte Schönheit, 291 Schreiben, Schrift, 124, 176, 179, 232 Kurrentschrift, 124, 399 Letternschrift, 627

696 Papier, 176 Reinschrift, 239, 273, 299, 303, 309, 373, 399, 405, 449 Schreibmaschine, 124, 128, 197, 253, 329, 359, 460, 461 Schweigen, 64, 76, 98, 107, 140, 149, 150, 182, 191, 201, 206, 207, 225, 229, 233, 240, 250, 407, 453, 455, 553, 576, 588, 602–604 als poetische Befähigung, 576 als Sprache des Verfalls, 602 der Engelsharfen, 420 der Nacht, 140, 396 der Seele, 463, 573, 574, 576 der Verlassenheit, 149 der Wälder, 182, 235, 603, 604, 644 des Tiers, 580, 603, 615 des verwüsteten Gartens, 275 des Winters, 459 dunkles, 166 eine schwarze Höhle ist unser Schweigen, 181, 182 ein Schweigen in schwarzen Wipfeln wohnt, 181, 231 engelhaftes, 182 es wohnt in Brot und Wein ein sanftes Schweigen, 242 gewaltig ist das Schweigen im Stein, 228 Gottes, 87, 94, 95, 191, 243, 245 hyazinthnes, 295 in leeren Fenstern, 249 roter Buchen, 181 Semantisierung des Schweigens, 181 tiefes Schweigen der Mittagszeit, 224, 225 weites des Waldes, 602 weites Schweigen des Waldes, 182 Schwelle, 169, 179, 184, 190, 211, 224, 235, 298, 309, 311, 312, 322, 349, 382, 499, 503, 513, 576, 588, 597–599, 604, 605, 609, 635 Schwester, 75, 94, 156, 161, 179, 258, 259, 266, 267, 274, 329, 330, 360, 361, 374, 392, 395–397, 402, 406–408, 432, 508, 509, 538, 543, 545, 547, 553, 557, 567, 569–571, 579, 603, 616, 618, 633, 642, 646, 655, 656, 661 als anima-Gestalt, 544 als Anthropomorphisierung des Monds, 403, 509 als einzig erreichbares Du, 569 bleiche Gestalt der S., 407 der Schwester mondene Stimme, 507, 509, 553 der Schwester Mund in schwarzen Zweigen flüstert, 182 der Schwester Schatten, 402, 568 der Schwester steinerne Augen, 515 die Schwester in Herbst und schwarzer Verwesung, 588, 604 die weißen Wangen der Schwester, 277 Erscheinung der Schwester in Herbst und schwarzer Verwesung, 330, 508 fremde Schwester, 593 literarische Repräsentation der S., 568 schmale Gestalt der Schwester, 266 Schwestermysterium, 331

Sachregister stürmischer Schwermut, 395 Tötung der Schwester, 156 Schwingung, 15, 627 Schwüle, 138, 201, 202, 420, 432, 433, 490, 500 Seele, 6, 86, 139, 140, 158, 184, 244, 266, 267, 275, 287, 289, 305, 331, 340, 346, 360, 363, 369, 386, 419, 463, 481, 499, 500, 527, 552, 553, 565, 568, 608, 609, 616, 625, 628, 632, 636, 666 bange, 575, 594 der kranken verfallener Bogen, Schweigen und Kindheit, 588 dunkler Bronnen der, 418, 607 dunkler Wohllaut der, 266, 541, 616 ein blauer Augenblick ist nur mehr, 288, 499 es ist die Seele ein Fremdes auf Erden, 481, 635 Frieden der, 503 Meeresstille der, 419 o wie leise stand in dunkler Seele das Kreuz, 297 reden, was die Seele will, 127, 482, 555 Sanftmut der einsamen, 459, 597 sang den Tod, 419, 586 Schweigen der, 182, 463 Seelendramatik, 161, 167 Seelenkryptographie, 106 Seelenlandschaft, 391, 607 Seelenlosigkeit der Dichtung, 209, 481 Selbstmord, Suizid, 7, 27, 28, 30, 50, 157, 166, 354, 395, 402, 408, 424, 629 Selbstvernichtung, 180 Selbstzerstörung, 77, 206, 240, 331, 424, 425 Sensen, 84, 225, 233–235, 292, 582 Sexus, 23, 91, 143, 147, 166, 167, 169–172, 244, 315, 316, 327, 414, 435, 436, 472, 511, 513, 514, 547, 551, 552, 569, 604, 616, 617, 619, 642, 669 Sonate, 7, 84, 178, 198, 274, 460, 537–540, 651, 667 Sonett, 65, 179, 191, 195, 213, 241, 261, 325, 340, 391, 415, 417, 420, 423, 424, 428, 439, 440, 459, 460, 498, 593, 599, 602 Sonne, 93, 138, 139, 161, 195, 234, 236, 253, 274, 287, 301, 351, 361, 400, 414, 418, 428, 459, 466, 507, 532, 565, 597, 614, 617, 618, 638 begrabene, 330, 508, 604, 614 der geistigen Welt, 428 härene, 605 schwarze, 217, 323, 643 Sonnengott, 273, 459 Sonnenjüngling, 461, 553 sterbende, 402, 520 verklingende, 217 Sphinx, 357, 374, 375, 432, 433, 608 Spiegel, 64, 199, 210, 258, 269, 275, 277, 321, 326, 354, 361, 370, 375, 376, 408, 419, 424, 441, 454, 507, 508, 514, 565, 568, 569, 588, 608–610, 626, 627, 665 Sprachkrise, Sprachkritik, 98, 166, 175, 392, 407 Sprachmagie, 71, 98 Stadt, 44, 77, 84, 137, 142, 145, 201, 202, 211, 247, 340, 342, 346, 356, 382, 385, 589 als abgestorbener Lebensraum, 337

Sachregister als seelischer Vorgang, 341 Großstadt, 12, 38, 139, 184, 440, 441, 629, 643 Großstadtlyrik, 84, 85, 545 Tourismus, 339 Stein, Versteinerung, 63, 182, 220, 297, 341, 342, 504, 546, 552, 563, 586, 643 da er steinern sich vor rasende Rappen warf, 296 gewaltig ist das Schweigen im Stein, 228 Schmerz versteinerte die Schwelle, 311, 635 Stein der Weisen, 552, 553 steinerne Augen, 569 steinerne Masken, 177 steinerne Mauer, 504, 507 steinerne Mauern, 588 steinern erblinden die schauenden Augen, 356 steinerner Bogen, 609 steinerner Raum, 341 steinernes Antlitz, 505 steinerne Stufen, 180 steinernes Zimmer, 342 steinerne Umarmung, 637 steinerne Zimmer, 341 und leise rührt dich an ein alter Stein, 93 versteinertes Antlitz der Mutter, 341, 545, 668 versteinertes Brot, 161, 515, 544 versteinertes Haupt, 87, 527 Stern, Sterne, 93, 138, 147, 148, 215, 276, 296, 297, 317, 336, 342, 354, 377, 395, 397, 419, 423, 503– 509, 514, 534, 537, 545, 547, 593, 610, 614, 617, 628, 629 die Sterne unseres Geschlechts fielen auf uns, 637 eisiger Wind von den Sternen, 336, 337 entlaubte Sterne, 521 erloschene Sterne, 274, 506, 614 fallende Sterne, 354, 357, 505, 506 fremde Sternenzeichen, 182, 504, 615 herbstliche Sterne, 533, 598 irres Tanzen der Sterne, 423 persönliche Sterne, 506 purpurne Sterne, 505, 508 Scharlachglanz der Sterne, 317 Schicksalssterne, 619 Sterne als Gräber, 336 Sterne deiner Schläfenbogen, 506, 507 Sterne in des Müden Brauen, 327 Sternkörper und Menschenkörper, 507 Stern und heimlich Gefunkel, 322, 323 Stern und schwärzliche Fahrt, 342 Stern und Stirn, 506, 508 stürzende Sterne, 161 untergehende Sterne, 504 verfallene Sterne, 207, 505, 506, 509 vergilbte Sterne, 504 versinkende Sterne, 147, 274, 504, 508 weiße Sterne, 277, 506 weiße Traurigkeit der Sterne, 178 Zeichen und Sterne, 508, 609 zertrümmerte Sterne, 245

697 Stille, 8, 63, 64, 73, 76, 77, 138, 139, 143, 149, 183, 184, 191, 194, 224, 249, 254, 266, 311, 325, 326, 341, 347, 357, 423, 500, 521, 545, 575–577, 580, 602, 603 blaue, 73 braune, 194, 296, 500, 539 der Mutter, 504, 544 des Tannenwalds, 603 des Vaters, 297 des verstorbenen Knaben, 292 Evokation der, 207 geduldige, 386 Geläut der, 635 gelb und roter Blumen, 656 grüne, 236, 357 hyazinthene der Nacht, 336 knöcherne, 336 Meeresstille der Seele, 419 milde, 229 rote deines Munds, 500 sanfte, 73 staunende, 420 wohnt an deinem Mund, 508, 565 Stimme, VI, 130, 139, 149, 157, 159, 171, 202, 203, 215, 233, 236, 298, 300, 322, 323, 326, 336, 337, 340, 354, 356, 360, 361, 363, 375, 391, 396, 397, 404, 407, 408, 429, 432, 433, 507, 509, 537, 573, 602, 624, 625, 629, 640, 642, 644, 654–656 des Ersterbens, 605 des Waldes, 602 dunkelfarbene, 236 dunkle, 236, 395, 396 kristallne, 94 Letalität der, 603 Menschenstimmen, 63 mondene, 553, 569 seine Stimme verschlang Gottes Wind, 94 Silberstimme, 298, 499, 537, 540 Verschwinden der, 655 Vogelstimme, 349 Stimmung, 64, 145, 156, 161, 189, 190, 201, 231, 244, 248, 253, 266, 274, 292, 317, 318, 325, 360, 362, 368, 374, 375, 385, 441, 447, 458, 528, 594, 597, 613, 615, 626, 664, 665 als habitualisierte Primärerfahrung, 189 Stimmungslyrik, 575 Stimmungszeit, 615, 619 Ton und, 669 Stunde, 141–143, 147, 209, 211, 214, 236, 262, 274, 276, 335, 360, 633 blaue, 305 Dämmerstunde, 138 des Untergangs, 335, 505 Pans Stunde, 615 unseres Absterbens, 91 Sühne, 27, 62, 175, 267, 305–307, 331, 433, 434, 465, 466, 557, 625, 628, 665, 666

698 Sünde, 73, 91, 94, 95, 142, 147, 195, 216, 258, 304, 414, 431, 551, 552, 615, 625 Sündenfall, 93, 216, 306, 318, 466, 552, 610 Adam, 216, 552, 553 Eva, 94, 216, 239, 292, 346, 518 Symbol, Symbolik, 50, 53, 62, 94, 98, 99, 102, 103, 138, 139, 143, 156, 168, 177, 179, 182, 190, 194, 235, 240, 245, 254, 258, 266–268, 271, 274, 275, 288, 297, 323, 330, 346, 361, 376, 381, 382, 434, 446, 447, 454, 458, 498–500, 507, 526, 546, 580, 581, 591, 607, 609, 611, 618, 634 Symbolismus, VI, 48, 60, 64, 71, 76, 98, 99, 102, 139, 176–178, 180, 181, 198, 202, 233, 235, 262, 271, 306, 362, 378, 379, 405, 414, 415, 419, 429, 432, 459, 491, 500, 511, 526, 538, 549, 555, 575, 591, 592, 607, 631 Synästhesie, 65, 86, 97, 127, 177, 178, 180, 181, 194, 211, 220, 233, 234, 249, 346, 446, 458, 498, 500, 512, 564, 582 T Testamentsbrief, 29, 370, 483, 522, 523, 674 Theosophie, 98, 109, 466, 549, 550, 552, 553 Tiere, 149, 180, 182, 224, 297, 301, 363, 407, 445–447, 514, 579, 588, 632, 638 Adler, 102, 181, 368, 386, 395, 594, 601, 664 Amsel, 97, 179, 181, 183, 205, 262, 349–351, 539, 565, 579, 580, 582, 604 blaues Tier, 179, 216, 305, 500, 501, 580 das große Tier, 447 Dohlen, 231, 232, 518 Drossel, 296, 298, 563, 580 dunkles Tier, 603, 654 dunkles Wild, 183 Falter, 587 Fische, 228, 296, 297, 322, 323, 575, 604 Flamingos, 195 Fledermaus, 579 Fliegen, 189, 224, 342, 518, 581, 582 Geier, 618 Grillen, 233, 235, 236 Hahn, 199, 219, 220, 224, 582 Hirschkuh, 193, 194, 605 Hunde, 62, 84, 178, 423, 534, 552 Katze, 361, 363 Kröten, 63, 581 Mensch als noch nicht fest gestelltes Tier, 636 Möwen, 210, 395, 534, 582 Opfertier, 500 Pferde, 7, 210, 211, 228, 296, 390, 465, 499, 555 Raben, 189, 194, 195, 521 Ratten, 5, 85, 233, 236, 247, 249, 250, 368, 382, 521, 581, 582 rotes Tier, 616 Rückkehr zum Tier durch die Kunst, 499 sanftes Tier, 206

Sachregister Schatten des Tiers, 602 Schlangen, 306, 316, 317, 336, 368, 447, 604, 617, 633 schreitendes Tier, 603 Schwalben, 581 Schweigen des Tiers, 615 Spinnen, 191 Tauben, 149, 276, 361, 382, 513, 520, 565 Tiere als regressive Mythen, 499 Tierklassen, 580 Vögel, 180, 183, 184, 194, 195, 211, 229, 231, 262, 265, 266, 287, 297, 326, 335, 351, 374, 395, 521, 563, 579–582, 615 weißes Tier, 253, 254 Wild, 74, 86, 194, 232, 242, 287, 304, 326, 374, 406, 551, 579, 580, 582, 586, 601–604 Wölfe, 521, 637 wunderlich Tier, 446 Würmer, 62, 581, 582 Tod, 4, 6, 8, 9, 13, 14, 16, 19, 23–25, 28–30, 35, 36, 39, 43, 45, 50, 60, 62, 67, 72, 74, 85, 86, 91, 104, 117, 121, 137, 138, 141, 144, 145, 151, 160, 161, 165–167, 169, 171, 175, 177, 179–181, 190, 191, 194, 207, 215, 216, 229, 235, 236, 240, 241, 245, 254, 259, 262, 266, 267, 274, 275, 277, 281, 285, 286, 291, 292, 296–298, 301, 302, 316, 318, 322, 323, 326, 327, 329, 330, 336, 339, 346, 347, 350, 351, 360, 361, 370, 374, 375, 381, 383, 391, 395–397, 401– 403, 405, 419, 427, 428, 435, 453, 454, 458, 460, 480, 493, 499, 504, 511, 513, 519, 522, 534, 546, 552, 561, 566, 569, 570, 574, 575, 594, 599–604, 608–610, 614, 617–619, 624– 630, 633, 634, 636, 642, 643, 646, 653, 655– 657, 664, 665 Abgestorbenheit, 215, 322, 324, 337, 356, 357, 588, 625, 647 Allegorien des Todes, 292, 585 als Erlöser, 588 als Geschehen, 216, 587 als Trope, 585 das Subjekt an der Stelle des Todes, 576 des Todes reine Bilder, 203, 589 Einander-Sterben, 586 Frühverstorbenheit, 206, 266, 341, 455, 586 Gemeinschaft der Toten, 586, 587 Gleichheit des Todes, 626 Pfade des Todes, 603 poetische Mobilisierung des Toten als qualitas, 587 Schlachtentod, 521 Sprache des Todes, 602 Sterben als ästhetische Haltung, 588 Sterben als formatives Verhältnis zum Tod, 588 Sterben als Schönheit, 588 Thanatologie, 586 Thanatopoiesis, 585, 586, 589 Todesdisco, 643 Todesengel, 171

Sachregister Todesgesang, 586 Todeskühle, 216 Todesmedien, 586 Todesnähe, 216, 589 Todesreich, 428, 627 Todesreigen, 190, 262 Todesschlaf, 216, 608 Todestraum, 588 Totengespräche, 586 Trakls Tod, 29, 281, 390, 403 Überwindung des Todes, 94, 619 Wollust des Todes, 587, 588 Ton, VI, 11, 25, 68, 76, 101, 109, 129, 130, 160, 161, 179, 180, 201, 203, 329, 331, 357, 402, 465, 481, 484, 541, 623, 625, 629, 630, 646, 653, 664, 667, 669 Totenreich, 267, 347, 363, 433, 609 Charon, 609 Hades, 609 Limbus, 346 Styx, 609 Tragik, 62, 99, 357, 359, 363, 376, 418, 420, 428, 429, 433, 544, 545 Tragödie, 60, 72, 139, 155–157, 159, 165, 170, 175, 177, 284, 336, 359, 417, 420, 433, 490, 540, 592, 664 Trauerspiel, 177, 414 Trakl-Kirche, 92, 632, 662 Trakl-Reparatur, 107, 108 Transzendentales Subjekt, 418, 636 transzendentale Konkordanz, 507 Transzendenz, 62, 166, 225, 240, 245, 257, 297, 298, 306, 407, 408, 428, 433, 434, 436, 466, 499, 508, 601, 634 Trauben, 161, 292, 322, 326, 564, 614 Trauer, 27, 39, 73, 74, 112, 181, 184, 217, 235, 236, 245, 271, 284, 361, 386, 402, 414, 440, 459, 504, 519, 522, 523, 531, 609, 610, 629, 656, 664 Traum, 8, 10, 137, 138, 140, 150, 156, 158, 160, 161, 165, 177, 178, 198, 202, 205, 206, 214–216, 228, 232, 254, 255, 286, 295, 296, 298, 305, 311, 327, 331, 354, 359, 361, 362, 378, 397, 407, 417–419, 423, 428, 429, 431, 433, 441, 445, 447, 454, 499, 512, 531, 539, 541, 545, 563, 574, 576, 591, 592, 594, 608, 646 Alptraum, 445, 446, 593 als Erwachen, 214 als imaginärer Prozess einer Absonderung des Geistes, 216 böse Träume, 159, 446, 541 des Bösen, 214 Rauschtraum, 110, 562, 564, 616 Tagtraum, 593, 595 tiefe Träume der Toten, 588 Traumpoetik, 137, 140, 361, 592, 594 traurige Träume, 304

699 zeitgenössische Traumdiskurse, 361, 362 Troja, 639 Trope, 585 U Übersetzung, 642 Unbewusstes, 436, 454, 545–547, 574, 591 Ungarn, 3, 26, 35, 382, 643, 674 Ungeborenheit, 184, 194, 299, 302, 356, 402–404, 514, 521, 558, 636, 656 Unheimliches, 77, 85, 149, 150, 195, 235, 249, 296, 326, 347, 423, 424, 607, 609, 646, 652 Unschuld, 73, 102, 179, 180, 193, 205, 220, 244, 254, 258, 266, 275, 286, 292, 296, 305, 315–318, 331, 347, 454, 499, 500, 513, 580, 593 Untergang, 37, 66, 82, 97, 142, 160, 161, 205, 206, 229, 247, 257, 274, 275, 285, 292, 298, 335–337, 356, 357, 359–361, 363, 395, 408, 414, 418, 423, 428, 504, 505, 508, 522, 528, 537, 547, 581, 594, 603–605, 610, 613–619, 627, 638, 644, 645 der Sonne, 459 des Abendlands, 175, 355, 401 des alten Österreichs, 37 des Geschlechts, 37, 274, 276 des Menschen, 72, 94 Doppelprinzip des Untergangs, 517 Stunde des Untergangs, 335, 505 Unverständlichkeit, 53, 83, 97–101, 103–105, 107, 109, 111–113, 215, 276, 306, 307, 330–332, 419, 602, 626, 627 Urszene, 434, 603 V Vanitas, 259, 396 Vater, 44, 161, 271, 295, 297, 298, 301, 351, 360, 541, 545, 546, 593, 668 Heiliger Vater, 546 Pan, 403 Venedig, 22, 25, 138, 281, 339–342, 480, 655, 674 Verachtung, 638 Körperverachtung, 435 Menschenverachtung, 24 Verdammnis, Verdammte, 303–305, 307, 346, 347, 357, 609 Verfall, 36, 37, 62, 64, 66, 85, 93, 175, 178, 189, 190, 198, 207, 215, 217, 224, 235, 244, 255, 258, 259, 262, 271, 272, 275–277, 285–288, 291, 293, 295, 297, 298, 304, 325, 326, 330–332, 336, 339, 342, 356, 361, 363, 369, 414, 418, 420, 424, 429, 433, 447, 458–461, 466, 504– 509, 511–513, 519, 538, 566, 581, 593, 594, 599, 602, 607, 608, 610, 613, 614, 617–619, 626, 631, 640, 655, 667, 669, 670 als Ästhetisierung des Leidens am Wirklichen, 631 Ästhetik des Verfalls, 39

700 der Natur, 86, 94, 615, 618 Enthüllungscharakter des Verfalls, 640 geschichtlicher, 631 körperlicher, 49 Schweigen als Sprache des Verfalls, 602 verfallendes Leben, 631 verfallene Gänge, 84 verfallene Gärten, 64 verfallene Lippen, 76 verfallener Brunnen, 609 verfallene Stadt, 609 Verfallsbewusstsein, 414 Verfallsmensch, 36 Verfallsphilosophie, 331 Verklärung, 13, 36, 39, 93, 206, 228, 229, 247, 275, 508, 509, 608, 625, 644 Verrat, 146, 220, 322, 401, 447 Verstummen, 97, 110, 111, 181, 220, 224, 236, 371, 392, 402, 420, 423, 453–455, 512, 553, 602, 605, 626 Verwesung, 81, 82, 161, 215, 224, 236, 254, 275, 342, 347, 363, 420, 512, 513, 544, 547, 552, 556, 588, 604, 608, 615, 618, 631, 632, 636 als Verlust des Wesen, 588 der Verwesung Glut, 224 grüne Flecken der, 361 grüne Verwesung, 419, 575, 586, 588 Präsenz der Verwesung, 588 schwarze, 330, 401, 404, 500, 508, 522, 569, 588, 594, 604, 618, 640 traumgeschaffner Paradiese, 177, 414 verwesende Bläue, 407, 569 verwesende Menschen, 347 verwesende Völker, 420 verwesend Geschlecht, 603, 636 verweste Gestalt des Menschen, 553, 617, 636 Zusammenhang des alten Österreichs mit der Verwesung, 631 Verzweiflungsbrief, 24, 48 Volapük, 6, 478 W Waffen, 75, 121, 240, 382, 400, 401, 517, 522, 603 Schwert, 161, 347 Wahnsinn, 28, 65, 66, 74, 75, 160, 161, 165, 183, 254, 255, 259, 268, 270, 271, 275–277, 296, 298, 359, 360, 362, 363, 406–408, 423, 424, 451, 459, 481, 512, 519, 540, 551, 568, 594, 597– 600, 610, 636, 640, 645, 657 Wald, 4, 75, 89, 97, 179, 180, 182, 183, 205, 231, 232, 262, 291, 330, 382, 406, 499, 500, 508, 514, 525, 545, 565, 579, 580, 586, 601–605, 614, 633, 637, 654 Waldsaum, 179, 228, 265, 288, 304, 305, 406, 525, 579, 604, 605

Sachregister Wanderer, Wanderschaft, 156, 160, 184, 267, 292, 309, 311, 312, 407, 565, 575, 581, 594, 602, 604, 614, 615, 627, 635, 636, 644 Wasser, 8, 84, 149, 194, 267, 277, 287, 317, 351, 376, 406, 408, 458, 504, 507, 508, 546, 565, 603, 607–611 Weiher, 64, 89, 228, 231, 232, 322, 326, 330, 335, 336, 373–376, 507, 508, 565, 610, 614 Wein, 6, 10, 13, 92, 93, 143, 145, 170, 171, 191, 220, 224, 229, 236, 240, 242, 254, 261, 274, 277, 295, 309–311, 322, 327, 407, 415, 435, 454, 483, 499, 514, 561, 563–565, 594, 614, 616 Weltalter, Zeitalter, 329, 331, 382, 401, 433, 576, 610, 613, 617, 619 Wien, 3, 9, 11–17, 20–23, 28, 35–37, 39, 40, 44–49, 53, 54, 56–58, 129, 130, 247, 273, 281, 287, 300, 373, 471, 480, 481, 492, 493, 519, 532, 537, 538, 541, 555, 561, 567–569, 571, 631, 673 Wiener Gruppe, 637 Wohllaut, 107, 108, 266–268, 436, 539, 541, 563, 597– 599, 616, 651 Wolken, Gewölk, 149, 210, 211, 240, 242, 248, 262, 265, 266, 270, 326, 341, 346, 351, 373, 400, 403, 459, 490, 518, 522, 528, 533, 539, 565, 616, 628, 632, 633 Wollust, 155, 159, 160, 167, 194, 195, 216, 270, 271, 295, 392, 414, 432, 436, 539, 551, 587, 588, 598, 658 Wunden, 211, 240, 241, 271, 297, 402, 423, 512, 537, 601, 640, 657 Z Zeichen, Zeichenordnungen, 108, 147, 210, 215, 275, 276, 434, 525, 626 Ausstellung von Zeichenkonstellationen, 508 Desemantisierung, 86 Polysemie, 103, 326 semantisch unklar deklarierte Zeichengebung, 581 Semikolon, 326 tote Zeichen, 215 versinkende Zeichen, 274 wirre Zeichen, 581 Zeichenmaterial, 433 Zeichenoffenheit, 581 Zeilenstil, 239, 244, 258, 316, 594, 624 Zeitungen und Zeitschriften Das literarische Echo, 555 Der Brenner, VIII, 17–21, 23–25, 28, 39, 40, 44, 46– 48, 50, 59, 63, 67, 68, 83, 89, 92, 117–121, 123, 127, 130–133, 180, 189, 197, 205, 213, 227, 239, 243, 247, 248, 253, 257, 265, 273, 284, 287, 299, 300, 303, 307, 309, 315, 329, 333, 345, 353–357, 359, 367–371, 373–375, 377, 378, 381, 383, 385, 389, 390, 395, 399, 401, 405, 460, 461, 478–480, 483, 519–521,

Sachregister 527, 528, 531, 549, 550, 553, 569, 591, 624– 627, 630, 634, 653, 661, 663, 665, 674 Der Merker, 15, 68, 129, 373, 413 Der Ruf, 17, 18, 40, 47, 68, 83, 130, 519 Der Sturm, 30, 49, 83, 86 Die Aktion, 83, 84 Die Fackel, 17, 19, 39, 46, 68, 367, 368, 551 Die Lyra, 492 Die Pforte, 68, 83, 287, 315, 317, 321 Die weißen Blätter, 627, 629 Die Zeit (Wien), 13, 22 Grazer Tagblatt, 492 Heimgarten, 492 Neues Wiener Journal, 13, 46, 68, 413, 439, 673 Pester Lloyd, 35 Phoebus, 24 Reichspost, 22, 219, 227, 403, 522 Salzburger Chronik, 10, 11

701 Salzburger Volksblatt, 6, 10, 11, 13, 14, 39, 68, 137, 140, 141, 145, 149, 167, 373, 413, 439, 489– 493, 673 Salzburger Zeitung, 10, 68, 129, 149, 171, 489, 490 Tages-Post (Linz), 493 Ton und Wort, 68, 129, 130, 201 Weltbühne, 630 Westermanns Monatshefte, 13 Zeit-Echo, 86, 628 Zimmer, 62, 213, 214, 216, 217, 275, 301, 324, 341, 342, 346, 361, 423, 463, 514, 534, 538–540, 545, 569, 587, 593, 628, 630, 634, 651, 668 Zyklik, Zyklus, 91, 92, 128, 150, 179, 273, 276, 277, 298, 304, 310, 331, 353, 361, 363, 368, 406, 407, 460, 503, 504, 509, 515, 526, 534, 545, 550, 551, 597, 598, 609, 614, 654

Register der Werke Trakls

A Abend in Lans, 184, 514, 525 Abendland (II), 24, 36, 37, 127, 128, 207, 214, 282, 283, 353, 354, 356, 357, 374, 483, 505, 506, 520, 544, 546, 550, 568, 570, 603, 609, 611, 617, 628, 653, 654 Abendländisches Lied, 37, 66, 94, 335, 505, 520, 526, 528, 552, 569, 575, 617–619 Abendlied, 131, 179, 184, 191, 265–267, 526, 527, 616 Abendmuse, 93, 178, 179, 182, 229, 503, 504, 609, 615, 618 Abendspiegel, 214 Afra, 62, 94, 147, 179, 285, 291, 459, 500, 507 Allerseelen, 17, 91, 190, 270, 514, 544, 573, 588, 614 Am Abend (I), 283, 454 Am Abend (II), 499 Amen, 500 Am Friedhof, 177 Am Mönchsberg, 39, 91, 300, 525, 527 Am Moor, 588, 615 Am Rand eines alten Brunnens, 284, 287, 336 An Angela, 295, 517 Anblick, 180 Andacht, 13, 177, 413, 414, 417, 607 An den Knaben Elis, 77, 97, 179, 181–183, 189, 205, 265, 276, 289, 295, 505, 506, 509, 564, 565, 581, 604, 610, 614, 615, 630, 656, 667, 669 An die Melancholie, 368, 531 An die Schwester, 91, 266, 506, 580 An die Verstummten, 93, 214, 377, 545, 553, 597, 618, 626, 645, 646 An einem Fenster, 13, 177, 413, 414, 417 An einen Frühverstorbenen, 180, 271, 341, 419, 454, 499, 575, 586 Anif, 39, 184, 337, 375, 395, 508, 525–527, 534, 544, 615 An Johanna, 374, 499, 614 An Luzifer, 180, 215, 465–467, 619 An Mauern hin, 473, 610, 631 An Novalis, 66, 68, 73, 74, 205, 306, 453, 455, 564 Aufforderung, 11, 129

Ausgang, 284 Aus goldenem Kelch. Barrabas, 11, 61, 141–143, 145, 149, 490 Aus goldenem Kelch. Die Jugenddichtungen, 14, 120, 147, 177, 373, 413, 417, 427, 473, 631, 662 Aus goldenem Kelch. Maria Magdalena, 11, 61, 94, 140, 141, 143, 145–147, 149, 490, 511, 541 B Ballade (III), 64 Ballade, 608 Bitte, 91 Blaubart, 10, 62, 120, 156, 157, 159, 160, 167, 169–171, 511, 513, 541, 546, 551, 552, 574, 593 Blick von weissen Knaben, 336 Blutschuld, 14, 94, 267, 414, 431–434, 440, 545, 568, 608, 666 C Confiteor, 91, 177, 414, 417, 427–429 Crucifixus, 414 D Dämmerung (I), 177, 414, 503 Dämmerung (II), 178, 500, 503, 617 Das Gewitter, 93, 180, 181, 312, 383, 385–387, 521, 545, 617, 618, 664 Das Grauen, 414, 415, 417, 423 Das Herz, 180, 381–383, 520, 617 Das Morgenlied, 11, 66 Delirium, 512 De profundis (I), 16, 223–225, 244 De profundis (II), 65, 77, 78, 91, 94, 95, 179, 189–191, 243, 244, 258, 259, 265, 312, 347, 391, 392, 473, 551 Der Abend, 180, 377, 385, 503, 521, 603, 611 Der Gewitterabend, 15, 16, 67, 85, 209, 211, 385, 582, 617

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Theisohn (Hrsg.), Trakl-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67323-2

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Register der Werke Trakls

Der Heilige, 413, 414, 431, 435, 436, 551 Der Herbst des Einsamen, 229, 284, 285, 287, 325, 327, 604 Der Mittag, 473 Der Schatten, 445, 447, 580 Der Schlaf, 181, 377–379, 381, 617 Der Spaziergang, 4, 94, 418, 514, 580, 586, 614, 615 Der sterbende Wald, 473 Der Tau des Frühlings, 337 Der Traum eines Nachmittags, 593 Der Wanderer, 504, 527, 604, 609, 610, 615 Dezembersonett, 223, 522 Die Bauern, 92, 93, 223–225, 473, 614 Die blaue Nacht …, 499, 618 Die drei Teiche in Hellbrunn, 13, 39, 132, 373, 375, 413, 504, 527, 539, 587, 608 Die drei Teiche von Hellbrunn, 15, 373, 374, 525 Die Elenden, 472, 473 Die Heimkehr, 86, 370, 521, 617 Die junge Magd, 16, 189, 351, 513, 514, 537, 539, 545, 547, 592, 654 Die Kirche, 147, 217, 588 Die Nacht, 86, 93, 180, 181, 377, 385, 386, 503, 521, 527, 528, 611, 619 Die Raben, 16, 189, 193, 216, 231, 473, 500, 514, 539, 614 Die Ratten, 65, 178, 249–251, 581, 614, 615 Die schöne Stadt, 16, 39, 130, 190, 201–203, 220, 375, 473, 515, 517, 519, 539, 544, 582, 589, 617, 643 Die Schwermut, 93, 370, 386, 389–392, 402, 457, 520, 521, 531, 534, 611 Die Sonne, 322, 347, 603, 614, 653 Die tote Kirche, 64, 90, 413–415, 431, 657 Die Verfluchten, 73, 315, 318, 614, 617, 646 Don Juans Tod, 62, 155–158, 165–167, 169, 171, 511, 513, 541 Drei Blicke in einen Opal, 92, 239, 269, 270, 272, 392, 513–515, 545, 597, 598, 614 Drei Gedichte, 29, 385, 521 Drei Träume, 64, 177, 413, 414, 417–420, 563, 588, 592, 607, 608

G Geburt, 82, 504, 544 Gedicht, 414 Gedichte, 20, 29, 48, 82, 84, 91, 117–120, 122, 131, 132, 177–179, 189–191, 193, 201, 213, 216, 219, 220, 223, 227, 239, 243, 247, 250, 253, 254, 257, 261, 265, 269, 273, 281, 284, 285, 315, 368, 413, 439, 445, 457, 459–461, 463, 473, 484, 504, 506, 519, 523, 533, 539, 569, 597, 628, 653, 667 Geistliche Dämmerung, 183, 336, 507, 509, 565, 569, 580 Geistliches Lied, 94, 191, 219, 220, 540, 563, 582 Gericht, 283, 454 Gesang des Abgeschiedenen, 93, 178, 180, 228, 283– 285, 345–347, 355, 373, 625, 652 Gesang einer gefangenen Amsel, 284, 345, 349–351, 653, 654 Gesang zur Nacht, 60, 90, 216, 413, 415, 546, 613 Gestalt die lange ..., 553 Grodek, VI, 27–29, 75, 76, 121, 123, 124, 180, 184, 215, 217, 228, 254, 310, 327, 370, 376, 386, 389– 391, 395, 396, 399–404, 419, 483, 512, 520– 522, 525, 526, 528, 534, 537, 540, 547, 568, 588, 603, 632, 633, 636, 639, 644, 653, 656, 657, 661

E Einer Vorübergehenden, 13, 413, 439–441 Ein Frühlingsabend (I), 473 Ein Frühlingsabend (II), 232 Ein Herbstabend, 190, 191, 563, 614 Einklang, 575, 652 Ein Knabe mit zerbrochener Brust …, 228 Einsamkeit, 473 Ein Winterabend, 23, 39, 63, 93, 128, 179, 284, 309–312, 483, 532, 614, 618, 632, 634, 653 Elis, 94, 105, 147, 185, 191, 274, 276, 289, 295, 336, 351, 455, 500, 508, 580, 587, 604, 614, 615, 630, 656 Empfindung, 473

H Heimkehr, 66, 482 Heiterer Frühling, 17, 68, 93, 499, 514, 517, 519, 604, 614, 615, 618 Helian, 21, 37, 66, 77, 94, 95, 102, 110, 179, 183, 189, 191, 206, 265, 266, 273, 276–278, 285, 295, 336, 355, 374, 459, 479, 499, 513, 514, 519, 540, 550, 553, 558, 565, 576, 597, 609, 616, 625, 626, 655 Herbst, 414, 544 Herbstliche Heimkehr, 24, 482, 553 Herbstseele, 573, 575, 618 Hohenburg, 7, 21, 25, 49, 182, 205, 499, 525, 527, 537, 604

Entlang, 22, 321–323, 655 Erinnerung, 303, 324 Ermatten, 177, 414, 592 F Farbiger Herbst, 177, 197, 198, 413, 607, 608 Fata Morgana, 10, 62, 129, 156, 165, 167 Föhn, 514, 540, 546, 594, 615 Frauensegen, 147, 220, 499, 514, 545 Frühling der Seele (I), 347, 573 Frühling der Seele (II), 179, 180, 341, 347, 481, 565, 569, 573, 575, 576, 580, 603, 614, 615, 633, 635

Register der Werke Trakls Hölderlin, 11, 65, 74, 75, 123, 449, 451, 453, 668 I Im Dorf, 17, 190, 223, 324, 501, 513, 514, 580, 588 Im Dunkel, 39, 283, 473, 576 Im Frühling (II), 653, 655 Im Mondschein, 521 Im Osten, 27, 336, 370, 386, 402, 521, 522, 540, 611, 667 Im Park, 68, 284, 655, 656 Im roten Laubwerk voll Guitarren …, 189, 224, 324, 539, 588, 614 Im Winter (I), 181, 231, 232 In den Nachmittag geflüstert, 215, 228, 253, 594, 615, 618 In der Heimat, 191, 518, 519, 615 In der Hütte des Pächters …, 4, 157, 158, 160, 161, 544, 551, 593 In ein altes Stammbuch, 179, 231, 265, 368, 457, 459, 473, 531, 533, 534, 539, 575, 597–599, 618, 653 In einem verlassenen Zimmer, 84, 178, 506, 581, 582 In Hellbrunn, 67, 283, 284, 336, 373, 375, 376, 525, 611 In Milch und Öde ..., 64, 507 In Venedig, 22, 339, 341, 342, 347, 504, 514, 525, 655 J Jahr, 67, 284, 341, 345, 347, 614 Jahreszeit, 521 Jene singen den Untergang …, 273, 587 K Karfreitag, 91 Karl Kraus, 493 Kaspar Hauser, 10 Kaspar Hauser Lied, 64, 76, 77, 94, 131, 180, 295, 299– 301, 500, 506, 555, 556, 575, 614, 615, 652 Kindheit (I), 265, 287 Kindheit (II), 183, 283, 287–289, 499, 564, 576, 610, 616 Klage (I), 180, 370, 544, 546 Klage (II), 28, 29, 123, 124, 370, 395–397, 399, 520, 522, 547, 588, 594, 611, 619, 653, 655 Kleines Konzert, 183, 215, 233, 234, 236, 540, 602, 608, 615, 652 L Landschaft, 527, 550, 605 Lange lauscht der Mönch …, 273, 588 Lebensalter, 180 Leise, 457, 460–463, 531, 532, 651

705 M Märchen, 517 Melancholia, 287, 322, 457, 460–463, 531, 532, 534, 587 Melancholie (I), 76, 189, 457–463, 531, 532, 599 Melancholie (II), 457, 531, 534, 576 Melancholie des Abends, 74, 178, 190, 391, 449, 457, 521, 531, 533, 534, 581, 587, 602, 608 Melusine, 13, 608 Menschheit, 184, 239, 241, 242, 312, 518, 519, 639, 667 Menschliches Elend, 29, 119, 120, 182, 213, 224, 370, 523 Menschliche Trauer, 119, 370, 484, 514, 523, 581, 587 Metamorphose, 414, 431, 440, 513, 545, 547 Mit rosigen Stufen …, 518, 585, 587 Mit Schnee und Aussatz …, 273 Musik im Mirabell, 39, 84, 177, 178, 183, 190, 197–199, 210, 375, 413, 525, 527, 539, 586, 608, 614, 651, 652 N Nachtergebung, 180, 370, 397 Nachtlied, 228, 540, 608, 609, 657 Nachts, 131, 593, 616, 653, 655 Nachtseele, 24, 283, 284, 345, 500, 517, 573, 575, 602, 604 Nähe des Todes, 91, 128, 131, 265, 297, 298, 588, 589, 616, 626 Naturtheater, 417 Nimm blauer Abend …, 180, 505, 587 O Offenbarung und Untergang, 157, 160, 181, 217, 284, 304, 324, 336, 370, 405–408, 499, 500, 506, 509, 537, 544, 546, 568, 575, 597, 605, 611, 619, 624, 656, 657 P Passion, 91, 178, 215, 267, 302, 374, 375, 396, 499, 500, 508, 528, 553, 568, 569, 587, 597, 599, 614, 637 Psalm (I), 46, 62, 65, 77, 78, 87, 91, 95, 112, 120, 180, 189, 191, 257, 258, 265, 270, 277, 312, 336, 369, 473, 514, 519, 593, 597, 599, 604, 609, 633, 634, 639, 646, 651 Psalm (II), 258 R Romanze zur Nacht, 94, 191, 473, 503, 504, 508, 514, 539, 544, 545, 614, 615 Rondel, 76, 220, 439, 653 Rosenkranzlieder, 91, 191, 265, 616, 618 Rote Gesichter …, 519

706 Ruh und Schweigen, 215, 229, 329–332, 454, 500, 508, 509, 569, 580, 588, 604, 610, 614, 618, 666 S Sabbath, 414 Sammlung 1909, 13, 60, 64, 66, 68, 118, 120, 121, 131, 177, 197, 261, 413, 417, 423, 427, 435, 439, 440, 504, 511, 531, 533 Schwärzlich versank …, 180 Schweigen, 504 Schwesters Garten, 291 Sebastian im Traum, 22, 24, 25, 27, 29, 44, 47, 77, 91, 94, 117–120, 122, 127, 128, 131, 132, 156, 157, 160, 178–180, 189, 214, 281–287, 289, 291, 295, 296, 299, 300, 303, 307, 309, 311, 315, 321, 325, 329, 333, 339, 345, 351, 353, 360, 361, 373–375, 445, 453, 459, 482, 503, 504, 508, 520, 523, 540, 544, 550, 555, 558, 563, 569, 575, 588, 593, 597, 615, 616, 636, 653, 661 Seele des Lebens, 181, 182, 270, 499, 573, 575, 582, 602, 608 Siebengesang des Todes, 284, 285, 329, 331, 333, 337, 505, 508, 550, 553, 579, 587, 588, 609, 616, 617, 656 So leise läuten …, 374 Sommer. In Sonnenblumen gelb …, 324, 454, 544 Sommer, 284, 341, 347, 655, 657 Sommerdämmerung, 91, 472, 473 Sommersneige, 284, 347, 509 Sommersonate, 582, 652 Sonja, 22, 73, 147, 316, 646 St. Peters-Friedhof, 39, 525, 588 Stunde des Grams, 245 Stundenlied, 291, 499, 581, 587, 614, 616 T Totentag, 10, 11, 62, 129, 156, 165, 167, 490, 568 Traum des Bösen, 29, 179, 213–215, 217, 297, 341, 370, 473, 484, 500, 514, 523, 552, 581, 593, 615, 630 Träumerei, 652 Träumerei am Abend, 564 Traumland, 4, 11, 129, 137–140, 149, 266, 490, 592, 602 Traumsonett, 473 Traum und Umnachtung, 4, 15, 37, 63, 94, 156, 160, 217, 266, 267, 283–286, 323, 324, 336, 341, 359–362, 405, 509, 515, 544–546, 551, 565, 568, 585, 587, 593, 597, 604, 618, 631, 668

Register der Werke Trakls Traumwandler, 150, 419, 593 Trompeten, 17, 40, 83, 112, 130, 518–520, 654 Trübsinn, 94, 460, 473, 507, 514, 531, 532, 534 U Untergang, 21, 72, 131, 265, 327, 333–337, 355, 504, 508, 610, 619, 639 Unterwegs (I), 315 Unterwegs (II), 182, 500, 518, 538, 581, 609, 616, 628, 651 V Verfall (I), 177, 190 Verfall (II), 76, 132, 179, 183, 190, 191, 261, 262, 322, 351, 413, 582, 614, 630, 657 Verklärter Herbst, 78, 85, 86, 227, 270, 322, 326, 528, 602, 608, 618, 632, 644, 653 Verklärung, 454, 499, 565, 614 Verlassenheit, 11, 149–151, 216, 608, 646 Verwandlung, 181, 184, 499, 588 Verwandlung des Bösen, 73, 215, 216, 228, 245, 283, 284, 303–306, 316, 405, 459, 507, 509, 514, 540, 551, 563, 580, 602, 609, 618, 619, 656 Vollendung, 13, 413 Von den stillen Tagen, 177, 414, 602 Vorhölle, 284, 345–347, 587 Vorstadt im Föhn, 18, 19, 39, 47, 68, 85, 189, 190, 247, 250, 368, 369, 374, 381, 473, 528, 582, 608, 646 W Wanderers Schlaf, 504 Wenn silbern Orpheus …, 374 Wenn wir durch unserer Sommer purpurnes Dunkel …, 334, 499, 576, 610 Wind, weiße Stimme …, 228, 588 Winkel am Wald, 231, 582, 589, 597, 598, 605 Winterdämmerung, 20, 184, 513, 550, 608, 614, 615 Wintergesang in a-Moll, 120, 541 Winternacht, 23, 283, 377, 405, 501, 509, 594, 595, 614, 618 Wo an schwarzen Mauern …, 273, 588 Z Zigeuner, 533 Zu Abend mein Herz, 565