Ovid-Handbuch: Leben - Werk - Wirkung [1. Aufl. 2021] 3476056848, 9783476056849

Seit seiner Genese vor mehr als 2000 Jahren gehört das vielfältige Werk Ovids zu den einflussreichsten der europäischen

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Ovid-Handbuch: Leben - Werk - Wirkung [1. Aufl. 2021]
 3476056848, 9783476056849

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
I Leben und biographische
Kontexte
1 Ovid im Kontext der
augusteischen Zeit
1.1 Zeitgenossenschaft als Paradox
1.2 Politik des Namens
1.3 Buchstäblichkeit
1.4 Quantenpoetik
1.5 Wie Ovid augusteische Dichtung liest
1.6 Warum Ovid vielleicht mehr ist als ein
Zivilisationsliterat
1.7 Abstraktion und Sinnlichkeit
1.8 Politikzertrümmerung
1.9 Lob der Abschweifung
1.10 Das Kraftfeld der augusteischen
Literatur
1.11 Das Denken der Schrift und der horror
vacui
1.12 Die Geschichte des Todes
1.13 Die definitive Literatur
Literatur
2 Die Autobiographie Ovids
2.1 Entstehung und Überlieferung
2.2 Werkbeschreibung
2.3 Analyse
2.4 Rezeption in der Antike
Literatur
3 Dichter in Rom
3.1 Ovids series. Dichternetzwerke
3.2 Mäzenatentum. Zwischen patrocinium
und amicitia
3.3 Politik und Dichtung
3.4 Dichter in Rom
Literatur
4 Ovid und Augustus
4.1 Die relative Chronologie
4.2 Deutungsprobleme
4.3 Die Ars amatoria: Liebe im
augusteischen Rom
4.4 Römische Mythen
4.5 Rückblick vom Rand des Imperiums
Literatur
5 Heimat und Exil: Sulmo, Rom,
Tomis
5.1 Sulmo: Liebliche und freiheitsliebende
Heimatstadt
5.2 Rom: urbs und orbis
5.3 Tomis: Zwischen barbarischer Peripherie
und regionaler Kultur
Literatur
II Voraussetzungen
6 Nachfolge griechischer Dichtung
6.1 Vorbemerkungen: Nachfolge oder Suprazeitlichkeit des imaginativen Raums literarischer Praxis
6.2 Ovid und die Amores
6.3 Ovid und die Heroides
6.4 Ovid und die Remedia amoris
6.5 Ovid und die Metamorphosen: Drama
und Bildlichkeit
6.6 Ovid und die Fasti
6.7 Ovid im Exil
Literatur
Weiterführende Literatur
7 Ovids Amores und die römische
Liebesdichtung
7.1 Catulls passer und seine Nachkommen
7.2 Catull: Eros und Imperium
7.3 Tibull: Liebe und Utopie
7.4 Properz: Imitatio Augusti
7.5 Ovid: Eine Dialektik der Freiheit
Literatur
8 Gattungen im Kreuzfeuer
8.1 Skizze
8.2 Kurze Geschichte der Forschungsdebatte
8.3 Ein ›kanonisches‹ Beispiel: Polyphem
und Galatea
8.4 Episches vs. Elegisches: Der Topos des
Musenanrufs
8.5 Der seltsame Fall von Merkur und Herse
Literatur
III Werk
9 Amores
9.1 Entstehung und Überlieferung
9.2 Werkbeschreibung
9.3 Analyse
9.4 Rezeption in der Antike
Literatur
10 Heroides
10.1 Entstehung und Überlieferung
10.2 Werkbeschreibung
10.3 Gattungseinordnung; formale und
ästhetische Aspekte
10.4 Beispiel: Heroides 8,
Hermione an Orest
10.5 Rezeption in der Antike
10.6 Echtheitsfrage
Literatur
11 Medicamina
11.1 Entstehung und Überlieferung
11.2 Werkbeschreibung
11.3 Analyse
11.4 Rezeption in der Antike
Literatur
12 Ars Amatoria
12.1 Entstehung und Überlieferung
12.2 Werkbeschreibung
12.3 Analyse
12.4 Diskurse: Prinzipat, Gender,
Metapoetik
12.5 Rezeption in der Antike
Literatur
13 Remedia amoris
13.1 Einleitung
13.2 Werkbeschreibung
13.3 Analyse
13.4 Rezeption in der Antike
Literatur
14 Metamorphosen
14.1 Entstehung und Überlieferung
14.2 Eingang
14.3 Werkbeschreibung
14.4 Themen und Gehalt
Literatur
15 Fasti
15.1 Entstehung und Überlieferung
15.2 Gliederung und Inhalt
15.3 Analyse
15.4 Rezeption in der Antike
Literatur
16 Ibis
16.1 Entstehung und Überlieferung
16.2 Werkbeschreibung
16.3 Analyse
16.4 Rezeption in der Antike
Literatur
17 Tristien
17.1 Einleitung
17.2 Inhalt und Analyse
Literatur
18 Epistulae ex Ponto
18.1 Entstehung und Datierung
18.2 Werkbeschreibung und zentrale
Strukturelemente
18.3 Analyse
18.4 Rezeption in der Antike
Literatur
19 Medea, Halieutica und andere
verlorene oder unechte Werke
19.1 Einleitung
19.2 Medea
19.3 Halieutica
19.4 Nux
19.5 Consolatio ad Liviam
19.6 Andere verlorene/unechte Werke
Literatur
IV Ästhetik und Poetologie
20 Literarische Rollen
20.1 Der Dichter der Liebe – Amores, Ars
amatoria, Remedia amoris, Heroides
20.2 Der Dichter der Stadt und der Welt –
Fasti und Metamorphosen
20.3 Der Dichter des Exils – Tristia, Epistulae
ex Ponto und Ibis
Literatur
21 Dichtung als Spiel
21.1 Ovidische ludi
21.2 Ovids spielerische Poetik
Literatur
22 Rhetorik
22.1 Exemplarische Analysen
Literatur
Weiterführende Literatur
23 Stil und Erzähltechniken
23.1 Stil
23.2 Narratologie
23.3 Metamorphosen. Alles Wandlung
23.4 Fasti. Ovid als Reporter
23.5 Ars amatoria und Remedia amoris.
Pragmatisch klar
23.6 Amores. Anekdotisches
23.7 Heroides. Am Puls des Mythos
23.8 Tristien und Epistulae ex Ponto. Immer
dasselbe?
Literatur
24 Komposition
24.1 Ovids wohlkomponiertes Leben
Literatur
25 Metrum (Hexameter, Distichon)
25.1 Unterschiede zwischen antiker und
moderner Metrik
25.2 Lange und kurze Silben
25.3 Hiat, Elision und Aphärese
25.4 Versfüße: Daktylus und Spondeus
25.5 Hexameter
25.6 Zäsuren und Dihäresen
25.7 Pentameter und Distichon
25.8 Besonderheiten der ovidischen Verse
Literatur
26 Vorstellungswelten: Illusion,
Bildersprache, Gleichnisse
26.1 Oberflächlichkeiten und Untiefen – Ovids Sprachkunst zwischen Sein und Schein
26.2 Als die (Sprach-)Bilder laufen lernten:
Figuration als poetisches Programm
26.3 Gleichsam unvergleichbar: Gleichnisse als Sprachspektakel und Inter pretationskrise
26.4 Dichtung und Wahrheit: Vorstellungswelten ohne Netz, aber mit doppeltem
Boden
Literatur
V Themen und Konzepte
27 Mensch und Welt
27.1 Grenzen des Menschlichen
27.2 Dimensionen des Weltbegriffs
27.3 Die Stadt als Kulisse
menschlichen Lebens
27.4 Die Ordnung der Welt
27.5 Kosmogonie mit Menschenschöpfung
27.6 Mensch und Moral
27.7 Schöpfung und Metamorphose
27.8 Beständigkeit und Veränderung
27.9 Die Rolle des Dichters
Literatur
28 Götter
28.1 Das Spiel mit den göttlichen
Zuständigkeitsbereichen
28.2 Mars elegiacus im dritten Buch der
Fasti
28.3 Alma dea: Religiöser Synkretismus in
Fasti 4
28.4 Der göttliche Blick zurück
Literatur
29 Tiere und Pflanzen
29.1 Metapher und Metamorphose
29.2 Beispielanalyse
29.3 Linné im Vergleich
29.4 Fazit
Literatur
30 Körperkonzepte
30.1 Form und Körper
30.2 Die Metamorphosen: Verwandlung
und Leib
30.3 Beispielanalyse
30.4 Fazit
Literatur
31 Männlich, Weiblich
31.1 Geschlecht, Sexualität und Gewalt
31.2 Das weibliche Begehren und die
Geschlechtsverwandlung
31.3 Die Minyaden und das literarische
Programm
31.4 Spiel mit Weiblichkeit und Männlichkeit
in den Heroides
Literatur
32 Liebe, Leidenschaft, Erotik
32.1 Erotische Poetik und poetische Erotik
32.2 Mehrdeutigkeit und Erregung
32.3 Erotische Lebensform als Kritik an literarischen und gesellschaftlichen
Traditionen
32.4 Die Geschlechter zwischen Gewalt und
Freiheit
32.5 Kritik an Kommerzialisierung
32.6 Körperliche und geistige Kultivierung
32.7 Leiden, Lust und Komik
32.8 Liebe, Leidenschaft und Erotik in
späteren Werken
Literatur
33 Metamorphose: Kontinuität und
Wandel
33.1 Einleitung
33.2 Metamorphose und Metapher
33.3 Metamorphose zwischen Entität und
Identität
33.4 Die unmögliche Metamorphose
Literatur
34 Mythos/Mythologie
34.1 Mythos – Definitionen und Funktionen
34.2 Mythos und Mythologie im Werk
Ovids
34.3 Ovids Mythopoetik: Der Fall von
Hylonome und Kyllaros
34.4 Hylonome und Kyllaros nach Piero di Cosimo
34.5 Rezeption in der Kinder- und Jugendkultur des 20. und 21. Jahrhunderts
34.6 Ovid in der Werbung
Literatur
35 Philosophie und Psychologie
35.1 Feldbestimmungen
35.2 Wandel als philosophische und
psychologische Fragestellung
35.3 Naturphilosophie als Ringkomposition
in den Metamorphosen
35.4 Wandel als ethische Herausforderung
35.5 Selbstbewusstsein und Sprachverlust
Literatur
36 Ars und natura
36.1 Der kleine Unterschied (parvum discrimen,
met. 10, 242)
36.2 Kunst vor der Kunst? Opus nulla arte
peractum (ars 2, 480)
36.3 Totale Kunst: quo non ars penetrat? (ars 3, 291)
36.4 Latenz der Kunst: ars adeo latet arte
sua (met. 10, 252)
36.5 Die Tränen der Heliaden: Identität und
Repräsentation
36.6 Metamorphose zwischen Kunst und
Natur
Literatur
37 Astronomie und Verstirnungssagen
37.1 Bedeutung der Astronomie und Vorbilder
Ovids
37.2 Sterne und Verstirnungssagen in Ovids
Werken
37.3 Julius Caesars Verstirnung
37.4 Gestirne in den Fasti
37.5 Astronomie als Grundlage für die Berechnung des julianischen
Kalenders
Literatur
38 Aitiologie und Antiquarismus
38.1 Aitiologische Bedeutungskonstitution der Natur: Welterklärung in den Metamorphosen
38.2 Römische Feste und ihre Ursprünge: Aitiologische Kalenderexegese in den Fasti
38.3 Poetischer Antiquarismus: Ovids
vates operosus
Literatur
39 Zeitkonzepte und der römische
Kalender
39.1 In den Zwischenräumen der Zeit
39.2 Tempora cum causis: Das zeitliche Ordnungsmuster
des Jahres in den Fasti
39.3 Aurea aetas: Ovids Rückkehr des
Goldenen Zeitalters
Literatur
40 Geschichte und Gesellschaft
40.1 Ovid als Kind des Goldenen Zeitalters
40.2 Ein Beispiel: Von den Sarmaten bis zur
Solidarność-Bewegung
40.3 Ovid und die globale Gesellschaft im
21. Jahrhundert
Literatur
41 Stadt und Land
41.1 ›Stadt und Land‹ im augusteischen
Diskurs
41.2 Lektüren: ›Stadt und Land‹ als poetologische Matrix in Ovids erotodidaktischem
Frühwerk
41.3 Ausblick: ›Stadt und Land‹ in der
Exildichtung
Literatur
42 Gewalt und Verbrechen
42.1 Formale und existentielle Gewalt (am.
1, 1 und Pont. 4, 16)
42.2 Der Glanz der Wunde: Gewalt und
Schönheit in den Metamorphosen
42.3 Ovids actaeonische Strafe (met. 3,
131–259 und trist. 3, 11)
Literatur
43 Wissen und Didaxe
43.1 Vorüberlegungen: Wissen und Didaxe
als Inhalt und Form?
43.2 Idem nunc vobis Naso legendus erit (rem. 72): Ovids gegenwendige
›Phänomenologie der Liebe‹
43.3 Idem sacra cano (fast. 2, 7): Ovids ironische ›Archäologie römischer Kultpraxis‹
43.4 In nova [...] mutatas [...] formas / corpora (met. 1, 1–2): Ovids poetische
›(Meta-)Morphologie‹
43.5 Ovids epistemologische und ästhetische Modernität: Ironie und Transgression
Literatur
44 Ordnung und Dekonstruktion
44.1 Ipse veni! Präsenz und Absenz
(Heroides, Tristia, Amores)
44.2 Centum sunt causae. Zentrum und
Spiel (Amores, Metamorphosen)
Literatur
VI Rezeption
45 Überlieferung, Textausgaben,
Übersetzungen, Kommentare
45.1 Buchwesen in der Antike
45.2 Publikation der Werke
45.3 Die Überlieferung der Werke bis zur
Renaissance
45.4 Textausgaben und Übersetzungen
45.5 Kommentare
Literatur
46 Ovid im Schulunterricht
Literatur
47 Ovid in Wissenschaft, Enzyklopädien und Ratgeberliteratur
47.1 Einleitung
47.2 Zeitlicher Abriss
Literatur
48 Die erotische Dichtung in der Literatur
48.1 Die Rezeptionsstationen in Antike und Mittelalter
48.2 Renaissance
48.3 Vom Barock bis in die Moderne
48.4 Beispiel Antike: Martial
48.5 Beispiel Mittelalter: Carmina Burana
48.6 Beispiel Renaissance: Petrarca
48.7 Beispiel 18. Jahrhundert: Goethe
48.8 Gegenwart
Literatur
49 Die erotische Dichtung in Kunst und Musik
49.1 Bildende Kunst
49.2 Film
49.3 Musik
49.4 Beispiel Malerei – Tizian, Rubens,
Boucher
49.5 Beispiel Film – Kubrick
Literatur
50 Die Heroides
50.1 Inseln der Rezeption: Spätantike und
Mittelalter
50.2 Ovid übertreffen. Die Hochzeit der
Heroides in der Frühen Neuzeit
50.3 Getrennte Wege: Adaptionen der
Heroides im 18. und 19. Jahrhundert
50.4 Einzelstücke: Bezugnahmen im 20.
und 21. Jahrhundert
Literatur
51 Exildichtung
51.1 Wesentliche Merkmale der Rezeption
51.2 Von Mandelstams Tristia über Celans »Pontisches Einstmals« zu Marcel Beyers Taistra
51.3 David Maloufs Das Wolfskind
51.4 Christoph Ransmayrs Die letzte Welt
Literatur
52 Wirkungsaspekte der Metamorphosen
52.1 Ovids Metamorphosen als Naturphilosophie
52.2 Metamorphose und Morphologie
Literatur
53 Die Metamorphosen in der
bildenden Kunst
53.1 Ovid in der Kunstgeschichte
53.2 Das Nachleben
53.3 Wettstreit mit Ovid
Literatur
54 Die Metamorphosen in der Musik
54.1 Rezeption in der Barockoper
54.2 Beispielanalyse: Monteverdi und Gluck
54.3 Moderne und zeitgenössische Rezeption
Literatur Primärtexte
Sekundärliteratur
55 Jäger und Gejagter: Actaeon
oder Die ›totale Rezeption‹
55.1 Giordano Bruno, De gli eroici furori
(1585)
55.2 Apuleius, Metamorphosen 2, 4–5 (zweite Hälfte des 2. Jahrhunderts
n. Chr.)
55.3 Pierre Klossowski, Le Bain de Diane
(1956)
55.4 Ezra Pound, The Coming of War.
Actaeon (1915)/Canto IV (1925/30)
Literatur
56 Gewalt und Entzug: Apoll und Daphne; Jupiter, Juno und Callisto;
Hippomenes und Atalante
56.1 Motivbeschreibung und Analyse
56.2 Rezeption des Daphne-Mythos
56.3 Rezeption des Callisto-Mythos
56.4 Rezeption des Atalante-Mythos
Literatur
57 Der Künstler und sein Werk: Arachne, Pygmalion, Daedalus,
Marsyas, Orpheus
57.1 Die Allgegenwart von Künstlern und
Kunst in den Metamorphosen
57.2 Das Scheitern der Kunst in den Metamorphosen
57.3 Ovids Arachne und ihr Nachleben
57.4 Metamorphosen der Pygmalion-Geschichte
Literatur
58 Zwischen Ober- und Unterwelt: Ceres und Proserpina; Orpheus
und Eurydice
58.1 Einleitung
58.2 Ceres und Proserpina 1: Ovids
Rezeption(en)
58.3 Ceres und Proserpina 2: Ovidrezeptionen
58.4 Orpheus und Eurydice 1: Ovids
Rezeption(en)
58.5 Orpheus und Eurydice 2: Ovidrezeptionen
Literatur
59 Kältelehren: Ceyx und Alcyone
59.1 T. S. Eliot: Four Quartets (1943)
59.2 Christoph Ransmayr: Die letzte Welt
(1988)
Literatur
60 Schwere Geburten: Danaë und
Semele
60.1 Motivbeschreibung und Analyse
60.2 Rezeption des Semele-Mythos
60.3 Rezeption des Danaë-Mythos
Literatur
61 Europa und die Folgen
61.1 Europäische Erzählungen
61.2 Ovids Europa: Traditionsbildung
zwischen Ikonisierung und Gewalt
61.3 Von Asien nach Europa
61.4 Von der Alten in die Neue Welt
Literatur
62 Hercules und sein Tod
62.1 Hercules in der Antike
62.2 Hercules bei Ovid
62.3 Hercules nach Ovid
62.4 Friedrich Schiller: Das Reich der Schatten (später: Das Ideal und das
Leben)
62.5 Friedrich Hölderlin: An Herkules
Literatur
63 Ästhetik der Gewalt: Kentauren
gegen Lapithen
63.1 Wesentliche Merkmale der Rezeption
63.2 Michelangelos Kentaurenschlacht (um
1492)
63.3 José-Maria de Heredia, Centaures et
Lapithes (1888)
Literatur
64 Medea und Iason
64.1 Rezeptionsstationen: Medea werden
64.2 Seneca, Medea
64.3 Gillian Flynn, Gone Girl (2012)
64.4 Christa Wolf, Medea. Stimmen (1996)
Literatur
65 Medusa
65.1 Medusa als Figur der Ambivalenz
65.2 Ovids Medusa oder monströse Ordnung
in den Metamorphosen
65.3 Medusa als Sinnbild der écriture
féminine
Literatur
66 Inzest-Mythen: Myrrha
66.1 Wesentliche Merkmale der Rezeption
66.2 Myrrha in der moralisierenden
Tradition des Mittelalters
66.3 Myrrha in der englischen Literatur der
Frühen Neuzeit
Literatur
67 Selbstliebe zwischen Subjekt
und Objekt: Narziss
67.1 Rainer Maria Rilke: Narziß (Dies also:
dies geht von mir aus)
67.2 Friederike Mayröcker: [D]as zu
Sehende, das zu Hörende
67.3 János Marno: Narziss richtet sich
Literatur
68 Heidnische Hybris: Niobe und die lykischen Bauern
68.1 Die Hybris des Entdeckers und die
Hybris des Hybriden
68.2 Niobe: Ted Hughes, Tales from Ovid
(1997)
68.3 Die lykischen Bauern: Seamus Heaney,
Death of a Naturalist (1966)
Literatur
69 Orpheus – zwischen Bacchus und
Apollon
69.1 Vergil und Ovid
69.2 Interpretatio christiana: Boethius und
Calderón
69.3 Textfäden und Lebensfäden: Poliziano,
La fabula di Orfeo
69.4 Humanismus und lieto fine
69.5 Melancholie und Alltag: Orpheus im
20. Jahrhundert
Literatur
70 Aus der Hirtenwelt: Pan, Syrinx
und Midas
70.1 Pan und Syrinx
70.2 Midas
Literatur
71 Perseus und Andromeda
71.1 Kontext und Auswahl
71.2 Klassiker im Vergleich: Ovid und Ariost
71.3 Ovids Modernität: Vom Symbolismus
bis zum neuen Jahrtausend
Literatur
72 Phaëthon
72.1 Himmelsreisen der Seele
72.2 »Hochmut kommt vor dem Fall«
(Sprüche 16, 18)
72.3 Cupido caeli
72.4 Das Erhabene und das Übermenschliche
Literatur
73 Das Wissen der Alten: Philemon
und Baucis
73.1 Einführung: Was bleibt vom Mythos?
73.2 Ursprung und Rezeption im Ausgang
von Ovid
73.3 Jonathan Swift, Baucis and Philemon
(1708)
73.4 Italo Calvino, Die unsichtbaren Städte
(1972)
73.5 Ausblick und Weiterentwicklungen
Literatur
74 Regionale Götter: Picus, Vertumnus
und Pomona
74.1 Kontext und Auswahl
74.2 Der moderne Vertumnus: Zwischen
Metamorphose und Theater
74.3 Vertumnus im 20. Jahrhundert: Der
Übersetzer und der Verbannte
Literatur
75 Erotik des Schreckens: Procne
und Philomela
75.1 Eine Poetik der Perversion
75.2 Entschärfung und Faszination der
Rache
75.3 Shakespeare, Titus Andronicus (ca.
1592)
75.4 T. S. Eliot, The Waste Land (1922)
75.5 Philomela als Modell? Ein Ausblick
Literatur
76 Ovids Prometheus: Aspekte der
Rezeption
76.1 Menschenschöpfung bei Ovid und im
Christentum
76.2 Kunst und Technik
76.3 Dekonstruktion des Mythos
Literatur
77 Liebe mit und ohne Aussicht:
Pyramus und Thisbe
77.1 Überblick über die Rezeptionsgeschichte
77.2 Augustinus: De ordine 1, 24
77.3 Hartmann von Aue: Erec
77.4 Hasse/Coltellini: Piramo e Tisbe.
Intermezzo tragico
77.5 Ausblick
Literatur
78 Genealogien: Von Romulus zu
Augustus (und weiter)
78.1 Ovid bei Ovid
78.2 Troja- und Augustus-Bezüge in Mittelalter
und Früher Neuzeit
78.3 Romulus- und Augustus-Bezüge im
italienischen Faschismus
Literatur
79 Theseus und Ariadne
79.1 Rezeption: Strand und Labyrinth
79.2 Geoffrey Chaucer, The Legend of Good
Women (ca. 1386)
79.3 Sylvia Plath, To Ariadne (deserted by
Theseus, 1949)
Literatur
80 Trans-Gender-Mythen: Tiresias; Salmacis und Hermaphroditus;
Caenis/Caeneus
80.1 Einleitung
80.2 Tiresias (met. 3, 316–338)
80.3 Salmacis und Hermaphroditus (met. 4,
271–388)
80.4 Caenis/Caeneus (met. 12, 168–209;
459–535)
80.5 T. S. Eliot, The Waste Land (1922)
80.6 Sjón, Argóarflísin (The Whispering
Muse, 2005)
Literatur
81 Pythagoras und die Seelenwanderung
81.1 Einführung: Pythagoras ist (nicht)
Pythagoras
81.2 Diskurs über den Vegetarismus: John
Dryden
81.3 Poetische Metempsychose: Christoph
Ransmayr
Literatur
82 Von Griechenland nach Rom: Die
Trojaner auf dem (Heim-)Weg
82.1 Die Sibylle und Apollo in der Kunst des
17. Jahrhunderts
82.2 Die Episoden von Scylla und Achaemenides in Blumauers Aeneis-
Travestie (1782)
Literatur
83 Aitiologische Dichtung: Venus
und Adonis
83.1 William Shakespeare, Venus und
Adonis (1593)
83.2 Edmund Spenser, The Faerie Queene
(1590)
Literatur
84 Schöpfungsmythen
Literatur
85 Ovid und Europa
85.1 Welche(s) Europa?
85.2 Der Mythos: Kontinent und Königstochter
85.3 Ovids Europa(s) in der Rezeption
Literatur
86 Ovid als Autor der Moderne
86.1 Die unbedingten Fragen
86.2 Gewalt und Gewerk oder Die Kunst
des Scheiterns
86.3 Paradoxien der Autorschaft
86.4 Automatendichtung
86.5 Im Labor der Moderne
86.6 Existentialpoetik
86.7 Häute lesen
86.8 Politik, substantiell
86.9 Eine Reise in das Andere der Erfahrung
86.10 Die Melancholie am Grunde der Herrschaft
86.11 Der Widerstand ist wirklich
86.12 Das apriori des Sinnlichen: Das
Gesicht des Menschen
86.13 Kunst in unvordenklicher Zeit
86.14 Genie und Handwerk
86.15 Eine »Neue Mythologie« avant la
lettre
86.16 Kritik in der Krise. Die »Metamorphosen« als Lebendversuch
86.17 Arbeit an der Matrix des Mythos
86.18 Paroxysmen der Moderne: Die
maximale Evidenz
86.19 Zeigen, was noch niemand gezeigt
hat
86.20 Die phantastische Biographie des
Menschen
86.21 Die Philologie und die Metamorphosen
der Zukunft
Literatur
Anhang
Werkverzeichnis Ovid mit Textausgaben
und Übersetzungen
Autorinnen und Autoren
Personen- und Werkregister

Citation preview

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Melanie Möller (Hg.)

Ovid Handbuch Leben – Werk – Wirkung

Melanie Möller

Ovid-Handbuch Leben – Werk – Wirkung

Unter Mitarbeit von Christian Badura

J. B. Metzler Verlag

Die Herausgeberin

Melanie Möller ist Professorin für Klassische Philologie mit dem Schwerpunkt Latinistik am Institut für Griechische und Lateinische Philologie der Freien Universität Berlin.

ISBN 978-3-476-05684-9 ISBN 978-3-476-05685-6 (eBook) https://doi.org/10.1007/978–3-476–05742–6 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten.

Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Einbandgestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart (Foto: akg / North Wind Picture Archives) J. B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

Inhalt

Vorwort  VI

IV Ästhetik und Poetologie

1 Ovid im Kontext der augusteischen Zeit  Jürgen Paul Schwindt  3 2 Die Autobiographie Ovids  Melanie Möller  13 3 Dichter in Rom  Matthias Grandl  18 4 Ovid und Augustus  Bardo Maria Gauly  23 5 Heimat und Exil: Sulmo, Rom, Tomis  Bardo Maria Gauly 28

20 Literarische Rollen  Cédric Scheidegger Lämmle  137 21 Dichtung als Spiel  Isabella Tardin Cardoso  144 22 Rhetorik  Gyburg Uhlmann  149 23 Stil und Erzähltechniken  Matthias Grandl  154 24 Komposition  Alexander Kirichenko  162 25 Metrum (Hexameter, Distichon)  Philip Schmitz  167 26 Vorstellungswelten: Illusion, Bildersprache, Gleichnisse  Sebastian Matzner  172

II Voraussetzungen

V Themen und Konzepte

6 Nachfolge griechischer Dichtung  Gyburg Uhlmann  35 7 Ovids Amores und die römische Liebesdichtung  Alexander Kirichenko  46 8 Gattungen im Kreuzfeuer  Laura Aresi  53

27 Mensch und Welt  Johanna Schubert /  Vera Engels  181 28 Götter  Christian Badura  188 29 Tiere und Pflanzen  Chiara Cavazzani  193 30 Körperkonzepte  Chiara Cavazzani  198 31 Männlich, Weiblich  Darja Šterbenc Erker  203 32 Liebe, Leidenschaft, Erotik  Asmus Trautsch  208 33 Metamorphose: Kontinuität und Wandel  Laura Aresi  223 34 Mythos/Mythologie  Katarzyna Marciniak  228 35 Philosophie und Psychologie  Fabian Zuppke  233 36 Ars und natura  Maximilian Haas  239 37 Astronomie und Verstirnungssagen  Darja Šterbenc Erker  245 38 Aitiologie und Antiquarismus  Christian Badura  250 39 Zeitkonzepte und der römische Kalender  Christian Badura  255 40 Geschichte und Gesellschaft  Katarzyna Marciniak  261 41 Stadt und Land  Christian David Haß  266

I Leben und biographische Kontexte

III Werk 9 Amores  József Krupp  63 10 Heroides  Vera Engels  72 11 Medicamina  Bendix Sautmann  81 12 Ars Amatoria  Bendix Sautmann  84 13 Remedia amoris  Isabella Tardin Cardoso  92 14 Metamorphosen  Jost Eickmeyer  97 15 Fasti  Christian Badura  106 16 Ibis  Johanna Schubert  112 17 Tristien  Antje Wessels  116 18 Epistulae ex Ponto  Bernd Roling  123 19 Medea, Halieutica und andere verlorene oder unechte Werke  Vera Engels  129

VI

Inhalt

42 Gewalt und Verbrechen  Maximilian Haas  271 43 Wissen und Didaxe  Christian David Haß  276 44 Ordnung und Dekonstruktion  Eva Noller  281 VI Rezeption A Allgemeine Aspekte

45 Überlieferung, Textausgaben, Übersetzungen, Kommentare  Philip Schmitz  289 46 Ovid im Schulunterricht  Stefan Kipf  293 47 Ovid in Wissenschaft, Enzyklopädien und ­ Ratgeberliteratur  Nina Mindt  296 B Erotische Dichtung, Heroides, Exildichtung

48 Die erotische Dichtung in der Literatur  Asmus Trautsch  301 49 Die erotische Dichtung in Kunst und Musik  Asmus Trautsch  318 50 Die Heroides  Jost Eickmeyer  327 51 Exildichtung  Doren Wohlleben  333 C Die Metamorphosen

52 Wirkungsaspekte der Metamorphosen  Hartmut Böhme  337 53 Die Metamorphosen in der bildenden Kunst  Michael Thimann  343 54 Die Metamorphosen in der Musik  Laura Loporcaro  351 D Einzelmythen und Mythengruppen

55 Jäger und Gejagter: Actaeon oder Die ›totale Rezeption‹  Jürgen Paul Schwindt  355 56 Gewalt und Entzug: Apoll und Daphne; Jupiter, Juno und Callisto; Hippomenes und Atalante  Simon Godart  359 57 Der Künstler und sein Werk: Arachne, Pygmalion, Daedalus, Marsyas, Orpheus  Cédric Scheidegger Lämmle  365 58 Zwischen Ober- und Unterwelt: Ceres und Proserpina; Orpheus und Eurydice  Christian David Haß  381 59 Kältelehren: Ceyx und Alcyone  Eszter Korompay / József Krupp  386 60 Schwere Geburten: Danaë und Semele  Simon Godart  388 61 Europa und die Folgen  Joséphine Jacquier  392 62 Hercules und sein Tod  Matthias Grandl  395 63 Ästhetik der Gewalt: Kentauren gegen Lapithen  Maximilian Haas  398

64 Medea und Iason  Kathrin Winter  401 65 Medusa  Joséphine Jacquier  404 66 Inzest-Mythen: Myrrha  Sebastian Matzner  406 67 Selbstliebe zwischen Subjekt und Objekt: Narziss  József Krupp  409 68 Heidnische Hybris: Niobe und die lykischen Bauern  Kathrin Winter  412 69 Orpheus – zwischen Bacchus und Apollon  Susanne Gödde  415 70 Aus der Hirtenwelt: Pan, Syrinx und Midas  Martin Stöckinger  424 71 Perseus und Andromeda  Laura Aresi  427 72 Phaëthon  Hartmut Böhme  430 73 Das Wissen der Alten: Philemon und Baucis  Eva Noller  433 74 Regionale Götter: Picus, Vertumnus und Pomona  Laura Aresi  437 75 Erotik des Schreckens: Procne und Philomela  Jonas Göhler  440 76 Ovids Prometheus: Aspekte der Rezeption  Hartmut Böhme  443 77 Liebe mit und ohne Aussicht: Pyramus und Thisbe  Theresia Lehner  447 78 Genealogien: Von Romulus zu Augustus (und weiter)  Martin Stöckinger  450 79 Theseus und Ariadne  Kathrin Winter  453 80 Trans-Gender-Mythen: Tiresias; Salmacis und Hermaphroditus; Caenis/Caeneus  Jonas Göhler  455 81 Pythagoras und die Seelenwanderung  Eva Noller  458 82 Von Griechenland nach Rom: Die Trojaner auf dem (Heim-)Weg  Martin Stöckinger  460 83 Aitiologische Dichtung: Venus und Adonis  Christian Badura  463 84 Schöpfungsmythen  Hartmut Böhme  467 E Ovid – Europa – Moderne

85 Ovid und Europa  Melanie Möller  471 86 Ovid als Autor der Moderne  Jürgen Paul Schwindt  484 Anhang Werkverzeichnis Ovid mit Textausgaben und Übersetzungen  497 Autorinnen und Autoren  498 Personen- und Werkregister  500 Sachregister einschl. mythischer Figuren  508

Vorwort Zur Zeit der Genese dieses Handbuchs ist es gut 2000 Jahre her, dass sich die Spuren des Autors Ovid hinter dem Werk verloren haben. Über den Tod des Autors haben wir noch weit weniger gesicherte Informationen als über sein Leben: Nicht mal das Jahr steht einwandfrei fest. Einige Plausibilität hat die Vermutung, dass er zwischen 17 oder 18 n. Chr. im Exil in Tomis am Schwarzen Meer das Zeitliche segnete. Aufgrund der Vagheit dieser Vermutung müssen auch die Erinnerungsfeierlichkeiten, wie sie etwa zum Bimillennium zahlreich stattfanden, auf tönernen Füßen stehen, was die Belastbarkeit der Fakten angeht. Anders liegen die Dinge bei Ovids Werk. Dessen Spuren haben sich keineswegs verloren, sondern sind gleichsam überall sichtbar und zu verfolgen. Seit über 2000 Jahren ziehen seine Texte uns in ihren Bann, und sie prägten und prägen das Geschehen in Literatur und Kunst: Diese Texte, vor allem die Metamorphosen, gehören zu den einflussreichsten Kunstwerken der europäischen Literatur. Das scheint Anlass genug, Ovids Schaffen nun auch unter lexikalischen Gesichtspunkten zu betrachten, was im deutschen Sprachraum bisher nicht in systematischer, werkumspannender Weise geschehen ist. Dazu sei angemerkt, dass es auf den Autor fokussierte Handbücher bisher nur in englischer Sprache gibt. Das vorliegende Ovid-Handbuch will einen ebenso sachlich-informierenden wie theoretisch-orientierenden Einblick in das Œuvre Ovids, die Wege seiner Erforschung und seine vielfältige Rezeption geben. In essayartigen Beiträgen zu den verschiedenen Gebieten der von Ovid verfassten Literatur und den in ihr aufgeworfenen Fragen sollen interessierte Laien ebenso Antworten finden wie Ovid-Experten neue Anregungen beziehen können. Im Zentrum steht in allen Beiträgen die Arbeit am Text, d. h. es werden immer auch exemplarische, problemorientierte Analysen geboten, um Ovids Themen und Techniken zu veranschaulichen. Die Texte werden stets auch in ihrem literarischen Kontext verortet. Im Mittelpunkt steht in allen Beiträgen nicht nur die

Frage nach der Bedeutung Ovids für die europäische und außereuropäische Kultur; auch seine Modernität als Autor wird aus verschiedenen Perspektiven betrachtet, wobei die Zuschreibung ›modern‹ nicht nur auf die aktuelle Relevanz abzielt, sondern auch die Referenzen auf die literarische Tradition – in Form von Brüchen, Umprägungen oder Fortschreibungen – auslotet. Dabei erhebt das Handbuch in Bezug auf die Rezeption keinen Anspruch auf Vollständigkeit; die Darstellungen beschränken sich in der Regel auf jeweils zwei bis drei Beispiele aus zwei bis drei verschiedenen Epochen. Dieses Vorgehen ist heuristisch, aber doch hinreichend exemplarisch, um zu weiteren und weiterführenden Lektüren anzuregen. Innerhalb der einzelnen Kapitel sollen alle wichtigen Aspekte des jeweiligen Themas zur Sprache kommen. Das bedeutet, dass die jeweiligen Verfasserinnen und Verfasser in den Teilkapiteln nicht ihre persönlichen Forschungsinteressen in den Mittelpunkt stellen, sondern einen Überblick über das jeweilige Thema und die aktuellen, auch differierenden Forschungsmeinungen präsentieren. Gleichwohl wollen die Artikel in der philologischen Analyse durchaus auch eigene Akzente setzen, ohne sich in fachspezifischen Details zu verlieren. Das Handbuch will schließlich ganz verschiedene, einander bisweilen durchaus auch widersprechende Perspektiven auf das Werk Ovids vermitteln, die alle, mehr oder weniger, ihre Berechtigung haben. Eine kurze literarhistorische Einordung soll ebenso wie die Präsentation der Forschung in die Deutung integriert werden. Deshalb dominiert die Form des Essays. Doch hatten die Autorinnen und Autoren Freiheiten nicht nur bei der Auswahl der Beispiele, sondern, in gewissem Rahmen, auch bei der Gestaltung der Textform, die mal stärker essayistisch, mal eher enzyklopädisch gehalten ist, dabei aber stets bemüht, die wichtigsten Aspekte in szientifisch abgesicherter Weise zu präsentieren. Biographische Elemente, die ja ohnedies höchst spekulativ sind und wesentlich aus Ovids Texten rekonstruiert werden, treten

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Vorwort

dabei zugunsten der engeren Textlektüren in den Hintergrund. Gleichwohl sollen die Leserinnen und Leser möglichst breit informiert werden über die römische Literatur und ihre Kontexte – und über die vielen Facetten der Rezeption in ihrem disziplinenübergreifenden Einfluss. Mit dieser Mischung erhebt das Handbuch den Anspruch, über bisher veröffentlichte Überblicksliteratur einen Schritt hinauszugehen. Das Handbuch ist wie folgt aufgebaut: In einem ersten Teil werden »Leben und biographische Kontexte« erkundet. Da wir, wie erwähnt, wenig über Ovid wissen, was nicht als von ihm selbst lancierte ›Information‹ seinem Werk entstammt, ist schon hier eine Fokussierung auf die Texte der am besten gangbare Weg für die Beiträgerinnen und Beiträger, und so wird hier auch die sog. Autobiographie Ovids in trist. 4, 10 einer konzentrierten Lektüre unterzogen. Daneben werden aber auch über die Texte hinaus Schaffenszusammenhänge wie die zeitgenössische Dichtung, Ovids komplexe Beziehung zum Princeps Augustus sowie seine zeitlich-räumlichen Fixpunkte (Sulmo, Rom, Tomis) vorgestellt. Im zweiten Teil werden ergänzend weitere produktionsästhetische bzw. intellektuelle »Voraussetzungen« wie die griechischen und römischen Vorbilder oder die generischen Traditionen und Innovationen diskutiert, die in seinem Werk sichtbar werden. Im dritten Teil sind alle Werkartikel versammelt, wobei auch die als ›unecht‹ eingestuften Texte berücksichtigt sind, inklusive der Begründungen für das Für und Wider der Authentizität; auch in den Überblicken wird auf Beispiellektüren kaum je verzichtet. Mit dem vierten Teil zu »Ästhetik und Poetologie« folgt ein erster großer programmatischer Teil, der sich den Werken Ovids unter den als einschlägig erachteten Lemmata wie »Rollenspiele« oder dem »poetologischen Programm«, der Beziehung Ovids zur Rhetorik, den stilistischen, kompositorischen und metrischen Prinzipien sowie seiner Bilder- und Gleichnissprache widmet. Die in Teil 5 versammelten Beiträge sind darauf ausgerichtet, dem Lesepublikum die werkübergreifenden zentralen »Themen und Konzepte« zu erschließen. Hier werden disziplinäre Fragen (Verhältnis von Literatur, Philosophie und Epistemologie) ebenso berührt wie wiederkehrende Themen, zum Beispiel Anthropologie oder Antiquarismus, Erotik oder Mythologie. Schließlich folgt der umfassende 6. Teil zur Rezeption Ovids. Hier wird, nach einigen übergreifenden Darstellungen zur Überlieferung sowie zur schulischen und wissensgeschichtlichen Rezeption, nach den Spuren der jeweiligen Einzelwerke gesucht, wobei erneut der Fokus auf in der Regel zwei bis drei als repräsenta-

tiv erachtete Beispiele gelegt wird, deren Eignung und Relevanz aus den Überblicksdarstellungen heraus entwickelt und begründet werden. Wegen ihrer exzeptionellen Wirkung nehmen die Metamorphosen hier nicht nur den mit Abstand größten Teil ein, sondern sind auch nach Einzellemmata untergliedert; so soll den Spuren der zentralen mythischen Metamorphosen an den Wegmarken der europäischen Literaturgeschichte in ihrer spezifisch ovidischen Prägung nachgegangen werden. Den Auswirkungen auf die Kunst und Musikgeschichte sind dabei separate Artikel gewidmet. Die Kapitel zur Rezeption der Metamorphosen verstehen sich insbesondere nicht als Konkurrenz zu anderen Rezeptionswerken wie etwa dem Supplementband 5 des Neuen Pauly zur Mythenrezeption, sondern als fruchtbare, insgesamt stärker textbezogene und, sachgemäß, auf Ovid fokussierte Ergänzung. Zwei programmatische, auch mit zusammenfassend-verweisenden Elementen versehene Artikel zu »Ovid und Europa« sowie »Ovid und die Moderne« beschließen den inhaltlichen Teil des Bandes. Am Ende befinden sich, neben Werk- und Autorenverzeichnissen, zwei Register, die den Gebrauch des Handbuchs erleichtern sollen: ein Personen- und Werkregister sowie ein Sachregister, in dem sowohl theoretische Konzepte und zentrale Motive als auch mythologische und geographische Namen gelistet sind. Zum Schluss dieser Vorbemerkung steht, wie könnte es anders sein, ein großes Dankeschön: an die Beiträgerinnen und Beiträger, die teilweise mehrere Artikel übernommen und keine Mühen gescheut haben, den ihnen bisweilen seit langer Zeit vertrauten Texten Ovids nochmal ganz andere, neue Aspekte abzugewinnen und Töne abzulauschen. Das gilt gleichermaßen für die zahlreichen jüngeren und weniger erfahrenen AutorInnen, die am Band mitgewirkt haben. Es war mir indes ein besonderes Anliegen, viele engagierte NachwuchswissenschaftlerInnen, zum Teil noch im Doktoranden- oder Studierendenstatus, einzubeziehen und das Handbuch mit ihren Perspektiven zu bereichern. Dank geht natürlich an Herrn Dr. Oliver Schütze für seine unermüdliche und zuverlässige Unterstützung auf Verlagsseite. Dank möchte ich meinem Team aussprechen, bestehend aus Vera Engels, Johanna Schubert, Laura Loporcaro, Matthias Grandl, Fabian Zuppke, Denise Nagel, Sophie Buddenhagen und Sophie Borgenhagen, die nicht nur Beiträge beigesteuert und Literatur besorgt haben, sondern, unter mehreren, die zeitgleich umzusetzen waren, gerade dieses Projekt mit großer Begeisterung und beeindruckendem Einsatz begleitet haben. Der größte Dank

Vorwort

schließlich gebührt Herrn Dr. des. Christian Badura, der alle Artikel formatiert, mit mir zusammen sachlich durchgesehen und bearbeitet und das ganze Unternehmen mit seiner außerordentlichen Ovid-Expertise und ruhigen Souveränität erst auf den Stand gebracht hat, auf dem es sich nun befindet. Für etwaige Fehler oder Unzulänglichkeiten, Widersprüche, Re-

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dundanzen oder Mängel bin ich selbstverständlich allein verantwortlich. Beschließen möchte ich das Vorwort indes mit dem Dank an – Ovid, seine Texte und ihre Leserinnen und Leser in den letzten zwei Jahrtausenden. Melanie Möller

I Leben und biographische Kontexte

1 Ovid im Kontext der augusteischen Zeit Ovid ist ein Ereignis. Es einzuordnen in eine Zeit, die nach dem Namen seines bedeutendsten Gegners, des Augustus, benannt wird, ist nicht leicht, wenn nicht sogar unmöglich. Und ganz gewiss nicht im Sinne eines Autors, der in allem, was er schrieb, so offenkundig über die Grenzen hinausstrebte, die einem Menschen der Zeitenwende (vom ersten Jahrhundert vor zum ersten Jahrhundert nach unserer Zeitrechnung) natürlicherweise gesetzt waren. Räumlich, zeitlich, technisch. In seinen Texten schuf er Modelle, wie über das evident Mögliche hinauszugelangen sei. Er formte Räume, die man nie zuvor gesehen, Zeiten, wie man sie nie zuvor erlebt, und Medien, an die man nie zuvor gedacht hatte. So wurden ihm die Parameter, an denen sich alles immer zu orientieren hat, zu Abstoßungsund Ansatzpunkten der Entwicklung eines neuen, phantastischen Denkens. Dieses Denken wiederum ist Ausdruck auch der Zeit, in der es sich entfalten konnte. Es gehört zu dieser Zeit, es weist auf sie hin, speist sich aus ihr, arbeitet mit ihr und antwortet vielleicht auch auf Fragen, die wir noch heute als die Fragen jener Zeit erkennen können. Ohne jeden Zweifel kann man das Werk des Ovid in nahezu allen seinen Teilen auf etwas zurückführen, das mit der materialen und geistigen Kultur der Epoche zu tun hat. Dazu müssten wir das Corpus Ovidianum gleichsam wie ein zweites Corpus Inscriptionum Latinarum der Jahre 43 v. Chr. bis 17/18 n. Chr. lesen. Schon dies wäre eine beachtliche Leistung. Gelänge sie, stünde der Autor womöglich als die Inkarnation des augusteischen Menschen vor uns, der in seinen kulturschöpferischen Leistungen das genaue Abbild seines Zeitalters lieferte. Nennten wir unsere Geschichtsepochen nicht, einer guten alten, aber eher selten hinterfragten Gewohnheit folgend, nach ihren herausragenden Regenten, könnte man schon die Zeit des Wirkens des im Jahre 1 nach Caesars Ermordung Geborenen also mit Fug und Recht – und tausend Jahre vor ihrem ›eigentlichen‹ Anbruch – die Aetas Ovidiana nennen. Aber so einfach liegen die Dinge nicht. Mit der Zeitgenossenschaft der wirkmächtigsten Figuren ist es kompliziert. Bald erscheinen sie als die vollkommene

Verkörperung der Statur ihrer Epoche, bald als die große verneinende Kraft, die an dem, was ist, den Maßstab für die Um- und Neuschrift gewinnt. Immer bilden sie das schon Bestehende um. Das können sie aber nur, weil sie mit der Welt, in der sie leben und schreiben, völlig vertraut sind. Und wenn sie es nicht sind, sind sie doch über gemeinsame Prägungen in Sprache und Kultur mit der umgebenden Sphäre verbunden.

1.1 Zeitgenossenschaft als Paradox So funktioniert auch die Zeitgenossenschaft des Ovid als Paradox. Je emphatischer sie erlebt und erschrieben wird, desto deutlicher treten in den Texten die Konturen einer neuen, ungekannten Welt hervor. Auf etwas im Hier und Jetzt aufmerksam zu werden, heißt ja nicht selten, es der Welt, ›wie wir sie sehen‹, überhaupt erst zuzuführen. Schon der genaue Blick ist schöpferisch. Um wie viel mehr ist es die Sprache, die ihn mitteilen und zum Gemeingut der Vielen machen kann. Intensive Zeitgenossenschaft hängt indessen nicht an der realen Partizipation an den Segnungen einer Kultur. Ovids Werk selbst führt den unheimlichen Beweis, dass die raumzeitliche Nähe zu den Quellen der Inspiration nicht vorausgesetzt werden muss, damit Zeugnisse dichtester Gleichzeitigkeit entstehen können. In der späten Phase der Trennung von den Glücksgütern der Zivilisation erreicht die Beschwörung der Zeitgenossenschaft ihren vielleicht eindringlichsten Ausdruck. Präsenz in dem doppelten Sinne räumlicher und zeitlicher Gegenwart ist nicht erforderlich, um im Medium der Texte einen gültigen Abdruck der Epoche zu hinterlassen. Und doch ist der Autor in allem, was er schreibt, bemüht, nur ja nicht den Eindruck mangelnder Teilnahme entstehen zu lassen. Das ›Ich hab’s gesehen‹, ›Ich war dabei‹, ›Ich kann’s bezeugen‹, ›Hab’s aus zuverlässiger Quelle gehört‹ schallt uns aus allen Texten entgegen. Ovid ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Au(c)tor. Ein berufsmäßiger Bürge und Gewährsmann für alles, für das man in der Welt Bürgen und Gewährsleute brauchen kann. Oder eben auch nicht. Wir müssen, z. B., nicht wissen, ob, was das alte Mütterchen dem Erzähler der Fasten über Herkunft und

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_1

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I  Leben und biographische Kontexte

Bedeutung der alten Riten ins Ohr geflüstert hat, wahr oder unwahr ist. Zu offensichtlich ist die Freude an der Auffindung von Wörtern und Worten zur glaubwürdigen Schilderung auch des Unglaubwürdigen. ›Ich bürge, also bin ich (Autor)‹, scheint die Parole. Es versteht sich, dass das Ringen um Authentizität dort am stärksten ist, wo die Indizien (für wirkliche Teilhabe und also wirkliches Wissen) am schwächsten sind. Wer im Zentrum der Kultur agiert, kann auf die Lautsprecherei verzichten. Die Markierung berufener Gegenwart aber braucht, wer von den Rändern (der Welt, des Reiches, der Kulturgeschichte) her spricht.

1.2 Politik des Namens Schon hier gerät die Tonlage des Ovid in eine interessante Spannung zum Wirken des Prinzeps. Nicht ohne Grund hat sich im kulturellen Gedächtnis von dessen kaiserlichen Namen vor allem der des ›Augustus‹ durchgesetzt. Wenn auch, wie es scheint, von Beginn an verschiedene Auslegungen dieses Wortes kursieren, spricht manches dafür, dass dem Namensträger selbst die Herleitung vom Verbum augere zumindest nicht unangenehm war. So lassen sich auch seine Res gestae als ein Tatenbericht lesen, in dem auf subtile Weise immer auch die Mehrung der Macht und des Reiches herausgestrichen wird (Schwindt 2013). Wenn nun in den Texten zeitgenössischer Autoren ein Diskurs über Anfänge, Gründungs- und Stiftungsleistungen, über Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit der Überlieferung entfesselt wird, ist der Konflikt mit derjenigen Instanz, die in ihrem Namen das prekäre Gleichgewicht von Urheberschaft, Mehrung und Autorität zu garantieren scheint, vorprogrammiert. Diesen Konflikt sollte man nicht auf die einfache Grundspannung von ›augusteisch‹ und ›antiaugusteisch‹ reduzieren. Ein solcher Gegensatz setzt ja die Anerkennung eines hegemonialen augusteischen Momentums voraus. Dieses ist aber schon deshalb zweifelhaft, weil wohl kein Zeitgenosse auf die Idee verfallen wäre, diesen Abschnitt der römischen Geschichte den ›augusteischen‹ zu nennen. Überhaupt sollte man, wo es um die persönliche Zuspitzung geht, eher von der Konfrontation eines ›Augustischen‹ mit einem ›Antiaugustischen‹ sprechen. Es entbehrt nicht einer gewissen Komik, dass die Forschung bis heute die Pointierung fortschreibt, die Ovid selbst nahelegt. Noch im Titel des berühmten Buches von Alessandro Barchiesi Il poeta e il principe scheint der Kampf zweier unverträglicher Persönlich-

keiten aufzuleben. Dabei könnte man mit guten Gründen die Ansicht vertreten, dass es sich bei dem ›Augustus‹ des elegischen Spätwerks nur mehr um eine Chiffre handelt, austauschbar wie die Namen in den divergenten Fassungen der unvollendet gebliebenen Fasten, die erst Augustus, dann Germanicus gewidmet sind. Worum aber geht es, wenn die persönliche Konfrontation nicht im Mittelpunkt des Konflikts steht? Vermutlich um etwas, das ich vorläufig die Onomastik der Zeitenwende nennen möchte. Es geht darum, die Dinge der Welt mit den ›richtigen‹ Namen zu belegen. Solange der Prozess der Nomenklatur in vollem Gange ist, kann über Wörter und Namen mit der größten Intensität gestritten werden. Solche Streitkulturen entstehen vorzugsweise in Zeiten des Umbruchs, wenn das begriffliche Inventar des Gestern auf den Prüfstand kommt. Der Übergang von der späten römischen Republik zum Prinzipat des Augustus (der ziemlich genau mit Ovids Lebzeit übereinstimmt) erfüllt wie wenige andere Zeiten auch der neueren Geschichte alle Voraussetzungen zur Ausbildung einer onomastischen Streitkultur. Es gibt die gewaltige Übersetzungsleistung des Ciceronischen Spätwerks. Es gibt die in Zirkeln und Verbänden organisierten Dichter, die auch schwierigste Werke der griechisch-hellenistischen Poesie ins Lateinische übertragen. Es gibt eine blühende Sprachwissenschaft, zu der u. a. L. Aelius Stilo, M. Terentius Varro und auch selbst die politischen Matadore der ausgehenden Republik, Cicero und Caesar, beigetragen haben. Und es gibt vor allem eine überragende Aufmerksamkeit auf den Buchstaben, die Silben, Wörter und Namen der hier neu sich formierenden, ›augusteischen‹ Kultur.

1.3 Buchstäblichkeit Schon die für die Wahrnehmung des ›augusteischen‹ Zeitalters kanonisch gewordene Augustus-Vita des Sueton bezeugt an prominenter Stelle, nämlich zu Beginn der Beschreibung des Ablebens des Kaisers, den schillernden Glauben an die machtvolle Gegenwart einer im Wortsinne materialen Buchstäblichkeit: »Als er auf dem Marsfeld vor dem zahlreich versammelten Volk das Reinigungsopfer verrichtete, flog ein Adler mehrmals um ihn herum, flog in den Tempel, der in der Nähe stand, und setzte sich oberhalb des Namens Agrippa in der Höhe des ersten Buchstabens. ... Fast zur gleichen Zeit verschwand durch einen Blitz-

1  Ovid im Kontext der augusteischen Zeit schlag aus der Inschrift am Sockel seiner Statue der erste Buchstabe seines Namens. Er erhielt die Antwort, er habe nur noch hundert Tage zu leben, denn diese Zahl bedeutet das C, und er werde unter die Götter aufgenommen werden, weil aesar, das ist der verbliebene Teil des Namens Caesar, in der etruskischen Sprache Gott heiße« (Suet. Aug. 97, 1–2).

Man muss sich Szenen wie diese vor Augen führen, um zu verstehen, was es bedeute, in einer solchen Kultur zu leben und zu schreiben. Die präzise Buchstäblichkeit dieser Kultur prädestiniert sie zur Entwicklung einer Literatur, die zu außerordentlichen Leistungen fähig ist. Sie darf auf die gespannteste Aufmerksamkeit des Publikums rechnen. Wir wissen genug über die literarische Kultur jener Tage, um anzunehmen, dass das rechte Verständnis des einzelnen Buchstabens den berühmten ›Unterschied ums Ganze‹ darstellte. Für das Verständnis der Epoche aber ist es entscheidend, dass die Buchstabengläubigkeit nicht von oben verordnet ist – es sei denn in dem Sinne, dass es der Blitz und der Vogel des Zeus sind, die dem Kaiser das Drama der Buchstäblichkeit vor Augen rücken. Was am Buchstaben hängt und zum Buchstaben drängt, ist vielmehr gerade die höchste Macht selbst. In solchen Verhältnissen werden die Dichter, die Verwalter der Silben und Wörter, in der Tat auch selbst zu Auguren der Macht. Aber nicht nur der fremden Macht! Wenn nur eine von außen kommende Macht das Gefüge erschüttern kann und es nicht mehr von den Mächtigen selbst abhängt, ob und wie lange sie ihre Macht noch ausüben können (vgl. auch die Pythagoreische ›Theorie‹ des Machtwandels in met. 15, 420–445, mit bezeichnendem Anschluss an das Metamorphosen-Proöm), schlägt die Stunde der Dichter und Deuter. Nie hat die Entscheidung über Macht und Ohnmacht in heikleren Händen gelegen als in jenen Tagen, da Ovid das Römische Weltreich ›ausbuchstabiert‹. Die Pulverisierung der Machtrede in ihre kleinsten Bestandteile beginnt freilich nicht mit ihm. Die Ideengeschichte der ›Römischen Revolution‹ ist lesbar auch als Prozess, in dem mit der Erosion der Ideen vom schönen politischen Körper zugleich die wundersame Phase der Atomisierung und Subtilisierung beginnt. Aus Politik wird Ästhetik – und zwar nicht im Sinne der Ausschmückung der politischen Formen, sondern im Sinne einer – auch im Wortsinne – unerhörten Schulung der Sinnesorgane und der Wahrnehmung. Das beginnt mit Lukrez und Catull, geht über Tibull und Properz bis zu Vergil und Horaz. Wir können

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die Prozesslogik der Selbstverkleinerung der artikuliertesten Stimmen der Kultur hier nur in knappesten Skizzen aufrufen.

1.4 Quantenpoetik Es sind die Exponenten der spätrepublikanischen Literatur, Lukrez und Catull, die den Reigen der schier ins Unendliche getriebenen Partikularisierung und Verfeinerung der Bausteine der Kultur beginnen. Und ist es nicht seltsam, dass Lukrez sein atomistisches Maß an den Buchstaben nimmt? Es ist die Buchstabenanalogie (Noller 2019), an der der Autor seinen Darstellungsmodus für den Aufbau der geordneten Welt gewinnt (1, 823–826): quin etiam passim nostris in versibus ipsis multa elementa vides multis communia verbis, cum tamen inter se versus ac verba necessest confiteare et re et sonitu distare sonanti. (»Ja sogar in unseren eigenen Versen siehst du überall, dass viele Buchstaben vielen Wörtern gemeinsam sind; auf der anderen Seite musst du aber zugeben, dass Verse und Wörter untereinander sowohl dem Inhalt als auch ihrem klingenden Klang nach verschieden sind«; Übersetzung: Noller 2019 nach H. Diels [1923]).

Wie eine Kampfansage an die ererbten Deutungsmuster der idealistischen Philosophie wirkt es, wenn derselbe Autor im Horizont seiner Wahrnehmungstheorie auch das Denken (und Deuten) ganz ins Reich der Sinne verlegt. Bei Catull ist die Selbstverkleinerung so ins Extrem getrieben, dass die böse Lust an den schiefen Proportionen nur schwer zu übersehen ist. Catull ist der Poet des diminuendo; er schreibt ganze Gedichte im Deminutiv und genießt die herrliche Unlogik der neuen Petitessenwirtschaft. Aber auch beim epistemischen Blick auf die Gedichte erschließt sich ein Muster, das in allem nach Verkürzung, Verknappung, Ausdünnung verlangt. Tibull ist der Minimalist unter den großen Elegikern. Wer ihn nur inhaltlich liest, wird ihn, befremdet über die Fülle an Gemeinplätzen und Plattitüden, zur Seite legen. Er gibt wenig mehr als ein Gerüst von Motiven und Einstellungen, die alle – je für sich genommen – vollkommen klar und durchsichtig scheinen, sich indessen nur schwer in die Form eines Gedan-

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I  Leben und biographische Kontexte

kenaufsatzes fügen. Es müsste denn sein, man läse seine Elegien wie die Traumprotokolle von Melancholikern, die in ihren nächtlichen Ausflügen mit einem Mal dasjenige rein anzuschauen imstande sind, was ihnen bei Tage nur unüberwindlichen Widerstand und diese schwarze Galligkeit bereitet, die man erst zweitausend Jahre später für große Literatur gelten lässt. Und wie die Texte der Schizophrenen in ihren einzelnen Teilen mitunter ganz hellsichtig und vernünftig geschrieben scheinen, als Ganzes aber nicht viel mehr als ein verworrenes Gedankenbild abgeben, so erscheinen auch bei Tibull die gattungspoetischen Versatzstücke der römischen Liebeselegie zuweilen in Reinform: das servitium amoris, das Paraklausithyron, das Kupplerinnengedicht. Properz ist das schwarze Zentrum der neuen Quantenpoetik. Er hat die Selbstverkleinerung seiner Vorgänger ins Makaber-Unheimliche getrieben. Aus der Todesverachtung des Lukrezischen Dynamismus macht er eine Feier des Todes und der Toten. Selbstbewusstsein bezieht er nicht aus der Distanzierung des Schreckens, sondern dadurch, dass er den Tod ins Zentrum seiner Poetik rückt. In der sphragis des ersten Elegien-Buches (1, 22) stellt er sich als den aus Umbriens Erde Geborenen vor, dort, wo sie das Gräberfeld von Perugia berührt (contingens). Er blickt auf sein Leben im Modus eines thanatographischen Sprechens. Sich selbst und seine Liebe perspektiviert er unter den Insignien der Knochen, des Staubes und der Asche. Es ist die extreme Form der reductio auf etwas, das nicht mehr weiter aufgelöst werden kann. Aber in diesen letzten Resten atmet und glüht etwas, das jenseits aller konventionellen Vorstellungen von Unsterblichkeit und Transzendenz fortbesteht.

1.5 Wie Ovid augusteische Dichtung liest Wir wissen nicht, wie ein Beobachter und Leser vom Range des Ovid diese Texte wahrnahm und las. Wir sollten uns aber nicht einreden, wir könnten je etwas Relevantes über seinen Umgang mit diesen Texten erfahren, wenn wir nur nach ›Stellen‹ suchen, wo die Begegnung offenkundig ist. Schon in den frühesten Werken sind die Namen des Catull, des Gallus und Properz bloße Chiffren, die den Einfluss mehr verdecken als bezeugen. Man glaube auch nicht, Ovid müsse (nur) ›Catull‹ sagen, um ihm tief zu begegnen, ihn zu umfassen, zu verstehen und misszuverstehen und umzuschmelzen in ein Neues, Eigenes. Einem wirklichen Vorgänger begegnet man nicht in einem hübsch-

harmlosen Techtelmechtel. Auch der steif-förmliche Gruß, wie ihn nach der Vorstellung der literaturhistorischen Forschung Properz und Horaz getauscht haben, ist nicht das Medium der Konfrontation. Die Nennungen der anderen sind meist unerheblich. Wenn sie etwas bedeuten, dann, dass man einander wahrgenommen hat und fähig ist, sich ein- und wegzuordnen. Das ist so ziemlich das Gegenteil dessen, was man in der Nennung zu finden hoffte. (Philologie sollte bestimmte Reflexe besser verlernen.) Die Kunst kommuniziert oft genug im Beiläufig-Unausdrücklichen und macht sich einen Spaß daraus, uns Nachgeborene mit Scheindebatten abzufertigen. Wenn Ovid seine Vorgänger liest, liest er sie, so stellen wir uns das vor, wie ein Raubtier und radikal. Er spürt in seinen Zeitgenossen vor allem dasjenige auf, was sie gegen die Abtötung durch ein von Tagesaufmerksamkeiten gesteuertes Interesse immunisiert. Er wittert in ihnen das Erfolgsrezept, den Überlebenskern, das Flaschenpostmäßige, das ihnen ihren Rang auch in ferneren Zeiten sichert. Gedächtniskunstakrobaten und Ruhmpoetiker wie Ovid sind Meister darin, dem Unoffensichtlichen in den Werken der Vorgänger auf die Schliche zu kommen. So zieht er den Formalismus des Lukrez vollends ins Sinnliche und stattet das Bild, das der alte Lehrdichter von der Welt der Atome zu geben versucht hatte, mit satten Farben aus. Worum schon Lukrez sich redlich mühte, die plastische Nachbildung der ganzen Welt, wird für den jüngeren Dichter zum dichterischen Programm, wenn er zum Künder und Vollender einer ersten ›Neuen Mythologie‹ werden kann und die radikale Prämisse des Epikureers, eine Welt aus Atomen, doch nicht preisgeben muss. Von Catull lernt er, das Gepäck zu schnüren, das nötig ist, die Welt im Miniaturmaßstab zu denken und doch aufs Ganze zu gehen. Das Catullische Dictum zur Selbstermächtigung (Catull. 16, 5–6), diese Unabhängigkeitsklärung der späten hellenistischen Dichtung, nimmt er dankbar auf (z. B. trist. 2, 353–356) und zieht aus ihr den Glauben, dass, wer die kleinen Dinge beherrsche, auch zu den ganz großen Geschichten fähig sei. So bildet er im Großen das Kleine (zahlreiche Epyllien treiben im unterseeischen Metamorphosen-Wald) und im Kleinen das Große (auch an den Rändern, z. B. der Bildwerke der Athena und Arachne, lockt die Bedeutung). Tibulls Minimalismus muss Ovid wie ein Gottesgeschenk erschienen sein. In dessen reinen Traumfetzen liest und erkennt er die Bausteine für die wortreiche Rekomposition. Aus den Einmalsätzen des Tibull

1  Ovid im Kontext der augusteischen Zeit

baut er Endlosschleifen und treibt aus ihnen die Bizarrerien der Manie der Wiederholung hervor. Ein Stück Tibull genügt, eine Elegie der Amores zu schreiben. Ovid erst wird zum Erfinder der ›minimal music‹, wenn der elegische Gedanke in der unendlichen Wiederholung im Refrain des volkstümlichen Liedes verschwindet. Wie aber rezipiert man das thanatographische Programm des Properz? Ist es nicht von der Art, dass es Nachfolge unmöglich macht? Schließt es nicht jede Form der Weiterbehandlung aus? Nun, schon ein Blick auf das Wunder der vergilischen Bugonie, der Gewinnung des Bienenvolkes aus dem geschlachteten Rind (georg. 4), kann uns lehren, wie aus dem Tode, aus jedem Tode neues Leben entsteht. Aber das ist vielleicht gar nicht der Punkt. Schon die Seelenwanderungslehre des Pythagoras lud ja – Ovid macht es vor – zu allerlei poetischen Experimenten ein. Ovid rezipiert Properz auch dort, wo kein Weg zurück aus dem Hades führt. Er scheint oft wie besessen von der Vorstellung, Verließe bauen, Mauern errichten zu müssen, durch die der Blick des Menschen nicht dringen kann, Verließe, Mauern, Tierhäute, unheimlich und abgeschlossen wie der Hades selbst, Labyrinthe des Todes (Daedalus). Bezeichnend aber ist der Unterschied der Mentalitäten. Properz hat erkennbar kein Interesse daran, seine Verließe zu öffnen. Wenn Leben nur im Tode denkbar ist, braucht es nicht die befreiende Tat. Ovid hingegen ersinnt und findet immer neue Medien der Flucht und der Kommunikation, das Gewand der Philomele, den Faden der Ariadne und die Fluggerätschaften des Icarus. Er ist verrückt nach Technik. Wo Catull an der Theseus-Geschichte die Saga vom seelischen Schmerz des gottverlassenen Menschen entwickelt, interessieren den Jüngeren oft nur die Medien der Überwindung des Risses und des Bruchs. Aber es gibt Ausnahmen (s. unten am Ende des Beitrags).

1.6 Warum Ovid vielleicht mehr ist als ein Zivilisationsliterat Die Fluchten des Ovid kommen in einer schillernden Verbindung von Finalität und Funktionalität zustande. Die Erlösung von der schmerzenden Zielspannung schafft genau das, was wir in der umgebenden Welt als dies und das erkennen können: die Formation eines Berges, die schöne Pflanze, das Tier. Was wir sehen, ist je nur die Spitze des Eisbergs. Ovids Interesse gilt dem Untergrund all der Dinge der Welt. Er zeigt und erschließt uns ein Unterwassergebirge von gigan-

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tischem Ausmaß, lässt uns die Wucherungen und Weiterungen, aber auch die schmerzvollen Trennungen von alten Häuten und alten Körpern sehen. Viel wichtiger aber ist, dass so die pathologische Seite der geordneten Welt ins Blickfeld rückt. Die pathogenetischen Phantasien des Properz, die sich ihm zu idiosynkratischen Anleitungen zur Selbstheilung formten (ist nicht auch Horos, der ihm in Elegie 4, 1 ›die Karten legt‹, Therapeut?), hier kommen sie wieder an der kulturkritisch ›richtigen‹ Stelle zu stehen. Die Übergriffigkeiten werden abgewehrt, der Kampf der individuellen und kollektiven Neurosen klug moderiert. Und doch ist Ovids Beitrag zur augusteischen Kultur kaum zureichend beschrieben, wenn wir in ihm den Zivilisationsliteraten der Epoche zu erkennen meinen. Gewiss, das ist die erste Intuition, wenn man die Stellung des Dichters in der augusteischen Zeit zu fixieren versucht: Ovid, der Aufklärer, der die römi­ sche Kultur auf ihrem Gipfel nach allen ihren Seiten würdigen und angenehm und geschmackvoll (re)präsentieren kann. Er ist, soweit ich sehe, der erste, der die Dominanz des Griechischen nicht mehr drückend empfindet, sich mithin übertriebene Gesten der Nachfolge wie auch der Abwehr von Einflüssen sparen kann. Nicht dass er sich nicht mindestens so sehr wie all seine Vorgänger in hellenistischen Bahnen bewegte. Doch pflegt er ein entspanntes Verhältnis zur Tradition. Er ist der erste unter den uns überlieferten Autoren, der sich in der sogenannten Literaturge­schichte kaum anders als wir in der unseren bewegt. Aber, so meine Vermutung, er bewegt sich dort deshalb so unbefangen, weil sie nicht mehr der Schauplatz ist, auf dem die ganz großen Innovationen möglich sind. Das Fertige kann den impulsiven Neuerer nicht wirklich herausfordern. Aber welches sind die Herausforderungen, an denen ein Werk wie das Ovidische wachsen kann? An dieser Stelle sollten wir unseren Überblick über die dichterischen Exponenten der augusteischen Zeit vervollständigen. Noch haben wir nicht von den beiden einflussreichsten Autoren gesprochen, die das Augusteische der augusteischen Ära in der gewöhnlichen Wahrnehmung wie niemand sonst in der Literatur verkörpern: Vergil und Horaz.

1.7 Abstraktion und Sinnlichkeit Am Umgang mit ihnen sollte sich zeigen, welches die Stellung des ovidischen Œuvres in der augusteischen Ära ist. Doch fragen wir zunächst nach dem Beitrag

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I  Leben und biographische Kontexte

der beiden Klassiker zum Bild der Epoche! Fügen auch sie sich in die Prozesslogik der Auflösung der großen politischen und ästhetischen Konzepte ins Kleine und Feine? Man hat sich gewöhnt, hier auf den jungen Vergil und das Milieu des kampanischen Epikur(e)ismus (Philodem, Siron) zu verweisen und vor allem die frühen Dichtungen als den verlängerten Arm der Neoterik zu lesen. Aber nicht nur das offensichtlich Kleine wie die Kurzformen der Eklogen und Lehrgedichtsbücher (Georgica) verweigern die umstandslose Einordnung in die staatstragenden Diskurse, auch die Aeneis ist in ihren Kernaussagen in einer fast verstörenden Weise abstraktiv. Die Formeln der Kultur, die sie liefert (Küsten und Strände, Furchen und Mauern, Regeln und Riten), sind indessen sinnlich, aber sinnlich von der Art, dass wir uns nicht Gesichter und prägnante Handlungen einprägen, sondern nur die Registratur in Erinnerung bleibt. Radikale Abstraktion schafft eine neue Sinnlichkeit, eine Sinnlichkeit, die allem Konzeptualisieren vorausgeht und den Atem der Geschichte als solchen hörbar macht. Wo der Raum der Literatur als ein solches Bewegungsspiel der Verschiebung sinnlicher Elemente gedacht ist, ergibt ein Werkanfang wie der der ovidischen Metamorphosen ganz neuen Sinn: In nova fert animus bezeichnet dann den Aufbruch eines Willens (thymós), eines Atmens, eines Hauchs zu einem Neuen – Körper! Körperlich ist der animus, körperlich das Ziel, auf das sein ungestümes Treiben (oder Wehen) ausgeht. Was ihn bewegt, wird nicht gesagt und kann gar nicht ausgesagt werden, wenn es der Geist der Epoche ist (L ’esprit de l’époque), der hier treibt und treibt und treibt – als das Bewegungsgesetz einer neuen Literaturgeschichte. Vor allem anderen aber musste an Vergil dasjenige poetische Elementum faszinieren, das wir oben die ›Politik des Namens‹ genannt haben. Vergil ist besessen von der Vorstellung, in den zahllosen Szenen und Akten der Epiklese (Nomenklatur) die Gründungsakte, von denen er handelt, nachzustellen, zu rearrangieren. Und da nicht ernsthaft angenommen werden kann, es habe die vorbildlichen Szenen, die hier ›nachgeahmt‹ werden, wirklich gegeben, wird er in diesen Szenen zum eigentlichen Schöpfer eines Fundus historischer und politischer Annahmen und Aussagen. Es könnte in den für Vergil reicher als für alle anderen Zeitgenossen fließenden Scholien und anderen gelehrten Schriften nicht so herrlich über Details gestritten werden, wenn nicht die wirkliche Annahme im Raum stünde, hier habe sich einer an der Installation der Fundamente der Res Romana(e) versucht. So

kann, bei Lichte besehen, der Akt der Nomenklatur den Akt der Gründung vertreten, und man wird mit einigem Recht sagen dürfen, Vergil habe, gerade wie Homer und Hesiod den Griechen – nach dem Ausspruch des Herodot – ihre Götter, so den Römern ihre politische Philosophie gegeben – als sinnliche.

1.8 Politikzertrümmerung Das ist die eigentliche Leistung der augusteischen Dichtung, dass sie Politik nicht bloß – nach der banalisierenden Vorstellung mancher Literaturhistoriker – ›kritisiert‹, sondern dass sie Politik atomisiert, zergliedert, vergrundsätzlicht und rekomponiert zu den schönen Formeln, die man verschmähen oder auch genießen kann und die unser Bild von einer sklerotisch-anämischen Klassik in Teilen bis heute bestimmen. Dabei könnte man leicht bemerken, dass sich in diesen Formeln der Glutkern der gesamten für einen Römer jener Tage verfügbaren Überlieferung regte. Nicht anders bei Horaz: Sein Zugriff auf Politik und Geschichte unterscheidet sich nicht wesentlich von dem des Vergil. Das Spiel mit den Dämonen der geschichtlichen Zeit ist aber vielleicht noch weiter getrieben, wenn seine Formeln als die vollkommene (eben formale) Entsprechung der Angst und des Zeitgeists der Epoche daherkommen. Doch leuchtet in ihnen der irre Widerschein ihrer inneren Unwahrheit. Scheinbar geprägt, um die große Unruhe zu befrieden, entfernen sie sich doch weit von den Einbildungen der realen Politik, entkleiden sie der tagespolitisch motivierten Dringlichkeit, ihrer Funktionalität, und machen sie zu Segmenten einer potentiell neuen, revolutionären Ordnung. Wie solche Politikzertrümmerung gleichwohl konstruktiv und kulturstiftend erfahren werden könne, zeigt uns gerade Ovid, wenn er, unverschwiegen und indiskret, wie er sich zuweilen zu geben scheint, dazu verliebt in die eigene Mutwilligkeit, selbst uns den Schlüssel gibt zur Decodierung seiner politischen Poetik. Nicht, dass er – wie die moderne Erklärung gewollt hat – einfach ins plumpe Allegorisieren verfiele; das ist unter seinem Niveau. Doch während Horaz niemals Anlass nimmt, seine Coolness nicht nur zur Schau zu stellen, sondern auch noch zu kommentieren, sind Ovids Texte reich an Selbstkommentaren: ›Schaut nur, wie ich das mache!‹. Und doch lernt er von Horaz die Beiläufigkeit des poetischen Sprechens. Das berühmte parlando der sermones, diese Kunst, mögliche Themen zu zeigen und doch nie zu Ende zu führen, wirkt in die

1  Ovid im Kontext der augusteischen Zeit

Lehrdichtungen, die Ars Amatoria und die Fasten, hin­ über. Dort, wo Ordnung am nötigsten wäre, herrscht die anarchische Lust an der Zergliederung des Themas. Oder möchten wir uns vorstellen, man könnte nach dem ovidischen Kalender leben und nach seinen Unterweisungen in rebus eroticis lieben?

1.9 Lob der Abschweifung Das heißt alles nicht, dass eine gewisse Planlosigkeit die Dichtung im Zeitalter des Augustus erfasst habe. Sie hat sich die Manier des Abschweifens hart erarbeitet. Abschweifungen sind das markante Kennzeichen noch jeder verfeinerten Kultur gewesen. Man ergeht sich in den Domänen des Schönen wie in einem Garten, in dem der Blick bald hier-, bald dorthin fällt. Es ist die gelassene Verfügung über etwas, das man nicht wirklich nutzen muss, um es ganz zu besitzen. In einem solchen Umfeld ist man frei, die Welt und die Dinge der Welt neu zu fokussieren. Horaz ist der Meister der eigenwilligen Fokussierung. Die Schlüsse seiner Oden sind das berühmt-berüchtigte Beispiel für die überscharfe Pointierung eines oft grotesken Einzeldings, das sich der Erinnerung eingräbt, ohne doch gleich eine bestimmte Botschaft zu transportieren. Es ist der Ring am Finger der Liebsten (1, 9, 23–24), die flüchtige Bewegung des zum Kuss sich neigenden Nackens einer Schönen, die tanzend vorüberfliegt (vgl. 2, 12, 25 ff.), die Zunge des Hundes am Fuße des Gottes (2, 19, 31–32). Schlussbilder, die nichts abschließen als das schnelle Verständnis und seine Rubrizierung in einer verbosen Literaturgeschichte. Zeugt nicht auch die Metamorphosen-Poetik von einer solchen »Aufmerksamkeit auf das Kleinscheinende«? Säge (met. 8, 244– 246) und Zirkel (ebd., 247–249) haben hier so gut wie das Rebhuhn (met. 8, 252–259) ihren festen Platz. Diese Dichtung ist gerecht. Sie ist an allem gleichermaßen interessiert. In allem atmet ein gleicher Wille. Die augusteischen Dichter sind Flaneure in den Gärten ihrer eignen Phantasie. Aber diese Phantasie ist welthaltig. Sie lässt sich in beinahe allem auf die sinnliche Welt zurückführen. Auch die phantastischsten Kreationen bedienen sich aus dem Repertoire der bekannten Welt: Die monströs-chimärische Pferdevogelfischjungfrau der horazischen Ars Poetica (1–5) ist so gut wie die wundersamen Erscheinungen der Metamorphosen ein Konglomerat je für sich anerkannter Dinge der Welt. Man muss die Logik der dichterischen Erfindung verstehen, um den Esprit der Epoche zu begreifen. Es

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ist viel Zeit und Mühe darauf verwendet worden, auf dem Trümmerfeld der literarischen, inschriftlichen und monumentalen Überlieferung ein Bild von Rom zu schaffen, das seine Attraktivität und Exemplarität aus einem ausgeprägten transzendentalen Bewusstsein seiner Protagonisten bezieht. So entstand die Idee von der Roma Aeterna, der unbesieglichen Weltmacht, die – selbst nach ihrem realen Untergang – in den großen Rekonstruktionen des Mittelalters und der Moderne weiterleben sollte. Man las die einschlägigen ›Stellen‹ der großen Werke der augusteischen Literatur selbst dort, wo sie sich einem solchen Bauplan zu widersetzen schienen, wie zur Bestätigung der überlegenen Regie eines Weltgeistes, der in der augusteischen Ära das Musterbild der harmonischen Koexistenz der Kunst und der Macht erkennen wollte. Man überlas die Zeichen und Signale, die in eine ganz andere Richtung wiesen und die unhintergehbare Verbindung der vermeinten Bekenntnisse mit dem sinnlichen Material, aus dem sie schöpften und das sie formte, zur Anzeige brachten. Wie kann es sein, dass man nicht versteht, dass Dichtungen anders kommunizieren als bloße Bekenntnisgemeinschaften? In einem seiner schönsten Aphorismen beschreibt Roland Barthes die Struktur der schöpferischen Aufmerksamkeit wie folgt: »Ich bin nicht notwendig durch den Text der Lust gefesselt; es kann eine flüchtige, komplexe, unmerkliche, geistesabwesende Handlung sein: eine plötzliche Kopfbewegung, wie die eines Vogels, der nicht hört, was wir hören, der hört, was wir nicht hören« (Barthes 1974, 38).

1.10 Das Kraftfeld der augusteischen Literatur Es ist an der Zeit, unsere Beobachtungen zusammenzurücken und dasjenige zu benennen, was das Kraftfeld der augusteischen Literatur bestimmt. Die augusteischen Dichter mögen es nicht, wenn man sie auf Schauplätze und in Zeithorizonte (hinein) zieht, die sie nicht überblicken können (1), und sie möchten nicht, dass wir sie dabei beobachten, wie und wo sie die Mittel entwickeln, allen Einflüsterungen von außen zu widerstehen (2). Das gilt auch und gerade dann, wenn sie über ihr eigenes Nachleben sprechen. Als eine Metaphysik des Ruhms hat man darzustellen versucht, was in Wahrheit eher als ›Mikrophysik‹ der eigenen Dauer daherkommt. Zum Regime der Gelassenheit, der augusteischen ›sprezzatura‹, gehört, dass die Dichter selbst die Räume und das Zeitmaß bestimmen, nach dem sie sich

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I  Leben und biographische Kontexte

in ihnen bewegen. So ist Horaz nicht nur der Meister des parlando, der Abschweifung und der überraschenden Refokussierung, sondern auch der Meister der richtigen Schrittfolge. Mag sein, dass er an so etwas wie Roms ewige Dauer und – damit verbunden – den eignen unsterblichen Ruhm geglaubt hat. Aber er tat dies, indem er diesen Glauben mit etwas anderem, sehr Realem verband, mit dem Schritt des nur von der schweigenden Jungfrau begleiteten Priesters auf den steil emporführenden Stufen des Capitols: ... usque ego postera / crescam laude recens, dum Capitolium / scandet cum tacita virgine pontifex (carm. 3, 30, 7–9). Nota bene: An der vielleicht exponiertesten Stelle seines Oden-Werks knüpft Horaz die Fortdauer seiner carmina nicht einfach an die Fortdauer der römischen Weltherrschaft, sondern an den immer neuen Vollzug einer elementaren Schrittfolge: »solange der Priester mit der schweigenden Jungfrau das Kapitol besteigt«: »Trans-scandenz« statt »Trans-szendenz« (Schwindt 2005, 17). Ovid nun radikalisiert in met. 15, 871 ff. die die Herrschaftsideologie deemphatisierenden Gesten, wenn er die Unvergänglichkeit seines Ruhms nicht mehr an den Fortbestand des real existierenden römischen Herrschaftsraums bindet (quaque patet domitis Romana potentia terris, »soweit sich Römische Macht nach Unterwerfung der Erde erstreckt«), sondern – in einem merkwürdigen Zirkelschluss – lieber auf die Kraft dichterischer Seherworte vertraut: Sein Überdauern denkt er so materiell (und körperlich) wie möglich: ore legar populi (»vom/im Munde des Volkes werde ich gelesen werden«).

1.11 Das Denken der Schrift und der horror vacui Neueste Untersuchungen zur Konstitution von Ordnungs- und Zeichenbegriffen in zentralen lateinischen Texten der späten Republik und der frühen Kaiserzeit haben in Umrissen ein Denken der Materialität erkennen lassen, das von den kleinsten Elementen der Sprache, den Buchstaben und Silben, ausgehend zuletzt auch den großen Bauplan der Werke prägt. Es spricht vieles dafür, dass die materiale Verfassung der Werke in der Reflexion auf diese nicht überwunden wird, sondern als eine condicio sine qua non auch in den makrostrukturellen Sinnverfertigungsprozeduren fortbesteht. Es zeichnet sich ab, dass sich die Geschichte der augusteischen Literatur neu schreiben lässt – und zwar als eine Folge von Werken, die die Welt der frühen Kai-

serzeit in einem (material konfigurierten) Denkmodus zur Darstellung gebracht haben, der den Ideen und Ideologien, die den Werken gemeinhin zugeschrieben werden, einigermaßen inkommensurabel ist. Die unhintergehbare materiale condicio der augusteischen Schriftkultur ist das ›Gegengift‹ gegen die allenthalben verfügbare metaphysische Rede. Zwar sprechen die Texte ganz offensichtlich in ihre Gegenwart hin­ein und leisten, auch wo sie auf ihrer Schrift- und Zeichenhaftigkeit bestehen, ihren Beitrag zur ›kulturellen Atmosphäre‹. Sie tun dies freilich in einer Sprache, deren elementare Disposition und materiale Widerständigkeit mit der umgebenden Welt suggestiver Deutungsangebote zunächst nicht zu verrechnen ist. Das Insistieren auf der Buchstäblichkeit des literarischen Sinns hat mit der Bannung eines horror vacui zu tun, der ausweislich zahlreicher Testimonien auch im Kern des römischen Machtzentrums fest verankert ist: Den raumgreifenden Operationen und metaphysischen Zeitvorstellungen des Prinzipats setzt die kontemporäre Literatur den Ordnungs- und Behauptungswillen des schriftgebundenen, diakritischen Individuums entgegen. Das aber ist die vielleicht bedeutendste Leistung der augusteischen Literatur, dass sie ein Modell der Welterschließung und Weltbeherrschung entwickelt hat, das gegenüber dem manifest politischen des ›Augustus‹ den Vorzug hat, den sinnlichen Reichtum der Erde nicht kleinreden zu müssen, um den Anspruch auf ›Ewigkeit‹ geltend machen zu können. Die Stärke mancher Texte der augusteischen Ära liegt darin, dass sie die schönsten Erwartungen ihrer ›Auftraggeber‹ erfüllen können, ohne doch den eigenen Anspruch auf Autonomie dementieren oder gar verraten zu müssen. Nein, hier geht es nicht um die strategische Opportunität des sogenannten Kippeffekts, der bald den Hasen, bald die Ente zeigt. Das Verfahren ist gerade nicht trügerisch. Es bezieht seine Wahrheit daraus, dass es epistemisch die Stelle der Kritik versieht, die Scheidelinie zwischen Wahrheit und Trug. So wenig wir die Politik nur nach ihrer literarischen Abschilderung als Politik auffassen dürfen, so wenig attraktiv ist es, die Literatur nur als den Gegenpol der Politik zu betrachten. Zumindest die Literatur erlaubt mehr. Sie ist der Ort, an dem wir ein Zeitalter epistemisch wiederherstellen können. An und in ihren Denkfiguren und Denkbildern erkennen wir die komplexesten Fragen und Probleme der Zeit. Bleibt noch eine Sache zu erklären übrig: Es steht die Behauptung im Raum, die augusteischen Dichter liebten es nicht, wenn man ihnen dabei zusähe, wie

1  Ovid im Kontext der augusteischen Zeit

und wo sie die Mittel entwickelten, allen Einflüsterungen von außen zu widerstehen. Dabei liegt es eigentlich offen zutage – das Geheimnis des Erfolges dieses Denkens, dieser Texte, dieser Literatur. Wenn es die Literaturgeschichte selbst nicht ist, der diese Autoren ihr Bestes anvertraut haben, so können wir es doch ihren Texten entnehmen: Es ist die Art und Weise, wie sie dem Tode begegnen.

1.12 Die Geschichte des Todes Alle hier behandelten Autoren (und da dürfen wir die beiden dunklen Lichtgestalten der späten Republik, Lukrez und Catull, hinzuzählen) denken ihre Dinge und ihre Gedanken vom Ende her. Und manchmal auch auf das Ende hin. Der Tod steht im Zentrum der Catullischen Poetik. Die Erfahrung des immer möglichen, immer nahen Endes prägt vor allem die ›autobiographischen‹ Epigramme. Besonders carmen 68 liest sich wie ein zum Strukturbild gewordenes poetisches Psychogramm: Um das Ereignis des Todes des Bruders, der in der mythischen Troas begraben liegt, legt sich – wie in Schalen – ein ganzes Werk. Vom Tode her denkt, zum Tode drängt auch Lukrez. Das heiße Streben nach Überwindung der Todesfurcht führt doch nicht dahin, dass das Werk De rerum natura an seinem Ende nicht in düsteren Bildern eines allgegenwärtigen schwarzen Todes, der Athenischen Pest, versänke. In meisterhaften Strichen (be)zeichnet Tibull im Hintergrund seiner elegischen Welt die dunklen Antriebe seines Schreibens (2, 1, 87–90): Ludite: iam Nox iungit equos currumque sequuntur Matris lascivo sidera fulva choro, Postque venit tacitus furvis circumdatus alis Somnus et incerto Somnia nigra pede.

Noch während die »muntere Schar« (turba iocosa, 85) auf dem ländlichen Fest (das das zweite Buch der tibullischen Elegien eröffnet) die unheimliche Anrufung des Cupido mit orgiastischen Flötenklängen zu übertönen sucht (obstrepit, 86), »spannt die Nacht die Pferde an; es folgen dem Wagen der Mutter in liebestollem Reigen die goldnen Sterne, und dann kommt schweigend, in schwarze Schwingen gehüllt, der Schlaf, und dunkle Träume nahen sich unsicheren Schritts«. Spätestens mit Properz ist der Punkt erreicht, wo der Tod zum Konstruktionspunkt der elegischen Dichtung wird. Er steht nicht am Ende, sondern am

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Anfang eines Werkes, das aus dem Staub der Ebene von Perugia (der den gefallenen Verwandten nicht bedecken will) sich aufbaut. Die Ideengeschichte der ungeschriebenen Gesetze der Erde (ágraphoi nómoi), hier erfährt sie eine noch gar nicht bemerkte Korrektur: Keine staatliche Macht (Kreon) wehrt die Bestattung des Toten. Es ist die pulvis Etrusca, die das Gesetz nicht vollziehen will. Der aufbegehrende Staub aber gibt in der Verweigerung die Klage des Dichters frei, der sich als Abkömmling der umbrischen Erde erkennt und aus der Tragik der verwehrten Bestattung das Prinzip seiner eigenen Dichtung gewinnt. Sie wird sich hinfort in der Ruhelosigkeit der Zone bewegen, die das Leben vom Reich des Todes trennt. Die Überlebenden zeichnen ihr Leben in den satten erdigen Farben eines furchtbar-fruchtbaren (Leichen)Feldes, auf dem Leben und Tod nur zwei verschiedene Aggregatszustände ein und desselben Willen sind: zu überdauern. Wer den Tod so an-, nein hineinnimmt in seine zuletzt vitalistische Philosophie (quare, dum licet, inter nos laetemur amantes: / non satis est ullo tempore longus amor, 1, 19, 25 f.), mag unverzagt in den Kahn des Charon steigen. Horaz lässt nur wenige Jahre später ein ›Buch des Todes‹ erscheinen: das zweite Buch der Oden, im dem er an einer Stelle (2, 13) den Abstieg zu den Schatten der Unterwelt imaginiert. Im knapp vermiedenen Tode versichert er sich der Wurzeln seiner poetischen Inspiration, wenn er die Bilder von den im Hades weilenden großen lesbischen Dichtern, Sappho und Alkaios, evoziert, wie sie, dicht umstanden von den hingebungsvoll lauschenden Schatten, ihre Lieder singen. Auch Vergil ist fasziniert von den Produktivkräften des funestischen Denkens. In der Unterwelt kommen ihm die verrücktesten Dinge ins Lot. Hier ordnet sich, was in den Irrungen und Wirrungen des irdischen Lebens heillos durcheinander geraten war.

1.13 Die definitive Literatur Überall konnte Ovid dichteste Anregung erfahren, wie auf die größte Herausforderung, die unausweichliche Macht des Todes, zu reagieren war. Wenn, wie wir schon oben vermuteten, richtig ist, dass er die überlieferte und kontemporäre Literaturgeschichte in ein Bewegungsspiel verwandelt, in dem man sich unterhalb anerkannter literaturhistorischer Konventionen mit den enormen Kraftströmen eines Schreibens der Erde, der Untererde, der Haut und der Grenze versorgen konnte, dann werden wir nur mäßig über-

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I  Leben und biographische Kontexte

rascht sein, wenn wir in den hinterlassenen Werken divergierende Antworten finden. Neben all den Toden, die gestorben werden, um die Medien und Instrumente der Kunst zu kreieren, gibt es die erratischen Bilder eines scheinbar sinnfreien Todes. Im Werk des Ovid vertreten sie die Stelle von etwas, das wir heute ›Stolpersteine‹ nennen. Es sind Anstöße, die sich nicht in die ratio des Werkes noch der Epoche fügen. Töricht wäre es, sie um jeden Preis integrieren zu wollen. Dagegen wäre schon viel gewonnen, wenn die loci desperati dieser Dichtung nur einmal alle erkannt und verzeichnet würden. Manchmal braucht es Jahrhunderte, bis ihr ›tieferer‹ Sinn ans Licht kommen kann. Das bedeutet nicht, dass es für all das Unverstandene ein einstweilen verborgenes Telos gäbe, das sich früher oder später, wenn nur lange genug an den Texten gewerkelt wäre, wie zum Lohn für den schweißtreibenden Einsatz der grammatici enthüllte. Es bedeutet nur, dass das, was tief genug gedacht (und gemacht) ist, irgendwann einmal ganz von selbst in eine Zeit hinein sprechen und wirken wird. Wenn Actaeon im Fell des Hirschs untergeht, ist daraus zunächst, so scheint es, keine andere Lehre zu ziehen, als dass der Zorn der Götter unberechenbar ist. Der Text spricht es so aus. Er weiß um die Problematik des sinnlosen Sterbens und schafft sogar – dieses eine Mal – ein instantanes Gericht, vor dem über Sinn und Unsinn der causa Actaeon verhandelt wird. Aber schon mit Ovid selbst beginnt die ganz erstaunliche Wende des Falls, wenn gerade Actaeon, der sperrig(st)e Mythos, zur Chiffre seines eigenen Verhängnisses werden kann. Es ist der Mythos vom Untergang des großen Jägers, der die Autor- und Zeugenschaft seines größten Erzählers wie nichts anderes im Werk des Ovid zur Anzeige bringen kann. Mit einem Mal ist es der Mythos des ipse vidi (der es in den Metamorphosen [noch?] nicht war). Mit dem Tod des Actaeon wird der Mythos der ›Autorschaft‹ geboren. Viel zu lange hat man nur über die trennscharfe Scheidung von Fiktion und Realität gesprochen. Für das Verständnis des Ovid und seiner Epoche kommt es nicht darauf an, hierauf die Antwort zu wissen. Worauf es ankommt,

ist, dass wir realisieren, dass es im Ausgang der augusteischen Ära einem ›Autor‹ gelungen ist, eine Sprache zu finden für das Ereignis der Verschmelzung von Leben und Kunst. Hier hat einer das Wagnis begonnen, die condicio seines Werks und seiner Figuren auf sich zu nehmen, mit und in ihnen zu leben und in ihnen vor aller Augen unterzugehen. Das ist keine Allegorie (Literaturwissenschaft soll nicht beschwichtigen, sondern darf in die Wunde[n] fassen). Es ist mehr, als Literaturgeschichte sagen kann. »Ovid ist ein Ereignis.« Literatur

Barchiesi, Alessandro: Il poeta e il principe: Ovidio e il discorso augusteo. Rom/Bari 1993. Barthes, Roland: Die Lust am Text. Aus dem Frz. von Traugott König. Frankfurt a. M. 1974. Horatius, Q. Flaccus: Opera. Ed. D. R. Shackleton Bailey. Stuttgart 1985. Lucretius Carus, T.: De Rerum Natura Libri Sex. Edited with Prolegomena, Text and Critical Apparatus, Translation, and Commentary by Cyril Bailey. 3 Bde. Oxford 1947. Noller, Eva Marie: Die Ordnung der Welt. Darstellungsformen von Dynamik, Statik und Emergenz in Lukrez’ ›De Rerum Natura‹. Heidelberg 2019. Ovidius Naso, P.: Metamorphoses. Recognovit brevique adnotatione critica instruxit R. J. Tarrant. Oxford 2004. Propertius: Elegiarum libri IV. Ed. P. Fedeli. Stuttgart/Leipzig 1994. Properz und Tibull: Liebeselegien. Lateinisch und deutsch. Neu hrsg. und übers. von Georg Luck. Zürich/Stuttgart 1964. Schwindt, Jürgen Paul: Zeiten und Räume in augusteischer Dichtung. In: Ders. (Hrsg.): La représentation du temps dans la poésie augustéenne. Zur Poetik der Zeit in augusteischer Dichtung. Heidelberg 2005, 1–18. Schwindt, Jürgen Paul: Der Sound der Macht. Zur onomatopoetischen Konstruktion des Mythos im Zeitalter des Augustus. In: Mario Labate/Gianpiero Rosati (Hrsg.): La costruzione del mito augusteo. Heidelberg 2013, 69–88. Suetonius Tranquillus, C.: Die Kaiserviten/De vita Caesarum. Berühmte Männer/De viris illustribus. Lateinischdeutsch. Herausgegeben und übers. von Hans Martinet [1997]. Düsseldorf/Zürich ²2000. Tibullus u. a.: Carmina. Ed. Georg Luck [1988]. Stuttgart/ Leipzig ²1998.

Jürgen Paul Schwindt

2  Die Autobiographie Ovids

2 Die Autobiographie Ovids 2.1 Entstehung und Überlieferung Informationen über Ovids Leben beziehen wir fast ausschließlich aus seinen Texten. Wo er über sich selbst spricht, bevorzugt er seinen Beinamen Naso. Eine ausführliche Autobiographie bietet die zehnte Elegie des vierten Buchs der Tristien. Die Tristien (»Trau­ er­elegien«; s. Kap. 17) umfassen fünf Bücher mit insgesamt 50 Elegien und sind, wie auch Epistulae ex Ponto, Ibis und Halieutica, wahrscheinlich im Exil des Dichters am Schwarzen Meer (zum Teil auf seiner Reise dorthin) entstanden. Nimmt man Ovids Angaben zum Exil wörtlich, so dürfte Trist. 4, 10 zwischen 8 und 12 n. Chr. verschriftlicht worden sein. Die Stellung der autobiographischen Elegie am Ende von Buch 4 hat manchen zu der Annahme verleitet, diese sei ursprünglich als letztes Stück eines auf vier Bücher angelegten Tristien-Werkes vorgesehen gewesen. Das fünfte Buch wäre dieser Theorie zufolge nachträglich als eine Art Sammlung von Überschüssigem beigefügt worden. Überliefert sind die Tristien insgesamt gut; aus dem 11. Jahrhundert besitzen wir den codex Laurentianus (vorher Marcianus) und zwei weitere Gruppen von Handschriften. Für den Entstehungsprozess von 4, 10 ist die Exilsituation von einschneidender Bedeutung. Im Jahre 8 n. Chr. soll Ovid auf Befehl des Augustus nach Tomis (das heutige rumänische Constanţa) verbannt worden sein. Seine Rückberufung konnte er trotz zahlreicher literarischer Versuche weder bei Augustus noch bei dessen Nachfolger Tiberius erwirken, so dass er bis zu seinem Tode im Jahre 17 (oder 18) n. Chr. dort zu verbleiben hatte. Tatsächlich dürfte es sich um die weniger drastische Form der relegatio (»Verweisung«) gehandelt haben, die weder Vermögen noch Bürgerrecht des Autors antastete (vgl. Walde 2010). Auch publizieren durfte er weiterhin. Über die näheren Umstände dieses Exils ist viel spekuliert worden; Ovids Informationen sind dezidiert literarisch-rhetorischen Charakters und in ihrer dokumentarischen Qualität fragwürdig (vgl. Hofmann 2001). Das von ihm als Verbannungsgrund angeführte carmen (»Gedicht«) scheint auf die Ars amatoria abzuzielen, deren erotischer Lehrinhalt Augustus moralisch empört haben soll. Doch wäre seine Reaktion verspätet gekommen; warum der Kaiser seine Kritik mehrere Jahre lang unterdrückt haben sollte, bleibt ungeklärt. Der zweite von Ovid ins Feld geführte Grund, ein error (»Fehler«), hat für noch mehr Ver-

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wirrung gesorgt: Ein Teil der Ovid-Forschung rekonstruiert aus seinen Anspielungen (cur aliquid vidi? / »Warum musste ich etwas sehen?«, trist. 2, 103), er müsse in ein Ränkespiel des Kaiserhauses verwickelt und, vielleicht unfreiwillig, in eine intrikate Situation geraten sein. Der Text begnügt sich in dieser Frage mit Andeutungen. Doch führt er dem Leser eindringlich vor Augen, wie sich das Leben des Naso im Exil gestaltet. Der exclusus amator (»ausgeschlossene Liebhaber«) aus seinen früheren Dichtungen (s. Kap. 9) wird zu einem exclusus poeta übersteigert, der seine poetische Identität aus diesem Exil heraus zu rekonstruieren versucht (vgl. Bretzigheimer 1991; Claassen 2008). Der gewaltsamen Entrückung begegnet das Ich im Text mit dem Entwurf eines verletzlichen, aber nicht zerstörbaren poetischen Lebens. Die künstlerische Einheit wird gegen den provozierten Bruch in der historischen Biographie in Stellung gebracht. Ob der Leser die Kongruenz von Fakten und Fiktionen im Einzelnen für wahrscheinlich hält, bleibt ihm selbst überlassen. Überhaupt bindet Ovid den Leser als dritte Instanz im Komplementärverhältnis Autor – Text konsequent ins poetologische Geschehen mit ein. Mit seinen Versuchen, sein beschädigtes Renommee wiederherzustellen, knüpft er an die apologetische Tradition der Autobiographie an, wie sie vor allem in historiographischen Texten üblich war. Folglich ist Ovid im gesamten Exilwerk auf der Suche nach Adressaten, die seine Bedeutung verbürgen und mit denen er eine Art »autobiographischen Pakt[s]« (Lejeune 1975) eingehen kann.

2.2 Werkbeschreibung Die Elegie bietet eine an den Leser adressierte Vorrede (Proömium) und einen entsprechenden Abschluss (conclusio). Der Hauptteil der mit 132 Versen recht umfänglichen Autobiographie lässt sich in zwei etwa gleichstarke Teile untergliedern: Im ersten (V. 3–64) führt uns der Sprecher ausführlich seine frühe dichterische Berufung und seine Abkehr von der vorgezeichneten politischen Laufbahn vor Augen, während in der zweiten Hälfte (V. 67–130) der Fokus auf der Schilderung der öffentlichen personae (»Masken«) Nasos liegt (als Ehemann, Sohn und Vater, als Exilierter, vor allem aber als erfolgreicher Dichter; vgl. Paratore 1958; Hallett 2003). Zwischen Kunst und Leben wird dabei scharf getrennt (vgl. Möller 2016). Im ersten Teil schließt Ovid eng an die bereits

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_2

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etablierte Tradition des biographischen Genres an und führt sukzessive Heimat, Stand, Familienverhältnisse und seinen Geburtstag am 20. März 43 v. Chr. im mittelitalischen Sulmo auf (V. 3–14). Die elterlichen Investitionen in politische Ausbildung und Karriere scheinen sich bei beiden Söhnen nicht rentiert zu haben: Während der Ovid nach eigenem Bekunden sehr nahestehende, nur um ein Jahr ältere Bruder zwar politisch begabt war, aber früh verstarb, hat der jüngere sich bereits im zarten Alter von 20 Jahren zu einem Rückzug vom Forum ins otium entschlossen, um sich ganz der Kultivierung seiner dichterischen Begabung zu widmen (V. 15–40). Seine adlige Herkunft war ihm dabei von großem Nutzen; finanziell war er unabhängig, so dass er sich auch in Rom rasch eine Existenz aufbauen und Kontakte zu wichtigen Agenten des römischen Kulturbetriebs knüpfen konnte, darunter zum Kunstförderer M. Valerius Messalla Corvinus, mit dem auch Tibull verkehrte. Einen knappen Überblick über seine Weggefährten reichert Ovid mit der Beschreibung seiner eigenen Erfolge an (V. 41–64). Im zweiten Teil legt Ovid das Augenmerk auf seine moralische Integrität als römischer Bürger und pater familias im von Augustus favorisierten konventionellen Sinne (V. 65–80). Seine private Liebesgeschichte ist folglich rasch erzählt: drei Ehen, wovon nur die letzte und noch aktuelle den Namen verdiene. Eine seiner beiden Töchter scheint ihn früh zum Großvater gemacht zu haben. Mit dieser nüchternen Darstellung kontrastieren Ovids erotische Dichtungen, an die er kurz zuvor ausdrücklich erinnert, und als deren Autor er sich zu Beginn der Elegie vorstellt: Auch innerhalb der Geschichte seines Selbst, auf werkimmanenter Ebene, schlüpft Ovid in verschiedene Rollen. Die Eloge auf seine Eltern, die vor seiner öffentlichen Stigmatisierung sterben und von dieser unberührt bleiben, dient als Ausweis seiner eigenen Unschuld. Sie gipfelt in einem fingierten Gerichtsverfahren, das an die von Platon verfasste Apologie des Sokrates erinnern soll (V. 81– 90). Aus dieser Situation heraus wendet sich der Sprecher wieder der Gegenwart zu, seiner Leidenszeit im ungeliebten Exil (V. 91–110), in welcher ihm die Dichtkunst zur ultima ratio wird. Dass er die besten Gründe hat, sich ihr dauerhaft und einschränkungslos zuzuwenden, sollen seine Erfolge belegen; allein die Poesie bietet die Perspektive auf die eigene Unsterblichkeit (V. 111–132). Mit einem vergleichbar eindrucksvollen Schlussakkord endigen auch die Metamorphosen und trist. 3, 7.

2.3 Analyse Trist. 4, 10 ist erkennbar an herkömmlichen Gattungskriterien orientiert: Dazu gehören in der Antike eine deutliche Publikationsabsicht, die Hinwendung zu einem Adressaten, die retrospektive Ausrichtung in einer relativen Chronologie, die Wahl der Ich-Perspektive (die aus Gründen der Objektivierung auch mit der dritten Person variieren kann) und der Gestus der Rechtfertigung. Zudem steht der Text in der lange bewährten Tradition der »Sphragis« (»Siegel« bzw. »copyright«): Der Verfasser besiegelt seine Urheberschaft durch seine persönliche Handschrift (so schon bei Homer und Hesiod oder Theognis; im Hellenismus bes. bei Kallimachos, Theokrit und Apollonios von Rhodos; vgl. Kranz 1961, 3–46; Spahlinger 1996, 27–50). Unter den Römern sind es neben Vergil besonders Ennius, Properz (1, 22) und Horaz (carm. 3, 30 und epist. 1, 20), an deren poetische Autorisierungsverfahren Ovid in mehreren seiner Werke anschließt. Schon seinem eigenen literarischen Debüt stellt Ovid seinen Beinamen Naso voran (am. 1, 1; vgl. auch 3, 15). In Trist. 4, 10 überlagern Versiegelungstechnik und Gattungskonvention einander. Im Zuge der Gattungskreuzung (s. Kap. 8), einem besonders bei Ovid beliebten, da eindeutige Zuschreibungen unterlaufenden Verfahren, werden in das Auftaktdistichon noch Elemente des Grabepigramms hineingeblendet: ille ego qui fuerim, tenerorum lusor amorum, quem legis, ut noris, accipe posteritas (»wer ich gewesen bin, der Dichter zärtlicher Liebesspiele, / den du liest, vernimm, Nachwelt, damit du es weißt«; vgl. dazu trist. 3, 3).

Im Gespräch nicht nur mit einem Leser, sondern mit der gesamten Nachwelt trägt der Text dafür Sorge, dass sein Verfasser in aller Munde bleibt. Mit großer Eindringlichkeit führt die Juxtaposition der Pronomina ille ego die Spannung zwischen einer ungebrochenen Autoridentität und der als neu vorgestellten biographischen Situation vor Augen. Die Rezeptionssteuerung ist als zeitloser Dialog gestaltet. Bisweilen nehmen die Steuerungsversuche die Form einer Metalepse an, insofern die Ebenen zwischen histoire und narration vermengt werden, so dass es den Anschein hat, als fielen Erzählzeit und erzählte Zeit ineins, und als könnten die Leser das erzählte Geschehen (Ovids Exilsituation) mitgestalten.

2  Die Autobiographie Ovids

Von Beginn der Selbstdarstellung an wird Bescheidenheitstopik souverän mit Selbstbewusstsein kombiniert. Ovids attraktive Herkunft aus dem Ritterstand ist keinem Zufall geschuldet, sondern verdankt sich solider Tradition. Vor dem Hintergrund dieser stabilen Basis tritt die früh ausgeprägte künstlerische Begabung umso deutlicher hervor: Anders als sein Bruder steht Ovid im Banne des musenbewohnten Helikon, womit er zunächst den Widerspruch des Vaters herausfordert. Mit dieser Stilisierung als enfant terrible schafft Ovid seinem aufsteigenden Stern eine hinreichend unkonventionelle Künstleraura. Intensiviert wird diese durch die Sphäre der Heimlichkeit, die seinen Musenkontakt umgibt, wobei die Muse als Anstifterin vorgeführt wird, als deren Opfer sich der Dichter inszeniert (V. 19). Er wird nolens, volens Teil des poetischen Kosmos: Während er als gehorsamer Sohn versucht, die Familientradition zu wahren, ist er dem Automatismus seines Dichtertums gleichsam ausgeliefert; sprichwörtlich die elegante Ironie, mit der er seine »vorgeführte« Neurose beschreibt (V. 25–26): sponte sua carmen numeros veniebat ad aptos, et quod temptabam scribere versus erat (»aus eigenem Antrieb fügte sich mein Gedicht ins passende Versmaß, und was ich zu schreiben versuchte, wurde zum Vers«).

Seine Entwicklung als Dichter (V. 15–40) wird flankiert von der Aufzählung einiger Vorbilder und Weggefährten (V. 41–64): Aemilius Macer hat ihn als Autor dreier verlorener Lehrgedichte über Vögel, Schlangenbisse und Heilkräuter (Ornithogoneia, Theriaka, De herbis), die von großem Einfluss auf die Metamorphosen waren, in die Kunst des hellenistischen Lehrgedichts eingeführt; von Ponticus, dem Verfasser einer epischen Thebais, und dem Jambiker Bassus weiß man heute kaum mehr als die Namen; Horazens Ausonia lyra, die Meisterschaft seiner ausonischen, d. h. römischitalischen Verskunst, wird für ihre Formenvielfalt gepriesen. Das auf den lautmalerischen Effekt konzentrierte Vergilium vidi tantum (»Vergil habe ich nur gesehen«, V. 51) zeigt an, dass er den großen Epiker des Augustus bloß aus der Distanz wahrgenommen hat. Cornelius Gallus wird nur erwähnt, Properz als eine Art elegischen Bündnispartners vorgestellt. Die Erinnerung an Tibull, dem Ovid mit Amores 3, 9 ein zauberhaftes Epitaph (d. h. – in diesem Fall – eine poetische »Grabrede«) gewidmet hatte, weitet den Blick ins

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Kontrafaktische, des ›was-wäre-gewesen,-wenn‹: Dessen früher Tod, so hadert Ovid mit dem geizigen Schicksal (avara fata), habe ihm die Möglichkeit der Freundschaft genommen. Alle Dichter, gegenwärtig, gewesen und künftig, verbleiben als Figuren auf der Bühne des Regisseurs Ovid. In der anspruchsvollen Umgebung etablierter Elegiker nimmt er entschieden den von ihm selbst gewählten Platz ein (V. 54): quartus ab his serie temporis ipse fui (»ich selbst bin in der Zeitenfolge von diesen der vierte gewesen«). Er ist der Höhe- und zugleich Endpunkt der sogenannten ›augusteischen Klassik‹. Doch fließen in diesen Zusammenhang auch Selbstkritik und destruktive Absichten ein: Gleich zweimal will Ovid einen Teil seines Werks verbrannt haben, darunter auch die Metamorphosen. Doch hat die imaginierte Brandkatastrophe bereits zu Ovids Zeiten ein topisches Gepräge, wie u. a. die Gerüchte um Vergils Testament und die darin angeblich verbürgten Anweisungen an seine Editoren Varius und Tucca, die Aeneis zu verbrennen, verraten. Auch über die Objekte der Dichtung äußert sich Ovid in seiner Rückschau (V. 53–64). Die Protagonistin der Amores, seine Corinna, die ohnehin schon blass und schemenhaft geblieben war, bezeichnet er explizit als erfunden bzw. verfremdet (V. 60): ein auf das Zentrum seiner erotischen Dichtung abzielendes Fiktionsbekenntnis. Doch dient dieses Eingeständnis zugleich als Folie dafür, die Leiden des Exils als authentisch erscheinen zu lassen – so authentisch, wie es unter diesen Bedingungen möglich ist: Immer wieder lässt Ovid Naso die ›Echtheit‹ des Erlebten betonen, vor allem im Vergleich mit den epischen Abenteuern des Vorzeigehelden Odysseus (vgl. trist. 1, 5, 79–80). Über die Lebenswelt des Dichters, dessen Literatur man verschlang, fabulierte man angeblich nicht (nomine sub nostro fabula nulla fuit: »mit meinem Namen war kein Gerücht verbunden«, V. 68). Da dem Kaiser das nicht einzuleuchten schien, macht Ovid die vorgebliche, seiner Kunst zuwiderlaufende Banalität und Integrität seines Lebens nochmals überdeutlich (V. 65–80; V. 81–90). Die Grenzen seiner Argumente bleiben durchlässig, wie nicht zuletzt Ovids Vorliebe für Klang- oder Wortspiele zeigt: Wo crimina sein könnten, brechen sich stets auch carmina ihre Bahn (vgl. amor und arma bzw. Roma als Palindrom). Es gibt für alles eine sprachpoetische Lösung. Diese geht bei Ovid nicht selten mit rhetorischen und juristischen Termini einher: Eine Häufung findet sich in 4, 10 ab Vers 89 (scire, causam, scelus, error etc.). Wie meistens bleiben die errores unbe-

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stimmt: Die bei Ovid ebenfalls beliebte praeteritio (»Auslassung«) spielt auf etwas angeblich allzu Bekanntes an, das dem zumal späteren Leser erst recht Rätsel aufgeben muss (V. 99: causa meae cunctis nimium quoque nota ruinae: »Der Grund für meinen Niedergang ist auch allen allzu bekannt«). Der Dialog mit dem Leser wird durch den Rekurs auf die aktuelle Leidenszeit im Exil verlebendigt (V. 91–110): Vor ihm, dem Leser, beklagt sich Naso über Tomis mit den üblichen, bereits in anderen Elegien entfalteten Klischees bezüglich des vorherrschenden »rauhen« Klimas (asperitas loci), der Kultur- und Phantasielosigkeit, die der Sprache der Kunst so wenig zugetan sei. Dass ihm das Exil nicht zur Heimat werden sollte, hatte sich bereits von Beginn an offenbart. Umso wirkungsvoller der therapeutische Effekt seiner Dichtkunst, die ihm in der zeiträumlichen Distanz als Lebenselixier dient: Sie spendet Trost, in ihr findet er seine ›authentische‹ Existenzform (vgl. Stroh 1981; Doblhofer 1987). Sein Verhältnis zu den Musen gestaltet sich laut eigener Aussage ebenso facettenreich wie kompliziert. Er bleibt ihnen zu Dank verpflichtet (V. 117, gratia, Musa, tibi); wie groß ihre Beteiligung an seinem Erfolg ist, lässt er offen: Dieser ist allerdings immens, eignet ihm doch bereits zu Lebzeiten eine Ausnahmestellung (V. 121–122; die Angemessenheit dieser Selbsteinschätzung belegen Inschriften). Dieser Ruhm steht zwar von Beginn an im Zeichen des Neids (V. 123–124), doch hat dieser noch keinen bleibenden Schaden anzurichten vermocht. Auch die Zeit, als engste Freundin des Vergessens die größte Feindin des Dichters, konnte seinem Werk noch nichts anhaben. Am Ende steht, wie so oft, der Anspruch auf eine langfristige Sicherung des einmal erworbenen Ruhms über zeitliche und räumliche Grenzen hinweg: Für seine nachhaltige Wirksamkeit sorgt Ovid, indem er sich in einem Gestus rhetorischer Bescheidenheit wieder der Gunst des Lesers unterstellt (131–32): sive favore tuli, sive hanc ego carmine famam, iure tibi grates, candide lector ago (»ob ich durch Gunst oder durch meine Dichtung diesen Ruhm erlangt habe, mit Recht sage ich dir, lieber Leser, Dank«).

Für einen Moment wenigstens darf sich dieser als ein Teilhaber an Ovids Autobiographie – genauer: der Naso-Biographie Ovids – fühlen.

2.4 Rezeption in der Antike Auf Ovids Autobiographie wird in der Antike nur selten explizit Bezug genommen. Ihr Inhalt scheint gleichwohl bekannt zu sein, vor allem, sofern es die zum Exil gemachten Angaben betrifft. Gern wird in diesem Zusammenhang über die Gründe spekuliert (Aurelius Victor, epit. de Caes. 1, 24, hält das Exil für eine Folge der Ars amatoria, Sidonius Apollinaris, carm. 23, 158, zieht ein Verhältnis Ovids zu Kaiserenkelin Julia in Erwägung). Konkretere Referenzen auf Ovids Autobiographie oder auf mit dieser in engem Zusammenhang stehende Texte aus dem Exil (v. a. trist. 2, 353–356; trist. 3, 2) kreisen um Ovids Beharren auf einer strikten Trennung von Fakt und Fiktion, von Kunst und Leben, die wiederum an das 16. Gedicht aus der Sammlung Catulls anschließt. Konsequent beruft sich auf diese Tradition, wer in eine vergleichbare apologetische Situation geraten ist (z. B. Martial 1, 4; Plinius, epist. 4, 14, 3–6; Apuleius, apol. 11; Hadrian frg. 2, p. 136 Morel). Im Gegensatz etwa zu Vergil, der sich schriftlich nicht über seine Vita äußerte und so zum begehrten Objekt der Legendenbildung wurde, hat Ovid vorgesorgt und selbst gestaltet. Darüber hinaus mag seine starke Fokussierung auf poetologische und ästhetische Aspekte zu einer gewissen Zurückhaltung der Vitenschreiber geführt haben, zumal über die von Ovid selbst angekurbelten Gerüchte hinaus (vgl. Schanz/Hosius 1980, 207). Stoff hätte sein Leben, wie er es schildert, immerhin reichlich hergegeben. Vielleicht ist die gleichsam authentische ›Künstlichkeit seiner Kunst‹ bis zum schwerfälligsten antiken Biographen durchgedrungen (s. Kap. 51). Literatur

Bretzigheimer, Gerlinde: Exul ludens. Zur Rolle von »relegans« und »relegatus« in Ovids ›Tristien‹. In: Gymnasium 98 (1991), 39–76. Claassen, Jo-Marie: Ovid Revisited. The Poet in Exile. London 2008. Doblhofer, Ernst: Exil und Emigration. Zum Erlebnis der Heimatferne in der römischen Literatur. Darmstadt 1987. Hallett, Judith P.: Centering from the Periphery in the Augustan Roman World. Ovid’s Autobiography in Tristia 4.10 and Cornelius Nepos’s Biography of Atticus. In: Arethusa 36/3 (2003), 345–359. Hofmann, Heinz: Ovid im Exil?. In: Mitteilungen des Deutschen Altphilologenverbandes, Landesverband BadenWürttemberg 29 (2001), 8–19. Klodt, Claudia: ›Ad uxorem‹ in eigener Sache. Das Abschlussgedicht der ersten drei Silvenbücher des Statius vor dem Hintergrund von Ovids ›Autobiographie‹ (trist. 4, 10) und seinen Briefen an die Gattin. In: Michael Rei-

2  Die Autobiographie Ovids chel (Hrsg.): Antike Autobiographien. Werke – Epochen – Gattungen. Köln/Wien 2005, 186–222. Kranz, Walther: Sphragis. Ichform und Namensiegel als Eingangs- und Schlussmotiv antiker Dichtung. In: Rheinisches Museum 104 (1961), 3–46; 97–124. Lejeune, Philippe: Le pacte autobiographique, Paris 1975 (dt.: Der autobiographische Pakt. Übers. von Dieter Hornig und Wolfram Bayer. Frankfurt a. M. 1994). Möller, Melanie: Ovid auf 100 Seiten. Stuttgart 2016. Paratore, Ettore: L ’elegia autobiografica di Ovidio (Tristia IV, 10). In: Niculae I. Herescu (Hrsg.): Ovidiana. Recherches sur Ovide. Paris 1958, 353–378. Schanz, Martin/Hosius, Carl: Geschichte der römischen Literatur bis zum Gesetzgebungswerk des Kaisers Justi-

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nian, II. Teil, 1. Hälfte: Die augusteische Zeit [1935]. München 41980. Spahlinger, Lothar: Ars latet arte sua – die Poetologie der ›Metamorphosen‹ Ovids. Stuttgart/Leipzig 1996, 27–50. Stroh, Wilfried: Tröstende Musen. Zur literarhistorischen Stellung und Bedeutung von Ovids Exilgedichten. In: ANRW II 31,4 (1981), 2638–2684. Walde, Christine: Von Ovid bis Joseph Brodsky – Römisches Exilium und modernes ›Exil‹. In: Gerhard Petersmann/ Veronica Coroleu (Hrsg.): 2000 Jahre Wiederkehr der Verbannung des Ovid. Exil und Literatur, Grazer Beiträge Suppl. 13 (2010), 19–37.

Melanie Möller

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3 Dichter in Rom 3.1 Ovids series. Dichternetzwerke Bei der Frage nach den großen Namen der Dichter Roms, aber auch danach, was es bedeutet, Dichter in Rom zu sein, lässt sich Ovids autobiographische Elegie trist. 4, 10 anführen, in der sich Naso an einer Stelle in die Reihe prominenter Zeitgenossen einschreibt (s. Kap. 2). Hier und im Folgenden soll bei der Charakterisierung des dichterischen und intellektuellen Milieus konsequenterweise Ovid selbst sprechen. Zu einer mehrstimmigen Analyse, das heißt zu einem Abgleich ebendieser Charakterisierung mit der der anderen Dichter jener Zeit, sei auf Peter Whites Monographie von 1993 verwiesen (darin auch reiche Stellenangaben zu den Bezügen und Kontaktpunkten zwischen den einzelnen Dichtern und weiterführende Literatur zur Beurteilung der Dichternetzwerke aus soziologischer Perspektive). Ohne die Aufzählung einzelner Namen soll hier das Augenmerk auf die konkreten Umgangsformen und die Praxis des Dichtermilieus gelegt sein. Die wichtigsten Dichterkollegen werden am Ende dieses Kapitels im Spiegel anderer Ovid-Texte kursorisch behandelt. Doch zunächst Ovid selbst über die Lebenswelt der Dichter (trist. 4, 10, 41–55): temporis illius colui fovique poetas, [...] saepe suas volucres legit mihi grandior aevo, [...] Macer, saepe suos solitus recitare Propertius ignes, iure sodalicii, quo mihi iunctus erat. Ponticus [...], Bassus [...] dulcia convictus membra fuere mei. et tenuit nostras numerosus Horatius aures, [...] Vergilium vidi tantum: nec avara Tibullo tempus amicitiae fata dedere meae. successor fuit hic tibi, Galle, Propertius illi; quartus ab his serie temporis ipse fui. utque ego maiores, sic me coluere minores [...]. »Mit den Dichtern jener Zeit pflegte ich engen Umgang, / oft las mir Macer (er war älter als ich) seine flatternden Verse vor, / oft rezitierte Properz nach seiner Gewohnheit seine Liebesgedichte, / (mit ihm war ich im Sinne einer Kameradschaft verbunden). / Ponticus und Bassus machten einen lieben Teil meiner Gesellschaft aus. / Auch der rhythmenreiche Horaz hielt meine Ohren in seinem Bann, / Vergil hab’ ich nur gesehen: auch im Falle Tibulls gab uns das geizige / Schicksal kaum Zeit für eine Freundschaft. / Gallus, dein

Nachfolger war er, Properz wiederum seiner; / Der Vierte nach ihnen in dieser zeitlichen Abfolge bin ich selbst. / Wie ich den Umgang mit älteren Dichtern pflegte, so die jüngeren mit mir.«

In der Regel wird diese Passage verständlicherweise als Katalog zeitgenössischer Dichter und Ovids Positionierung in deren Tradition gelesen. Zugleich gibt sie reichlichen Aufschluss über die tatsächlichen Formen und Praktiken dichterischer Koexistenz. Gewiss impliziert Ovid auch – gerade in der mehrfachen Nennung des Wortes tempus (vgl. V. 41 und 54) – einen verzeitlichenden, diachronen Blick auf die Abfolge der einzelnen Vertreter innerhalb einer Art Literaturgeschichte (vgl. auch V. 53: successor und V. 54: series), allein der Fokus scheint hier von Ovid auf der synchronen Überlappung der Dichter platziert, auf das rege Miteinander der Poeten und nicht so sehr auf ihr zeitliches Nacheinander. Ovids selbstbewusste Positionierung mit den Worten quartus [...] ipse fui (V. 54), eine Stelle, bei der es die meisten Interpretationen dieser Passage bewenden lassen, spricht selbstredend für die Lesart einer teleologischen Aufeinanderfolge; nimmt man jedoch den folgenden Vers noch hinzu, wie es das rahmende colere (V. 41 und 55) und die Gegenüberstellung von Älteren und Jüngeren nahelegen (vgl. V. 43 und 55), so rücken erneut ein nahtloses Kontinuum und synchrone Umgangsformen in den Vordergrund. Ovids Status als Dichter liegt nicht allein in seiner souveränen Selbstbehauptung, sondern muss auch in der Ehrerbietung und Frequentation jüngerer Kollegen eine zusätzliche gesellschaftliche Bestätigung suchen. Wie Ovid als junger Dichter in die Kreise Älterer hineinwuchs, so scharten sich bei ausreichender Bekanntheit jüngere um ihn. Doch wie sehen nun die Praktiken dieser wie feste Dichterzirkel anmutenden Verbindungen aus oder, mit Ovid gesprochen, was sind die Komponenten dieses gegenseitigen colere (dazu wurde das lat. Wort colere recht lose als »Umgang pflegen mit« übersetzt; gleichwohl darf die starke Konnotation des »Verehrens«, wie es bei der Verwendung des Verbes im familiären und religiösen Kontext sonst der Fall ist, nicht vergessen werden)? Hauptaugenmerk legt Ovid hierbei auf die performativen Aspekte solcher Zirkel und Begegnungen, wie es die Lesungen eines Macer, Properz oder Horaz zeigen (vgl. V. 44: legit; V. 45: recitare und V. 49: tenuit [...] aures). Auch die Erwähnung, Vergil »nur« gesehen zu haben, unterstreicht die Bedeutung, einen Dichterkollegen bei einem seiner Auftritte gehört zu

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_3

3  Dichter in Rom

haben. Dabei changiert Ovids Darstellung zwischen dem öffentlichen und privaten Raum: Rezitationen erfolgten also sowohl in engem Kreise (vgl. V. 43: legit mihi) als auch vor großem Publikum, wie Ovid selbst im Anschluss an die besprochene Passage über seinen ersten Auftritt schreibt (V. 57: carmina [...] primum populo [...] legi: »las ich zum ersten Mal Gedichte vor dem Volk«); vor diesem Hintergrund der öffentlichen Präsenz der Dichtung und ihrer Dichter (also nicht nur in Form eines florierenden Buchmarktes, sondern auch im Rahmen performativer Events) dürfen die gesellschaftlichen Implikationen dieses kulturellen Betriebes und ihrer Akteure nicht unterschätzt werden. An einen veritablen Betrieb, der sich aus regelmäßigen Zusammenkünften und Begegnungen speist, lässt vor allem die anaphorische Wiederholung des Wortes saepe denken (V. 43 und 45); sie machen derartige Lesungen zu einem Element des dichterischen Alltags. Den individuellen Beziehungen einzelner Autoren und Gruppen untereinander gibt Ovid dabei die Namen sodalicium (V. 46), convictus (V. 48) und amicitia (V. 52), die allesamt von einem sehr engen und vertrauten Umgang zeugen. Zwar mögen die Begriffe auch im übertragenen Sinne für eine intellektuelle oder dichtungsästhetische Allianz (z. B. gerade im Hinblick auf die Reihe der Elegiker) stehen, doch scheint in diesem Kontext die physische Nähe zu überwiegen. Dabei ist von Bedeutung, dass die rezeptionsästhetischen Kategorien einer imitatio oder aemulatio und etwaige Konkurrenzgedanken überhaupt keine Erwähnung finden; hier gilt es ausschließlich, das konkrete Zusammensein der Dichter Roms in rein positivem Licht zu feiern. Die Betonung dieser physischen Nähe muss freilich vor dem Hintergrund der Entstehung dieser Elegie im Exil gelesen werden; sie ist melancholische und nostalgische Rückschau auf ein reges und fruchtbares literarisches Treiben, das angesichts von Ovids geographischer Distanz und dem damit verbundenen Ausschluss noch enger und inspirativer erscheinen soll. Es ist ein regelrechter Romzentrismus, der vor der Negativschablone der ovidischen Exildichtung auf besondere Weise geschürt wird. Dichter Roms zu sein, beinhaltet also auch wortwörtlich den geographischen Imperativ, in Rom zu sein; bemerkenswert, da die uns am besten bekannten Dichter nicht gebürtige Stadtrömer waren. Einem Vergil (Mantova) oder Catull (Verona) aus dem Norden Italiens, einem Horaz (Venosa) aus dem Süden war die Präsenz in der Hauptstadt Rom für ihre Karriere unumgänglich. Unumstritten war Rom

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das politische und folglich auch kulturelle, literarische Zentrum der augusteischen Zeit sowie Magnet für eine intellektuelle Migration aus dem gesamten Mittelmeerraum (nicht zu vergessen griechische Schriftsteller und Philosophen auf römischem Boden). Umso tragischer für Ovid, dass wohl gerade er die Gegenrichtung einschlagen musste. Gleichwohl bleibt er Dichter, auch an den Rändern des römischen Reiches, und gibt weitere Texte heraus. Die Enge seiner Dichternetzwerke versucht er dabei, in die Machart seiner Exilliteratur zu übersetzen; gerade die als Einzelbriefe konzipierten Epistulae ex Ponto sind eine geschickt gewählte Kompensation des fehlenden Umgangs mit Kollegen und Freunden. Ob die Strategie, die Abwesenden zu Anwesenden zu machen, aufgeht oder die Adressaten doch nur leere Namen auf Briefköpfen sind, bleibt letzten Endes insofern fraglich, als der Leser den Eindruck gewinnt, Ovid werde sich mit jedem weiteren Briefgedicht seiner unüberbrückbaren Distanz nur bewusster (Pont. 1, 5, 73: procul urbe: »weit weg von Rom«) und glaube nicht an einen fortbestehenden Kontakt (Pont. 1, 5, 75–76: vix credere possum/indicium studii transiluisse mei: »kaum vorstellen kann ich mir, dass ein Hinweis meines Schaffens [nach Rom] gelangte«). Kreisend kommt Ovid schon in seinen Tristien immer wieder darauf zu sprechen, dass ihm gerade der unmittelbare Rezipient fehle; keinen gebe es, dem er vorlesen könne oder der ein offenes Ohr für ihn habe (vgl. trist. 4, 1, 89–90: neque cui recitem quisquam est mea carmina, nec qui/auribus accipiat). Trotz weiterer Veröffentlichungen erreichen seine Gedichte demnach nicht, was Dichtung für ihn im eigentlichen Sinne ausmacht: neben der Produktion von Texten – auf die allein er zurückgeworfen ist (Pont. 1, 5, 59: satis est componere nobis: »komponieren muss uns genügen«) – vor allem die Kommunikation mit seiner Leserschaft und die physische Nähe eines Publikums, die gewiss auch die oben beschriebenen (und seit dem Exil in Tomis entfallenden) performativen Komponenten miteinschließt (Pont. 1, 5, 57–58: recitata [...] carmina: »rezitierte Gedichte«). Verse zu dichten, ohne sie auch vorzutragen, sei wie ein Gebärdenspiel ohne Licht (vgl. Pont. 4, 2, 33–34). Gerade die Einbuße dieses öffentlichen Aspektes lässt Ovid seine literarische Produktion als nichtig ansehen und führt ihn zur Inszenierung einer fundamentalen Schaffenskrise (vgl. Pont. 4, 2, 23–30). Wo kein literarisches Leben ist, sprießt auch keine Dichtung. Tomis wird zum Kontrastbild Roms, aus dem jedoch genauso dechiffrierbar ist, was es heißt, (nicht mehr) Dichter in Rom zu sein.

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I  Leben und biographische Kontexte

Das Bild vom fehlenden individuellen Rezipienten (vgl. trist. 5, 12, 53: non qui mihi commodet aurem: »es gibt keinen, der mir zuhört«) und die metonymische Bezeichnung der Abwesenheit eines Buches (vgl. ebd.: non liber hic ullus: »kein Buch gibt es hier«) lassen sich auf die generelle Kargheit des literarischen Betriebes, das Fehlen eines Buchmarktes oder intellektueller Kreise in Ovids Exil ausweiten. Die damit verbundenen Konsequenzen für seinen gesellschaftlichen Status als Dichter spricht Ovid mehrmals an: Ruhm und Bekanntheit als konkrete Gefolgschaft und Motivatoren der Dichtung seien längst passé (vgl. trist. 5, 12, 37–38 und 41–42), der einstige Glanz seines Rufes und Namens nunmehr kläglich verblasst (vgl. trist. 5, 12, 39: nominis et famae quondam fulgore trahebar). Auch der geographisch-illusorische Versuch, in Tomi sein neues Rom zu etablieren (vgl. Pont. 1, 5, 68), bleibt aus verständlichen Gründen erfolglos; Ovids Ruhm sei bereits im Moment der physischen Trennung von der Hauptstadt zerborsten (vgl. Pont. 1, 5, 84: famaque cum domino fugit ab urbe suo) und liege nun unter der Erde (vgl. Pont. 1, 5, 85: mea fama sepulta est). Das einst globale Ausmaß seines Ruhmes, wie er es in seinen Metamorphosen prominent beschrieben hat (vgl. met. 15, 878–879: ore legar populi, perque omnia saecula fama [...] vivam: »alle werden mich lesen, und ich durch meinen Ruhm allezeit leben«) und dann zum Zeitpunkt des Exils wiederum minimiert, lässt eine in diesem Kontext relevante Reflexion über die tatsächliche, vor allem auch synchrone Ausbreitung von Literatur in der späten Republik und frühen Kaiserzeit anschließen. Dabei ist die dichotomische Meinungsverschiedenheit in der Wissenschaft, ob eher eine zahlenmäßig geringfügige, elitäre Leserschaft oder ein durchaus massives Publikum zu denken ist, vom heutigen Standpunkt oft schwer zu schlichten (vgl. Citroni 2009 und Rawson 1985). Aus Ovids Perspektive immerhin (wenn auch mit Vorsicht zu genießen) scheint die Dichtung allemal demokratische Dimensionen mit breiter Wirkung angenommen zu haben, was einmal mehr aus dem Gegenbild des Exils ersichtlich wird: Die inflationäre Sehnsucht zurück zu einer öffentlichen Relevanz, heraus aus der isolierenden Irrelevanz des einzigen Dichters im Dorf, mag erneut von der gesellschaftlichen Verankerung des literarischen Betriebes in Rom zeugen. Trotz dieses offensiven Pessimismus sind gerade die Briefe vom Schwarzen Meer und ihre Adressaten ein konkreter Ausdruck von Ovids Hoffnung auf die Rückkehr nach Rom oder zumindest auf ein Kontinuum einstiger Freundschaften und literarischer Begeg-

nungen; so schreibt er beispielsweise an den Dichterkollegen Macer, der schon aus Ovids series bekannt ist, und erinnert ihn an den einstmals täglichen Umgang (vgl. Pont. 2, 10, 9: debes convictibus: »du schuldest es unserem Zusammenleben«). Auch andere Briefadressaten, hinter denen sich weitere, uns kaum bekannte Poeten verbergen (vgl. Pont. 1, 8; 4, 2; 4, 10; 4, 12; 4,13 und 4, 14), stellen die Inszenierung einer immerhin virtuellen Verlängerung der Dichterkreise vor Augen. Auch mit Hilfe von Briefen kann die gegenseitige Lektüre einigermaßen gewährt bleiben, wie es die frühere Gewohnheit ihrer Zirkel war (vgl. Pont. 1, 8, 10: haec [...] carmina [...] leges: »wirst du diese Gedichte lesen« und Pont. 4, 2, 50–51: quodque legamus [...] mitte [...] opus: »schick mir dein Buch, auf dass ich es lese«).

3.2 Mäzenatentum. Zwischen patrocinium und amicitia Hauptprotagonisten unter den Briefempfängern sind dabei die Mitglieder der Messalla-Familie (vgl. Pont. 1, 5; 1, 7; 1, 9; 2, 2; 2–3; 2, 8; 3, 2 und 3, 5). Gleich mehrere epistulae richtet Ovid an M. Aurelius Cotta Maximus und M. Valerius Messalla Messalinus, Söhne des Kunstförderers M. Valerius Messalla Corvinus, der zum Zeitpunkt von Ovids Exil schon nicht mehr lebt (s. die Darstellung aus der Perspektive eines Historikers: Syme 1986). Messalla ist neben C. Maecenas, der dem Konzept des Kunstmäzens auch seinen Namen geschenkt hat, der entscheidende Gönner im augusteischen Literaturbetrieb. Während Maecenas neben anderen Dichtern Vergil, Horaz und Properz zuzuordnen sind, gehören Tibull und Ovid zur Gruppe der sich um Messalla scharenden Dichter. Von konkreter, ökonomischer Förderung (Dichter in Rom zu sein, scheint ein gesichertes finanzielles Auskommen zu bedeuten) über die Verleihung sozialen Prestiges bis hin zur intellektuellen Bereicherung durch die Einführung in auserwählte Kreise voll gegenseitiger künstlerischer Motivation ist alles diesem Mäzenatentum zuzurechnen (vgl. Fantham 1996 und Bloomer 1997); außerdem lassen sich obige Ausführungen zu den Dichternetzwerken vor dem Hintergrund dieser Gruppierungen tatsächlich als literarische Zirkel konkretisieren – doch auch hierzu erneut Ovid selbst (Pont. 2, 3, 75–78): me tuus ille pater [...] primus ut auderem committere carmina famae impulit: ingenii dux fuit ille mei.

3  Dichter in Rom (»mich hat dein berühmter Vater als erstes zu dem Wagnis, Gedichte einer Öffentlichkeit zu präsentieren, motiviert: Wegweiser meines Talents war er.«)

Diese Verse zeigen den Kunstförderer als Trittbrett zur Öffentlichkeit, dem der individuelle Dichter seine Karriere zu verdanken hat. An einer anderen Stelle überhöht Ovid den »Gönner seines literarischen Schaffens« (Pont. 1, 7, 28: hortator studii [...] mei) zu einer lebensnotwendigen Instanz; er sei überhaupt »Grund und zündender Funke« seiner Dichtung gewesen (ebd.: causaque faxque), und dies alles auf freundschaftlicher Basis (vgl. Pont. 1, 7, 27). Patronat und Freundschaft scheinen hier zu verschwimmen; beiden Konstellationen eignet eine enge Reziprozität, auf die auch Ovid verweist: Wie der Freund und Gönner die Leistung seines Dichters würdigte (vgl. trist. 4, 4, 29) und für deren Verbreitung sorgte (vgl. trist. 4, 4, 31–32), so erwies Ovid seinem Patron stets die gebührende Ehre (vgl. trist. 4, 4, 27–28; Pont. 2, 2, 97); die Formulierung vom »Empfang im Hause Messalla« (vgl. trist. 4, 4, 33: me domus ista recepit) lässt den Dichter hier tatsächlich als Klienten erscheinen; Ovid betont seine Treue als Klient und Freund bis zum Tod Messallas, bei dessen Begräbnis er ihm mit der öffentlichen Lesung eines Gedichts huldigte (vgl. Pont. 1, 7, 30: dedimus medio scripta canenda foro: »mitten auf dem Forum gab ich ein Gedicht zum Besten«) – nebenbei bemerkt zum Stichwort »lebensnotwendige Instanz«: Messallas Tod und der Bruch in Ovids Biographie fallen in dasselbe Jahr. Dass Messallas Söhne die Netzwerke ihres Vaters erbten, betont Ovid an mehreren Stellen, indem er an das symbiotische Verhältnis erinnert, bei dem einerseits das Haus des Patrons offenstehe (vgl. Pont. 1, 7, 24: atria [...] nobis [...] patuisse) und sich andererseits der Klient seiner Pflichten bewusst sei (vgl. Pont. 1, 7, 57: officium und 2, 2, 1: domus vestrae venerator: »Verehrer eures Hauses«). Wieder sind die Briefe das Medium einer virtuellen Kontinuität dieser Beziehungen, die die physische Distanz wettmachen sollen (vgl. Pont. 1, 7, 67: in numero me, Messaline, repone: »zähl mich bitte wieder zu diesem Kreis, Messalinus«). Sowohl das Wort numerus (»Zahl«) als auch an anderer Stelle turba (»Schar«; vgl. Pont. 2, 2, 102) lassen dabei an einen Kreis von Intellektuellen denken, der um die Messalla-Familie bestand. Als wahrlich materielles Kontinuum inszeniert Ovid den Kontakt mit Cotta, von dem es des Öfteren heißt, er habe auf Ovids Briefe geantwortet (vgl. Pont 1, 9, 1; 2, 3, 67; 2, 8, 2). Das ererbte Verhältnis war im

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Wechsel der Generationen vom Patronat zur innigen Freundschaft geworden, wie Ovid selbst mehrmals deutlich macht (vgl. Pont. 1, 5, 1; 2, 3, 5, 8 und 69). Gleichwohl reichten in diese Beziehung, deren Emotionalität beispielsweise an der gemeinsamen Trauer bei der Nachricht von Ovids Exil manifest wird (vgl. Pont. 2, 3, 81–90), weiterhin die Praktiken des Dichteralltags und des intellektuellen Austausches hinein; allein das gegenseitige Vorlesen (vgl. Pont. 3, 5, 39–40: aut recitas [...] aut [...] exigis ut recitent: »entweder liest du vor oder lässt vorlesen«) findet nunmehr ohne Ovid statt (vgl. Pont. 3, 5, 41–44). Trotz der metaphorischen Überhöhung der Rolle Cottas für Ovid (vgl. Pont. 3, 2, 6: tu [...] ancor: »du bist mein Anker«) birgt ihre Beziehung auch das Potential konkreter Hilfe, indem Cotta (wie auch sein Bruder) als Sprachrohr beim Kaiser fungieren und gelegentlich ein gutes Wort für Ovid einlegen kann (vgl. Pont. 1, 9, 26: auxilium: »Hilfe«, 1, 7, 33 und 2, 3, 31). Die Bitte um einen Rechtsbeistand (vgl. Pont. 2, 2, 43) klingt dabei wieder mehr nach Patronat, das Ovid als Konzept auch gegenüber anderen einflussreichen Briefpartnern ausspricht (vgl. Pont. 1, 2, 68: patrocinium).

3.3 Politik und Dichtung Wichtig ist, dass die besagten Mäzene keineswegs Privatmänner waren (wie man sich dies mitunter für die heutige Zeit vorstellt), sondern militärische Schwergewichte von höchstem politischen Einfluss, der auch auf die von ihnen geförderten Dichter abfärbt. Ovid meint an einer Stelle zynisch, er hätte Rom nie verlassen müssen, hätte er im Verborgenen gelebt und nicht solch hohe Kreise frequentiert (vgl. trist. 3, 4, 4–25). Der Akt der Verhängung des Exils als Folge der Dichtung scheint tatsächlich auch nur bei einer breiten Bekanntheit und politisch-sozialen Brisanz des Künstlers sinnvoll. Dichter in Rom zu sein heißt also auch, öffentliche Relevanz zu besitzen. Diese Verzahnung von Politik und Dichtung war und ist ein umstrittener Themenkomplex der Forschung zu Ovid (vgl. Hardie 2002) sowie zur gesamten Literatur der augusteischen Zeit (s. Kap. 1). Gewiss darf bei der Interpretation die ästhetische Freiheit des Künstlers nicht hinter die politische Dimension seines Werkes als Instrument augusteischer Ideologie und Propaganda zurücktreten, doch genauso wenig – gerade vor dem Hintergrund der oben ausgeführten Konstellationen und öffentlichen Präsenz der Dichtung – Ovid als apolitischer Schriftsteller gedacht werden. Auf die politische Be-

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I  Leben und biographische Kontexte

deutung seiner Dichtung, die sich vor allem in seiner Beziehung zu Augustus äußert (s. Kap. 1), weist Ovid (und dies ist erneut im Rahmen des Exils zu beurteilen) mehrmals explizit hin. Sein ganzes Œuvre enthalte panegyrische Passagen auf Augustus (vgl. Pont. 1, 1, 27–28: Caesareo [...] non caret e nostris ullus honore liber: »keines meiner Bücher lässt Ehre für den Kaiser vermissen«), etliche Stellen ließen sich dafür anführen (vgl. trist. 2, 62: mille locis plenos [libros] nominis esse tui: »an tausend Stellen erscheint in meinen Büchern dein Name«); Ovid verweist dabei insbesondere auf seine Metamorphosen, die Augustus’ Ruhm auf den Zenit führen und Ausdruck seiner innigen Ergebenheit sind (vgl. trist. 2, 63–68 und 555–562), und fordert dabei die öffentliche Implikation seiner Dichtung ein: Hinter jedem großen Mann steht ein großer Dichter. Und umgekehrt: Der Dichter macht Karriere, solange Augustus – teils selbst in der Rolle eines Schutzherrn und Mäzens – seinen Segen gibt. Die politische Frage stellt sich also nicht inhaltlich, ob der Dichter sich der Verbreitung des augusteischen Kulturprogramms verschreibt, sondern ästhetisch, wie Panegyrik dichterisch umgesetzt wird.

3.4 Dichter in Rom Wirft man einen abschließenden Blick auf Ovids vier wichtigste (da für uns in eigenen Texten greifbare) Kollegen, wird die Überlappung von Literatur und Politik ebenso deutlich. So schuf Vergil mit seiner Aeneis den Römern ein Epos, in dem alles Geschehen in Augustus kulminiert. Auch wenn Ovid, wie er selbst sagt, Vergil »nur« gesehen hat, gelesen hat er ihn allemal (s. Abschn. 69.1). Auch von Horaz, zu dem Ovid eine engere Beziehung angibt, kennen wir mit seinen Oden und Epoden festliche Preislieder; im Falle des carmen saeculare sogar mit öffentlicher Einbindung in Augustus’ Säkularfeier. Properz, mehrmals – u. a. auch als Kamerad – erwähnt (trist. 2, 465; 4, 10, 45 und 53; 5, 1, 17; ars 333; rem. 764), preist in einer seiner Elegien Augustus’ Sieg bei Actium (vgl. Prop. 4, 6). Tibull, Ovids zweites Elegie-Idol, nur unter diesem Vergleichspunkt anzuführen, würde seiner Präsenz im

ovidischen Werk (trist. 2,  447 und 463; 4,  10,  51; 5, 1, 18; am. 1, 15, 28; ars 334; rem. 763), gerade auch als historische Person, nicht gerecht. Signifikant für die Nähe der beiden Dichter ist die Elegie am. 3, 9, in der Ovid im Gedenken an Tibulls Hinscheiden dessen dichterischem Wert ein Denkmal setzt. Am Ende dieser Elegie zählt Ovid Tibull in die Reihe der verstobenen »Neoteriker« Catull, Calvus und Gallus (vgl. am. 3, 9, 61–64), was an die eingangs zitierte series in trist. 4, 10 erinnern muss. Ovid liefert noch weitere dieser katalogartigen Serien (vgl. Tarrant 2002), nicht nur, um literarische Traditionen diachron zu verfugen (vgl. trist. 2, 423–470), sondern auch, um – wie oben erläutert – den synchronen Aspekt dichtender Zeitgenossen zu betonen (vgl. Pont. 4, 16, 5–44). Auch wenn im Falle von Ovids letzter Epistel die knapp 30 erwähnten Dichter kaum mehr als Namen für uns sind, so führen sie dennoch die schiere Fülle an Schriftstellern und den regen literarischen Betrieb in augusteischer Zeit vor Augen, wovon nur ein Bruchteil an Texten auf uns gekommen ist. Literatur

Bloomer, W. Martin: Latinity and Literary Society at Rome. Philadelphia 1997. Citroni, Mario: Poetry in Augustan Rome. In: Peter E. Knox (Hrsg.): A Companion to Ovid. Malden/Oxford u. a. 2009, 8–25. Fantham, Elaine: Roman Literary Culture. From Cicero to Apuleius. Baltimore 1996. Gold, Barbara K.: Literary and Artistic Patronage in Ancient Rome. Austin 1982. Hardie, Philip: Ovid and Early Imperial Literature. In: Ders. (Hrsg.): The Cambridge Companion to Ovid. Cambridge 2002, 34–45. Rawson, Elizabeth: Intellectual Life in the Late Roman Republic. London 1985. Syme, Ronald: The Augustan Aristocracy. Oxford 1986. Tarrant, Richard: Ovid and Ancient Literary History. In: Philip Hardie (Hrsg.): The Cambridge Companion to Ovid. Cambridge 2002, 13–33. White, Peter: Promised Verse. Poets in the Society of Augustan Rome. Cambridge (Mass.) und London 1993. White, Peter: Ovid and the Augustan Milieu. In: Barbara Weiden Boyd (Hrsg.): Brill’s Companion to Ovid. Leiden/ Boston/Köln 2002, 1–25.

Matthias Grandl

4  Ovid und Augustus

4 Ovid und Augustus 4.1 Die relative Chronologie Wenn der Dichter in trist. 4, 10 auf sein bisheriges Leben zurückblickt, datiert er seine Lebenszeit durch die Angabe seines Geburtsjahres (V. 5–6): Editus hic ego sum, nec non, ut tempora noris, cum cedidit fato consul uterque pari. (»Hier [in Sulmo] bin ich geboren, und zwar in dem Jahr – damit du auch meine Lebenszeit kennst –, in dem beide Konsuln den gleichen Tod starben.«)

Die Angabe verweist auf das Jahr 43 v. Chr., in dem die Konsuln A. Hirtius und C. Virbius Pansa in der militärischen Auseinandersetzung mit Marcus Antonius den Tod fanden, ein Ereignis, das für den politischen Aufstieg Octavians, des späteren Augustus, von großer Bedeutung war. Dieser selbst verbindet in seinem Tatenbericht sein erstes Konsulat damit und verwendet zur Angabe des Jahres eine ganz ähnliche Formulierung (R.Gest.div.Aug. 1): cum consul uterque in bello cecidisset (»als beide Konsuln im Krieg gestorben waren«). Auch der Dichter stellt sich also als ein Kind der Bürgerkriegszeit vor, doch endet der Bürgerkrieg mit seiner Kindheit. Wenn er, ebenfalls in trist. 4,10 (V. 57– 58), den Beginn seiner poetischen Laufbahn mit der ersten Rasur in Verbindung bringt, dann können wir die Abfassung der ersten Gedichte der Amores in etwa die Zeit setzen, in der der Senat dem princeps den Ehrennamen Augustus verleiht (27 v. Chr.). Die spätesten Werke Ovids entstehen wenige Jahre nach Augustus’ Tod, so dass fast seine ganze Schaffenszeit mit Augustus’ Regierungszeit zusammenfällt. Was die Chronologie angeht, so verdient kein anderer Dichter das Prädikat »augusteisch« so sehr wie Ovid (Millar 1993, 1). Der Dichter, der dem vermögenden Ritterstand der mittelitalischen Stadt Sulmo entstammte, verzichtete, wieder nach dem Zeugnis von trist. 4, 10, aus eigenem Entschluss auf eine politische Karriere, die ihn in den Senat geführt hätte, weil er seine Bestimmung in der Poesie sah (V. 27–40). Doch bleiben der Herrscher, seine Herkunft und seine Familie, seine militärischen und zivilen Erfolge in den Werken ständige Bezugspunkte. Auch auf die Zeitgenossenschaft wird in bezeichnender Weise hingewiesen: Die Metamorphosen setzen mit dem Beginn der Welt ein und führen die Reihe der Erzählungen bis in die Gegenwart von Kaiser und Dichter; am Ende steht zunächst die Ankündi-

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gung von Augustus’ Apotheose nach seinem Tod, dann die vom Weiterleben des Dichters in seinem Werk. Im Proömium aber ist nur von der Gegenwart des Dichters die Rede, wenn es heißt, das Gedicht solle von den Anfängen bis zu dessen Lebenszeit reichen (1, 4: ad mea perpetuum deducite tempora carmen; »führt das Gedicht ununterbrochen bis in meine Lebenszeit«). Wenn der Dichter aber in seinem großen Brief an Augustus aus dem Exil auf die Metamorphosen Bezug nimmt, ist die Formulierung eine andere (trist. 2, 560): in tua deduxi tempora, Caesar, opus (»ich habe das Werk bis in deine Lebenszeit, Caesar, geführt«). Die Parallelität der Schaffenszeit ist damit markiert, doch die Frage, nach wem die Epoche zu bezeichnen ist, nach dem Dichter oder dem Kaiser, ist offen.

4.2 Deutungsprobleme Das Detail mag als erste Problemanzeige dienen: Die Frage ist, wie die Referenzen auf Geschichte, Politik und Kultur der Epoche zu werten sind. Dass der Dichter nach eigenem Bekunden im Jahr 8 n. Chr. nach Tomis am Schwarzen Meer verbannt worden ist, hat die Deutung seiner Werke nicht einfacher gemacht. Die Gründe, vom Dichter selbst nur durch die Begriffe carmen und error angedeutet (»das Gedicht« und »ein Irrtum« oder »Fehltritt«), sind bis heute weitgehend unbekannt; carmen muss sich auf die Ars amatoria beziehen, aber was mit dem error gemeint ist, entzieht sich unserer Kenntnis; auch ob beide miteinander in Verbindung zu bringen sind, bleibt offen. Zwar blieb Ovid der Einzug des Vermögens erspart, doch war der Verbannungsort singulär weit von Rom entfernt (McGowan 2009, 51–52 und 207–210). Die Berechtigung der Verbannung wird in den Exilwerken nicht in Zweifel gezogen; der Dichter sieht sich nicht als Opfer politischer Verfolgung (Ehlers 1988) – auch wenn das Schuldbekenntnis immer wieder durch das Bild des zornigen Autokraten unterminiert wird (McGowan 2009, 14); und so hat sich auch die moderne Deutung nicht unbeeinflusst durch den Umstand der Verbannung gezeigt. Wenn es heute einen Konsens in der Forschung gibt, was die politische Positionierung der Werke Ovids angeht, dann den, dass sie mit Begriffen wie »augusteisch« oder »anti-augusteisch« nicht hinreichend zu erfassen ist. Zu komplex sind die Geschichte der Zeit selbst, die Selbstdarstellung des Herrschers und die vielfältigen Reaktionen auf seine Herrschaft (Zanker 1987), zu komplex aber auch die Spiegelun-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_4

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gen oder die Verfremdungen der augusteischen Welt in der poetischen Sprache Ovids. Konsens besteht aber darüber, dass seine Werke weit weniger von der Erfahrung der Bürgerkriege geprägt sind als die Werke der früheren augusteischen Dichter, die, wie Millar (1993) anmerkt, besser Dichter der Triumviratszeit zu nennen wären. Wir finden bei Ovid den Preis der neuen Epoche und ihrer kulturellen Errungenschaften, wir finden hohes Lob für den Herrscher und seine Erfolge; gerade dass dies weit expliziter geschieht als in den Dichtungen eines Horaz oder Vergil, war Anreiz, Untertöne wahrzunehmen, Ironien zu entdecken, Doppeldeutigkeiten zu eruieren, und daraus resultieren oft diametral unterschiedliche Interpretationen des gleichen Werkes wie in Herbert-Browns und Newlands’ Büchern zu den Fasti (1994 bzw. 1995; vgl. auch Barchiesi 1997). Im Folgenden sollen die Interpretationsprobleme an einigen Beispielen betrachtet werden.

4.3 Die Ars amatoria: Liebe im augusteischen Rom Die Amores, das erste Werk, werden vom Dichter selbst in die Gattung der römischen Liebeselegie eingeordnet; zu deren Merkmalen gehört das Konzept der Liebe als Lebensform, die als Alternative zum traditionellen Werdegang eines jungen römischen Adligen gedacht ist (etwa in Properz 1, 6; vgl. Stroh 1983, 232–234), so dass die Gattung selbst politische Implikationen hat. Aus dem elegischen Ich der Amores ist das lehrende Ich der Ars amatoria entwickelt, das mehrfach auf eigene Erfahrungen verweist, genauer: auf einzelne Gedichte der Elegiensammlung (vgl. z. B. ars 2, 169–174 mit am. 1, 7). Das Gedicht gibt vor, die Männer zu lehren, wie sie eine Geliebte finden und erobern können (Buch 1) und wie sie die Geliebte an sich binden (Buch 2); schließlich werden auch die Frauen mit entsprechenden Lektionen bedacht (Buch 3). Die Durchführung des Unterrichts ist aber eher geeignet, die Einsicht zu vermitteln, dass Liebe nicht lehrbar sei (Heldmann 2001). Die Frage, wie sich das Liebeskonzept der Ars amatoria mit Augustus’ Versuch, die innere Ordnung der römischen Gesellschaft neu zu begründen, verträgt, liegt schon deshalb nahe, weil die Exildichtung das Werk als einen der Gründe für die Verbannung bezeichnet. Im Jahr 18 v. Chr. hatte Augustus die lex de maritandis ordinibus erlassen, eine gesetzliche Heiratsordnung für die römischen Stände (9 n. Chr. durch die lex Papia Poppaea modifiziert). Sie zielte zum einen auf

die Einschränkung der Partnerwahl; Senatoren wurde es untersagt, mit Freigelassenen oder anderen Angehörigen niederer Stände die Ehe einzugehen; zugleich sollte der legitime Nachwuchs für die höheren Stände gefördert werden. Dazu kam, etwa zur gleichen Zeit, die lex de adulteriis coercendis, ein Gesetz, das den Ehebruch (nach römischer Auffassung eine Affäre mit einer verheirateten Frau) strafrechtlich sanktionierte (Mette-Dittmann 1991). Wenn der Liebeslehrer der Ars amatoria immer wieder verheiratete Frauen von seinem Unterricht ausschließt, so nimmt er offensichtlich auf diese Gesetze Bezug; Anleitung zum Ehebruch, der erst durch Augustus unter gesetzlicher Strafe stand, will der Lehrer nicht leisten (Davis 2006, 85–95). Schon das Proömium des ersten Buches warnt römische Matronen (die durch ihre spezifische Tracht bezeichnet werden) vor der Lektüre (1, 31–34): Este procul, uittae tenues, insigne pudoris,     quaeque tegis medios instita longa pedes: nos Venerem tutam concessaque furta canemus     inque meo nullum carmine crimen erit. (»Haltet euch fern, ihr zarten Binden im Haar, das Zeichen des Anstands, und auch du, Saum des langen Gewandes, der du die Füße fast ganz bedeckst: Wir singen vom geschützten Freiraum der Liebe und von erlaubten Affären, und in meinem Gedicht wird sich kein Anstoß finden.«)

Im dritten Buch, das sich an die Frauen richtet, finden sich gleich mehrere ähnliche Bemerkungen (3, 27–28.; 3, 57–58 u. a.). Der Liebeslehrer markiert überdeutlich, dass er die neue Gesetzeslage kennt und gewillt ist, sich an ihr zu orientieren. Im zweiten Buch der Tristien, dem Brief an Augustus, in dem der Dichter die Ars amatoria in Schutz zu nehmen versucht, zitiert er ausdrücklich die Warnung zu Beginn des Werkes, mit einer bezeichnenden Änderung, die noch direkter auf die Ehegesetze verweist (V. 245–250); der dritte Vers lautet jetzt (V. 249): nil nisi legitimum concessaque furta canemus (»Wir singen nur von dem, was das Gesetz zulässt, und von erlaubten Affären«). Das Problem all der Warnungen der weiblichen Leserinnen ist offensichtlich: Die Frauen, und eben auch die verheirateten Frauen, werden als Leserinnen der Ars amatoria vorgestellt; wie sonst sollten sie Kenntnis von der Warnung erhalten? Dass die disclaimer (Davis 2006) als Schutzbehauptungen lesbar sind, wird insbesondere auch dann deutlich, wenn der Mythos bemüht wird, um einzelne Lektionen zu illustrieren. Für die War-

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nung vor langen Reisen, die die Geliebte in Versuchung bringen könnte, sich anderweitig Trost zu suchen, wird die Geschichte von Helenas Verführung durch Paris ins Feld geführt; dieser Mythos aber erzählt unzweifelhaft von Ehebruch, und der Liebeslehrer macht daraus auch keinen Hehl (ars 2, 365): Nil Helene peccat, nihil hic committit adulter (»Helena macht nichts falsch; auch der Ehebrecher begeht hier kein Vergehen«). Die erste Lektion behandelt die Frage, wo man eine passende Geliebte finden kann, und die Antwort lautet: in Rom, einer Stadt, die eine Welt voll schöner Mädchen ist (ars 1, 55–56). Das Rom, von dem dann aber die Rede ist, ist das augusteische Rom, denn es folgt ein Katalog einzelner Örtlichkeiten, an denen man Frauen treffen und kennenlernen kann, Theater, Säulenhallen und sogar Tempel (ars 1,67–228). Es handelt sich dabei fast durchgehend um Bauten, die von Augustus oder in augusteischer Zeit errichtet oder renoviert worden sind. Im dritten Buch, das sich an die Frauen wendet, findet sich ein kürzeres Analogon (ars 3, 387–396). Ausdrücklich wird auf den Kaiser verwiesen, wenn eine von ihm veranstaltete künstliche Nachstellung der Seeschlacht von Salamis als Gelegenheit zum Rendezvous vorgestellt (ars 1,171–176) oder ein Triumph imaginiert wird, der nach der Rückkehr des Kaiserenkels stattfinden wird; zwar wird Gaius Caesar gebührend gefeiert (ars 1, 177–212), aber der Triumph selbst ist dann nur wieder unter erotischem Aspekt von Interesse (ars 1, 213– 228). Das Herrscherlob der Ars amatoria stellt die Chancen eines zivilen urbanen Lebens heraus, denen eine liberale Gesellschaftsordnung entsprechen muss, wie es im Hymnus auf den cultus, die moderne Zivilisation im dritten Buch heißt (V. 121–122): Prisca iuuent alios, ego me nunc denique natum     gratulor: haec aetas moribus apta meis. (»Was altertümlich ist, mag anderen gefallen; ich preise mich glücklich, dass ich erst jetzt geboren bin; diese Epoche entspricht meiner Lebensweise.«)

4.4 Römische Mythen Von den mythologischen Werken sind die Fasten, das elegische Gedicht über Roms Festkalender, besonders eng mit dem augusteischen Diskurs verbunden, da sie den julianischen Kalender voraussetzen, die religiösen Traditionen Roms thematisieren, die Gegenstand von Augustus’ Restaurationspolitik waren, und auch Ereig-

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nisse und Orte, die von unmittelbarer politischer Relevanz waren, wie Cäsars Ermordung (fast. 3, 697–710) oder die Eröffnung des Mars-Ultor-Tempels, darstellen (fast. 5, 545–597). Dass die Deutungen disparat sind, liegt auch daran, dass das Werk nach Augustus’ Tod überarbeitet worden ist und fragmentarischen Charakter hat. Nach dem Zeugnis der Tristien wurden zwölf Bücher verfasst (2, 549–552), doch liegen nur die ersten sechs vor, so dass das Werk unmittelbar vor den Monaten abbricht, denen Cäsar und Augustus die Namen gegeben haben – ein Abbruch, der als Geste machtbewusster Abschließung verstanden werden kann, zumal die Verse über die letzten Tage des Juni deutliche Merkmale eines Schlusses (closure) zeigen (Barchiesi 1997, 259–272). Zumindest was die Überlieferung angeht, haben wir im Fall der Metamorphosen eine sicherere Grundlage. Das Werk erreicht das im Proömium angekündigte Ziel, die Gegenwart. Die letzten Verwandlungen sind die Cäsars und seines Adoptivsohnes Augustus; nachdem von Cäsars Katasterismos erzählt worden ist (met. 15, 745–860), bittet der Erzähler, die unausweichliche Apotheose des regierenden Kaisers möge erst in ferner Zukunft eintreten (met. 15, 861–870). Zwar ist es richtig, dass das direkte Herrscherlob weit über das hinausgeht, was bei einem Dichter wie Vergil zu lesen ist (Millar 1993, 6–9), aber auch hier haben wir es mit einer machtvollen Erzählerfigur zu tun, die eigene Positionen ins Spiel bringt. Die Sichtung eines Kometen während der Leichenspiele für Cäsar im Juli des Jahres 44 v. Chr. war für Octavian insofern ein prekäres Ereignis, als Kometen in Rom üblicherweise als prodigium angesehen wurden, als ein Zeichen göttlichen Zorns, das Sühnemaßnahmen erforderlich machte. Plinius der Ältere bezeugt in seiner in flavischer Zeit entstandenen Naturgeschichte, Octavian habe sich in einer öffentlichen Rede den Volksglauben zu eigen gemacht, der darin ein Zeichen für Cäsars Vergöttlichung erblickt habe. Der Herrscher selbst aber sei davon überzeugt gewesen, dass das neue Gestirn ihm selbst eine gute Zukunft verheiße (nat. 2, 94). Die ersten Münzdarstellungen zeigen denn auch einen Stern im Giebel des Tempels für Divus Iulius, während das Phänomen erst in den späten 20er Jahren als Komet dargestellt wird (Gurval 1997, 45–62). Der Erzähler der Metamorphosen folgt der Deutung, die der Überlieferung zufolge von den ersten Augenzeugen ausging: Die Erscheinung ist ein Komet; und er weiß auch, was sich im sichtbaren Zeichen verbirgt: die Seele Cäsars, die von Venus, der Ahnherrin der Julier, vor den Mördern gerettet und von ihr zum Himmel getragen wurde (met. 15, 843–

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I  Leben und biographische Kontexte

860). Er gibt aber auch eine Begründung, weshalb dem Verstorbenen die hohe Ehre des Katasterismos verliehen wurde (met. 15, 746–751): [...] quem Marte togaque praecipuum non bella magis finita triumphis resque domi gestae properataque gloria rerum in sidus uertere nouum stellamque comantem, quam sua progenies; neque enim de Caesaris actis ullum maius opus quam quod pater exstitit huius. (»Auch wenn er sich in Krieg und Frieden hervorgetan hatte, waren es weniger seine Feldzüge, die im Triumph endeten, seine Leistungen in Rom und sein früher Ruhm, die für seine Verwandlung in ein neues Gestirn und einen Haarstern sorgten, als sein Nachkomme. Denn das Größte, was Cäsar je vollbracht hat, war, dass er Vater dieses Mannes wurde.«)

Es seien nicht seine Eroberung Britanniens, sein Sieg über Ägypten und Numidien oder die Erweiterung des Reiches um Pontus gewesen, die ihm die Auszeichnung verschafften, sondern die Tatsache, dass er Octavians Vater war (met. 15, 752–758). Die Nennung der militärischen Erfolge entspricht den vier Triumphen, die Cäsar 46 v. Chr. feierte, wenngleich die Formulierungen andeuten, dass Anspruch und Wirklichkeit nicht in Einklang sind, da Cäsar bekanntlich nicht Britannien, sondern nur Gallien erobert und Ägypten nicht dauerhaft gewonnen hatte; in Afrika schließlich hatte er weniger die Numider als Roms Republikaner besiegt. Und auch wenn die Adoption in Wendungen gefasst wird, die an eine biologische Vaterschaft denken lassen (V. 750: progenies; V. 758: genuisse), scheint ein ironischer Unterton wahrnehmbar. Schließlich ist vor allem die paradoxe Umkehr der Perspektive allzu augusteisch: Nicht Augustus verdankt dem Vater Ruhm und Ehre, sondern Cäsar dem adoptierten Sohn. Der Vergleich zwischen Vater und Sohn bestimmt auch das Ende der Erzählung. Cäsar blickt mit Wohlgefallen auf Augustus’ Taten, Augustus aber besteht darauf, dass Cäsars Leistung den Vorzug verdiene (V. 850–852). Da schaltet sich der Erzähler ein (V. 853–854): Libera fama tamen nullisque obnoxia iussis inuitum praefert unaque in parte repugnat. (»Doch was die Leute sagen, ist frei und keinem Befehl unterworfen: Gegen seinen Willen zieht es Augustus vor und nur in diesem Punkt widersetzt es sich seinem Willen.«)

Was hier über die fama gesagt wird, darf man getrost auch auf die Dichtung beziehen. Es ist, deutet der Erzähler an, seine Sache, die Bewertungen zu bestimmen. Und dies tut er, wenn er im Folgenden die Apotheose des regierenden Herrschers ankündigt. Er werde in den Himmel aufsteigen und von dort menschliche Bitten erhören, und zwar, wie es ausdrücklich heißt, aus der Ferne (V. 870: absens). Das ist insofern eine paradoxe Formulierung, als es üblicherweise der deus praesens ist, der den Menschen beisteht. Der Schluss des Werkes legt dann nahe, diesen fernen Gott mit dem Dichter zu vergleichen, der, wie es im Epilog heißt, in seinem Werk weiterleben wird. Die Exildichtung wird dann den Herrscher noch zu Lebzeiten mit dem höchsten Gott identifizieren, eine problematische Rede, da sie nicht mit der kaiserlichen Selbstdarstellung entspricht; es ist insbesondere der zornig strafende Gott, der dabei dem Leser vor Augen gestellt wird (McGowan 2009, 63–92).

4.5 Rückblick vom Rand des Imperiums Die Tristien und die Briefe vom Schwarzen Meer handeln in vielfacher Variation vom Schicksal des Dichters, der sich selbst mit seinem cognomen Naso bezeichnet; sie legen dem Leser nahe, das Gesagte autobiographisch zu nehmen, wenngleich vieles auch offensichtlich fiktional ist. Insbesondere die Schilderungen einer unwirtlichen Kälte und der barbarischen Sitten der Bewohner der Region speisen sich aus literarischen Topoi (vgl. etwa die Darstellung der Skythen in Verg. georg. 3, 349–383); die Fiktionalität wird zudem mitunter explizit markiert (z. B. trist. 3, 10, 35–37). Die Gedichte kreisen um die Bitte um Begnadigung oder zumindest um Zuweisung eines erträglicheren Verbannungsortes. Die Schuld des Dichters wird anerkannt, doch wird um eine mildere Bewertung des Begangenen gebeten. Als Vorläufer der Exilliteratur des 20. Jahrhunderts taugt Ovid insofern wenig, als er sich nicht als Opfer politischer Verfolgung oder der Repression unliebsamer Literatur sieht (Ehlers 1988). Mit dem zweiten Buch, das aus einer einzigen langen Elegie besteht, wendet sich der Dichter direkt an den Kaiser und bittet ihn, ohne die Schuld zu leugnen, um Milde (V. 27–40). Er verweist darauf, dass der Herrscher in der eigenen Dichtung immer wieder gepriesen worden (V. 61–66) und dass sein Lebenswandel beim Ritterzensus immer ohne Beanstandung geblieben sei (V. 89–102). Da von den beiden Vergehen, die zur Verbannung geführt hätten, nur ei-

4  Ovid und Augustus

nes genannt werden dürfe, die Ars amatoria, verteidigt er sich allein gegen den Vorwurf, mit diesem Werk zum Ehebruch angestiftet zu haben (V. 207–254). Die Argumentation mündet in eine Literaturgeschichte sub specie amoris (V. 361–470), die mit der Liebeselegie endet. Die Interpretationsprobleme sind auch hier komplex (Ingleheart 2010, 24–27); die von dem Dichter zitierte Forderung Catulls, zwischen dem poetischen Ich und der Person des Autors zu unterscheiden, ist ebenso ernst zu nehmen wie der stolze Verweis auf den Ritterstand; doch stehen dagegen Ironisierungen, die sowohl den Herrscher selbst also auch die augusteische Dichtung betreffen. So wird die Verteidigung der Ars amatoria mit der Unterstellung eingeleitet, Augustus sei wohl mit der Unterwerfung weiterer Regionen, der Befriedung der bereits unterworfenen und der Kontrolle der Einhaltung seiner Ehegesetze so beschäftigt, dass die Lektüre des inkriminierten Werkes allzu flüchtig ausfiel – oder ganz unterblieb (V. 213–238). Und in einem Nachtrag zur erotischen Literaturgeschichte wird auch noch Vergils Aeneis mit einem bösen Scherz in sie integriert (V. 533–536). Die Exildichtung weist nicht nur chronologisch über Augustus’ Epoche hinaus; sie entwickelt sukzessive auch ein Bewusstsein davon, dass an den Rändern des Reiches eigenständige Kulturen bestehen, die sich nur bedingt der alten Ordnung fügen. Gegen Habinek, der Ovids Exilgedichte als Versuch gedeutet hatte, eine imperialistische Akkulturationspolitik zu unterstützen (1998, 151–169), hat Davis eingewandt, dass Ovid sich gerade nicht als cultural worker im Dienste römischer Außenpolitik zeige (2002). Auch wenn Ovid durchgehend die Barbarentopik bemüht, um sein Leiden an der unkultivierten Umgebung zu beleuchten, so wird doch zunehmend ein Bewusstsein davon sichtbar, dass sich in der Region eigenständige Kulturen etablieren; so illustriert ein Brief den Wert der Freundschaft mit mythischen Freundespaaren; ein Gete erzählt den Mythos von Orest und Pylades, so dass der Dichter eine lateinische Version der geti-

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schen Erzählung eines griechischen Mythos bietet (Pont. 3, 2, 39–96). Noch das letzte Werk Ovids ist damit ein eigenständiger Beitrag zum politischen Diskurs Roms. Literatur

Barchiesi, Alessandro: The poet and the prince. Ovid and Augustan discourse. Berkeley/Los Angeles/London 1997. Davis, Peter J.: The colonial subject in Ovid’s exile poetry. In: American Journal of Philology 123 (2002), 257–273. Davis, Peter J.: Ovid and Augustus. A political reading of Ovid’s erotic poems. London 2006. Ehlers, Widu-Wolfgang: Poet und Exil. Zum Verständnis der Exildichtung Ovids. In: Antike und Abendland 34 (1988), 144–157. Gurval, Robert Alan: Caesar’s comet. The politics and poetics of an Augustan myth. In: Memoirs of the American Academy in Rome 42 (1997), 39–71. Habinek, Thomas N.: The politics of Latin Literature. Writing, Identity, and Empire in Ancient Rome. Princeton/ Oxford 1998. Heldmann, Konrad: Dichtkunst oder Liebeskunst? Die mythologischen Erzählungen in Ovids ›Ars amatoria‹. Göttingen 2001. Herbert-Brown, Geraldine: Ovid and the ›Fasti‹. An historical study. Oxford 1994. Ingleheart, Jennifer (Hrsg.): A commentary on Ovid, ›Tristia‹, book 2. Oxford 2010. McGowan, Matthew M.: Ovid in exile. Power and poetic redress in the ›Tristia‹ and ›Epistulae ex Ponto‹. Leiden/ Boston 2009. Mette-Dittmann, Angelika: Die Ehegesetze des Augustus. Eine Untersuchung im Rahmen der Gesellschaftspolitik des Princeps. Stuttgart 1991. Millar, Fergus: Ovid and the Domus Augusta: Rome seen from Tomi. In: The Journal of Roman Studies 83 (1993), 1–17. Newlands, Carole E.: Playing with time. Ovid and the ›Fasti‹, Ithaca/London 1995. Schmitzer, Ulrich: Zeitgeschichte in Ovids ›Metamorphosen‹. Mythologische Dichtung unter politischem Anspruch. Stuttgart 1990. Syme, Ronald: History in Ovid. Oxford 1978. Zanker, Paul: Augustus und die Macht der Bilder. München 1987.

Bardo Maria Gauly

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I  Leben und biographische Kontexte

5 Heimat und Exil: Sulmo, Rom, Tomis Zwei der drei Städte, mit denen der Lebensweg des Dichters verbunden ist und auf die er in seinen Werken Bezug nimmt, haben den Dichter mit Statuen geehrt, wenngleich erst lange Zeit nach seinem Tod. Im Jahr 1883 erhielt der italienische Bildhauer Ettore Ferrari vom Präfekten der rumänischen Provinz Constanţa den Auftrag, eine Bronzestatue des Dichters zu schaffen, um in der Stadt, die einst Ovids Verbannungsort war, an ihn und zugleich an die historischen Verbindungen zwischen dem noch jungen Staat Rumänien und dem römischen Reich zu erinnern; die Statue, 1887 eingeweiht, zeigt den Dichter in sinnender Pose, den Kopf in die rechte Hand gestützt, in der linken eine Schreibtafel (Passalalpi Ferrari 2005, 122–124). Fast vierzig Jahre später, 1925, wurde in Sulmona, der Geburtsstadt des Dichters, eine Statue eingeweiht, für deren Guss dieselbe Form wie in Constanţa verwendet wurde. Bei der Zeremonie war König Vittorio Emanuele III. zugegen, nicht aber Ettore Ferrari, der als republikanisch gesinnter Politiker und Großmeister der Freimaurer Antipode des italienischen Faschismus war (ebd., 406–409). So stellen sich zwei Städte in ganz unterschiedlichen politischen Konstellationen in die Tradition des römischen Dichters, für den seinerseits beide sehr unterschiedliche Bedeutung hatten: auf der einen Seite Sulmo, seine Heimatstadt und der Ursprung seiner adligen Familie, auf der anderen Seite Tomis, die Hafenstadt am Schwarzen Meer, die in der Exildichtung zum Inbegriff der Unkultur wird.

5.1 Sulmo: Liebliche und freiheitsliebende Heimatstadt Das römische Sulmo (heute Sulmona) liegt ca. 150 Kilometer östlich von Rom; es war neben Superaequum und Corfinium einer der drei Hauptorte der Paeligner, die seit 304 v. Chr. römische Bundesgenossen waren. Im hannibalischen Krieg stand es auf Roms Seite, fiel aber im Bundesgenossenkrieg 90 v. Chr. von ihm ab; im Bürgerkrieg zwischen Cäsar und Pompeius ging es zu Cäsar über, als dieser Corfinium belagerte (Schur 1931). Die Ovidii zählten zu den ersten Familien des lokalen Ritterstandes, so dass für den Nachkommen des Munizipaladels eine Karriere in Rom offenstand (Syme 1978, 94–97). Die Erinnerung an die Heimat spielt in allen Schaffensphasen des Dichters eine Rolle:

Die Motive sind die Schönheit der Natur (der Wasserreichtum der Region wird immer hervorgehoben), der Stolz auf die Herkunft aus dem Adel Sulmos und der Ruhm, den der Dichter seiner Heimat verleihen kann. Die letzte Elegie des ersten Werkes, der Amores (3, 15), ist ein sogenanntes Siegelgedicht, eine Sphragis, in der der Dichter in eigener Sache spricht, sich als Person zu erkennen gibt und damit zugleich die Rolle des liebenden Ich ablegt. Mit dem Abschied von der Liebeselegie verbindet er eine doppelte Information über seine Herkunft: Er stamme aus Sulmo im Land der Päligner (V. 3 und 11), und zwar aus altem Ritterstand (V. 5–6). Ruhmvoll sei die Haltung der Stadt im Bundesgenossenkrieg gewesen (V. 9–10): Quam sua libertas ad honesta coegerat arma,     cum timuit socias anxia Roma manus. (»Seine Freiheitsliebe hatte das Volk zu ehrenvollem Kampf getrieben, als Rom angstvoll die Truppen seiner Bundesgenossen fürchtete.«)

Der Stolz auf seine Heimat hat seine Kehrseite darin, dass sich nun auch die Heimat ihres Sprosses rühmen dürfe: Er sei für die Päligner, was Vergil für Mantua oder Catull für Verona bedeute (V. 11–14): Atque aliquis spectans hospes Sulmonis aquosi     moenia, quae campi iugera pauca tenent, ›quae tantum‹ dicet ›potuistis ferre poetam,     quantulacumque estis, uos ego magna uoco.‹ (»Und wenn sich einmal ein Fremder die Stadtmauern des wasserreichen Sulmo anschaut, die nur wenige Morgen Land einschließen, wird er sagen: ›Wenn ihr einen so großen Dichter hervorbringen konntet, will ich euch groß nennen – wie klein auch immer ihr tatsächlich seid.‹«)

Auch im Siegelgedicht am Ende des vierten Buches der Tristien (4, 10) erinnert der Dichter an seine Herkunft (V. 3): Sulmo mihi patria est (»Sulmo ist meine Heimat«); der Satz ziert noch heute in abgekürzter Form (SMPE) das Stadtwappen Sulmonas. Auch hier erwähnt er, wie wasserreich die Region ist (V. 3); und er hebt auch hier hervor, dass er altem lokalen Adel entstammt (V. 7–8). Er nennt aber auch die Entfernung nach Rom (V. 4: 90 Meilen), und Rom ist dann auch notwendigerweise das Ziel für den jungen Ritter, der Karriere machen will (V. 15–16), wobei aus der politischen schnell eine poetische Karriere wird (V. 15–40).

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_5

5  Heimat und Exil: Sulmo, Rom, Tomis

Siegelgedichte haben einen paratextuellen Charakter; in ihnen sind biographische Informationen am Platz; es ist deshalb erstaunlich, dass Sulmo auch dort als Heimat des Dichters thematisiert wird, wo dies nach den Konventionen der Gattung nicht zu erwarten wäre. Eine kurze Notiz in den Fasten gehört zu den Passagen, die sich offensichtlich einer Umarbeitung im Exil verdanken, da sich der Dichter in einer Apostrophe an Germanicus wendet (4, 79–84). Er erwähnt im Kontext etymologischer Herleitung römischer Ortsnamen aus dem Griechischen einen Gefährten des Aeneas namens Solymus, der Sulmo den Namen gegeben habe (Bömer 1958, ad loc.: »wahrscheinlich eine Erfindung Ovids«). Die Erinnerung an die Heimat wird zum klagenden Ausruf: Wie weit sei Skythien, das Land der Verbannung, davon entfernt. In der Sammlung der Amores finden sich Referenzen auf den Dichter und sein Leben im Allgemeinen nur in den Gedichten, die den Büchern einen Rahmen geben. In den Liebeselegien selbst wird der Dichter als Person kaum kenntlich. Eine Ausnahme bildet am. 2, 16, ein Gedicht, in dem der Sprecher darüber klagt, dass er von seiner Geliebten getrennt sei, weil er in Sulmo weile. Das erste Distichon bestimmt die Situation: Das elegische Ich befindet sich in Sulmo, das als dritter Teil des Paelignerlandes bezeichnet wird (ein Verweis auf Superaequum und Corfinium). Auf den Preis des Heimatlandes (V. 1–10) folgt die Klage darüber, dass das Reisen die Trennung von der Geliebten bedeute; während mit ihr selbst Fahrten in ungastliche Länder Anlass zur Freude seien (V. 11–32), erscheine, wenn sie fehle, selbst die vertraute Schönheit der Heimat als unwirtlich (V. 33–40). Die Sorge, sie könne ihm während seiner Abwesenheit untreu werden, mündet in die Bitte, sie solle schnell nachkommen (V. 41–52). Sulmo wird, und das ist ungewöhnlich, im Gedicht explizit als Heimat des Dichters bezeichnet; der Dichter appelliert also an den Leser, das Ich des Textes mit dem Dichter Ovid zu identifizieren; wenn die Geliebte nicht bei ihm ist, scheint ihm die eigene Heimat fremd (V. 37–40): Non ego Paelignos uideor celebrare salubres,     non ego natalem, rura paterna, locum, sed Scythiam Cilicasque feros uiridesque Britannos     quaeque Prometheo saxa cruore rubent. (»Dann meine ich nicht das Land der Paeligner mit seinem gesunden Klima zu besuchen, nicht meinen Heimatort, das Land meiner Väter, sondern die grimmigen Skythen, die Britannier mit ihrer grünen Kriegsbema-

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lung und die Felsen, die rot sind vom Blut des Prometheus.«)

Die Trennung von der Geliebten, die durch Reisen in ferne Länder erzwungen wird, ist ein Topos der Liebeselegie, aber sie hat einen festen Platz in der elegischen Konvention: Solche Reisen sind in der Regel durch militärische Zwecke bestimmt, gehören also der Gegenwelt zum unkriegerischen Leben des Elegikers an (z. B. Prop. 1, 6 und Tib. 1, 3). Hier fehlt dieses Motiv; und mehr noch: Die Geliebte hat im Gedicht nicht nur keinen Namen, sie bleibt auch sonst eine blasse Figur, die allein durch die elegische Konvention bestimmt ist. Die Heimat des Dichters dagegen hat nicht nur einen Namen, sie wird auch in ihrer reichen und reizvollen Schönheit gefeiert. Der Ort, der Ziel des Reisens ist, gehört nicht einer Welt an, die der Liebe feindlich gegenübersteht, sondern ist selbst Objekt des Begehrens. Sulmo ist der Ort, an dem die Liebe zur Heimat mit der Liebe zur Geliebten konkurriert.

5.2 Rom: urbs und orbis Die Formel urbi et orbi (»für die Stadt und die Welt«) im päpstlichen Zeremoniell geht auf diverse antike Vorläufer zurück (Bömer 1958 zu Ov.fast. 2, 684); die Gleichsetzung von Rom und der Welt aber ist erstmals von Ovid formuliert worden (fast. 2, 683–684): Gentibus est aliis tellus data limite certo:     Romanae spatium est Urbis et orbis idem. (»Das Land anderer Völker hat feste Grenzen. Roms Raum dagegen ist mit dem der Welt identisch.«)

Im ersten Buch der Ars amatoria findet das Wortspiel Verwendung, als dem jungen Liebenden die Erkenntnis vermittelt wird, dass keine Stadt so viele Gelegenheiten zur Liebe biete wie Rom; zum von Augustus veranstalteten Schauspiel einer Seeschlacht kommt man von überallher (1, 174): ingens orbis in Urbe fuit (»eine ganze Welt war in Rom«). Doch für den jungen Ovid war Rom zunächst einmal ein notwendiger Karriereschritt; wer wie er aus dem Adel eines municipium kam, musste zunächst Rhetorik studieren und erste politische Ämter bekleiden. Und eben davon erzählt er in trist. 4, 10; zusammen mit seinem Bruder sei er zum Studium bei bedeutenden Männer »der Stadt« gegangen (V. 16). Seneca der Ältere überliefert, Ovid habe bei Arellius Fuscus und Porcius Latro studiert, ver-

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I  Leben und biographische Kontexte

merkt aber auch, dass schon seine frühen rhetorischen Übungen wie Prosagedichte (solutum carmen) klangen (contr. 2, 2, 8). Rom befindet sich zu diesem Zeitpunkt in einer dynamischen urbanen Entwicklung. Augustus’ Reformpolitik umfasst die städtische Verwaltung, die Infrastruktur und die Architektur der Metropole (von Hesberg 1988). Die Stadt wurde in Regionen und Bezirke eingeteilt; die Wasserversorgung wurde erweitert und restauriert; und es wurde ein immenses Bauprogramm aufgelegt, das teils durch Augustus selbst, teils durch Vertraute wie Agrippa umgesetzt wurde. Es wurden sowohl alte Tempel renoviert als auch neue errichtet; neu waren etwa der Tempel des Apollo Palatinus, den Augustus nach dem Sieg von Actium weihte, der Tempel des Iuppiter Tonans auf dem Kapitol und der Tempel für Mars Ultor, der zentrale Bau des Augustus-Forums. Dieses war nur eine der Platzanlagen, die das alte Zentrum architektonisch neu strukturierten. Grundlegend war insbesondere die Umgestaltung des Forum Romanum, das erstmals als einheitliche Platzanlage konstruiert wurde. Ein weiterer Schwerpunkt war das Marsfeld, wo zahlreiche Bauten entstanden, die kultivierten Müßiggang erlaubten, wie Portiken und Theater. Bei all dem übte Augustus, was die Selbstdarstellung angeht, Zurückhaltung; die Modernisierung war behutsam; der Einsatz kostbarer Baumaterialien beachtete die Empfindlichkeit einer Tradition, die Luxusgütern gegenüber skeptisch war (Zanker 1987, 157–161). Gleichwohl war der Modernisierungsschub gewaltig, und Sueton merkt an, Augustus habe sich zu Recht gerühmt, er habe eine Stadt aus Backsteinen vorgefunden, hinterlasse aber eine aus Marmor (Aug. 28, 3: [...] ut iure sit gloriatus marmoream se relinquere, quam latericiam accepisset). Auf diese neue Stadt nimmt Ovid vor allem in der Liebesdichtung Bezug, schon in den Amores, wo von einem Rendezvous im Circus Maximus erzählt wird (am. 3, 2), auch dies ein Bau, der unter Augustus verschönert wurde. Im ersten Buch der Ars amatoria findet sich ein Katalog von Orten, an denen der Liebende ein Mädchen finden kann (1, 67–228); sie umfasst unter anderem Säulenhallen, Theater und den Circus, eben die Bauten, die Teil von Augustus’ Urbanisierung waren. Selbst der Tempel des Apollo Palatinus, unmittelbar neben Augustus’ Haus auf dem Palatin gelegen, wird zur Gelegenheit, eine Liebesaffäre anzubahnen (V. 73– 74). Im dritten Buch des Werkes findet sich ein Hymnus auf den cultus, die zivilisierte Lebensweise der Gegenwart; für ihn steht auch die von Augustus neu gestaltete Stadt (V. 113–114):

Simplicitas rudis ante fuit; nunc aurea Roma est     et domiti magnas possidet orbis opes. (»Früher herrschte unkultivierte Schlichtheit; jetzt erstrahlt Rom in Gold, und die Stadt besitzt den großen Reichtum der Welt, die sie bezwungen hat.«)

Zum Zeitpunkt, als ihn das Verbannungsurteil traf, besaß Ovid (nach dem Zeugnis der Tristien) ein Haus im Zentrum von Rom, in der Nähe des Kapitols; in der Elegie, die von seinem Abschied aus der Stadt erzählt, erinnert sich der Dichter an einen letzten Blick zum benachbarten Tempel und an ein letztes Gebet zu den Göttern der Stadt (trist. 1, 3, 27–30) – Verse, die Goethe (im lateinischen Wortlaut und in Riemers Übersetzung) am Ende seiner Italienischen Reise zitiert (1981, 556). Rom bleibt sozialer und literarischer Bezugspunkt in der gesamten Exildichtung, und es wird (wie Sulmo in den Amores) zum Objekt des elegischen Begehrens. So erzählt in trist. 3, 1 das personifizierte Gedichtbuch von seiner Ankunft in Rom; sein Vater, der Dichter, hat es entsandt, und es muss sich nun ohne ihn eine Bleibe in der Stadt suchen. Mit Mühe findet sich ein freundlicher Römer, der das Buch durch die Stadt führt; wie Aeneas eine Periegese durch eine Stadt erhält, die er nie sehen wird (Verg. Aen. 8, 306– 369), so wird das Buch nun durch ein Rom geleitet, das es noch nie gesehen hat und das der Dichter nie mehr sehen wird. Nur kurz werden das Cäsarforum und das Forum Romanum (Via Sacra, Vestatempel und Regia) besucht, dann das Haus des Augustus auf dem Palatin und der angrenzende Apollotempel; die über dem Hauseingang ausgestellte corona civica, die Augustus ob civis servatos (»für die Rettung von Bürgern«) verliehen worden war (Trillmich 1988, 511– 512, Kat.-Nr. 335), wird zum Anlass, um die Rettung des Dichters zu bitten. Der Versuch, die Bibliothek zu betreten, die zum Gebäudekomplex des Apollotempels gehörte, scheitert; ebenso wird dem Buch der Zutritt zu der von Asinius Pollio gegründeten Bibliothek im Atrium Libertatis verwehrt. Und so steht am Ende des Gedichtes die Bitte an die Leser, dem Kind des Dichters eine neue Heimat zu geben.

5.3 Tomis: Zwischen barbarischer Peripherie und regionaler Kultur Tomis, das heutige Constanţa, lag südlich des Donaudeltas an der Westküste des Schwarzen Meeres; erst in augusteischer Zeit wurde die Region von den Römern

5  Heimat und Exil: Sulmo, Rom, Tomis

okkupiert. Die Stadt wurde im 7. Jahrhundert v. Chr. als milesische Kolonie gegründet. Ovids Exildichtung wäre eine unschätzbare Quelle für die Geschichte der Stadt, wenn, was er sagt, historischen Wert hätte; doch beruhen seine Klagen über die Unwirtlichkeit des Klimas, die ständige Kriegsgefahr und die barbarische Unkultur der Stadtbewohner offensichtlich auf literarischen, durch Topoi gespeisten Fiktionen, so dass sich eine historische Auswertung weitgehend verbietet (Podossinov 1987); man ist sogar so weit gegangen, die fiktionalen Motive als Beleg für die Fiktivität des Exils selbst zu nehmen (Fitton Brown 1985, zuletzt Bérchez Castaño 2015). So wird durchgehend marginalisiert, dass Tomis eine griechische Stadt ist; stattdessen werden in Katalogform barbarische Ethnien aufgezählt (Besser, Geten, Sarmaten und Skythen); und vor allem wird in zahlreichen Variationen die unglaubliche Kälte der Region vor Augen geführt; nicht nur die Donau friert im Winter zu, nein auch das Meer; und schließlich nimmt man sogar Wein in gefrorener Form, wie Speiseeis, zu sich (all diese Motive finden sich gebündelt in trist. 3, 10). Der barbarische Charakter der Stadt wird auch durch die Erzählung ihres angeblichen Gründungsmythos illustriert (trist. 3, 9). Medea sei auf ihrer Flucht aus Kolchis an diesen Ort gelangt und habe, um ihren Vater aufzuhalten, der sie verfolgte, ihren Bruder Absyrtus getötet und zerstückelt. Tomis habe seinen Namen vom griechischen Wort τέμνειν (»schneiden«), weil hier Medea den Körper ihres Bruders zerschnitten habe (V. 33–34). Die Einleitung der Elegie thematisiert, und das ist innerhalb der Sammlung die Ausnahme, den Ursprung der Stadt aus der Koloniegründung Milets. Die Argumentation ist nicht widerspruchsfrei: Der aitiologische Mythos soll den barbarischen Charakter der Stadt illustrieren. Er ist aber mit einer Etymologie verbunden, der den Namen aus dem Griechischen ableitet, und dies, obwohl er angeblich älter als die Gründung der Stadt ist (trist. 3, 9, 1–6): Hic quoque sunt igitur Graiae – quis crederet? – urbes     inter inhumanae nomina barbariae; huc quoque Mileto missi uenere coloni,     inque Getis Graias constituere domos. sed uetus huic nomen, positaque antiquius urbe,     constat ab Absyrti caede fuisse loco. (»Auch hier gibt es also – wer hätte das gedacht – griechische Städte, inmitten von barbarischen Ortsnamen, die unmenschlich klingen. Auch hierher kamen Siedler, aus Milet entsandt, und errichteten griechische Kolo-

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nien im Land der Geten. Doch der Name des Ortes ist alt, geht zurück auf die Zeit vor Gründung der Stadt, und er ist abgeleitet, das steht fest, von der Ermordung des Absyrtus.«)

Der Leser ist also mit einem griechischen Mythos aus vorgriechischer Zeit konfrontiert; Barbarisches und Griechisches sind so nicht voneinander zu scheiden. Die Bewohner der Stadt, zumeist Geten oder Sarmaten genannt, werden bis in die spätesten Gedichte als Barbaren, als unzivilisiert, ungebildet, ja als inhuman bezeichnet. Und dennoch werden in den späteren Gedichten der Briefe vom Schwarzen Meer differenziertere Töne hörbar. So erzählt ein getischer Greis in Pont. 3, 2 den Mythos von Orestes’ und Pylades’ Freundschaft und offenbart damit die humanistische Gesinnung seines Volkes; dennoch wird auch in diesem Gedicht eben dieses Volk als barbara turba (V. 38: »unzivilisierter Haufen«) bezeichnet. Solche Widersprüche durchziehen das ganze Spätwerk. Schon in einem der letzten Gedichte der Tristien deutet sich eine geänderte Perspektive an (5, 10, 37): barbarus hic ego sum (»hier bin ich der Barbar«). Das bezieht sich zunächst auf die Sprache; im gleichen Buch ist davon die Rede, der Dichter habe die Sprachen seiner Umgebung, das Getische und das Sarmatische, gelernt (trist. 5, 12, 57–58.). Vom Griechischen, das in der griechischen Kolonie gesprochen wurde, ist nicht die Rede. Der Dichter behauptet schließlich sogar, ein Gedicht in getischer Sprache verfasst zu haben, das bei seinen Zuhörern Anklang fand (Pont. 4, 13). Darin habe er die Taten des neuen Kaisers Tiberius besungen. Ob es dieses Gedicht tatsächlich gab, tut wenig zur Sache. Wichtig ist, dass schon mit einer solchen Erzählung ein neues Licht auf die Peripherie des Reiches fällt: An seinen Rändern beginnen regionale Kulturen ein Eigenleben zu entfalten. Vergleichbares gilt für einen Brief, den der Verbannte an den von Augustus eingesetzten thrakischen König Cotys schreibt (Pont. 2, 9). Er bittet ihn um Schutz und Erleichterung seiner Situation im Exil; da der König selbst dichte, sei an seiner humanen Gesinnung nicht zu zweifeln. Auch wenn das Lob für die Dichtkunst ambivalent ist (man könne gar nicht glauben, dass ein Thraker so schöne Poesie verfasse), werden eigenständige kulturelle Entwicklungen an den Rändern des Reiches zumindest denkbar. Das betrifft auch die Politik selbst; der lokale Herrscher soll wie Iuppiter (eine Rolle, die sonst Augustus zugeschrieben wird) für seine Untergebenen sorgen, während Roms Kaiser sich um das Reich im Ganzen kümmert. Und in diesem

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I  Leben und biographische Kontexte

Zusammenhang fällt auch das Stichwort »Heimat« (Pont. 2, 9, 33–34): Caesar ut inperii moderetur frena precamur,     tam bene quod patriae consulit ille suae. (»Caesar soll, darum bitten wir, des Reiches Zügel lenken, weil er so gut für seine eigene Heimat sorgt.«)

Die Formulierung ist merkwürdig; Roms Kaiser ist einerseits für das Imperium zuständig, andererseits ist sein Aufgabenbereich auf seine eigene Heimat beschränkt. Es gibt also innerhalb des Reiches mehrere patriae, und dies nicht mehr im Sinne einer doppelten Bürgerschaft, wie sie etwa Cicero in Anspruch nimmt (leg. 2, 5). Damit stellt sich die Frage, ob der Dichter in seinem Spätwerk Tomis als neue Heimat begreift; die Antwort muss wohl lauten: nein, auch wenn entsprechende Äußerungen differenzierter ausfallen als früher. In einem der letzten Gedichte (Pont. 4, 14) spricht er darüber, dass Tomis’ Einwohner ihm seine ständigen Klagen über den Verbannungsort übelgenommen hätten, zumal sie ihm Steuerprivilegien und andere Ehrungen erwiesen hätten. Er versucht dagegen zu argumentieren, indem er zwischen dem Land und seinen Bewohnern unterscheidet; mit Ersterem könne er sich nicht anfreunden; aber er wisse die Freundlichkeit der Bevölkerung, die jetzt als griechisch bezeichnet wird (V. 48), zu schätzen (V. 49–50) Gens mea Paeligni regioque domestica Sulmo     non potuit nostris lenior esse malis. (»Mein eigenes Volk, die Päligner, und mein Heimatland Sulmo hätte nicht besser mein Leid mildern können.«)

Man versteht, weshalb Constanţa die erste Stadt war, die Ovid mit einer Statue geehrt hat; gleichwohl geht der rumänische Schriftsteller Marin Mincu, der 1997 einen Roman in italienischer Sprache über den ver-

bannten Ovid vorgelegt hat (Il diario di Ovidio), zu weit, wenn er in einem im gleichen Jahr erschienenen Beitrag Ovids Exil zum Gründungsmythos für eine neue kulturelle Identität gedeutet hat. Auch wenn ein Bewusstsein von sich entwickelnden regionalen Kulturen zunehmend sichtbar wird, bleibt Ovid ein römischer Dichter. Literatur

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Bardo Maria Gauly

II Voraussetzungen

6 Nachfolge griechischer Dichtung 6.1 Vorbemerkungen: Nachfolge oder Suprazeitlichkeit des imaginativen Raums literarischer Praxis Wenn es um Rezeption und Nachfolge in der Literatur geht, dann ergibt sich bisweilen der Eindruck, Literatur bewege sich in einem einfachen linearen, chronologisch beschreibbaren Nacheinander, in dem die Beziehung zwischen einzelnen Autoren historisch wohlgeordnet nach zeitlicher Nähe oder Ferne zu erfolgen habe. Für Ovid bedeutet das, dass wir zuerst nach seinen Bezugnahmen auf seine Zeitgenossen und unmittelbaren Vorgänger, die etwas älteren augusteischen Dichter und diejenigen der späten Republik, schauen, dann auf die griechischen hellenistischen und besonders alexandrinischen Autoren und dann erst in schöner zeitlicher Ordnung auf die Klassische Zeit der griechischen Literatur, die drei großen Tragiker und durch diese auf die sogenannte Frühgriechische Lyrik und natürlich auf die frühe Epik Homers und Hesiods. Und während wir motivisch in Intertextualitätsstudien (oder Allusions-Studien, vgl. die Forschung zusammenfassend Casali 2009) kein Problem damit haben, den Zugriff der Dichter auf beliebiges Material als ein Spiel der Vorstellungskraft und im Medium der Phantasie zu betrachten und also hier keine räumliche oder zeitliche Nähe zu postulieren, scheint es dieses Problem oder diese Frage in der Beziehung zwischen unterschiedlichen und zu unterschiedlichen Zeiten angesiedelten Autoren sehr wohl zu geben. Das hat natürlich auch einiges an Plausibilität. Denn es macht Sinn zu sagen, dass ein gebildeter Dichter wie Ovid, der nach Kallimachos lebte und dessen Werk rezipierte, an dem, was der alexandrinische Gelehrte mit den griechischen Dichtern machte, nicht vorbeisehen konnte (Lightfoot 2009). Es musste ihm sozusagen immer vor Augen stehen und seinen eigenen Blick auf die früheren Dichter mitbedingen. Das lässt ihn aber noch nicht zu einer Perle in einer Kette werden, in der es ein strenges lineares Nacheinander geben muss. Ovid könnte sich auch in der Kenntnis des Umgangs des Kallimachos mit Homer für einen anderen Weg zu Homer entschieden haben und sich gleichsam wie in einem imaginären

Raum jenseits der empirischen Raum-Zeitlichkeit Homer direkt zugewendet haben und zugleich damit eine Aussage zu Kallimachos intendiert haben. Im Sinne dieses Zugriffs stehen die Dichter alle in einem imaginären Raum, dessen Zeitmodus der der Gleichzeitigkeit ist, wobei sich die zeitlichen Verhältnisse in dem bestimmten Beziehungsgeflecht als Qualitäten abbilden ließen. Dieses Modell konkurriert mit der Idee, die späteren Künstler müssten mit der Brille der Perspektiven der Zeitgenossen – im Fall Ovids ist das besonders Vergil – und unmittelbaren Vorgänger auf jeweils frühere Autoren schauen. Für Ovid hat Barbara Weiden Boyd kürzlich betont, dass die Idee eines vergilischen Schleiers, durch den hindurch Ovid habe auf Homer blicken müssen, zu kurz greift und die Fülle an Formen nicht (direkt) vergilischer Homer-Nachfolge oder Responsion auf Homer bei Ovid nicht abzudecken in der Lage sei (Weiden Boyd 2017). Das wird im Folgenden ein paradigmatischer Ausgangspunkt sein, um dem Phänomen der doppelten Bezugnahme Ovids auf die griechische Dichtung, nämlich der direkten und der indirekten, d. h. in dem Bezug auf andere römische Autoren, nachgehen und diese entsprechend adressieren zu können (vgl. zu den »double allusions« bei Ovid: Cairns 1979). Auch die Omnipräsenz Homers, die in der gesamten Antike allein schon dadurch zeitunabhängig gegeben war, dass seine Werke früheste und obligatorische Schullektüre im Grammatikunterricht waren, gepaart mit der hohen Imaginativität der ovidischen Dichtung, legen es nahe, an Homer und Ovid paradigmatisch aufzuzeigen, dass das literaturgeschichtliche Modell einer Nachfolge im strengen zeitlichen Sinn die Idee eines literarischen Raums, den die Dichter erschaffen, in dem sie sich bewegen und der von sich her nicht an eine historische Zeitlichkeit oder Räumlichkeit gebunden ist, nicht hinreichend reflektiert. Daher stellt sich die Frage von dieser Perspektive aus noch einmal neu, ob Ovid ein später Dichter war, also ein Dichter, dessen Kunst immer nur vermittelt über die vor ihm liegende Tradition und als deren – mehr oder weniger originelle – Nachahmung wirken kann. Denn es ist häufig die These formuliert worden, dass sich Ovids Schaffen vor allem als Fortsetzung und imitatio der römischen Vorgänger mit einigen

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_6

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II Voraussetzungen

weiteren Rückgriffen auf die alexandrinischen Dichter, erst in zweiter Reihe und vermittelt auch auf die frühere griechische Literatur (vor allem Homer, Hesiod [vgl. Ziogas 2013], die attischen Tragiker, die Homerischen Hymnen [vgl. dazu Barchiesi 1999]) und die frühere römische Literatur verstehen lässt. In der Fülle an Intertextualitätsstudien, die es vor allem seit den 1970er Jahren in der Ovid-Forschung gibt, hat sich als Normalform der Auseinandersetzung mit dem Phänomen durchgesetzt, zunächst auf die augusteischen Dichter und Zeitgenossen Ovids und die unmittelbar vorausgehende Generation zu schauen und zu deren Werken Bezüge und Anspielungen aufzuspüren. Erst in zweiter Linie scheint sich Ovid mit den griechischen Vorbildern dieser römischen Dichtungen oder griechischer Literatur überhaupt auseinandergesetzt zu haben. Um diese Diskussionen und Argumente gegen ein Bild Ovids als bloßen zweifach vermittelten Imitator griechischer Literatur und Fortsetzer spezifisch römischer Rezeptionswege vorzustellen und um aufzuzeigen, wie Ovid im Dialog mit unterschiedlichen Bezugstexten seiner Dichtung eine spezifisch ovidische Atmosphäre und Kontur gibt, müssen die wichtigsten Gattungen, in denen Ovid schrieb, nacheinander und als wechselseitig aufeinander Bezug nehmendes Geflecht durchgegangen werden, weil sich hier jeweils spezifische Relationen ergeben.

6.2 Ovid und die Amores Auch wenn wir heute mit Ovid zumeist in erster Linie die Metamorphosen und die Fasti verbinden: Dem eigenen Selbstverständnis und dem seiner antiken Interpreten nach war Ovid ein elegischer Dichter, der sich in die – in dieser Form genuin römische (vgl. Farrell 2012) – Tradition eines Gallus, Properz und Tibull einreihte (Ov. trist. 4, 10, 51–55; Quint. inst. 10, 1, 93) und der mit den Amores beginnend, über die Heroides, die Ars amatoria bis hin zu den Remedia Amoris (vgl. rem. 7–8) dem Liebesthema treu blieb und auch noch in seinen nicht- oder nicht spezifisch liebeselegischen Dichtungen Formen und Motive elegischen Dichtens fortsetzte und dadurch zu neuen literarischen Gattungen wie einem nicht-elegischen, aber elegisch konnotierten Epos (Metamorphosen) oder Lehrgedicht (Fasti) gelangte. In seinem elegischen Dichten verflicht Ovid verschiedene griechische Bezugstexte miteinander und gibt ihnen seine eigene, spezifisch ovidische Färbung. Dabei kommt es zu einer Transformation der motivisch oder namentlich angeführten Bezüge in rö-

misch-ovidisch Elegisches. Die Charakteristika der römischen Liebeselegie scheinen genuin römisch zu sein. Trotzdem sind Ovids Elegien eine Plattform der vielfältigen Bezugnahmen auf griechische Dichtungen, ihre Inhalte, Motive, Techniken und Poetologien. In seinem frühesten Werk, den Amores, tritt Ovid selbstbewusst gleich als reifer elegischer Dichter auf die Bühne. Doch auch die Gattung der Elegie beginnt nicht erst mit Properz’ Elegienbuch, sondern schon die antike Literaturgeschichte führt als Vorgänger den alexandrinischen Dichterphilologen Kallimachos von Kyrene und den ebenso gelehrten Dichter Philitas von Kos an (Quint. inst. 10, 1, 57–59, Farrell 2012). Diese bearbeiteten allerdings abgesehen von dem Metrum des elegischen Distichons in Form und Inhalt ganz verschiedene mythologische Stoffe in der dritten Person, sind also für die Formen der römischen Liebeselegie nur ein Bezugscorpus und Fundus aus der griechischen Literatur neben weiteren anderen, unter denen wiederum Homer hervorragt. Einige Charakteristika von Ovids (früher) Auseinandersetzung mit Homer können wir in am. 1, 9, 33–40 ablesen, das mythische Beispiele für die Mobilisierung von Kräften und militärischer Aktivität durch die Liebe und für die Liebenden bringt: Achill habe aus Trauer um seine geliebte Briseis den Troern den Kampfplatz überlassen und damit eine Wende im Trojanischen Krieg zu Ungunsten der Griechen herbeigeführt, Andromache habe ihrem Mann Hektor den Helm gereicht, damit dieser in die Schlacht zurückkehren konnte, Agamemnon habe bei der Eroberung Trojas innegehalten, als er Kassandra erblickte, Mars sei beim Ehebruch ertappt und von ehernen Fesseln gehalten worden. Diese Verse wurden in der Forschung entweder als für den Kontext wenig passende oder kontraproduktive rhetorische Beispiele betrachtet (Kenney 1959, 241; McKeown 1989, 272) oder aber als Beleg angeführt, um Ovids Technik der radikalen Transformation und Unterwerfung des homerischen Vorbilds unter die Regeln und Atmosphäre der elegischen Liebe aufzuzeigen (Weiden Boyd 2017, 24–27). Eine solche Elegisierung wiederum könnte als Paradigma für die Dominanz des Spielerischen in Ovids Dichtung und Zugriff auf die homerische Dichtung genommen werden und somit als Zeichen des späten Dichters Ovid. Tut man dies, unterschätzt man aber die Passage und gibt ihr eine nur abstrakte Bedeutung als Gegenbild zu Homer um des Kontrastes willen. Doch bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass Ovid hier eine provokative und in spezifischer Weise funktionalisierende Umdeutung von in der Ilias erzählten

6  Nachfolge griechischer Dichtung

Handlungen vornimmt. Das Verhältnis einer möglichen Liebesgeschichte zwischen Achill und Briseis als zentrales Handlungselement der Ilias werden wir gleich in epist. 3 betrachten: Die Behauptung, Achills Handeln ließe sich aus einer leidenschaftlichen Liebe zu seiner Kriegsgefangenen erklären, weicht radikal von der Ilias-Handlung bei Homer ab; zu behaupten, Andromache schicke Hektor in den Kampf, verkehrt gar die Handlungssequenz im 6. Gesang der Ilias, wie wir gleich sehen werden, in ihr Gegenteil; ein Aufeinandertreffen zwischen Agamemnon und Kassandra gibt es in der Ilias gar nicht, sie gehört in die Erzählungen von der Iliupersis, dem Fall Trojas, der in der Ordnung der erzählten Geschichte jenseits der Ilias liegt und also Stoff der nachhomerischen kyklischen Epen war. Blicken wir nun beispielhaft auf das Verhältnis Hektor – Andromache. Die Begegnung zwischen Andromache und Hektor in Troja kurz vor den von Zeus den Trojanern gewährten Erfolgen im Kampf, die mit dem Wiedereintritt Achills und der Tötung Hektors durch den größten der griechischen Helden im 19. Gesang endet, ist ein emotionaler Höhepunkt der Charakter- und Stimmungszeichnung in der Ilias und kündigt zugleich eine neue Wendung an, die die Handlung nehmen wird (Il. 6, 399–502). Hektor hat Mitleid mit seiner weinenden Frau. Beide wissen, dass er aus den Kämpfen, zu denen er gerade aufbricht, nicht lebend zurückkehren wird und dass dies das Schicksal Andromaches, ihres Sohnes Astyanax und aller Troerinnen und Troer besiegeln wird. Der Helm mit dem imposanten Helmbusch, auf den Ovid verweist, spielt in der homerischen Szene durchaus eine Rolle, nur ganz anders als bei Ovid. Denn Hektors kleiner Sohn auf dem Arm seiner Amme fürchtet sich vor dem glänzenden Metall der Waffen und dem wippenden Helmbusch auf dem Kopf des Vaters und weicht zurück, als dieser ihn an sich ziehen möchte (Il. 6, 466–470). Die Eltern lachen über diese Regung des kleinen Sohnes und Hektor setzt den Helm ab, um dem Kind die Angst zu nehmen (Il. 6, 471–474). Doch Hektor kennt auch seine anderen Pflichten neben der Sorge für seine junge Familie und weist Andromaches Bitte, er möge sich doch von den Kämpfen fernhalten, nicht aus Hartherzigkeit oder tumber Kampfeswut, sondern aus einem höheren Verantwortungsgefühl heraus zurück. Weinend wendet sich Andromache ab, Hektor hebt den Helm auf und zieht in die Schlacht (Il. 6, 495–502), während sich in dem Haus »des männermordenden Hektor« Trauer und Totenklage um den noch lebenden Helden erheben (Il. 6, 499–500).

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Der 6. Gesang der Ilias beschreibt also einen Konflikt zwischen der Liebe und Sorge Hektors für seine Frau und seinen Sohn und seiner Verantwortung für die Stadt und seine Mitkämpfer, in dem sich Hektor zu entscheiden hat. Zu behaupten, Andromaches Liebe schicke den Männermörder Hektor noch selbst in den Kampf, verkehrt diese traurige, die Zukunft antizipierende Familienszene emotional und als Handlungselement in ihr genaues Gegenteil und gibt der Beziehung zwischen Hektor und Andromache eine rein erotische Färbung, weshalb Ovid auch auf die bei Homer so eindrucksvolle Szene mit dem kleinen Sohn, der sich vor dem gerüsteten Vater fürchtet, ausblendet. Das ist eine ›Neunutzung‹, der sich jeder antike Leser, der seine Ilias kannte, wohl bewusst war. Wenn Ovid die Szene als Exemplum für seine These militat omnis amans (»im Krieg kämpft jeder, der liebt«, am. 1, 9, 1), mit der die Elegie am. 1, 9 beginnt, wählt und damit die im Liebhaber angespornte Tatkraft im öffentlichen Raum meint, dann arbeitet er tatsächlich nicht mit einem Beleg, sondern einer Sequenz, die seine These zunächst auf einer Bedeutungsebene subversiv unterminiert und zugleich die von ihm angestrebte andere Bedeutungsebene aufbaut: nämlich die Deutung der Liebespraktiken selbst als eine Form der militärischen Praxis und eine Umdeutung militärischer Metaphorik und militärisch konnotierter Szenen ins Erotisch-Sexuelle (eine Sexualisierung militärischer Ausdrücke sieht McKeown 1989 z. B. ad am. 1, 9, 29–30 und 26). Generell sehen wir bereits in der griechisch-hellenistischen Kunst und Literatur seit dem späten vierten und beginnenden dritten Jahrhundert v. Chr. eine Tendenz zur Erotisierung und Sexualisierung von Mythen und mythischem Personal nicht nur in Komödie und Vasenkunst, sondern in allen Gattungen und Formen der Literatur und Kunst (allgemein: Buchholz 1954; zum Epigramm: Fantuzzi/Hunter 2004; zum Roman: Rohde 1914, 12–14; zur Großplastik: Zanker 1998, bes. 39–40; Schneider 2000). Die erotischen Potentiale des Polyphem-Mythos wurden ebenso ausgelotet wie die des Herakles-Mythos oder auch der Legendenbildung über frühgriechische Dichter wie Sappho und von narrativen Gattungen überhaupt, was sich in der Etablierung der Form des hellenistischen Romans, der vor allem erotische Abenteuergeschichten erzählt und der in mancher Hinsicht an die Stelle des Epos trat, niederschlug. Eine allgemeine Erotisierung der Mythen gab es also zu Ovids Zeiten bereits als eine erprobte Möglichkeit des Umgangs mit den überlieferten und auch mit den literarisch gestalteten Mythen und wurde von

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II Voraussetzungen

den Elegikern vor Ovid weiter pointiert. Doch die beschriebene Übersetzung des Geschehens im 6. Gesang der Ilias in etwas, das auf der literalen Ebene militärisch ist, das aber zur Stützung der These des Gedichts metaphorisch für eine Beschreibung sexueller Praktiken benutzt wird, nimmt diese Erotisierung allenfalls als stützenden Hintergrund auf. Denn Ovid erschafft hier nicht einen neuen Mythos, sondern transformiert die Familienszene in der Ilias in etwas, das auf der metaphorischen Ebene vollständig sexualisiert ist und das seine Bedeutung erst durch den direkten Kontrast zur (wohl bekannten) homerischen Szene entfaltet. Einen Schlüssel für die Deutung der Exempla bieten die Verse davor und danach (am. 1, 9, 29–30 und 45–46 [vielleicht auch 43–44]), die jeweils eindeutig militärische Begriffe sexuell aufladen und damit eine neue Bedeutungsebene jenseits der homerischen Handlungssequenzen erschließen.

6.3 Ovid und die Heroides Auch die Heroides präsentieren mit der Mythenauswahl Verbindungen zu verschiedenen Gattungen und Autoren der griechischen Literatur: zum Epos (epist. 1, 3, 6–7), zum Drama (epist. 4, 8–9, 11–12, 14) und zu hellenistischen Literaturformen (epist. 2, 5, 10, 13), und dies jeweils mit weiteren Querbezügen zu anderen Werken, Gattungen und Zeiten. Der Brief der Briseis an Achill (epist. 3) ist eine Auseinandersetzung mit griechischen Vortexten auf mehreren Ebenen: Das beginnt auf der sprachlichen Ebene und setzt sich als Dialog mit Gattungskonventionen von Elegie und Epistel und Handlungselementen epischer Dichtung fort (vgl. Morrison 1997). Denn der Brief setzt ein mit einer Captatio benevolentiae, in der Briseis ihr schlechtes Griechisch, in dem sie schreibe, und ihre Tränen, die den Brief befleckten, entschuldigt. Eine lateinische Epistel also, die einen in barbarischem Griechisch geschriebenen, von den Tränen der Verfasserin getränkten Brief einer trojanischen Gefangenen des Helden der homerischen Ilias, Achill, wiedergibt und behauptet, ein solcher zu sein? Das hat ein hohes Reflexionspotential mit Blick auf den Prozess des Schreibens (Ovids) und die (Im)Materialität von Brief und literarischer Epistel. Hinzukommt, dass Briseis später mit der fast wörtlichen Wiederholung von Szenenelementen, die bei Homer als iterative Elemente ihre Wurzeln in der langen Tradition epischen mündlichen Dichtens haben, auf das archaische Alter der Gattung und des Referenztextes reflektierend verweist

(vgl. die Wiederholung der in der Ilias wiederholten Nennung der Achill versprochenen Wiedergutmachungsgaben: epist, 3, 31–38). Das sind beides Aspekte, auf die das homerische Epos weitgehend (mit Ausnahme der Auftritte epischer Sänger) verzichtet, und somit eine Erweiterung des Spektrums literarischer Techniken und Inhalte durch Ovid. Auch motivisch entfaltet Ovid solche Aspekte aus der homerischen Erzählung von der Wegnahme der Briseis durch Agamemnon, die in der Ilias nur nebenbei bemerkt werden (Il. 1, 348) und keine zentrale Rolle für die Handlungsentwicklung spielen. Doch die Zentralsetzung des Motivs der erotischen Bindung und Vergangenheit des Paares Achill-Briseis ist charakteristischerweise nicht nur eine Erweiterung des Spektrums homerischer Handlungsführung, nicht einfach ein spin off der Handlung, sondern Ovid reduziert diese auch in signifikanter Weise. Denn Ovid lässt Briseis Achill dazu auffordern, sie wieder, wie von der Gesandtschaft angeboten (9. Gesang der Il.), zurückzunehmen und – als ein Nebeneffekt – wieder am Kampf teilzunehmen (epist. 3, 31–38). Kein Wort über den eigentlichen Anlass für die Menis, den Zorn des Achill, der bei Homer in der Entehrung Achills durch Agamemnon begründet ist. Briseis begrenzt die ihrem Brief zugrundegelegte Ilias-Handlung neu. Die Gerechtigkeit im Austausch von Ehre und Anerkennung unter den Kämpfern vor Troja und das Ringen um das passende Maß werden noch nicht einmal als Nebenthemen berührt. Und auch das Liebesverhältnis zwischen Briseis und Achill, das als wechselseitig beschrieben wird, hat nur eine bestimmte Dimension: die Ebene des erotischen körperlichen Verlangens, eine Dimension, die auch in Briseis’ Erinnerung an Patroklos indirekt aufscheint (epist. 3, 23–24). Denn bei Ovid erscheint Patroklos in der Rolle des heimlichen Kupplers. Die homerische Briseis hingegen nennt Patroklos nicht deswegen »am meisten geliebt« (Il. 19, 287–300), weil sie ein Liebesverhältnis mit ihm hat, sondern weil er sich ihr als Kriegsgefangenen gegenüber als gerecht und gut erwiesen hat. Diese Form der Erotisierung eines Mythos oder Sachverhalts mit einem anderen Thema und Kontext ist ein typisch ovidisches, in hellenistischer Tradition stehendes Motiv. Sie wurde oftmals als Indiz einer Verbürgerlichung des Heroischen oder der umfassenden Erotisierung und Elegisierung des gesamten Lebens gedeutet (z. B. Effe 1978). Doch nicht ein bestimmtes Verhaltensideal steht bei Ovid im Vordergrund, sondern das literarische und sprachliche Panorama, das sich aus der Applizierung des Erotischen auf alle Lebensbereiche und bei der erotischen Semantisierung

6  Nachfolge griechischer Dichtung

von gewöhnlich nicht erotisch konnotierten Worten entfaltet. Die ovidische Kunst ist alles andere als bürgerlich oder ins Bürgerliche hinabgezogen. Im Gegenteil: Der souveräne und fast skrupellos kecke Umgang mit homerischen Szenen und Vorbildern und die Selbstverständlichkeit, mit der Ovid Texte, Motive, Gegenstände, Personen aus älteren griechischen literarischen Kontexten seinen eigenen vor allem erotischen Regeln und Regelverstößen unterwirft und ihnen dazu mit gelehrten Einzelheiten historische Tiefe und literarhistorische Gelehrsamkeit verleiht, zeugt von einem ebenso elitären wie künstlerisch freien Denken. Zwei weitere Merkmale der ovidischen Referenztechnik scheinen in der Szene und ihren Kontexten auf: 1. die Dramatisierung und Wendung ins DirektPersönliche – eine Qualität, die die Heroides auch in der Umdeutung von Tragödienstoffen und Bezugnahmen auf Dramen annehmen – und 2. die Verkehrung und der Austausch von Gender-Rollenmotiven. Anders als Homer in der Klageszene im 19. Gesang der Ilias flicht Ovid in die Erinnerung der Briseis an Patroklos einen kleinen Dialog ein, in dem Patroklos sich tröstend an Briseis wandte, als sie von Agamemnons Boten weggeführt wurde (Ov. epist. 3, 25–26): »Warum weinst du? Bald schon wirst du wieder hier sein«. Aus der überparteilichen menschlichen Größe des Patroklos bei Homer wird dadurch eine intime freundschaftliche Beziehung zwischen zwei Freunden Achills in einem Dialog, der zudem den großen Plot der Ilias subversiv in Frage stellt. Denn Patroklos meint bereits am Anfang des Konflikts das baldige Ende desselben vorhersagen zu können, allerdings nicht so sehr mit Interesse an dem großen Ehrenkonflikt, sondern vielmehr in der Rolle des Kupplers, der der Geliebten ihren Liebhaber zurückverspricht. Die Briefeschreiberin Briseis arbeitet selbst an dieser Umdeutung des großen Handlungsverlaufs – zumindest in ihrer Imagination. Diese Umdeutung steht dabei explizit unter der Überschrift einer genderbedingten Neuformung. Denn Briseis erzeugt den Eindruck, dass sie aufgrund ihrer erotischen Attraktivität auf Achill etwas rasch zu leisten im Stande sei, an dem sich die Versammlung der größten und rhetorisch gewandtesten Helden der Griechen vergeblich versucht hatte. So behauptet sie, dass die Gesandtschaft erfolgreich sein könne, wenn sie sie bestreite: Sie könne mit ihren Küssen mehr erreichen als Phoinix, der schlaue Odysseus und Nestor (epist. 3, 127–134). Ohnehin vermutet sie voller Eifersucht, dass sich Achill ganz dem erotischen Müßiggang hingegeben habe und dessen Süße nun mehr schätze als den Ruhm kriegeri-

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scher Taten (epist. 3, 113–120). Ein ganz anderer und ganz weiblichen Reizen erlegener Achill tritt hier in Briseis’ Vorstellungen vor das geistige Auge der Leser (epist. 3, 133–134). Sind Zorn und Gerechtigkeitsstreben also nur Fassade, hinter der ganz andere, private und sinnliche Interessen stehen? Auch oszilliert der Brief zwischen einer Briseis, die sich dem servitium, also ihrer Rolle als kriegsgefangener Sklavin, unterwirft und damit identifiziert, und einer domina der römischen Liebeselegie, deren Reizen ihr Geliebter – zumindest in der Vorstellung der Briefeschreiberin – erlegen und hilflos ausgeliefert ist und der er seinerseits bedingungslose Dienste, nämlich das servitium amoris schuldet.

6.4 Ovid und die Remedia amoris Eine andere Form der souveränen und den griechischen Referenztext gemeinsam mit römisch-augusteischen Texten und Kontexten evozierenden Einbeziehung der klassischen griechischen Literatur zeigt sich in den die Ars amatoria komplementierenden Remedia amoris, also Ovids Fortsetzung der drei Bücher der Liebesschule unter anderen Vorzeichen (Woytek 2000, Holzberg 1997, 115–117). In diesen Lehrbüchern begegnen griechische Referenztexte vor allem als Vergleiche und Exempel. Das trifft auch auf die Geschichte der Zauberin Circe zu, auf die Ovid in den Remedia als Beispiel dafür verweist, dass Zauberkräuter in Liebesdingen keine Hilfe bringen (rem. 263– 264). Ganz ähnlich wie Calypso in der Ars amatoria (ars 2, 123–142; s. Kap. 22) präsentiert Ovid in den Remedia auch Circe als (elegische) Liebende, die von Amor/Cupido bezwungen handelt (rem. 263–288, bes. 267–268). Umsonst habe sie mit ihren magischen Kräutern versucht, Odysseus zu kontrollieren, tatsächlich hätten sie diese Zauberkünste aber nicht vor der Gewalt des Amor zu schützen vermocht (Rem. 270). Gefleht habe sie: Wenig nur sei es, was sie erbitte. Nicht Ehefrau zu werden begehre sie mehr, sondern nur ein wenig Zeit. Auch berge das Meer jetzt gerade große Gefahren und es gebe keinen Grund zur Eile. Denn hier entstehe kein neues Troja, niemand rufe seine Verbündeten wieder zu den Waffen. Und dennoch gab Odysseus ihren Bitten und Klagen nicht nach (rem. 273–286). In der kurzen Partie sind griechische mit lateinischen Referenztexten kunstvoll verflochten. Ovid kontert die griechischen Vorbilder, indem er den Personen und ihren Verhältnissen neue Züge verleiht. Er bezieht sich mit seiner Circe-Dar-

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II Voraussetzungen

stellung hier (und später in den Metamorphosen: met. 14, 248–440) auf die Erzählung innerhalb der Apologoi, den Ich-Erzählungen des Odysseus in der homerischen Odyssee (Od. 10, 189–489). Doch Homers Kirke unterliegt in keiner Weise der Macht des Eros, sie wird als autonome und mächtige Göttin geschildert, die einzig gegen das von den Göttern verhängte und von Hermes geweissagte Schicksal nichts auszurichten vermag, die aber mit ihren Zauberkräften und Verbindungen zu den Göttern übermenschliche Kräfte besitzt und Odysseus wertvolle Vorhersagen und Hinweise über die ihm bevorstehende Zukunft machen kann (Od. 1, 490–540). Sie fleht Odysseus nicht an, bei ihr zu bleiben, sondern überzeugt ihn und die Gefährten: Zu viel hätten sie erlitten und müssten ihre Herzen erst wieder mit Freude und Mut erfüllen (Od. 10, 464–465). Auch Odysseus unterliegt nicht ihrem Zauber und auch nicht den Pfeilen des Eros, sondern berichtet später selbst, wie sehr er sein eigenes Herz bezwingen musste, um an seinem wohlüberlegten vorausschauenden Plan festhalten zu können, mit dem er der gefahrvollen Situation zu seinem Wohl und dem Wohl der Gefährten entkommen konnte (Od. 14, 405; 466; 475). Konflikt und Lösung liegen also auf einer anderen Ebene, und zwar auf eine Weise, wie sie typisch ist für nahezu alle Handlungsteile der Odyssee. Nicht Liebe hält Odysseus bei Kirke, sondern der Wunsch, seiner Mannschaft neue Kraft und wiedererwachtes Streben nach ihrem Zuhause einzugeben. Ovid interpretiert aber nicht nur diesen Vordergrund neu und unterwirft ihn den Regeln des Elegischen, sondern auch den Hintergrund der Troja- und Heimkehrererzählung. Denn während der Verweis auf die Odyssee uns eine ganz andere Kirke vor Augen führt und Odysseus in ganz andere Liebesabenteuer verstrickt als der homerische Odysseus sie auszukämpfen hatte, spielt Ovids Kirke in den Remedia darauf an, wie Aeneas mit seinem Schiff auf seiner Irrfahrt und Rückkehr in die neu zu gründende Heimat an der Insel der Kirke verbeifährt (Verg. Aen. 7, 5–24; vgl. Möller 2017). Bei Vergil fährt Aeneas an der Insel Aia nur vorbei, hört nur von weitem das Brüllen und Heulen der von Kirke in Tiere verwandelten Menschen, er lässt also eine der großen Stationen der Irrfahrten des homerischen Odysseus aus, vernimmt davon nur eine ferne Kunde (Aen. 7, 16–24). Ovids Kirke missdeutet nun anders als Homers Kirke die Zeichen der Zukunft: »Kein neues Troja entsteht, kein anderer wird die Verbündeten wieder zu den Waffen rufen« (Rem. 281–282). In der Chronologie des Mythos aber

wird Aeneas kurz nach Odysseus’ Aufenthalt auf der Insel der Kirke an diesen Ufern vorbeisegeln und eben gerade doch ein neues Troja erbauen und neue Bundesgenossen zum Krieg rufen (Verg. Aen. 1, 205–206; vgl. Barchiesi 2001, Casali 2009, 345–346). Diese Praeteritio, das Vorbeigehen, als Handlungs- und rhetorische Figur greift Ovid auch in der zweiten Passage auf, in der er sich auf die Kirke-Erzählung aus Odyssee und Aeneis bezieht, nämlich in den Metamorphosen, in denen er den Odysseus-Gefährten Macareus als zweite Stimme neben dem sich verteidigenden Ich-Erzähler Odysseus aus der Odyssee seine eigene Sicht der Ereignisse auf Aia und die Verfehlungen des Anführers Odysseus berichten lässt (vgl. Papaioannou 2005, 75–111). Auch hier fährt Aeneas an der gefahrenreichen Insel vorbei. Er tut dies allerdings so wie in der Aeneis und anders als in der Odyssee erst nach seinem Besuch in der Unterwelt (met. 14, 154–159) und hört nur – diesmal freilich sprachlich artikulierte – Kunde von Odysseus’ Abenteuern (met. 14, 223–441). Ovid kombiniert also quer durch die verschiedenen Gattungen seiner Dichtung Perspektiven und ästhetische Zugriffe auf Kirkes Zauberkunst ebenso wie das Spiel mit Nähe und Distanz neu und unterwirft die gesamte Erzählung und ihre Charaktere dem Paradigma elegischen Erzählens und Argumentierens. Zeitordnungen und Erzählordnungen des und im Mythos werden dabei genauso wie die literaturgeschichtlichen Zeitabfolgen neu und frei erschaffen und durcheinandergewirbelt.

6.5 Ovid und die Metamorphosen: Drama und Bildlichkeit In dem die Amores abschließenden Gedicht (am. 3, 15) sagt Ovid der dort vollendeten Form der elegischen Liebesdichtung Lebewohl. Er habe sie an ein Ende geführt und wolle nun ein größeres Gebiet angehen, das durch die Verbindung mit Bacchus/Dionysos als Drama gekennzeichnet wird (am. 3, 15, 17–18). Das weist nicht nur auf die Tragödie Medea voraus, das einzige von Ovid verfasste Drama, von dem nach Quintilian (inst. 8, 5–6) und Seneca maior (suas. 3, 5, 67) nur zwei Verse erhalten sind, sondern auch auf die umfangreichen Auseinandersetzungen mit durch klassische Tragödien des Euripides besetzte Stoffe wie z. B. Medea (met. 7) und Pentheus (met. 3) in den Metamorphosen. Gerade der Pentheus-Mythos, der von der Einführung des Theatergottes Dionysos in Theben handelt, ist prädestiniert dazu, eine mehrdimensionale Bezugnahme

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auf die genuin griechische Gattung der attischen Tragödie des fünften Jahrhunderts zu entfalten. In Ovids Metamorphosen-Büchern 3 und 4 sind die Bakchen des Euripides kontinuierlich zentraler Referenztext (met. 3, 1–4; 603), der mit etlichen weiteren (Eur. Phoen., Theokr. 26, Hom.h. Dionys.) sowie der vergilischen Aeneis als ständigem Referenztext, z. B. durch die Annäherung der Figur des Pentheus an den vergilischen Turnus, der seinerseits wieder andere griechische Texte aufruft, verflochten wird. Je näher der Text an das Zerreißen des Pentheus (Pentheus-Mythos: met. 3, 511–733; dazu James 1991–1993; Feldherr 1997, Keith 2002, Janan 2004, 2009, McNamara 2010) rückt, desto intensiver wird dieser Dialog zwischen den Texten. Als Beispiel soll nun daher die Erzählung von dem Zerreißen des Pentheus durch die bacchantischen Mänaden, die von Pentheus’ Mutter Agaue angeführt werden, etwas näher betrachtet werden. Ovid bezieht sich auf die euripideische Handlung und Charakterisierung des Pentheus hier vor allem mittels des Kontrasts und durch Anspielungen auf die Techniken und Konventionen der Tragödie und ihrer Theorie. Denn die beiden Protagonisten und Antipoden, Bacchus bzw. Dionysos und Pentheus, handeln bei beiden Autoren sehr unterschiedlich. Während es bei Euripides Dionysos ist, der Pentheus zu der Verkleidung und zum Ausspionieren der Mänaden überredet, ihn auch aktiv als Opfer der Mänaden in deren Mitte platziert und seine Anhängerinnen aus Rache für dessen Frevel gegen ihn auf Pentheus hetzt, hält sich der ovidische Bacchus – ähnlich wie Dionysos in Theokrits Eidyllion 26 (Cusset 1997) – ganz aus dem Geschehen zurück. Er ist allenfalls ein Hintergrund für das schreckliche Geschehen. Ovids Pentheus rennt aus großer Wut und Raserei offen in sein Unglück, weil er bis zuletzt sein Ideal von Männlichkeit und Tugend als Gegensatz zu Bacchus’ neuem Kult sieht. Bei Euripides unterstützt die beschriebene Handlungsführung die Plausibilität, warum Pentheus seinen Fehler und die unmittelbare wirkliche Gefahr, der er gegenübersteht, nicht erkennt, und stützt die Erkenntnis, wann und warum es zu einer mit einer Erkenntniswende (Anagnorisis) verbundenen Peripetie kommt, also einem Umschlag der Handlung vom Glück ins Unglück bzw. von einer auch von der räumlichen Lage her überlegenen Spionsposition in die Fänge der im Wahn, einen wilden Eber vor sich zu haben, blind wütenden Mänaden. Erst im Angesicht des unmittelbar drohenden Todes erkennt er seinen Fehler (Eur. Bacch. 1113). Mit dem Bekenntnis zu seiner Hamartia, seiner tragischen Verfehlung, versucht er

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noch, die eigene Mutter anzusprechen, sich ihr zu erkennen zu geben und um Mitleid zu bitten (Eur. Bacch. 1118–1121) – jedoch ohne Erfolg. Ovid hingegen lässt seinen Pentheus geradewegs gleichsam gegen die Wand laufen. Pentheus geht nicht aus Neugierde zu den Mänaden, sondern verharrt bis fast zum Schluss im Zorn gegen den Kult, der die staatliche Ordnung in Frage stelle (Ov. met. 3, 577–578 und 701). Erst als er schon fliehen muss und verwundet ist, lässt er davon ab. Dann bekennt auch er, gefehlt zu haben (met. 3, 718), doch er tut es nicht aus Erkenntnis (bei Euripides heißt es: emanthanen, Bacch. 1113; vgl. zur tragischen Handlung der Bakchen Radke 2003), sondern aus schierer Angst (met. 3, 716–717: ... cunctae coeunt trepidumque sequuntur,/ iam trepidum, iam verba minus violenta loquentem – »alle rotten sich zusammen und verfolgen den vor Angst Zitternden,/ jetzt zittert er, jetzt wählt er weniger aggressive Worte«). Ein Motiv Theokrits aufgreifend ersetzt Ovid den von Euripides inszenierten Dialogversuch mit der Mutter Agaue durch einen Dialog mit deren Schwester Autonoe. Pentheus bittet seine Tante, an das Schicksal ihres eigenen Sohnes, des Actaeon, zu denken, der von Diana in einen Hirsch verwandelt und dann von seinen eigenen Hunden zerrissen worden war (wie Ovid in met. 3, 173–252 erzählt). Doch Autonoe weiß nicht mehr, wer Actaeon überhaupt ist und reißt Pentheus die Hand ab (met, 3, 721–722). Familienbande sind gänzlich aufgehoben im Wahn. Ganz ähnlich, wenn auch das Problem dort aufseiten des Senders liegt, scheitert auch Actaeon bei Ovid daran, sich seinen Hunden zu erkennen zu geben (met. 3, 230–231). Dadurch dass Ovid seinen Pentheus auf das Schicksal des Actaeon als Vergleich anspielen lässt, wird betont, dass es nicht um Erkenntnis oder Fehler der Protagonisten, ja, letztlich nicht einmal um die Handlungen als solche geht (eine metapoetische Deutung der Episode als hermeneutischen Schlüssel für die epischen Techniken der Metamorphosen bietet McNamara 2010, ähnlich mit Akzent auf dem selbstreflexivem Potential der Cadmus-Actaeon-PentheusErzählungen Feldherr 1997). Denn Actaeon läuft gänzlich ahnungslos in sein Verderben (met. 3, 173– 176). Stattdessen wird das eindrucksvolle Faktum scheiternder und im Gewaltexzess ausartender Kommunikation aufwendig und intensiviert durch die engen familiären Bande inszeniert (für eine politische Deutung mit Bezug auf die römischen Bürgerkriege vgl. Janan 2004). Daraus entsteht ein Gewebe aus wechselseitig aufeinander beziehbaren Bildern und ihren Geschichten. Auch das, was aus dem Fundus der

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II Voraussetzungen

euripideischen Bakchen explizit als Voraussetzung genutzt wird, verstärkt diese wesentliche Bildlichkeit der Handlungsführung und der Bezugnahme auf die griechischen Referenztexte. In dieses Geflecht wird auch ein für die Metamorphosen insgesamt zentraler Gedanke hineingewoben, nämlich, dass die Akteure als Folge ihrer Verwandlungen nicht mehr dazu in der Lage sind, als Handelnde gemäß den gesellschaftlichen Normen oder mittels der Sprache als zentralem Ausdrucksmittel menschlicher Kommunikation am Geschehen aktiv teilzunehmen. Die von Jupiter in eine Kuh verwandelte Io kann nicht mehr flehend die Arme erheben und auch nicht mehr klagen, weil ihrem Maul nur noch ein Muhen entweicht (met. 1, 635–638), und als sie von Juno zurückverwandelt wird, traut sie zunächst ihrer Stimme das Sprechen nicht zu und fürchtet das tierische Brüllen (met. 1, 745–755); ganz ähnlich ergeht es auch Callisto, die von Juno in eine Bärin verwandelt wird (met. 2, 482– 484), und Actaeon. Auch Pentheus kann nicht mehr flehend die Hände erheben gegen seine Mutter, denn beide Hände hatten ihm die wilden Mänaden bereits abgerissen (met. 3, 721–724), und die Mutter versteht die gestenlosen Worte der Bitte nicht mehr, sondern sieht in den disiecta membra des Pentheus ein Zeichen ihres Sieges (met. 3, 725–728), den sie mit dem Abreißen des Kopfes vollendet. Es sind dies alles eindrucksvolle Bilder der Reflexion auf die Regeln gesellschaftlicher Kommunikation und auf die Bedeutung der Sprache, doch zur gleichen Zeit sind es auch Aitiologien, also Ursprungsgeschichten kultureller Entwicklungen, Traditionen und oft auch Errungenschaften. Es ist dieses Moment, mit dem Ovid dem hellenistischen Dichtergelehrten Kallimachos, aber auch dem Epiker Apollonios von Rhodos und dem Bukoliker Theokrit am nächsten steht und ihre Kultur- und Reflexionstechniken aufgreift und weiterdenkt. Ovid bestimmt seine Metamorphosen im Proömium als carmen perpetuum (met. 1, 4), das von den Anfängen der Welt bis in seine eigene Gegenwart eine kontinuierliche Erzählung flicht. Die Forschung hat den scheinbaren Gegensatz zu kallimacheischen Poetologie thematisiert (ausgewogen bei Myers 1994, 2–5). Denn dieser hatte in seinem Hauptwerk, den fragmentarisch überlieferten Aitien, ein »eines, kontinuierliches Lied (en aeisma dienekes) (...) in vielen tausend Versen« (Fr. 1, 3–4, Pf.) abgelehnt. Doch Ovids Metamorphosen haben eben keine eine Handlung, sondern reihen Episoden in einer rein chronologischen Ordnung durch vielfache gelehrte Verflechtungen verknüpfend aneinander und ver-

wirklichen in dieser äußerlichen, ein Zeitkontinuum aitiologisch abbildenden Einheit das von Kallimachos geforderte (Fr. 1, 23–24, Pf.) Ideal des zarten (lepton) Stils und der Überraschendes, Nie-Dagewesenes und Gelehrtes präsentierenden Kleinform. Auch die Aitien des Kallimachos hatten – soweit die Fragmente eine Aussage darüber zulassen – eine zumindest assoziative Ordnung und haben die kleinen Embleme literarischer Kunst als miteinander verknüpftes Ganzes dargestellt (vgl. die Kommentierungen von Asper 2004 und Harder 2012). Sie waren daher keine Absage an episches Dichten überhaupt, sondern an epische Großdichtungen, die den feinen Ansprüchen einer bis ins Letzte ausfeilenden Kunst nicht genügen konnten. Zu unterscheiden sind dabei die poetologischen Aussagen des Kallimachos selbst von der Art und Weise, wie dieses neue Programm einer modernen Literaturpraxis in Rom rezipiert und für die Bedürfnisse der Dichter unter Augustus adaptiert wurde (Wimmel 1960, Newman 1986, 114–115). Dabei wurde die Orientierung auf die Kleinform als Antwort auf den Anspruch des Augustus, mit einem großen Epos geehrt zu werden, und als ein Instrument der recusatio epischen Dichtens überhaupt interpretiert. Für die Forschung zu Ovids Metamorphosen übte der Beitrag von Rudolf Heinze (1919) mit seiner Betonung des epischen Charakters der Metamorphosen große Wirkung aus. Brooks Otis interpretierte das Werk in dieser Tradition stehend in seinem ebenfalls einflussreichen Buch (»Ovid as an Epic Poet«) als in sich verbundene epische Einheit, die die typischen Merkmale des elegischen Stils – Ellipsen, Asymmetrien, eine saloppe Vertrautheit und spielerische Geschwätzigkeit des Erzählers – meidet und sich ganz an die erhabene Diktion und Thematik des Epischen bindet (Otis 1966, z. B. 53–54). Dagegen haben sich auch Gegenstimmen erhoben: Hermann Tränkle betonte (Tränkle 1963) die Durchdringung des epischen Werkes mit elegischen Techniken und Motiven. Damit wird Ovids Praxis, jenseits und quer zu tradierten Textgattungen zu verfahren, herausgearbeitet. Das betrifft nicht nur die Elegie, sondern auch weitere Gattungen, Kontexte und Formen: So verknüpft Ovid seine Metamorphosen (vor allem ab Buch 15) über die Aitiologien und Ursprungsgeschichten zugleich und im gleichen imaginativen literarischen Raum mit der älteren didaktischen kosmologischen und kosmogonischen Literatur: im Römischen mit Lukrez, im Griechischen mit Hesiod und seiner Theogonie, und dies wiederum mehrfach verflochten mit Vergils diese Traditionen aufgreifender sechster Ekloge (und dem Silensgesang)

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und Apollonios’ von Rhodos Bearbeitung des Orpheus-Stoffes (Myers 1994, 5–15 und passim; Keith 2002). Die Verflechtung der Metamorphosen mit politischen Kontexten und Anspielungen schließlich trägt weitere Stimmen neben der Autorität des epischen Erzählers in das Geflecht des carmen deductum hinein (Schmitzer 1990), eine subversive, eher der Elegie zukommende Technik, die analog in den Fasti beobachtet werden kann (Barchiesi 1991 und 1997).

6.6 Ovid und die Fasti Die Fasti scheinen ein genuin römisches Projekt Ovids zu sein. Hier folgt der Dichter dem römischen Feiertagskalender und gibt Erklärungen, Etymologien, Aitiologien und Beschreibungen überlieferter und praktizierter römischer Riten und religiöser Feiern. So wie die Metamorphosen greifen aber auch die Fasti die sowohl römische als auch griechische Tradition der Lehrdichtung (vgl. zum Einfluss Lukrez’ auf die NarcissusEpisode der Met. die Reflexionen von Hardie 2002, 150–165) auf und beziehen sich auf unterschiedliche Texte. Im Vordergrund steht außerdem gleich in den ersten beiden Versen die Betonung der aitiologischen und zugleich lokalen Ausrichtung der Fasti mit (zumindest angedeuteten) Bezügen zu Kallimachos’ Aitien und dem astronomischen Lehrgedicht Phainomena des hellenistischen Autors Arat: »Von den Zeiten, die in Latium geordnet werden durch das Jahr hindurch mitsamt ihren Ursachen/ und von den unter- und aufgehenden Sternbildern will ich singen« (fast. 1, 1–2). Bemerkenswert ist, dass Ovid sich mit diesem Anfang und auch mit den folgenden Anreden an die Leserinnen und Leser zum einen als Lehrgedichtsautor zu erkennen gibt, diesem Lehrwerk – ebenso wie in der Ars amatoria – zugleich aber das Metrum der Elegie zuweist. Die Anknüpfung an die episodische Anlage der Aitien und der Anspruch Ovids, nach Properz ein zweiter römischer Kallimachos zu sein, werden damit betont (Harrison 2002, 85–86). Doch zugleich sorgt Ovid für Irritationen und konterkariert die eindeutige Gattungszuordnung oder suspendiert die Entscheidung darüber zumindest und belässt die Leser im Ungewissen über den Charakter des Werkes (für eine leserorientierten Lesart des 1. Buchs der Fasti vgl. Green 2004, 2–4) und entzieht es einer eindeutigen Zuordnung. So wie die Fasti das römischste unter Ovids Werken sind, so sind sie auch dasjenige Werk, das am meisten mit der politischen Situation verflochten ist und auf

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Augustus und seine Familie panegyrisch Bezug nimmt, zumal Ovid hier Feste des Prinzipats und von Geburtstagen der Familie des princeps in den republikanischen Kalender integrierte. Es gibt jedoch genügend Hinweise im Text – etwa die Vielheit der zum Teil widersprechenden Informationen, aus denen Ovid seine Aitiologien schöpft, die die Erzählungen und die in diesen begründeten Kulte in einer ironischen Schwebe belassen (vgl. Loehr 1996) –, die darauf schließen lassen, dass Ovid in den Fasti vergleichbar den »two voices« (Parry 1963) oder »further voices« in Vergils Aeneis (Lyne 1987) ebenso wie in den früheren Liebesdichtungen auch in seinem römischen Kultkalender eine ironische und künstlerische Distanz zu der von Augustus inszenierten Restauration der altrömischen Religion wahrte (vgl. dazu die schöne Interpretation von Schmitzer 2011: 150–173). Nimmt man die damit verwobenen kosmischen Dimensionen dazu, die die Orientierung an Sternbildern und Sternenkonstellationen hineinbringt, dann ergibt sich insgesamt das Bild eines Spiels mit Ordnungen, Zuweisungen und dem Infragestellen von vermeintlich Eindeutigem überhaupt. Harrison verweist auf das Proömium des 2. Buchs, das nach allgemein akzeptierter Meinung ursprünglich zu Beginn des ersten Buches platziert war, in dem Ovid von einem Aufstieg des Genres Elegie von dem Liebesthema hin zu den heiligen Tagen und Festen spricht (fast. 2–3–8: Harrison 2002, 86). In der Fortsetzung dieses Proöms trägt Ovid eine recusatio für seine Entscheidung gegen den Kriegsdienst vor, der metaphorisch für das Verfassen eines die Taten des Augustus verherrlichenden Epos steht. Damit verbindet Ovid die Idee des Aufstiegs der elegischen Gattung mit der Poetologie des Kallimachos, deren Hervorhebung der Kleinform als Ideal von den augusteischen Dichtern als Entschuldigung vor Ansprüchen des Augustus, in einem Epos verherrlicht zu werden, genutzt wurde (fast. 2, 9–16). Hier wird wie in der subversiven Veruneindeutigung des Erzählens und der Verlässlichkeit der Quellen eine Kontinuität zu den früheren elegischen Liebesdichtungen sichtbar, die sich auch in den gewagten Verknüpfungen griechischer Referenztexte und dem Evozieren einer ahistorischen Gemeinschaft von literarischen Texten und Autoren, mit denen der Elegiker Ovid arbeiten kann, zeigen. Ovid hat die ersten beiden Bücher der Fasti in seinem Exil am Schwarzen Meer überarbeitet und damit auch die Exilthematik und den Verlust der Heimat mit in seine Erzählungen hineingewoben. Die Fasti stellen in der uns vorliegenden Form daher eine Brücke zwi-

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II Voraussetzungen

schen den elegischen Dichtungen in Rom und den Briefen der Exildichtung dar.

6.7 Ovid im Exil So zentral das Exilerlebnis für Ovid biographisch war und auch auf die Wahl seiner Gattungen Einfluss ausübte und sich in einer (gezielten) sprachlichen Desorientierung (trist. 5, 7, 55–64) und den rhetorischen Strategien, sich durch seine Dichtung Optionen für die Rückkehr nach Rom zu schaffen, zeigte, so wenig ändert sich das beschriebene imaginative Verfahren des Referierens jenseits der zeitlichen Ordnungen der literaturgeschichtlichen Abfolge in diesem Spätwerk. Auch in den Tristien und den Epistulae ex Ponto setzt Ovid seine selbstbestimmten Verflechtungsstrategien fort. Das zeigt sich exemplarisch an der Rolle, die der Irrfahrer Odysseus – wenig überraschend für einen entwurzelten Dichter – in diesen späten Dichtungen spielt (vgl. Holzberg 1997, 183–192). So beschreibt sich Ovid im ersten Buch der Tristien (trist. 1, 5, 57–81) als neuen Odysseus, der Schlimmeres erleiden muss als der »Vieldulder« (polytropos) Homers. Die Passage ist deshalb charakteristisch für die Weiterführung der Referenztechniken in den ExilDichtungen, weil sie Homer-Referenz mit metapoetischer und biographischer Reflexion verknüpft. Ovid fordert von den »gelehrten Dichtern« eine Wende: Als Topos des Leidenden schlechthin sollten nicht mehr Odysseus’ Irrfahrten und Heimkehrergeschichte dienen, sondern die Leiden des exilierten Dichters Ovid (trist. 1, 57–58). Denn Odysseus’ Leiden seien nicht nur geringer und aufgefangen durch göttliche und menschliche Hilfe, sondern sie seien auch »zum größten Teil erfunden« (ficta) während keine fabula in seinen eigenen Übeln enthalten sei (trist. 1, 79–80; vgl. Schmitzer 2011 mit Verweis auf Pont. 2, 7, 59–60 und Pont. 1, 3, 33–36; vgl. Möller 2020). Die von Homer in der Odyssee insgesamt betonte Außergewöhnlichkeit und das Überragende von Charakter und Schicksal des Odysseus werden damit (auch) metapoetisch relativiert. Das gesamte Handlungsgefüge, das bei Homer eben durch Odysseus’ herausragende Fähigkeit, die herausforderndsten Situationen durch kluges Überlegen zu meistern, getragen wird, wird damit aufgehoben oder doch in Frage gestellt. Das real empfundene Leid des Exildichters Ovid überstrahle dies alles. Auch wenn Odysseus damit als Figur fiktionaler Dichtung auf eine andere, und zwar in diesem Kontext niedrigere, Ebene gestellt wird, konfrontiert

Ovid sich selbst als Objekt der Dichtung doch ganz unmittelbar mit dem großen Irrfahrer, insofern dieser bislang bevorzugter Gegenstand gelehrter Dichtungen gewesen sei. In den Erzählungen von ihren Leiden sind sie sich doch gleich, als Gegenstand von Dichtung treffen sie ganz unmittelbar aufeinander. Auch hier erschafft Ovid also wieder neue literarische und literaturgeschichtliche Ordnungen, in deren Wirklichkeit nun sogar die autobiographische Wirklichkeit des Dichters hineingesogen und aus ihnen heraus begründet wird. Literatur

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Gyburg Uhlmann

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7 Ovids Amores und die römische Liebesdichtung 7.1 Catulls passer und seine Nachkommen Selbst wenn man es nicht für einen verschlüsselten obszönen Witz halten möchte (wie Thomas 1993), bleibt Catulls Gedicht auf den Tod von Lesbias Sperling (Catull. 3) einer der faszinierendsten Texte der römischen Literatur (vgl. Holzberg 2002, 61–110). Laut Catull war für Lesbia der tote Vogel das Objekt einer gegenseitigen Liebe (vgl. 4–7) – einer Liebe, die sie verspürte (5 amabat), obwohl der unscheinbare Vogel nichts anderes tat, als auf ihrem Schoß hin und her zu hüpfen (9) und niedlich zu zwitschern (10 pipiabat). Die Beschreibung des unbeschwerten Lebens und des bitterlich beweinten Todes von Lesbias Sperling (vgl. Fitzgerald 1995, 35–36) bildet somit einen erheblichen Kontrast zum unbeständigen Dasein des Liebhabers einer von unzähligen Männern begehrten und deren Avancen nicht abgeneigten Frau, das Catull in seiner Liebesdichtung schildert: Während der Vogel der Zuneigung Lesbias – sowohl im Leben als auch im Tod – sicher sein kann, ist es dem Sprecher des Gedichts durchaus bewusst, dass er von einer vergleichbar bedingungslosen Zuneigung nur träumen kann (vgl. Wray 2001, 64–112). Ovids Gedicht Amores 2, 6 ist nicht nur eine Nachahmung von Catull 3 (vgl. Schmidt 1985), sondern auch eine Reflexion über die Rolle der Nachahmung in der römischen Liebesdichtung überhaupt. Catulls einfaches Bild der Sehnsucht nach erotischer Harmonie transformiert Ovid in seinem Epikedion in ein barockes Gemälde, in dem der tote Vogel mit zahlreichen mythologischen Vorbildern verglichen wird (5– 16, 33–42), während er von einer Schar trauernder Artgenossen bis zu seinem Grab begleitet wird (1–4) und sich dann zu den ›frommen Vögeln‹ (51) im Elysium gesellt. Die Tatsache, dass aus Catulls niedlich zwitscherndem Spatz ein exotischer Papagei wird, der als »geschwätziges Abbild der menschlichen Stimme« beschrieben wird (37 loquax humanae voci imago), zeigt, dass Ovid – mit einer ordentlichen Prise Selbstironie – nicht nur den Vogel selbst, sondern auch das Gedicht als Ganzes als eine Art ›geschwätziges Abbild‹ des catullischen Sperlings versteht (vgl. Hinds 1998, 4–5). Damit scheint aber Ovid nicht nur dieses eine Gedicht und auch nicht seine eigene Dichtung allein zu meinen. Denn es dürfte kein Zufall sein, dass die Ele-

gie auf den Tod von Corinnas Papagei auffällige Ähnlichkeiten mit dem Gedicht auf den Tod des Tibull aufweist (vgl. Schmitzer 1997): In Amores 3, 9 vermisst die personifizierte Elegie Tibull genauso sehr wie Corinna ihren verstorbenen Papagei (vgl. 2, 6, 43–44 und 3, 9, 1–4); der beflügelte Amor trauert um Tibull mit ähnlichen Gesten, mit denen die Vögel ihre Bestürzung über den Tod des Papageis zum Ausdruck bringen (vgl. 2, 6, 3–4 und 3, 9, 9–10); und am Ende erinnert Tibulls postume Begegnung mit seinen poetischen Vorgängern Catull und Gallus ›im Elysischen Tal‹ (3, 9, 60 in Elysia valle) an die Unterhaltung, die der Papagei mit den ›frommen Vögeln‹ ›unter dem Elysischen Hügel‹ führt (2, 6, 49 colle sub Elysio). Die Analogie zwischen Tibull und dem zwanghaft mimetischen Papagei darf keineswegs als plumper Spott über den kürzlich verstorbenen Dichterkollegen aufgefasst werden (anders Schubert 1992, 160). Vielmehr dient diese Analogie dazu, die unbestreitbare Tatsache hervorzuheben, dass man als römischer Liebesdichter letztendlich immer nur ein Nachahmer Catulls bleibt. Denn alle Nachfolger Catulls (Gallus, Tibull, Properz und Ovid selbst) erzählen schließlich die gleiche erkennbar catullische Geschichte, für die es keine genaue Entsprechung in der griechischen Liebesdichtung gibt – die Geschichte von der kollektiven erotischen Fixierung auf eine einzige, über alle Maße attraktive und von allen anderen Männern ebenso begehrte Frau (vgl. Miller 2013). Gleichzeitig zeigt Ovids Papagei, der sich ja von Catulls Sperling sichtbar und hörbar unterscheidet, dass die Nachfolger Catulls zu mehr in der Lage sind als zum bloßen Nachplappern des ›Originals‹. Was die Werke der römischen Liebesdichter am stärksten voneinander unterscheidet, sind sowohl die sich verändernden Parameter der politischen Männerwelt, für die sie schreiben, als auch ihr jeweiliges Verständnis der Rolle der Dichtung innerhalb dieser Welt. Ovid, der am Ende dieser Tradition schreibt, kann seine Variation dieser ›Liebesgeschichte‹ nur dann als etwas noch nie Dagewesenes darstellen, wenn er seine Position in der politischen Welt seiner Leser von den Selbstinszenierungen gleich mehrerer Vorgänger überzeugend absetzt. Um besser zu verstehen, wie Ovid es tut, muss man einen kurzen Blick auf die unterschiedlichen politischen Bedeutungen werfen, die Catull, Tibull und Properz ihren im Grunde sehr ähnlichen Liebesabenteuern verleihen.

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_7

7  Ovids Amores und die römische Liebesdichtung

7.2 Catull: Eros und Imperium Catulls Männerwelt ist die kompetitive Machowelt einer spätrepublikanischen Militärelite, deren Mitglieder ihre Männlichkeit unter anderem darüber definieren, dass sie sich bei ihren imperialen Eroberungszügen eine faire Chance auf persönliche Bereicherung erhoffen (vgl. z. B. Catull. 28–29). Was im Idealfall ein Konkurrenzkampf unter Gleichen sein soll, bietet aber in der Realität viel Gelegenheit für einen Machtmissbrauch durch die Anführer, was von den anderen Männern als Verlust der eigenen Männlichkeit empfunden wird (vgl. Catull. 29, 5 cinaede Romule, »Schwuchtel Romulus«: Holzberg 2002, 105–110). Catull positioniert dabei seine Dichtung als eine Art Ventil, das einerseits die angestaute Unzufriedenheit mit den Machthabern durch deren imaginierte Herabsetzung in der Männerhierarchie zu verabscheuungswürdigen ›Schwuchteln‹ ausdrückt (vgl. Catull. 57.1–2 cinaedis, / Mamurrae pathicoque Caesarique) und das andererseits das Ideal eines Imperiums deutlicher hervortreten lässt, das keinem Einzigen richtig gehört, sondern von einer gleichberechtigten Elite gemeinsam erobert und untereinander gerecht verteilt wird (vgl. Wray 2001, 171–177). Dem Kampf um das Imperium entspricht zuhause in Rom ein erotischer Kampf, der, wie Catulls Bemerkungen über die ›Eroberungen‹ seiner Freunde (billige ›Huren‹: Catull. 6 und 10) sowie über seine eigenen ›Eroberungen‹ zeigen (Lesbia, die begehrteste Frau der Welt, und Iuventius, ein ebenso begehrter Jüngling, vgl. Catull. 15 und 24), ähnlich verbittert geführt wird. Bei der Darstellung erotischer Erfahrungen schwankt Catull ständig zwischen der Sehnsucht nach Harmonie (vgl. die ›Kussgedichte‹, 5 und 7) und einem prahlerischen Machogehabe, mit dem er vor den männlichen Lesern angibt, er könne es seiner Freundin neunmal hintereinander besorgen (32.8 novem continuas fututiones). Es stellt sich dabei heraus, dass es wesentlich schwieriger ist, die begehrteste Frau der Welt für sich allein zu erobern, als die Konkurrenten bei der imperialen Machtverteilung zu übertrumpfen: Denn im Gegensatz zu den unfair verteilten imperialen Reichtümern lässt Lesbia laut Catull jeden ›Enkelsohn des großherzigen Remus‹ (58.5) ausnahmslos und zu gleichen Kondizionen an ihren ›Reichtümern‹ teilhaben (vgl. Wray 2001, 44–45). Was den Reiz von Catulls Dichtung unter anderem ausmacht, ist genau dieser Widerspruch in seiner Einstellung zu den beiden eng miteinander verbundenen Kontexten des elitären Konkurrenzkampfes – dem imperialen und dem

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erotischen: Catull, der sich über die Ungerechtigkeit bei der Verteilung der Macht über das Imperium ungemein aufregt, empört sich noch mehr darüber, dass Lesbia, die ja allen Männern mit gleicher Zuneigung zu begegnen scheint, ziemlich genau seinem eigenen Ideal der imperialen Gerechtigkeit entspricht. Lesbia ist aber nicht nur ein politisches Symbol, sondern auch ein literarisches Experiment in der Übertragung griechischer poetischer Formen auf das römische Terrain (Lesbia ≈ Sappho, vgl. Holzberg 2002, 33–39). Dabei wird Dichtung zu einer zusätzlichen Arena des allumfassenden Konkurrenzkampfs unter Männern (vgl. Catull. 50 und 51: Wray 2001, 96– 109), was wiederum zu einer weiteren Vermischung zwischen den einzelnen Bereichen dieses Kampfs beiträgt: Denn Freunde, die seine ›verweichlichten Verslein‹ (16, 3–4) für bare Münze halten statt für eine offensichtliche erotische Fiktion (16, 5–11, vgl. Selden 1992), beschimpft Catull nicht nur – wie die korrupten Machthaber Mamurra und Caesar (vgl. 57, 1–2) – als ›Schwuchteln‹ (16, 2 Aureli pathice et cinaede Furi), sondern droht ihnen auch noch damit, sie durch eine Vergewaltigung tatsächlich zu solchen zu degradieren (16, 1 pedicabo ego vos et irrumabo, »Ich werde euch in den Arsch ficken und in den Mund« [übers. Holzberg], vgl. Williams 1999, 163–165, Möller 2004, 344).

7.3 Tibull: Liebe und Utopie Auch Tibull schildert die im Grunde catullische Besessenheit mit einem allseits umworbenen Objekt der Begierde (vgl. Cairns 1979, 224–228). Er tut es aber in einer grundlegend anderen Männerwelt, in der de facto nur der Alleinherrscher das Sagen hat und in der der Dichter selbst nicht mehr als autonomes Mitglied der Elite agiert, sondern einem in den Regierungskreisen gut vernetzten Patron untersteht, dessen Militärerfolge er in seinen Gedichten ausgiebig loben muss (Tib. 1, 7, 2, 5, vgl. Moßbrucker 1983). Während Tibull, ähnlich wie Catull, eine indirekte Verbindung zwischen militärischen und erotischen Eroberungen herstellt, sind bei ihm diese beiden Bereiche nicht komplementär, sondern bilden einen Kontrast, der einerseits die heldenhafte Statur des militärische Triumphe feiernden Patrons noch deutlicher hervortreten lässt und andererseits das betont unpolitische Leben des Liebesdichters als legitimes Lebensideal etabliert (vgl. Krefeld 1952). Dabei wird bei Tibull die Sehnsucht nach absoluter Harmonie, die bei Catull nur die Schilderung erotischer Erlebnisse prägt, auch auf den politischen Be-

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II Voraussetzungen

reich projiziert: Denn in Tibulls Elegien ist der Traum vom Goldenen Zeitalter, in dem der Krieg schlicht undenkbar wäre (vgl. 1, 3, 35–48), mit dem Traum von einem ruhigen Leben mit der Geliebten in einer landwirtschaftlichen Idylle untrennbar verbunden (vgl. Wimmel 1976). Die beiden utopischen Vorstellungen scheinen einerseits seine Dichtung als den einzigen (virtuellen) Ort zu positionieren, an dem man Zuflucht vor der realen Welt finden kann, die sich durch Machthierarchien und erotische Zerwürfnisse auszeichnet (vgl. Wray 2003). Gleichzeitig dient aber gerade Tibulls Darstellung seiner Dichtung als einer autonomen (utopischen) Domäne einem panegyrischen Zweck: Denn er verbindet schließlich die von ihm ersehnten paradiesischen Zustände deutlich genug mit der in den militärischen Triumphen gefeierten Befriedung des Imperiums (vgl. Lee-Stecum 1998).

7.4 Properz: Imitatio Augusti Während Tibull das Bild einer hierarchisch geordneten Trennung zwischen der imperialen Welt und der Welt der erotischen Dichtung zeichnet, zieht Properz eine Analogie zwischen den beiden Bereichen. Im ersten Buch seiner Elegien erscheint zwar Properz’ Cynthia auch wie ein typisch römisches Objekt der Begierde, das von allen anderen Männern gleichermaßen begehrt wird (vgl. Greene 1998). Im Unterschied zu ihrem Pendant bei Catull, das wie eine (fast zu sehr) glaubwürdige erotisch anregende Fiktion geschildert wird (vgl. Catull. 16), werden Cynthias Eigenschaften überwiegend als Überbietungen unzähliger Gestalten der griechisch-römischen Literatur konzipiert (vgl. Wyke 1989). Dadurch entpuppt sie sich als ein metaliterarisches Emblem des poetischen Projekts des Properz, das darin besteht, sich innerhalb der zeitgenössischen literarischen Landschaft – sowohl gegen die Vertreter anderer Gattungen (vgl. 1, 4; 1, 7; 1, 9) als auch gegen seine Vorgänger auf dem gleichen Gebiet (vor allem Gallus, vgl. Cairns 2006, 70–249) – als den einzigen ernstzunehmenden Liebesdichter zu positionieren (vgl. Kennedy 1993, 50–51). Dabei wird der Triumph des Properz über Cynthia (vgl. 2, 14) nicht nur mit seinem Triumph über die virtuelle Landschaft der römischen Dichtung (vgl. 3, 1), sondern auch mit den politischen Erfolgen seines Patrons Maecenas (3, 9, vgl. Gazich 1995, 127–132) und mit den Triumphen des Augustus über die unruhigen Grenzgebiete des Imperiums indirekt parallelisiert (2, 10 und 3–4, vgl. Wyke 1987). Der in 3, 11 geschilderte Triumph des

Augustus über Cleopatra, die Roms gesamte Männerwelt zu versklaven drohte (29–49), führt schließlich dazu, dass auch Properz’ Selbstdarstellung als unterwürfiger elegischer Liebhaber am Ende des dritten Buches der Pose eines imperialen Eroberers weicht (vgl. Kirichenko, im Druck), der über Cynthia triumphiert, indem er sie als inhaltlich leeres, aus entlehnten literarischen Motiven bestehendes Konstrukt entlarvt (3, 24, 5 mixtam te varia laudavi saepe figura, »oft lobte ich dich, die du dich in mannigfaltige Gestalt verwandeltest«), sich von den Fesseln seiner Phantasiebilder befreit (4) und sich stattdessen in den ›Tempel des gesunden Verstands‹ begibt (19 Mens Bona). Das vierte Buch, in dem die erotische Begierde nach einem unerreichbaren Objekt zu einer rein weiblichen Domäne wird (vgl. Janan 2001), während sich die männliche Dichterstimme überwiegend auf patriotische Themen konzentriert (vgl. Welch 2005), soll wohl als Beweis für den anhaltenden Erfolg seiner Selbstbefreiung dienen.

7.5 Ovid: Eine Dialektik der Freiheit Durch seine Anspielungen auf Catull, Tibull und Properz signalisiert Ovid in den Amores nicht so sehr die Abhängigkeit von seinen Vorbildern als vielmehr seine grundlegende Andersartigkeit (vgl. Boyd 1997, 19–48). Gleich am Anfang der Sammlung betont Ovid, wie sehr sich seine Version der römischen Liebeselegie vom Werk seines unmittelbaren Vorgängers Properz unterscheiden wird (vgl. Dimundo 2000, 37–43). Während Properz in seinem einleitenden Gedicht auf der Fiktion beharrt, für das Schreiben der Liebeselegie sei einzig und allein seine Verliebtheit in eine konkrete Frau verantwortlich (Prop. 1, 1, 1 Cynthia), schildert Ovid in Amores 1, 1 und 1–2 das Erwachen der Liebe als ein diffuses Verlangen (vgl. Bretzigheimer 2001, 18–25), das sich auf kein anderes Objekt als auf das Schreiben der Liebeselegie richtet (vgl. Reitzenstein 1968, zuerst 1935). Während Properz einen heroischen Widerstand gegen den Andrang des Amor fingiert, ehe er ihn triumphieren lässt (vgl. Prop. 2, 8, 40), erklärt Ovid gleich am Anfang seine komplette Niederlage mit der Begründung, er werde dadurch die Versklavung leichter ertragen können (1–2, 9–18). Und während Properz seine erotische Gefangenschaft als eine einzigartige Ausnahmesituation darstellt (vgl. Prop. 1, 1), schildert sich Ovid als einen unter vielen Gefangenen des triumphierenden Amor (29 trium-

7  Ovids Amores und die römische Liebesdichtung

phus, vgl. Weinlich 1999, 28), zu denen im Übrigen nicht nur unzählige Jungen und Mädchen gehören (37), sondern auch ›der gesunde Verstand‹ (31 Mens Bona), bei dem Properz am Ende seines dritten Buchs Zuflucht von seinen erotischen Phantasien sucht. Mehr noch: Während Properz seinen Sieg über die elegische Liebe mit den Triumphen des Augustus parallelisiert, fleht Ovid den Gott der Liebe an, mit seinen Gefangenen genauso gnädig umzugehen, wie der über seine Abstammung von Venus mit ihm verwandte Augustus mit seinen besiegten Feinden umgehe (1– 52, vgl. Walter 1999). Diese Verschiebungen sind aussagekräftig. Denn im Gegensatz zu Properz erklärt Ovid die Liebe zu einem allgegenwärtigen und darum völlig banalen Zustand: Die Macht des Amor hebt nicht die heroische, mit der Macht des Augustus vergleichbare Einzigartigkeit des Betroffenen hervor, sondern lässt – mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie die Macht des Augustus – ihre Ansprüche über alle römischen iuvenes und puellae (37) gelten. Als Folge entpuppt sich der Dichter selbst nicht als Projektion des triumphierenden princeps, sondern begreift sich als Teil einer virtuellen Gemeinschaft, die er zusammen mit seinen Lesern bildet, denn diese sollen schließlich in den Amores auch ihre eigenen erotischen Empfindungen wiedererkennen (vgl. 2, 1, 7–11). Der augusteische Staat bildet zwar einen allgegenwärtigen Hintergrund und sogar ein strukturelles Modell für diese intersubjektiven Empfindungen. Die poetische Schilderung der gemeinsamen ›Gefangenschaft‹, die der Dichter mit seinen Lesern teilt, vollzieht sich jedoch auf einer Ebene, auf der man die bestehenden Machtverhältnisse als eine unvermeidliche Gegebenheit akzeptiert und sich gerade durch diese Akzeptanz einen bescheidenen Freiraum (d. h. die Möglichkeit einer leichter zu ertragenden Versklavung, vgl. 1, 2, 9–18) erkämpft. In den beiden Gedichten, die seine Elegie auf den Tod des Tibull umrahmen (3, 8 und 3, 10), lässt Ovid deutlich erkennen, wie sehr sich seine Dichtung nicht nur von den imperialen Machtphantasien des Properz, sondern auch von den zu panegyrischen Zwecken verwendeten utopischen Realitätsentwürfen Tibulls unterscheidet. Amores 3, 8 verbindet miteinander zwei erkennbar tibullische Motive – die Enttäuschung mit einer Welt, in der erotischer Erfolg allein vom Geld abhängt (vgl. 1–8 und Tib. 1, 1, 51–52; 1, 5, 59–68), und die Sehnsucht nach dem Goldenen Zeitalter, in dem materielle Güter keine Rolle spielten (vgl. 35–44 und Tib. 1, 3, 35–48; 1, 10). Doch während bei Tibull sowohl die Phantasie von einer gegenseitigen Liebe als

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auch das Bild eines vollkommen befriedeten Imperiums wie zwei Projektionen desselben utopischen Traums wirken, schildert Ovid die imperiale Welt als eine Manifestation der allumfassenden Grenzüberschreitung, die zur Beendigung des Goldenen Zeitalters maßgeblich beitrug (heutzutage sei nicht einmal der Himmel vor der ›menschlichen Natur‹ sicher, denn demnächst werde sogar Augustus als Gott dort einziehen: 45–56) und die nun die Unversehrtheit der poetischen Liebe (59 amores) bedroht. Dass in Ovids Welt die erotische Utopie Tibulls zutiefst anti-erotisch wirkt, wird auch in Amores 3, 10 mit besonderem Nachdruck festgestellt. In diesem Gedicht fungiert nämlich die erkennbar tibullische Göttin Ceres (vgl. 3, 10 3 flava Ceres, tenues spicis redimita capillos, »blonde Ceres mit dem Ährenkranz in deinem Haar,« und Tib. 1, 1, 15 flava Ceres, »blonde Ceres« und 2, 1, 4 et spicis tempora cinge, Ceres, »Ceres, umgib deine Schläfen mit Ähren«), die bei Tibull die erotisch erfüllende ländliche Idylle symbolisiert, als Hindernis des Liebesglücks, denn Ovids puella muss wegen der Keuschheitsbestimmungen eines Ceres-Festes allein schlafen (1–2). Was Ovids Corinna von ihren elegischen Vorgängerinnen am stärksten unterscheidet, ist ihre Körperlichkeit. Während Cynthia nur als Summe intertextueller Erinnerungen greifbar ist und während Delia nur im nebulösen Zwischenraum zwischen einer utopischen Sehnsucht und einer nicht-utopischen Realität zu existieren scheint, besteht Corinnas erotische Anziehungskraft in der Schönheit ihrer eigenen Schultern, Arme, Brüste und Hüften (am. 1, 5) sowie in der Pracht ihrer eigenen Haare, die man im Nachhinein umso mehr schätzt, als sie nach einem missglückten Färbungsexperiment komplett ausfallen (am. 1, 14). Mit der Körperlichkeit Corinnas geht auch einher, dass Ovid sein Verhältnis zu ihr nicht nur als eine Ansammlung in der literarischen Tradition verwurzelter Traumbilder schildert, sondern auch als eine Reihe psychologisch nachvollziehbarer Sketche, die streckenweise eine zusammenhängende Erzählung bilden (vgl. Holzberg 1997, 55–78). Als Folge spürt man beim Lesen die Nervosität des Sprechers, wenn er bei einem Bankett zwischen Corinna und ihrem Ehemann sitzt (1, 4); man empfindet peinliches Unbehagen, wenn er sich reumütig dazu bekennt, seine Geliebte geschlagen zu haben (1, 7); und man lacht über seinen unbeholfenen Versuch, Corinna davon zu überzeugen, dass er doch kein Verhältnis mit ihrer Dienerin hat (2, 7 und 2, 8). Die Konkretheit, mit der Ovid solche Erlebnisse schildert, erinnert viel weniger an die schematischen Konstruktionen seiner beiden elegischen Vor-

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II Voraussetzungen

gänger als an Catull, der seine turbulente Affäre mit Lesbia auch wie eine Reihe konkreter Ereignisse beschreibt (vgl. Holzberg 2002, 19–23). Doch Ovids direkte Anspielungen auf Catull zeigen deutlich, wie sehr er sich auch von dieser Urgestalt der römischen Liebesdichtung unterscheidet. Die berühmte Impotenz-Elegie (3, 7), in der Ovid die Symptome der sexuellen Unzulänglichkeit beschreibt, die er mit einer unbenannten puella erleidet (vgl. Weinlich 1999, 219–224), enthält eine Reminiszenz sowohl an Corinna als auch an Catull: Der Sprecher erinnert sich nämlich, dass Corinna von ihm früher verlangt haben soll, es mit ihr neunmal zu ›treiben‹ (26 me memini numeros sustinuisse novem). Memini ist bekanntlich eine für Ovid typische Markierung einer intertextuellen Erinnerung (vgl. Conte 1985, 35–45), und der kundige Leser, dem es naturgemäß schwerfallen wird, Catulls novem continuas fututiones (Catull. 32, 8) zu vergessen, wird wohl kaum überrascht sein, dass Ovid sich auch so gut daran erinnert. Die Erinnerung an seine überschwängliche Manneskraft erscheint also in Amores 3, 7 als Erinnerung an eine seiner Hauptinspirationsquellen (vgl. Holzberg 2009). Eine weitere intertextuelle Erinnerung, diesmal an Tibull, hilft Ovid zu verdeutlichen, was übrigbleibt, wenn er die von Potenz strotzende ›Jugend‹ der römischen Liebesdichtung hinter sich lässt. In 1, 5 erwähnt Tibull, dass er von der Schönheit der chronisch untreuen Delia so sehr verzaubert ist (41 devotum), dass sein Versuch, mit einer anderen Frau zu schlafen, von vorneherein zum Scheitern verurteilt ist (39–40). Ovids enttäuschte puella äußert zwar auch die Vermutung, er sei verzaubert (80 devovet), doch angesichts der Tatsache, dass wir uns bereits in der Mitte des dritten Buchs der Amores befinden, klingt ihre anschließende Vermutung, er sei schlicht und ergreifend müde von der Liebe (80 lassus amore), wesentlich glaubwürdiger. Es ist ferner auffällig, dass Amores 3, 7, genauso wie Tibull 1, 5, mit dem Wort aqua endet. Doch während bei Tibull das Wasser als Symbol der Unbeständigkeit des Schicksals fungiert (76 in liquida nam tibi linter aqua), das den Liebhaber mit der Hoffnung erfüllt, die untreue Geliebte würde ihn vielleicht doch noch wieder empfangen, ist es bei Ovid nur ein Täuschungsmittel: Um sich vor ihren Dienerinnen nicht zu blamieren, wäscht sich die puella nach dem nicht vollzogenen Geschlechtsakt, als ob alles genauso geschehen wäre wie geplant (84 dedecus hoc sumpta dissimulavit aqua, »sie verhehlte diese Schande und wusch sich zum Schein mit Wasser«).

Während also Catull von seiner geradezu übermenschlichen Potenz redet, um vor seinen männlichen Freunden damit zu prahlen, und während bei Tibull das beschämende Missgeschick (1, 5, 42 a pudet) als Beweis seiner ungebrochenen Liebe zu Delia gilt, benutzt Ovid seine poetische Fiktion, um den Lesern die ganze ›Wahrheit‹ hinter dem schamerfüllten Spektakel zu offenbaren, das seine Bettgefährtin vor den Augen ihrer Dienerinnen spielt. Dadurch wird gerade die Schilderung seines sexuellen Versagens zu einer besonders gelungenen Kommunikation mit den Lesern, die sich nun als Teil einer eingeschworenen Gemeinschaft fühlen dürfen, mit der der Dichter seine intimen Geheimnisse teilt. Ähnlich benutzt Ovid Anspielungen auf seine poetischen Vorgänger auch am Ende des dritten Buchs, um die ohnehin offensichtliche Fiktionalität seiner ›Liebesgeschichte‹ noch deutlicher darzulegen und um die Beliebtheit dieser Fiktion unter den Lesern, und nicht seine eigene Beliebtheit bei den Mächtigen, als das einzig gültige Kriterium hervorzuheben, nach dem das Gelingen seines poetischen Unterfangens beurteilt werden kann. In Amores 3, 11 zitiert Ovid wörtlich aus einem Gedicht Catulls (7 perfer et obdura, »halte durch, sei hart« und Catull. 8, 11 perfer, obdura, vgl. Hinds 1998, 26– 29, Möller 2008). Doch während Catull seine Standhaftigkeit beschwört, um das momentane Desinteresse seiner Geliebten besser verkraften zu können, gilt Ovids Durchhaltevermögen dem an Properz erinnernden Entschluss, die elegische Liebe endgültig zu besiegen (5). Dieser Entschluss erweist sich jedoch als völlig illusorisch, denn Ovid löst im gleichen Gedicht den erkennbar catullischen Widerspruch zwischen Hass und Liebe (vgl. Catull. 85, 1 odi et amo) zugunsten der Liebe auf (34 sed, puto, vincit amor). Dabei evoziert Ovids unausweichliche Liebe sowohl die Anfangsphase von Properz’ Liebe zu Cynthia (48 perque tuos oculos, qui rapuere meos, »bei deinen Augen, die mir die meinen geraubt haben,« vgl. Prop. 1, 1, 1 Cynthia prima suis miserum me cepit ocellis, »Cynthia hat mich den Armen als erste mit ihren lieblichen Augen eingefangen«) als auch das ebenso properzische Bild der Untrennbarkeit des Dichters von seiner poetischen Kreation (49 quidquid eris, mea semper eris, »was immer du sein magst, mein wirst du stets bleiben,« vgl. Prop. 1, 19, 11 illic quidquid ero, semper tua dicar imago, »was auch immer ich sein werde, werde ich als Schattenbild dein genannt werden«). In Amores 3, 14 hingegen betont Ovid, dass er den catullischen Widerspruch zwischen Liebe und Hass nur dann für

7  Ovids Amores und die römische Liebesdichtung

sich lösen kann (39), wenn seine Geliebte sich auf ein gekonntes Rollenspiel einlässt und ihre Missetaten glaubwürdig leugnet (48). In Amores 3, 12 zeichnet Ovid wiederum sich selbst als einen geradezu vorbildlichen Lügner. Die Untreue seiner Geliebten erweist sich nun als Konsequenz ihrer Beliebtheit unter den männlichen Lesern (8). Dabei vergleicht Ovid seine Corinna (16) mit einem ganzen Katalog völlig unglaubwürdiger Verwandlungsmythen, der sich fast wie eine Inhaltsangabe der künftigen Metamorphosen liest (21–40), und erklärt schließlich die Gutgläubigkeit seiner Leser zur Hauptursache davon, dass er selbst nicht mehr der einzige Liebhaber seiner offensichtlichen Fiktion sein darf (44). Diese Feststellung erinnert sowohl an Properz als auch an Catull: Wie Properz bezeichnet Ovid seine Geliebte als eine poetische Phantasie (44 falso, vgl. Prop. 3, 24, 1 falsa); doch im Gegensatz zu Properz’ Cynthia besteht die ›Falschheit‹ Corinnas nicht darin, dass sie aus lauter mosaikartigen Projektionen literarischer Vorbilder besteht (vgl. Prop. 3, 24, 5), sondern darin, dass Ovids Liebe, genauso wie Catulls Liebe zu Lesbia, eine überzeugend konstruierte, ganzheitlich zusammenhängende, erotisch anregende Fiktion ist (Catull. 16, 5–11, vgl. Ziogas 2017, 213–219). Im nächsten Gedicht, in dem Ovid vorgibt, in Begleitung seiner Ehefrau (am. 3, 13, 1 coniunx) ein altehrwürdiges, von keuschen Jungen und Mädchen frequentiertes (23) Juno-Fest in Falerii zu besuchen (vgl. Farrell 2014), legt er die Maske des elegischen Liebhabers für einen kurzen Augenblick komplett ab. Er tut es aber nur, um sich eine andere – erkennbar properzische – Maske aufzusetzen. Wie viele Elegien des vierten Buchs des Properz erzählt Amores 3, 13 einen aitiologischen Mythos von der Gründung eines religiösen Fests (vgl. Miller 1991, 50–57). Dabei beschreibt Ovid die Landschaft, in der das Fest stattfindet, in der Begrifflichkeit, die er in Amores 3, 1 zur Schilderung des rein symbolischen Ambientes benutzt, in dem die Personifikationen der Elegie und der Tragödie um die Gunst des Dichters wetteifern (vgl. 3, 13, 7–8 ...vetus ... lucus / ... concedes numen inesse loco, »ein alter Hain ... du wirst zugeben, dass hier eine Gottheit wohnt« und 3, 1, 1–2 ...vetus ... silva ... / credibile est illi numen inesse loco, »ein alter Wald ... es ist glaubhaft, dass diesem Ort eine Gottheit innewohnt«). Wie die antiqua silva in der berühmten Passage aus Vergils Aeneis (Aen. 6, 179 itur in antiquam silvam, »man ging in einen alten Wald«) bedeutet wohl auch Ovids vetus silva in Amores 3, 1 nicht nur einen alten ›Wald‹, sondern auch die alte ›Materie‹

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der poetischen Tradition (vgl. Hinds 1998, 11–14). Aus dieser Perspektive heraus scheint nun auch der vetus lucus in Amores 3, 13 darauf hinzuweisen, dass das kürzlich veröffentlichte vierte Buch des Properz bereits zum festen Bestandteil der literarischen Vergangenheit geworden ist. Besonders aussagekräftig ist dabei die Übereinstimmung zwischen der Beschreibung des alten Altars, an dem das Juno-Fest in Amores 3, 13 stattfindet, und der von Hercules gegründeten ara maxima in Properz 4, 9 (vgl. 10 ara per antiquas facta sine arte manus »ein Altar, der durch altehrwürdige Hände schmucklos errichtet wurde« und Prop. 4, 9, 68 ›ara per has‹ inquit ›maxima facta manus‹, »der Altar, so sprach er, der durch diese meine Hände so gewaltig wurde«). Diese Parallele hebt den grundlegenden Unterschied zwischen den beiden Kultstätten hervor – der in der Aeneis zu einem der Hauptsymbole des augusteischen Rom stilisierten Ara maxima (Aen. 8, 184–275) und einer heruntergekommen Ortschaft, die von Halaesus, einem auch aus der Aeneis bekannten Gegner des Aeneas, gegründet (31–36, vgl. Aen. 10, 410–425) und erst durch Camillus gewaltsam an das römische Staatsgebiet angegliedert wurde (2 moenia ... victa, Camille, tibi). Somit ersetzt Ovid die staatstragende Vision des Properz durch einen Einblick in den Lokalstolz, der auf den Erinnerungen an den Widerstand gegen die römische Staatsmacht basiert. Einen ähnlichen Eindruck hinterlässt auch das letzte Gedicht der Amores. In 3, 15 evoziert Ovid sowohl den Abschied des Properz von der Liebeselegie am Ende des dritten Buches (vgl. 1–2 und Prop. 3, 24) als auch dessen stolzes Selbstlob am Anfang des vierten (vgl. 11–14 und Prop. 4, 1, 62–66). Dabei kontrastiert sich Ovid implizit mit Properz, indem er betont, dass er selbst aufgrund seiner Herkunft aus einem alten Rittergeschlecht überhaupt keiner Patronage seitens des römischen Staates bedarf (5–6), und indem er seine paelignischen Vorfahren als Freiheitskämpfer gegen Rom im Bundesgenossenkrieg beschreibt (9–10, libertas, socias ... manus). Ovid zählt sich nun zwar – neben Vergil und Catull (7) – zu den berühmtesten römischen Dichtern, an die man sich auch nach ihrem Tod erinnert (20). Seine Berühmtheit rührt aber, im Gegensatz zu allen seinen Vorgängern, nicht von seiner wörtlich zu verstehenden oder poetisch inszenierten Teilhabe an den Machtstrukturen des römischen Staats. Er schildert sich vielmehr als einen Untertan, der die bestehenden Verhältnisse akzeptiert, ohne aber den Freiheitsdrang seiner Vorfahren vergessen zu haben. Darum schuldet er auch seinen Erfolg ein-

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II Voraussetzungen

zig und allein seiner Beliebtheit unter den Lesern, die genauso wie er selbst Teil des nie enden wollenden Triumphzuges des Amor und/oder des Augustus sind (am. 1–2, vgl. Boyd 1997, 165–202). Literatur

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Alexander Kirichenko

8  Gattungen im Kreuzfeuer

8 Gattungen im Kreuzfeuer 8.1 Skizze Die Eröffnungsverse aus Ovids erstem Werk, den Amores, verbildlichen die Darstellung des Kampfes zweier verschiedener Gattungen, Epos und Elegie. Kaum ist der Dichter mit dem ersten Hexameter seines gerade begonnenen epischen Gedichts fertig, da tritt Cupido auf, um ihm im nächsten Vers eine Hebung zu rauben: So wird es dem Leser in am. 1, 1–4 erzählt. Der ›erste Anfang‹ von Ovids Gesamtwerk stellt uns das Bild eines Autors vor Augen, der aufgrund einer Variation der äußeren Form seines Gedichts gezwungen ist, den Inhalt zu ändern, als ob die Umgestaltung des Versmaßes allein genügen würde, um die ›Substanz‹ des kreativen Prozesses zu bestimmen. Ähnlich ist die Situation in am. 2, 1, 11–22 und 2, 18, 15–16, wo Amor sich wiederum einmischt, um Ovids poetische Ambitionen als Verfasser eines Epos über die Gigantomachie sowie einer thematisch nicht näher umrissenen Tragödie zu vereiteln. In am. 3, 1 wird ferner ein Aufeinandertreffen der personifizierten Tragoedia und Elegeia inszeniert: Mit dem Sieg der zweiten wird es dem Dichter ›erlaubt‹, das Schreiben der geplanten Tragödie hinauszuschieben, um sich weiter dem bescheidener wirkenden Gesang der Liebeselegie hinzugeben. Immer wieder stellt sich das elegische Ich als unfreiwilliger Diener einer einzigen Muse vor, nämlich der Elegie, die die Konkurrenz der anderen ›engagierten‹ Gattungen schlägt. Tatsächlich sind von Ovids umfangreicher Produktion allein die Metamorphosen in Hexametern verfasst, wohingegen seine einzige Tragödie, die frühe, heute verlorene Medea, ein isoliertes Experiment gewesen sein dürfte. Wenn man dann lediglich die expliziten Aussagen des Dichters und die Liste seiner Werke in Augenschein nimmt, erscheint es zunächst fraglich, ob die Frage nach der Vielfalt von Gattungen sich überhaupt stellt: Ovid hat nämlich fast nur im elegischen Distichon geschrieben. Die Lektüre seiner Texte zeigt allerdings, dass Ovid in seinen elegischen Versen sowie in den Metamorphosen mit den verschiedensten Gattungen – Epos, Geschichtsschreibung, Komödie, Tragödie, Lehrgedicht, Bukolik – spielt. Für den augenfälligen Abstand zwischen Form und Inhalt sind verschiedene Erklärungen formuliert worden: Zum einen wäre die metrische Uniformität ›eine beruhigende Etikette‹ für eine ausgeprägte inhaltliche Experimentierfreudigkeit, die das Konzept eines Gattungssystems selbst bedroht; zum anderen wirkte sich Ovids Treue zur Form der Elegie

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sowie die Tatsache, dass der Dichter nur einmal, nämlich in den Metamorphosen, diese Treue bricht, auf den Textinhalt aus. Um sich innerhalb einer so komplexen Fragestellung zu orientieren, wird in den nächsten Zeilen zunächst eine konzise Darstellung der Forschungsdebatte des letzten Jahrhunderts skizziert.

8.2 Kurze Geschichte der Forschungsdebatte Traditionsgemäß darf ein Beitrag zur Rolle der Gattungen in Ovids Dichtung mit den Überlegungen beginnen, die Richard Heinze zu Anfang des 20. Jahrhunderts über die doppelte Fassung der Episode des Raubes der Proserpina in met. 5, 341–661 und in fast. 4, 417–620 geäußert hat (Heinze 1919). In seiner Analyse hat Heinze eine klare Trennung zwischen den Merkmalen der epischen und elegischen Fassung gezogen, die er so zusammenfasst: »Ovid hat in den beiden Redaktionen seiner Geschichte Beispiele zweier Typen der poetischen Erzählung, offenbar mit vollem Bewusstsein, einander gegenübergestellt. In der Metamorphosenerzählung herrschen starke aktive Affekte, jähe Liebe und jäher Zorn, in der Fastenerzählung weichere Empfindungen, schmerzliche Klage und Mitleid. In den Metamorphosen ist die göttliche Majestät der Personen geflissentlich gesteigert; in den Fasten wird die Gottheit vermenschlicht. Die Schilderung der Metamorphosen bevorzugt das Grandiose, die der Fasten das idyllisch Anheimelnde. Der Stil der Erzählung wahrt in den Metamorphosen eine gewisse feierliche Würde; der der Fasten ist lebendiger, beweglicher; jener hält streng fest an der Objektivität der Rhapsoden, die Fasten lassen die Persönlichkeit des Erzählers und seinen Gegenwartsstandpunkt mehr hervortreten« (Heinze 1919, 10).

Zur Tradition der Ovid-Forschung gehört auch die Antwort, die Stephen Hinds Jahrzehnte später gegeben hat (Hinds 1987): Heinze habe die Komplexität der zwei Werke Ovids zu sehr vereinfacht, da sowohl viel Episches in den Fasti als auch viel Elegisches in den Metamorphosen zu erkennen sei. Die Merkmale der zwei Gattungen, die Heinze anhand der Betrachtung einer einzigen Episode auf die ganzen Metamorphosen und auf die ganzen Fasti übertragen habe, seien nicht immer klar trennbar. Gegen Heinzes Kritiker wird aber betont, dass eine philologische Untersuchung der Dichtung Ovids nach Gattungsparametern sinnvoll

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_8

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bleibt: In den Fasti »the poem’s generic self-consciousness is expressed not just in observance but also in creative transgression of the expected bounds of elegy« (117), sowie in den Metamorphosen die Grenzen zwischen den verschiedensten Gattungen »are crossed and recrossed as in no poem before« (121). In der Diskrepanz solcher kritischen Auseinandersetzungen ist ein gemeinsamer Nenner erkennbar: »das volle Bewusstsein« – mit Heinze – oder »the generic self-consciousness« – mit Hinds –, das Ovid dem System der Gattungen gegenüber zeigt. Darüber wurde seit den 1980er Jahren viel geschrieben, und Ovid erlebte eine zweite aetas Ovidiana. Von postmoderner Literaturwissenschaft geprägte Denker wie Umberto Eco und Gérard Genette (vgl. z. B. Eco 1979 und Genette 1982) haben bewirkt, dass die intertextuelle Strömung in der Klassischen Philologie sich massiv verbreitet und in Ovids Werken einen besonders fruchtbaren Boden gefunden hat (vgl. z. B. Conte 1986, Hinds 1998, Barchiesi 2001). Ovid war der erste römische Dichter, der sich als echter ›Post-Klassiker‹ gefühlt haben dürfte, da er in einer Epoche geschrieben hat, in der den Römern dank Autoren wie Vergil und Horaz eine reiche Bibliothek an Meisterwerken zur Verfügung stand, die als kanonisch wahrgenommen wurden und mit der der Griechen verglichen werden konnten: Jede Gattung wurde nach dem Empfinden der Zeitgenossen Ovids von einem griechischen und einem lateinischen exemplarischen ›Klassiker‹ würdig vertreten (Rosati 1979, Labate 1990, Tarrant 2002, Galinsky 2004). Wenn Ovid schreibt, ist ihm bewusst, dass sein Schreiben eigentlich ein Akt des WiederSchreibens von schon bekannten und erzählten Geschichten ist, und dass seine Originalität in der Kunst des Umwegs und der Variation liegt. Dieses Ziel verfolgt er häufig durch die Kontamination von Gattungen, was Wilhelm Kroll und Karl Galinsky »Kreuzung der Gattungen« genannt haben (Kroll 1924, Galinsky 1989). Die Formulierung kann nicht auf Ovid beschränkt werden: Innovation in der Tradition durch Normüberschreitungen und Hybridbildungen ist nämlich eine Besonderheit der ganzen augusteischen Kultur und findet ihren Ursprung in der hellenischen eidographía, »Gattungsforschung« (Hinds 1987, 116). Was aber im Falle Ovids ins Auge fällt, ist die hohe Frequenz solcher intertextueller Anspielungen, die entweder als Selbstzweck (l’art pour l’art) oder als Zeichen einer scharfen Ironie gegen den Kaiser Augustus und seine durch Kunstwerke und Architektur verbreitete politische Ideologie (das sogenannte »augusteische Programm«) interpretiert wurden: So argumentiert

die Orientierung der post-strukturalistischen Studien der letzten dreißig Jahre (vgl. z. B. Barchiesi 1997). Im Folgenden lassen sich trotzdem textimmanente Vorschläge unterbreiten, ohne auf die Suche nach politischen Gründen zu gehen, die zudem die kontroverse Frage der Autorintention implizierten.

8.3 Ein ›kanonisches‹ Beispiel: Polyphem und Galatea Die Episode von Polyphem und Galatea (met. 13, 750– 897) ist paradigmatisch für das Entstehen eines neuen Texts aus Elementen verschiedener Gattungen (Farrell 1992). Im Zentrum der Erzählung steht eine Figur, die sich bereits vor Ovids Darstellung an der Schnittstelle zweier literarischer Gattungen befindet: Nach Homer, der Polyphem zum Protagonisten einer der berühmtesten Episoden der Odyssee gemacht hatte, hatte Theokrit die Liebe des Zyklopen zu Galatea als Thema der Idyllen 6 und 11 gewählt. Ovid entscheidet sich weder für die epische noch für die bukolische Variante, sondern verschmilzt beide, so dass sein Polyphem zugleich als brutaler Mörder und zarter Liebhaber dargestellt wird (met. 13, 759–767): »Ja, er, der grimmige Unhold, er, der selbst den Wäldern ein Schrecknis, den ungestraft nie ein Gast noch erschaut, der Verächter des großen Olympus, der Götter, fühlte, was Liebe sei. Von dem starken Verlangen ergriffen, brennt er: und er vergisst sein Vieh, vergisst seine Höhlen. Ja, schon pflegst du dein Aussehn und mühst dich schon zu gefallen, schon, Polyphemus, kämmst mit dem Karst du die störrigen Haare, schon beliebt’s dir, den struppigen Bart mit der Sichel zu schneiden und deine wilden Züge im Wasser zu schaun und zu glätten.«

Die Worte, mit denen sich Galatea in den ersten drei Versen an den Zyklopen wendet, entsprechen dem homerischen Bild. Der Verstoß gegen die Rechte der Gäste sowie die Verachtung der Götter sind Anspielungen auf Od. 9, 273–278, wo Polyphem, nachdem Odysseus ihn in Zeus’ Namen um Gastfreundschaft gebeten hatte, antwortet, dass er keine Angst vor der göttlichen Macht habe und ihr überlegen sei. Ab Vers 762 hingegen taucht ein verliebter (cupidine captus) Polyphem auf. Der Hypotext ändert sich schlagartig: Die Metapher des brennenden Feuers der Liebe und das Bild eines pflichtvergessenen Kyklopen verweisen jeweils auf Theocr. 11, 52 und 11–13. Bemer-

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kenswert sind auch die Bezüge zur lateinischen Liebeselegie: Die in den Versen 764–767 beschriebene cura placendi vergleicht Polyphem mit dem Auszubildenden der Ars amatoria, dem empfohlen wird, sich um Haare und Bart zu kümmern (ars 1, 517–518). Die intertextuelle Anspielung bezieht also die Texte Ovids selbst ein und erzeugt einen parodistischen Effekt, nämlich den Eindruck, dass der Zyklop die Ars gelesen habe. Galatea führt weiter die Beschreibung dieser erstaunlichen ›Metamorphose‹ auf (met. 13, 768–775): »Mordlust, die schreckliche Wildheit, der unermessliche Blutdurst ruhen, und sicher kommen und sicher scheiden die Schiffe. Telemus, der unterdes zum sicilischen Aetna verschlagen, Telemus, Eurymos’ Sohn, den nie ein Vogel getäuscht hat, nahte dem grimmen Cyclopen und sprach: ›Das Aug, das du einzig mitten trägst auf der Stirn, das wird Ulixes dir rauben!‹ – ›Blödester, du, der Seher‹, so lacht er ›du irrst, eine andre hat es längst schon geraubt!‹«.

Mit diesen Versen wird die Kollision zwischen den Gattungen augenfällig: Der elegische Diskurs dringt in den epischen ein und der epische wiederum versucht sich gleichsam dagegen zu wehren. Dies lässt sich an der Tatsache erkennen, dass die Verwandlung Polyphems in einen elegischen Liebhaber ironisch und nicht überzeugend klingt. Galatea erzählt weiter, dass die Liebe die ursprüngliche Natur des Polyphem so verändert habe, dass er die blutigen Gewohnheiten der Vergangenheit aufgegeben habe und die Warnungen bezüglich des Verlusts seines Auges verachte. Telemos’ Prophezeiung, an die der Zyklop sich in der Odyssee zu spät erinnert, ist hier noch nicht zur Realität geworden, aber Polyphem nimmt die Gefahr nicht wahr, weil er die wörtliche Auslegung der Warnung missachtet. Das erste Buch des Properz beginnt mit Cynthia prima suis miserum me cepit ocellis (»Cynthia nahm mich Armen als erste mit Blicken gefangen«), so wie Corinna in am. 2, 19, 19 diejenige ist, quae nostros rapuisti nuper ocellos (»die du erst jüngst mein Auge betört hast«): Diese wenigen Beispiele zeigen, wie häufig die Metapher der rapti ocelli in der lateinischen Liebesdichtung angewendet wird. Analog überträgt der Zyklop Telemos’ Worte in den elegischen Code und vereitelt damit den Hinweis auf seine eigene ›epische Zukunft‹, die nur Autor und Leser schon kennen. In dieser Episode bringt Ovid Sprache, Themen und Motive von mindestens drei verschiedenen Gattungen zusammen und bildet einen verschlüsselten

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Text, der die Kooperation des Rezipienten verlangt (Eco 1979, 50–66), um entschlüsselt zu werden: Vom Leser wird gefordert, sein literarisches Vorwissen zu aktivieren und die Unterschiede zwischen den Gattungen zu erkennen, die der Zyklop, aus Liebe blind, nicht zu sehen fähig ist.

8.4 Episches vs. Elegisches: Der Topos des Musenanrufs 2002 hat Stephen Harrison Ovids Liebeselegie als »supergenre« bezeichnet, um ihre Vorrangstellung vor allen anderen Gattungen zu unterstreichen (Harrison 2002, 1). Während die Definition von »Kreuzung der Gattungen« impliziert, dass alle Gattungen sich auf der gleichen Ebene befinden, hat »supergenre« das Verdienst, Ovids anhaltende Treue zur Liebeselegie hervorzuheben. Das elegische Distichon bildet aber nicht einfach ein Fass, das mit dem Stoff verschiedener Gattungen gefüllt wird: Die Grenzen der elegischen Welt werden zwar ausgedehnt, aber die neuen Themen werden aus dem Blickwinkel der Muse der Liebe betrachtet, so dass alle Diskurse zu Liebesdiskursen werden. Die Prädominanz der Elegie wird in den Amores durch das Bild des unterworfenen poeta zum Ausdruck gebracht. Das direkte Eintreten der personifizierten Elegie oder des Gottes Cupido macht alle Versuche des Dichters zunichte, seine Autonomie zu erlangen. Damit kehrt er den klassischen epischen Topos des Musenanrufs um. Es ist nämlich nicht der Dichter, der die Götter anruft, vielmehr stellen sich die Götter selbst und ihn zwingen, ihnen einen Platz in seinem Werk zu geben. Dies führt manchmal dazu, dass das elegische Ich sich rechtfertigen muss, wie es bei der Eröffnung der Remedia amoris emblematisch wird: Vom Titel des neuen Buches fürchtet Amor, dass ein Krieg gegen ihn vorbereitet werde, so dass der Dichter seine Loyalität bestätigen muss, um den Gott zu beruhigen und die Erlaubnis zu erhalten, das Werk fortzusetzen. Dieses Schema tritt in den Fasti besonders häufig auf, wenn die Reibung zwischen der Treue zur Liebeselegie (und zu ihren Schutzgöttern) und der Notwendigkeit, dem vom römischen Kalender vorgegebenen Rhythmus zu folgen, auffällig wird. Am Anfang eines jeden Buches, das dem Anfang eines neuen Monats entspricht, wird dem Dichter ein ›neuer Herr‹ zuge­ schrieben, da jeder Monat einer bestimmten Gottheit gewidmet ist. Außerdem gibt es auch in ein und demselben Monat so viele Feiertage, dass die Anzahl der zu

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II Voraussetzungen

berücksichtigenden Götter exponentiell ansteigt, besonders, wenn es nicht klar ist, mit welchem Gott ein Fest, eine Tradition oder ein Name zu verbinden ist. Ovid bleibt offiziell der Göttin Venus treu (vgl. fast. 4, 8) und in allen anderen Fällen löst er seine Schwierigkeiten, indem er sie selbst in den Mittelpunkt stellt: Er tut vorgeblich nichts anderes, als sich hinter die Kulissen zurückzuziehen und die verschiedenen Meinungen aller betroffenen Götter zu sammeln, denen das Wort erteilt wird. Emblematisch ist unter diesem Gesichtspunkt die Eröffnung des fünften Buches. Der Dichter räumt offen seine Schwierigkeiten bei der Wahl der richtigen Etymologie für den Monat Mai ein und vergleicht seine Situation mit der eines Reisenden, vor dem sich mehrere Routen öffnen. Die Menge der möglichen Routen erlaubt es ihm nicht, eine zu wählen, und er lässt zu, dass die Musen sich darüber äußern. Die erste Muse, die ihre eigene Version der Herkunft des Namens »Mai« vorschlägt, ist Polyhymnia (Muse des instrumental begleiteten Gesangs); dann folgen Urania (Muse der Astronomie) und Calliope (Muse der epischen Dichtung), die im Wettstreit mit den Pieriden im fünften Buch der Metamorphosen als letzte nach den Rivalinnen gesungen und mit dem oben erwähnten Gesang über Proserpina einen triumphalen Sieg errungen hatte. Dort hatten die Musen sich für Calliope als einzige Vertreterin der Gruppe entschieden; in diesem Fall hingegen stehen sie sich in einer friedlichen Kontroverse gegenüber, und die Leistung von jeder Einzelnen wird von allen anderen gepriesen. Am Ende wird keine Gewinnerin bestimmt, und der Dichter selbst ist damit zufrieden (fast. 5, 108–110): »Was soll ich machen? Keiner Partei gelang’s, dass sie die Mehrheit bekam! Möge doch jede Muse die gleiche Gunst mir stets schenken! Keiner spend’ ich dafür weniger Lob oder mehr!«). Die Textpassage lädt zu einer metaliterarischen Interpretation ein: Es darf keine Wahl stattfinden, weil die Situation so besser zur gattungsbezogenen Selbstdarstellung Dichters als Elegiker dient, der sich ausschließlich der Triade Venus/Eros/Elegie gewidmet hat. Nur durch diese brillante Lösung gelingt es ihm, nicht-elegische Stimmen in seinen Kalender einfließen zu lassen, ohne seinem ewigen servitium amoris ›offiziell‹ zu entsagen. Damit distanziert er sich von jeder Verantwortung und jedem Vorwurf. Die Situation in den Metamorphosen ist anders. Wenn es stimmt, dass die Liebe weiterhin das dominante Thema des epischen Gedichts ist, und dass daher der Begriff der Elegie als supergenre auch bei den Metamorphosen bis zu einem gewissen Grad funktio-

niert, ist die Wahl des Hexameters ein zu markantes Wende-Zeichen, um einfach als indifferens betrachtet zu werden (Hinds 1987, 101). Der epische Rhythmus klingt nach einer Art ›Siegeserklärung‹: Der unterworfene Dichter der Elegie wird zu demjenigen, der selbstbewusst sein Thema ankündigt und nach dem Code der Gattung lediglich am Anfang seines Gedichts (met. 1–2–4) den göttlichen Schutz beschwört. Die Musen werden erst in met. 15, 622–623 angesprochen, aber sie bleiben die fernen Rezipienten eines konventionellen Anrufes: Kein direkter Dialog wird ausgetauscht. Ansonsten spielen die Götter ihre Rolle als gehorsame Figuren innerhalb der Erzählung, haben keinen Einfluss auf die Entscheidungen des Dichters und respektieren den Abstand zueinander. In den elegischen Werken (mit Ausnahme der Exildichtung, wo die Wahl des elegischen Distichons auch der Rückkehr zu den Ursprüngen der Gattung als Klagelied dient) bringt Ovid den schöpferischen Akt seines Schreibens auf die Bühne und stellt durch die Dialoge mit seinen Figuren bildlich seine eigens erkämpfte Inspiration dar. In den Metamorphosen präsentiert er hingegen das Endprodukt dieses schöpferischen Aktes, in dem der Autor und seine Charaktere ihren Platz eingenommen haben, nämlich vor und hinter dem ›Vorhang‹ der Fiktion: Keine Kommunikation ist mehr möglich. In dieser Hinsicht darf an Calliope erinnert werden: Als Muse der epischen Gattung wird ihr Lied von den anderen Schwestern einstimmig angenommen, und ihr Sieg ist unbestritten. Eine solche Dominanz der Calliope als Gegenstück der kollegialen Polyphonie der Musen in den Fasti scheint allerdings im Widerspruch zu der vorher durchgeführten Analyse der Episode von Polyphem und Galatea als perfektes Labor der »Kreuzung der Gattungen« zu stehen. Auf der einen Seite werden die Metamorphosen als episches Lied geprägt; auf der anderen sind sie aber auch der Ort, an dem noch stärker als in den anderen Werken Ovids der Dialog zwischen den verschiedenen Gattungen stattfindet. Um einen Ausweg aus diesem Widerspruch zu finden, kann es nützlich sein, den Wert und die Funktion des Hexameters in Ovids Metamorphosen zu überdenken. Das epische Versmaß wird aus zwei Gründen anstelle des elegischen gewählt: Erstens, weil es vom Leser als Zeichen eines Anspruchs auf Universalität (perpetuum carmen) rezipiert werden soll; zweitens, weil es die Übertragung von relevanten, kollektiven Ereignissen ermöglicht, die das Gedächtnis eines Volkes prägen. In den Metamorphosen ist der Autor ein Sammler einer griechisch-römischen kulturellen Identität, die

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durch den Dialog zwischen Texten und Gattungen vermittelt wird. Der Hexameter ist die einzige metrische Form, die dem enzyklopädischen Projekt der Metamorphosen, das Grenzenlosigkeit in Raum und Zeit anstrebt, angemessen ist: Er ist der Träger des kollektiven Gedächtnisses par excellence, so wie das Distichon der Vertreter der individuellen Lebenserfahrungen war. Ovid bricht seine Loyalität zur Muse der Elegie erst, als er sich entscheidet, eine universelle Geschichte über wechselnde Gattungen, Texte und Formen zu verfassen, die an die Nachwelt weitergegeben werden soll. Gleichzeitig schreibt er aber die Fasti, deren Thema – der römische Kalender – auch mit dem kollektiven Gedächtnis vieles gemein hat. Der Dichter gibt das Distichon für den Hexameter nicht auf, sondern arbeitet an den beiden Projekten weiter und bringt Eigenschaften beider in beiden Werken zusammen. Der von Heinze identifizierte und von Hinds entschärfte Dualismus zwischen Elegie und Epos bildet tatsächlich die Säule von Ovids Gesamtwerk. Gleichwohl handelt es sich um einen Dualismus, in dem eine der beiden Komponenten, die Elegie, eindeutig den Vorrang hat (Harrisons »supergenre«), während die andere, das Epos, auf ihren Status der Kriegs- und Heldendichtung verzichten muss, um ein Gedächtnis-Denkmal zu werden, das alle Formen und Gattungen bis zur Gegenwart des Dichters und darüber hinaus (Galinskys »Kreuzung der Gattungen«) enthält. Was dem persönlichen Erfindungsreichtum des Dichters zur Verfügung steht, scheint eine brillante Verpackung des bereits bekannten Materials zu sein. Bleibt zu fragen, ob die Vorstellung von Ovid als genialem Bearbeiter des schon bestehenden und in Gattungen geordneten Stoffs in toto valide ist, oder ob daneben andere Möglichkeiten denkbar wären, denen der nächste Abschnitt gewidmet wird.

8.5 Der seltsame Fall von Merkur und Herse Die Episode von Merkur und Herse (met. 2, 708–835) ist Teil der Geschichte von Merkurs Wanderungen. Während der Gott über den Himmel von Athen fliegt, erblickt er eine Gruppe von Mädchen in einer Prozession und verliebt sich in die schönste von ihnen, Herse. Das Schema eines Gottes, der sich auf den ersten Blick in eine Nymphe oder in ein sterbliches Mädchen verliebt, ist für den Leser der Metamorphosen nicht neu. Nach der Erzählung des primus amor Apollos zu Daphne in met. 1 stößt man auf eine Kette ähnlicher Episoden, deren Ablauf immer der Gleiche ist: Der Gott

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wird versuchen, die Geliebte durch eine Verfolgung zu erreichen, worauf eine Entführung, ein Gewaltakt und/ oder eine Metamorphose folgen. Der Fall Merkur entwickelt sich jedoch ganz anders. Herse ist keine scheue Waldbewohnerin, sondern wohnt in Athen mit ihren Schwestern, und zwar in einer urbanen und geschützten Sphäre. Um seine Wünsche zu erfüllen, muss Merkur das Haus der jungen Frau betreten, wo er von einer ihrer Schwestern, Aglauros, bemerkt und befragt wird. Ihr antwortet der Gott (met. 2, 743–751): »›Ich bin, der des Vaters Befehle trägt durch die Lüfte dahin. Mein Vater ist Juppiter selber. Will keine Gründe erdichten: – Mögst du nur gegen die Schwester treu dich erzeigen und gern meiner Kinder Muhme du heißen – Herse ist Grund meiner Fahrt. Sei, bitte, dem Liebenden günstig!‹ Blickte Aglauros ihn an mit den selben Augen, mit denen jüngst sie der blonden Minerva verborgen Geheimnis gesehn, und fordert als Lohn ihres Dienstes für sich eine große und schwere Menge Goldes. Sie zwingt aus dem Haus ihn inzwischen zu weichen.«

Der unerwartete Besucher stellt sich als deus und amator vor und scheint hoffnungslos verliebt zu sein. Selbst angesichts der Bitte Aglauros’ um Gold bleibt Merkur geduldig und geht darauf ein. Wenn man für einen Moment vergisst, dass der Protagonist ein Gott ist, könnte man glauben, dass dies die Szene einer Komödie sei: Wegen des Vetos eines custos, der eine hohe Bezahlung verlangt, wird einem jungen Mann der Zugang zu seiner Geliebten verwehrt. Die Täuschung setzt sich fort, als Merkur zurückkehrt und Aglauros an der Haustür findet, die ihm aus Neid auf das zukünftige Glück ihrer Schwester den Zutritt untersagt. Er fleht umsonst die unbeugsame Wächterin an, wie es jeder exclusus amator traditionsgemäß in einem paraclausithyron (»Klagelied an der Tür«) tut, bis es zu einer unerwarteten Auflösung kommt, die Merkurs göttliche Kräfte offenbart (met. 2, 814–818): »Endlich setzt sie sich hin auf die Schwelle, dem Kömmling entgegen, auszusperren den Gott. Als dieser, die freundlichsten Worte brauchend, mit Bitten und Schmeicheln sie drängte, spricht sie: ›Lass ab doch! Ich bewege mich nicht vom Platz, eh ich dich nicht vertrieben!‹ – ›Stehn wir zu dem!‹, ruft da der schnelle Gott der Cyllene.«

Nach diesen Worten wird Aglauros in Stein verwandelt, und kein Hindernis steht mehr zwischen Merkur

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II Voraussetzungen

und Herse: Das kleine Stück Komödie kann jetzt mit dem kanonischen Happy End zum Schluss kommen. Dies ist aber nicht der Fall, denn Merkur erreicht nicht Herses Zimmer, sondern geht überraschenderweise fort, als ob er den Grund für seinen Besuch und seine eigenen Worte (Herse causa viae) vergessen hätte (met. 2, 833–835): »Als der Enkel des Atlas ihr heillos Sinnen und Reden derart bestraft, verlässt er das Land, das nach Pallas benannt ist, lenkt mit der Fittiche Schlag seinen Flug empor in den Äther.« Ein solcher Schluss stimmt nicht mit der Prämisse und der Entwicklung der Erzählung überein, deren Daseinsberechtigung zunichte gemacht wird. Aglauros’ Bestrafung und Metamorphose selbst sind vergeblich, da Herses glückliche Zukunft, die die neidische Schwester sich vorgestellt hatte, nie stattfinden wird. Ebenso bemerkenswert ist die Tatsache, dass das Liebesbegehren, seit der Episode von Apollo und Daphne grundlegender Motor der Erzählung für die gesamten Metamorphosen, an Bedeutung verliert. In der vorliegenden Episode vergisst Merkur, dass er nach einem Ziel strebt und worin dieses Ziel besteht: Kurz gesagt, er vergisst, dass er liebt. Außerdem ist bei Apollod. 3, 14, 3 belegt, dass Merkur und Herse ein Kind hatten: Desto überraschender scheint Ovids Schluss der Episode. Das hat Folgen für die Gattungsfrage: Neben dem erkennbaren Einfluss der Komödie beziehen sich der städtische Handlungsort und das paraclausithyronMotiv auf die Welt der Liebeselegie (vgl. Tib. 1–2; Prop. 1, 5 und 1, 16; Ov. am. 1, 6, ars 2, 527–528, rem. 35–36, fast. 4, 109–112), deren Affinitäten zu den typischen Situationen der antiken Komödie evident sind. Die wichtigste Anspielung auf die Elegie findet man im V. 815 in den Worten exclusura deum (»um den Gott auszusperren«): Trotz der Entscheidung, beim Besuch von Herses Haus sein Äußeres nicht zu verändern (V. 731, nec se dissimulat, »er verstellt sich nicht«), ist Merkur in der Tat als exclusus amator verkleidet. Ähnlich wie in der Episode von Polyphem und Galatea kann man die Gattungskreuzung feststellen: Komödie und Liebeselegie werden in epischen Versen vorgetragen. Gerade deshalb ist die Schlussszene umso erstaunlicher: Keine Komödie und keine Liebeselegie könnte jemals mit einem Liebhaber enden, der nach dem außergewöhnlichen Fall eines freien Eintritts zu seiner puella leichten Fußes weiterzieht. Von erfolgreichen paraclausithyra sind wenige Beispiele in der griechischen (Aristoph. Eccl. 938–975) und in der lateinischen (Plaut. Curc. 147– 155) Komödie erhalten, wohingegen sie in der lateini-

schen Liebeselegie, wo die Tür der Geliebten verschlossen bleibt, undenkbar werden. Es ist jedoch unbestreitbar, dass der Dichter sich nicht nur gegen die Logik einer sinnvollen Erzählung, sondern auch gegen alle Gattungskonventionen richtet. Die traditionelle Vorstellung von Ovid sieht ihn als Traditions-Bearbeiter, der innerhalb des Systems der literarischen Gattungen und durch ein Arrangement der schon bekannten Formen etwas (relativ) Neues ausprobiert. Erzählungen wie die von Merkur und Herse weisen allerdings darauf hin, dass dieser Eindruck auch täuschen kann. Am Schluss der Episode von Merkur und Herse hinterlässt der Dichter im wahrsten Sinne des Wortes eine ›offene Tür‹, ein Rätsel, das der Leser nicht einfach mit den Erfahrungen aus früheren Lektüren lösen kann (ein in gewisser Hinsicht ähnlicher Fall ist der von Pomona und Vertumnus in met. 14, wo den Protagonisten jedoch ein überraschende Happy End beschieden ist). Uns bleibt die absurde Figur eines Gottes, der vergisst, verliebt zu sein, um sich stattdessen unersättlich in neue Abenteuer zu stürzen. Vielleicht war er einfach müde – wie der Dichter selbst –, eine so bekannte Rolle zu spielen. Literatur

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Laura Aresi

III Werk

9 Amores 9.1 Entstehung und Überlieferung Die Amores sind eine Sammlung von Liebeselegien und stellen Ovids Erstlingswerk dar, das gleich eine Dichtung von weltliterarischem Rang mit einer kaum überschaubaren Wirkungsgeschichte ist. In einem Epigramm, das am Anfang der Sammlung steht, wird angekündigt, dass das Werk, das vorher aus fünf Büchern bestand, nun drei Bücher enthält (Epigramm 1–2). Ein Teil der Philologen argumentiert dafür, dass diese Aussage wörtlich zu nehmen ist und den Amores, die wir kennen, eine erste Ausgabe vorangegangen ist. Ein anderer Teil der Forscher liest die Aussage des Epigramms als Fiktion, zumal das einzige explizite Zeugnis für die ovidische Revidierung das Epigramm selbst ist (zur Interpretation des Epigramms in diesem Sinne s. unten die »Analyse«; vgl. Martelli 2013, 35–67). Bei der Datierung, wie bei Ovids Frühwerk generell, sind wir auf indirekte Belege und zum Teil auf Spekulationen angewiesen (vgl. Holzberg 2005, 41– 48). In seiner Autobiographie (s. Kap. 2) berichtet Ovid davon, dass er sich ein- oder zweimal den Bart rasiert hatte, als er anfing, in Rom Gedichte zu rezitieren (trist. 4, 10, 57–58), er will also damals ein Jugendlicher gewesen sein. Man rechnet daher mit einer möglichen (ersten) Ausgabe nach 23 v. Chr., wobei hier die Ansichten auseinandergehen. Sollte am. 1, 14, wie wir das Stück kennen (s. dazu unten, »Werkbeschreibung«), Teil der ersten Ausgabe gewesen sein, so könnte man diese zwischen 16–8 v. Chr. datieren. Was die »zweite« Ausgabe betrifft, so schwanken die Datierungsversuche noch stärker, von 12–7 bis 1 v. Chr. Ronald Symes Annahme, dass Ovid, der in seine 40er Jahre gekommen war, um Christi Geburt seine Liebesgedichte als Leistung seines Lebensweges bis dahin in einer Sammlung präsentierte und so eine Parallele zwischen dichterischer und politischer Karriere aufzeigen wollte (Syme 1978, 20), wurde von Stephen Harrison weitergedacht. In den Remedia amoris behauptet Ovid, er habe so viel für die Elegie gemacht wie Vergil für die Epik (rem. 395–396). Das heißt, dass er einen Höhepunkt in seinem dichterischen Schaffen erreicht hat und dass er nun auf höhere literarische Gattungen blickt (s. dazu unten, »Analyse«). Harrison

stellt eine mögliche Kollektion von elf Büchern vor (mit den Amores in drei Büchern), die eine Huldigung für die zwölf Bücher der Vergilschen Aeneis bedeuten und an die elf Füße des elegischen Distichons erinnern würde. Syme setzte die Sammlung auf 1 n. Chr., als Ovid 42 wurde und das Alter für den Konsulat beinahe erreicht hatte. Wenn man aber die Ars amatoria auf 2 n. Chr. datiert, dann könnte man eher für die Jahre 2–3 n. Chr. mit einer großen Sammeledition rechnen (Harrison 2017, 195–197), wofür man aber keine soliden Belege hat. Auf den Titel des Werks kann aus einer Stelle der Ars amatoria (s. Kap. 12) geschlossen werden (Ov. ars 3, 343). Es ist wahrscheinlich, dass Gallus seine Sammlung unter dem Titel Amores veröffentlicht hat; in diesem Fall wäre die ovidische Titelwahl eine Hommage an ihn als Gründer der Römischen Liebeselegie. Es ist möglich, dass auch andere Autoren der Zeit diesen Titel verwendet haben. In der sonst reichen handschriftlichen Überlieferung (wir haben Kodizes aus dem 9. Jahrhundert und eine große Zahl an Manuskripten aus dem 13.) herrscht Unklarheit, was den Titel betrifft. Im Mittelalter wurde das Werk manchmal als Arma erwähnt, mit Hinweis auf den Anfang von am. 1, 1. Einige Handschriften geben anstelle eines Titels sogar den Ausdruck liber de sine titulo (›Buch über ohne Titel‹) an (McKeown 1987, 103–107).

9.2 Werkbeschreibung Die drei Bücher der Amores bilden jeweils geschlossene Einheiten. Das erste Buch enthält 15, das zweite Buch 20 und das dritte Buch 15 Gedichte, wobei einige moderne Ausgaben, wie etwa die führende Edition von Kenney, 15, 19 bzw. 14 Gedichte anführen: Es gibt nämlich keinen Konsens darüber, ob am. 2, 2 und 2–3 getrennte Elegien sind, ob am. 2, 9 und 3, 11 jeweils eine einzige Elegie bilden oder ob am. 3, 5 von Ovid stammt (vgl. Weinlich 1999, 272). Wichtig für die Struktur ist die Rahmung durch die drei Eröffnungsgedichte, die erklären, warum Ovid Liebesdichtung schreibt (am. 1, 1; 2, 1 und 3, 1), dazu kommen zwei Sphragis-Elegien (am. 1, 15 und 3, 15), die im Sinne des griechischen Wortes ›Siegel‹ als Schlussgedichte dienen, in denen Aussagen über den

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_9

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Dichter getroffen werden. Obwohl die ersten drei Elegien (1, 1–3) als Einführung in die elegische Welt eine dramatische Einheit bilden, kann man, was die ganze Sammlung betrifft, von keinem konsequent durchgeführten einheitlichen Narrativ sprechen. Als eine mögliche Erklärung dafür hat die Forschung die Hypothese formuliert, dass der narrative Rahmen durch die zweite Edition gestört worden sein könnte: Diese Erklärung setzt natürlich voraus, dass es zwei unterschiedliche Ausgaben zu Ovids Lebzeiten gab. Eine andere Herangehensweise spiegelt sich in der Interpretation wider, laut der die Amores als ein Liebesroman zu lesen sind, dessen Struktur dem modernen Briefroman nahesteht. Es liege eine Spannung darin, dass der Held als Liebhaber während ›des Romans‹ die Kontrolle über die Beziehung zu seiner Geliebten verliere, als Dichter wiederum bleibe er Herr über seine Gattung und kontrolliere seine eigene Verwandlung, die darin kulminiere, dass er Abschied von der Elegie nehme (Holzberg 2005, 55; vgl. Weinlich 1999). Zwischen der Anordnung der Gedichte und ihrer Chronologie, sei es im Sinne ihrer Entstehung oder was ihren fiktiven zeitlichen Rahmen betrifft, findet man keine glatten Entsprechungen. Das Gedicht 3, 9 etwa, in dem über Tibulls Tod (19 oder 18 v. Chr.) berichtet wird, muss früher entstanden sein als 1, 14, in dem der Dichter einen Sieg über den westgermanischen Stamm der Sugambrer erwähnt, der erst nach 16 v. Chr. möglich war. In am. 1, 15 findet man Tibull im Katalog von toten Dichtern, man kann also annehmen, dass diese Elegie auch später entstand als am. 3, 9. Das heißt, die Struktur der Bücher möchte nicht in jedem Zuge die Widerspiegelung ihrer Entstehungsgeschichte vortäuschen, sondern ist Ergebnis einer nachträglichen Kompositionsleistung. Obwohl die Elegien keine runden Liebesgeschichten präsentieren, kann man in ihnen zahlreiche korrespondierende Momente beobachten, die auf eine bewusste Strukturierung hinweisen und in die Richtung eines locker aufgefüllten narrativen Rahmens zeigen. Dass die Sammlung sich dem Ende nähert, wird in 3, 1 angedeutet, wo der Dichter noch eine letzte Periode des elegischen Schreibens aushandelt; in 3, 15 nimmt er Abschied von der Gattung. Ovid macht das Stilmittel der variatio zum Ordnungsprinzip, wenn er die Gedichte mit ähnlichen Themen, die nicht direkt aufeinander bezogen sind, weit voneinander platziert, so etwa am. 1, 5, am. 2, 12 und 3, 2 (Motiv: der Sprecher als erfolgreicher Liebhaber), 1, 10 und 3, 8 (Präferenz seiner Geliebten für Geld) oder 1, 11–12 bzw. 2, 7–8 (die Friseurin Nape, die Friseurin Cypas-

sis). In der Sammlung finden wir auch Paargedichte, die in Relation zueinander und in der Reihenfolge nebeneinander stehen (1, 11 und 12; 2, 7 und 8; 2, 11 und 12; 2, 13 und 14; 2, 2 und 3; 2, 9 und 9b; 3, 11 und 11b, wobei man in den letzten drei Fällen eventuell mit jeweils einzelnen Elegien zu rechnen hat). Als ein weiteres Strukturmerkmal soll erwähnt werden, dass 1, 8 als das längste Gedicht des Werks (114 Verse) wohl absichtlich in die Mitte des ersten Buchs gestellt wurde; in den anderen Büchern ist dieser Zusammenhang nicht ganz klar (McKeown 1987, 90–102).

9.3 Analyse a) Das elegische Programm: Die Amores weisen einen hohen Grad an Selbstreflexivität auf, der seinerseits dazu führt, dass die römische Liebeselegie in dieser Reflektiertheit aufgeht und die Geschichte der Gattung ihr Ende nimmt (vgl. Reitzenstein 1935, 63; Lyne 1980, 284–287). Am Anfang der Amores steht ein Epigramm (s. dazu oben »Entstehung und Überlieferung«), in dem die drei Bücher bzw. »Büchlein« (libelli) personifiziert werden und in ihrem eigenen Namen davon erzählen, dass sie eben noch fünf waren. Das Werk fängt so mit dem Akt der Streichung an und schließt sich der kallimacheischen Poetik der kleinen Form an. Dazu gehört, dass im ersten Vers die Zahl fünf steht (quinque), im zweiten Vers die drei (tres), im vierten die zwei (duobus). Der Hinweis auf ein früheres Werk, unabhängig davon, ob es eine erste Edition der Amores gab, ist ein wichtiges Mittel, die Autorschaft des Ovids zu beglaubigen. Die Büchlein berichten davon, dass die gekürzte Fassung dem Autor besser gefallen hat (V. 2), was impliziert, dass der Autor in einer Person sein eigener Kritiker und Herausgeber ist (Scheidegger Lämmle 2016, 178–179). Das zweite Distichon spricht auf spielerische Weise die kritischen Leser an: Selbst wenn es immer noch kein Vergnügen sei, das Werk zu lesen, so sei die Strafe (poena) doch leichter, da zwei Bücher weggenommen sind. Eine wichtige Parallelstelle des Epigramms bilden die vier Verse, die Vergils Aeneis vorangehen (Ille ego qui quondam ...), die zwar womöglich nicht von Vergil stammen, aber zeitnah zu seinem Epos entstanden und mit diesem überliefert wurden. Man hat eine mehrfache textuelle Verbindung der beiden Vierzeiler nachgewiesen, was umso interessanter ist, da ›Vergil‹ sich dort seinerseits als Autor zweier gefeierter Meisterwerke, der Eklogen und der Georgica, darstellt und sich nun in einer neuen Gattung zu Wort meldet. Bei

9 Amores

Ovid sehen wir wiederum einen Dichter, der sich vorher in keinem anderen Genre behauptete und sich trotzdem mit ähnlichem Stolz wie Vergil äußert. Alessandro Barchiesi stellt die Frage, ob die fünf Bücher, die Ovid erwähnt, nicht nur in einer imaginären Weise und nur darum existieren, um eine witzige Einleitung in die drei Bücher zu ermöglichen. Das wäre eine ähnliche »literary existence« wie im Fall des geplanten epischen Werks in am. 1, 1, von dem gleich die Rede sein wird, und der Gigantomachie in am. 2, 1, die der Dichter schreiben möchte, aber nicht könne, weil er zur Elegie zurückkehren müsse. Es ist nicht unwichtig, dass die imaginäre Sammlung von fünf Büchern um ein Buch länger wäre als die des Gallus, des Gründers der römischen Liebeselegie, was zur Selbststilisierung des Autors Ovid beitragen könnte (Barchiesi 2001, 159–161). Das programmatische erste Gedicht führt mit mehreren Hypotexten einen intensiven Dialog. Dass der Text mit dem Wort arma anfängt, ist eine offensichtliche Anspielung auf den ersten Vers der Aeneis (arma virumque cano; Verg. aen. 1, 1). Wenn der Dichter behauptet, dass er eigentlich in heroischem Vers, von Waffen und Krieg zu berichten vorhatte, ruft er Vergils Epos in Erinnerung. Schon das erste Distichon betont die Engführung von Stoff und Versmaß, wie auch im ganzen Text das elegische Schreiben vom Formprinzip geleitet wird. Ovid schafft hier eine eigene Variante für die recusatio, den Topos der Ablehnung des epischen Dichtens. Es gehe in seiner Darstellung nicht darum, dass er kein Epos schreiben möchte, sondern dass es ihm nicht gegeben werde. Das wird in einer humorvoll-spielerischen Szene erzählt, in der Cupido einen Versfuß stiehlt: So entsteht, anstatt des reinen daktylischen Hexameters, ein elegisches Distichon, in dem auf ein Hexameter ein Pentameter folgt. Wenn man dieses Narrativ etwa mit dem ersten Gedicht der Monobiblos des Properz (Prop. 1, 1) vergleicht, fällt auf, dass Ovid eine Ursprungserzählung seiner Liebesdichtung präsentiert, die sich von der seines Vorgängers wesentlich unterscheidet. Bei Properz steht der Name Cynthia am Anfang des Eröffnungsgedichtes und kommt dadurch an die Stelle eines Titels. Cynthia wird zur Akteurin und zum Ausgangspunkt der Liebeserzählung gemacht: Sie soll den Sprechenden mit ihren Augen bezwungen haben. Am Anfang der Elegien des Properz steht also die Fiktion einer subjektiven Erfahrung der Liebe. Demgegenüber stellt Ovid eine poetologische Frage an die Spitze seines Œuvres, wenn er in seiner Elegie über die thematischmetrische Konstitution einer anderen Gattung, des

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Epos, spricht. An die Stelle, die in der Elegie Liebender und Liebe innehatten, treten Dichter und Dichtung: Das beschriebene Leben dient der Bestätigung der Kontrolle des Dichters über seine poetische Inspiration (Boyd 1997, 138). Die Geliebte scheint eine Projektionsfläche für das Spiel mit der elegischen Tradition zu sein (Möller 2016, 20). Da die metrische Einheit seines epischen Gedichts verletzt worden sei, sei es ihm nicht mehr möglich, über epische Themen zu schreiben. In ihrer Rede an Cupido stellt die Dichterperson die Zuständigkeit des Gottes, was die Literatur betrifft, in Frage. Ihre Klage gilt der Diskrepanz zwischen der vermeintlichen poetischen Intention und dem Ergebnis, das dieser nicht entspricht, was auf die Einmischung Cupidos zurückzuführen sei. Da die Versform der Elegie durch göttliche Hilfe gegeben sei, solle er in dieser Gattung schreiben, er habe aber keinen Stoff (materia), »der zu leichteren Rhythmen passen würde, sei es ein Knabe oder ein Mädchen mit hübsch frisiertem langen Haar« (am. 1, 1, 19–20). Dass Cupido ihn mit seinem Pfeil trifft, ist eine nachträgliche (fiktive) biographische Rechtfertigung für das, was auf der poetischen Ebene schon eine Tatsache ist: Die Liebesdichtung ist schon da, jetzt soll auch die Liebe kommen, obwohl der Sprechende noch niemanden hat, den er lieben könnte. Die Figur des Mangels, die zentral in der Liebeselegie ist, spielt auch in dieser Hinsicht eine wichtige Rolle, nachdem er in der Entstehungsgeschichte des Distichons durch Diebstahl auch ein wichtiges Motiv gewesen ist. Philip Hardie spricht von einer »initial absence«, die sich gut mit dem Modell der scripta puella (›geschriebenes Mädchen‹; vgl. Wyke 1987) vereinbaren lässt: Die Figur der Frau existiert nur als Phantasma, erzeugt vom Wunsch des männlichen Dichters im Medium der Schrift (vgl. Sharrock 1991). Dazu gehört, dass die elegischen Frauen mit Pseudonymen benannt werden; Ovids Corinna ist nach der griechischen Dichterin Korinna benannt, die für ihre Schönheit und die Komplexität ihrer Gedichte bekannt ist. Am Anfang ist also die Frau nur als »absent presence« da, und in den ersten Gedichten der Sammlung wird, wie wir sehen werden, der Leser in die Sehnsucht hineingezogen, Corinna zu sehen (Hardie 2002, 30–35). Der elegische Sprecher reagiert auf seine Verletzung durch den Pfeil mit dem Ausruf me miserum! (›ich Armer!‹, V. 25). Ovid verwendet diese Phrase in seinem Œuvre 45mal, was deshalb auffällt, weil die augusteischen Dichter sie nicht benutzen, nur Properz an zwei Stellen, aber sie kommt häufig in der Komödie und in rhetorischen Prosatexten vor. Im ersten Vers

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der Elegiensammlung des Properz kann man aber eine Parallelstelle sehen, dort steht miserum me, d. h. ›mich, den Armen [hat Cynthia mit ihren Augen bezwungen].‹ Dadurch, dass Ovid die Reihenfolge der beiden Wörter umdrehe, dramatisiere er die Properzsche Wortwahl (McKeown 1989 ad loc.). Stephen Hinds argumentiert dafür, dass diese Allusion als eine interpretative gedeutet werden kann, mit der Ovid zeigen wollte, dass die Properz-Stelle an sich, mit miserum me, schon das Geheul me miserum evoziert. Die Phrase soll das Moment des Klagelieds in Erinnerung rufen, das man in der Antike mit der Gattung Elegie assoziiert hat. Die häufige Verwendung von me miserum bei Ovid könne zum Teil damit zusammenhängen, dass der Autor es an dieser prominenten Stelle programmatisch in einem elegischen Sinne verwendet habe (Hinds 1998, 29–34). b) Themen und Motive: Aus dem Epigramm und dem ersten Gedicht geht hervor, dass die schon bei Properz zur topologischen Tradition gewordenen Motive der römischen Liebeselegie in Ovids Werk »nur noch im Modus der Ironie und Parodie überzeugen« können und dass hier »die elegische Stoffwelt eine Funktion des elegischen Schreibens« ist (Schwindt 2005, 6). Dementsprechend ist eines der wichtigsten Themen der Amores die Elegie selbst. Ovid lehnt sich an die Tradition der werbenden Dichtung an, wenn er im Sinne der Nützlichkeitstopik (vgl. Stroh 1971) die angesprochene puella (›Mädchen‹, im elegischen Kontext: ›Geliebte‹, ›junge Frau‹) mit seiner Dichtkunst für sich zu gewinnen sucht. In am. 1, 3 bittet er sie, dass sie sich als »fruchtbaren Stoff« (materies felix) seinen Gedichten hingebe: Wenn das passiere, würden Gedichte entstehen, die ihrer würdig seien. Der elegische Sprecher führt mythologische Beispiele an, Liebschaften von Jupiter, die durch Dichtung verewigt wurden. Es versteckt sich ein ironisches Moment darin, dass er ewige Treue verspricht, seine Exempel aber die Untreue des Hauptgottes darstellen. Dass sein eigener Dichterruhm die Berühmtheit seiner Geliebten mit sich bringen und dass sein Name stets mit dem ihren verbunden sein wird, sind deshalb fragwürdige Versprechungen, da die puella in dieser Elegie und bis zu diesem Punkt in der Sammlung generell noch nicht namentlich erwähnt wurde (am. 1, 3, 19–26). Wie McKeown anmerkt, soll sie zuerst zur Geliebten des Dichters werden, damit danach die Verewigung ihres Namens gelte (McKeown 1989, ad loc.). Ähnlich wie in am. 1, 1 berichtet der Dichter am Anfang des zweiten Buchs davon, dass er dabei war,

ein episches Werk zu schreiben: Mit dem Thema der Gigantomachie war er auch nicht erfolgslos. Seine Freundin (amica) verschloss jedoch ihre Tür, und so entstand die Situation eines Paraklausithyron (Klagen an der Tür): Seine epischen Verse hatten keine Wirkung auf die Frau. Daher entschuldigt der Dichter sich bei Jupiter und wendet sich wieder an die Elegie, die seine Freundin als »Lohn für das Lied« (am. 2, 1, 34) wieder zu ihm führt. In am. 2, 17, in dem das elegische Motiv des servitium amoris (›Knechtschaft der Liebe‹) aufgegriffen wird, stellt der Dichter, dessen domina sich wegen ihrer Schönheit stolz und tyrannisch verhält, seine literarische Leistung dem fehlenden Vermögen gegenüber: Obwohl viele durch ihn berühmt werden wollen und es sogar eine gibt, die fälschlicherweise behauptet, sie sei Corinna, dienen seine Gedichte ausschließlich dem Ruhm seiner Herrin. Der ewige Ruhm der Dichter gibt den Grundgedanken von am. 1, 15 an, in dem Ovid einen Katalog von Griechischen und Lateinischen Dichtern schreibt. In seinem Œuvre führt Ovid an mehreren Stellen solche literaturhistorischen Listen auf, mit jeweils unterschiedlichen Akzentuierungen. In diesem Gedicht gilt der siegreiche Ton, mit dem er die Unsterblichkeit der Poeten preisgibt, nicht nur den Elegikern, sondern spiegelt ohne gattungsspezifische Unterscheidungen Ovids breiten literarischen Horizont wider (Tarrant 2002, 15–17). Die Gattung ist der entscheidende Punkt in einer der spektakulärsten Elegien Ovids, am. 3, 1, in dem die Tragödie und die Elegie als personifizierte Frauenfiguren dem Elegiker in einem Wald erscheinen. Die komplexe Ästhetik ihrer Erscheinung impliziert poetologische Aussagen (Wyke 1989). Der Gattungswechsel wird in diesem Text als Konsequenz eines Reifeprozesses erklärt (Scheidegger Lämmle 2016, 192). Im Wettbewerb um den Dichter verwendet die Tragödie ethische Argumente: »Du wirst zum Stadtgespräch in ganz Rom, ohne es zu merken, während du schamlos deine Untaten erzählst« (V. 21–22). Sie will, dass Ovid einen anderen Stoff für sein Schaffen sucht, und möchte durch ihn als »römische Tragödie« berühmt werden. Die Elegie erinnert an die früheren Erfolge in der Liebe, die mit der Gattung zusammenhängen; sie führt wörtliche Zitate aus den ersten beiden Büchern der Amores an, als Erinnerungen an seine Karriere als Liebhaber und Dichter. Ovid geht einen Kompromiss ein, wenn er die Tragödie um »noch ein wenig Zeit« bittet, d. h. eine letzte Etappe des elegischen Schreibens, nach der »ein größeres Werk« kommen werde: Hier kann man an Ovids verschollene Tragödie Medea denken, aber auch an sein episches

9 Amores

Werk, die Metamorphosen. Im letzten Distichon seiner Abschiedselegie verabschiedet er sich von seiner Gattung, die er hier als imbelles elegi anredet (»friedfertige Elegien«, am. 3, 15, 19): Damit schließt sich der Kreis und es wird noch einmal an das erste Wort der Sammlung arma erinnert. Das Motiv des Kriegs kommt nicht nur in den direkt poetologischen Gedichten vor, sondern gehört zum Inventar der Liebeselegie. Es geht um die militia amoris (›Kriegsdienst der Liebe‹), die eine Metapher für die nichtkonventionelle Lebensführung der Elegiker ist und die ein Gegenkonzept zur öffentlichen Karriere in der römischen Armee bildet: Im Kriegsdienst der Liebe stehende Männer führen ein untätiges Leben (Lyne 1980, 71–78). Ovid kehrt diesen Topos um, indem er in der Tradition der rhetorischen Vorübungen eine synkrisis (›Vergleich‹) schreibt und katalogartig beweist, dass der Liebende dieselben skills braucht wie der Soldat, und dass Liebe nicht zu Trägheit, sondern zu Aktivität führt (McKeown 1989, 257– 260). Der Kriegsgott Mars und die Liebesgöttin Venus werden in der Rede der Hexe und Kupplerin Dipsas auf eine frivole Weise gegenüberstellt: »Jetzt freilich erprobt Mars seine Tapferkeit in auswärtigen Kriegen, Venus aber herrscht in der Stadt ihres Aeneas« (am. 1, 8, 41–42). In ihrer Belehrung ironisiert Dipsas nicht nur über die römischen Sitten, sie gibt auch, in der Manier der Ars amatoria, einer jungen Frau Ratschläge, wie man ›böse‹ Weise Männer austrickst: Kaum kann der lauschende Dichter die Hände zurückhalten. Gewalt und Liebe werden in am. 1, 7 verflochten: Hier berichtet der Elegiker davon, dass er seiner Geliebten gegenüber gewalttätig wurde. Mit einem selbstironischen Gestus gratuliert er sich dazu und schlägt einen Triumphzug vor, ein wichtiges Requisit des römischen politischen Lebens (V. 35–40). Auf der anderen Seite äußert er seine Reue direkt und meint, es wäre besser gewesen, vorher seine Arme zu verlieren (23–24): Die Phantasie der Zerstückelung des eigenen Körpers impliziert, dass er die Verantwortung von sich wegschieben möchte. Am Ende des Gedichts folgt eine Aufforderung zum Gegenschlag, die die Elegie in ein neues Licht stellt: Es kann hier von Schlägen als Teil des erotischen Spiels die Rede gewesen sein. Was die Körperlichkeit betrifft, so finden wir die expliziteste Beschreibung in der ganzen römischen Liebeselegie in am. 1, 5; in diesem Gedicht wird Corinna das erste Mal mit Namen genannt. Das Geschehen ist in einem geschlossenen Raum platziert (vgl. Schwindt 2005, 5–7), in dem der Sprecher sich zuerst alleine aufhält, und wo das Zwielicht auf eine Epipha-

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nie hindeutet. In ihrer Ankunft hat Corinna etwas Göttliches, und man kann ihre Figur womöglich eher als eine Personifizierung als eine reale Frau deuten (Hardie 2002, 43–44) oder in ihr eine »Phantasmagorie« des Elegikers sehen (Stöckinger 2015, 38). Ovid beschreibt Corinnas Körper detailliert, aber wir sehen sie nicht als ganze, geschweige als ein Individuum (McKeown 1989, 116). Durch die Frage »Wer kennt das weitere nicht?« (V. 25) wird der Leser in die Perspektive des Elegikers hineingezogen (vgl. Hardie 2002, 42; Kennedy 2008). Diese Stelle markiert einen Bruch in der Beschreibung, und über den Liebesakt wird nicht berichtet; in der Elegie also bleibt, selbst wenn sie über die Erfüllung der Liebe zu erzählen vorgibt, die Figur des Mangels bestimmend (Stöckinger 2015, 39). Die fragmentierte Erzählung dieses Gedichtes wird als Programm für das elegische Narrativ interpretiert, da dieses auch auf Momentaufnahmen basiere und kein vollständiges Bild herstelle (Salzman-­ Mitchell 2008). Die Amores bieten eine große Vielfalt an Motiven der Liebesdichtung. Vom Erkennen der Verliebtheit bzw. der Definition der Liebe (am. 1–2) durch eine ganze Reihe von Variationen zu ›Liebe‹ kommt man zu am. 3, 13, einem aitiologischen Gedicht, in dessen erstem Vers Ovids Ehefrau erwähnt wird, was mit der elegischen Welt in Widerspruch steht. Bis dahin passiert vieles. In am. 1, 3 verspricht etwa der elegische Sprecher Treue, in 3, 3 spricht er davon, dass seine Geliebte untreu ist; in 2, 7 leugnet er, dass er eine Affäre mit der Friseurin seiner Herrin hat, in 2, 8 fragt er die Friseurin selbst, wie die Affäre der Herrin auffallen konnte. Im schon erwähnten Gedicht 1, 5 wird über eine glückliche Liebesbegegnung berichtet, in 2, 10 kündigt der Sprecher Zutrauen in seine Männlichkeit an, in 3, 7 ist von Impotenz die Rede. In einer ovidischen Version des Paraklausithyron wird der Türhüter angefleht und die Machtverhältnisse zwischen Herrin, Sklave und Liebhaber erscheinen in einer komplexen Konfiguration (1, 6); in 2, 2 und 2–3 versucht der Liebende mit dem Eunuchen Bagoas, dem Aufpasser seiner Herrin, über einen Preis zu verhandeln, für den er ihn in ihre Nähe lassen soll. Die räumliche Trennung von der Geliebten manifestiert sich in einem Paargedicht über einen Liebesbrief (1, 11–12). In zwei Gedichten (2,13 und 14) ist von Abtreibung die Rede. Im zweiten Gedicht des dritten Buchs ist der poeta amator wieder beim Liebeswerben: Das berühmte Stück erzählt von der doppelten Aufregung im Circus, wo man sich über die puella und das Wagenrennen gleichzeitig freuen kann. Während Catull auf

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den Sperling seiner Lesbia Klagegedichte verfasste, trauert Ovid im stark poetologisch ausgerichteten 2, 6 dem Papagei Corinnas nach. Ein anderes Trauergedicht gilt dem Elegikerkollegen Tibull (3, 9): Dieser Text hat sehr viel mit der Liebeselegie, aber weniger direkt mit der Liebe zu tun. Im dritten Buch vermehren sich ohnehin die Gedichte, in denen nicht-elegische Motive Übergewicht haben. So am. 3, 6, und 12 mit einem starken mythologischen Akzent, der einerseits schon in Properzens Elegien präsent ist, andererseits in die Richtung von Ovids Hauptwerks, den Metamorphosen, zu zeigen scheint. Dass in am. 3, 10 und 13 kalendarische Aspekte eine großer Rolle spielen, deuten einige Interpreten als Vorbereitung zu dem anderen Werk der mittleren Schaffungsperiode des Dichters, den Fasten (Hinds 2005, 211 f.; vgl. Harrison 2002, 81 f.). Beispiel: Amores 1, 4 Bevor das elegische Ich in am. 1, 5 über die körperliche Vollendung der Liebe berichtet, sehen wir das Paar im halb-öffentlichen Raum. In diesem Gedicht nimmt Ovid die Rolle eines praeceptor amoris an, d. h. als Lehrer der Liebe gibt er Vorschriften, und so schließt er an die Grundsituation der Ars amatoria an, wobei seinen Adressaten jetzt nicht das römische Volk, sondern seine puella bildet. Im Gedicht werden Regeln im Kontext eines Gastmahls ausgesprochen, von dem man nicht weiß, ob es in der fiktiven Welt der Elegie stattgefunden hat. Man weiß nicht einmal, ob man den Text als einen betrachten soll, der vorgetragen wurde, ober für einen Vortrag zu lang ist (Weinlich 1999, 36). Ein Konstituens dieser Elegie ist das Liebesdreieck. Am Gastmahl werde neben dem elegischen Liebhaber und seiner Geliebten auch ein Mann teilnehmen, der im Incipit des Gedichts vir tuus genannt wird. Dieser kann der Ehemann der domina sein, aber auch der Patron der freigelassenen puella, ihr »offizieller« Geliebter, mit dem sie in einer dauerhaften Beziehung lebt, und der gewisse Rechte über sie hat. Das Verhältnis von vir (›Mann‹) und amator (›Liebhaber‹) entpuppt sich in dieser Elegie als ein recht komplexes, da die Rollen untereinander vertauschbar sind. Gegen Ende des Gedichts liest man: »Küsse wird er sich nun nehmen, und nicht nur Küsse. Was du mir verstohlen schenkst, wirst du ihm geben, weil es das Gesetz so will« (V. 63–64). Wie Paul Allen Miller anmerkt, kann man hier die Umkehrung des Verhältnis von Besitz und Legitimation beobachten: Der Liebhaber, der als

ein Dieb vorgeführt wird, verlangt Legitimation für die Küsse, die die puella ihm gibt, und zwar mit der Begründung, dass diese unabhängig von Besitztum sind und frei gegeben werden (vgl. Miller 2004, 169–185). Dadurch, dass der Sprecher und die domina den halb-öffentlichen Raum betreten, wird der andere Mann zum Störer ihrer Intimität: Hier gilt also nicht der amator, sondern der vir als Unbefugter. Die Rolle der Öffentlichkeit ist ambivalent: Einerseits verhindert sie, dass der Sprecher direkten Kontakt zur puella hat, andererseits hilft sie ihm, Kontrolle über ihren Umgang mit dem Mann zu üben. In Vers 59 fängt nämlich eine neue Passage in der Elegie an: Wenn die Tür hinter der puella und dem vir geschlossen wird, verliert das Ich jegliche Kontrolle über die Frau. Die Kontrolle hängt in diesem Gedicht grundsätzlich mit der Frage der Kommunikation zusammen. Die Verse 3–4 zeigen die medialen Voraussetzungen an, die das Dreieck des Gastmahls prägen: »Soll ich also meine Erkorene nur als Gast anschauen dürfen? Soll der andere die Freude haben, dass du ihn berührst [...]?«. Sehen und Berühren erscheinen zuerst in einer einfachen Gegenüberstellung, und es fällt auf, dass über Stimme und Sprache in diesen beiden Versen kein Wort fällt. Die Sprache wird durch die Vorschiften des praeceptor (neu) erschaffen. Gleich die erste Anforderung an die Frau (V. 13–14) steht im Spannungsfeld von Kontrolle und Eventualität. Der Sprecher verlangt, dass die puella früher kommt als der Mann: Obwohl er nicht weiß, wozu das nützlich sein kann, verlangt er das wiederholt. Wenn das Mädchen sich mit keuschem Gesicht zu ihrem vir gesellen wird, der auf der Couch sitzt, soll sie ihrem Liebhaber heimlich den Fuß berühren (15–16). Was also heimlich passiert, darf die herkömmliche Logik der Körpersprache bewahren. Das elegische Ich redet von sprechenden Mienen, von Augenbrauen, mit denen man ohne Stimme Worte ausdrücken kann, und von Fingern, die Worte in den Wein schreiben – ein Motiv, das Goethe in seiner 15. Römischen Elegie ausführlich erarbeitet hat. Neben den offenen kommunikativen Gesten, deren Inhalte nicht genauer angegeben werden, schlägt der Sprecher auch konkretere Bedeutungen vor: »Kommt dir das ausgelassene Spiel unserer Liebe in den Sinn, dann lege sachte den Daumen an deine Purpurwange« (21–22). Hier wird klar, dass er nicht aus der Richtung der Senderin, sondern aus der Richtung des Empfängers die gemeinsame ›Sprache‹ schafft. Da man die Intention der Zeichen nicht überprüfen kann, schafft der amator eine Illusion von Bedeutungen und Kommunikation für sich selbst.

9 Amores

Der Körper der Frau ist in Verhältnisse eingebunden bzw. innerhalb des Körpers werden Strukturen geschaffen, die die Entstehung von Bedeutung möglich machen. Der Körper und seine motorischen Tätigkeiten werden in ein semiotisches Instrumentarium verwandelt, das einen Subtext ermöglicht, der das Gastmahl durchziehen kann. Das Modell, das hier vorgeschrieben wird, basiert einerseits auf tradierten Konventionen, andererseits auf für den Anlass kreierten Zeichen. So entsteht ein Wörterbuch oder vielmehr eine Sammlung von Phrasen, die nur ein enges Repertoire an Bedeutungen zulässt. Während des Gastmahls ist aber auch die Sprache im Gang, die jedem Anwesenden als Medium des gesellschaftlichen Umgangs bekannt ist. Diese erlaubt wiederum eine Unendlichkeit an Bedeutungen. Die Haptik erhält eine besondere Wichtigkeit im Kontext von Trinken und Essen (V. 29–34). Die domina soll nicht einmal durch die Vermittlung von Lebensmitteln oder Getränken mit dem Mund des vir in Berührung kommen, wobei das Ich den Becher an jener Stelle berühren möchte, von der seine Geliebte getrunken hat. Das Berühren einer Spur ist ein wichtiges Motiv der Abwesenheit und des Mangels; hier gewinnt es eine besondere Konfiguration dadurch, dass die Frau präsent, aber unberührbar ist. Nach den vermittelten Berührungen werden auch die indirekten verboten (V. 35–50). Die einzige Stelle im Gedicht, die sich auf einen Sprechakt des amator auf dem Gastmahl bezieht und die eine direkte Rede darstellt, ist der Aufruf mea sunt (»sie sind mein!«, V. 40). Das sind paradoxerweise Worte, die der praeceptor amoris nicht aussprechen möchte. Diese gelten dem unerwünschten Fall, dass die Frau den anderen Mann küsst: Hier droht er mit einem Satz, der die juristische Sprache, genauer: einen Vindikationsprozess evoziert, und der mit Wahrscheinlichkeit das Ende des Gastmahls mit sich bringen würde. Während die versteckte Kommunikation den Kern der Strategie für das Gastmahl bildet, verbietet das elegische Ich, dass die puella mit ihrem vir unter der Decke des Sofas etwas heimlich tut. Das könnte ihn deshalb besonders eifersüchtig machen, da er aus eigener Erfahrung weiß, was alles unter der Decke passieren kann (V. 45–50). Hier zeigt sich am klarsten, dass die Rollen des amator und des vir austauschbar sind. Wenn das Gastmahl zu Ende geht und man sich nicht mehr im geschlossenen Raum aufhält, eröffnet sich eine neue Möglichkeit, indem die puella sich »mitten ins Gedränge« begibt: »Dort berühre an mir alles, was du berühren kannst« (58). In den Versen 47 und 60 nennt

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der Sprecher seine Geliebte domina (›Herrin‹). Diese wird aber von ihrem vir für die Nacht eingesperrt: Der Patron, der Macht über die Frau ausübt, rückt dadurch den Liebhaber in den elegischen Topos des Paraklausithyron. Da der Sprecher seine Freundin nicht mehr sehen wird und gar keine Kontrolle mehr über sie ausüben kann, treibt er seinen Wunsch zur Kontrolle paradoxer Weise in die Absurdität, indem er vorschreibt, wie die Frau die Liebesnacht oder zumindest die eigene Liebeslust sabotieren soll (V. 65–68). Im letzten Distichon (V. 69–70) spricht er vom nächsten Tag, an dem man wieder durch hörbare Sprache kommunizieren werde. Die Geliebte soll auf jeden Fall ableugnen, was in der Nacht passiert ist – der Sprecher möchte also die Illusion, die er selber schafft, weiter kontrollieren. Dass Ovid in am. 2, 5 die Situation aus der anderen Richtung beschreibt, nämlich aus der Perspektive des Dritten, der aus der Kommunikation in der Zeichensprache ausgeschlossen ist, gehört zur besonderen Variationskunst der Amores.

9.4 Rezeption in der Antike Die Amores haben Ovid zu einem bekannten Dichter gemacht. In seiner Autobiographie erzählt der Autor, dass sein Talent von Corinna erweckt wurde, die er mit einem erfundenen Namen benannte (trist. 4, 10, 59–60). Der elegische Modus bleibt für das Frühwerk Ovids prägend und wird ein wichtiger Relationspunkt auch für die späteren nicht-elegischen Werke. Exemplarisch sei das Zwiegespräch von Dichter und Gott in am. 1, 1 erwähnt, das in der Ouvertüre der DaphneErzählung der Metamorphosen aufgegriffen wird, wobei Apoll dem Cupido gegenübersteht (met. 1, 454– 473). Die ganze Episode weist wichtige Gattungsmerkmale der Liebeselegie auf, und wiederholt auch den Ausdruck me miserum, ›ich Armer‹ (met. 1, 508), von dem als elegisches Signal oben schon die Rede war. Mit seiner Exildichtung eröffnet Ovid eine neue Periode des elegischen Schreibens. Der exclusus amator (›ausgeschlossene Liebhaber‹), den wir aus den Paraklausithyron-Szenen kennen, wird hier zu einem exclusus poeta, der nicht von seiner Geliebten, sondern von Rom getrennt ist; wichtige Motive der Liebeselegie werden in der letzten Periode des Œuvres neu konfiguriert (vgl. Harrison 2002, 89–93). Die elegische Dichtung hatte nach Ovids Tod mehrere Jahrhunderte lang keinen Vertreter in der lateinischen Literatur. Dementsprechend wurden die Amores nicht in ihrer eigenen Gattung, sondern in anderen

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III Werk

genres rezipiert. Die Bekanntheit des Werks sollen einige Beispiele aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. illustrieren. In Petrons Satyricon spielt Ovids Frühwerk als Vorbild für den erotischen Humor eine große Rolle: Man hat in der Darstellung der Impotenz zwischen der Circe-Szene des Romans (Petron. 132) und am. 3, 7 einen intertextuellen Bezug nachgewiesen; dasselbe Stück wurde vom spätantiken Dichter Maximianus in einem elegischen Text (Maxim. 5) rezipiert (Sullivan 1968, 216–217). In einem Brief des Plinius des Jüngeren (Plin. epist. 9, 7, 3–4) findet man ein raffiniertes literarisches Spiel mit am. 3, 1; hier wird die Darstellung der Tragödie und der Elegie als Frauenfiguren bei der Beschreibung von zwei Villas aufgegriffen (die Stelle wurde vierhundert Jahre später von Boethius weitergedacht; Gibson/Morello 2012, 208–209). In der Historia Augusta liest man, dass Aelius Caesar, Adoptivsohn des Kaisers Hadrian, Ovidii libros Amorum/amorum ständig unter dem Kissen hielt, zusammen mit Apicius’ Kochbuch und Martials Epigrammen (SHA Ael. 5, 9), wobei unsicher ist, ob es hier um den Titel Amores oder um eine Inhaltsangabe (›Ovids Bücher über seine Liebeserfahrungen‹) geht (McKeown 1987, 103). In seinem Papageiengedicht zeigt Statius (Stat. silv. 2, 4) eine intensive Auseinandersetzung mit am. 2, 6, das als wichtigstes Vorbild seines Gedichts gilt (Dietrich 2002). Nicht ohne Kritik äußert sich Quintilian, wenn er über die römischen Elegiker schreibt und anmerkt, dass Ovid sowohl Properz als auch Tibull an Zügellosigkeit (lascivior) überbietet (Quint. inst. 10, 1, 93). Aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. kann man vor allem an Apuleius hinweisen: Die erotischen Motive seiner Metamorphosen, vor allem die Episode des Liebesverhältnisses des Protagonisten Lucius mit Photis (Buch 2 und 3), sind stark durch die Amores geprägt (Harrison 2014, 86–89). In der Spätantike übte Ovid, in Vergleich zu Vergil, eine kleinere Wirkung auf philosophisch-wissenschaftliche Diskurse (Fielding 2017, 10). Namentlich wurde er äußerst selten erwähnt, was aber nicht dem Bekanntheitsgrad seiner Werke in dieser Zeit entspricht (Dolveck 2018). Ian Fielding hat der Frage eine Monographie gewidmet, wie die spätantiken Elegiker von Ovids elegischem Werk inspiriert wurden; hier kann man freilich nicht so sehr ans Frühwerk als an die Fasten und die Exildichtung denken. Maximianus’ Elegien (6. Jhd.) lehnen sich wiederum in vieler Hinsicht an die Amores: seine vierte Elegie führt etwa ein interessantes intertextuelles Spiel mit Ovids Werk, wobei Motive von am. 1, 1 und am. 1, 5 verbunden werden (Maxim. 4, 7–8; Fielding 2017, 163–164). Im

Epigramma Paulini, einer christlichen Ekloge aus dem 5. Jahrhundert findet man Hinweis darauf, dass die Amores in öffentlichen Aufführungen rezitiert wurden (ebd., 9). In Hieronymus’ Briefen sind auch eine Handvoll Stellen zu finden, an denen die Kenntnis der Amores sich nachweisen lässt. Eine Passage, in der von einem Mönch die Rede ist, der versuchte eine Nonne zu verführen, enthält eine mögliche Allusion an am. 1, 4 (Hier. epist. 147, 4; Polcar 2018, 204–207). Ein wichtiges Zeugnis aus dem 5. Jahrhundert ist eine Stelle aus der Dichtung des Sidonius Apollinaris (Sidon. carm. 23,158–161). Hier findet man den einzigen antiken Beleg für die wohl grundlose Gleichsetzung Corinnas mit der Tochter des Augustus, Julia, was später zu wilden Spekulationen über einen möglichen Grund der Verbannung Ovids führte (vgl. Stroh 1969, 14; Fielding 2017, 95; Dolveck 2018, 27). Literatur

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József Krupp

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III Werk

10 Heroides Die Heroides oder Epistulae Heroidum sind eine Sammlung von 21 fiktiven Briefen, aufgeteilt in 15 Einzelbriefe und drei Briefpaare. Die Einzelbriefe werden von mythischen Frauenfiguren (mit Sappho als einziger Ausnahme) geschrieben: Sie schreiben an ihre Ehemänner, ihre Geliebten oder an Männer, in die sie verliebt sind. Die Briefe 16 bis 21 sind als Briefpaare angelegt, in denen die Frau auf einen des Mannes antwortet. Das Thema der Heroides ist die unerfüllte Liebe in ihren verschiedenen Ausgestaltungen.

10.1 Entstehung und Überlieferung Die Heroides werden im Allgemeinen zu Ovids Frühwerk gezählt, obwohl man die Entstehung des Werkes nicht sicher datieren kann und meistens unterschiedliche Entstehungszeiträume für die Einzelbriefe und die Doppelbriefe annimmt. Weil der Brief von Dido an Aeneas sprachliche und inhaltliche Parallelen zu Vergils Aeneis aufweist, geht man davon aus, dass die Einzelbriefe nach der Veröffentlichung der Aeneis (19/17 v. Chr.) entstanden sind. Ovid erwähnt in seinen Amores 9 der 15 Einzelbriefe (am. 2, 18), daher nehmen einige Forscher an, dass die Einzelbriefe der Heroides zeitgleich mit den Amores geschrieben, aber erst später fertiggestellt wurden. Allerdings gab es bereits zu dieser Zeit zwei Auflagen der Amores und die Forschung ist sich nicht einig, ob die Erwähnung der Heroides bereits in der ursprünglichen Fassung der Amores enthalten war oder erst in der zweiten Auflage hinzugefügt wurde. Im dritten Buch der Ars amatoria spricht Ovid von den Heroides als veröffentlichtem Werk (ars 3, 345). Nimmt man alle diese Aspekte zusammen, ergibt sich ein möglicher Entstehungszeitraum von ca. 20 Jahren (19–1 v. Chr.) für die ersten 15 Briefe. Für die Doppelbriefe 16–21 werden drei mögliche Entstehungszeiträume diskutiert: Die Doppelbriefe zeigen stilistische Parallelen zu Ovids Ars amatoria, was für die Jahre 12–1 v. Chr. als Entstehungszeitraum spräche. Allerdings kann man zwischen sämtlichen Werken Ovids stilistische und inhaltliche Parallelen feststellen, so dass die Verbindungen nichts Genaues über das zeitliche Verhältnis der Werke untereinander aussagen. Falls man davon ausgeht, dass Ovids Erwähnung der Einzelbriefe erst in der zweiten Auflage der Amores hinzugefügt wurde, wären auch die Einzelbriefe in diesem Zeitraum entstanden.

Der zweite mögliche Zeitraum sind die Jahre 1–8 n. Chr., also die Jahre zwischen der Veröffentlichung der Ars amatoria und Ovids Verbannung nach Tomis. Diese Hypothese wird mit inhaltlichen und stilistischen Parallelen zu den Metamorphosen und den Fasti begründet, doch auch in diesem Fall ist die Schlussfolgerung nicht zwingend. Im Gegenteil argumentieren die Gegner der Hypothese, dass Ovid neben seiner Arbeit an den Metamorphosen und den Fasti vermutlich keine Zeit gehabt hatte, um an einem dritten literarischen Großprojekt zu arbeiten. Der dritte Zeitraum, in dem Ovid die Doppelbriefe verfasst haben könnte, ist seine vermeintliche Zeit im Exil von 8–17 n. Chr. Die Argumente für und gegen diese Theorie sind etwas spekulativer als die Überlegungen zu den ersten beiden Zeiträumen: Da Ovid in seiner Exilliteratur zwar von den Einzelbriefen spricht, die Doppelbriefe aber nicht erwähnt, kann man vermuten, dass die Doppelbriefe zu diesem Zeitpunkt noch nicht existierten und dass Ovid versucht, mit dem Verfassen der Doppelbriefe an den Ruhm und Erfolg seines Frühwerks anzuknüpfen. Andererseits sind einige Stellen in den Doppelbriefen sehr lasziv (z. B. beschreibt Hero im Brief an ihren Geliebten Leander, wie sie seinen Brief als körperlichen Stellvertreter für ihn verwendet), was für einige Forscher im Widerspruch zu Ovids Versuchen steht, Augustus zur Aufhebung des Exils zu bewegen: Weil Ovid offiziell wegen der Anstößigkeit seiner Ars amatoria verbannt wurde, scheint es unlogisch, dass er im Exil ähnlich brisante Literatur verfasst haben sollte, die seine Gnadengesuche gefährdet hätte. Zu der unsicheren Datierung kommt hinzu, dass die Überlieferungsgeschichte der Heroides sehr schwierig ist. Die Einzelbriefe und Doppelbriefe wurden über Jahrhunderte getrennt voneinander und ohne einheitlichen Titel in den Handschriften überliefert: Die Doppelbriefe wurden vermutlich bis zum Mittelalter in zwei unterschiedlich ausführlichen Versionen überliefert, während der fünfzehnte Brief (Sappho an Phaon) in den meisten Fällen nicht zusammen mit den anderen Einzelbriefen überliefert wurde: Er kommt weder in den ältesten Handschriften aus dem 9. und 12. Jahrhundert noch in der griechischen Übersetzung der Heroides von Maximos Planudes (13./14. Jhd.) vor und taucht erst 1420 wieder in einer Handschrift auf. Allerdings kann für diese Handschrift und die späteren, die den 15. Brief überliefern, ein gemeinsamer Hyparchetypus, also eine gemeinsame Vorlage, angenommen werden, die vermutlich aus dem 9. oder 10. Jahrhundert stammt, heute aber verloren ist.

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_10

10 Heroides

10.2 Werkbeschreibung Die Heroides bestehen aus insgesamt 21 Briefen: Die ersten 14 sind sogenannte Einzelbriefe mythischer Frauenfiguren, dann folgt Brief 15, dessen fiktive Autorin die historisch belegte Dichterin Sappho ist, und schließlich die letzten sechs Briefe, welche aus Briefpaaren bestehen, in denen jeweils der Mann die Initiative ergreift und die Frau mit einem zweiten Brief antwortet. Die heute verwendete Anordnung leitet sich allerdings nicht aus den Handschriften ab, weil dort – wie oben erläutert – die ersten 14 Briefe, die Doppelbriefe und Brief 15 getrennt voneinander überliefert wurden. Sie stammt vom niederländischen Altphilologen Nikolaes Heinsius dem Älteren, der den Sappho-Brief zwischen die Einzel- und Doppelbriefe einsortierte und die Heroides als Gesamtsammlung herausgab. Die Reihenfolge der Einzelbriefe ergibt sich größtenteils aus Ovids eigener Aufzählung in den Amores (2, 18), wo er acht (oder neun, je nach Echtheitskriterien) der Briefschreiberinnen erwähnt. Die Briefe sind im Metrum des elegischen Distichons verfasst, das zuvor hauptsächlich für elegische Liebesdichtung verwendet wurde, weswegen das Versmaß gut zum übergreifenden Thema der Heroides, der unerfüllten Liebe, passt. Im elegischen Distichon werden die Verse abwechselnd in Hexameter und Pentameter gedichtet (Näheres dazu im Kapitel  25). Insgesamt umfassen die Heroides fast 4000 Verse, wovon ca. 2400 auf die Einzelbriefe entfallen. Es ist daher möglich, dass die Einzelbriefe in drei ›Büchern‹ zu je fünf Briefen veröffentlicht wurden: Jedes Buch wäre ca. 800 Verse lang und entspräche damit vom Umfang her einem Gesang der Aeneis oder einem Buch aus Ovids Amores, Ars amatoria oder Fasti. Ein weiteres Argument für eine entsprechende Aufteilung ist, dass die fünfzehn Briefe zusammen nicht auf eine konventionelle Schriftrolle gepasst hätten und demnach auf jeden Fall als mehrteiliges Werk herausgegeben werden mussten. Eine Veröffentlichung in drei Bänden ist plausibel, aber nicht zwingend, auch weil die mittelalterlichen Handschriften den Titel des Werks nicht eindeutig überliefern: Ovid bezeichnet die Heroides in seinen anderen Werken lediglich als epistulae (Briefe), woraus sich die Handschriften-Titel Liber Ovidii epistularum (»Buch von Ovids Briefen«) und Nasonis Ovidii epistularum libri (»Bücher der Briefe von Ovidius Naso«) ableiten. Aus den Titeln lässt sich ablesen, dass bereits bei der Erstellung der Handschriften unklar war, ob es sich bei den Heroides um ein Werk aus einem oder mehreren Büchern han-

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delt. Die antiken lateinischen Grammatiker wie Priscian und die Scholiasten des Mittelalters (z. B. John of Salisbury) geben dem Werk meist den Titel Liber Heroidum (Buch der Heldinnen), aus dem sich der heutige Titel Heroides, Heldinnen ergibt. Der alternative Titel Epistulae Heroidum, Briefe der Heldinnen, greift Ovids eigene Benennung wieder auf, ergänzt sie aber um den Zusatz »Heroidum«, um diese Briefe abzugrenzen von den Epistulae ex Ponto, Ovids Exilbriefen vom Schwarzen Meer. Obwohl das übergreifende Thema für alle Briefe (weitgehend) identisch ist, ergibt sich aus den unterschiedlichen Ausgangssituationen der Heldinnen ein Panoptikum der verschiedenen Facetten unerfüllter Liebe: Neben eher positiv konnotierten Gefühlen wie romantischer Sehnsucht und ehelicher Treue werden auch destruktive Seiten wie Verzweiflung, verletzter Stolz und quasi krankhafte Besessenheit gezeigt. Im Hinblick auf die Beziehungen zwischen den Briefschreiberinnen und ihren Adressaten kann man die Heroides grob in zwei Gruppen einteilen: Für einige Heldinnen ist das Ziel des Briefes, eine Beziehung zu beginnen oder zu festigen (Phaedra, Hermione, Canace und Hypermestra sowie Helena, Hero und Cydippe aus den Doppelbriefen), der Großteil der Frauen sieht die Beziehung jedoch gefährdet oder bereits zerstört (Penelope, Phyllis, Briseis, Oenone, Hypsipyle, Dido, Deianira, Ariadne, Medea, Laodamia und Sappho). Doch die Einteilung sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es große situative Unterschiede gibt (abgesehen von tragischen Parallelen wie bei den von Jason verlassenen Frauen Hypsipyle und Medea). Interessant ist auch, dass die Einzelbriefe bei genauerer Betrachtung so konzipiert sind, dass die Männer sie nicht beantworten können bzw. sollen – beispielsweise weil die Frauen erwarten, dass die Helden selbst zu ihnen zurückkehren (z. B. Penelope und Hermione), oder auch, weil einige Briefe erst kurz vor dem Selbstmord der Heldinnen geschrieben werden und diesen offen ankündigen (z. B. Dido, Canace und Sappho). Ovid sah sich selbst als poeta doctus, als gelehrten Dichter, der sein großes Wissen in seine Werke einbrachte und seine Leser gewissermaßen herausforderte, die Anspielungen auf andere literarische Werke und auf verschiedene Versionen des gleichen Mythos zu erkennen und zu verstehen. Für die Heroides ist es besonders wichtig, die mythologische »Hintergrundgeschichte« zu kennen, weil die Heldinnen ihre Vorgeschichte ganz selbstverständlich in die Briefe einbauen, oft ohne sie noch einmal zu erklären. In den

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folgenden Zusammenfassungen werden daher nicht nur die Inhalte der Briefe dargestellt, sondern auch die Mythen, die Ovid als Ausgangspunkt für die Briefe verwendet. 1. Penelope an Odysseus: Penelope schreibt ihrem Mann Odysseus, der nach zehn Jahren im Trojanischen Krieg weitere zehn Jahre auf seiner Rückreise nach Ithaka aufgehalten wird. Sie schildert ihm, wie viel Angst sie während des Krieges um ihn hatte, und beklagt, dass ihre Angst jetzt noch größer ist, weil sie als Einzige weiter um ihren Mann bangen muss und nicht weiß, wo er sich aufhält und ob er ihr genauso treu geblieben ist wie sie ihm. 2. Phyllis an Demophoon: Am Tag ihrer Hochzeit muss Demophoon seine junge Braut Phyllis verlassen. Er verspricht ihr, bald zurückzukommen, doch seine Rückkehr verzögert sich. In ihrem Brief wirft Phyllis Demophoon vor, sein Versprechen absichtlich gebrochen zu haben. Sie beschuldigt ihn, ihre Unerfahrenheit und Großzügigkeit ausgenutzt zu haben, und droht damit, sich aus Liebeskummer umzubringen. Nach ihrem Selbstmord wird sie in einen Mandelbaum verwandelt, der erblüht, als Demophoon ihn bei seiner späten Rückkehr umarmt. 3. Briseis an Achill: Im Trojanischen Krieg erhält Achill die Königin Briseis als Kriegssklavin. Die beiden verlieben sich ineinander, aber König Agamemnon beansprucht Briseis für sich selbst. In ihrem Brief schwankt Briseis zwischen der Angst, von Achill verlassen zu werden, und dem Vorwurf, dass Achill sich aus Trotz weigere, sie von Agamemnon zurückzuerhalten und wieder für ihn und die Griechen zu kämpfen. Gleichzeitig versucht sie, ihr eigenes Schicksal aktiv zu beeinflussen: Sie bietet Achill an, nicht als seine Frau, sondern als seine Sklavin bei ihm zu bleiben, und versucht außerdem, Agamemnons Gefolgsleute davon zu überzeugen, dass es ihr gelingen werde, Achill wieder zum Kämpfen zu bewegen, wenn sie zu ihm zurückkehren dürfe. 4. Phaedra an Hippolytus: Phaedra, die Frau des Königs Theseus, verliebt sich in ihren Stiefsohn Hippolytus und versucht (mit dem Brief, den Ovid sie schreiben lässt) ihn dazu zu bewegen, ein Verhältnis mit ihr anzufangen. Sie antizipiert Hippolytus’ moralische Bedenken und versucht diese zu relativieren, indem sie Theseus als schlechten Gatten und Vater darstellt und ein Szenario entwirft, in dem ihre Affäre unbemerkt bleibt oder als familiäre Beziehung gesellschaftlich akzeptiert wird. Als Hippolytus sie ablehnt, bezichtigt Phaedra ihn der versuchten Vergewaltigung,

weswegen Theseus seinen Sohn umbringen lässt. Phaedra tötet sich daraufhin selbst. 5. Oenone an Paris: Oenone ist in der hellenistischen Tradition die erste Frau des trojanischen Prinzen Paris, der sie aber für Helena aus Sparta verlässt (s. Briefe 16 und 17). Oenone stellt Helena in ihrem Brief als treulose Ehebrecherin dar, für die Paris seine Heimat in einen ungerechten Krieg stürzt. Sie versucht, Paris wieder für sich zu gewinnen, indem sie ihn daran erinnert, dass sie ihn nicht wegen seines Reichtums oder Titels liebt und ihm immer treu gewesen ist, was er von Helena nicht erwarten könne. 6. Hypsipyle an Jason: Jason ist mit Hypsipyle verheiratet und hat zwei Kinder mit ihr. Er verlässt sie jedoch für Medea, die ihm dabei hilft, drei Prüfungen zu bestehen, um das goldene Vlies zu erhalten. Daraufhin schreibt Hypsipyle einen Brief an Jason, in dem sie seine Treulosigkeit verurteilt und Medea als bösartige Zauberin darstellt. Sie verflucht Medea, damit diese das gleiche Schicksal erleiden soll wie sie selbst: ihren Mann Jason und ihre Kinder zu verlieren sowie ins Exil geschickt zu werden. Dieser Fluch erfüllt sich, wie der Brief von Medea an Jason (Nr. 12) zeigt. 7. Dido an Aeneas: Auf seiner Fahrt von Troja nach Italien strandet Aeneas an der Küste bei Carthago. Er wird von Dido gastfreundlich aufgenommen, aber nach einer kurzen Liebschaft bricht Aeneas wieder auf, um sein Schicksal als Gründervater der Römer zu erfüllen. Daraufhin schreibt Dido einen Abschiedsbrief an Aeneas: Sie stellt die Sinnhaftigkeit seiner Mission infrage, weil Aeneas für eine ungewisse Zukunft das Leben seiner Familie und seiner Mannschaft aufs Spiel setzt, anstatt in Carthago ein Leben in Sicherheit und Wohlstand fortzuführen. Gleichzeitig kündigt sie ihren Selbstmord aus Liebeskummer an, den sie mit dem Schwert ausüben wird, das Aeneas ihr hinterlassen hat. 8. Hermione an Orest: Hermione wurde sowohl ihrem Cousin Orest als auch dem Krieger Pyrrhus zur Frau versprochen und wurde von Letzterem entführt. Sie schreibt einen Brief an Orest, in dem sie ihn daran erinnert, dass er als Ehemann und als Cousin verpflichtet ist, ihr zu helfen und sie zu retten. Gleichzeitig dramatisiert sie ihr Schicksal im Vergleich mit dem ihrer Mutter Helena, von der sie als Kind verlassen wurde und deren Entführung der Auslöser des Trojanischen Krieges war. 9. Deianira an Hercules: Deianira ist die Ehefrau von Hercules. Dieser ist ihr jedoch nicht treu, sondern verbringt seine Zeit am Hof der Königstochter Iole. In ihrem Brief wirft Deianira Hercules vor, dass er sich

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unmännlich verhalte, da er sich Iole unterwirft, ihr seine Waffen überlässt und auf ihren Befehl Frauenkleider trägt. Doch bevor sie ihren Brief beenden kann, erfährt sie, dass ein Hemd, das sie ihm geschickt hat, nicht mit einem Liebeszauber, sondern mit Gift getränkt war und Hercules töten wird. Entsetzt über ihre Tat bringt Deianira sich daraufhin um. 10. Ariadne an Theseus: Nachdem Ariadne Theseus geholfen hat, den Minotaurus zu besiehen, brechen sie gemeinsam nach Athen auf, doch Theseus lässt Ariadne auf einer unbewohnten Insel zurück. Von dort aus schreibt sie den Brief an Theseus, in dem sie beklagt, dass sie auf der unwirtlichen Insel nicht lange überleben wird, und Theseus anfleht, zurückzukommen. Ariadne wird schließlich von Bacchus gerettet. Theseus wird später Ariadnes Schwester Phaedra heiraten (s. Brief 4). 11. Canace an Macareus: Canace und Macareus sind Geschwister, aus deren inzestuöser Liebe ein Kind geboren wurde. Im Brief an ihren Bruder erzählt Canace, wie ihre Geschichte ein grausames Ende findet: Nachdem Canace bei der Geburt fast gestorben ist, beschließen Macareus und sie, gemeinsam mit ihrem Kind zu fliehen. Doch ihr Vater entdeckt das Kind und lässt es von wilden Tieren töten. Canace bittet Macareus, ihre Asche und die ihres Kindes in einer gemeinsamen Urne aufzubewahren, bevor sie sich mit einem Schwert umbringt, wie es ihr Vater von ihr verlangt hat. 12. Medea an Jason: Als Jason nach Colchis kommt, verliebt sich Medea in ihn und hilft ihm mit ihrer Zauberkraft bei den Aufgaben, die er erfüllen muss, um das goldene Vlies zu erhalten. Sie fliehen gemeinsam nach Korinth und bekommen zwei Söhne, doch dann verlässt Jason Medea, um die Königstochter Creusa zu heiraten. In ihrem Brief beklagt Medea Jasons Untreue und erinnert ihn an alles, was sie für ihn getan hat, bevor sie droht, sich an Jason zu rächen. Später wird sie Creusa, deren Vater und ihre eigenen Söhne töten, bevor sie aus Korinth flieht, womit sich der Fluch von Hypsipyle (Brief 6) erfüllt. 13. Laodamia an Protesilaos: Laodamia schreibt an ihren Mann Protesilaos, der in den Trojanischen Krieg gezogen ist. Sie beteuert ihre übergroße Liebe zu ihm, ermahnt ihn, nicht zu ungestüm zu kämpfen, und berichtet von einer unheilvollen Prophezeiung, unwissend, dass Protesilaos sie erfüllen und sterben wird. Laodamia kann seinen Tod nicht akzeptieren und lebt mit einem Wachsbild ihres Mannes zusammen. Als man das Wachsbild verbrennt, um sie aus ihrem Wahn zu befreien, stürzt sie sich in die Flammen und stirbt. 14. Hypermestra an Lynceus: Hypermestra und ihre

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Schwestern sollen ihre aufgezwungenen Ehemänner in der Hochzeitsnacht töten, doch Hypermestra verschont ihren Mann Lynceus und wird dafür ins Gefängnis geworfen und angeklagt. Aus dem Gefängnis schreibt sie einen Brief an Lynceus, in dem sie Ereignisse der Hochzeitsnacht rekapituliert und erzählt die Geschichte ihrer Vorfahrin Io, die ebenfalls ohne eigene Schuld ein schweres Schicksal erleiden musste. Sie bittet Lynceus um Hilfe, weil sie fürchtet, dass ihr Vater sie wegen ihres Ungehorsams umbringen lassen wird. 15. Sappho an Phaon: Sappho lebte von ca. 630–570 v. Chr. und stammte von der griechischen Insel Lesbos. Ihre lyrische Dichtung galt als so herausragend, dass sie »die zehnte Muse« oder einfach »die Dichterin« genannt wurde. Für den Brief der Heroides bezieht Ovid sich auf eine Legende über das Ende ihres Lebens: Sappho verliebt sich in Phaon, der von Aphrodite mit unwiderstehlicher Schönheit beschenkt wurde. Als er sie nach kurzer Zeit zurückweist, stürzt Sappho sich aus Verzweiflung ins Meer und ertrinkt. Ihr Brief an Phaon ist durchsetzt von mythologischen Anspielungen, elaborierten Beschreibungen ihrer Gefühle und häufigen Naturvergleichen, so dass dieser Brief eher ein emotionales Tableau entwirft als dass er eine konkrete Reaktion hervorrufen möchte. 16. und 17. Paris und Helena: Der trojanische Prinz Paris entführt Helena aus Sparta, weil Venus sie ihm als Frau versprochen hat. Weil Helena bereits mit König Menelaos verheiratet ist und dieser sie zurückfordert, kommt es zum Trojanischen Krieg. In Ovids Version versucht Paris in Sparta, Helena zu umwerben und davon zu überzeugen, freiwillig mit ihm nach Troja zu kommen: Er lobt ihre Schönheit, redet abfällig über ihren Mann und versucht, ihre moralischen Bedenken zu zerstreuen, indem er vorschlägt, ihre Entführung vorzutäuschen, und ihr versichert, dass es keinen Krieg geben wird. Helena scheint ihn in ihrem Antwortbrief zunächst empört zurückzuweisen und zieht jedes seiner Argumente (berechtigterweise) in Zweifel; trotzdem lässt sie erkennen, dass Paris’ hartnäckiges Werben erfolgreich ist. 18. und 19. Hero und Leander: Hero und Leander leben in den Städten Sestos und Abydos, getrennt durch die Meeresenge des Hellespont. Weil sie ihre Liebe geheim halten müssen, schwimmt Leander jede Nacht durch den Hellespont, geleitet von einer Lampe, die Hero in einem Turm platziert. Ovids Heroides sind die erste längere literarische Bearbeitung dieser Geschichte, obwohl sie sehr viel älter ist. In seinem Brief bedauert Leander, dass er wegen eines andauernden Sturms nicht zu Hero schwimmen kann. In ihrem Antwort-

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brief stellt Hero implizit Leanders Mut und die Stärke seiner Liebe infrage, um ihn dazu zu bewegen, sich trotz des Sturms auf den Weg zu ihr zu machen. Die Geschichte nimmt ein tragisches Ende: Als Leander in der folgenden Nacht versucht, den Hellespont zu durchschwimmen, löscht der Sturm die Lampe und nimmt ihm die Orientierung, so dass er ertrinkt. Als Hero am nächsten Tag Leanders Leichnam am Strand findet, stürzt sie sich aus dem Turm in den Tod. 20. und 21. Acontius und Cydippe: Acontius bringt Cydippe durch eine List dazu, ihm ein Heiratsversprechen zu machen. Sie weist Acontius ab, wird durch ihren Schwur aber daran gehindert, einen anderen Mann zu heiraten. In seinem Brief versucht Acontius, sein Vorgehen zu rechtfertigen, indem er Cydippe seine übergroße Liebe gesteht: Er ist rasend eifersüchtig und entschlossen, Cydippe zu entführen, wenn sie nicht freiwillig mit ihm kommt. In ihrem Antwortschreiben behauptet Cydippe, der Schwur sei ungültig, weil sie ihn nicht bewusst geleistet habe, und tadelt Acontius dafür, dass er auf eine List zurückgegriffen hat, anstatt sie offen zu umwerben.

10.3 Gattungseinordnung; formale und ästhetische Aspekte Die Frage nach der Gattung ist für die Heroides besonders interessant, weil Ovid selbst in der Ars amatoria (3, 345–346) behauptet, mit diesem Werk ein völlig neues Genre begründet zu haben. Trotzdem konnte er natürlich für verschiedene Aspekte der Heroides auf zahlreiche Vorbilder zurückgreifen: Neben der römischen Liebeselegie, die mit den Heroides das Metrum des elegischen Distichons und das Thema der unerfüllten Liebe gemeinsam hat, existierte auch das Genre des fiktiven Liebesbriefs bereits lange vor Ovid: In Pompeii finden sich Gemälde von Phaedra und Hippolytus sowie von Polyphem und Galatea, zwei weiteren mythischen Gestalten, die Briefe in den Händen halten. In der philologischen Schule von Alexandria (ca. 2. Jh. v. Chr.) entstanden fiktive Briefe von Odysseus an Calypso und von Medea an Jason, die aber nicht überliefert sind. Daher können wir nicht sagen, ob diese Briefe in Dichtung oder in Prosa verfasst wurden. Auch in der römischen Kaiserzeit war das literarische Genre des Liebesbriefs bekannt: Man konnte Kunst-Liebesbriefe von Epikur, Chrysipp und sogar Cicero lesen oder sich von den Liebesbriefen aus den griechischen Romanen inspirieren lassen; vermutlich gab es auch gefälschte Liebesbrief-

Sammlungen realer Personen, die möglichst echt wirken sollten. Doch diese Briefe waren alle in Prosa geschrieben – bis auf drei Ausnahmen: Catull dichtet einen Brief an seine Geliebte Ipsitilla (carmen 32), in den Sulpicia-Gedichten aus dem Corpus Tibullianum gibt es einige Anspielungen (3, 13 und 4, 7, 7 f.) und im letzten Buch von Properz finden wir einen gedichteten Brief von Arethusa an ihren Mann Lycotas (4, 3). Properz verwendet fiktive Namen, spielt aber vermutlich auf echte Personen an. Er greift die gedichtete Briefform sonst nirgends in seinem Werk noch einmal auf. Das Zeitverhältnis von diesem Gedicht zu den Heroides ist unklar: Properz und Ovid kannten sich und schätzten das literarische Schaffen des jeweils anderen, daher ist es wenig überraschend, dass zwischen Properz’ Brief und den Heroides Parallelen bestehen. Doch welcher Autor diese Passagen erdichtet und welcher sie übernommen hat, lässt sich heute nicht mehr bestimmen. Obwohl es also für die einzelnen Teilaspekte der Heroides literarische Vorlagen gab, an denen Ovid sich orientieren konnte und mit deren Konventionen er sich auseinandersetzen musste, kennen wir heute in der griechischen und lateinischen Literatur kein weiteres Werk, das von der gleichen Machart ist wie die Heroides. Ovid vereint in ihnen viele verschiedene Genres: Er übernimmt Metrum, Thema und den allgemeinen Ton der römischen Liebeselegie und verwendet die äußere Form der Briefliteratur; darüber hinaus kann man beim inhaltlichen Aufbau Parallelen zu antiken Theatermonologen feststellen (darauf kommen wir später noch einmal zurück). Die Wiederholung bzw. Variation eines vorgegebenen Themas über mehrere Situationen hinweg erinnert an die lateinischen suasoriae. Bei den suasoriae handelt es sich um Reden, in denen man versucht, sein Gegenüber von seinem eigenen Standpunkt zu überzeugen. Dabei übernimmt man oft die persona (eigentlich »Maske«, heute würde man wohl sagen »Rolle«) einer anderen Figur, um ein Thema aus deren Perspektive zu beleuchten. Suasoriae gehörten zum Standard-Repertoire der Reden, die in den griechischen und römischen Schulen von den Schülern gehalten wurden, um sich in Rhetorik und Deklamation zu üben. Wir wissen von Ovid, dass er in Rom eine entsprechende Ausbildung erhalten hat, und Seneca der Ältere behauptet, Ovid habe bereits in seiner Schulzeit großes Interesse an den suasoriae und den in sie eingebetteten Charakterdarstellungen gezeigt. Dieses Interesse greift Ovid in den Heroides wieder auf, geht aber über die formalen Vorgaben und Gewohnheiten der suaso-

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riae hinaus. Die Kombination verschiedenster GenreElemente macht die Originalität der Heroides aus. Die Nähe zu den suasoriae wird von einigen Interpreten auch für Kritik an stilistischen Besonderheiten der Heroides herangezogen, die oft als Schwächen gedeutet wurden und den Heroides daher lange Zeit den Ruf eines literarisch minderwertigen Werkes eingebracht hatten: Alle Briefe sind stark rhetorisiert, also im Aufbau der Argumentation und in der Wahl der Formulierungen akribisch durchkomponiert. Man kann Ovid vorwerfen, dass einige seiner Heldinnen nicht über ausreichende Bildung oder Sprachkenntnis verfügt haben dürften, um solch ausgefeilte Briefe zu schreiben, und der Leser daher aus der Illusion gerissen wird, dass die Briefe tatsächlich von den fiktiven Autorinnen geschrieben sein könnten. Andererseits hat Ovid nie versucht, diese Illusion durchgängig aufrechtzuerhalten: Das beste Beispiel dafür ist der Brief von Briseis an Achill (epist. 3), der in hoch rhetorischem Latein verfasst ist – doch Briseis behauptet, sie schreibe schlechtes Griechisch (!), weil sie die Sprache nicht gut spricht. Dadurch dass Ovid – dem Prinzip der variatio rhetorischer Redeübungen entsprechend – in den 4000 Versen der Heroides nur ein einziges übergreifendes Thema behandelt, entsteht schnell der Eindruck, die Heroides seien sehr eintönig und der Inhalt der Briefe wiederhole sich mit der Zeit. Dabei muss man sich allerdings ins Gedächtnis rufen, dass die Heroides nicht an einem Stück gelesen werden sollten, sondern man sich je nach Lust und Laune einen oder zwei Briefe aussuchen können sollte (Sabot 1981, 2634). Die oberflächliche Gleichförmigkeit der Briefe soll dabei nicht abschreckend wirken, sondern im Gegenteil zu einer genauen Lektüre einladen, bei der man sowohl die Unterschiede in den Details der Briefe entdecken als auch die gemeinsamen rhetorischen Strategien und psychologischen Schemata der Heldinnen analysieren kann. Ovids Heldinnen sind durch frühere Texte bereits zu literarischen Figuren geronnen, doch genau wie Ovid mit seinen Heroides die literarische Tradition in Rom herausfordert, so fordern die Heldinnen in ihren Briefen ihre eigene mythologische Tradition heraus, indem sie die bereits bekannte Geschichte durch ihre eigene Sicht auf die Dinge ergänzen. Dem Leser mögen manche Briefe tragisch oder komisch-ironisch erscheinen, weil er die in den Briefen geäußerten Wünsche und Erwartungen gegen das Ende der Mythen abwägen kann, das er aus den Texten kennt, die Ovids Vorbilder waren. Doch indem die Briefe den Fortlauf der Geschichte zu einem bestimmten Zeitpunkt einfrieren

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und als statisches Tableau einfangen, wird der Leser dazu aufgefordert, sich der Vorbestimmung durch die früheren Texte zu entziehen, sich vorzustellen, wie die Geschichte anders hätte ausgehen können, und so den Blick auf die bekannten Mythen zu verändern. Die ›doppelte‹ Autorschaft der Briefe durch Ovid und die Heldinnen ist auch deswegen so spannend, weil sie in vielschichtige Überlegungen zu Genderund Machtstrategien münden kann. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Problematik der temporalen Priorität, also der Frage, welcher Autor zuerst geschrieben hat: Im siebten Brief schreibt Dido an Aeneas. Ovids literarische Vorlage für diesen Brief ist Vergils Aeneis, aber Dido selbst hätte ihren Brief geschrieben, bevor Vergil seine Aeneis dichtet. Daraus ergibt sich die Frage, wer eigentlich wen wiedergibt und wer gewissermaßen die Deutungshoheit hat über das, was ›wirklich‹ geschah. Dadurch dass Ovid die Autorschaft seiner Heldinnen zeitlich vor die Autorschaft seiner Vorlagentexte stellt, können die Heldinnen in ihren Briefen ihre eigenen zeitlosen Abstraktionen und die von männlichen Autoren auferlegten Stereotypen durchbrechen. Anders als in den statisch gestalteten Darstellungen der Heldinnen durch Homer und die griechischen Tragiker vermenschlicht Ovid seine Protagonistinnen durch diese Darstellung und zeigt sie den Lesern nicht nur als tragische Figuren und mythische Schablonen, sondern als komplexe Charaktere und Persönlichkeiten, mit denen man mitfühlen kann. Die Frage nach den Machtverhältnissen zwischen den Heldinnen und den männlichen Autoren ihrer Geschichten lässt sich auch innerfiktional auf die Beziehung zwischen Mann und Frau übertragen. Dadurch wird aus ihr die Frage nach der Macht des Schreibens bzw. der Elegie: In der Ars amatoria behauptet Ovid, Frauen seien nicht in der Lage, einen Mann durch geschriebene Worte zu beeinflussen, weil sie ausschließlich die Wahrheit sagten und so den Männern unterlegen seien, die rhetorisch geschult sind und manipulativ vorgehen können. Gleichzeitig ist es ein Grundprinzip der elegischen Dichtung, dass das Liebeswerben der Männer gerade nicht erfolgreich ist, sondern die angebetete Herrin ihrem elegischen Liebhaber trotz dessen literarischer Ergüsse höchstens zeitweise gewogen ist. In den Heroides werden diese Konstellationen in Frage gestellt: Ovids Heldinnen sehen ihre Briefe als das einzige oder das am besten geeignete Mittel, Einfluss auf die angeschriebenen Männer zu nehmen; ihre Briefe sind rhetorisch ausgefeilt und nicht zwingend wahrheitsgetreu – ob ihre Sicht auf die Dinge die überlieferte Geschichte

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richtigstellt oder verzerrt, liegt im Auge des Betrachters. Die Briefe der Männer aus den Briefpaaren erfüllen zwar im Generellen das ovidische Klischee, rhetorisch elegant und den Frauen gegenüber manipulativ zu sein, doch sie sind zu einem großen Teil auch elegische Dichtung, die um die Gunst einer Frau wirbt. Aber die Helden brechen aus dem Schema des elegischen Liebhabers aus, denn aus den Antwortbriefen der Frauen lässt sich ableiten, dass ihr elegisches Liebeswerben überraschend erfolgreich ist (oder, im größeren Kontext, außergewöhnlich folgenreich: s. den Trojanischen Krieg).

10.4 Beispiel: Heroides 8, Hermione an Orest Die Vielschichtigkeit der Heroides zeigt sich darin, dass die Briefe nicht nur Aussagen über die Beziehung zwischen der Briefschreiberin und ihrem Adressaten ermöglichen, sondern auch andere Beziehungen der Heldinnen (z. B. familiäre Bindungen oder Rivalitäten zu anderen Frauen) beleuchtet werden. Gleichzeitig kann man die Heroides auch als metapoetischen Kommentar zur erzählerischen Unzuverlässigkeit des literarischen Mythos lesen, wenn die Beschreibungen und Bewertungen aus der persönlichen Perspektive der Briefschreiberin mit den allgemein bekannten Szenarien und Handlungen der traditionellen Mythen in Konflikt treten. Im achten Brief der Heroides wird dieser Konflikt besonders eindrücklich dargestellt: Helenas Tochter Hermione schreibt einen Brief an ihren angetrauten Ehemann Orest, doch gleichzeitig setzt sie sich in diesem Brief mit ihrer Mutter Helena auseinander (s. bspw. Jacobson 1974 und Fulkerson 2005), die nach dem Ende des Trojanischen Krieges wieder nach Sparta zurückgekehrt ist. Dabei beschreibt Hermione die Figur ihrer Mutter aus einer mythologischen und einer familiären Perspektive. In den Versen 71 bis 78 platziert Hermione Helena in einer mythologischen Abfolge von geraubten Frauen der Familie. Das erste Distichon behandelt Helenas Entführung durch Theseus, die vor ihrer Heirat stattfindet. Hier wird Helena als Taenaris soror (taenarische Schwester, Vers 72) beschrieben, was die Verbindung zwischen ihr und ihren Brüdern verdeutlicht. Der Übergang zur zweiten Entführung (durch Paris) im nächsten Distichon wird durch die Wiederholung der Bezeichnung Taenaris sehr fließend gestaltet. Auch das genannte argolische Heer kann zunächst als ein Ele-

ment der vorherigen Entführung interpretiert werden. Aufgrund dieses sanften Übergangs, bei dem die eine Entführung nur die Variation der anderen zu sein scheint, fällt es zunächst nicht auf, dass sich die Situation entscheidend verändert hat: Hermione hat die zweite Entführung hautnah miterlebt und hätte deswegen eigentlich die Möglichkeit, die Ereignisse genauer zu beschreiben. Stattdessen vermeidet sie es, eine Situation in ihre Erzählungen aufzunehmen, in der Helena und sie selbst beide anwesend sind. Auffallenderweise zählt sich Hermione nicht ausdrücklich zu den Leuten, die um die entführte Helena weinen; vielmehr wirkt es so, als würde Hermione die Situation skizzenartig darstellen und die trauernden Figuren eine nach der anderen in die Szenerie hineinsetzen, aber selbst nicht daran teilnehmen. Man hat sogar den Eindruck, Hermione würde ihre Familienmitglieder benutzen, um sich selbst noch unsichtbarer zu machen, als sie es ohnehin schon ist: Die Personen, die in dieser Situation beschrieben werden, bieten keinen inhaltlichen Anhaltspunkt, dass Helena bereits eine verheiratete Frau und Mutter ist – die Trauernden sind sämtlich Blutsverwandte von ihr. Das Wissen um Heirat und Elternschaft fließt zwar in das Lesen und Verstehen der Situation mit ein, wird aber von Hermione nicht gesondert aufgerufen. In den Versen 79 und 80 verschiebt sich der Fokus von der mythologischen Beschreibung auf Hermiones persönliche Erfahrung: Ihr Ausruf me sine, mater, abis? (»Ohne mich gehst du weg, Mutter?«, Vers 80) verrät, dass sie Helenas Aufbruch nach Troja nicht als Entführung versteht, sondern als bewusste Entscheidung (abire bedeutet so viel wie »bewusst weggehen, verlassen«). Diese Bewertung wird durch das Heroides-Briefpaar 16/17 (Paris und Helena) noch plausibler, da Paris in seinem Brief anbietet, die Abreise als Entführung zu tarnen, um Helenas Ruf nicht zu gefährden. In den Versen 91 bis 100 beschreibt Hermione anschließend eine Bilderbuch-Kindheit ex negativo, indem sie die von ihr aufgelisteten Handlungen zwischen Mutter und Tochter durch die Wiederholung des non am Anfang jedes Distichons von Vers 91 bis 96 auf fast schon brutale Art negiert und zusätzlich die Beschreibung der ernüchternden Realität des Wiedersehens als kontrastierenden Gegenpart anschließt. Auch wenn Hermione in ihrem Brief zeitweilig versucht, sich selbst als zweite Helena zu stilisieren, so kann sie doch weder zur mythologischen noch zur familiären Figur ihrer Mutter eine echte Beziehung aufbauen: Als Mutter war Helena nicht für Hermione da, und in den Mythen um Helena spielt Hermione nur

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eine randständige Rolle. Paris hingegen hat sowohl zum mythischen als auch zum persönlichen Teil von Helena bessere Beziehungen; er weiß um die Diskrepanz zwischen beiden Figuren und beteiligt sich sogar aktiv an der Formung des Mythos, wie man im späteren Briefpaar der Heroides erkennen kann.

10.5 Rezeption in der Antike Die Heroides fielen in der Antike auf einen sehr fruchtbaren Boden; sie wurden oft nachgeahmt und fanden sogar Eingang in den allgemeinen Zitatenschatz: In Pompeii finden sich heute noch Verse aus den Heroides, die als Graffito an die Hauswände gezeichnet wurden. Ovid selbst behauptet in den Amores (2, 18), dass sein Freund Sabinus Antwortbriefe von Odysseus, Hippolytus, Aeneas, Demophoon, Jason und Phaon geschrieben haben soll, die seine Heroides ergänzen. Daher wurde Sabinus später in den Echtheitsdiskussionen auch als möglicher Autor der Heroides gehandelt (vgl. Abschnitt 10.6). In Form und Funktion kommen die Briefe der Heroides auch den antiken Theatermonologen sehr nahe: Die Autorin oder Sprecherin reflektiert die Situation, in der sie sich befindet, fasst ihre Emotionen in Worte und gibt dem Publikum so einen Einblick in ihr Innenleben und ihren Charakter. Ovid selbst empfiehlt in der Ars amatoria, die Briefe zu singen (cantare, ars 3, 345), was bedeutet, sie könnten bei einer öffentlichen Aufführung musikalisch untermalt worden sein. In den Tristien spricht Ovid von eigenen Werken, die oft auf den Bühnen Roms szenisch aufgeführt worden waren (et mea sunt populo saltata poemata saepe, trist. 2, 519). Dafür kommen eigentlich nur die Heroides in Frage, da Ovids Metamorphosen und Fasti noch zu neu waren, um zum Zeitpunkt seines Exils bereits oft aufgeführt worden zu sein, und die Ars amatoria als Grund für Ovids Exil angeblich öffentlich verbrannt und damit wohl eher nicht aufgeführt wurde. Ovids Tragödie Medea könnte zwar auch aufgeführt worden sein, aber das Verb saltare aus Ovids Tristien-Zitat wird nicht für tragische Aufführungen verwendet.

10.6 Echtheitsfrage Ob die Heroides tatsächlich aus Ovids Feder stammen oder ob nicht einzelne oder sogar alle Briefe von einem anderen Autor geschrieben wurden, ist bis heute eine erbittert diskutierte Forschungsfrage. In den

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Amores erwähnt Ovid nur die Briefe 1–2, 4 bis 7 sowie 10 und 11. In der Textausgabe von Heinrich Dörrie steht auch ein Vers, der auf Sappho (Brief 15) anspielt, aber in den Handschriften ist diese Stelle verderbt (das heißt, man kann keine inhaltlich und grammatikalisch richtige Version aus ihnen ableiten) und der Vers könnte interpoliert, also nachträglich von einem anderen Schreiber eingefügt worden sein. Weil Ovid nicht alle Einzelbriefe nennt, hielt man früher die übrigen Briefe für unecht (z. B. Karl Lachmann in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der diese Briefe sogar in Stil und Inhalt für Ovid und seiner Zeit unwürdig hält). Die langanhaltenden Echtheitszweifel sind auch ein Hinweis darauf, dass es bereits sehr früh Autoren gegeben haben könnte, die die Heroides als Gesamtwerk nachgeahmt oder Ovids Sammlung mit eigenen Briefen ergänzt haben. Früher wurden oft lexikalische und metrische Auffälligkeiten als Argument für die Unechtheit der Heroides herangezogen; man meinte also, dass selten verwendete Vokabeln oder Verse mit einer ungewöhnlichen Metrik ein Anzeichen dafür seien, dass die Texte zu einer späteren Zeit entstanden seien, in der sich der allgemeine Wortschatz weiterentwickelt und die Kenntnis über klassische lateinische Metrik nachgelassen habe. Viele dieser Argumente lassen sich durch Vergleiche mit griechischen Vorlagen oder mit anderen Werken Ovids entkräften. Auch Wortwiederholungen (z. B. in epist. 8, 71–72) wurden von einigen Interpreten als Beweis für die stilistische Minderwertigkeit der Heroides herangezogen und als Argument dafür verwendet, dass Ovid die Heroides nicht geschrieben hat. Aber entsprechende Wiederholungen finden sich beispielsweise auch in den Amores (3, 2, 81–84), bei denen Ovids Autorschaft nicht angezweifelt wird. Man kann es so sehen, dass der Stil der Heroides wegen der zweifelhaften Autorschaft kritischer unter die Lupe genommen wurde als es bei anderen Werken Ovids der Fall war und dass die Besonderheiten und Abweichungen, die man dabei gefunden hat, wiederum als Argument für die Echtheitszweifel dienen. Daraus ergibt sich ein sich selbst verstärkender Kreislauf. Die stilistischen Beobachtungen, die an den Heroides gemacht werden, sind nicht per se falsch, aber man muss darauf achten, sie gut zu kontextualisieren. In der heutigen literaturwissenschaftlichen Forschung (die sich vorrangig mit der Interpretation der Texte als literarische Werke beschäftigt) wird die Frage, ob die Heroides von Ovid oder von jemand anderem stammen, meist ausgeblendet. Die lexikalischen

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und metrischen Besonderheiten, die zusammen mit der Überlieferungslage die Echtheitskritik befeuern, haben keinen Einfluss auf die literarische Qualität der Heroides: Sie ist so hoch, dass sich die Lektüre und literaturwissenschaftliche Untersuchungen der Heroides auf jeden Fall lohnen, unabhängig davon, ob der Autor Ovid heißt oder einen anderen Namen trägt. Literatur

Barchiesi, Alessandro: Future Reflexive. Two Modes of Allusion and Ovid’s ›Heroides‹. In: Harvard Studies in Classical Philology 95 (1993), 333–365. Farrell, J.: Reading and Writing the ›Heroides‹. Problems and Issues in Interpreting Ovid. In: Harvard Studies in Classical Philology 98 (1998), 307–338. Fulkerson, Laurel: The Ovidian Heroine as Author. Reading, Writing, and Community in the ›Heroides‹. Cambridge 2005. Fulkerson, Laurel: The ›Heroides‹. Female Elegy? In: Peter E. Knox (Hrsg.): A Companion to Ovid. York 2012, 78–89. Hinds, Stephen: Medea in Ovid. Scenes from the Life of an Intertextual Heroine. In: Materiali e Discussioni per l’Analisi dei Testi Classici 30 (1993), 9–47. Jacobson, Howard: Ovid’s Heroides. New Jersey 1974. Kennedy, Duncan F.: The epistolary mode and the first of Ovid’s ›Heroides‹. In: The Classical Quarterly 34.2 (1984), 413–422.

Kennedy, Duncan F.: Epistolarity. the ›Heroides‹. In: Philip R. Hardie (Hrsg.): The Cambridge Companion to Ovid. Cambridge 2002 (= Cambridge Companions to Literature), 217–232. Kenney, Edward J.: Ovid, Heroides. XVI–XXI. Cambridge u. a. 1996. Knox, Peter E.: Ovid, Heroides. Select epistles. Cambridge u. a. 1995. Knox, Peter E.: The ›Heroides‹. Elegiac Voices. In: Barbara Weiden Boyd (Hrsg.): Brill’s Companion to Ovid. Leiden/ Boston/Köln 2002, 117–139. P. Ovidii Nasonis Epistulae Heroidum quas Henricus Dörrie Hannoveranus ad fidem codicum edidit. Berlin/Boston 1971. Sabot, Augustin-F.: Les ›Héroïdes‹ d’Ovide. Préciosité, Rhétorique et Poésie. In: Wolfgang Haase (Hrsg.): Sprache und Literatur. Literatur der augusteischen Zeit: Einzelne Autoren, Fortsetzung (Vergil, Horaz, Ovid). ANRW Principat. Bd. 31,4. Berlin/Boston 1981 (Nachdr. 2014 ) (Reprint), 2552–2636. Smith, R. Alden: Fantasy, Myth and Love Letters. Text and Tale in Ovid’s ›Heroides‹. In: Peter E. Knox (Hrsg.): Oxford Readings in Ovid. Oxford 2006 (= Oxford Readings in Classical Studies), 217–237. Spentzou, Efrossini: Readers and Writers in Ovid’s ›Heroides‹. Transgressions of Genre and Gender. Oxford 2003.

Vera Engels

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11 Medicamina 11.1 Entstehung und Überlieferung Die Medicamina faciei femineae (»Weibliche Schönheitsmittel«) sind in der mittleren Schaffensphase Ovids entstanden und lassen sich auf ca. 2/1 v. Chr. datieren; ihnen gehen die Liebeselegien (Amores), die verlorene Tragödie Medea und die Heroinenbriefe (Heroides) voraus. Ein entsprechendes Selbstzeugnis in Ars Amatoria 3, 205–206 als Verweis auf die bereits edierten Medicamina veranlasst die Forschungslandschaft tendenziell ein Entstehen nach der Veröffentlichung der ersten beiden Bücher und vor der des dritten anzunehmen. Gemeinsam mit den Amores, der Ars und den Remedia Amoris bilden sie den thematischen Komplex der ovidischen Carmina amatoria. Erhalten ist das Werk nur als Fragment von 100 Versen; sein ursprünglicher Umfang wird auf 500–800 Verse geschätzt. Die Medicamina sind nur in einer einzigen älteren Handschrift erhalten, nämlich in dem von Wilamowitz-Moellendorf 1873 entdeckten San Marco 223 (M) aus dem 11. Jahrhundert. In ihm findet sich der Werktitel in einer lateinisch-griechischen Mischform (libellus dē mēdicaminē faciei phēmynēē). Jüngere Handschriften (recentiores) scheinen allerdings nicht auf M zurückzugehen.

11.2 Werkbeschreibung Formal sind die Medicamina zweigeteilt: Während die Verse 1–50 das Proömium umfassen, machen die Verse 51–100 den fachlichen Teil aus und beschreiben in fünf Rezepten verschiedene Schönheitskuren (ausführlich zu den Inhaltsstoffen und deren Effektivität insb. Green 1979, aber auch Johnson 2016). In seinem Proömium adressiert Ovid zu Beginn ein weibliches Gegenüber (puellae) und stellt dann in einer Art Hymnus an den cultus diesen als das Thema seines Gedichts vor. Im Anschluss daran kontrastiert er idealtypische Frauen der Vergangenheit mit denen der Gegenwart und stellt so Einfachheit (rusticitas) und cultus einander gegenüber (11–26). Die Verse 29–34 illustrieren dann in zwei konkreten und einem allgemeineren Beispiel (Frauen, die ›versteckt‹ am Berg Athos leben; der Pfau als Vogel Junos; allgemein: virgines) noch einmal nachdrücklich eine Schönheit um ihrer selbst willen. Der nächste Abschnitt weist Magie als Liebeszauber zurück und erteilt magischen Praktiken eine Absage (35–42). Die

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Folgeverse 43–50 wirken wie ein moralisierender Appell, der das Proömium beschließt: In ihm wird an die inhaltsschweren Begriffe Sitte (mos), Charakter (ingenium) und Anstand (probitas) erinnert und darauf hingewiesen, dass Schönheit im Gegensatz zu diesen vergänglich sei. Nach einem Eingangsdistichon entfaltet sich das erste Rezept für eine Gesichtsmaske (53–68), die für eine strahlende Haut sorgen soll (fulgebit speculo levior illa suo). Die Verse 69–76 beschreiben eine Anleitung, die hauptsächlich aus gerösteten Lupinensamen und frittierten Bohnen besteht und vermutlich der Ganzkörperreinigung dient. Im dritten Rezept (77–82), das verspricht, kleinere Makel zu entfernen (medicamina [...] / ore fugant maculas), hat der Bestandteil alcyonea (78) zuweilen Rätsel aufgegeben, der aber mithilfe von antiken Quellen inzwischen als Koralle identifiziert wird. Im vierten Rezept (83–98) entsteht erneut aus teilweise exklusiven Zutaten eine Gesichtsmaske. Von dem fünften Rezept ist nur das erste Distichon erhalten, das die Wangen mit zuvor in kaltem Wasser eingeweichten Mohnsamen einzureiben empfiehlt.

11.3 Analyse Bereits der Beginn des Proömiums verortet die Medicamina gleich in mehreren Traditionen: So weisen die ersten beiden Verse, discite quae faciem commendet cura, puellae, / et quo sit vobis forma tuenda modo (»lernt, welche Pflege sich für das Gesicht empfiehlt, ihr Frauen, und auf welche Weise die Schönheit zu bewahren ist«), in ihrer Funktion als Themadistichon das Gedicht als Gattungshybrid aus: Indem Pentameter auf Hexameter folgt und puellae apostrophisch den ersten Vers beschließt, rufen sie typische Elemente der Liebeselegie auf; zugleich figuriert prominent an erster Stelle ein »lernt!« (discite), das die Verse im Bereich der Lehrdichtung situiert. Ebenso typisch für diese Tradition sind der technische Charakter und die fachlichen Details ab Vers 51. Umspannt wird auch der inhaltliche Schwerpunkt, der auf der cura faciei sowie der forma tuenda und damit der weiblichen Schönheitspflege liegt. Als fachliche Quelle Ovids werden anleitende Traktate wie die des Statilius Kriton angenommen. Indem Ovid eine prosaische Abhandlung versifiziert, zeigt er sich beeinflusst von der alexandrinischen Tradition der Metaphrasen und damit von Autoren wie Nikander (2. Jh. v. Chr.). Durch stilistische Rückbe­ sinnungen können Vergils Georgica als römisches Vorbild für die Medicamina ausgemacht werden. Zum

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wiederum ovidischen Stil gehört die sich anschließende Anapher (cultus – cultus –culta, 3, 5, 7). Der cultus ist das verbindende Element zwischen den beiden Dichtungen und wird bei Ovid aus dem agrarkulturellen Bereich in den des Kulturellen überführt. So kann der Autor seinen Medicamina den gleichen Stellenwert wie den Georgica beimessen und den cultus der Frau, die Schönheitspflege, als Thematik eines Lehrgedichts legitimeren. Denn Legitimation scheint vonnöten: Wird doch gerade in der Liebeselegie der natürliche Look der puella bevorzugt und cultus dahingegen mit Promiskuität und Untreue assoziiert. Ovid weiß allerdings die Opposition cultus/natura zu rehabilitieren: Mit Verweis auf goldene Bauten und marmorne Böden (7–8) lobt er zuerst die augusteische Architekturpolitik, um sich dann thematisch spezifischer auch der ›Genusssucht‹ (luxuria) der Frauen seiner Zeit zu nähern, die sich ebenso golden einkleiden (18) und schmückenden Stein tragen (20–21) wollen. Diese wiederum werden zuvor mit Frauen der Vergangenheit kontrastiert (at, 18). Hierbei werden die Sabinerinnen als Beispiel für einen Mangel an Schmuck eingeführt. Interessanterweise erteilt Ovid damit allerdings nicht nur ihrer Einfachheit eine Absage, sondern auch ihrem Anstand, gelten sie doch als Inbegriff der tugendhaften verheirateten Frau (vgl. Watson 2001, 468–469). Weiter zeigt sich Ovid einigermaßen apologetisch und versucht den Vorwurf der Promiskuität prophylaktisch zu entkräften, indem er das Argument der Schönheit um ihrer selbst willen ins Feld führt und gleich mehrfach exemplifiziert (29–34). Moralisch ermahnend stellen die Schlussverse des Proömiums nun doch die Sitte (mos) über den zuvor stark beworbenen cultus. Zeitgleich ruft der von Ovid verwendete elegische Topos der vergänglichen Schönheit Kontexte auf, »where women are urged to make love now, while there is still time« (ebd., 470). Einerseits schreibt Ovid damit an gegen eine Antikosmetiktradition (wie sie z. B. bei Properz und Tibull zu finden ist), der die augusteischen Moralvorstellungen inhärent sind und die sich parallel zu einer konventionalisierten kosmetischen Kulturpraxis der Frau etabliert hat, und andererseits feiert er seine eigene Zeitgenossenschaft, für die gerade der cultus so zentral ist. So zwischen Tradition und Innovation changierend adaptiert Ovid spielerisch Motive aus der Lehr- und Liebesdichtung und verwebt diese kongenial miteinander. Bereits hier deutet sich eine Vielschichtigkeit der 100 Verse an, deren Potential lange unterschätzt wurde. Dass das Fragment mit seinem oberflächlich recht fachlichen Inhalt dennoch oder gerade deswegen eine

hohe Anschlussfähigkeit offeriert, lassen die zahlreichen Lesarten der vor allem neueren Forschungslandschaft erkennen. Neben der oben kurz vorgestellten (hermeneutischen) Analyse (die mehrheitlich Watson folgt), die den cultus als zentral für die Medicamina behauptet und mit Reflexionen Ovids über die eigene Zeitgenossenschaft eine subversive Kritik an augusteischer Ideologie verbindet, finden sich weitere Zugänge und Interessensschwerpunkte, die die folgenden Beispiele noch kurz umreißen: Die Medicamina bieten eine Lektüre unter rein pragmatischen Gesichtspunkten an, die die Rezepte (in den Versen 53–100) zum Mittelpunkt ihres Interesses macht. Zum einen werden die ovidischen Verse damit als kosmetische Instruktion für ein zeitgenössisches Publikum angenommen und zum anderen dient der Text als literarische Quelle antiker Kulturpraktiken. Weniger inhaltsorientiert und stattdessen produktionsästhetisch motiviert ist die Lektüre, die das eigentliche Movens der Medicamina darin vermutet, Ovid habe sich einer Schreibübung gleich der Herausforderung, einen prosaischen Traktat zu versifizieren, stellen wollen. Darüber hinaus archiviert der Text auch gesellschaftspolitische Diskurse: Die Georgica als Folie zu den Medicamina verweisen auch auf die Generationsunterschiede zwischen den beiden augusteischen Autoren, die sich in einem divergierenden Verhältnis zum princeps Augustus niederschlagen. Schließlich lässt der Text auch Anleihen bei einer poststrukturalistischen Analyse zu, die Aspekte einer feministischen Lektüre berücksichtigt, intertextuelle mythologische Bezüge aufspürt und die Medicamina als einen metapoetischen Kommentar zur Kunstproduktion liest (vgl. Rimell 2005). Zusammengehalten werden diese Zugänge durch ein Beobachten, das Subjekt und Objekt definiert. Insbesondere die Spiegelmotivik kann hier als Beispiel für einen poststrukturalistischen Zugang dienen, übernimmt sie ex- und implizit entsprechende Funktionen (68, fulgebit speculo leuior illa suo, »sie wird heller strahlen als ihr Spiegel«): Die sich den Spiegel vorhaltende Person erlangt damit Kontrolle über ihr Aussehen, wird aber zugleich im Spiegelbild den gängigen Schönheitskonventionen unterworfen und im Abgleich von diesen kontrolliert. Auch die mythologische Figur des Narziss (narcissi, 63) lässt sich über die Spiegelmetaphorik anbinden, die besonders in den bereits vorgestellten Versen 29– 34 ihre Beispiele findet. Anschlussfähig wird ebenso der Medusamythos als Subtext, spielen doch die Elemente Spiegelung (Schild, Spiegel), weibliche agency (Medusa, puellae) und deren patriarchale Bändigung

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bzw. Unterminierung (Perseus, Dichtersubjekt) in beiden Texten eine zentrale Rolle. Im voyeuristischen und zugleich formenden Dichtersubjekt (male gaze) entsteht die objektifizierte Frau und ihre Gemachtheit wird offenbar. Offengelegt wird aber ebenso die kunstschaffende ars. Damit lässt sich in den Rezepten z. B. im Abwiegen der Zutaten auch ein autoreflexives Nachdenken über das richtige Versmaß erkennen.

11.4 Rezeption in der Antike Spekulationen gibt es zu einer zeitgenössischen Kontroverse, Zeugnisse existieren keine. Vermutet wird eine ambivalente Reaktion des Publikums: Einerseits mag die frivole Themenwahl in Form eines Lehrgedichts einigen Kreisen als anstößig, anderen wiederum als unterhaltsam erschienen sein; neben der Genrehybridität fand auch die künstlerische Leistung der Metaphrase möglicherweise Anklang. Auch der allgemeine Verweis auf Ovid bei Plinius dem Älteren und seinem Rezept gegen Halsentzündungen (nat. 30, 33) lässt die Medicamina nur als eine mögliche Quelle hierfür vermuten. Eine weitere Mutmaßung zur antiken Rezeption sieht Bezüge zu den Medicamina in der

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Schrift Gegen die Putzsucht der Frauen von Gregor von Nazianz. Diskutiert wird in der Forschung ohnehin, welches von Ovid insinuierte Publikum überhaupt für die Rezeption in Frage komme: So gilt zuweilen das Alter als Distinktionsmerkmal, dann aber auch wieder der Grad der ›Halbseidenheit‹; mehrheitlich wird davon ausgegangen, dass Ovid sich in seinen Medicamina an alle Frauen richtet. Ergänzt wird diese Vermutung eines möglichst breiten Publikums durch Männer als zusätzlich angenommene Adressaten. Literatur

Green, Peter: Ars Gratia Cultus. Ovid as Beautician. In: AJPh 100/3 (1979), 381–392. Johnson, Marguerite: Ovid on Cosmetics. ›Medicamina Faciei Femineae‹ and Related Texts. London/New York 2016. Rimell, Victoria: Facing Facts. Ovid’s ›Medicamina‹ through the looking glass. In: Ronnie Ancona/Ellen Greene (Hrsg.): Gendered Dynamics in Latin Love Poetry. Baltimore 2005, 177–205. Tarrant, Richard J.: ›Medicamina faciei femineae‹. In: L. D. Reynolds (Hrsg.): Texts and transmission. A survey of the Latin classics. Oxford 1983, 275–276. Watson, Patricia: Parody and Subversion in Ovid’s ›Medicamina Faciei Femineae‹. In: Mnemosyne 54/4 (2001), 457– 471.

Bendix Sautmann

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12.2 Werkbeschreibung

12.1 Entstehung und Überlieferung

Die Ars ist untergliedert in drei Bücher und umfasst mehr als 2000 Verse, in denen das erfolgversprechende Liebeswerben zwischen Männern und Frauen verhandelt wird. Dieses Liebeswerben wird in einer Art Kurs hauptsächlich über Anweisungen (praecepta) vermittelt. In Buch 1 und 2 richtet sich eine Erzählinstanz, die Dichter und Lehrerfigur (praeceptor) zugleich ist, mit ihren praecepta an die Männer und erörtert in drei Lektionen, wo und wie die Liebe zu finden und zu erhalten sei. Das dritte Buch weicht im Aufbau leicht von den vorigen ab und adressiert die Frauen. Kulissenmedium ist Rom. Diese Tipps, mit denen man kompetent Kontrolle über Amor und die Liebe (amor) erlangt, bestehen dabei häufig aus konkreten (technischen) Instruktionen und speisen sich laut der Lehrer-Erzählinstanz aus autobiographischer Empirie (usus opus movet hoc, 29). Diese praecepta werden aber selten einfach so gegeben, sondern zur Beglaubigung neben historischen Ereignissen an mythologische Exempla zurückgebunden und mit der eigenen Weltsicht sowie Ausgriffen auf literarische Traditionen und philosophische Lehren verknüpft. Die knapp 800 Verse des ersten Buches eröffnet ein selbstbewusstes Proömium (1–34), das für Werk und Autor wirbt: Hier lernt man die Kunst zu lieben (1–2). Anschließend legt die Erzählinstanz ihr Vorgehen und damit die Disposition des männlichen Lehrgangs in den drei Stufen Finden, Gewinnen, Behalten dar (35–40), die durch entsprechende Ratschläge strukturiert werden. Das erste Buch gliedert sich in die beiden Abschnitte des Wo und Wie: Die inventio (41–262) erläutert dabei zuerst, wo das Objekt der Begierde zu finden sei, während die captatio dann Modalitäten des für sich Einnehmens aufzeigt. Da die Frau nicht einfach vom Himmel fallen werde (43), empfiehlt der Lehrer bevorzugt öffentliche Orte (Tempel, Foren, Theater) und Versammlungen (z. B. Pferederennen, Gladiatorenkämpfe oder Naumachien, Triumphzüge, Festessen) für eine erfolgreiche inventio. Dass beispielsweise das Theater sich als Ort eignet, hat laut der Erzählfigur seine Ursprünge in der mythologischen Vorzeit, fand doch der durch Romulus initiierte ›Raub‹ der Sabinerinnen vor einer eher rustikalen Theaterszenerie statt. In jedem Fall aber ist das Publikumsgedränge gut für eine ›versehentliche‹ Berührung (139–142) oder einen kleinen Plausch, bei dem auch von mansplaining Gebrauch gemacht werden darf (219–222).

Zusammen mit den Amores, den Medicamina und den Remedia Amoris zählt die Ars Amatoria (»Liebeskunst«) zu den Carmina amatoria Ovids. Sie markiert die Mitte der Autorenkarriere und wird häufig mit den Remedia als inhaltliche Einheit begriffen: Während die Ars die Liebe finden will, wollen die Remedia diese beenden. Zwei Zeitsignaturen im ersten Buch datieren die Ars zwischen 2 v. Chr. und 2 n. Chr. (Naumachie des Augustus, 1, 171–176; Verweis auf dessen Enkel und Adoptivsohn Gaius Caesar, 1, 177– 182, 195). Vielfach wurde angenommen, dass Ovid ursprünglich nur die ersten beiden Bücher geplant und später dann das dritte der Gesamtkonzeption, möglicherweise dann auch in einer zweiten erweiterten Auflage, hinzugefügt habe: Angeführt werden die explizite Nennung des Schlusses (finis adest operi, 2, 733) und die für gewöhnlich das Werk beschließende »Künstlersignatur«, die Sphragis in Buch 2 (Naso magister erat, 2, 744) sowie der scheinbar nachträgliche Hinweis, erst auf Bitten der Frauen folge das dritte Buch: »Sieh nur, die zarten Mädchen, sie bitten, ich soll sie belehren« (2, 745; Übers. von Holzberg 2011). Auch dass die Inhaltsvorschau (1, 35–40) nichts von Buch 3 weiß und Buch 2 als zweite Hälfte ausgewiesen wird (1, 771–772), sollen überzeugen. Jedoch ist verschiedentlich gezeigt worden, dass es sich bei diesen Indizien vielmehr um literarisches Spiel handelt und die Ars von Beginn an in drei Büchern angelegt war (vgl. Holzberg 2006, 41; Möller 2016, 33–34). Eine ältere Sammlung von Handschriften, die Manuskripte aus dem 9.–11. Jahrhundert umfasst, und eine jüngere (recentiores) bestimmen maßgeblich die Überlieferung. Erstere versammeln vier Kodizes, die alle auf einen gemeinsamen Ursprungstext α zurückzugehen scheinen. Von diesen enthält einzig der französische Codex R (= Parisinius Latinus 7311 [Regius], saec. ix) den gesamten Werktext. Die recentiores gehen auf einen anderen Hyparchetyp β zurück. Ein Codex A (= Londiniensis Mus. Brit. Add. ), entstanden um 1100, überliefert auch alle, ist aber nicht auf α zurückzuführen.

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_12

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Die Wege zur captatio und damit das Wie regeln die Ratschläge der belehrenden Erzählinstanz über Vermittlerinnen wie das weibliche Servicepersonal (ancilla) und deren Hoheitswissen, die ökonomischen Faktoren Zeit(punkt) und Geld (sowohl strategische Ersparnis als auch Einsatz) sowie über verbale (Briefeschreiben und Schreibstil, heimliches Zuflüstern) und nonverbale (stille Bewunderung, Zeichensprache, Gestik und Mimik) Verständigung. Anschließende Hinweise, immer eingesprochen von der dichtenden Lehrerfigur, verhandeln weitere Modalitäten der Kommunikations- und Interaktionsformen, deren Spektrum von einem gepflegten Auftreten (503–522) oder einem maßvollen Alkoholkonsum beim Festmahl (convivium) (525–628) über eine Abundanz an Komplimenten und leere Versprechungen bishin zu Übergriffigkeiten und legitimierten Vergewaltigungen (629–702) reicht. Ihr Nein bspw., so folgert der praeceptor, heißt also nicht ›Nein‹! Als mythologisches Beispiel wird Achilles herangezogen: In Frauenkleidern getarnt und vor dem Trojanischen Krieg verborgen, teilt sich dieser Räumlichkeiten mit Deïdamia, an der er sich eines Tages vergreift: »doch mit Gewalt besiegt werden, das wollte sie schon« (698). In Buch 2 widmet sich der praeceptor dem Bewahren (conservatio) der Liebe und eröffnet selbiges mit folgender Analogie, die die Schwierigkeit des Unterfangens illustrieren soll: Dafür stellt er das zu glückende Festhalten des geflügelten Amor, was Zielpunkt des Lehrgangs und Hauptgegenstand dieses Buches ist, neben den Mythos des Icarus und insbesondere dessen erfolgreiche Flug-Flucht (21–98). Zum einen gibt der praeceptor konkrete Handlungsund Verhaltensanweisungen: Neben einer umfassenden, kulturellen Bildung (107–122), zu der auch rhetorische Qualitäten (s. Kap. 22) zählen und die es sich anzueignen gilt, empfiehlt die Lehrerfigur auf dem Weg zur conservatio Beharrlichkeit und Geduld sowie Lob und Zuwendungen (seien sie auch mit Heuchelei verknüpft), welche an die Angebetete und ihr Personal gerichtet werden; weiterhin meditiert sie in einem ihrer Vorschläge über das richtige Verhältnis von Nähe und Distanz und damit einhergehend über Gewöhnung und Sehnsucht, wobei in diesem Beziehungskomplex auch Eifersucht und Fremdgehen eine Rolle spielen (337–492). Schließlich äußert der Dichter und Mentor sich dezidiert zu den konrekten ›erotischen Freuden‹ (701–730): Langsam soll sein Schüler ihre Erregung steigern, ihre erogenen Zonen streicheln und gemeinsam mit ihr zum Orgasmus kommen (727). Zum anderen ähneln die Ratschläge mehr allgemei-

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neren Einschätzungen und spiegeln Welt- und Wertvorstellungen mit zum Teil philosophischen Anklängen wider: Dass bspw. Sex beschwichtigend wirkt, führt der Erzähler und Lehrer auf die kosmologischen Ursprünge zurück, deren Chaos maßgeblich durch sexuelle Handlungen beseitigt worden sei. Bildhaft schildert diese Passage eine archaische Szenerie, in der sämtliche Lebewesen (Mensch und Tier) mit ihrem entsprechenden Gegenpart kopulieren und so in der zugrundeliegenden Argumentation das Durcheinander beruhigen. Make love after war! Ein anderes Mal erscheint der Dichtergott Apoll dem praeceptor (493– 510) und setzt die Inschrift an seinem delphischen Tempel »Erkenne dich selbst« (500) als Vorbedingung für ein weises Lieben (501). Der Mentor greift den apollinischen Imperativ der Selbsterkenntnis auf und ergänzt ihn zu seinem eigenen Weisheitsethos: Für ihn bedeutet weise zu lieben ebenso Zurückweisungen zu ertragen sowie einen Rivalen auszuhalten (511–600). Auch in diesem Buch erfolgt nicht eine bloße Aneinanderreihung verschiedener Ratschläge, um die Frau an sich zu binden und aureichend Sex zu haben; vielmehr werden diese verknüpft und eingeflochten in Mythos, Evolutions- und Wertevorstellungen sowie philosophische Einsichten. Im Epilog (733–746) fordert die Lehrerfigur nach einigem Selbstlob Dank von ihrer Schülerschaft ein (Naso magister erat, 744). Dieser Sphragis folgt die Ankündigung des von den Frauen geforderten dritten Bandes. Das movens des dritten Buches, die Frauen nämlich ebenso zu rüsten wie die Männer, erläutert der dichtende praeceptor gleich zu Beginn im Prolog (1– 100) und unterteilt seine 814 Verse in seichtere (minora) und gewichtigere (maiora) Aspekte, in die er seine Ratschläge einbindet. Hauptgegenstand der minora ist der Begriff des cultus, den der Mentor einerseits konkret als kulturelle Praxis definiert, ihn in Opposition zu roher Schlichtheit (rusticitas) setzt und in praktischen Handlungsanweisungen näher konturiert: Er verteilt ihn auf den Bereich der Hygiene und Pflege (Frisur, Kleidung, Kosmetik), der geistigen Bildungsaspekte (Musikalität, Versrezitation, literarische Kenntnis) sowie des kulturellen Gesellschaftslebens (Tanz und Spiele). Andererseits fasst die Erzählfigur den Terminus cultus allgemeiner und abstrakter auf: Repräsentativ steht er für die zivilisatorischen Errungenschaften der eigenen Gegenwart und ist damit Prädikat und Zeitsignatur zugleich. In einem Hymnus preist der Dichter die eigene Zeitgenossenschaft: »Möge das Alte andre erfreun [...]. Es passt diese Epoche zu mir« (121–122).

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Die Ratschläge der maiora hingegen gehen mehr an die Substanz und sind durchwirkt von Leidenschaften, Affekten und Emotionen. Seine praktischen Tipps reichen dabei von der Wahl des Liebhabers (525–576) über den Umgang mit Konkurrentinnen (659–746) und entsprechender Etikette beim Gastmahl (747– 769) bis hin zu pornographisch anmutenden Ausführungen verschiedener Sexstellungen (769–808). Verorten lassen sich diese Anweisungen innerhalb eines zugrundeliegenden und schon im zweiten Buch gesehenen Beziehungsmodells: Einerseits bestimmt die Erzählfigur damit auf einer allgemeineren Ebene das Verhältnis von Nähe und Distanz, das sich bspw. in Gewöhnung oder Eifersucht äußert, und andererseits bewertet sie Grad und Ausprägungen der emotionalen Involviertheit (bspw. Kontrolle, Geduld, Eifersucht, Wut, Freude, Ekstase). Wieder beschließt die bereits bekannte Sphragis das Buch (Naso magister erat, 812).

12.3 Analyse Als konstitutiv für das Werk erweisen sich zwei Prinzipien: zum einen das der Ars fallendi (vgl. Holzberg 2017, 120–121), in der Täuschen und Fingieren, Realität und Illusion maßgeblich die pragmatischen Lehren beeinflussen; dieses Prinzip ist zugleich als Kommentar auf aktuelle gesellschaftspolitische und soziokulturelle Diskurse zu lesen und dient als literarisches Gestaltungsmerkmal sowie der metapoetischen Reflexion. Zum anderen wirkt das der moderierenden Balance (engl. moderation, vgl. Gibson 2003, 32–35), mit dem der Autor die Extreme meidet; vielmehr sucht Ovid vielerorts die Anspielung und entzieht sich einer Disambiguierung. Die beiden Hauptfortbewegungsmittel sind Wagen und Schiff. Diese versinnbildlichen als Symbole der Dichtkunst und der Venus die (selbstreflexive) Progression des Dichtens sowie des Lehrgangs und des Lernzuwachses, wie bereits im Eingangsdistichon von »unkundig« zu »gebildet« (1, 1–2) angekündigt. Neben politischem Innuendo ist die Ars Lob der Gegenwart, urbanes Gesellschaftspanorama, autopoetische Reflexion über Kunst und nicht zuletzt Handbuch: Die ›Botschaften‹ zu Liebe und Ehe(politik), zu cultus sowie zu Poesie und Kunst sind auch immer Mittel und Zweck der praecepta. In dieser Mischung ist die Ars Scherz und Spiel (mit durchaus ernsten Absichten) und damit Unterhaltung (aber keine reine Unterhaltungslektüre). Ovids Ars ist vielfach ein unartiges und originelles Spiel mit Konventionen und Rezeptionen eines fiktiven und eines realen Publikums.

Die Ars speist sich als hybride Weiterentwicklung aus verschiedenen prosaischen und poetischen (Sub-) Genres. Hauptsächlich führt sie dabei das Lehrgedicht und die Liebeselegie inhaltlich und formal zusammen, so dass J. Wildberger hier eine »Umwandlung in eine ›elegische‹ Liebeslehre« (Wildberger 1998, 413) sieht. Geichzeitig verwebt Ovid Motive und Topoi des Epos und der Rhetorik, sowie Prinzipien der Erotodidaxis; schließlich lässt er die Tradition der Metaphrase sowie zwei weitere Kleinformen (Propemptikon, Epitaph) miteinfließen (s. u.). Die Liebeselegie hatte Ovid neben seinen Zeitgenossen Gallus, Tibull und Properz bereits selbst mit seinen Amores bedient. Die Ars schreibt sich in den liebeselegischen Diskurs ein, indem sie die Liebe als Hauptgegenstand sowie die typische Figurenkonstellation des dichtenden Liebhabers (poeta/amator) und der begehrten Frau (puella) mit dem Versmaß des elegischen Distichons erhält. Die Ich-Perspektive des erfolglos werbenden, leidenden amator geht im modifizierten Surrogat der selbstbewussten und apodiktischen Lehrerfigur auf, die in didaktischer Manier das Manual der Liebeskunst erfolgreich zu vermitteln sucht. Die Ursprünge des Lehrgedichts sind griechisch und gehen bereits auf Hesiods Tage und Werke zurück, während es seine römischen Vorbilder in Sprache und Bild bei Lukrez’ De rerum natura und Vergils Georgica findet. Ovid sublimiert spielerisch konventionelle Motive und Strukturen, travestiert Traditionen, verkehrt, ironisiert und persifliert, was M. Steudel zu Überlegungen zu einer Ars als »Literaturparodie« (Steudel 1992) angeregt hat. Schon der Beginn der Ars veranschaulicht diese »Gattungsmetamorphose« (Holzberg 2017, 29): Das erste Distichon vereint elegisches Versmaß und Liebesthematik mit der Verheißung eines Lehrgangs (1, 1–2); auch emanzipiert sich der poeta vom hörigen Verhältnis zur Liebe (servitium amoris) und wird stattdessen praeceptor amoris (1, 17). Dabei wird die Narration liebeselegisch von Erfahrung gelenkt (usus opus movet hoc, 1, 29) und gleichzeitig durch Lektionen strukturiert. Die Vorausschau auf diese in der Disposition (1, 35–40) wird mit dem elegischen Topos der Liebe als Kriegsdienst (militia amoris) verknüpft. Das Kolorit des Epos zeigt sich bereits im Auftakt zur Trilogie, wenn Automedon als Wagenlenker des Achilles die Ilias des Homer aufruft und es Tiphys als Steuermann der Argo für die hellenistischen Argonautika des Apollonios von Rhodos gleichtut, sowie im dritten Buch, das das Verhältnis der Geschlechter als Kampf zwischen Männern und Frauen, zwischen der

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Amazonenkönigin Penthesilea und dem illiadischen Helden Achilles, inszeniert. Diese Kampfbegegnung schildert auch Vergils Aeneis als das römische Epos, an dessen Beginn (arma virumque cano, 1, 1) unweigerlich das erste Wort in Buch 3 arma erinnert. Weiterhin kleiden die acht größeren mythologischen Erzählungen (von den Sabinerinnen (1, 101–134), Pasiphaë (1, 283–342), Ariadne und Bacchus (1, 525–568), Deïdamia und Achilles (1, 681–706), Dädalus und Icarus (2, 21–98), Calypso und Odysseus (2, 123–144), Mars und Venus (2, 561–594) und schließlich Procris und Cephalus (3, 683–746)) die Ars episch aus, die auch in Ovids Metamorphoses im genretypischen Versmaß des Hexameters auftauchen. Neben diesen drei großen Linien (Lehrgedicht, Liebeselegie, Epos) finden sich auch weitere Gattungsreferenzen. Einen engen Zusammenhang zwischen »Rhetorik und Erotik« (Stroh 1979, 117) bildet bereits der Titel Ars amatoria (der aus metrischen Gründen im Vers nicht vorkommt) und seine Nähe zur ars oratoria. Komplementär zur rhetorischen inventio als erstem der fünf Schritte (officia) der Redeproduktion, der das Auffinden der Argumente beschreibt, geht es im Liebeslehrgang um das Auffinden der Orte (loci), an denen sich die Geliebte aufhält (vgl. Zielinski 1968, 205). Prinzipien der Erotodidaxis durchwirken insbesondere Buch 3: Gewöhnlich teilt eine Frau, z. B. eine Kupplerin (lena), amouröse, erotische Erfahrungen mit einem unkundigeren, häufig weiblichen Gegenüber, z. B. einer jungen Prostituierten (meretrix). Bei der Erotodidaxis handelt es sich eher um ein Set spezifischer Motivik, das sich in verschiedenen literarischen Gattungen (z. B. Komödie, Elegie, vgl. aber auch die Sokratische und Platonische Überlieferung) wiederfindet (vgl. Gibson 2003, 13–14). Die Parallelen zur Ars liegen in der pädagogischen Figurenkonstellation, der Art der Vermittlung und dem frivolen Sujet. Die Darstellungen der weiblichen Coiffure und Kleidung sowie der verschiedenen Würfel- und Brettspiele (3, 135–192; 353–380) simulieren die Tradition der poetisch herausfordernden Metaphrase, die eine prosaische Abhandlung in versifizierte Form bringt und der Ovid sich bereits in seinen Medicamina gestellt hat. Schließlich bedient der Autor Topoi zweier weiterer Kleinformen im Propemptikon für den jungen C. Caesar (1, 177–212), das einem Aufbrechenden gutes Gelingen für sein Vorhaben wünscht (vgl. Hollis 1989, 65), und dem Epitaph der Procris, welches sie gewissermaßen selbst formuliert (3, 737–742; vgl. Gibson 2003, 376–377).

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Mit dieser reichhaltigen Genrerundschau, deren Hauptlinien die des Lehrgedichts und der Liebeselegie sind, gelingt Ovid die für die Ars so charakteristische literarische Hybridisierung, die repräsentativ für sein dichterisches Können steht. Aus moderner Perspektive enthält die Ars bereits Züge der Novelle (vgl. Lenz 1969, 16) und »romanhafte Strukturen« (Holzberg 2017, 28). Die Gesamtkonzeption als Amalgam, mit der Ovid zum ersten Mal ein »ganzes Buch als fortlaufenden Text« schafft (von Albrecht 2012, 675), und wiederum die das Gewebe ausmachenden Einzelaspekte prägen die Struktur der Ars als zwei dynamisch ineinandergreifende Aspekte. Während sich Einheiten (z. B. Mythen, praecepta) zwar extrahieren lassen, verweben Verfahren der Ringkomposition und Parallelisierung die verschiedenen Elemente zu einem kohärenten Textganzen. So bezieht sich das Proömium im ersten Buch auf Automedon und Achilles, zu denen der homerisch gefärbte Epilog ringkompositorisch zurückkehrt. Die Parallelisierung zeigt sich im analogen Vorgehen des männlichen und weiblichen Lehrgangs sowie deren gemeinsamer Sphragis. Für Kohärenz sorgen auch die fließenden Übergänge zwischen den einzelnen praecepta, die Ovid in den ersten beiden Büchern besonders elegant gelingen. Eindrücklich erweisen sich die Verse rund um Bacchus als ein solches Textscharnier: Hat dieser eben noch als Retter der Ariadne fungiert, so finden sich seine Insignien ein paar Verse weiter in den Annährungsversuchen beim Trinkgelage wieder (1, 549–568). Das dritte Buch weicht partiell von den ersten beiden Büchern markant ab: keine Disposition im Proömium, Lehrgang unterliegt eher einer Zweiteilung in minora und maiora, nur ein einziges längeres mythologisches Exemplum (Procris), gleich mehrere Kataloge wie z. B. untreue und treue griechische Heroinen (3, 11–22) oder Sexstellungen (3, 769–788). Insgesamt erscheint die Ars als sehr voraussetzungsreich: Gerade in den stark semantisch aufgeladenen Proömien und Epilogen kulminiert eine maximale Hybriditäts- und Allusionsdichte. So müssen z. B. Synekdochen und Patronymika aufgelöst werden. Zahlreiche mythologische Exempla, mal elliptisch angedeutet, mal episch auserzählt, und lebensweltliche Beispiele lassen die Lektionen äußerst plastisch werden, so dass en passant auch ein Einblick in die kulturellen Praktiken des römischen Alltags gewährt wird (öffentliche Veranstaltungen, Unterhaltung, soziologische Hierarchien, private Pflege und Hygiene). Eine lebendige Erzählweise lässt das Publikum förmlich am Ge-

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III Werk

schehen teilhaben wie z. B. im dramatischen Exkurs zu Procris und Cephalus (Apostrophe, wörtliche Rede, Bewertung der Handlung). Greifbarer und geradezu menschlich anmutend werden diese Erzählungen auch durch die Psychologisierung und Rationalisierung göttlicher und heroischer Entscheidungsfindungen, die immer wieder eine Rolle spielen. Gleichzeitig finden diese sich auf ihre Affekte und Leidenschaften reduziert (vgl. Steudel 1992, 200). So sind bestimmte Passagen komisch, etwa wenn Ovid Bacchus’ Begleiter Silen betrunken vom Zephyr auf seinen Kopf fallen lässt (1, 543–547) oder Mars und Venus vergeblich versuchen, ihre Geschlechtsteile zu verdecken (2, 583– 584). Bei all dieser pikanten Thematik wird Ovid kaum derb und direkt im Sprachgebrauch. Reizvoller wird der Text gerade durch Paraphrasen, Euphemismen und die kunstvoll angewandte Mehrdeutigkeit der lateinischen Sprache (vgl. Holzberg 2017, 18; Möller 2016, 33). So zieht sich die mehrdeutige Konzeptualisierung von Amor/amor (u. a. Sohn der Venus; Gott des Verliebens; Liebe) und Venus/venus (u. a. Stammmutter der Gens Iulia; Göttin der Fruchtbarkeit; Liebe und sexuelles Verlangen) programmatisch und leitmotivisch durch die gesamte Ars. Ähnlich aufgeladen sind die zahlreichen Natur-, Tierwelt-, Landwirtschaft- und Jagdanalogien, die eine Reminiszenz an literarische Vorbilder sind und ›degradiert‹ in den erotisch-elegischen Kontext komisch wirken. Generell kennzeichnend für Ovid sind seine Anaphern (vgl. Kraus 1942, 1978) und für die Ars die Antithese, wie sie z. B. im Dädalus Mythos besonders prominent figuriert: Leben versus Tod, jung versus alt (2, 27–30), Himmel vs. Tartarus (2, 37–41), praeceptor versus Minos und schließlich Mensch versus Gott (2, 97–98).

12.4 Diskurse: Prinzipat, Gender, Metapoetik Im historischen Kontext des augusteischen Prinzipats entstanden und publiziert, lässt sich die Ars weder dezidiert als politische und ideologische Affirmation noch als Subversion oder Kritik lesen; sie bleibt ambivalent. Vielmehr sind es einzelne Aspekte, zu denen sie sich entsprechend verhält: So reicht das Spektrum im Werk von subversiver Kritik an der restriktiven Ehegesetzgebung bis hin zum gleichzeitigen Feiern der eigenen Gegenwart als kulturellen Hochzeit. Die kritische Haltung richtet sich insbesondere gegen die 18 v. Chr. erlassene lex Iulia de adulteriis coercendis, die vornehmlich Ehebruch (adulterium) straf-

rechtlich verfolgt. Mit ihrem Doppelstandard bestraft sie in jedem Fall die Untreue der Ehefrau (matrona), behält sich aber Sanktionen für den Ehemann nur vor, wenn er mit einer matrona fremdgeht. Prinzipiell bleibt die Kautel in ihrer Zielgruppe uneindeutig; es ist aber davon auszugehen, dass damit die Exklusivität der Elite konsolidiert werden soll und sozioökonomisch schwächere Schichten ausgeschlossen bleiben (vgl. Mette-Dittmann 1991, 76–77). Die Ars greift diese Aspekte spielerisch auf. Sie bewirbt neben einem promiskuitiven Verhalten auch das Fremdgehen (»Nicht monogam zu sein verpflichte ich Euch als ein Zensor«, 2, 387) und nivelliert die Opposition zwischen Prostituierter (meretrix) und matrona. Ostentativ gesetzestreu zeigt sich der Dichter, wenn er gleich zu Beginn im Disclaimer die matronae als Publikum wegschickt und proklamiert, sein Werk sei ohne Verbrechen (1, 31– 34), während er die Uneindeutigkeit des Gesetzestextes im dritten Buch ausnutzt: »Hier holt [...] euch Lehren, ihr Mädchen, / denen Gesetz und Scham, denen ihr Recht es erlaubt.« (3, 57–58). Ironischerweise hält er dann wiederum die Orte für Verabredungen für geeignet, die repräsentativ für die augusteische Ideologiearchtitektur stehen (vgl. Schmitzer 2001, 70). Die Kleiderwahl verwischt die von der augusteischen Moralreform intendierte klare Trennung zwischen meretrix und matrona. Während bestimmte Stücke und Farben entsprechend kodifiziert waren, legt der Text den Frauen nah, eine individuell passende Entscheidung zu treffen (3, 187–188; vgl. Gibson 2003, 32–33). Der Kritik entzieht sich der Autor zugleich, indem er die Verantwortung letztendlich auf die Frau verlagert. Der Venus-Mars-Vulkan-Mythos als »Götterburleske« (Janka 1997, 404) wird bei Ovid zu einer Verspottung der lex Iulia. Vulkan erlangt Kenntnis vom Verhältnis zwischen seiner Partnerin und Mars. Er lockt beide in ein unsichtbares Netz, in dem sie sich in flagranti verfangen, und stellt sie so den Göttern nackt zur Schau. Entgegen der antizipierten Buße behalten Venus und Mars ihr Verhältnis nun ganz offen bei. Venus in erotisch-sexuelle Kontexte einzubinden ist unter Augustus immer heikel, ist sie doch mythologischer Ursprung des iulischen Geschlechts und Schutzpatronin des Kaiserhauses. Zusätzlich begeht sie als matrona (2, 567) Ehebruch mit Mars, der wiederum als Stammvater des römischen Volkes gilt. Ihre komische Vermenschlichung würdigt den staatsreligiösen Götterkult herab. Schließlich bleibt der frevelhafte Ehebruch ungesühnt und die Episode kulminiert kontraproduktiv im fortgeführten Fremdgehen (3, 590). Neben dieser Kritik, die sich auch in den parodis-

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tischen Anleihen beim Hofdichter Vergil erkennen lässt, ist der Text zugleich Lobpreis der eigenen Zeit. Für den praeceptor ist aller Anfang cultus (3, 101; vgl. Myerowitz 1985, 41). Analog zu dem kulturanthropoligischem Terminus und seiner Abgrenzung zur rusticitas (hier unzivilisierte Vorzeit) wird das Gegensatzpaar ars (»das Artifizielle«, »Kunstvolle«) und natura (»die Natur«, »das Natürliche«) ins Spiel gebracht. Die urbane Kultiviertheit wird als Fortschritt begriffen und findet ihren Ausdruck in der Körperbzw. Schönheitspflege, im römischen Kulturangebot und seiner Architektur sowie in literarisch-musischer Bildung. Der explizite Hymnus im dritten Buch verdeutlicht diesen Fortschritts- als Kulturgedanken. Mit seinen Ausführungen wendet das Werk sich gegen die römische Tradition, die Vergangenheit zu glorifizieren, und schreibt damit gegen eine Antikosmetiktradition an, wie sie sich z. B. bei den Elegikern Properz und Tibull findet. So wurde Kosmetik in scharfer Opposition zu natura gesehen und mit Verführung, Promiskuität sowie Exzess und Extravaganz (luxuria) assoziiert. Die Ars begreift ars und cultus nicht als natura-Surrogat, sondern als deren Modifikation. Vor diesem ästhetisierten Kulturhintergrund muss auch »das sexuelle Miteinander von Mann und Frau« als »kultiviertes Gesellschaftsspiel« (Holzberg 2017, 103) gesehen werden, bei dem das Erlernen von Liebe keinen Widerspruch in sich darstellt. In Teilen klingt die Ars damit sehr aufgeklärt: Sie propagiert eine freiere Sexualität, spricht sich für ein gleichberechtigtes Lustempfinden aus und hält neben einem männlichen auch einen weiblichen Lehrgang bereit. So zielt für Wildberger das Werk auf eine »glückliche ›elegische‹ Liebe« ab (Wildberger 1998, 381). Gleichzeitig verzichtet die Ars nicht auf inhärente misogyne Strukturen, ist ihr doch auch eine patriarchale Hegemonie eingeschrieben (vgl. Holzberg 2017, 112–113). Machen in mancherlei Hinsicht die Ars und andere Werke (Amores, Heroides, Metamorphosen) Ovid in Relation zu anderen Autoren zwar zum ›Frauenversteher‹, bleibt jedoch zu berücksichtigen, dass dennoch nicht die weibliche Perspektive zur Darstellung kommt. Das Schwanken in der Ars zwischen Objektstatus und Individualisierung kippt tendenziell zum ersten: Individualität findet sich immer gekoppelt an Objektifizierung (häufig in Juxtaposition), sei es z. B. durch degradierende Analogien oder den Spiegel als korrigierendes Element. Die Frau wird in der Ars als Objekt gehandelt und bereits zu Beginn als materia (1, 49) eingeführt. Obschon sich der Text mehrfach für ein

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gleichberechtigtes Lustempfinden (»Ich hass Sex, der nicht bei beiden Entspannung herbeiführt«, 2, 684; 3, 794) stark macht und »Reziprozität der Lust« (Janka 1997, 473) suggeriert, wird in Eile diese Idee zugunsten des männlichen Orgasmus suspendiert bzw. ist ihre Lust ggf. vorzutäuschen. Zudem wird das Beziehungskonzept häufig merkantil gedacht (3, 461–462): Der Mann erkauft sich Sex (mit Geschenken). Diese Kommerzialisierung und Ökonomisierung des weiblichen Körpers rückt jede Frau in die Nähe der meretrix und forciert zugleich das geringe Ansehen dieser sozialen Schicht. Objektifizierungsmechanismen des weiblichen Körpers lassen sich damit auch in den zahlreichen Analogien aus dem landwirtschaftlichen (1, 359–360) sowie Jagd- bzw. Fischfangkontext (1, 401; 1, 763–766) lesen. Jede Frau sei damit ›fangbar‹ (1, 269–270) und stehe ad libidum zur freien Verfügung. Mehrfach wird in der Ars Gewalt an Frauen und Vergewaltigung (scherzhaft) legitimiert, indem ihre Gegenwehr heruntergespielt oder als gegenteiliges Zugeständnis umgedeutet wird (1, 663–666; insb. in Mythoseinlagen: Sabinerinnen, 1, 101–134; Ariadne und Bacchus, 1, 525– 562, Achilles und Deïdamia, 1, 679–702). Besonders deutlich wird die Intersektionalität von Gender und sozialer Schicht, wenn der praeceptor die Konsequenzen eines nicht maßvollen Alkoholkonsums aufzeigt: »Garstig ist ein Weib, das daliegt, triefend vom Weine, / die verdient es, dass jetzt irgendein Mann sie beschläft« (3, 765–766). Wenn sich die Frau also wie eine meretrix (häufig als betrunken dargestellt) geriert, muss sie auch mit einer entsprechenden Behandlung rechnen (vgl. Gibson 2003, 385–386). Zwar konterkarieren Zugeständnisse an ein weibliches Individuum (Anpassen der Methoden des Liebhabers, 1, 755–768; Frisuren- und Kleiderwahl, 3, 135–168; 189–192; Sexstellungen, 3, 769–808) o. g. Frauenbild; allerdings werden diese bereits a priori unterlaufen und die Frauen im Gegensatz zu den Männern doch mehrheitlich als Kollektiv konzeptualisiert (vgl. Gibson 2003, 146): Beginnt das erste Buch mit einem singulären si quis, starten die Frauen im dritten Buch als »Heer« Penthesileas (3, 2) und gehen als »Schar« (3, 811) ab. Zudem annektiert der praeceptor im letzten Teil eine eigentlich weiblich kodierte Position, nämlich die der erotodidaktischen lena (vgl. Gibson 2003, 19). Die Frauen unterliegen auch hier stets dem prüfenden male gaze, für den sie sich zurechtmachen und dessen Blickobjekt sie sind. Dass von den Ratschlägen also hauptsächlich die Männer profitieren, die von Beginn

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des dritten Buches an als Publikum mitgedacht werden (3, 6), zeigt sich noch einmal in den gehäuften Pronomina, die die männliche Sichtweise betonen (»uns«, »wir«, »ich«, 3, 511–522). Schließlich wirken die Fairnessbekundungen, die Frauen den Männern gleich auszurüsten, in ihrer Authentizität gemindert, bedenkt man den mythologischen Ausgang des Duells zwischen Penthesilea und Achilles, welches nur Penthesilea nicht überlebt. Formal und inhaltlich birgt die Ars auf der Makround Mikroebene auch einen selbstreflexiven, metapoetischen Habitus. Bereits die ars im Titel verheißt eine Auseinandersetzung mit künstlerischen Schaffensprozessen. Symptomatisch für den dichterischen Prozess durchzieht von Beginn an der Topos der Seefahrt das Werk und die Epiphanie des Gottes der Dichtkunst Apoll, »um Dichtern den rechten Weg zu weisen« (Janka 1997, 364), deutet in dieselbe Richtung. Das zweite Buch hat Alison Sharrock Anlass zu einer Interpretation für ein prädestiniertes Beispiel der metapoetischen Sphäre gegeben, welcher sie sich in ihrer rezeptionsästhetisch interessierten Monographie widmet. Dabei stellt sie zuvorderst heraus, dass gerade in der lateinischen Literatur die Bücher der Werkmitte, zurückund vorausschauend, sich der Reflexion widmen (vgl. Sharrock 1994, 2), um dann auch den längsten Mythosexkurs von Dädalus und Icarus (2, 21–98) dahingehend zu untersuchen. Neben seiner Länge fällt dieser durch seine prominente Stellung zu Buchbeginn auf. Vordergründig verdeutlicht das Exempel das schwierige Unterfangen, der Liebe (Amor) Dauer zu verleihen. Gleichzeitig können, so fährt Sharrock fort, Dädalus als praeceptor und Icarus als sein Schüler identifiziert werden, der sich allerdings nicht an die praecepta hält und deswegen scheitern muss. Sie liest die Erzählung als eine große poetische Metapher, die über das Verfassen der Ars und ihre innovative Hybridität nachdenkt, aber auch Fragen nach der stilistischen Höhe stellt. Für sie ist die Episode ein »paradigm for our understanding of the Ars Amatoria« (Sharrock 1994, 87). Konstitutiv für ihre Überlegungen sind eine Hierarchie der Genres, an deren Spitze das Epos steht, und die Genrehybridität der Ars. Beide, nicht nur Dädalus als paradigmatische Künstlerfigur, sondern auch sein Sohn versinnbildlichen ihr zufolge jeweils einen Schaffensprozess: Das Bestreben des Dichters (Dädalus) ist es, mit der Ars einen Mittelweg zwischen dem gewichtigen Epos und anderer Dichtung zu finden (inter utrumque vola, 2, 63). Der Flügelbau (2, 45–48) als Mimesis des künstlerischen Schaffensprozesses entwerfe das leve opus. Im Gegensatz zu Dädalus sei die

ikarische Kunst ungestümer, wende sich vorschnell den luftigen Höhen des Epos zu und verliere die Eleganz dädalischer Dichtung. Für Sharrock wird Icarus damit zum Sinnbild einer »Epic failure« (Sharrock 1994, 155), dem das leve opus auseinanderfällt und der als Dichter Schiffbruch erleidet (vgl. ebd., 160–161). Dass es allerdings auch nicht leicht sein werde, diesen Mittelweg zu begehen, deute schon der letzte Vers des Proömiums an, wenn er auf die Flügel Amors Bezug nimmt: »Es ist schwer, ihnen zu setzen ein Maß [modum]« (2, 20). Dabei bezeichne modus auch die metrische Ordnung und kommentiert die Produktion erotischer Lehrdichtung sowie didaktischer Liebeselegie. Diese innovative Hybridität findet sich, so Sharrock weiter, sowohl in der angestrebten Flugbahn des Mittelwegs als auch in der Doppelgestalt von Vater und Sohn als Vogelmännern; dem Einfall, dass es etwas Neues zu komponieren gelte (2, 42), folgt die Fertigstellung des Genremixes (2, 48).

12.5 Rezeption in der Antike Es ist unwahrscheinlich, dass Ovid als gebildeter Dichter (poeta doctus) ein heterogenes Publikum insinuierte; vielmehr erwartet sein voraussetzungsreicher Text ein entsprechendes Vorwissen einer literarisch gebildeten Elite. Gleichzeitig deuten Zitate aus der Ars und mythologische Wandmalereien in Pompeji auf eine breite Rezeption des Werks und die Popularität des Autors hin (vgl. Knox 2014, 36). Diese lässt sich auch aus intertextuellen Anleihen herauslesen, wie sie z. B. bei den flavischen Dichtern Martial und Statius zu finden sind. So feiert der Erstere in seinen Epigrammen einen ästhetisierten lifestyle, dem Ovids Hymnus auf den cultus im dritten Buch programmatisch Modell stand. Ähnliches lässt sich für die Silvae des Statius und ihr Lob zeitgenössischer Errungenschaften festhalten (vgl. Rosati 2014, 62–63). Zudem weist Janka nach, dass Martial seinem Publikum nicht lediglich Ovid-Reminiszenzen anheimstellt, sondern in einen produktiven intertextuellen Dialog insbesondere mit der Ars tritt. Er eignet sich z. B. den Eingang zur Ars (si quis) an und modifiziert im Fortgang das ovidische Spiel mit dem Aus- und Einschluss entsprechender Leserinnen und Leser (vgl. Janka 2006, 282–284). Darüber hinaus begegnet dem Dichter immer wieder der Vorwurf des allzu Freizügigen, den auch Seneca der Ältere in seinen Controversiae äußert (2, 2, 12); dieser tadelt zusätzlich einen gewissen Hang zur Redundanz (9, 5, 17). Geteilter fällt das Urteil seines Soh-

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nes aus: Während er Ovid höchstes Talent und Genius unter den Dichtern zugesteht (poetarum ingeniosissimus, quaest. nat. 3, 27, 13), moniert er an derselben Stelle zugleich das ›Pubertäre‹ (puerilis ineptia) in seinem Werk. Lob und Kritik erntet der praeceptor amoris auch von Quintilian, in dessen Schriften mehrfach der Vorwurf der Freizügigkeit wiederkehrt und der zudem die Selbstverliebtheit des Dichters kritisiert, obwohl er ihm auch Lob zukommen lässt (inst. 10, 1, 88). Die gegen ihn vorgebrachte Kritik, er lehre Ehebruch (trist. 2, 212), greift Ovid auf und ist sich auch durchaus bewusst, dass gerade die Freizügigkeit seiner Ars Missbilligung auf sich zieht (trist. 2, 345–346). Er tut diese Anschuldigungen in seinen Remedia (361– 364) und in den Tristia ab. Damit wird Ovid mit seiner Exildichtung produktiver Teil seiner eigenen Rezeption. Insbesondere das zweite Buch der trist. stellt den Versuch dar, die Ars zu rehabilitieren: Der Dichter bekräftigt, dass es in ihr nichts Schadhaftes zu lesen gebe (nullum legisses crimen in Arte mea, 2, 240), und führt den negativen Widerhall hauptsächlich auf Fehlinterpretationen und eine falsche Lesart zurück (2, 275– 276; vgl. Myers 2014, 10). Damit transferiert Ovid die ›Schuldfrage‹ von seinem Werk auf die Leserschaft und macht die Debatte zu einer rezeptionsästhetischen. Dass die Ars allerdings einer von zwei Gründen (carmen et error, trist. 2, 207) für sein Exil in Tomis (heute Constanța) ab 8 n. Chr. gewesen sein soll, wie der Dichter selbst behauptet, scheint nicht plausibel, liegen zwischen der Ars und der relegatio (›milde‹ Form der Verbannung, bei der die verbannte Person Vermögen und Bürgerrechte behält) mindestens sechs Jahre. Vielmehr wird der error, der wahrscheinlich mit der Exilierung Julias der Jüngeren 8 n. Chr. zusammenhängt, ausschlaggebend gewesen sein (vgl. Gibson 2003, 37). Dieser intertextuelle Dialog wird allerdings von einer fiktiven Erzählerfigur inszeniert, die nicht mit der historischen Person Ovid identifiziert werden kann.

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Literatur

Albrecht, Michael von: Geschichte der römischen Literatur von Andronicus bis Boethius und ihr Fortwirken. Bd. 1. Berlin/Boston, 3., verb. und erw. Auflage 2012. Gibson, Roy K.: Ovid. Ars amatoria. Book 3. Cambridge 2003. Hollis, Adrian S.: Ovid. Ars amatoria. Book I. Oxford 1989. Holzberg, Niklas: Staging the Reader Response: Ovid and His ›Contemporary Audience‹ in ›Ars‹ and ›Remedia‹. In: Roy K. Gibson/Steven J. Green/Alison Sharrock (Hrsg.): The Art of Love. Bimillennial essays on Ovid’s ›Ars amatoria‹ and ›Remedia amoris‹. Oxford/New York 2006, 40–53. Holzberg, Niklas: Ovid. Dichter und Werk. München 42017. Janka, Markus: Ovid: Ars Amatoria, Buch 2. Kommentar. Heidelberg 1997. Knox, Peter E.: Ovidian Myths on Pompeian Walls. In: John F. Miller/Carole E. Newlands (Hrsg.): A Handbook to the Reception of Ovid. Chichester 2014, 36–54. Kraus, Walther: P. Ovidius Naso, der Dichter. In: RE, 18, 2. München, Nachdruck der Ausgabe 1942, 1910–1986. Lenz, Friedrich: Ovid. Die Liebeskunst. Berlin 1969. Mette-Dittman, Angelika: Die Ehegesetze des Augustus. Eine Untersuchung im Rahmen der Gesellschaftspolitik des Princeps. Stuttgart 1991. Möller, Melanie: Ovid. 100 Seiten. Stuttgart 2016. Myerowitz, Molly: Ovid’s games of love. Detroit 1985. Myers, K. Sara: Ovid’s Self-Reception in His Exile Poetry. In: John F. Miller/Carole E. Newlands (Hrsg.): A Handbook to the Reception of Ovid. Chichester 2014, 8–21. Rosati, Gianpiero: Ovid in Flavian Occasional Poetry (Martial and Statius). In: John F. Miller/Carole E. Newlands (Hrsg.): A Handbook to the Reception of Ovid. Chichester 2014, 55–69. Schmitzer, Ulrich: Ovid. Hildesheim 2001. Sharrock, Alison: Seduction and repetition in Ovid’s ›Ars amatoria 2‹. New York/Oxford 1994. Steudel, Marion: Die Literaturparodie in Ovids ›Ars amatoria‹. Hildesheim 1992. Stroh, Wilfried: Rhetorik und Erotik. Eine Studie zu Ovids liebesdidaktischen Gedichten. In: WJA. Neue Folge 5 (1979), 117–132. Tarrant, Richard J.: ›Amores‹, ›Ars Amatoria‹, ›Remedia Amoris‹. In: L. D. Reynolds (Hrsg.): Texts and transmission. A survey of the Latin classics. Oxford 1983, 259–262. Wildberger, Julia: Ovids Schule der »elegischen« Liebe. Erotodidaxe und Psychagogie in der ›Ars amatoria‹. Frankfurt a. M. 1998. Zielinski, Thaddäus: Marginalien. In: Michael von Albrecht/ Ernst Zinn (Hrsg.): Ovid. Darmstadt 1968, 205.

Bendix Sautmann

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13 Remedia amoris 13.1 Einleitung Mit den Remedia amoris (»Heilmittel gegen die Liebe«), dem kürzesten seiner vollständig überlieferten Werke, schließt Ovid den Zyklus seiner Liebeselegien. Anklänge an die Amores und auch gewisse stilistische und thematische Ähnlichkeiten mit den Medicamina faciei femineae (s. Socas 1998) lassen sich in den Remedia immer wieder bemerken. Jedoch besteht der engste Dialog mit der Kunst des Liebens (Ars amatoria), einem Werk, das, wie die Remedia, ebenfalls einen erotodidaktischen Charakter ankündigt und das kurz vor diesen veröffentlicht wurde – wahrscheinlich in den ersten Jahren v. Chr. oder n. Chr. (s. Henderson 1979 zu Rem. 155–158). Die in den Remedia oft zu beobachtenden Hinweise auf die Ars als ein vorausgesetztes Werk (V. 71–72; 487; 557–558) haben in der Forschung bereits zu der Vermutung geführt, dass die Remedia als ein viertes Buch der Ars dienen sollten (vgl. Green 2006). Der Vorläufercharakter der Kunst des Liebens spiegelt sich in der relativ zuverlässigen Überlieferung wider: Die Remedia folgen auf die Ars in denjenigen Manuskripten, die beide Werke tradieren (Tarrant 1986; Kenney 1995). Die Absicht, als ein Gegenstück zur Ars zu wirken, wird zu einem Leitmotiv in den Remedia, die sich eingangs metaphorisch als die Heilung einer Wunde (vulnus) darstellen, die von derselben Hand (una manus, Vers 44) – nämlich des Autors der Kunst des Liebens – verursacht wurde. Unter den vielfältigen Anspielungen auf jenes Werk beobachtet man die Inversion vieler aus der Ars stammender Vorschriften (praecepta): z. B. soll der Leser sich nicht für die Geliebte herausputzen (vgl. rem. 679–682 mit ars 1, 513–522), er soll alle existierenden oder vorstellbaren Besonderheiten des Mädchens (puella) als Fehler betrachten (rem. 323–328 gegen ars 2, 657–662); schließlich soll er Orte wie das Theater meiden (rem. 715–756 gegen ars 1.89 ff., 501–502; für eine vollständige Aufzählung s. Henderson 1979). Diese Logik des Verlernens (dazu s. Rosati 2006) wird ad absurdum geführt, nämlich bis hin zu dem Punkt, an dem dem Leser der Remedia von der Lektüre von Liebeselegien (unter anderen Liebesdichtungen), selbst der ovidischen, abgeraten wird (V. 757–768). Ein Indiz dafür, solch eine Warnung gegen die Elegie als ironisch zu lesen, ist nicht nur Ovids energische metapoetische Verteidigung der Erotik seiner eigenen elegischen Dichtung gegen seine – als Livor (»Neid«) personifizierten – Verleumder (V. 361–

398), sondern auch der erotische Inhalt des Textes der Remedia selbst (z. B. V. 399–434). Die Remedia sind nicht nur ein Gedicht, das sich selbst durch Metrum, Thema und Topoi unter Inspiration seiner »frechen Muse« (Musa proterva, 362) ebenfalls in die elegische Tradition einreiht (Vers 387; 396), sondern auch eines, dessen verführerischer Charakter durch die vielfältigen Verbote des Liebestriebs unterstrichen wird (Sharrock 2006). Der Widerspruch zu den anderen elegischen Werken Ovids erweist sich als oberflächlich, wenn man in Betracht zieht, dass die für die Heilung des Liebesschmerzes notwendige Distanzierung des Liebhabers von der Geliebten bereits in den Amores und besonders in der Ars (als Gegenstand einer Kunst oder Technik) zu beobachten war. Auch in diesen beiden Werken verleugnet Ovid das servitium amoris – ein Indiz dafür ist, dass beide, Ars und Remedia, das Gebot der exklusiven Hingabe an eine einzige puella untergraben (z. B. ars 1, 375–386; rem. 53–54; vgl. am. 2,7; 2,8) und damit das für die früheren römischen elegischen Dichter essentielle Liebesleiden abgemildert wird. In den Remedia darf man also die Vertiefung und Systematisierung einer schon in den Amores und in der Ars geäußerten Absage an die elegische Ablehnung (recusatio) der anderweitigen Vergnügungen des Lebens wahrnehmen.

13.2 Werkbeschreibung Mit 814 Versen – also nicht viel umfangreicher als die jeweiligen Bücher der Ars – kann die Struktur der Remedia als dreigliedrig betrachtet werden. Sowohl das Proömium (V. 1–78) als auch der Epilog (V. 811–814) sind durch für solche Abschnitte typische rhetorische Konventionen gekennzeichnet (Stroh 1979). Der Lehrinhalt (tractatio; V. 79–810) wird in einer Gliederung mit fließenden Übergängen entwickelt, die mit der deutlicher markierten Struktur der Ars kontrastieren (Henderson 1979; Socas 1998). Aus der Nähe betrachtet kann das Proömium (exordium) wie folgt unterteilt werden: Der erste Teil ist eine an Cupido gerichtete Art von suasoria (»fingierter Gerichtsrede«; V. 1–40); dann folgt der im strengem Sinne didaktische Teil des exordium, der sich unmittelbar an die intendierten Leser richtet (41–74); schließlich lesen wir ein kurzes Gebet an Apoll, die Gottheit, die das Werk schützen und inspirieren soll (75–78). Die Remedia beginnen mit Referenzen auf die Materialität des Textes und auf einen besonderen Leser,

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_13

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den Gott der Liebe. Unter dem Namen Amor (Vers 1) oder Cupido (3) hatte die Gottheit zuvor in den Amores (am. 1, 1–20) eine entscheidende Intervention zu verantworten, als er das epische Metrum und den epischen Stoff ins Elegische wandelte. Nachdem er den Titel (nomen) auf der Aufschrift (titulus) des Büchleins (libellus) gelesen hat, klagt Cupido, dass das Gedicht ihm gegenüber feindselig gesinnt sei (V. 1–2). Anstatt jedoch die eigene Absicht zu ändern, schafft es der Dichter-Seher, die Gottheit zu überzeugen, dass sich die Remedia nicht gegen die harmlose Liebe – diese sei Cupidos Attribut (V. 23–26) – wende, sondern gegen eine spezifische Art von Liebe, nämlich die unwürdige, tödliche, deren Gefahr durch Beispiele von durch unangemessene Leidenschaft motivierten Selbstmorden aus der Mythologie illustriert wird (V. 17–19; 55–58). Um Cupido zu überzeugen, werden er und seine Domäne strategisch bestimmt: Der Gott der Liebe wird als ein Knabe (puer) beschrieben, dessen Waffen frei von tödlichem Blut sein sollen. Ob diese Argumentation den Gott der Liebe tatsächlich konsistent ausspart, wird der Leser der Remedia anhand des weiteren Gedichtverlaufs noch entscheiden müssen. Auf jeden Fall kann man aus dem Kontrast zwischen dem Anfang der Amores und dem Ende des Dialogs mit der Gottheit in den Remedia eine souveränere Figur (persona) des Dichters hervortreten sehen (Armstrong 2004). Die Bezeichnung des Lesers der Remedia folgt im exordium (V. 41–74). Dort ist von »getäuschten jungen Männern« (decepti iuvenes, 41) die Rede, nämlich denjenigen, die von der Liebe hintergangen (wörtlich »getäuscht«, fefellit, 42) wurden. Jedoch schließt die anvisierte Gruppe von Lesern junge Frauen (puellae) nicht aus. Obwohl sogleich nicht wenige Heroinen aus der Mythologie erwähnt werden, die der Liebe wegen den Tod erlitten (V. 55–68), dienen sie als Gegenbeispiele. Im Unterschied zum dritten Buch der Ars schreibt Ovid keinen Teil der Remedia spezifisch für Frauen. Angeblich werden die Leserinnen als solche willkommen geheißen, wenn sie in ihrem Vorgehen die den Männern vorgeschriebenen Lektionen mutatis mutandis adaptieren (V. 49–52). In anaphorischen Selbstanreden (Naso... Naso..., 71–72; s. »Sphragis«) betont der vates, dass das angesprochene Publikum noch weiter eingeschränkt werden kann: Das Werk sei besonders für diejenigen bestimmt, die sein früheres Werk, die Ars, gelesen und durch die Anwendung der dort empfohlenen Praktiken gelitten hätten. Nicht nur will diese Erwähnung das allusive Potential des Werkes unterstreichen, son-

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dern auch den Eindruck von Kontinuität zwischen den Werken und in der ovidischen Dichterkarriere vermitteln (V. 359–396; s. Kap. 2). Im vier Verse langen Gebet an Apoll (V. 75–78) ruft der vates den Gott in zwei seiner typischen Funktionen an, nämlich als Patron der Dichter und Ärzte (vgl. aber Miller 2009). Jedoch wird hier der Gott anders als in anderen elegischen Werken Ovids vorgestellt, wo der Dichter, auf die eigene Erfahrung (usus) bauend und sich als vates peritus bezeichnend, die Inspiration der Gottheit ablehnt (ars 1, 25–30; Armstrong 2004). Zwar werden seine magischen Attribute – wie sonst bei Ovid (ars 2, 99 ff.) und anderen elegischen Dichtern (s. Henderson 1979) – abgewertet (V. 249–290). Jedoch wird in den Remedia durch die wiederholte Bezeichnung der Sonne als Phoebus (256 und 585) und durch die Evokation des Gottes (489; 703–706; 767–768) die Präsenz Apolls im Gedicht metonymisch und metapoetisch unterstrichen. In der tractatio (V. 79–810) werden Vorschriften (praecepta) gegen Liebe in einer allgemeinen chronologischen Abfolge präsentiert: von der Diagnose eines anfänglichen Stadiums der Krankheit (79–106) bis zu fortgeschrittenen Phasen (107–608); von der Vermeidung der Möglichkeit eines Rückfalls (609–810) bis zu dem, was der Höhepunkt der Überprüfung des Heilungserfolgs sein soll, nämlich die Eifersucht zu überwinden (767–794) und Rivalen zu küssen (794)! Für jede Phase schlägt der vates alternative Therapien vor, die den Umständen angepasst werden sollen (V. 525– 526). Die vielfältigen Beispiele einer jeden Phase konzentrieren sich auf soziale Situationen und geben sich damit als eine (gar nicht konsistente) Mischung von unterschiedlichen medizinischen (Pinotti 1988) und philosophischen (z. B. stoischen oder epikureischen) Tendenzen zu erkennen (Wildberger 2007). In einem ersten Schritt erhält der Leser eine emphatische Warnung: Er solle eine ungünstige Beziehung rechtzeitig beenden (V. 79–106). Die Warnung wird sowohl von Bildern aus der Natur (etwa Pflanzen, Pferde, Flüsse, 79–98) als auch aus der Mythologie begleitet. Die inzestuöse Myrrha (97–100), die als Beispiel für Liebe als Krankheit in den Remedia dient, wird sich in einer entwickelten poetischen Form in den späteren Metamorphosen (met. 10, 490–502) betrachten lassen (Orosco 2011). Aber selbst im ersten Fall kann der kultivierte augusteische Leser erkennen, dass es nicht um eine direkte Beschreibung der Natur geht, sondern um literarische Hinweise: Ovid spielt auf die von Lukrez formulierten Theorien über die Liebe (Lucr. 4, 1037–1072) an sowie auf die gründli-

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che Beschneidung der jungen Reben in Vergils Georgica (georg. 2, 362–370), um seine eigene Auffassung von Liebe und Arbeit (labor) darzustellen (Volk 2002). Sollte die Vermeidung der heftigen Gefühle ganz am Anfang nicht möglich sein, so bedarf es einer anderen, längeren Behandlung. Entscheidend ist aber, dass der Leser sich als Patient, d. h. als pflegebedürftig, erkennt und deshalb heilen lassen will (V. 106–110). Für die Heilung gilt als allgemeine Anweisung, sich beschäftigt zu halten, sei es mit forensischen Aktivitäten (151–152), im militärischen Dienst (153–158), mit Agrikultur (168–198), Jagd oder Fischen (199–212) sowie Reisen (213–248). Später soll das Gegenteil – den Geschlechtsverkehr bis zum Überdruss zu genießen – noch als alternative Therapie gelten (523–542); aber hier kann alles helfen, wodurch der Patient von der Geliebten Abstand hält. Bei jeder Vorschrift sollen wiederum in der Literatur zur Verfügung stehende Beispiele der natürlichen oder der mythologischen Sphäre als Belege dienen. Wie der magister der Ars (1, 1–2) hat doctor Naso einen doctus lector vor Augen. Insofern der doctus-lector-Patient die Stadt der Geliebten nicht verlassen kann, erinnern die praecepta noch mehr an die (sich unter freiem Himmel wie in Innenräumen abspielenden) Szenen der früheren elegischen Werke Ovids. So soll man z. B. an alle möglichen Nachteile der Beziehung denken, sei es an den finanziellen Verlust (V. 299–348), sei es an existierende oder imaginäre Besonderheiten – physische oder psychische Fehler, die die Geliebte entzaubern könnten (z. B. V. 307–348; 517–537): eine ganz andere Haltung als in der Ars (2, 641–662; vgl. 3, 261 ff.). Vorstellungskraft, Täuschung und Selbsttäuschung (s. Kap. 21), die in den ovidischen elegischen Werken zur Verführung dienen sollen, werden also in den Remedia zur Abweisung der Geliebten angewendet. Nach einer trivialen Aufzählung von empfohlenen (anaphrodisischen) oder verbotenen (aphrodisischen) Speisen und Getränken (795–810) wiederholt der kurze Epilog (810–814) die traditionelle nautische Metapher (vgl. georg. 2, 11– 16), die schon zu Beginn der Remedia benutzt wurde (V. 70): Das Buch wird zum Schiff, das den Hafen erreichen hat (V. 811–812). Damit weist Ovid gleichzeitig auf das Ende des ersten und dritten Buchs der Ars hin (Hardie 2006) und verabschiedet sich von seinen Leserinnen und Lesern als heiliger Dichter und Arzt (V. 813–814; s. Möller 2016).

13.3 Analyse Dass die Remedia im für die Elegie typischen Versmaß verfasst sind, wird als entscheidendes Merkmal für die Gattungszugehörigkeit des Gedichtes im Text selbst geäußert (V. 371–372). Wie bei anderen elegischen Werken werden weitere literarische Gattungen integriert (Conte 1994), welche inhaltliche und formale Merkmale bei der Verfassung der multiplex persona Ovids in einschlägiger Weise aktivieren. Außer den zwei bereits in der Ars vorgestellten personae – des Dichter-Sehers (vates) und des Lehrers (magister) – setzt sich Ovid in den Remedia die Maske eines Arztes (doctor) auf, der sich um die Risiken und Nebenwirkungen seiner Kunst des Liebens kümmert. Im Folgenden soll illustriert werden, wie diese Vielfalt im Text angelegt ist. Bezüglich der artes medicae wird die in der Literatur schon zuvor als psychologische Pathologie oder figurativ verarbeitete Idee der Liebe als Krankheit zum Leitmotiv in den Remedia. Bei früheren Elegikern wird die Liebe selten als heilbar dargestellt (Prop. 1, 10, 15–18): Die Remedia nehmen eine optimistischere Perspektive ein – etwa wie in epikureischen und stoischen Philosophien oder Konsolationen. Ärztliche Vokabeln und Vorschriften könnte Ovid aus den älteren Dichtungen über Medizin oder Pharmakologie – wie den Theriaka und Alexipharmaka des Nikander aus Kolophon oder dem Werk Aemilius Macers (trist. 4, 10, 43–44; vgl. Quint. inst. 6, 3, 96; Pinotti 1988) – übernommen haben sowie aus der obengenannten lukrezischen oder stoischen (z. B. Chrysipp, Therapeutikós, vgl. Cicero, Tusc. 4, 73–74) Lehre gegen die Liebe. Psychisches Leid wird zur Wunde, der Leser zum Patienten, das soziale Verhalten des Liebhabers wird mit der Behandlung bekannter körperlicher Krankheiten gleichgesetzt. Mit anderen Worten: Da der vates eigentlich kein Arzt war, wird die Idee besonders durch Vergleiche und Metaphern am Anfang (V. 41–48; s. auch 79–134; 313–316) sowie durch sachliche (pharmakologische und medizinische) Vorschriften am Ende (795–810) programmatisch etabliert – und ist nicht selten als humorvoll aufzufassen. Die Haltung des magister wird, wie in der Ars, durch die für didaktische Dichtung typischen, an den Leser-Schüler gerichteten Einwürfe bestätigt; dieser wird stets direkt in der zweiten Person adressiert (Volk 2002). Dass es um das Lehren (docere), Lernen (discere) bzw. Verlernen (dediscere) geht, wird emphatisch durch amplificationes und Wiederholungen von Wörtern und Ideen (in Form von Anaphern, Polyptota,

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Anadiplosen) gesichert. Auch hier erhält man den Eindruck einer witzigen Übertragung in einen allge­ meinen gelehrten Tonfall; an vielen Stellen liegt eine Parodie der älteren römischen didaktischen Dichtungen vor (dazu s. ebd.). Religiöser Wortgebrauch trägt dazu bei, die Atmosphäre heiliger Dichtung (carminis, 76; sacro... carmine, 813–814) zu evozieren. Die leichte bzw. erotische Muse, Cupido und Apoll werden immer wieder genannt, die letzten beiden auch in Gebeten und Epiphanien. In manchen Beispielen dient metonymische Nennung von Gottheiten dazu, das Gedicht mit Göttern und Helden zu bevölkern. Der gehobene Ausdruck wirkt jedoch hyperbolisch und dadurch nicht selten lächerlich, besonders wenn er mit der Banalität der alltäglichen Liebessorgen und Heilmittel kontrastiert, wie z. B. mit Blick auf das Orakel des mysteriösen Le­ thaeus Amor (V. 549–578) oder wie im Fall des Aegis­ thus aus Argos (V. 161–166), der keine Liebesaffäre mit so ernsten Folge begonnen hätte, wenn er daheim etwas Besseres zu tun gehabt hätte (dazu s. Hardie 2006). Die persönliche Erfahrung des vates-Lehrers mit der Liebeselegie (z. B. V. 7, 312, 322, 716) wird durch das Aufgreifen von Szenarien (der Tür des Hauses der Geliebten, des Boudoirs, der Festmahle, des Theaters) und bekannter elegischer Topoi bestätigt. Nicht selten werden sie durch einen Wortschatz der Täuschung mit dem Liebesfrust assoziiert, was wiederum eine theatralische (Davis 1989) bzw. komische Atmosphäre schafft: Achilles wird als komischer Liebhaber der fast homonymen Frauengestalten Briseis und Chryseis (469–478) im Sinne der Identitätsverwechslung wie in Komödienplots (vgl. z. B. die Bacchides des Plautus) bezeichnet. Auch komisch ist die ovidische Haltung, wenn er sich als möglicher Lehrer der mythologischen Charaktere präsentiert (55–68): Hier sei an die »Glorifizierung« des »durchtriebenen Sklaven« (servus callidus) erinnert (vgl. Härter 2013).

13.4 Rezeption in der Antike Wie auch bei seinen anderen Werken ist Ovid selbst die erste Instanz der Rezeption seiner Remedia. In Metamorphosen und Fasti werden viele der mythologischen Beispiele der Remedia fortgeschrieben (Watson 2002; Hardie 2006; Orosco 2011). In den Exildichtungen jedoch greift Ovid auf andere Aspekte der Remedia zurück, sei es, um seine erotische Dichtung zu bedauern – nicht ohne Ironie, wenn er gleichzeitig die Relevanz eines didaktischen Werks über frivole Themen wie die

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Liebe in Frage stellt (trist. 2, 471–494) –, sei es, wenn er die Idee von Dichtung als Medizin oder Trost (trist. 4, 10, 115–118), dieses Mal gegen die Schmerzen der Verbannung, aufgreift (v. Albrecht 1992). Wahrscheinlich hätte es Ovid nicht besonders gefallen, aber der Antierotizismus der Remedia wird ernst genommen in der christlichen Spätantike und in mittelalterlichen Schulbüchern. In der Renaissance wurde das Werk in gewissen Versionen dem Liber Catonianis, einer weithin benutzten Anthologie für Grammatikschüler, hinzugefügt (Tarrant 1986; Fielding 2014 und 2017). Literatur

Albrecht, Michael von: Geschichte der römischen Literatur. Bd. 1. Bern 1992. Armstrong, Rebecca: Retiring Apollo: Ovid on the politics and poetics of self-sufficiency. In: Classical Quarterly, 54/2 (2004), 528–550. Conte, Gian Biagio: Love without Elegy: The ›Remedia Amoris‹ and the Logic of a Genre. In: Ders.: Genres and readers. Baltimore 1994, 35–67. Davis, John T.: Fictus adulter: poet as actor in the ›Amores‹. Amsterdam 1989. Fielding, Ian: A Poet between Two Worlds: Ovid in Late Antiquity. In: John F. Miller/Carole E. Newlands (Hrsg.): A Handbook to the Reception of Ovid. Chichester 2014, 100–113. Fielding, Ian: Transformations of Ovid in Late Antiquity. Ann Arbor/Cambridge 2017. Geisler, Hans Joachim: P. Ovidius Naso, Remedia amoris, mit Kommentar zu Versen 1–396. Berlin 1969. Green, Steven J.: Lessons in Love: Fifty Years of Scholaship on the ›Ars Amatoria‹ and ›Remedia Amoris‹. In: Roy Gibson/Steven Green/Alice Sharrock (Hrsg.): The Art of Love. Bimillenial Essays on Ovid’s ›Ars Amatoria‹ and ›Remedia Amoris‹. Oxford 2006, 1–22. Hardie, Philip: Lethaeus Amor: The Art of Forgetting. In: Roy Gibson/Steven Green/Alice Sharrock (Hrsg.): The Art of Love. Bimillenial Essays on Ovid’s ›Ars Amatoria‹ and ›Remedia Amoris‹. Oxford 2006, 166–192. Härter, Pia: Explanatory model for cultural dynamics and its phenomena. The Fool and its metamorphosis in the context of cultural dynamics. Diss. Heidelberg 2017. Henderson, Alastair A.: P. Ouidii Nasonis ›Remedia Amoris‹. Edinburgh 1979. Kenney, Edward J.: Ovidius Naso, Publius: Amores, Medicamina faciei femineae, Ars amatoria, Remedia amoris. Repr. with corr. Oxford 1995. Miller, John F.: Apollo, Augustus, and the Poets. Cambridge 2009. Möller, Melanie: Ovid auf 100 Seiten. Stuttgart 2016. Orosco, Gabriela S. Metamorfoses de Venus na poesia de Ovídio. Campinas 2011. Pinotti, Paola: P.: Ouidio Nasone, Remedia amoris. Introduzione, testo e commento a cura di P. Pinotti. Bologna 1988. Rosati, Gianpiero: The Art of ›Remedia Amoris‹: Unlearning to Love. In: Roy Gibson/Steven Green/Alice Sharrock

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(Hrsg.): The Art of Love. Bimillenial Essays on Ovid’s ›Ars Amatoria‹ and ›Remedia Amoris‹. Oxford 2006, 143–165. Sharrock, Alice: Love in Parentheses: Digression and Narrative Hierarchy in Ovid’s Erotodidatic Poems. In: Roy Gibson/Steven Green/Alice Sharrock (Hrsg.): The Art of Love. Bimillenial Essays on Ovid’s ›Ars Amatoria‹ and ›Remedia Amoris‹. Oxford 2006, 23–39. Socas, Francisco: Publio Ovidio Nason, Obra amatoria III, Remedios de amor, texto latino preparado por Antonio Ramirez de Verger, traducción de Francisco Socas, Cremas para la cara de la mujer, texto latino preparado por Luis Rivero García, traducción de Francisco Socas. Madrid 1998. Stroh, Wilfried: Rhetorik und Erotik: Eine Studie zu Ovids

liebesdidaktischen Gedichten. In: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft 5 (1979), 117–132. Tarrant, Richard John: Ovid. In: Leighton D. Reynolds (Hrsg.): Texts and transmission. Oxford 1986, 257–284. Volk, Katharina: The poetics of Latin didactic. Oxford 2002. Watson, Patricia A.: Praecepta amoris: Ovid’s Didactic Elegy. In: Barbara Weiden Boyd (Hrsg.): Brill’s Companion to Ovid. Leiden 2002, 141–165. Wildberger, Jula: Ovids Remedia amoris aus affektpsychologischer Sicht. In: Markus Janka/Ulrich Schmitzer/Helmut Seng (Hrsg.): Ovid: Werk – Kultur – Wirkung. Darmstadt 2007, 85–112.

Isabella Tardin Cardoso

14 Metamorphosen

14 Metamorphosen 14.1 Entstehung und Überlieferung Mit den Metamorphosen schuf Ovid etwa um die Zeitenwende sein Hauptwerk. Die fünfzehn Bücher dieses ›Werks der Wandlungen‹, dem Namen des Dichters bis heute auch jenseits von Fachkreisen verbunden, werden um das Jahr 8 n. Chr. in der überlieferten (wohl nicht ganz vollendeten) Gestalt vorgelegen haben. So legen es Ovids eigene Angaben aus den Tristia nahe (trist. 1, 7, 35–40; 2, 559–560 und v. a. 2, 63–64: inspice maius opus, quod adhuc sine fine tenetur, / in non credendos corpora versa modos. – »Schau das größere Werk an, das bislang nicht vollendet ist: Wesen, die auf unglaubliche Weise ihre Gestalt verändern«). Eine intensive literarische Rezeption zahlreicher Mythen aus diesem Werk belegt den immensen und anhaltenden Einfluss der Metamorphosen auf Dichtung, Musik und bildende Kunst weltweit, die ihre Bezüge zu griechischen und römischen Mythen über Jahrhunderte hinweg im Wesentlichen aus diesem Werk bezogen (vgl. die Rezeptionsartikel in Teil VI dieses Bandes). Diesem Umstand ist auch eine massive Überlieferung zuzuschreiben, die von sechs frühen Manuskript-Fragmenten über acht frühe Codices auf über 450 Codices im hohen Mittelalter anschwoll (Details bei Tarrant 2004; Richmond 2002, 469–474).

14.2 Eingang Bereits das mit vier Versen relativ knappe Proömium gibt eine kompakte Charakterisierung des Werkes sowie des Selbstverständnisse seines Autors und deutet die literarische Tradition an, in die es gerückt werden soll: In nova fert animus mutatas dicere formas corpora: di, coeptis (nam vos mutastis et illa) adspirate meis primaque ab origine mundi ad mea perpetuum deducite tempora carmen. (met. 1, 1–4 nach Anderson 2001) (»Von in neue Körper verwandelten Gestalten zu singen treibt mich mein Sinn. Ihr Götter, inspiriert mein Unterfangen (denn ihr habt sie ja auch verwandelt) und fügt vom Ursprung der Welt bis zu meiner eigenen Zeit ein zusammenhängendes Gedicht ohne Unterbrechung.«)

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Unbenommen einer reichhaltigen Forschungsdiskussion zur Stelle (vgl. Bömer 1969–1986 I ad. loc., Barchi­ esi u. a. 2005–2015 I ad loc., Grewing 1993, Harrauer 2001 und Kenney 2009, 141–144, je mit weiterer Literatur; wichtig: Wheeler 1999, 8–20) kann festgehalten werden, dass Ovid für sein Werk Neuartigkeit beansprucht, wie sie der erste Halbvers suggeriert, bis die grammatische Struktur über das Enjambement eine andere Richtung nimmt. Zudem fehlt zwar nicht die für eine epische Form – es handelt sich um Ovids einziges überliefertes Werk im epischen Hexameter – erwartbare Bitte um Inspiration, doch ruft der Dichter nicht, wie es die Tradition nahelegt und Ovid es in anderen Dichtungen praktiziert (vgl. fast. 5, 7–8 und trist. 4, 10, 115 ff.), die Musen an, sondern allgemein »Götter«, womöglich alle zugleich, und bittet lediglich um ›Anhauch‹, nicht um Inspiration (an der es ihm offenbar nicht mangelt). Die mehrfache Bezüglichkeit von illa führt dabei eine weitere Dimension ein: Das Pronomen kann sich auf corpora beziehen, was die Götter als Urheber der innerhalb des Werks geschilderten Verwandlungen aufriefe, aber es kann auch mit coeptis zusammenhängen, so dass Ovid zugleich selbstreflexiv seinen Wechsel des Genus von der elegischen zur epischen Dichtung als eine erste – dem gesamten Epos vorgelagerte – Verwandlung kennzeichnete und gleich an den Beginn des Werkes eine Metalepse setzte. Im dritten und vierten Vers werden dann Gegenstand und Art der folgenden Dichtung näher bestimmt: Seine Gegenstände reichen zeitlich vom Uranfang der Welt bis in die Gegenwart des Dichters. Und als wäre dies als kühner Anspruch eines Weltgedichts von kosmischen Dimensionen noch nicht genug Begründung für die nova aus Vers 1, setzt er mit perpetuum carmen und deducite zwei poetologische Markierungen, die zeitgenössischen Lesern nicht entgangen sein können: Das »zusammenhängende Gedicht« spielt auf den Prolog zu den Aitia des hellenistischen Dichters Kallimachos an (vgl. Fr. 1, 3–4), und auch deducere verweist im Kontext der Zeit auf kallimacheische Poetologie (so auch in trist. 2, 560 über die Metamorphosen; vgl. Hofmann 1985), die Ovid somit für sein Epos reklamiert. Hellenistisches Dichten, gerade von Ursprüngen bestimmter Sitten, Orte, Tiere oder Namen, sogenannter Aitien oder origines, kann als wichtige Einflussgröße in der Dichtung der späten Republik und des frühen Kaiserreiches gelten (vgl. Loehr 1996, 39–160 und immer noch Wimmel 1960). Die nach-kallimacheischen Epen oder Epyllien, die Verwandlungen zum Gegenstand haben, namentlich Nikanders von Kolophon Heteroioúmena (2. Jh. v. Chr.) und Boios’ Ornithogonía,

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_14

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sind leider allzu fragmentarisch überliefert, als dass ein genauer Textvergleich ihren Wert als Prätexte für Ovid noch eruieren könnte (dazu Forbes-Irving 1990, 7–37 und Loehr 1996, 51–67). Aemilius Macers verlorene Lehrdichtungen über Vögel, Schlangenbisse und Heilkräuter dürften für Ovids Epos wichtig gewesen sein, zumindest verweist er an anderer Stelle explizit auf diesen Dichter (trist. 4, 10, 43–44). Allerdings macht der Dichter gleich zu Beginn auch deutlich, dass er die hellenistischen Vorläufer übertrifft. Denn nicht nur einzelne – im Hellenismus oftmals entlegene – Ursprungsgeschichten, die in Form einer Epyllienkette aneinandergereiht werden, will Ovid bieten, sondern gleich am Ursprung des gesamten mundus beginnen. Damit tritt er eher in die Tradition einer naturgeschichtlich-kosmogonischen Epik seit Hesiods Theogonie (vgl. Myers 1994, 5–8 mit weiterer Literatur), jener carmina perpetua, die u. a. von Kallimachos als potentiell ermüdende ›Katalogdichtung‹ scharf abgewertet wurden. Und nicht zuletzt übertrifft die Dynamik einer ›fortlaufenden‹ Reihe von Verwandlungen die relative Statik einer poetisierten kallimacheischen Ursprungssage (dazu Myers 1994, 61–94) doch erheblich. Es würde sicherlich zu weit gehen, hier von einer Gattungsmischung zu sprechen, wie Ovid sie in anderen Werken, etwa den Heroides als Kreuzung aus elegischer Form und Figuren aus Tragödie oder Epos, unternommen hat, doch wird eine bewusste Modifikation des Werkes im Vergleich zu den Gattungs- und Dichtungstraditionen, in die er es hier einrückt, deutlich. – Man merkt: Hier stellt sich ein höchst selbstbewusster und selbstreflexiver Dichter als solcher gleich in den Einfluss (und unter den Schutz) aller Götter, zitiert geschickt die gängigste Poetologie seiner Zeit und legt diesem Zitat zugleich eine Geste des Übertreffens bei. Und er tut dies im Vorspann zu einem Werk epischen Ausmaßes, das aber (anders als die Gattungsvorbilder Ho­ mer, Apollonios von Rhodos, Vergil) kein fest umrissenes Thema wie den ›Zorn des Achill‹, die ›Irrungen des Odysseus‹ oder die ›Taten des Aeneas‹ vorgibt, sondern programmatisch ungreifbarer erscheint, indem es, mit dem Anspruch auf Innovation, Verwandlungen verspricht (Schmitzer 2001, 96; zum Wettstreit mit Vergils Aeneis s. Glei 1998; Papaioannou 2005; s. Kap. 8).

14.3 Werkbeschreibung Gemäß der Charakterisierung im Proömium gewinnt Ovids Epos mit seinen über 250 Verwandlungserzählungen zunächst durch den chronologischen Ablauf

seine Ordnung: Erschaffung des Kosmos und Genese des Menschengeschlechts (met. 1, 5–88), der (weithin rezipierte) Mythos von den vier Weltaltern (met. 1, 89–150), an dessen dekadentem Ende die verrohte und pietätlose Menschheit des ›eisernen Zeitalters‹ steht, personifiziert im grausamen und gottlosen Lycaon (met. 163–252); erste Vernichtung der Menschheit durch Jupiters Flut, worauf mit Deucalion und Pyrrha eine zweite (oder nach anderer Zählung: dritte) Entstehung der Menschen und Tiere einsetzt (met. 1, 253–437). An dieser Chronologie hält Ovid im Wesentlichen fest, indem er Gründungssagen (Cadmus, met. 3, 1–130; 4, 563–606) und andere bekannte Mythenkreise (Perseus, met. 4, 604–5, 235; Iason und Medea, met. 7, 1–403; Theseus, met. 7,404–8,610; Hercules, met. 9, 1–272) gemäß ihrer ›Zeitabfolge‹ präsentiert, die mitunter durch genealogische Zusammenhänge gestützt wird. Daran schließen sich ›historische‹ Mythen des Kriegs um Troia und, davon abgeleitet, der italisch-römischen Vorgeschichte an (Troia: met. 12, 1–13, 575; Aeneas: met. 13, 623–14, 608). Gerade in Letzteren tritt prägnant Ovids Wettstreit mit Vergils Aeneis zutage (s. dazu Baldo 1995; Glei 1998; Papaioannou 2005). Die Zeitabfolge mündet in eine Reihe von Mythen, die aus der römischen Geschichte im engeren Sinne stammen (met. 14, 805–15, 851), wobei am Ende eine starke narrative Raffung von der Zeit des Cipus zur Verstirnung des ermordeten C. Iulius Caesar erfolgt. Diese Zeitachse erhält zusätzlich ab dem dritten Buch mit dem Abschreiten eines geographischen Raumes von Theben über Athen nach Kleinasien und Troia, von dort über Delos und Italien nach Rom eine räumliche Substruktur, durch die zugleich die meisten der jeweils mehr oder minder als Abschweifungen eingelegten Mythenerzählungen mit dem Hauptstrang verknüpft werden. Mit einem elogium auf Augustus, in dem Ovid ihn, der Caesar noch übertreffe, mit einer Reihe von Heroen aus dem zurückliegenden Werk, Agamemnon, Theseus, Achilles, und gar mit Iuppiter selbst vergleicht, ist die Darstellung in der Gegenwart des Imperiums angelangt (15, 852–870). Das Werk schließt mit einer Dichter-Sphragis (dazu Spahlinger 1996, 27–50; zur Tradition: Peirano 2014), die paratextuell das Opus beglaubigt und in der Ovid – in deutlicher Anlehnung an Horazens Exegi monumentum aere perennius (Hor., carm. 3, 30, 1) – ewigen Nachruhm für Werk und Dichter beansprucht. Wie schon im Augustus-Lob sind auch hier subtile Rückgriffe auf das Epos vorhanden, etwa wenn »weder Iuppiters Zorn noch [seine] Feuerstrahlen noch Eisen noch das nagende

14 Metamorphosen

Alter« ihm etwas anhaben könnten (met. 15, 871– 872). Die Gewalten, die in den Metamorphosen drastische Wandlungen und Zerstörungen bewirkt haben, sollen dem Werk selbst nichts anhaben können, so dass es am Ende als das vermutlich einzige Unwandelbare (Ovid kalkuliert auch seinen eigenen Tod ein, met. 15, 583–584) in einer Welt aus Wandlungen Bestand hat. Dass Ovid diese Geltung für einen Raum, »soweit sich die römische Macht erstreckt« (met. 15, 877), beansprucht, lässt zum Schluss noch einmal politische Implikationen seines Epos anklingen, auf die noch zurückzukommen sein wird. Über die chronologische Abfolge hinaus, die immer wieder auch durch Vor- und Rückgriffe modifiziert werden kann, gestaltet sich eine inhaltlich-thematische Binnengliederung des Werkes schwierig, was zu kontroversen Diskussionen in der Forschung geführt hat. Da die einzelnen Mythen häufig die Buchgrenzen überschreiten (Cadmus, Perseus, Aeneas, auch die Erzählung von Phaeton, met. 1, 747–2, 339), scheint diese Einteilung kein echtes Ordnungsprinzip darzustellen, auch wenn sie vereinzelt noch so gesehen wird (von Albrecht 2000, 209–274). Als Alternativen wurden vorgeschlagen: eine Gliederung in zwölf ›Großteile‹ (Ludwig 1965), in drei Pentaden (im Anschluss an trist. 1, 1, 117: Rieks 1980, Bartenbach 1990) und eine musikalisch-symphonische Struktur, nach der bestimmte Themen ›angespielt‹ und durchgeführt werden, bevor sie wieder in den Hintergrund zurücktreten (Schmidt 1991). Dieser letztere Ansatz hat den Vorteil, offen genug zu sein, um die mannigfachen Arten der Binnenkomposition, die Ovid im Epos anwendet, zu integrieren. So nimmt er immer wieder gleichsam Rhythmuswechsel vor, und zwar sowohl im Blick auf die Komposition ganzer Bücher bzw. größerer Einheiten als auch in der Abfolge einzelner Mythen. In den Büchern 5, 7, 9, 12–13 und 15 stehen größere Erzählblöcke jeweils am Anfang des Buches, während die zweite Hälfte von einer Folge kürzerer, diverserer Mythen ausgefüllt wird. Dass damit häufig ein radikaler Wechsel des Sujets einhergeht, zeigt gleich das erste Buch, wo auf die großen kosmogonischen Themen von Schöpfung und Weltvernichtung in der zweiten Hälfte ein Reigen erotischer Göttermythen folgt (Apoll und Daphne, met. 1, 452–567; Iuppiter und Io, met. 1, 568–621; Pan und Syrinx, met. 1, 689–746), bevor Phaeton die Brücke zum zweiten Buch schlägt. Diese Struktur kehrt der Dichter aber z. B. im sechsten Buch um, wo zunächst eine Reihe kleinerer, ja immer kürzer werdender Mythenerzählungen begegnet (Arachne, met. 6, 1–145; Niobe, met.

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6, 146–312; Lykische Bauern, met. 6, 313–381; Marsyas, met. 6, 382–400; Pelops, met. 6, 401–411), bevor die düster-brutale Inzest-Geschichte um Tereus, Procne und Philomela (samt ihrer burlesken Variante, der Entführung Orithyias durch Boreas) in der zweiten Buchhälfte einen Block bildet (met. 6, 412–721). Solche Variationsbreite auf der Makroebene findet ihr Pendant auch in der Abfolge einzelner Mythen: So kann etwa ein Teil des Sagenkreises um den kretischen König Minos als lange, detaillierte und mit reichen Dialogen ausgeführte Verserzählung präsentiert werden (Nisus und Scylla, met. 8, 1–151), ein anderer gleich darauf als knapp geraffte, pointierte Zusammenfassung, wie etwa in vierzehn Versen die Geschichte von Pasiphae, die von einem Stier den Minotaurus empfängt – er selbst eine Art ›biologischer‹, aber stillgestellter Metamorphose zwischen Mensch und Tier (met. 8, 155–169). Wenn solche Verknappung an Stoffen vorgenommen wird, die bereits kanonisch bedichtet wurden, rückt abermals der poetische Wettstreit in den Vordergrund: Der Trojanische Krieg als von Homer und Vergil geprägtes Sujet wird in den Metamorphosen quantitativ umgewichtet (vgl. Hinds 1998, 104–106): So nehmen der kaum bekannte Stoff des Kampfes zwischen Achill und Cygnus (met. 12, 75–167) und die ›Hoplonkrise‹, also der Streit um die Waffen des toten Achill (met. 13, 1–381), deutlich mehr Raum ein als dessen Zorn und Tod (met. 12, 580–619). In den genannten Exempeln berühren einander Aspekte der Kompositionsweise und der narrativen Technik. Auf diese ist nun noch genauer einzugehen, da sie die Faktur eines Epos, insbesondere aber dieses Werkes, prägt. Während die überlieferten Epen vor Ovid sich durch eine relativ starke Erzählerstimme (des Rhapsoden) und nur selten mehr als einer Binnenerzählung (z. B. Hom., Od. 9–12; Verg., Aen. 2–3) auszeichneten, entfalten sich die Metamorphosen narrativ viel komplexer. Dazu ein Beispiel: Gegen Ende des fünften Buches berichtet die Nymphe Arethusa davon, wie sie beinahe vom Flussgott Alpheus vergewaltigt worden wäre, allerdings nach Sizilien entrückt worden sei (met. 5, 577–641). Diese Konstellation zwischen hilfloser Nymphe als Objekt des männlich-göttlichen Begehrens kann seit den entsprechenden Mythen um Apoll und Iuppiter im ersten Buch als eine Art ›Standardsituation‹ des Epos gelten, die als durchgehendes Thema immer wieder auftaucht. Auf das gefährliche Zusammentreffen, während sie im Fluss (des) Alpheus schwimmt, kommt Arethusa rasch zu sprechen:

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III Werk

Nescio quod medio sensi sub gurgite murmur territaque insisto propiori margine fontis, ›quo properas, Arethusa?‹ suis Alpheus ab undis, ›quo properas?‹ iterum rauco mihi dixerat ore. (met. 5, 597–600) (»Ich hörte mitten im Wasser tief unten ein Murmeln, erschrak und erstieg den Rand des nächstgelegenen Ufers. ›Wohin so eilig, Arethusa?‹ hatte Alpheus mir aus seinen Wellen mit rauer Stimme zugeraunt, und noch einmal: ›Wohin so eilig?‹«)

Im geschickten Spannungsaufbau der Verse, die auch klanglich die akustisch-raue Annäherung des Flussgottes sinnfällig machen, gibt die Nymphe die drohende Rede des Flusses direkt wieder, angezeigt durch dixerat. Soweit sieht es nach einer einfachen Binnenerzählung aus, die Fremdrede zitiert. Doch je weiter man den Kontext des fünften Buches einbezieht, desto komplexer wird die Struktur. Denn Arethusa erzählt ihre Geschichte der Ceres, die ihre gerade geraubte Tochter Proserpina sucht (met. 5, 341–662). Die Ceres-Erzählung wiederum wird als Gesang der Muse Calliope gekennzeichnet, den sie vor einer Gruppe von Nymphen anstimmt (met. 5, 316), wobei diese Szene abermals erzählt wird, nämlich von einer ungenannten Muse gegenüber Minerva (met. 5, 269– 678). Dies alles aber wird von Ovid auf mehr als 400 Versen präsentiert (met. 5, 250–678). Die beiden zitierten Sätze des Alpheus bettet er mithin narrativ in eine fünffache Rahmung ein, und jeder dieser Rahmen wird regulär geschlossen. Die Frage des Flussgottes, quo properas?, gilt sicherlich nicht für die Leser oder Zuhörer, die, von der Rahmenhandlung aus betrachtet, seit mehreren hundert Versen gewissermaßen auf der Stelle treten. Mag dies auch ein extremes Beispiel für erzählerische Verschachtelung in den Metamorphosen sein, so belegt es doch, dass Ovid hier und in anderen, weniger komplexen, aber im Grunde auf derselben Technik basierenden Passagen eine Vielstimmigkeit ins Epos einführt, die weit über die Gattungstradition hinausgeht. Hinzu kommt, dass für diese vier- bzw. fünffach gerahmte Struktur gezeigt werden konnte, wie die jeweilige Erzählerin auf jeder narrativen Ebene eine Agenda verfolgt, indem sie die Interessen und Erwartungen der jeweiligen Adressatin(nen) berücksichtigt: Arethusa erzählt ihre Geschichte – eine der wenigen, in denen die Vergewaltigung einer Nymphe erfolglos bleibt –, um Ceres zu suggerieren, dass auch ihre Tochter vor der Begierde des Unterweltgottes Dis, der

sie geraubt hat, noch gerettet werden kann. Calliope singt von Ceres und Proserpina, weil sie damit zum einen den Ursprung des Jahreszeitenwechsels erklärt, also ein veritables Aition liefert, zum anderen aber mit Arethusa eine Nymphe zur entscheidenden Figur für die Rettung der Proserpina macht; absichtsvoll, da ja auch ihre Zuhörerinnen Nymphen sind. Die ungenannte Muse erzählt von Calliopes Gesang, weil sie damit zum einen die Kunst ihrer Schwester herausstellen, zum anderen aber mit der Rettung sowohl Proserpinas als auch insbesondere Arethusas vor erotischen Übergriffen der Götter Minervas Position gegenüber Venus unterstützen kann (vgl. zur Deutung Barchiesi 2002, 188–195). Da also keineswegs auf jeder Ebene nur die ›organisierende‹ Stimme des epischen Rhapsoden präsent ist, kommt zur strukturellen auch eine inhaltliche Vielstimmigkeit hinzu, die Ovids Opus eine Modernität verleiht, wie sie Michail M. Bachtin im 20. Jahrhundert an den Romanen Dostoevskijs als ›Polyphonie‹ theoretisch beschrieben hat (s. Bachtin 1971; sowie zu intertextuellen Verflechtungen: Barchiesi 2001, 49–78). Dass solche Vielstimmigkeit im Einzelfall auch von bewusster Manipulation des Erzählten, lückenhafter Erinnerung kontaminiert werden kann (vgl. Williams 2009, 159–161 am Beispiel von Nestors Erzählung, met. 12, 182–579), lässt die innerfiktionale Authentizität der präsentierten Mythen selbst mitunter prekär erscheinen. Neben solchen subtilen Formen narrativer Binnenstrukturierung nutzt Ovid eine variationsreiche Anspielungstechnik, um den fünfzehn Büchern immer wieder Kohärenz zu verleihen, aber sie auch intertextuell mit anderen eigenen Werken und denen seiner Vorläufer und Zeitgenossen zu verknüpfen. So weist der Gesang der Calliope einerseits auf den homerischen Hymnus an Demeter zurück, andererseits auf die parallele Version des Mythos in Ovids Fasti (fast. 4, 502–562). Ein weiteres Beispiel für Ovids Umgang mit Allusionen sei angeführt: Nachdem im zehnten Buch Orpheus seine Eurydice endgültig verloren und sich daraufhin von der Frauen- auf die Knabenliebe verlegt hat (vgl. met. 10, 82–85), lässt Ovid ihn in einem Hain sein Lied anstimmen, welches das übrige zehnte Buch ausfüllen wird: Ab Iove, Musa parens, (cedunt Iovis omnia regno) carmina nostra move. Iovis est mihi saepe potestas dicta prius: cecini plectro graviore Gigantas sparsaque Phlegraeis victricia fulmina campis; nunc opus est leviore lyra, puerosque canamus dilectos superis, inconcessisque puellas

14 Metamorphosen ignibus attonitas meruisse libidine poenam. (met. 10, 148–154 ) (»Mit Iuppiter lass’, oh Mutter Muse, meinen Gesang beginnen (denn seiner Königswürde muss alles andere weichen)! Iuppiters Macht habe ich schon oft verkündet, habe mit ernsterem Plektrum von den Giganten gesungen und von den siegreichen Blitzen, die auf die phlegräischen Felder niedergingen. Jetzt braucht es leichtere Lyra-Klänge, und ich will Knaben besingen, die von Göttern geliebt wurden, und Mädchen, die, von verbotener Leidenschaft ergriffen, Strafe verdienten.«)

Dieser Liedeingang leitet nicht nur thematisch als Rahmen zu den folgenden erotischen Mythen um Ganymed, Hyacinthus, Pygmalion und andere über, sondern weist auch ein hohes Maß an Selbstreflexivität auf: Prominente Dichter- oder Sängerfiguren in Dichtungen laden immer dazu ein, als Maske des schreibenden Poeten selbst gelesen zu werden, und in der Tat holt Orpheus hier gewissermaßen den topischen Musenanruf nach, den Ovid in seinem knappen Pro­ ömium nur angedeutet hatte. Und auch Orpheus bestimmt daraufhin in fünf Versen den Gegenstand seines folgenden Gesanges näher. Dass er dabei die Figur der recusatio benutzt, also ankündigt, nunmehr in einer anderen Gattung als zuvor dichten zu müssen, rückt ihn in explizite Nähe zu Ovids unmittelbaren Vorläufern. So wählte Vergil in der sechsten Ekloge dieselbe Figur, um seine Hinwendung zur bukolischen Dichtung zu begründen (Verg. ecl. 6, 3 ff.), bei Properz und nicht zuletzt in Ovids eigener Elegik begegnet sie ebenso (z. B. Prop. 2, 34, 59–66; vgl. Ov. am. 1, 1, 1–4 und 2, 18). Implizit wird dieser Orpheus damit als augusteischer Dichter ausgewiesen, zumal er durch die recusatio einen Wechsel von der epischen Gattung, die Iuppiters Sieg über die Giganten preist, zur erotischen Kleindichtung markiert, was exakt dem ›neoterischen‹ Gebrauch dieser Figur bei den augusteischen Dichtern entspricht (und in Orpheus’ Fall noch einen misogynen Nebensinn aufweist). Dass der mythische Sänger ausgerechnet die Gigantomachie als Gegenstand seiner früheren Dichtung nennt, weist außerdem intratextuell auf das erste Buch der Metamorphosen zurück, wo Ovid selbst den Kampf gegen die schlangenfüßigen Riesen in sein Epos einflicht (met. 1, 151–162; vgl. met. 1, 182–186), nur in einer kurzen Passage zwar, aber doch unter expliziter Erwähnung von Iuppiters Blitzstrahl (154–155: misso perfregit ... fulmine), auf den auch Orpheus anspielt. Indem der mythische Sänger dieses epische Sujet

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durch eine »leichtere Dichtung« ersetzt, vollzieht er in dem Buch des Epos, mit dem das zweite Werkdrittel abschließt, exakt die merkwürdige thematische Wendung des ersten Buches nach, als auf Kosmogonie und Weltvernichtung die erotischen Eskapaden Apolls und Jupiters folgten. So fügen Ovids kunstvolle Reprisen und Anspielungen diesem Werk, das sich, wie beschrieben, strikten Gliederungen tendenziell widersetzt, immer wieder eine Struktur von Verweisen hinzu, die Lesern und Zuhörern unerwartete Durchblicke durch das dichte Geflecht aus Mythen ermöglichen und die mitunter – wie hier im Fall des Orpheus – Ovid einen selbstbewussten Vergleich mit dem mythischen Sänger erlaubt, dessen Lied Tiere, Pflanzen und Steine affiziert (berühmt: met. 10, 88–105).

14.4 Themen und Gehalt Wenn im vorigen Abschnitt auch einige thematische Aspekte bereits angesprochen wurden, so lässt die Fülle der fünfzehn Bücher doch eine kaum zu überblickende Themenvielfalt erkennen, aus der hier nur einige Schwerpunkte verdichtet angeführt werden können. Auf die das Epos durchziehende Thematik der Erotik, mitunter als inzestuöse Liebe (Myrrha, Byblis, Tereus, Procne und Philomela), häufiger aber als Begehren eines Gottes nach einer Nymphe inszeniert, wurde schon mehrmals verwiesen. Dass solches Begehren oft durch Blicke ausgelöst oder zumindest von solchen begleitet wird, verschränkt diese Thematik mit einer anderen, die in den Metamorphosen mannigfach präsent ist: Visualität (vgl. Salzmann-Mitchell 2005; zum ›epischen Blick‹ in den Metamorphosen auch Lovatt 2013, 101–104). Für sie ist vor allem (aber nicht nur) das dritte Buch besonders ergiebig. So ist es etwa die visuelle Neugier Semeles darauf, ihren Liebhaber in seiner wahren Gestalt zu sehen, die der Nymphe Verderben bringt, als Jupiter seine feurig-göttliche Gestalt ihrem Blick preisgibt (met. 3, 253–315). Dass sie damit zugleich Opfer einer List der eifersüchtigen Iuno wird, reichert den Mythos um eine subtile Intrigenhandlung an. Am berühmtesten und wirkmächtigsten in Literatur und bildender Kunst (vgl. hier die Rezeptionsartikel in Teil VI dieses Bandes) dürfte der ›verbotene Blick‹ des Actaeon auf die badende, notorisch jungfräuliche Diana sein (met. 3, 155–252; dazu, mit fruchtbaren Einsichten auch zur Visualität: Schwindt 2016). Im Gegensatz zu Voyeur-Szenen, wie sie spätere bildliche Darstellungen des Mythos oft präsentieren

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III Werk

(Tizian, Sadeler, Corot u. a.), spielt der Text mit Perspektiven: Zunächst ist nur vom erschrockenen Blick der Nymphen auf den Ankömmling die Rede (met. 3, 178–179: viso nudae sua pectora nymphae / percussere viro [»die Nymphen schlugen sich, als sie den Mann erblickten, an die Brust«]), sodann drückt sich der Blick passivisch im »Gesehenwerden« Dianas aus (3, 185: visae sine veste Dianae [»Dianas, die ohne Gewand gesehen wurde«]), während ihr Erröten durch einen elaborierten Vergleich visualisiert wird (3, 183– 184), um schließlich im Fluch Dianas, mit dem sie Actaeon in einen ängstlichen Hirsch verwandelt, nochmals passivisch thematisiert zu werden: (3, 192: ›nunc tibi me posito visam velamine narres‹ [»nun magst du erzählen, dass ich ohne Schleier erblickt wurde«]). Dass (und was) Actaeon eigentlich sieht, bleibt ungesagt, und das in einem fast theatralen Setting, dessen visuelle Eindrücklichkeit dem Leser eingangs schon vor Augen gestellt wurde: Vallis erat [...] cuius in extremo est antrum nemorale recessu arte laboratum nulla: simulaverat artem ingenio natura suo, nam pumice vivo et levibus tofis nativum duxerat arcum (met. 3, 155–160) (»Da war ein Tal [...], in dessen äußerstem Winkel sich eine waldumstandene Grotte befindet, die durch keinerlei Kunst angelegt wurde; die Natur hatte aus eigener Schöpferkraft eine künstliche Anlage vorgetäuscht, denn sie hatte aus lebendigem Bimsstein und leichteren Tuffarten einen natürlichen Bogen gespannt.«)

Mittel rhetorischer Evidenz suggerieren dem Leser bis in die Art des Gesteins einen visuellen Eindruck der Landschaft, der zugleich in ein intrikates Wechselspiel von Künstlichkeit und Natürlichkeit eingebunden erscheint: Natur ›simuliert‹ Kunst, was aber gerade durch die Kunst des Versbaus, etwa das nachgeschobene nulla sowie die Rahmung des vorletzten Verses durch ingenio und vivo ausgedrückt wird. Das sinnfällige Bild für die Leser-Imagination wird mit einer Reflexion über das (rhetorische?) Verhältnis von Künstlichkeit und Natürlichkeit verbunden, unmittelbar bevor Dianas ›natürliche‹ Schönheit vom unglückseligen Jäger erblickt, dieses Sehen aber durch ein höchst kunstvolles Spiel mit Perspektiven präsentiert wird. Noch enger sind Fragen nach der Künstlichkeit oder Natürlichkeit des Anblicks und der Wirkmacht des Blickens verwoben in den Episoden über Narcissus, der sein eige-

nes Spiegelbild als Kunstwerk, »wie eine Marmorstatue« (met. 3, 419), erblickt und sich in ihm verliert, und über Pygmalion, der sich in sein Kunstwerk, die marmorne Frauen-Statue, verliebt und von Venus erwirkt, dass das Objekt lebendig, also nachträglich ›natürlich‹ werde (met. 10, 243–297). Probleme visueller Wahrnehmung an sowohl Landschaften als auch Kunstwerken, wobei Kunst mitunter Natur simulieren kann und umgekehrt, bilden mithin einen wichtigen Themenkomplex des Epos (vgl. neben dem Klassiker Segal 1969 auch Rosati 1983 und Hinds 2002). Mit dem visuellen Aspekt von Kunstwerken können – ähnlich, wie es oben am Eingang von Orpheus’ Gesang beobachtet wurde – stets auch poetologische Reflexionen verknüpft werden. Generell wurden poetologische Implikationen verschiedener Mythen, etwa Apolls Verfolgung Daphnes, bereits eingehend untersucht (Spahlinger 1996, Holzberg 1999, je mit weiterer Literatur), so dass hier ein Exempel für die poetologische Aufladung des visuell vermittelten Kunst(hand) werks genügen kann: der Zweikampf zwischen Minerva und Arachne. Er wird nicht mit Waffen, sondern Weberschiffchen ausgefochten, denn in der ArachneEpisode zu Beginn des sechsten Buches will Minerva, die als Göttin nicht nur für Kriegskunst und Wissenschaft, sondern auch für die Webkunst zuständig ist, ihre Überlegenheit gegenüber der Sterblichen beweisen, deren Ruhm ausdrücklich auf ihre Handwerkskunst zurückgeht (met. 6–7–8: non illa loco nec origine gentis / clara, sed arte fuit. [»Nicht für ihren Stand oder die Herkunft ihres Geschlechts war diese berühmt, sondern für ihre Kunst.«]). Im eigentlichen Wettstreit (6, 53–145) stellen die Kontrahentinnen jeweils ein vielfarbiges und mit Gold durchwirktes Gewebe her, das als textus immer schon poetologisch auf poetische Texte anspielt, in denen es vorkommt. Beide Weberinnen wählen zudem Metamorphosen als Bildsujets, so dass mit Recht hierin eine Selbstreflexion auf ›Texte‹ über Verwandlungen, mithin auf Ovids Epos insgesamt gesehen wurde (vgl. u. a. Feeney 1991, 190–194, Vincent 1994 und Feldherr 2002, 174–177). Später im sechsten Buch wird Ovids stumme Procne explizit das Weben als Analogon des Schreibens verwenden (vgl. met. 6, 401–674). Während Minerva ihrer Intention gemäß sich selbst, und zwar als Siegerin sogar über Neptun bei der Gründung Athens, in den Mittelpunkt rückt, versieht sie die Eckfelder mit vier Verwandlungen, durch die Götter Menschen für ihre Hybris straften (met. 6, 85–100). Diese Darstellung ist ausdrücklich als leicht ersichtliche Warnung an Arachne intendiert (met. 6, 83–84),

14 Metamorphosen

doch diese lässt sich nicht beeindrucken. Ihr Gewebe bietet nicht weniger als neun Verwandlungen Iuppiters, sechs Verwandlungen Neptuns, vier Apolls und jeweils eine des Bacchus und des Saturn, wobei alle Götter ihre Tarnung nutzen, um sich gewaltsam sterblicher Frauen zu bemächtigen (met. 6, 103–128). Wie Arachne die Doppelgestalt der in Verwandlung begriffenen Götter abbilden kann, sprengt womöglich die Grenzen bildlicher Darstellbarkeit, dass sie es kann, daran lassen die Verse keinen Zweifel (met. 6, 121–122). Form und Inhalt dessen, was je die göttliche und die menschliche ›Autorin‹ präsentieren, könnten unterschiedlicher kaum sein: In fünf Bildfelder geordnet, zeigt Minervas Gewebe die Götter (v. a. sie selbst) in ihrer Macht, die Menschen aber als Unterworfene; Arachnes ungleich unübersichtlichere, dezentralisierte Bildfolge hingegen beleuchtet die Leiden der Menschen unter den Übergriffen der Götter: auf der einen Seite ›augusteische‹ Ordnung und Hierarchie, die wohl intermedial auf den Athener Parthenon anspielt (Vincent 1994, 364–366); auf der anderen ›hellenistische‹, parataktisch gereihte Miniaturen (teils in Halbversen), die ungeordnet und daher unbegrenzt erweiterbar erscheinen. Beide Darstellungen hängen allerdings direkt mit den Metamorphosen zusammen: Arachne webt mit ihren Vergewaltigungs-Szenen gewissermaßen am ›roten Faden‹ des gesamten Epos, auch entstammt deren erste der Europa-Sage (vgl. met. 2, 833–875); Minervas Szenen finden sich zwar nicht im Epos, allerdings entspricht die Lorbeer-Borte, mit der sie ihren Teppich vollendet (met. 6, 102: [is modus est] operisque sua facit arbore finem – »(so ist’s genug) und schließt mit ihrem eigenen Baum das Werk ab«), funktional einer ›Sphragis‹, mit der auch Ovid seine fünfzehn Bücher beschließt. Zur poetologischen Reflexivität tritt hier abermals das Thema Visualität hinzu, denn Ovid präsentiert beide textilen Werke in ausführlichen ekphraseis, rhetorisch modellierten Beschreibungen von Kunstwerken, die zur Tradition des Epos gehören (vgl. z. B. Verg. Aen. 1, 450– 490; Catull 64), deren Stil hier jedoch dem des jeweiligen Textils angepasst wird. Ovids Dichtersprache kann also diese Werke bildender Kunst, ihren kontrastiven formalen und inhaltlichen Qualitäten zum Trotz, gleichermaßen angemessen simulieren, ganz so, wie die Natur des Actaeon-Settings Kunst simulieren konnte und wie Arachnes Kunst offenbar Natur simulieren kann (met. 6, 104): Verum taurum, freta vera putares (»man hätte den Stier für echt, die Wellen für real halten können«), kommentiert der epische Erzähler Arachnes Abbildung Europas.

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Auch wenn die zornige Minerva schließlich Arachnes versatiles Kunstwerk zerstört; auch wenn sie die Gegnerin bestraft, sodann begnadigt und in eine Spinne verwandelt (met. 6, 131 und 6, 135–136, 145), muss sie die überragende ästhetische Qualität dieses ephemeren Gewebes doch anerkennen (met. 6, 129–130). Bei aller poetologischen Reflexivität kann Ovid allerdings kaum eindeutig Minervas oder Arachnes Position zugeordnet werden (vgl. Vincent 1994, 379 mit weiterer Literatur). Sein Text-Gewebe kann eben beides darstellen, kann Metamorphosen im Sinne Minervas als Garanten kosmologischer, und das heißt eben auch göttlicher, Ordnung, andere aber als Belege für göttliche Übergriffe inszenieren (zur Polyvalenz der Verwandlungen im Epos s. Feldherr 2002; Feldherr 2010, 26–45). Und doch ist die Bestrafung Arachnes mit der Verbannung Ovids in Zusammenhang gebracht worden (Ahl 1985, 235), was die Frage nach politischen Aspekten in den Metamorphosen aufwirft. Vor allem in jüngerer Zeit sind vermehrt feministische Deutungen bzw. solche aus Sicht der Gender-Studies unternommen worden (u. a. Richlin 1992, Sharrock 2002, SalzmannMitchell 2005, Lovatt 2013), die nicht nur für das im Epos stets wiederkehrende Thema der Gewalt gegen Frauen fruchtbar werden können, sondern auch für jene Mythen, die in eine Geschlechts-Metamorphose münden (Tiresias, Iphis, Caenis/Caeneus, Hermaphro­ ditus). Als dominant kann aber nach wie vor die Frage nach Ovids Verhältnis zu Augustus und zu politischen Verhältnissen des Prinzipats gelten: Es wurde eine Reihe von zeitgeschichtlichen Bezügen in den Metamorphosen ausgemacht (Schmitzer 1990) und versucht, Ovids ›Position‹ gegenüber Augustus aus dem Epos heraus zu bestimmen (Lundström 1980, Barchiesi 1994, Urban 2005 u. a.), wobei insbesondere die Analogie Iuppiters mit dem princeps, die früh im Werk auftaucht (met. 1, 204–205), sich als eher ambivalente Grundlage herausgestellt hat. Zwar kann ein Vergleich des höchsten Gottes, der Lycaon bestrafen will und sich dafür auf die Treue seiner Götterversammlung (die überdies wie eine Senatsversammlung erscheint) verlassen kann, mit dem princeps, der in allen öffentlichen und privaten Bereichen des imperium Ordnung schafft, als durchaus positiv gelten. Doch ist die Analogie zu Iuppiter einmal etabliert, fügen sich die erotischen Eskapaden des Gottes mit Io, Semele, Europa etc. nur sehr schwer zur eher konservativen Geschlechter- und Ehepolitik des Augustus, ja unterminieren sie womöglich. Immerhin lud Ovid in seiner Exildichtung Augustus ausdrücklich zur Lektüre der Metamorphosen ein

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III Werk

(trist 2, 559–560). Im Epos selbst lässt sich die Konzentration von Vergöttlichungen und Verstirnungen, also erhöhenden Verwandlungen, römischer Heroen wie Aeneas (met. 14, 581–608), Romulus und Hersilia (met. 14, 805–851) oder Caesar (met. 15, 745–851), in der Vorausschau sogar Augustus’ selbst (861–870) als klares Bekenntnis zur römischen Staatsideologie deuten (vgl. Tissol 2002, v. a. 311–312). Andererseits werden diese Apotheosen auf den zweiten Blick nicht ohne ambivalente Details präsentiert (vgl. Williams 2009, 165–168): Nicht die Gründung Roms qualifiziert Romulus zur Vergöttlichung, sondern die Intervention des Mars bei Iuppiter (met. 14, 774–775 und 14, 812– 815); ob Caesars militärische Erfolge oder seine Adoptivvaterschaft des Augustus seine Verstirnung rechtfertigten, muss angesichts einer ambivalenten Formulierung zumindest offen bleiben (met. 15, 750–758). Es bleibt das Gewebe der Arachne präsent, das metatextuell als ganz andere Version von Verwandlungen in scharfem Kontrast zu Minervas geordneter Darstellung göttlicher Hierarchie mit Iuppiter (implizit: Augustus) im Zentrum steht. Was am Streit der Weberinnen zu konstatieren war, dürfte auch für die Suche nach einer politischen ›Aussage‹ in den Metamorphosen gelten: Ovid zeigt, dass er Affirmation und Subversion beherrscht, und bewegt sich damit souverän im literarischen Feld augusteischer Dichtung. Herrscherlob kann sich dadurch allerdings auf den zweiten Blick als ambivalent herausstellen. Und umgekehrt: Mochte die Sphragis des Dichters auch keine Furcht vor dem Blitzstrahl des Iuppiter zeigen, so konnte Augustus durch dessen Relegation 8 oder 9 n. Chr. seine Karriere in Rom doch abrupt beenden. Dennoch sollte der Dichter (bis heute) das letzte Wort behalten. Denn seine Metamorphosen bilden in ihrer programmatischen formal-stilistischen Vielgestaltigkeit, in der kontinuierlichen Reflexion über Poetologie, Visualität, Poesie und bildende Kunst, in ihrer Aufnahme naturphilosophischer Spekulationen (vgl. die Pythagoras-Rede, met. 15, 60–478) und nicht zuletzt in ihrer ambivalenten Verknüpfung von politischer und erotischer Gewalt einen unausschöpflichen Quell für Lektüren und Interpretationen, der Ovids Nachruhm weitaus stabiler halten wird als die jahrhundertelange Rezeption als ›Enzyklopädie der Mythen‹. Literatur

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Jost Eickmeyer

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III Werk

15 Fasti 15.1 Entstehung und Überlieferung Ovids elegisches Langgedicht über den römischen Kalender, eine »mit keinem anderen Werk der römischen Literatur vergleichbare[n] Dichtung« (Bömer 1957 I, 11), ist vermutlich etwa zeitgleich zu den Metamorphosen entstanden, also kurz nach der Publikation des dritten Buchs der Ars amatoria und der Remedia amoris im Zeitraum von 2 bis 8 n. Chr. Anders als das Epos der Verwandlungen sind die Fasti allerdings mit ins Exil gereist und wurden dort (geringfügig) überarbeitet, was man in der modernen Forschung besonders an den beiden ersten Buchproömien festmacht (Fantham 1986; Fantham 1998, 1–4 zum Folgenden): Die Vorrede in Buch 1 ist Germanicus gewidmet, dem Neffen des Tiberius und (durch Adoption) Enkel des Augustus, der bis zum Tod Ovids der designierte Nachfolger des Tiberius war und selbst 19 n. Chr. jung starb; Buch 2 beginnt mit einer Ansprache an Augustus, und diese Passage ist nach der Revisionsthese erst im Exil (vermutlich nach dem Tod des Prinzeps 14 n. Chr.) vom Werkbeginn an diese Stelle gewandert, um für das Lob des Germanicus Platz zu machen, von dem sich Ovid nun Unterstützung für seine Rückkehr nach Rom versprochen habe. Außerdem gibt es in den Fasti einige auf das Exil hindeutende oder dieses explizit ansprechende Stellen, wie etwa die Verse fast. 4, 81–84, wo auch die Fasti an einer literarischen Autobiographie der ovidischen persona mitarbeiten: Sulmonis gelidi, patriae, Germanice, nostrae.     me miserum, Scythico quam procul illa solo est! ergo ego tam longe – sed supprime, Musa, querellas:     non tibi sunt maesta sacra canenda lyra. (»Sulmo, das kühle – meine Heimat, Germanicus, ist es! / Weh mir! Wie weit entfernt liegt es vom skythischen Land! / Also muss ich so weit – doch laß deine Klagen jetzt, Muse! / Heiliges singst du, nicht darf traurig die Lyra jetzt sein!«)

Diese Verse sind im Klageton der Exildichtung verfasst, von dem sich der poetische Sprecher jedoch rechtzeitig zurückruft. Innerhalb des Gesamtwerks unterscheiden sich die Fasti so auch deutlich von den späten Dichtungen, in denen gerade durch die häufig festgestellte Distanz zu Rom und die Szenen der Einsamkeit ein starker, durchweg präsenter Ich-Sprecher im Vordergrund steht und eine neue Form der ›per-

sönlichen‹ Dichtung konzipiert wird. Greift diese Schaffensphase Ovids somit auf die ebenfalls subjektiv perspektivierten Liebesdichtungen der Amores und die Briefmonologe der Heroides zurück, bleibt der Sprecher der Fasti wie auch der Metamorphosen dagegen meist im Hintergrund, und das Sujet nimmt den gesamten Raum ein. Gleichwohl sind Anschlüsse an Ovids elegisches Frühwerk auch in den Fasti an vielen Stellen evident – so etwa im vierten Buchproöm an Venus, der das Ich als Göttin der Liebe und damit Inspiration für die Liebesdichtung stets treu bleibe (fast. 4, 8): tu mihi propositum, tu mihi semper opus (»Dich hab’ ich ständig im Sinn, dich nur – was immer ich tu’!«). Die Verbannung ans Schwarze Meer ist nach Meinung der meisten Forscher auch der Grund dafür, dass die Fasti nur zur Hälfte erhalten oder gar nur in diesem Umfang verfasst worden sind. Die Diskussion über die Bedeutung des Ausdrucks »sechs fasti und ebensoviele[n] Bücher« in den Versen trist. 2, 549–552 ist bis heute nicht abgeschlossen; die Nutzung einer der Grundfiguren der Fasti jedoch, nämlich dass »Buch«, also der Text des Kalendergedichts, und »Monat«, also die beschriebene Zeit, gleichzeitig ablaufen, weist darauf hin, dass in dieser Passage der Tristia nur von sechs Monaten die Rede ist: sex ego fastorum scripsi totidemque libellos,     cumque suo finem mense uolumen habet, idque tuo nuper scriptum sub nomine, Caesar,     et tibi sacratum sors mea rupit opus.  (»Ich habe sechs Kalender und ebenso viele Büchlein geschrieben, und mit ihrem Monat hat die Buchrolle ihr Ende; und dieses kürzlich unter deinem Namen, Caesar, geschriebene Werk, dir geweiht, hat mein Schicksal unterbrochen.«)

Der zweite dieser Verse greift den letzten Vers des ersten Fasti-Buches auf (1, 724, cumque suo finem mense libellus habet; darauf weist Fantham 1998, 2, Anm. 1 hin, sieht allerdings einen »false claim of completion«, also den Verweis auf vorgebliche zwölf Bücher darin). Vermutlich wurden nie mehr als die erhaltenen sechs Bücher geschrieben; allerdings gibt es in diesen Büchern einige Vorverweise auf Feste der zweiten Jahreshälfte (z. B. fast. 3, 199–200 mit Verweis auf den August; 5, 147–148 mit Verweis auf den Dezember), was zumindest den Plan der Vollendung des Werks wie des Kalenderjahres wahrscheinlich macht. Der Text der Fasti ist in rund 170 Handschriften überliefert, getrennt sowohl von der frühen Elegie

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_15

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Ovids als auch den Metamorphosen und der Exildichtung. Laut der maßgeblichen Ausgabe von 1978 sind fünf Textzeugnisse besonders bedeutsam, die bis auf eines, das aus dem 15. Jahrhundert stammt, auf das 10. und 11. Jahrhundert n. Chr. zurückgehen (Alton/ Wormell/Courtney 1997 [1978], xiii; s. dazu Bömer 1957 I, 51–52; Fantham 1998, 49–51; Robinson 2011, 19–20).

15.2 Gliederung und Inhalt Die sechs Bücher der Fasti beinhalten je einen Monat des römischen Jahres und besprechen, einem linearen, chronologischen Schema von Tag zu Tag folgend, sowohl die großen Feste des Kalenders – wie etwa die Lupercalia am 15. Februar (fast. 2, 267–446), Matronalia am 1. März (3, 167–258), Cerealia am 19. April (679–712), Parilia am 21. April (721–862), Floralia vom 28. April bis zum 2. Mai (5, 183–378) und viele mehr – als auch kleinere festliche Anlässe wie den Namenstag des pater patriae Augustus am 5. Februar (2, 119–144) oder Tempelstiftungstage wie den des Tempels für Mars Ultor am 12. Mai (5, 549–598). Dieser Themenkomplex ist tatsächlich an den römischen Wandkalendern orientiert (die fasti, eigentlich dies fasti, wie die »Spruch-« oder Gerichtstage im Gegensatz zu den dies nefasti, den Ferientagen genannt wurden, geben dem römischen Kalender seinen Namen) und hat mit seinem Erklärungsanspruch den Charakter eines antiquarisch-exegetischen Kommentars zum römischen Festjahr. Die Ursprungserklärung bzw. -erzählung (Aitiologie; s. Kap. 38) ist dabei das probate Mittel und verknüpft die erklärungsbedürftigen Feste, rätselhaften Bräuche und unverständlich gewordenen Namen der Gegenwart mit einer konstitutiven Vergangenheit meist des mythischen Roms der Königszeit oder der frühen Republik. Ovid nutzt dieses Potential einer fiktionalen Konstruktion römischer Vergangenheit in den Fasti stets für die Ausgestaltung eines poetischen Kalenderkommentars, der sich der kreativen Dynamik römischer Religionsexegese bedient (Beard 1987, Scheid 1992). Wie schon aus der Themenankündigung des ersten Distichons hervorgeht (fast. 1, 1: tempora cum causis Latium digesta per annum / lapsaque sub terras ortaque signa canam; »von der Erklärung der Zeiten, wie quer durch das Jahr sie die Römer / Ordnen, und von des Gestirns Kommen und Gehn singe ich«), stehen in den Fasti jedoch auch die Sterne bzw. die Sternbilder im Fokus der Erklärung. Bisweilen nur

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als astronomische Notiz zum jeweiligen Datum des Auf- oder Untergangs etwa der Lyra (5. Januar, fast. 1, 315–316) oder der Hyaden (17. April, fast. 4, 677– 678) genannt, bieten sie oftmals ebenso wie die Kalenderphänomene Anlass zu aitiologischen Erzählungen, den sogenannten ›Verstirnungssagen‹ (katasterismoi; s. Kap. 37) wie etwa die Geschichte von Arion und dem Delfin, der als Lohn für seine Rettung des mythischen Sängers an den Himmel versetzt wurde (2, 79–118). Hinzu kommen Wetternotizen, die über ihre narrative Scharnierfunktion hinaus oftmals auch Symbolcharakter haben, etwa wenn nach der Geschichte der Vergewaltigung der Lucretia und der Beendigung der römischen Königszeit durch den Aufstand des Brutus (erzählt aus Anlass des Tags der ›Königsflucht‹, dem Regifugium am 24. Februar; fast. 2, 685–852) die Schwalbe als Vorbotin des Frühlings genannt wird: Der aitiologische Sprecher fragt sich an dieser Stelle (2, 853–856), ob sie nicht fürchtete, »daß der Winter noch mal wiederkehrt« (nec metuit ne qua versa recurrit hiems; 2, 854), da es Ende Februar eigentlich noch zu kalt sei und sich Tereus, ihr Mann, freuen werde, »wenn dann die Kälte dich beißt« (856). Die mythologische Geschichte von Procne, Philomela und dem grausamen Tereus, als Erzählung einer Metamorphose zu Vögeln dem Leser des ovidischen Epos bekannt (met. 6, 412–674), wird an dieser Stelle mit der Wetternotiz überblendet. Das Motiv der »Vorschnelligkeit« (nimium properasse, fast. 2, 855), die zur Bestrafung kommt, steht so gleich nach der Erzählung des willkommenen Endes der Republik, auf das die konsularische Ordnung folgte (851–852, Tarquinius cum prole fugit: capit annua consul / iura: dies regnis illa suprema fuit; »Fliehn muß Tarquinius mit den Söhnen; die Konsuln erhalten / Jährlich das Amt: In Rom gibt’s keinen König seitdem«), was die Möglichkeit einer impliziten Kritik der Herrschaftsform im Prinzipat, die an das Königtum erinnere, als Lesart dieser Stelle durchaus eröffnet (Barchiesi 1997 bietet zahlreiche solcher kritisch-subversiven Lesarten der Fasti). Die Fasti folgen so dem Ablauf des Jahres entlang all dieser Ereignisse, die verschiedene Kalender in der Antike verzeichneten. Der aitiologische Sprecher befindet sich gleichsam stets an dem Punkt der Zeit, der gerade beschrieben wird, wodurch er wie ein Reporter die bunten römischen Feste mit ihren jeweiligen Ritualen wiederzugeben imstande ist. Dass Text und Zeit also sozusagen ›simultan‹ ablaufen (Volk 1997) – dabei allerdings auch Spannungen entstehen, wenn etwa nicht genug Zeit für die Besprechung des einen Festes

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bleibt, da etwa der Gott des nächsten Monats schon dränge (so Mars am Ende des zweiten Buches, fast. 2, 857–862) –, ist die narrative Grundfigur des Textes. Die Monate geben so den Umfang der einzelnen Bücher vor, wenngleich die Ausgestaltung und quantitative Gewichtung der Zeit und ihrer Segmente ästhetischen Kriterien vorbehalten bleibt; zudem weisen die Monate einen inhaltlichen Rahmen (Braun 1981; Pasco-Pranger 2006, 112–116 bezeichnet die Monate als ›Kategorie‹), was besonders an den Büchern 3 und 4 deutlich wird: Der März ist der Monat des Mars und enthält somit viele episch ausgestaltete Episoden, in denen der Kriegsgott selbst oder sein Sohn Romulus eine Rolle spielen (Hinds 1992); der April wird in den Fasti der Göttin Venus zugeeignet, die am Anfang einer Reihe weiblicher ländlicher Gottheiten steht, denen die Feste in diesem Monat geweiht sind und die besonders als Bürgen einer agrikulturell-friedlichen römischen Kultur angerufen werden (Fantham 1992; Pasco-Pranger 2006, 126–173).

15.3 Analyse Die Fasti stellen wie nahezu alle Werke Ovids ein innovatives Gattungsexperiment (s. Kap. 8) dar und vereinen sowohl Elemente des Lehrgedichts, das im Anschluss an die Aitia des Kallimachos und die Sternendichtung des Arat wohl als die maßgebliche Textart gesehen werden kann (Miller 1992), als auch elegische Motive und Denkfiguren sowie, in der Nachfolge besonders der vergilischen Aeneis, epische Erzählformen und Inhalte (Fantham 1998, 4–25). Das Bewusstsein eines Spagats zwischen elegischer Form und staatstragendem, also in der hellenistischen Gattungssystematik dem epischen Hexameter zugeordnetem Inhalt wird etwa in der gespielten Bestürzung des poeta am 5. Februar deutlich, jenem Gedenktag zu Ehren des Augustus als pater patriae (fast. 2, 123– 126): deficit ingenium, maioraque viribus urgent:     haec mihi praecipuo est ore canenda dies. quid volui demens elegis imponere tantum     ponderis? heroi res erat ista pedis. (»Mir gebricht’s an Talent, und die Last übersteigt meine Kräfte; / Wird doch für diesen Tag höchste Gesangskunst verlangt! / Warum wollte ich Tor den elegischen Versen so schwere / Last auferlegen? Die trägt nur der heroische Vers!«)

Das Sujet der Fasti überschreitet an vielen Stellen das, was sonst im Metrum (s. Kap. 25) der römischen Elegie, dem elegischen Distichon, dargestellt wird. Allein der Hexameter (pes herous ist der geläufige lat. technische Begriff dafür) Homers, der als Archeget epischer Dichtung in den Versen direkt vor der zitierten Passage explizit aufgerufen wird, hätte das »Gewicht« dieses Themas besser tragen können, so die selbstreflexiv-poetologische Aussage der Verse. Genau darin liegt nun aber, im Anschluss an Properz’ viertes Elegienbuch, das novum des Kalendergedichts, dass es den Geltungsbereich der Elegie erweitert und die Pose der recusatio (›Verweigerung‹) aus der frühen Elegie, am gesellschaftlich akzeptieren Leben wie Dichten nicht teilnehmen zu wollen, ins Produktive umkehrt (DeBrohun 2003). Dies belegt auch das programmatische Distichon 1, 13–14 des Proöms: Caesaris arma canant alii: nos Caesaris aras / et quoscumque sacris addidit ille dies (»Caesars Waffen solln andre besingen – von Caesars Altären / Künd’ ich, von Tagen, die er Festen hinzugefügt hat«). Damit wird von Anfang an eine Opposition von epischer Dichtung und eigener religiös-kultureller Dichtung gesetzt – das Neue der Elegie ist nun, dass auch sie einen Dienst am Kaiserhaus darstellen soll. In diesem Sinne reflektieren ähnlich die Verse fast. 2, 7–10, welche Stellung das Kalendergedicht sowohl werkbiographisch einnimmt als auch in seiner gesellschaftlichen Funktion beanspruchen kann – dazu wird die elegische Figur der militia amoris, eines »Kriegsdienstes der Liebe« aufgerufen, wodurch die Erklärung des Festkalenders zu einem kulturellen ›Waffendienst‹ gedeutet wird: idem sacra cano signataque tempora fastis:     ecquis ad haec illinc crederet esse viam? haec mea militia est; ferimus quae possumus arma,     dextraque non omni munere nostra vacat. (»Jetzt sing’ von Festen ich, die im Kalender als heilig markiert sind: / Wer würde glauben, ein Weg führt von dorther nach hier? / Hier bin Soldat ich und bin meinem Können entsprechend bewaffnet: / Meine Rechte, sie tut also durchaus ihre Pflicht!«)

In dieser neuen aitiologischen Elegie geht es zuvorderst um kulturelle Wissensvermittlung (s. Kap. 43) und die Teilnahme der Literatur an der Neubestimmung der römischen Identität im Prinzipat, zu der auch die Arbeit am Kalender gehörte. Zum Zweck dieser Wissensvermittlung nimmt der Sprecher der Fasti oft selbst die Rolle eines nach Erklärungen Suchenden

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an – er wird zum ›Interviewer‹ von Göttern und zum Referenten von Streitgesprächen unter Musen (Miller 1983, Barchiesi 1991). Prominent an erster Stelle des Jahres wie auch des Werks steht ein solches Gespräch mit dem doppelgesichtigen Gott Janus (fast. 1, 89– 298; dazu Hardie 1991), der verschiedene Fragen zum Jahresanfang (etwa: ›Warum werden am 1. Januar Geldgeschenke verteilt?‹; ›Warum ist der 1. Januar nicht den gesamten Tag über ein Feiertag?‹) im aitiologischen Modus beantwortet und so selbst zum Kalendererklärer wird. Janus bzw. seine ›Janusköpfigkeit‹, die in dieser Passage der Fasti in Ausdrücken wie bina ora (»mit doppeltem Haupt«, Vers 96) oder ante quod est in me postque videtur idem (»Scheint mein hinten und vorn ein und dasselbe zu sein«, Vers 116) beschrieben wird, wurde von der Forschung wiederholt als Sinnbild für die poetische, gerade die gattungspoetologische Anlage des Textes gedeutet – bisweilen auch für die oftmals schwer zu bestimmende politische Aussage oder gar die hermeneutische Offenheit des gesamten Textes (s. etwa Martin 1985, 261; Hardie 1991, 62–64; Newlands 2002, 215). Durchaus kann man in der ovidischen Verwendung dieser ›binär‹ angelegten Figur eine Nutzung der römischen religiösen Ikonographie und deren Exegese als kongeniales Denkangebot für sein literarisches Projekt sehen: Die Polaritäten des augusteischen Diskurses (wie etwa Krieg/Frieden; Staatsführung/Kunst) und zugleich der Herausbildung des hellenistisch–augusteischen Literatursystems (s. Kap. 1), in Ovids Werk bis in die letzte Konsequenz durchdacht und schließlich aufgelöst (Hinds 1992), werden über das Bild eines Kopfes, der zwei Gesichter und damit zwei Seiten oder Gegensätze vereint, greifbar. In der Kosmogonie aus dem Mund des Janus gleich zu Beginn des Textes wird dies als die grundlegende Gedankenfigur der Fasti eingeführt – ähnlich, wie die grundlegende Figur der Metamorphosen, nämlich Wandel aller Dinge sowie die Verwischung, ja Überschreitung von Grenzen, schon in der parallel zu den Fasti angelegten Kosmogonie am Beginn des Verwandlungsgedichts vorgestellt wird (met. 1, 21–51; die Kosmogonie des Janus steht in den Versen fast. 1, 103–112; Fowler 1995, 13; s. Kap. 84). Die Fasti spielen wieder und wieder die Setzung von Oppositionen und deren dialektische Auflösung durch und machen deutlich, wie kontingent Unterteilungen und Wertungen sind. So sind in der Anfangsgeschichte der römischen Kalenderkonstitution (konzise in den Versen fast. 1, 27–44 erzählt, in größerer Breite im dritten Buch, V. 73–166) die Antipoden der ersten beiden Könige Romulus und

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Numa Pompilius maßgeblich – der eine militärischexpansiv, der andere friedlich-religiös orientiert: Romulus’ ›primitives‹ Zehnmonatsjahr ist laut dieser Passage einem engen Fokus auf den kriegerischen Sieg über die Nachbarn zuzuschreiben; Numa erst war es, der religiöse Kulte aus dem Sabinerland nach Rom einführte und auch den Kalender reformiert, nämlich um die fehlenden zwei Monate erweitert habe (fast. 1, 43–44). Beide Extreme einer kulturellen Ausrichtung Roms werden in der Darstellung der Fasti allerdings gerade von den zumeist positiv bewerteten Kulturherrschern Julius Cäsar (mit seinem Verdienst der Kalenderreform von 45 v. Chr.) und Augustus (mit seinem Wiederaufbau der römischen Tempel) vereint (fast. 3, 155–156, sed tamen errabant etiam nunc tempora, donec / Caesaris in multis haec quoque cura fuit, »Doch die Berechnung stimmte auch jetzt noch nicht, bis neben vielen / Sorgen in seinem Bereich Caesar auch die auf sich nahm«; 2, 59–60, cetera ne simili caderent labefacta ruina / cavit sacrati provida cura, »Daß nicht andere auch Ruinen sind, davor hat sie / Unser erhabener Fürst wachsamen Auges geschützt«). Die Setzung von Grenzen und die damit einhergehende Ordnung (s. Kap. 44) wird in den Fasti etwa auch durch die Darstellung des Gottes Terminus (des »Grenzsteins«) ins Bild gesetzt, der in den Versen 639–684 aus Anlass der Terminalia am 23. Februar angerufen wird. In dieser Passage wird sein ländliches Fest, an dem ihm von zwei angrenzenden Schollen Blumenkränze und einfache Opfergaben dargebracht werden, in bunten Farben beschrieben, und seine Funktion wird bestimmt als die eines Garanten von Stabilität (fast. 2, 659–662): tu populos urbesque et regna ingentia finis     omnis erit sine te litigiosus ager. nulla tibi ambitio est, nullo corrumperis auro,     legitima servas credita rura fide. (»Grenzen gibst du den Völkern, den Städten und mächtigen Reichen; / Ohne dich gäbe stets Ackerland Anlaß zum Streit. / Ehrgeiz kennst du nicht, läßt durch Gold dich niemals bestechen, / Hütest gesetzestreu Land, das man dir anvertraut hat«).

Das Zusammenkommen der Bauern, das eine kurzzeitige Auflösung der Gegensätze impliziert, ist die Voraussetzung für Frieden und Streitlosigkeit und kann im Duktus dieser Passage nur durch eine solche Gestalt geschaffen werden, die wie Janus eine ›Einheit in Zweiheit‹ darstellt. Durch solche Vermittlung von

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III Werk

Oppositionen wird an vielen Stellen der Fasti concordia, »Eintracht«, geschaffen, was am deutlichsten wird, als ebendiese Göttin im Streit um die Etymologie des Juni zu Anfang des sechsten Buches selbst erscheint und als Schlichterin zwischen Juno (die den Monat für sich beansprucht, was etymologisch korrekt wäre) und Iuventas (der personifizierten Jugend, deren Name als zweite mögliche Ableitung eingeführt wird) auftritt, nur um daraufhin selbst einen eigenen Vorschlag in der Diskussion zu machen (6, 91–96): venit Apollinea longas Concordia lauro     nexa comas, placidi numen opusque ducis. haec ubi narravit Tatium fortemque Quirinum     binaque cum populis regna coisse suis, et lare communi soceros generosque receptos,     ›his nomen iunctis Iunius‹ inquit ›habet.‹ (»Concordia kam, mit dem Lorbeer Apolls in den langen Haaren, / Gottheit und Werk unseres Herrschers zugleich. / Diese erzählte von Tatius und von dem tapfren Quirinus: / Miteinander versöhnt hätten zwei Reiche sie und / Schwiegervater und -söhn am gemeinsamen Herde vereinigt. / ›Nach dem Bund‹, sagte sie, ›wurde der Juni benannt.‹«)

Die Geschichte vom Raub der Sabinerinnen, von der der Leser der Fasti – samt der Auflösung des epischmilitärischen Streits, der durch elegisch-emotional auftretende Frauen in der Mitte zwischen den zwei Heeren von Römern und Sabinern geschlichtet wurde – in Buch 3 (V. 177–228) schon gelesen hat, wird von Concordia als Aitiologie einer Ableitung des Iunius von iungere, »vereinen« aufgerufen (6.96); sie skizziert den Konflikt ähnlich wie das friedliche Aufeinandertreffen der angrenzenden Gutsbesitzer und ihrer Anhängerschaft in der Terminus-Passage. In Anlehnung an die – in den Fasti wichtigen, in Vers 6, 92 auch politisch aufgeladenen – Figur der Concordia wird Terminus zu einer entscheidenden Größe in der Konstitution des Landlebens und im Finale der TerminaliaPassage auch des gesamten römischen Reiches aufgewertet. Zunächst im krassen Widerspruch zum Diskurs über friedlich zu haltende Grenzen, der in der bisherigen Passage im Vordergrund stand, affirmiert das abschließende Distichon Roms Willen zur Beherrschung des Erdkreises, die nur, das wird impliziert, nur durch die Bewahrung der inneren Grenzen und Ordnung möglich sei (683–684): gentibus est aliis tellus data limite certo: / Romanae spatium est urbis et orbis idem (»Andere Völker haben ein Land mit fester

Begrenzung; / Rom und der Erdkreis jedoch haben dasselbe Gebiet!«). Wie sich an diesen Beispielen zeigt, stehen die zunächst disparaten und nur am Lauf des Jahres verbundenen Episoden der Fasti so durch die poetische Faktur, die formalen und sprachlichen Entscheidungen miteinander im Dialog, wenngleich an jedem neuen Tag und bei jedem Fest wieder ein anderer Fokus, ein weiterer Erläuterungsbedarf besteht. So nutzen die Fasti die an der Erklärung des Kalenders perspektivierte Darstellung der römischen Kultur durchweg zur Herstellung eines mit den Fäden der antiken Literaturgeschichte gesponnenen Teppichs der neuen augusteischen Identität.

15.4 Rezeption in der Antike Wie oben angedeutet stellen die Fasti in ihrer Konzeption als literarischer Kommentar zum römischen Kalender ein Unikat dar; erst das Mittelalter (mit Kommentaren zu den Fasti; s. Alton/Wormell 1960) und die Frühe Neuzeit bis zum 17. Jahrhundert (mit einer christlichen Version der poetischen Begleitung des Festjahres; dazu Miller 2003) zeigen eine philologische sowie künstlerisch-rezipierende Beschäftigung mit diesem ovidischen Werk, die an die Nachwirkung der Metamorphosen bisweilen heranreicht (Kilgour 2014). Einzelne Aspekte, textliche Verfahren sowie viele isolierte Verse und Junkturen werden jedoch auch kurz nach dem Erscheinen aufgegriffen und entfalten, gerade was die Zeitsymbolik und die Plausibilisierung einzelner antiquarisch-religiöser Themen und Figuren angeht, ein Nachleben schon in der Antike. Dies lässt sich wiederum an der Bedeutung des Gottes Janus in Ovids Gedicht und seinem Stellenwert für das Jahr und dessen Anfangspunkt – damit auch dem Anfangspunkt, der ›Eröffnung‹ des Gedichts selbst – zeigen, die etwa in einem Gedicht des Statius aufgegriffen wird, dessen Sammlung der Silven zwischen 89 und 96 n. Chr. entstanden ist. In Silvae 4, 1, dem Initialgedicht des Buches, ist Janus wiederum, und noch prononcierter als in den Fasti, der Eröffner von Gedicht(Buch) und Jahr, der Vater des Kalenders und der Zeit – in Ausdrücken, die Ovids Sprache eines Beginns aufnehmen und kreativ umschreiben: Man vergleiche nur silv. 4, 1, 44–47, sic Ianus, clausoque libens se poste recepit. / tunc omnes patuere dei laetoque dederunt / signa polo (»so sprach Janus, und zog sich gefällig zurück, als die Tür geschlossen war. Da standen alle Götter offen da und gaben dem fröhlichen Himmelspol

15 Fasti

ihre Zeichen«) mit fast. 1, 117–118, quicquid ubique vides, caelum, mare, nubila, terras / omnia sunt nostra clausa patentque manu (»Was du auch ringsum erblickst – Meer, Himmel, Wolken und Erde –, / Alles mit eigener Hand öffn’ ich und mach’s wieder zu«). Eine »Öffnung« des Jahres, bei Ovid dem Janus vorbehalten, wird in diesem Widmungsgedicht allerdings dem Kaiser Domitian selbst zugeschrieben (silv. 4, 1–2–4): insignemque aperit Germanicus annum, / atque oritur cum sole novo, cum grandibus astris / clarius ipse nitens et primo maior Eoo (»Germanicus öffnet das ausgezeichnete Jahr und geht selbst mit der neuen Sonne auf, mit den erhabenen Sternen, selbst heller leuchtend und größer als die erste Morgenröte«). Für einen anderen Germanicus, den Enkel des Augustus, hatte dies in den Fasti noch der Gott als Patron des Jahres geleistet (fast. 1, 63–64): ecce tibi faustum, Germanice, nuntiat annum / inque meo primum carmine Ianus adest (»Sieh, Germanicus, dir verkündet ein Jahr voller Segen / Janus; in meinem Gesang tritt auch als erster er auf«). Wie es in der antiken Rezeption der Fasti häufig geschieht, werden die ovidischen antiquarisch-exegetischen Zuschreibungen solcher Art eindeutiger gemacht – Janus, vor Ovid noch Gott aller möglichen Anfänge (und Türen), ist nun unumstößlich der ›Gott der Zeit/des Jahres‹ (silv. 4, 1, 11: immensi reparator maximus aevi, »größter Erneuerer der unermesslichen Ewigkeit«) –, und der zu erklärende Gegenstand des Kalendergedichts, hier der Gott Janus und seine Verbindung mit dem Jahresanfang, sind dem Lob des Adressaten untergeordnet, der gleichsam die zeitlich-kalendarische wie auch die literarästhetische Funktion als Gedichtinitiator von Janus übernimmt. Literatur

Alton, E. H./Wormell, D. E. W.: Ovid in the Medieval Schoolroom. In: Hermathena 94 (1960) 21–38. Alton, E. H./Wormell, D. E. W./Courtney, E.: Ovidius, Fasti. Leipzig 1997 [1978]. 1997 [1978]. Barchiesi, Alessandro: Discordant Muses. In: PCPS 37 (1991), 1–21. Barchiesi, Alessandro: The Poet and the Prince. Ovid and Augustan Discourse, Princeton 1997 (ital. 1994]. Beard, Mary: A Complex of Times. No More Sheep on Romulus’ Birthday. In: PCPS 33 (1987), 1–15. Bömer, Franz: Publius Ovidius Naso, Die Fasten. 2 Bde. Heidelberg 1957–1958.

111

Braun, Ludwig: Kompositionskunst in Ovids ›Fasti‹. In: ANRW II 31/4 (1981), 2344–2383. DeBrohun, Jeri B.: Roman Propertius and the Reinvention of Elegy. Ann Arbor 2003. Fantham, Elaine: Ovid, Germanicus, and the Composition of the ›Fasti‹. In: PLLS 5 (1986), 243–281. Fantham, Elaine: Ceres, Liber and Flora. Georgic and antiGeorgic Elements in Ovid’s ›Fasti‹. In: PCPhS 38 (1992), 39–56. Fantham, Elaine: Ovid, ›Fasti‹ 4. A commentary. Cambridge 1998. Fowler, Don P.: From Epos to Cosmos. Lucretius, Ovid, and the Poetics of Segmentation. In: D. Innes/H. Hine, C. Pelling (Hrsg.): Ethics and Rhetoric. Classical Essays for Donald Russell on his Seventy-Fifth Birthday, Oxford 1995, 1–18. Hardie, Philip: The Janus Episode in Ovid’s ›Fasti‹. In: MD 26, 1991, 47–64. Hinds, Stephen: Arma in Ovid’s ›Fasti‹. Part 1: Genre and Mannerism. In: Arethusa 25/1 (1992), 81–112; Arma in Ovid’s ›Fasti‹. Part 2: Genre, Romulean Rome and Augustan Ideology. In: ebd., 113–153. Kilgour, Maggie: The Poetics of Time. The ›Fasti‹ in the Renaissance. In: John F. Miller/Carole E. Newlands: A Handbook to the Reception of Ovid. Malden 2014, 217– 231. Martin, Christopher: A reconsideration of Ovid’s ›Fasti‹. In: ICS 10 (1985), 261–274. Miller, John F.: Ovid’s Divine Interlocutors in the ›Fasti‹. In: Latomus 180 (1983), 156–192. Miller, John F.: The ›Fasti‹ and Hellenistic Didactic. Ovid’s Variant Aetiologies. In: Arethusa 25/1 (1992), 11–31. Miller, John F.: Ovid’s ›Fasti‹ and the Neo-Latin Christian Calendar Poem. In: International Journal of the Classical Tradition 10 (2003), 173–186. Newlands, Carole: Mandati Memores. Political and Poetic Authority in Ovid’s ›Fasti‹. In: Philip Hardie (Hrsg.): The Cambridge Companion to Ovid. Cambridge 2002, 200– 216. Pasco-Pranger, Molly: Founding the Year. Ovid’s Fasti and the Poetics of the Roman Calendar. Leiden/Boston 2006. Robinson, Matthew: A Commentary on Ovid’s ›Fasti‹, Book 2. Oxford 2011. Scheid, John: Myth, Cult, and Reality in Ovid’s ›Fasti‹. In: The Cambridge Classical Journal 38 (1993), 118–131. Stok, Fabio: Ovidio e l’anno de dieci mesi. In: L ’Astronomia a Roma nell’età augustea. Università degli studi Lecce 1989, 57–89. Volk, Katharina: Cum carmine crescit et annus: Ovid’s ›Fasti‹ and the Poetics of Simultaneity. In: TAPA 127 (1997), 287–314.

Christian Badura

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III Werk

16 Ibis 16.1 Entstehung und Überlieferung ›Ich befinde mich im Exil‹ – diese Information teilt uns der Verfasser des Ibis zu Beginn des Gedichtes mit. Sein Gegner aber, der Adressat der Invektive, weile unterdessen in Rom. Weitere spärliche Angaben zum Kontext der Abfassung entnehmen wir ebenfalls dem Proöm des Ibis; so sei Naso – Ovids Selbstbezeichnung mit seinem Beinamen – zur Zeit der Niederschrift etwa 50 Jahre alt. Abgesehen von diesen werkimmanenten Verweisen auf Zeit und Ort sind wir jedoch auf den intertextuellen Vergleich zu anderen Texten aus Ovids Œuvre angewiesen, da uns keine zeitgenössischen Quellen zum Entstehungs- oder Veröffentlichungsprozess des Ibis überliefert sind. Ovids Autobiographie (trist. 4, 10; s. Kap. 2) lässt uns wissen, dass er 43 v. Chr. geboren wurde. Da der Verfasser des Ibis schreibt, dass er schon 50 Jahre gelebt habe, und sich relegatus (»relegiert«, »verwiesen«) nennt, können wir das Gedicht in die Zeit von Ovids Verbannung, genauer zwischen 8 und 12 n. Chr. datieren. Der Ibis reiht sich damit ein in das corpus der Exildichtung, welches aus Tristien, Epistulae ex Ponto und Halieutica besteht. Teilweise wird der Zeitraum der Verschriftlichung noch weiter eingeschränkt: Die Arbeit an den Tristien habe schon auf dem Weg ins Exil nach Tomis begonnen, zudem ließen sich Abhängigkeiten zwischen den Werken feststellen, so dass die Entstehung des Ibis zeitlich versetzt etwas später vermutet werden könne oder zumindest in Teilen parallel verlaufen sei. Das Datum läge demzufolge zwischen 10 und 12 n. Chr. (vgl. Leary 1990). Auch der Hinweis, dass das Genre der Invektive bereits in den Tristien angelegt und im Ibis in ein eigenes Werk überführt worden sei, wird in diese Diskussion aufgenommen (vgl. Williams 1992, 172–173). Solche Theorien zu den Umständen der Abfassung beruhen jedoch auf Informationen, die den literarischen Texten selbst entnommen wurden, und sollten daher mit Vorsicht behandelt werden. Wurde die Autorschaft Ovids aus Mangel an begleitenden historischen Zeugnissen zeitweise auch angezweifelt, wird sie inzwischen wieder breit angenommen. Überliefert ist der Text des Ibis in mehreren Handschriften aus dem 12. und 13. Jahrhundert, die sich in zwei (vgl. Keeline 2016, 96) oder drei Gruppen (vgl. La Penna 1957, LXXVI–CL) aufteilen lassen. Die Identität des Adressaten, der durchgängig mit dem Pseudonym ›Ibis‹ angesprochen wird, entzieht sich der eindeutigen Zuweisung: Wir können dem

Text kaum konkrete Aussagen über ihn entnehmen, die meisten davon sind zusätzlich tief in den Kontext des Fluchgedichtes eingewoben und in Metaphern gekleidet (vgl. Gordon 1992, 49). Trotz der literarischen Natur dieser Informationen mangelt es aber nicht an Vorschlägen zur Identifikation des Ibis. Die Vermutungen reichen dabei von einem Feind, der »much too good to be true« (Housman 1920, 316) sei (und damit erfunden), über Ovids Musen (vgl. Krasne 2012, 24–27) bis hin zu Augustus selbst (vgl. Schiesaro 2011), auf dessen Befehl Ovid verbannt wurde. Da die Vorwürfe gegen Ibis zwar vehement formuliert werden, aber inhaltlich vage bleiben, bietet Augustus als Verursacher von Ovids Exil zumindest einen geeigneten ›Täter‹, dessen Vergehen eine Verfluchung auf sich ziehen könnte (s. Kap. 4). Aufgrund der Beibehaltung der Anonymität innerhalb des Gedichtes müssen solchen Thesen aber Spekulationen bleiben.

16.2 Werkbeschreibung Mit 644 Versen an Flüchen hinterlässt der Ibis einen bleibenden Eindruck. Grob lässt sich das Gedicht in zwei ungleich große Hälften teilen: Beginnend mit einem Proöm (1–66) werden im ersten Teil (67–250) Einzelsituationen geschildert, die den Verfasser und die Person Ibis in verschiedenen Rollen imaginieren. Es folgt als zweiter Teil ein Fluchkatalog (251–638), in dem unterschiedlichste, aus Mythologie und Geschichte geschöpfte Todesarten auf Ibis herabge­ wünscht werden. Das Gedicht wird mit einer coda (639–644) beschlossen. Wenn sich der erste Teil des Ibis aufgrund seiner Vielfalt an Themen auch einer eindeutigen Gliederung entzieht, lassen sich dennoch inhaltliche Einschnitte erkennen (vgl. Krasne 2016, 150–152). Im Proöm stellt sich Naso mitsamt Alter und Aufenthaltsort vor (1–6). Ibis wird eingeführt und als Antagonist gekennzeichnet (7–30); als Vergeltung für seine Untaten wird ihm ewige Rache geschworen und, sollte er nicht von Ovid ablassen, die Denunziation in einem Folgegedicht angedroht (31–66). Damit die Flüche ihre erhoffte Wirkung zeigen, werden sämtliche göttliche Instanzen um Hilfe gebeten (67–94). Im Folgenden spricht Ovid als Priester zu Ibis, welcher sich auf seine eigene Opferung vorbereiten soll (95–126). Bevor der Ritus jedoch durchgeführt wird, bricht die Szene ab. Naso ergeht sich stattdessen in neuen Drohungen: Auch wenn Ovid schon vor Ibis sterben sollte, wird er ihn weiter verfolgen, und selbst im Tod soll Ibis nicht weniger

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_16

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Qualen leiden als zu Lebzeiten (127–208). Dass Ibis’ Leben von Anfang an verflucht war, erfahren wir aus der geschilderten Geburt, die den Säugling u. a. mit Schlangengift eingerieben und mit Hundemilch gesäugt sieht (209–238). Als Überleitung (239–250) zwischen den Hälften fungiert die Ankündigung, dass Ibis eine tränenreiche Zukunft vor sich habe; ihm wird auch mitgeteilt, welcher vates (»Seher«, »Dichter«) sein Leiden besingen wird: Ovid selbst. Der zweite Teil des Gedichtes wird dominiert durch eine Aneinanderreihung mythhistorischer exempla (»Beispiele«). Beinahe jeder Vers behandelt dabei ein eigenes Beispiel, manche sogar die Unglücksfälle mehrerer Personen. Durch die enge Verbindung zwischen den dargestellten Schicksalen und ihren fließenden Übergängen ist die Unterteilung in längere Passagen kaum möglich (vgl. Krasne 2016, 153–155). Stattdessen lassen sich aber sogenannte ›Sub-‹ oder ›Mini-Kataloge‹ erstellen, die auf ihre Verknüpfung hin untersucht werden können. Ein geeignetes Merkmal ist dabei oft, wenn auch nicht immer, die Todesbzw. Unglücksart (vgl. Bernhardt 1986, 376–395); zu Beginn des zweiten Teils lässt sich etwa ein ›Subkatalog von Geblendeten‹ identifizieren (259–272). Erschwert wird die genaue Abgrenzung durch die Überlappung der verknüpfenden Elemente. Der ›Minikatalog von Autoren, deren Werke ihnen zum Verhängnis wurden‹ (519–526), durchzieht das Gedicht in den Unglücksfällen weiterer Künstler bis zum klimaktischen Ende des Fluchkatalogs – Ovids eigenem Exil (636–637). Damit verwoben finden wir weitere Cluster, z. B. die wiederkehrenden Gefahren ›Ertrinken‹ (589–594) und ›Verbrennen‹ (601–606). Nur teilweise sind deren Opfer aber ebenfalls Autoren, so dass der Subkatalog vorübergehend von anderen Schilderungen überlagert wird. In sich geschlossene, unverbundene Abschnitte lassen sich im Fluchkatalog daher kaum feststellen. Zum Abschluss des Ibis rekurriert die coda in einer Ringkomposition auf den Beginn des Gedichtes (vgl. Schiesaro 2011, 90; Krasne 2016, 158– 159): Das bisher Geschriebene wird als pauca (»wenig«) bezeichnet und ein weiteres Werk angekündigt, das noch mehr (Flüche) enthalten solle.

16.3 Analyse Als Invektive stellt sich der Ibis in eine umfangreiche Tradition: Zum einen die der Flüche an sich, zu denen alltägliche ebenso wie Verwünschungen etwa aus dem religiösen Kontext gehören. Als Sonderform kennen

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wir außerdem die defixiones, Fluchtäfelchen, mit denen der/die Kontrahent/in »gebunden« (defigere) und verflucht werden konnte. Auch hellenistische arae (»Flüche«), in Gedichte überführt, werden als Vorbilder gesehen. Diese verschiedenen Formen des Fluchens haben eigene Gattungskonventionen, standardisierte Themen und Phraseologien herausgebildet, deren Merkmale sich im Ibis wiederfinden; die eindeutige Zuweisung des Gedichtes zu einer Gattung wird durch die Vermischung der Elemente allerdings erschwert (vgl. Watson 1991, 194–216). Ein Vorbild gibt Ovid jedoch selbst an – Kallimachos: nunc, quo Battiades inimicum devovet Ibin, / hoc ego devoveo teque tuosque modo (»jetzt aber verfluche ich dich und die Deinen so, wie der Battiade seinen Feind Ibis verflucht«, 55–56). Kallimachos wird – ganz so wie die exempla im Fluchkatalog – nicht mit Klarnamen, sondern mit Patronym (Battiades, nach dem Namen seines Vaters Battus) benannt. Über die Abhängigkeit zu Kallimachos’ Werk, das, auf Griechisch verfasst, ebenfalls mit Ibis betitelt wird, ist viel spekuliert worden (s. Kap. 6). Da Kallimachos’ Gedicht jedoch nicht überliefert ist, müssen wir uns auf Ovids Aussagen verlassen, wenn er meint, dass er seinen eigenen Ibis »wie jener [...] in dunkle Geschichten hüllen« und dessen ›Verrätselungstechnik‹ übernehmen will (57– 59: illius ambages imitatus). Im Verschweigen von Kallimachos’ Namen sehen wir diese Programmatik umgesetzt. Ebenso bleibt der Name von Ovids Antagonisten – Ibis – unbekannt. Diese Anonymität wird explizit und bewusst beibehalten (9: nomen adhuc utcumque tacebo; 61–62; 95; 643): Weder Taten noch Identität des Ibis sollen im Gedicht genannt werden, und zwar zu dem Zweck, ihm später, in einem möglichen Folgegedicht, ›wirklich‹ zu schaden (53–54). Für diesen Schlag möchte Ovid nicht auf die mächtige Waffe der Denunziation verzichten, auch wenn er weiß, dass ein Fluch den Klarnamen beinhalten müsste, um Wirkung zu zeigen (93–94). Bei dieser Fokussierung auf Identität und ihre Bedeutung fällt die Nennung des eigenen Namens umso mehr auf: Naso schreibt sich mit dem Mittel der ›Sphragis‹ (»Siegel«) selbst in den Text und entwirft sich so als Gegenpol zu Ibis. Das, was er seinem Gegner als ultimum androht, nimmt er für sich selbst direkt zu Beginn des Gedichtes (2) vorweg. Auf dem ›Schlachtfeld‹ der Dichtung (vgl. trist. 5, 12, 52) entblößt er sich, wobei diese entwaffnende Offenheit zugleich ein Angriff auf Ibis ist: Ovid gibt sich moralisch überlegen und ganz gönnerhaft, wenn er meint, dass er Ibis eine Schonfrist gewähre, während dieser ihn

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III Werk

nicht nur in Rom verunglimpfe (14), sondern sogar in größter Not verraten habe (19–20). Nasos eigene Identität gerät jedoch immer wieder ins Wanken (vgl. Williams 1996, 55–80): So nimmt er zu Beginn des Gedichtes eine Datierung vor, wobei er selbst den Bezugspunkt dieser Zeitangabe darstellt (1: Tempus ad hoc lustris bis iam mihi quinque peractis: »Bis zu diesem Zeitpunkt – und ich habe jetzt schon zweimal fünf Lustren hinter mir –«). Ibis befinde sich zu dieser Zeit in Rom, so erfahren wir, während Ovid exiliert sei (11–14). In der folgenden Opferungsszene jedoch ist Ovid der sacerdos (»Priester«), der sich bereitmacht, den anwesenden Ibis zu opfern. Die als ›real‹ dargestellten Orte scheinen damit aufgelöst, der Priester unterliegt nicht denselben Gesetzen wie Naso. Noch drastischer wird dieses Phänomen in der Überleitung zum Fluchkatalog: In einer mise en abyme wird der Beginn des Ibis aufgegriffen (241: tempus in inmensum: »bis in unermeßliche Zeiten«), aber in sein Gegenteil verkehrt (vgl. Hinds 1999, 63–65; Krasne 2012, 9–10). Es ist nicht mehr die Rede von der ›Jetztzeit‹, sondern von der unendlichen Zukunft – einer Zukunft aber, die schon längst vorüber ist. Denn die geschilderte Situation ist die der Geburt des Ibis, eines inzwischen erwachsenen Mannes. Ovid legt unterdessen die persona (»Maske«) des Dichter-Propheten (vates) an (s. Kap. 20), für den weder Ort noch Zeit bindend ist (vgl. Williams 1996, 101). Als solcher kündet er dann auch von Ibis’ zukünftigem Leben: Schmerzen, Leiden, unzählige Tode, wieder und wieder. Auch der Fluchkatalog greift auf das Spiel mit Identitäten und Namen zurück. Es begegnet uns nämlich wieder ein Battus, nicht aber Kallimachos’ Vater, sondern der alte Mann, der Merkur verriet: utve soror Pelopis, saxo dureris oborto, / ut laesus lingua Battus ab ipse sua (»und wie die Schwester des Pelops sollst du zu einem neu entstehenden Felsen erstarren, wie Battus auch, der selbst Opfer seiner eigenen Zunge wurde«, 585–586). Die Schwester des Pelops ist Niobe, die das Schicksal der Versteinerung mit Battus teilt, daher können wir ihn (auch wenn sein Verbrechen nicht ausgeführt wird) als den Verräter identifizieren, der sein Versprechen gegenüber Merkur gebrochen hat (vgl. met. 676–707). Zusammen bilden sie einen ›Minikatalog von Versteinerten‹. Doch klingt an dieser Stelle zugleich ein weiterer Battus mit: Der Gründer von Kyrene, König Battus I, verletzte sich zwar nicht mit seiner eigenen Zunge, war aber für seinen Sprachfehler bekannt. Die enge Stellung von lingua und Battus im Pentameter begünstigt die durch den Namen hervorgerufene Assoziation. Kallimachos, dem Batti-

des, wiederum wird nachgesagt, von König Battus abzustammen. Damit wäre der unterliegende ›Subkatalog von Künstlern und Sehern‹, der bereits in Vers 519 einsetzt, durch die Namensgleichheit ›Battus‹ fortgeführt, ohne dass das Schicksal von König Battus oder Kallimachos’ Vater Battus selbst angesprochen wird (vgl. Krasne 2012, 21). Die Homonymie perpetuiert den Katalog und verweist gleichzeitig immer wieder auf den ersten Teil des Gedichts, sie schlägt Brücken zu bereits Angedeutetem. So bindet sich Ovids eigenes Schicksal, verarbeitet im letzten Distichon des Fluchkatalogs (637–638), nicht nur in den ›Subkatalog der Künstler und Seher‹ ein – als Künder von Ibis’ Schicksal nimmt er diese Doppelrolle des vates an –, sondern iteriert auch das Proöm. Bereits zu Anfang des Gedichts erfahren wir, dass er sich ›am eisigen Ursprung des Nordwindes‹ verstecken wolle (11–12). Entwirft diese Metapher schon eine lebensfeindliche Umgebung, steigert der letzte Fluch gegen Ibis noch ihre Wirkung: denique Sarmaticas inter Geticasque sagittas / his, precor, ut vivas et moriare locis (»schließlich, darum bete ich, sollst du mitten unter sarmatischen und getischen Pfeilen hier in dieser Gegend leben und sterben«, 636–637). Das Exil ist bar jeder Deckung; wie Ovid den Schutzschild seiner Anonymität abgelegt hat, soll auch Ibis keinen Rückzugsort haben, sondern der Unwirtlichkeit und dem Pfeilhagel der Feinde in Leben wie Tod wehrlos ausgeliefert sein. In Waffenmetaphorik verhaftet feuert das Gedicht Flüche in Salven auf Ibis ab. Dass Ovid zuletzt verkündet, dass es sich bei diesen Geschossen lediglich um provisorische gehandelt habe und bald mehr und noch mehr (plura, 641; 643) folgen werden, mutet dann fast schon komisch an (vgl. Helzle 2009, 188–190).

16.4 Rezeption in der Antike Länge, Sujet und Ausführung machen den Ibis zu einem Unikat in der antiken lateinischen (Fluch-)Dichtung. Einige strukturelle und thematische Anschlüsse lassen sich bei Ovid selbst, in den Tristien finden: Während der Brief an Augustus (trist. 2) dem Ibis nicht nur im Umfang gleicht (es sind diese die längsten Einzelgedichte des Exilcorpus), wird in beiden Werken u. a. Ovids Ruf im Verhältnis zu seinem literarischen output verhandelt (vgl. Williams 1992, 172; Schiesaro 2011, 86–89). Trist. 4, 9 teilt sich mit dem Ibis die Anonymität eines Gegners, gegen den beide

16 Ibis

Gedichte gerichtet sind; ob es sich dabei aber um dieselbe Person handelt, bleibt unklar. Eindeutige Belegstellen für die Rezeption des Ibis bei anderen Autoren sind rar. Seneca scheint in den Phoenissae auf das Oxymoron des ›lebenden Toten‹ (vgl. Ov. Ib. 16; Sen. Phoen. 94–98) anzuspielen. Ebendieser Vers des Ibis ist jedoch in der Textkritik umstritten (vgl. Keeline 2016, 106). Auch in anderen Werken werden insbesondere Bilder des Unglückes aus dem Ibis entlehnt: Martial rezipiert in Epigramm 10, 5, einer Invektive gegen andere Dichter, wohl u. a. das Schicksal des Sisyphos nach der Darstellung im Ibis. Aus der appendix Ovidiana (s. Kap. 19) ist es die Nux, in der wir nicht nur ähnliche Bilder finden, sondern teilweise wörtliche Übereinstimmungen. In einer Fülle von erklärenden Scholien wurde zudem der Obskurität des Ibis beizukommen versucht (vgl. Gatti 2014, 103–163). Literatur

Bernhardt, Ursula: Die Funktion der Kataloge in Ovids Exilpoesie. Hildesheim 1986. Gatti, Pierluigi L.: Ovid in Antike und Mittelalter. Geschichte der philologischen Rezeption. Stuttgart 2014. Gordon, Carol J.: Poetry of Maledictions: A Commentary on the ›Ibis‹ of Ovid. Hamilton, Ontario 1992.

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Johanna Schubert

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III Werk

17 Tristien

17.2 Inhalt und Analyse

17.1 Einleitung

Dichtung und Politik

Ovids Tristien, geschrieben zwischen 8 und 12 n. Chr., umfassen 50 Elegien in insgesamt fünf Büchern. Gemeinsam mit der Invektive Ibis und den Briefen vom Schwarzen Meer (Epistulae ex Ponto) gehören sie zum Spätwerk des wahrscheinlich 17 n. Chr. verstorbenen Dichters, der laut eigener Aussage als Fünfzigjähriger, im Jahr 8 n. Chr., ans Schwarze Meer nach Tomis, einer Stadt am Rande des römischen Imperiums, verbannt worden war (trist. 4, 10, 95–98). Laut Ovid handelte es sich bei der durch Kaiser Augustus veranlassten Verbannung um eine relegatio (vgl. trist. 2, 137); Ovid konnte demnach Besitz und Bürgerrecht behalten. Anlass war ein nicht näher benannter error sowie ein carmen (trist. 2, 207), möglicherweise die einige Jahre zuvor publizierte Ars amatoria. Zuverlässige externe Zeugnisse, die Ovids Aufenthalt in Tomis belegen könnten, existieren nicht. Alle Informationen, die wir gewinnen können, basieren auf den oben genannten Werken Ovids. Eines der großen Forschungsprobleme kreist um die Frage, ob Ovid tatsächlich verbannt bzw. relegiert worden war oder ob das ›Exil‹ symbolisch bzw. exemplarisch für die Situation des Dichters steht (vgl. z. B. Thibault 1964, Goold 1983, Fitton-Brown 1985, Ehlers 1988, Claassen 1988 und 1999, 34, Williams 1994 und 2002, Gaertner 2007). Der Widerspruch zwischen Ovids an Kaiser Augustus gerichtete Bitten, dieser möge seinen Zorn über die frühere Dichtung niederlegen und den Dichter zurück nach Rom holen, und der poetologisch aufgeladenen Beschreibung Tomis’ als einer Landschaft, die ihn physisch bedroht, die Musen aber zu einem desto innigeren Instrument der Welterschließung macht (trist. 4, 10, 110–111; 117– 122), legt nahe, dass Ovid die Szenerie der Exilsituation, selbst dann, wenn er tatsächlich im Exil gewesen ist, in erster Linie für poetologische Reflexionen vereinnahmt (McGowan 2009): Der Dichter, der die Grenzen der zivilisatorisch festgelegten Sprache und Gedankenwelt verlassen muss, ist immer im Exil – selbst dann, wenn er zuhause ist.

Ovids Sehnsucht, nach Rom zurückzukehren, steht im Zeichen einer Verhandlung zwischen der politischen und dichterischen Welt, zwei Welten (vgl. Fränkel 1945), die zwar als verschieden markiert werden, keineswegs jedoch als unvereinbar gelten: Der Dichter, der an den Grenzen der politischen und zivilisatorischen Logik arbeitet, muss zugleich Gelegenheit haben, in den urbanen Raum als Dichter wieder eintreten zu dürfen und als ein solcher gelesen und verstanden zu werden. Bezeichnend ist, dass Ovid nicht einfach als ein Bürger, sondern mit dem Versfuß in die Heimat zurückkehren will (trist. 1, 1, 16). Schon die Reise nach Tomis, die er in trist. 1, 4 als eine stürmische Seefahrt beschreibt, während derer er zugleich das erste Buch der Briefe verfasst (vgl. trist 1, 11, 1–2), hat der Dichter als eine innere Verhandlung erfahren, in der Angst und Wunsch, nach Rom zurückgespült zu werden, gleichermaßen vorhanden sind (trist. 1, 4, 23). Im Bild der Reise rekapituliert Ovid seine Genese als elegischer Dichter: Die Gefahren der See, in der elegischen und lyrischen Dichtung oftmals als eine Chiffre für das epische (oder politische) Schreiben gebraucht, von dem sich die Dichtung der kleinen Formen bewusst verabschiedet (vgl. Hor. carm. 1,5), übersteht er zwar, ohne von seinem ingenium verlassen zu werden (trist. 1, 11, 9–10). Das letzte Stück der Reise geht er jedoch zu Fuß (trist. 1, 10, 23), während das Schiff die Fahrt durch die Gewässer alleine fortsetzt. Damit verabschiedet sich der Dichter endgültig von den Gefahren und der Versuchung politischer Willfährigkeit und greift zugleich, im Bild des Fußes, die Anfangsverse seiner Amores auf. Dort hatte Cupido dem um ein Staatsepos bemühten Dichter (vgl. das den Beginn der vergilischen Aeneis auch klanglich aufgreifende Arma gravi numero violentaque bella parabam, am. 1, 1) einen Versfuß geraubt und den epischen Hexameter, in dem er genregerecht zu schreiben begonnen hatte, zum elegischen Distichon verkürzt. Schon in der Erzählung der Amores wird die Genese des Elegikers dabei an den Verlust der bürgerlichen Existenz gebunden: Neben dem Metrum der Liebeselegie zwingt Cupido dem Dichter den passenden Stoff auf, indem er ihn mit einem Pfeil trifft und zum Verliebten macht. In den Elegien, die er daraufhin verfassen sollte, widersetzt sich Ovid jedem möglichen politischen Vereinnahmungsversuch und behauptet demgegenüber die Souveränität des Dichters: Politisch relevante Räume (etwa das Forum, das Theater) werden

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_17

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poetisch vereinnahmt und zur Szenerie sexueller Annäherung (ars); selbst die Aitiologien des Festtagskalenders werden oftmals sexualisiert (fast.). Mit der provokativen Resemantisierung politischer Räume und Ereignisse stellt sich Ovid deutlich gegen die kaiserliche Deutungshoheit. Ob hier der Anlass für den Zorn des Kaisers, die wiederholt genannte Caesaris ira (z. B. trist. 1, 3, 85), liegt, muss offen bleiben. Doch hat die Vernichtung der bürgerlichen Existenz Ovids schon hier ihren Anfang. Mit der Liebesdichtung gliedert sich Ovid bewusst aus dem bestehenden politischen Referenzraum aus. Aus der Perspektive der Exilpoesie jedenfalls haben ihm die Liebeselegien, möglicherweise konkret die Ars amatoria, den Tod gebracht: »Durch meine Kunst (arte oder, groß geschrieben: durch die Ars [amatoria]) ging ich zugrunde (perii)« (ebd., 6; vgl. auch trist. 2, 2; 2, 7). Der Zusammenhang von Kunst und Tod wird in den Tristien zu einem zentralen Thema. In trist. 1, 1, 114 werden die durch Augustus beanstandeten Werke als Vatermörder bezeichnet (Oedipodas und Telegonosque); das in trist. 3, 3, 73–76 formulierte fiktive Grabepigramm macht das ingenium des Dichters für dessen Vernichtung verantwortlich (tenerorum lusor amorum | ingenio perii). Der Abschied aus Rom schließlich, der Moment, in dem der Dichter aus der Zivilisation herausgerissen wird, wird mit der Zerstückelung des eigenen Körpers verglichen (trist. 1, 3, 73– 74). Im Exilort angekommen, wird er, ähnlich wie einst von Cupido, mit Pfeilen beschossen; nunmehr sind es die Einwohner, die seinem physischen Ich nach dem Leben trachten (trist. 4, 10, 110). Tomis, die Stadt am Schwarzen Meer, wird zu einem Ort des Todes, zur Szenerie des Ent- und Ausgegliedertseins. Die aitiologische Grundlage hierfür gibt Ovid in trist. 3, 9, in der er den Namen Tomis’ auf das griechische τέμνειν (»teilen«, »zerschneiden«) zurückführt und Tomis als den Ort identifiziert, an dem Medea, als Barbarin selbst eine Figur des Ausgegrenztseins, ihren eigenen Bruder einst in Stücke teilte und dem Ort damit den Namen gab. Tomis figuriert als eine Chiffre für die Ausgliederung aus der politischen, sozialen und sprachlichen Gemeinschaft, als das Ende der Welt (trist. 1, 1, 127–128: orbis|ultimus), aber auch als ein Ort der Befreiung, an dem der Dichter, von seinem bürgerlichen Ich getrennt, die besondere Nähe der Musen erfährt (s. o.). Nicht zuletzt ist Tomis die Schwelle zur urbanen Welt, von der aus der Dichter den Kaiser darum bittet, als Dichter-Subjekt in die römische Gemeinschaft zurückkehren zu dürfen. Dass die im Modus der Klage vollzogenen Bitten in ihren

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intertextuellen Verweisen zugleich die frühere Liebesdichtung zurück nach Rom bringen (vgl. Hinds 1985, Barchiesi 2001, Tornau 2007), unterstreicht die Annahme, dass die Tristien keinen bloßen Gemütszustand, sondern vielmehr die Rolle des Dichters in der Gesellschaft ausloten: Das Buch der Tristien, das er nach Rom schicken wird (s. unten), hat fast alle Elegien, die Ovid bis dahin geschrieben hat, in seinem Gepäck, sei es durch seine intertextuellen Verweise (z. B. auf die die Amores oder die Ars amatoria) oder durch die Wiederaufnahme zentraler Strukturelemente, etwa des für die Heroides zentralen GetrenntSeins zweier Liebender (Hinds 1985). Der vermeintlich geläuterte obsceni doctor adulterii (trist. 2, 212) arbeitet daran, zwischen dichterischen und politischen Regularien zu vermitteln und die über die Grenzen des Zulässigen weisende Liebesdichtung in den politischen Raum erneut einzuschreiben. ›Exclusus poeta‹ – die Tristien als Paraklausithyron Für die Interpretation der Tristien als eines poetologischen Entwurfs spricht – neben deutlichen Hinweisen (etwa trist. 1, 1; 3, 1; 3, 7) und dem auch explizit als theoretischem Entwurf gestalteten Buch 2 (das anders als die übrigen Bücher nicht in einzelne Briefe eingeteilt, sondern als eine ars poetica gestaltet ist) – vor allem die als elegisches Paraklausithyron stilisierte Gesamtsituation: Wie der Liebhaber der Liebeselegie, der vor der Tür der Geliebten klagt und vergeblich um Einlass bittet, befindet sich Ovid vor den Toren des römischen Reiches und hofft darauf, in dieses eintreten zu dürfen. Dem Titel des Werkes – Tristia – kommt dabei eine doppelte Bedeutung zu. Ovids Klage – oberflächlich ein Zugeständnis an die kaiserliche Souveränität – positioniert den Dichter und sein Werk als klagenden Liebhaber vor der Tür des Kaisers. Die Trauer ist nicht nur die Trauer des Verbannten, sondern auch die Klage des zurückgewiesenen Liebhabers. Ovids vielfach geäußerte Behauptung, er habe sich vom Liebesdichter in einen klagenden Dichter der Trauer gewandelt, ist daher nicht als eine Distanzierung, sondern als die Vollendung der früheren Liebeselegie zu verstehen: Indem der Dichter und sein Werk die Rolle des exclusus amator einnehmen, wird Kaiser Augustus zur puella (oder zum ianitor, vgl. am. 1, 6). Die ironische Wendung dieser Szenerie, in der beide, Augustus und Ovid, die Konstellation der Liebeselegie gewissermaßen ›zur Aufführung bringen‹ und Ovid den Kaiser zu einem Agenten seines eigenen

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III Werk

Dichtungsprojekts macht, passt gut zum spielerischen, zuweilen komischen (Amann 2006) und durchgehend ironischen Charakter der Tristien. Mit seiner Selbststilisierung als eines Klagenden hat Ovid eines der zentralen Motive der Liebeselegie in Szene gesetzt, und der vermeintlich hofierte Kaiser kann nichts dagegen tun. Er steht im Zentrum eines Werkes, das weitaus provozierender ist als alle Liebeselegien, sich durch den Gestus der Trauer und Reue jedoch unangreifbar macht. Autobiographische Dichtung – dichterische Autobiographie Der ironische Impetus der Tristien (Hardie 2002, Kap. 9) zeigt sich vor allem mit Blick auf ihren (beinahe aggressiv herausgestellten) autobiographischen Charakter. Augustus, so der Vorwurf, hatte die frühere Liebesdichtung als Ausdruck der moralischen Gesinnung ihres Autors gelesen, mithin als eine konkrete Handlungsanweisung an die römischen Leser (als ein Handbuch zum Ehebruch). Nun provoziert Ovid seinen Leser, Augustus eingeschlossen, indem er ihn, auf einer performativen Ebene, in die Irre führt und ›am eigenen Leib‹ erfahren lässt, was es bedeutet, elegische Dichtung, mithin ein literarisches (fiktives) Werk zu lesen. Indem er die Tristien auch explizit als autobiographisch ausweist, die Grenzen zwischen Lebenswirklichkeit und Fiktion jedoch bewusst in einer Unschärfe belässt, provoziert er den Leser zur biographistischen Lektüre und führt zugleich vor, wie riskant eine derartige Lektüre ist. So beschreibt trist. 3, 10 das (im heutigen Rumänien liegende) Tomis als einen Ort der Kälte und Erstarrung, in dem der Wein so schnell gefriert, dass er in Stücken gegessen statt getrunken wird (trist. 3, 10, 24), und wo man trockenen Fußes (trist. 3, 10, 39–40) auf dem Wasser gehen kann: »Wo sich einst Schiffe bewegten, geht man nun mit den Füßen, und die durch Kälte erstarrten Wellen schlägt die Hufe eines Pferdes« (trist. 3, 10, 31–32). Die den hellenistischen und augusteischen poetologischen Diskursen entnommene Bilderwelt – darunter die Wassermetaphorik und das Bild des (Vers-)Fußes – signalisiert deutlich, dass die Landschaft, wenngleich als ein realer Ort markiert, ausschließlich als eine dichterische Szenerie, wenn nicht sogar als eine ins Geographische übersetzte Darstellung poetologischer Überlegungen zu lesen ist: Die eisige Oberfläche des gefrorenen Wassers erlaubt den souveränen Blick auf die Gewässer, schützt den Versfuß jedoch vor der Gefahr, sich mitreißen zu lassen und in epische Gewässer

zu gelangen. Ebenso wenig wie die Ars amatoria – auch wenn Ovid im Titel (ars) damit kokettierte – als Handbuch zu verstehen sind, enthalten die Tristien – auch wenn sie sich als autobiographisch inszenieren – die realistische Beschreibung realer Landschaften. Am deutlichsten wird diese Provokation in der am Ende des vierten Buches (trist. 4, 10) formulierten sphragis, die Ovid zu einer umfangreichen Autobiographie ausgestaltet hat. Anders als in den übrigen Gedichten tauchen zu Beginn des Textes eine Fülle von Namen, Daten und Details auf. Ovid scheint mit seinem Leser eine Art ›Pakt‹ (Lejeune 1975) schließen zu wollen: Die historischen Bezüge und ihre chronologische Anordnung suggerieren dem Rezipienten, dass er tatsächlich eine Art curriculum vitae vor sich hat (s. Kap. 2). Während Ovid zunächst mit recht präzisen Daten und Details aufwartet und die Authentizität der Angaben auf diese Weise unterstreicht, verändert sich dieser Beschreibungsmodus jedoch, als er auf die Verbannung zu sprechen kommt: War der Rückblick auf das Leben als römischer Bürger (trist. 4, 10, 1–90) noch logischen Beschreibungsmustern gefolgt, werden die Umstände der Verbannung nunmehr als eine Leerstelle präsentiert und verliert sich die Beschreibung der auf die relegatio folgenden Zeit in Tomis in der zuweilen absurd anmutenden Beschreibung einer lebensfeindlichen Umgebung, in der der Dichter allein auf seine Poesie (carmen) vertrauen kann. Das Gedicht endet schließlich in einem Lob der Musen, die es dem Autor ermöglichen, die physisch gesetzten Grenzen in der Imagination der Dichtung zu überschreiten (ähnlich das Lob der Imagination in trist. 4, 2). Trist. 4, 10 präsentiert die Biographie Ovids nicht nur als einen Übergang vom römischen Bürger zum Verbannten, vom politischen Subjekt zum DichterIch; sie inszeniert zugleich die Metamorphose (vgl. trist. 1, 1, 119–120) vom politischen zum poetischen Schreiben, mithin der Form des Schreibens, die die Erzählweise der Tristien, und damit auch die ›Autobiographie‹, wie sie dem Leser vorliegt, bestimmt hat. Mit Blick auf die Metamorphose des Dichters muss der Leser auch die eingangs genannten Daten in der Rückschau neu lesen. Zwar hatte er in den ersten 90 Versen neben dem genauen Geburtsort (Sulmo) und dem präzisen Geburtsdatum (20. März 43 v. Chr.) eine Fülle glaubhafter Details erfahren: So war Ovid anfangs noch, wie sein Bruder, zum Rhetor bestimmt, traf Dichterkollegen wie Vergil und Properz und war dreimal verheiratet. Doch lassen sich auch diese Daten poetologisch ausdeuten: Der anders als Ovid als Rhetor sehr erfolgreiche Bruder hat am selben Tag Geburtstag

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und stirbt mit 20 – als sei er das politisch willfährige Alter Ego, dessen sich Ovid zu Beginn der eigenen Dichterkarriere entledigen muss. Die drei Gattinnen, von denen erst die letzte treu sein wird (laut trist. 1, 3, 81–82 will sie ihm sogar ins Exil folgen), stehen sinnbildlich für die Entwicklung des Dichters, der sich von einem grenzüberschreitenden Liebesdichter zu einem, auch aus politisch-augusteischer Perspektive, kompatiblen Ehemann und Dichter gewandelt hat: Der in der Liebeselegie noch praktizierten Überschreibung des Politischen folgt nunmehr eine Form der dichterischeren Produktion, die in der politischen Welt zugleich einen Platz – und ihre eigene Stimme – behaupten will. Obwohl trist. 4, 10 durchaus als Autobiographie (oder als Apologie, Fairweather 1987) verstanden worden ist (und in einem übertragenen Sinne auch eine solche darstellt), ist die Elegie vor diesem Hintergrund auch als Lektürehinweis, genau genommen: als Lektüreübung, zu verstehen. Denn während das zweite Buch die Gefahr der Fehllektüre auf theoretischer Ebene, anhand bestehender, kanonisch etablierter Poesie, zeigt (Gibson 1999), wird sie dem Leser bei der Lektüre von trist. 4, 10 gewissermaßen im Lektürevorgang vorgeführt: Die Elegie gibt vor, ihren Autor als authentische Person zu präsentieren, und macht es dem Leser daher besonders schwer, sich der Versuchung einer biographistischen Lektüre zu widersetzen. Im letzten Teil der Elegie wird jedoch deutlich, dass der Dichter die Grenzen der Lebenswirklichkeit längst überschritten hat. Das biographistische Lektüreverfahren, wie es auch Kaiser Augustus unterstellt wird (trist. 2), geht, so der Appell der Tristien, an der Idee von Literatur vorbei. Im Lektürevorgang muss der Lesende berücksichtigen, dass sich sowohl der Dichter, der Text als auch der Leser selbst in einer anderen Welt befinden, die mit den realen Gegebenheiten nicht zwingend übereinstimmt. Die dichterische Existenz mag in der realen Existenz des Schreibenden zwar einen Ausgangspunkt gefunden haben, sie entsteht jedoch in einem komplexen Prozess, in dem sich Autor und Text wechselseitig deuten und auch der Autor zu einem Produkt des Textes wird (vgl. hierzu De Man 1979). Der dichterische Text ist kein Ergebnis eines linearen Prozesses, in dem der Autor seine ›Intentionen‹ in den Text hineingelegt hat. Dichterisches und empirisches Ich sind vielmehr ebenso voneinander zu unterscheiden wie der Inhalt des Buches von den ›Intentionen‹ seines Autors. Man darf annehmen, dass Ovid diesen Appell nicht nur an Leser seiner früheren Liebesdichtung, sondern auch an die Leser (und Inter-

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preten) seiner Tristien richtet. Die reale Existenz des Dichters, seine moralische Gesinnung und sein Werdegang, sollen bei der Lektüre seines Textes keine entscheidende Rolle mehr spielen. Autor, Text und Leser: Eine unendliche Metamorphose Die (neben dem Exil) wohl stärkste Metapher, die Ovid in dieser Hinsicht einsetzt, ist der (oben bereits angesprochene) ›Tod des Autors‹. Auf der Ebene der Erzählung hat Ovid durch die ars sein Leben verloren: Augustus hat ihm die bürgerliche Existenz genommen. Immer wieder aber weist Ovid in seinen Tristien auch auf einen inneren (und zwingenden) Zusammenhang von künstlerischer Produktion und Tod hin: Der Dichter, der seine Kunst vollenden will, muss sterben. Er überlebt als Stimme seines Kunstwerks; der Rezipient des Kunstwerks wird den empirischen Autor daher niemals finden. Einer der subtileren Hinweise auf dieses Konzept, mit dem Ovid bis in die Bildwahl hinein modernen Autorkonzeptionen (vgl. etwa Barthes 1967, Foucault 1969, Eco 1962) geradezu vorausgreift, findet sich in trist. 3, 7. Einmal abgesehen von der wiederholten Nennung des Augustus (Caesar), ist trist. 3, 7 die einzige Elegie des Werkes, in der ein Name auftaucht, Perilla – ein Name, dem wir infolge dessen in erster Linie eine symbolische Kraft beimessen müssen. Der Name der jungen Dichterin, die Ovid in diesem Brief adressiert, lässt nicht nur an per illa, mithin die Medialität von Texten, denken (Ingleheart 2012; Möller 2013), sondern ruft vor allem den Namen des mythischen Künstlers Perillus auf, dessen Geschichte wenig später, in trist. 3, 11, 39–54 auch ausführlich erzählt wird. Perillus hatte im Auftrag des Tyrannen Phalaris einen bronzenen Stier konstruiert, um in dessen Innerem Verbrecher zu verbrennen. Durch die Schreie der Sterbenden soll das entsprechend präparierte Kunstwerk den Anschein erwecken, wie ein lebendiger Stier zu brüllen. Als er das Kunstwerk seinem Herrscher präsentiert, wird Perillus aufgefordert, das Kunstwerk selbst einzuweihen: er muss in das Innere des Stieres kriechen und erweckt, durch seine Todesschreie, das bronzene Kunstwerk zum Leben. Um die Stimme des Künstlers bzw. Autors hörbar zu machen – so die poetologische Dimension dieser Geschichte –, muss dessen physische Existenz vernichtet werden. Der Künstler muss sich für das Kunstwerk opfern. Doch tritt an die Stelle seines physischen Daseins nun die dichterische, künstlerische Existenz: Die Stimme des Produ-

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III Werk

zenten ist, sobald das Kunstwerk vollendet ist, ausschließlich durch und in der Stimme seines Kunstwerks zu hören. Die im Perilla-Brief angesprochene Geschichte von Perillus adressiert nicht nur das Verhältnis von Leben und Tod, physischer und dichterischer Wirklichkeit. Sie lotet zugleich erneut auch die Beziehung zwischen Politik und Dichtung aus: Das künstlerische Ich des Dichters, das nach dessen physischer Vernichtung folgt, lässt sich auch durch den Tyrannen nicht zerstören. Die Dichterin Perilla, die sich Ovids Ratschlag erbittet und möglicherweise als ein fiktives (und bezeichnenderweise weibliches) Alter Ego des jungen Ovid zu verstehen ist, wird ermutigt, zwischen dem Reich des Kaisers und dem Reich der Dichtung zu unterscheiden und sich von politischen Vorgaben nicht irritieren zu lassen: Das Reich der Dichtung entzieht sich dem Zugriff des Kaisers; Ovids ingenium etwa konnte selbst Augustus, auch wenn er ihm sonst alles nehmen konnte, nicht zerstören (trist. 3, 7, 48: Caesar in hoc potuit iuris habere nihil). Gleichwohl muss festgehalten werden, dass die Dichtung in Ovids Tristien eben gerade nicht als separater Raum konzeptualisiert wird (und die in der Zwiesprache mit seinem Alter Ego formulierte Trennung von Politik und Dichtung daher wohl eher die Überlegungen des noch jungen Liebeselegikers präsentieren). Denn dass das dichterische Ich Ovids nunmehr so dringend um die Rückkehr nach Rom bittet und sich das Buch der Tristien (nicht der Autor) schließlich auf die Reise nach Rom begeben wird, zeigt deutlich, dass die Wiedereingliederung und die (ebenso vorsichtige wie produktive) Zwiesprache mit der gesellschaftlichen Umgebung (anders als in der Perilla-Elegie) als ein zentrales Element der dichterischen Produktion verstanden wird. Auch dass es Ovid bedauert, der lateinischen (i. e. politischen) Sprache nicht mehr mächtig zu sein (trist. 5,7), steht für das Bedürfnis, mit dem urbanen Raum wieder kommunizieren zu können. Die dichterische Sprache (die Sprache des ›Exils‹) ist nicht genug. Ovid – das zeigen die Gedichte selbst – beherrscht sie virtuos. Aber um als Dichter gelesen und verstanden werden zu können, müssen beide, Dichter und Leser, aufeinander zugehen. Der Leser wird denn auch – sowohl theoretisch in trist. 2 als auch in der praktischen Durchführung bei der Lektüre des Werkes – dazu eingeladen, das Lesen von Dichtung gewissermaßen einzuüben. Hierzu gehört (neben der Differenzierung in Fiktion und Wirklichkeit, wie sie der Leser etwa bei der Lektüre von trist. 4, 10 leisten muss) vor allem die

Aktivierung seiner kreativen Geistigkeit, mithin die Fähigkeit zur Imagination. Dem Leser bietet sich hierfür viel Gelegenheit: In den Tristien fallen keine Namen (vorgeblich, um niemandem zu schaden, trist. 3–4b), es gibt keine Ereignisse, keine Erzählung in Raum und Zeit; nicht einmal der Anlass des kaiserlichen Zorns wird konkret benannt. Selbst die behauptete Tristesse des Ortes und das als malum fatum beschriebene Unglück werden alles andere als szenisch ausgestaltet oder narrativ entfaltet. Das Leben in Tomis bleibt merkwürdig unbestimmt. Die zahlreichen Leerstellen in den Tristien scheinen dabei gezielt gesetzt zu sein. In der Imagination wird Tomis nunmehr zu einem Ort des Lesers, der an den Leerstellen bewusst zu arbeiten beginnt. Nicht nur der Dichter, sondern auch sein Leser formt den Text. Zusammen mit Ovid ist damit auch sein Rezipient – im Akt des Lesens – im Reich der Dichtung angekommen. Die Tristien belassen es jedoch nicht bei der bloßen Differenzierung in Autor, Text und Leser. Ihr Verhältnis zueinander wird vielmehr als eine unendliche Schleife, eine unabschließbare Transformation, beschrieben, in der die durch den Autor erfahrene Wirklichkeit im Prozess des Schreibens zu einem dichterischen Text wird, der sich verselbständigt und schließlich, in der Begegnung mit seinem Leser, als eigenständiges Subjekt über den Autor zu sprechen beginnt. Formuliert und ausgestaltet wird dieser Prozess in den beiden Eingangselegien der Bücher 1 und 3, die die in Buch 2 diskutierte Beziehung zwischen Autor, Text und Leser in eine elegienübergreifende Erzählung übersetzen: Die Frage, in welchen Formen ein Autor noch in seinem Text präsent ist und wie viel Verantwortung er eigentlich für seinen Text noch trägt, inszeniert Ovid dabei zunächst als einen Abschied, bei dem die Buchrolle, die die Tristien enthalten, nach Rom geht, wo sie den Auftrag hat, den Zustand des Dichters zu repräsentieren. Die Buchrolle (vgl. hierzu Williams 1992) wird vom Autor des Textes so ausgestattet, dass sie in ihrer ganzen Erscheinung das Leben des Verbannten wiedergibt. Ihr Auftrag ist es, sich in Rom mit Worten zurückzuhalten und nur durch ihr Äußeres den Autor und den Text, den sie enthält, zu repräsentieren (trist. 1, 1). In Rom angekommen (trist. 3, 1), gelingt es der Buchrolle zwar anfänglich, sich an die Vorgaben zu halten. Schon bald jedoch entwickelt sie ihren eigenen Willen: Sie widersetzt sich dem Auftrag Ovids und beginnt, zu sprechen und sich mit den potentiellen Lesern zu unterhalten (Wise 2014). Die von Ovid zunächst als Repräsentantin seiner selbst gestal-

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tete Buchrolle verschwindet hinter dem Text, der im Zusammenspiel mit seinen Lesern wiederum das dichterische Ich erzeugt. Trist 1, 1 und 3, 1 – die einzige ›Erzählung‹ in den Tristien – umklammern dabei kunstvoll die in Buch 2 aufgeworfenen theoretischen Fragen: Wie viel Verantwortung trägt ein Autor noch für seinen Text, und welche Verantwortung kommt dem Leser bei der Lektüre des Textes zu? Problematisiert wird nicht nur der Produktionsprozess, mithin die Furcht des Autors, die Kontrolle über seinen Text letztendlich zu verlieren (vgl. Hor. epist. 1, 20), sondern vor allem die Einstellung und die Erwartung des Lesers: nec liber indicium est animi, heißt es in trist. 2, 356, »das Buch ist kein Hinweis auf die Gesinnung [d. h. seines Autors]«! Sollte das Verhältnis zwischen Venus und Anchises ehrwürdigen römischen Matronen etwa als eine Anleitung zum Ehebruch gedient haben, und müsste dann nicht auch Vergils Aeneis verboten werden (trist. 2, 261–266)? Und wie sieht es in den übrigen Bereichen römischer Kultur aus? Alles, wo es in Rom etwas zu sehen und zu lesen gibt – Circus, Theater, Tempel, Literatur –, müsste aufgehoben werden (vgl. u. a. trist. 2, 280: tolli tota theatra iube), wenn Rezipienten nicht in der Lage sind, sich recta mente (»mit angemessener geistiger Haltung«, trist. 2, 275) diesen Darbietungen zu nähern. Dem Leser kommt daher bei der Lektüre eine große Verantwortung zu. Ovid bestreitet nicht, dass Text und Autor anfänglich in einer engen Beziehung zueinander stehen. So beschreibt er trist. 1, 1, 13–14, wie er beim Verfassen des Textes mit seinen Tränen die Buchstaben verwischt. Die Tränen autorisieren nicht nur die Existenz des Autors und dessen Trauer, sie lassen ihn auch physisch zu einem Teil des Textes werden. Durch die Einkörperung der Tränen wird der Text zu einem Bild und gleichsam selbst zu einem körperlichen Derivat der Trauer: er ist Zeichen und Bezeichnetes. Ähnlich suggeriert die Buchrolle, deren Beschreibung bis in die Details hinein der äußeren Erscheinung eines ›Barbaren‹ nachempfunden ist – etwa der noch unpolierte Papyrus, der sie wie einen verwahrlosten Menschen mit struppigem Haar aussehen lässt (trist. 1, 1, 1–16) –, dass das Buch den Menschen Ovid voll und ganz repräsentiert. Die Beziehung zwischen Text und Autor wird jedoch keineswegs als eine dauerhafte Spiegelung, sondern als eine wechselseitige Anverwandlung beschrieben: Spätestens dann, als das Buch nach Rom geht und in die Öffentlichkeit entlassen wird, entzieht es sich der Kontrolle seines Autors und entwickelt eine eigene Stimme (Mordine 2010). Was der Leser liest, sind damit keineswegs nur die Gedanken, die Ovid zu

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Beginn in seinen Text hineingetragen hat, es ist vielmehr die Stimme des Textes. Während der Autor im Exil verbleibt und als empirische Person verschwindet, hat die Rede der Buchrolle durch ihren Text einen neuen Autor entstehen lassen, der mehr nur als ein dichterisches Ich, nämlich in erster Linie ein durch den Text sowie im Akt des Lesens erzeugtes Ich darstellt. In der antiken Rezeption sind die Tristien nur sehr verhalten aufgenommen worden und dort, wo sie tatsächlich Spuren hinterlassen haben – so etwa bei Seneca, Plinius, Martial und Statius –, ist es zumeist der »Tristia-blues« (Hinds 2011, 62), der auf diese Autoren gewirkt hat. Mit ihrer Konzeption von Autor- und Leserschaft greifen sie jedoch auf ein Problem voraus, das nicht erst in den modernen Literaturwissenschaften – mit den Bewegungen des New Criticism (vgl. u. a. Crowe Ransom 1941), der Reader-Response-Theory (vgl. u. a. Iser 1970, 1972, 1976, Warning 1979) oder den entsprechenden Gegenbewegungen wie dem New Historicism (vgl. u. a. Greenblatt 2001) – als ein Problem verhandelt werden sollte, sondern, wie die Tristien zeigen, schon in der antiken Literatur einen prominenten Platz hat. Selbst wenn ein Autor wünschen sollte, dass ihn sein Text re-präsentiert: Literarische Texte sind wie Kinder (vgl. auch trist. 1, 1, 105–114). Kaum aus dem Haus, beginnen sie ein eigenes Leben zu führen, und dies nicht immer im Sinne ihres Erzeugers. Sie entwickeln sich zu einem eigenständigen Subjekt, das mit seinen Lesern selbständig interagiert und mit diesen zusammen am Bild des Autors formen. Wer literarische Texte interpretiert, sollte ihre Herkunft und ihren historischen Kontext zwar nicht völlig aus dem Blick verlieren (vgl. Eco 1962). Aber er ist gut beraten, von einer biographistischen Lektüre abzusehen. Literatur

Amann, Martin: Komik in den Tristien Ovids. Basel 2006. Barchiesi, Alessandro: Speaking Volumes. Narrative and Intertext in Ovid and other Latin Poets, übers. und Hrsg. von Matt Fox, Simone Marchesi. London 2001. Barthes, Roland: The death of the Author. In: Aspen 5/6 (1967). Claassen, Jo-Marie: Ovid’s Poems from Exile. The Creation of a Myth and Triumph of Poetry. In: A&A 34.2 (1988), 158–169. Claassen, Jo-Marie: Displaced Persons. The Literature of Exile from Cicero to Boethius. London 1999. Crowe Ransom, John: The New Criticism. New York 1941. Eco, Umberto: L ’opera aperta. Mailand 1962. Ehlers, Widu-Wolfgang: Poet und Exil. Zum Verständnis der Exildichtung Ovids. In: A&A 34 (1988), 144–157.

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III Werk

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Antje Wessels

18  Epistulae ex Ponto

18 Epistulae ex Ponto 18.1 Entstehung und Datierung Waren die fünf Bücher der Tristia von etwa 8–12 n. Chr. entstanden, so folgten die vier Bücher der Epistulae ex Ponto ungefähr in den Jahren 12–17. Ovid, den eine relegatio des Kaisers, wie er selbst sagt, nach Tomi an der Schwarzmeerküste verbannt hatte (zum Terminus vgl. Bretzigheimer 1991, zur Datierung z. B. Syme 1978, bes. 42–44), sollte Rom nicht mehr wiedersehen. Die vier Bücher elegischer Briefe spiegeln den begrenzten Themenradius der Tristien, tragen ihn fünf Jahre weiter und variieren ihn; sie lassen sich als letzte poetische Einlassung des Dichters lesen, die jedoch von der Hoffnung auf Fortsetzung einer Dichterexistenz unter anderen Voraussetzungen getragen wird. Ob die Ovid lange zugeschriebenen Halieutica noch nach den Epistulae entstanden sind, wie Plinius (nat. 32, 152) nahelegt, sei dahingestellt. Durchgehend artikuliert Ovid die Sehnsucht nach der Heimat, die Frustration über die gegenwärtige Situation und versucht, Freunde und Gönner in Rom zu seinen Gunsten zu mobilisieren. Sofern sich ihr Verfasser überhaupt für ihre gegenwärtige Anordnung verantwortlich gezeigt hat, unterliegen die Epistulae einem weniger klar erkennbaren kompositorischen Schema als ihr Vorgängerwerk. Vom proömienhaften Auftakt abgesehen, geben lediglich die gelegentlichen Hinweise auf die im Land der Geten verbrachten Jahre einen strukturierenden Rahmen vor. Auffällig ist, dass die ›späteren‹ Gedichte in ihrem Tonfall deutlicher die Bereitschaft zum Ausdruck bringen, sich mit der unglücklichen Lage fern der Hauptstadt zu arrangieren, als ihre Vorgänger. Auch die resignativen Äußerungen häufen sich in den letzten beiden Büchern der Epistulae, so dass die Anordnung zumindest eine innere Logik auf ihrer Seite zu wissen scheint (vgl. z. B. Franklinos 2018). Ob die Gedichte Ausdruck einer tatsächlichen Korrespondenz mit römischen Freunden waren oder ob sie den Dialog mit ihren Adressaten nur fingieren, muss angesichts der nicht vorhandenen Repliken ebenso offenbleiben wie die Frage, ob die Gnadengesuche der Realität entsprachen (vgl. zur Diskussion z. B. Froesch 1968, 110–125). Das Briefformat allein bietet hier allenfalls zu Spekulationen Anlass, denn Früchte zeitigten die Schreiben offenkundig nicht. Waren sie nachträglich in Rom gesammelt und posthum herausgegeben worden (Helzle 1989, 31–36)? Dass das Exil ein Faktum war und der Verfasser der

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Briefe wieder nach Rom zurückwollte, die Gedichte also einen eindeutigen performativen Zweck erfüllten, sollte dagegen außer Zweifel stehen (gegenteilig dennoch z. B. Brown 1985, und als direkte Antwort darauf Little 1990; s. auch Möller 2016, 86–95). Die poetische Inszenierung der Epistulae muss sich daher, wie im Fall der Tristien, aus diesem Zweckzusammenhang mit Bedeutung füllen lassen. Die Überlieferungsge­ schichte und kritische Erschließung der Briefe (Korn 1866; Ehwald 1896, Tarrant 1983) hat gegenüber vielen Dichtern der augusteischen Periode fast ein Alleinstellungsmerkmal, nämlich das Privileg, mit dem Wolfenbütteler Palimpsest-Fragment für einige Verse (4, 9, 101–108; 4, 9, 127–133) auf einen Zeugen des 6. Jahrhunderts zurückgreifen zu können (Codex Guelf. 13.11 Aug. 4) und sich auch sonst vergleichsweise gut durch frühe mittelalterliche Textzeugen stützen zu lassen, wie den Hamburger Codex aus dem 9. Jahrhundert (zur mittelalterlichen Überlieferung Hexter 1986, 83–136). Wie jetzt noch einmal überzeugend nachgewiesen (Gaertner 2004), sind die Epistulae im vierten oder fünften Jahrhundert einer Überarbeitung unterzogen worden, die in einer Reihe von nachfolgenden Handschriften spürbar ist. Die ersten kritische Ausgaben der Neuzeit, die auf mehrere Manuskripte und Frühdrucke zurückgreifen, stammen von Nicolaas Heinsius dem Älteren und auf ihm aufbauend von Pieter Burman (1629 und 1727).

18.2 Werkbeschreibung und zentrale Strukturelemente Die Epistulae ex Ponto bestehen aus vier Büchern und insgesamt 46 im elegischen Distichon verfassten ›Briefen‹, die im Unterschied zu den Tristien fast alle mit einem Adressaten überschrieben sind (hierzu bes. Nagle 1980, 74–80). Die Länge der einzelnen Elegien schwankt zwischen 60 und 200 Versen. Neben der Elegie selbst als generischem Rahmen und dem Dichterbrief, dem Ovid auch in den Heroides reichlich Rechnung getragen hatte (zur Einordnung in die Gattung ›Brief‹ im Detail Wulfram 2008, 231–278, Martelli 2013, 188–229), sind es das Epyllion, das zumindest in einigen Verspassagen evoziert wird, und die durchgehende, freilich situationsbedingte Panegyrik, die die Epistulae als subalterne Gattungsmarker begleiten. Ovid wollte zurück nach Rom, und nur der Kaiser konnte es erlauben; ihm galt es daher zu huldigen. Über die überschaubare Motivik seiner Exildichtung war sich Ovid selbst im Klaren; er verschweigt sie

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_18

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nicht. Man kann sieben zentrale Motive benennen, die alle miteinander verflochten waren. 1. Wieder und wieder ruft Ovid die Ars amatoria ins Gedächtnis, deren Abfassung ihn ins Verderben gestürzt habe, und den obskuren und nicht weiter benannten error – worin er auch immer bestanden haben mag –, der zum letzten Anlass der Verbannung geworden sein soll. 2. Mit gleicher Vehemenz erinnert Ovid seine Adressaten wie in den Tristien an seine Leidensgeschichte, die unhaltbaren Rahmenbedingen seines erzwungenen Aufenthaltes am Rande der Zivilisation, die der kaiserlichen Gnade überantwortet werden. 3. Das psychische und physische Desaster wird eingebettet in mythologische Referenzen, die schon die Tristien durchgehend begleitet hatten und die Ovid Gelegenheit geben, auf die Metamorphosen anzuspielen. 4. Manifestes Ergebnis des Exils, so der gewollte und durch die souveräne Eleganz der Gedichte eigentlich durchgehend falsifizierte Eindruck, ist die poetische Impotenz und zugleich die Unfähigkeit, das ›große Werk‹ zu verfassen. Auf das Dilemma aber antworten: 5. Der Wille, sich mit der nun seit Jahren ertragenen Abwesenheit der Heimat abzufinden, ja sogar die positiven Seiten der neuen Umgebung nicht zu verleugnen. 6. Die Freundschaft und Loyalität der römischen Hinterbliebenen, die Ovid zu seiner Rettung ebenso in Anspruch nehmen will, wie er sie in ihrem zeitlosen Selbstwert als Quelle der Tugend konstatiert und feiert. 7. Von zentraler Bedeutung schließlich ist die Dichtung selbst, die trotz der wiederholt beschworenen Frustration und der emotionalen Blockaden des Dichters ihre Wirkung nicht verliert. Die Poesie ist es, die nicht allein Rom für Ovid durch die Kraft der Imagination wieder mit Leben füllt, sondern für ihn auch, wie er wiederholt deutlich macht, eine Gemeinschaft konstituiert, die den Tod überdauern konnte. Schreiben mutiert zu einer Therapie und einer consolatio, aus der sich für Ovid (wie für seine Leser) auch die scheinbar monothematischen Iterationen rechtfertigen lassen.

18.3 Analyse Ovid beginnt die Epistulae ex Ponto noch einmal mit einer Beschwörung ihrer Vorgeschichte. Die Ars amatoria hatte ihn ins Land der Geten gestürzt; würde sie statt der neuen, in Büßergewänder gehüllten Elegien an die Pforten der Stadt Rom klopfen, niemand würde ihr Einlass gewähren (1, 1, 35–40). Rhetorische Reue über das erotische Lehrgedicht und entsprechende Scham über das darüber hinaus Vorgefallene beglei-

ten die Epistulae, wie sie schon die Tristien orchestriert hatten. Hatte er nicht den gerechten Zorn Jupiters, in Gestalt des Augustus, auf sich herabbeschworen? Gleich zweimal stellt sich Ovid gegenüber Messalinus (1, 7; 1–2), der ihn lange gefördert hatte, diese Frage. Seine Schuld war nur in religiösen Kategorien zu bewältigen, selbst wenn Mord oder Eidbruch sie als Vergehen weit übertrafen (2, 9) (hierzu McGowan 2009, 37–62). In einer der eindrucksvollsten Elegien der Epistulae (3, 3) erscheint ihm Amor im Traum und lässt sich von ihm ansprechen: Willst Du, so heißt es, mein Elend in Augenschein nehmen? Hatte er die Liebe nicht bis zur Erschöpfung besungen, nur um jetzt zum Dank im Elend zu sitzen? Dann folgt eine Rechtfertigung. Ehebruch hatte er nie unterrichten wollen, seine Gedichte hatten sich immer nur an Unverheiratete gerichtet. Amorerinnert ihn an den unausgesprochenen zweiten ›Fehltritt‹, stellt ihm jedoch zugleich die baldige Rückkehr in Aussicht. Blicken diese Elegien in die Vergangenheit, so verhandelt eine größere Gruppe der Epistulae wie in den Tristien die unerquickliche Lage, in der sich der Dichter zu befinden scheint. Führt man sich vor Augen, dass weder das fast mediterrane Klima noch das kulturelle Niveau der von griechischen Kolonisten gegründeten Städte der Schwarzmeerküste, die den Schnittpunkt vieler Handelswege bildeten, der in den schwärzesten Farben gemalten Darstellung Ovids entsprechen konnten, wird rasch deutlich, dass der Dichter hier eine poetische Inszenierung betrieb, die von allen potentiellen Adressaten sofort als solche erkannt werden musste. Der Aufenthalt vor Ort dürfte recht komfortabel gewesen sein. Selbst wenn der Frost so klirrend und die schnaubenden skythischen Barbaren so furchteinflößend gewesen wären, wie Ovid es in seinen Elegien nahelegt, hatten die Stereotype seiner Landschaftsbeschreibung eine andere Aufgabe; sie waren als locus horribilis Bilder der Heimatlosigkeit und Heimatsehnsucht und der verheerenden psychischen Folgen, die sie für den Dichter hatten, und sollten die kaiserliche Gnade förmlich erpressen (zur Diskussion hier z. B. Kettemann 1999, Podossinov 1987, und die Debatten zusammenfassend Gaertner 2007b). Die heimtückischen Giftpfeile der Jazygen, um die der Friedensfürst in Rom nicht wusste (1–2; 1, 7), das Fehlen von Gemüse, Obst, Bäumen und jeder landschaftlichen Lieblichkeit, das selbst einen Diogenes vertrieben hätte, und die allgegenwärtigen bistonischen Lanzen, die eine Atmosphäre der Bedrohung erzeugten (1, 3), waren keine Topoi in der Klage eines an Reizarmut leidenden Hauptstädters mehr, sie wa-

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ren Metaphern der seelischen Qual, die keine Liebschaften, kein Wein und keine Schmauserei lindern konnten (1, 10). Gerade in der Variation weitgehend deckungsgleicher Bilder hatte die poetische Energie ein Ventil gefunden (2, 7; 3, 8), in Vergleichen, die in ihrer Wiederholung wie die Jahresringe eines langsam vertrockneten Baumes erscheinen mussten (4, 6, 5–8). Neben der Landesbeschreibung, die ihren hyperbelhaften Charakter nicht verbarg, war es die Mythologie, die Ovid ein durchgehendes Reservoir an Referenzen bereithielt. Gerade hier offenbart sich das ingenium eines Dichters, der das eigene Schicksal in immer neuen Perspektiven beleuchten wollte. Gegenüber seiner Gattin zieht Ovid die Parallele zu den Argonauten, die er selbst reichlich traktiert hatte (met. 7, 1–452). War Iason erfolgreich zurückgekehrt, so harrte der Dichter weiter an der unwirtlichen Küste am Rande der Welt aus, hatte Iason die Ars des Liebesgottes bei Medea unter Beweis gestellt, so hätte Ovid sie besser nie gelehrt. Die Liebe schlägt den Bogen zur geliebten Frau: Könnte er sie doch wenigstens noch einmal in seinen Armen halten und küssen (1, 4). Den eigentlichen Katalog an Vergleichen liefern, wie zu erwarten, die homerischen Epen (z. B. 4, 7, 41–46). Wie schon in den Tristien identifiziert sich der Dichter mit Odysseus (vgl. dazu z. B. im Detail Seibert 2014, 163– 214), dem eine der letzten, an den Dichter Pedo Albinovanus gerichteten Elegien gebührt (4, 10). War die Irrfahrt des Herrschers von Ithaca, die zehn Jahre währte, von schönen Momenten durchzogen, vom Gesang der Sirenen, den Lotophagen und der mit Kalypso verlebten Zeit, so bestand sein Exil nur aus den Schattenseiten einer Odyssee, aus Skylla und Charybdis, dem Zyklopen, Frost, kahlen Äckern und giftigen Geschossen. Statt eines Schiffskatalogs addiert der Dichter für den Kollegen, der selbst mit einem Epos zu Theseus hervorgetreten war, fast mechanisch die Flüsse der unwirtlichen Region. Schon das Abfassen dieser Zeilen war, wie Ovid hinzufügt, ein Moment der recreatio, der ihn sein Elend vergessen ließ (4, 10, 45–70) (zu den Katalogen Bernhardt 1986). Schöpferkraft und Exil kollidierten im Medium des Gedichtes. Das Unvermögen, fern von Rom und dem vertrauten Resonanzraum Verse schreiben zu können, wird selbst zu einem Hauptmotiv der Epistulae. In einer an Cotta adressierten Elegie (1, 5) beklagt sich Ovid, dass die Musen ihn nicht bis ins Land der Geten begleitet hatten und alle Inspiration erlahmt sei. Keine Zeile genügt ihm, dennoch streut er weiter Samen auf einen unfruchtbaren Acker. Jede Politur der Verse erübrigte sich. Rom, der kaiserliche Frieden und der

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poetische Esprit der gebildeten Elite waren untrennbar miteinander verbunden (2, 5). Wiederholung wurde unter diesen Voraussetzungen, wie Ovid an Brutus schreibt (3, 9), zur poetischen Strategie; sie artikulierte die innere Leere und konnte selbst den Charakter einer Therapie annehmen (im Detail hier Block 1982). Sein beklagenswertes Schicksal hatte alle schöpferische Energie in sich aufgesogen. Doch selbst wenn, wie der Dichter noch hinzufügt, die Trauer nur monotone Akkorde erlaubte und das Unglück selbst zur Muse geworden war, erfüllten die Wiederholungen doch einen Zweck, utilitas und officium trieben ihn an. War dies nicht schon Rechtfertigung genug? Kein geschlossenes Narrativ in Gestalt eines liber wurde geschrieben, sondern eine Galerie von in sich geschlossenen Einzelgedichten, die immer neuen Adressaten die eigene Schwäche offenbarten und unter dieser Voraussetzung das ideale Medium waren, um Barmherzigkeit zu erzwingen. Dem Dichter Cornelius Severus liefert Ovid noch eine zweite Erklärung für sein scheinbares und zugleich ostentatives Scheitern: Gedichte wollten dem Publikum vorgelesen werden; fehlte der Resonanzraum, blieb der Acker, den der Pflug so verzweifelt bearbeitete, sandig und unfruchtbar. Man tanzte im Dunkeln (4, 2, 15–34). Wie aber ließ sich den inneren Verwüstungen begegnen, für die das Exil gesorgt hatte? Im Unterschied zu den Tristien wird der nur noch gelegentlich beschworenen und personifizierten Hoffnung, der spes, in den Epistulae weniger Raum gegeben. Das Psychogramm, das der Dichter vermitteln will, schillert zwischen Resignation und der Bereitschaft, sich auf die für ihn inzwischen nicht mehr neue Situation einzulassen. Eine Elegie macht sich offen zum Sprachrohr des Fatalismus (3, 7). Warum sollte er nicht im Land der Geten sein Leben lassen? Nicht ohne Stolz vermeldet Ovid nach einer weiteren Klage über Eis, Pfeile und Menschenopfer, dass die Einheimischen ihn von den Steuern befreit hätten und ihn aufgrund seiner Bescheidenheit, Frömmigkeit und der frommen Demut, mit der er sich in sein Schicksal ergeben konnte, längst bewunderten (4, 9). Wie stereotyp und panegyrisch die Verse, die Ovid an den Konsul Graecinus richtet, auch sonst erscheinen mögen, sie verraten doch, dass der Dichter zumindest für sein Publikum zu Kompromissen in der Lage war. Noch deutlicher wollen zwei weitere Elegien diesen Eindruck vermitteln. Ovid hatte getische Gedichte verfasst, wie er vermeldet (4, 13), die die Aufnahme des Caesaren unter die himmlischen Götter beschrieben und der Livia als Vesta gehuldigt hatten. Die Akklimatisierung hatte

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III Werk

die Poesie erreicht. Auch der Vorwurf, die Schwarzmeerregion in seinen Versen zu diskreditieren, war unbegründet, wie Ovid noch hinzufügt (4, 14). Sollte er sich womöglich wieder Schwierigkeiten mit seinen Gedichten einhandeln, wie dies bei der Ars der Fall gewesen war? Sicher war die Umgebung für einen Römer schwer zu ertragen, doch die Einheimischen waren über alle Kritik erhaben; sie waren treu und gastfreundlich und gaben sich alle erdenkliche Mühe, sein Unglück zu lindern, wie der Dichter vermerkt. Das Arrangement mit den Rahmenbedingungen blieb nur eine der Optionen, die Ovid in seinen Epistulae mustert. Die vielleicht größte Gruppe der Elegien verfolgt eine andere, vielleicht trivialere Linie. Sie rückt Tugenden wie amicitia und pietas in den Mittelpunkt und lässt den Dichter durch das Schreiben selbst am römischen Leben weiter Anteil haben. Möglichst breitflächig und in den unterschiedlichsten Bereichen des öffentlichen Lebens bemüht sich Ovid, sich in der Weltmetropole als abwesender Zeuge ins Gedächtnis zu rufen. Cotta erfährt von der Trauer des Dichters um Celsus (1, 9) und wird selbst für seine Treue gelobt, die es mit allen klassischen Vorbildern aufnehmen kann (2–3). Atticus erinnert er an gemeinsame Spaziergänge auf dem Forum (2, 4), dem Dichter Aemilius Macer ruft er die gemeinsamen Reisen in Erinnerung (2, 10), Tutitcanus, dessen Namen sich jedem Metrum verweigerte, die Gedichte, die sie einander vorgetragen hatten (4, 12). Wiederholt wird das Gedicht selbst zum Substitut des Abwesenden und wird ausdrücklich als solches apostrophiert (2, 11; 3, 5), ja wie Ovid gegenüber Sextus Pompeius bekennt, war es überhaupt erst die Treue der römischen Freunde, die ihn als Dichter hervorbrachte. Ovid war zum bloßen Produkt und Eigentum seines römischen Unterstützers geworden (4, 1; 4, 15). Umso härter fiel die Untreue ins Gewicht, die jeder Entschuldigung entbehrte und mit dem Verschweigen des Adressaten geahndet wird (3, 6; 4, 3). Wer die Wechselhaftigkeit des Schicksals, die auch den Dichter an die Küste des Nirgendwo verschlagen konnte, nicht durchschaut hatte, so ließ sich mit Versatzstücken der stoischen Diatribenphilosophie antworten, war nicht zur wahren virtus vorgedrungen. Poesie stellte also in den Epistulae eine Gemeinschaft wieder her, die durch die räumliche Trennung in Gefahr geraten war. Dichtung musste für den Verfasser der Epistulae auf diese Weise zu einer Therapie werden, die den Verlust durch die Kraft der Imagination wieder neu mit Leben füllen konnte; sie revitalisierte das Verlorene, nahm seine Stelle ein und verlagerte es zugleich

in eine Transzendenz, die von der Lesergemeinschaft begründet wurde. Was im Gedicht gerettet wurde, konnte zumindest als Teil einer poetischen Strategie den Tod überdauern. Als Ovid vom Triumph des Germanicus erfährt, gestaltet er den Festzug in jedem seiner Schritte vor seinem inneren Auge in allen Farben aus (2, 1), denn wie die Klette im Acker am Regen Anteil hatte, bewahrte auch der exilierte Dichter seinen Anteil an den Erfolgen des Imperiums (2, 1, 14–16). Allein die von der fama befeuerte Imagination, so bekräftigt er gegenüber Rufinus (3–4, 19–24), hatte seine epyllienhaften Verse auf Germanicus ermöglicht, denn jeder sinnliche Kontakt zu den Ereignissen hatte ihm im Land der Geten gefehlt. Gerade im autopoetischkompensatorischen Moment war daher seine besondere Leistung zu verorten. Das Gedicht blieb das Medium, so lässt es Ovid in bewährter Topik auch Graecinus wissen (2, 6, 33–34), in dem alle diese Ereignisse ihre Unsterblichkeit bewahrten. Aus der Ferne hatte er sich in die ferne Gemeinschaft der Römer und der ansässigen Dichter gesellt und war an den Altar der Musen getreten (s. Möller 2013). Die gleiche Imagination hatte Ovid, wie er gegenüber Sextus Pompeius bekennt (4, 4; 4–5), auch ermöglicht, das Konsulat seines Freundes in Versen zu begleiten. In einer der koloriertesten Passagen der Epistulae, die die Figur des Eröffnungsgedichtes aufgreifen (1, 1), lässt der Dichter seine Verse durch die thrakische Einöde, über das Mittelmeer durch Italien bis nach Rom reisen und statt seiner Pompeius und dem Kaiser huldigen (4–5). Als Cotta Maximus Ovid zwei Caesarenbilder und ein weiteres Votivbild der Livia zukommen lässt (2, 8), überschlägt sich Ovid förmlich in panegyrischer Rhetorik (zum Augustus-Kult vor Ort z. B. Pippidi 1962, 101–105). Hatte der Weltenherrscher auf diese Weise nicht doch den Weg nach Skythien gefunden, um sich von ihm anbeten zu lassen? Waren die Bilder nicht eloquent und machtvoll wie Standarten, signa, die er gegen die Barbaren ins Feld führen konnte (2, 8, 69– 70)? Die Artefakte konnten in ihrer repräsentativen Kraft den gleichen Charakter besitzen wie ein Gedicht. Die über die Zeit hinausweisende und verbindende Natur der Elegien konnte sich schließlich bis zum moralischen Postulat auswachsen. An die Gattin gerichtet (3, 1), entwirft Ovid nach der abermaligen Klage über die menschenunwürdige und deprimierende Flora und Fauna der Schwarzmeerküste einen regelrechten Forderungskatalog, der in detaillierte Regieanweisungen mündet, wie seine Frau am Kaiserhof als möglichst eindrucksvolle Aktrice und Botschafterin seiner Sache in Erscheinung zu treten hatte. Ihn

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hatte sein Schicksal im Medium der Poesie verklärt, Gleiches konnte auch sie beanspruchen; seine Gattin hatte daher dem in den Elegien schon ausformulierten und mit antiken Vergleichen gesättigten Ideal auch gerecht zu werden. Cotta stellt Ovid fast in gleichem Atemzug in Aussicht (3, 2, 29–110), in seinen Versen als Archetyp der Freundschaft zu firmieren, vergleichbar den Gefährten Orestes und Pylades. Zur Illustration fingiert er einen Greis, der die Geschichte der Jünglinge zu Tauris als Teil einer lokalen mündlichen Tradition noch zu repetieren wusste. Mit erheblicher Logik münden die autopoetischen Reflexionen Ovids schließlich in eine Selbstapotheose, die vielleicht die entscheidende Antwort war, die der Verfasser der Epistulae ex Ponto auf die Zumutung des Exils geben konnte (4, 8). Dichtung sicherte Unsterblichkeit, wie er Suillius Rufus bekräftigt, der seine Stieftochter geheiratet hatte. Eisen und Stein nutzten sich ab, doch Agamemnon hatte sich seine Fortexistenz durch die homerischen Verse gesichert. Die Götter selbst, so der Verfasser der Metamorphosen, Chaos, Giganten und Hercules, brachte die Poesie erst hervor. Wer also war in der Lage, Germanicus zum Gott zu machen, wenn nicht Ovid? Zum Ende konnte die Poesie alles überdauern, wie die Epistulae ex Ponto schließen (4, 16). Vor all den Dichtern, die er in seinen Elegien aus der Marginalen der Zivilisation angeschrieben hatte (und die größtenteils nur durch Ovid selbst als Verfasser von Gedichten geläufig waren), hatte Ovid Anerkennung gefunden; in ihrer Gemeinschaft würde er weitergetragen werden. Selbst wenn er sonst alles verloren hatte, sein Leben war zu einer materia, also einem Schmerzempfänger, aber auch einem poetischen Stoff des Elends geworden, der seine körperliche Existenz weit hinter sich lassen musste: Omnia perdidimus: tantummodo vita relicta est, / praebeat ut sensum materiamque mali (4, 16, 49–50).

18.4 Rezeption in der Antike Die antiken Hinweise auf das Exil des Dichters sind bekanntermaßen spärlich (vgl. Statius, Silvae 1–2, 254–255, weitere Referenzen bei Gaertner 2007a, 18– 19). Die Wirkungsgeschichte der Epistulae ex Ponto in die vormittelalterliche Epoche hinein lässt sich kaum von der Rezeptionsgeschichte der Tristien trennen. Rutilius Namatianus, macht in seinem Hodoeporicon De reditu gelegentlich von ihnen Gebrauch (Fielding 2017, 83–88). Lediglich die explizite Überschreibung als ›Briefe‹ gestand den Epistulae, isoliert von ihrem

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Vorgängerwerk, ein gewisses Eigenrecht in der Rezeption zu, die sich schon in den Briefen der spätantiken Väterliteratur niederschlug. Paulinus von Nola und Ausonius sollten, um ein Beispiel zu nennen, in ihrer Korrespondenz wiederholt auf die Briefe Ovids zurückgreifen (Fielding 2017, 22–51). Literatur

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III Werk

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Bernd Roling

19  Medea, Halieutica und andere verlorene oder unechte Werke

19 Medea, Halieutica und andere verlorene oder unechte Werke 19.1 Einleitung Da der Buchhandel in der Antike ein sehr verzweigtes Geschäft war, gab es bereits damals viele Werke, die auf dem Handelsweg verloren gingen oder die fälschlicherweise anderen Autoren zugeschrieben wurden. So gibt es auch von Ovid einige Texte, die die Zeit nicht überdauert haben und uns nicht mehr vorliegen. Die wichtigste Quelle, die Auskunft über diese verlorenen Werke gibt, ist Ovid selbst: Vor allem in seinen Briefen aus dem Exil erwähnt er viele kleinere Schriften wie ein Hochzeitslied (Pont. 1–2, 131), Nachrufe (epicedia) für seinen Gönner Messalla und für Augustus (Pont. 1, 7, 30 und Pont. 4, 6, 17) und Loblieder auf Tiberius’ Pannonien-Triumph (Pont. 3–4) sowie auf die kaiserliche Familie insgesamt (Pont. 4, 13, 19–36). Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Ovid tatsächlich entsprechende Werke verfasst hat. Andere Angaben Ovids zu größeren Werken, die er verfasst haben will, werden von der Forschung kritischer gesehen: So behauptet Ovid, seine Amores hätten ursprünglich aus fünf Büchern bestanden anstatt aus drei; da aber kein anderer antiker Autor aus den nicht überlieferten Büchern zitiert oder über sie gesprochen hat, bezweifeln einige Forscher wie z. B. Niklas Holzberg, dass es die längere Ausgabe wirklich gegeben habe (Holzberg 1997, 42). In den Amores spricht Ovid außerdem davon, ein Epos über die Gigantomachie, den Kampf der Giganten gegen die Götter, geschrieben zu haben (am. 2, 1, 11–16). Allerdings wurde dieser Mythos in der augusteischen Dichtung nur selten aufgegriffen, weil das Thema zu groß für die beliebte kallimacheische Kleinform der Gedichte war. Ovids »Gigantomachie« hätte demnach eine thematische Sonderstellung gehabt, doch kein anderer antiker Autor nimmt Bezug auf das Werk, was darauf hindeutet, dass es nicht existierte oder zumindest nicht veröffentlicht wurde. Es gibt allerdings ein anderes größeres Werk, das nicht nur von Ovid, sondern auch von anderen Autoren erwähnt und besprochen wird: seine Tragödie Medea.

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19.2 Medea Ovid spricht in den Amores und in den Tristien davon, eine oder mehrere Tragödien geschrieben zu haben. Insbesondere in den Amores ist oft davon die Rede, dass die elegische Muse sich gegen die tragische Muse durchsetzen müsse (s. bspw. das Streitgespräch zwischen den Musen in Amores 3, 1), weshalb man davon ausgeht, dass Ovid seine Medea entweder zeitgleich oder kurz vor den Amores verfasst hat. Sie wurde vermutlich zusammen mit der Tragödie Thyestes des Dichters Lucius Varius Rufus (s. Tacitus, dialogus de oratoribus 12, 6) aufgeführt. Obwohl die Medea und der Thyestes zwei bedeutende Tragödien der augusteischen Epoche sind, ist fast nichts mehr von ihnen erhalten. Seneca der Ältere zitiert in seinen Suasorien (suas. 3, 7) einen Teilvers der Medea: feror huc illuc ut plena deo, »ich werde hierhin und dorthin getrieben, wie vom Gott erfüllt.« Medea vergleicht hier ihr Verhalten mit dem einer Mänade, die von Bacchus inspiriert bzw. in den Wahnsinn getrieben wurde. In der Tragödie Medea des jüngeren Seneca beobachtet Medeas Amme ihr Verhalten und beschreibt es auf die gleiche Weise. Der einzige vollständige Vers aus der Medea findet sich bei Quintilian: servare potui – perdere an possim rogas?, »ich konnte [dich] retten – fragst du, ob ich [dich] zerstören kann?« Hier spricht Medea vermutlich mit Jason, dem sie in der Vergangenheit mehrfach das Leben gerettet hat, und an dem sie sich im Verlauf der Tragödie grausam dafür rächen wird, dass er sie und ihre gemeinsamen Kinder für eine andere Frau verlassen hat. Weil wir keine weiteren Verse aus der Medea überliefert haben, können wir nur vermuten, was Ovid aus dem bekannten Tragödienstoff gemacht hat. Innerhalb seines Werkes beschäftigt er sich noch zweimal mit Medea: Er lässt sie in den Heroides einen Brief an Jason schreiben, was interessante Vergleiche mit ähnlichen Monologen aus der Tragödie erlaubt hätte (s. Kap. 10), und er erzählt in den Metamorphosen (Buch 7) die Vorgeschichte des Tragödienstoffes aus Medeas Perspektive. Doch da Ovid hier die Handlung der Tragödie in vier Versen beschreibt, können wir nur vermuten, inwieweit er die Monologe der Tragödie für Medeas Vorgeschichte umgewandelt hat. Aus dem Urteil der antiken Nachwelt lässt sich aber ableiten, dass die Tragödie große stilistische Unterschiede zum restlichen Werk Ovids aufgewiesen haben muss: Quintilian hält Ovid im Allgemeinen für zu ausschweifend (lascivus, was sowohl »zügellos« als auch »wollüstig« heißen kann) und sagt, er sei »zu sehr in

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_19

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sein eigenes Talent verliebt« (nimium amator ingenii sui, inst. 8, 10, 88). Die Medea nimmt er allerdings von seiner Kritik aus und führt sie im Gegenteil als ein herausragendes Beispiel für römische Tragödiendichtung an: Ovidi Medea videtur mihi ostendere quantum ille vir praestare potuerit si ingenio suo imperare quam indulgere maluisset – »Ovids Medea scheint mir zu zeigen, wie weit überlegen jener Mann gewesen wäre, wenn er sein Talent lieber gezügelt hätte als ihm die Zügel schießen zu lassen« (inst. 10, 1, 98).

19.3 Halieutica Die Halieutica sind ein Gedicht über die Kunst der Fischerei, über die verschiedenen Fischarten und Fangmethoden. Uns sind aus mehreren Abschnitten insgesamt 134 Hexameter in fünf Manuskripten überliefert; das älteste Manuskript stammt aus dem späten 8. Jahrhundert und wird heute in Wien aufbewahrt. Weil man alle anderen Manuskripte mit großer Wahrscheinlichkeit auf diese eine Vorlage zurückführen kann, plädiert John Richmond (Richmond 1981) dafür, dass Textausgaben ausschließlich dieses Manuskript als Haupttext nutzen sollten und man alle Textvarianten aus den späteren Manuskripten in den textkritischen Apparat setzen sollte. Neben den Manuskripten haben wir auch eine indirekte Übertragung durch Plinius den Älteren, der die Halieutica ca. 77 n. Chr. in seiner Naturalis historia zitiert (nat. 32, 11 und 152–153); man vermutet aber, dass die Vorlage, die Plinius benutzt hat, bereits Lücken aufwies. Plinius hält Ovid für den Autor der Halieutica und vermutet, dass er das Gedicht im Exil in Tomis geschrieben habe, weil die Fischarten, die im Gedicht erwähnt werden, in Rom nicht bekannt waren. Da auch andere Autoren Gedichte über die Fischerei geschrieben haben, können wir den Aufbau der Halieutica aus ihnen ableiten: Das Gedicht beginnt mit einer Anrufung der Musen (invocatio), gefolgt von einem Vergleich zwischen Fischerei, der Wild- und der Vogeljagd (synkrisis). Anschließend kommt ein Katalog der verschiedenen Fischarten, die nach ihren Lebensräumen sortiert sind, und von den Fangmethoden, die sich für jeweils unterschiedliche Lebensräume eignen. Das überlieferte Fragment der Halieutica beinhaltet keine invocatio; die Verse 1 bis 82 scheinen zur synkrisis zu gehören, während es sich bei den Versen 83 bis 134 um Ausschnitte aus dem Fischkatalog handelt. Die Verse aus dem Fischkatalog wurden zwar »am Stück« überliefert, sie bilden aber keinen zusammen-

hängenden Text, weil an mehreren Stellen Subjekte oder grammatikalisch notwendige Satzteile fehlen. Die überlieferten Fischlisten lassen erkennen, dass das Gedicht einen griechischen Katalog imitiert, der später auch von Oppian für sein eigenes Lehrgedicht Halieutica verwendet wurde: die Kategorisierung der Fische ist bereits in Aristoteles’ Peri ta zōa historiai (Tierkunde) zu finden, und viele Peripatetiker haben ebenfalls zoologische Traktate verfasst, die als Vorlage gedient haben können. Doch da man nicht weiß, wie groß die Lücken zwischen den jeweiligen überlieferten Stücken sind, kann man keine Aussage darüber treffen, welchen Umfang das Gesamtwerk hatte. Die dichterische Qualität der Halieutica ist schwierig zu beurteilen, weil der Text nur lückenhaft überliefert wurde und viele metrisch komplizierte Namen und fachspezifische Ausdrücke enthält. Obwohl der Text eine klare Struktur aufweist und der Autor dichterische Mittel und Zitate verwendet, zeigt er auch deutliche Schwächen wie zum Beispiel häufige, unelegante Wiederholungen von einzelnen Wörtern oder ganzen Wendungen. Richmond beschreibt den Stil insgesamt als »undistinguished, unpoetical and pedestrian« und sagt, der generelle Eindruck sei der eines mittelmäßigen Autors aus der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts n. Chr. (Richmond 1981, 2753). Die Prosodie der Fischnamen ist kompliziert und im Gedicht oft falsch, und auch das Metrum ist insgesamt eher unbeholfen: Die Verse beinhalten einige harsche Elisionen, seltsame Zäsuren und zahlreiche Spondeen. Das ist untypisch für klassische Dichter und umso auffälliger, weil Ovids Metrum normalerweise sehr elegant und regelmäßig ist. All diese Beobachtungen werfen starke Zweifel daran auf, ob Plinius Recht damit hatte, die Halieutica zu Ovids Werk zu zählen: Der Stil, die Sprache und das Metrum haben Eigenheiten, die man nicht mit Ovids anderen Schriften in Verbindung bringen kann, und einige Anomalien weisen eher auf eine post-ovidische Entstehungszeit hin. Forscher, die Plinius und den Zuschreibungen der Manuskripte Glauben schenken, verteidigen die qualitativ schwachen Passagen mit der korrupten, unvollständigen Überlieferungslage und behaupten, Ovids Sprachkenntnisse in Griechisch und Latein sowie sein Stil hätten unter dem Exil und dem schlechten Griechisch der Fischer aus Tomis gelitten. Die Datierung der Halieutica hängt auch davon ab, ob man Ovid als Autor annimmt oder nicht: Wenn Ovid der Autor ist, dann stammen die Halieutica mit großer Sicherheit aus den letzten Jahren seines Exils, also 16/17 n. Chr. Falls man von einem anderen Autor

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ausgeht, dann kann man die Datierung über die Parallelen zu anderen Dichtern vornehmen: In diesem Szenario schrieb der Autor definitiv nach Vergil (19 v. Chr.) und Ovid (17 n. Chr.) und auch nach Seneca (41 n. Chr.), dessen Tragödien Phaedra und Thyestes sprachliche Anklänge an die Halieutica aufweisen, aber das Gedicht muss vor Plinius’ Tod (79 n. Chr.) entstanden sein. Weil Plinius Ovid für den Autor des Gedichts hält, ist es außerdem plausibel, die Entstehung der Halieutica möglichst früh zu datieren, um die schlechte Qualität von Plinius’ Vorlage und seine fragwürdige Zuschreibung zu erklären.

19.4 Nux Bei der Nux handelt es sich um ein Gedicht, in dem sich ein Nussbaum am Straßenrand darüber beklagt, dass die vorbeigehenden Leute ihn mit Steinen bewerfen, damit die Nüsse von seinen Ästen abfallen. Das Gedicht ist uns in zahlreichen Manuskripten überliefert: Die Ausgabe von Friedrich Lenz (Lenz 1956) basiert auf 39 Codices und vier frühen Textausgaben, Martin Pulbrook führt in seiner Edition (Pulbrook 1985) 26 weitere Textzeugen an – die Überlieferungslage ist also sehr unübersichtlich. Das Gedicht umfasst 182 Verse im elegischen Distichon und hat eine klare inhaltliche Struktur: Der Nussbaum benennt seine Fruchtbarkeit als die Ursache seines Unglücks und beklagt, dass er trotz seiner Anspruchslosigkeit von allen Leuten schlecht behandelt werde. Daraufhin argumentiert er aus juristischer Perspektive, dass es Diebstahl sei, die Nüsse vom Wegesrand einzusammeln, und bittet die Vorbeireisenden schließlich, ihn entweder besser zu behandeln oder ihn zu fällen, weil er seine derzeitige Situation nicht länger ertrage. Durch den Inhalt ergeben sich stilistische Parallelen zu Grabinschriften, die sich an vorbeigehende Reisende richten, und zum Aufbau römischer Gerichtsreden. Stil, Sprache und Metrum des Gedichts zeigen große Ähnlichkeit mit anderen Schriften aus Ovids Werk: Richmond ist zwar der Meinung, dass die Nux insgesamt unter Ovids dichterischem Standard liege, beschreibt den Stil aber als gewitzt, lebhaft und energiegeladen und merkt an, dass selbst die stilistischen Schwächen des Textes wie eine gewisse Weitschweifigkeit, Frivolität und das Zurschaustellen der Klugheit des Dichters nicht unüblich für Ovid seien (Richmond 1981, 2762–2763, vgl. auch Quintilians Urteil weiter oben im Abschnitt »Medea«). Die Sprache der Nux be-

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inhaltet zwar einige Ausdrücke, die nirgendwo sonst in Ovids Werk auftauchen, doch die Menge dieser Ausdrücke ist vergleichbar mit der Menge an ovidianischen hapax legomena (Ausdrücken, die in Ovids Gesamtwerk nur ein einziges Mal verwendet werden) in seinen anderen Schriften (Lee 1958, der auch die sprachlichen Abweichungen/Unstimmigkeiten analysiert). Doch obwohl die Ähnlichkeit zu Ovids Werk unübersehbar ist und alle Manuskripte Ovid als Autor der Nux nennen, geht man heute davon aus, dass ein unbekannter Autor Ovid sehr gekonnt nachgeahmt hat. Die Zuschreibung zu Ovid hat auch die Interpretation des Werkes beeinflusst. Ein handschriftlicher Kommentar in einem Codex (s. Lenz 1956, 120 n. 2) hält das Gedicht für eine Allegorie Ovids auf sein Exil: Die Bäume seien Sinnbild für Ovid und seine Dichterkollegen und die Früchte (poma, 6) seien die Werke (poemata) der Dichter. Ovid stehe als Nussbaum nun nicht nur an der (Straßen-)Grenze des Landguts (oder an den Grenzen des römischen Reichs im Exil), sondern werde aufgrund seiner Früchte (speziell der Ars amatoria) von anderen misshandelt und versuche, durch das Lob der kaiserlichen Gerechtigkeit die Gunst des Kaisers und eine Begnadigung zu erlangen. Doch da der Autor der Nux nicht bekannt ist, können wir heute keinerlei Aussage über den allegorischen Gehalt des Stückes treffen.

19.5 Consolatio ad Liviam Die Consolatio ad Liviam ist eine in Hexametern gedichtete Trostschrift an Livia, die Ehefrau des späteren Kaisers Augustus, anlässlich des Todes ihres Sohnes Drusus, der im Jahr 9 v. Chr. auf einem Germanienfeldzug verunglückt war. Die Trostschrift war in der Antike ein eigenes literarisches Genre mit festen rhetorischen Vorschriften für die Struktur des Textes. Der Aufbau der Consolatio ad Liviam folgt der vorgegebenen Struktur: Die erste Hälfte des Textes beginnt mit einer Lobrede (encomium) auf den verstorbenen Drusus (V. 1–166), an die sich die Beschreibung der Begräbnisfeiern anschließt (V. 167–264). Erst dann folgt die eigentliche Tröstung der Hinterbliebenen (V. 265–474). Die Consolatio wurde in acht Hauptcodices überliefert, die aus dem 15. Jahrhundert stammen und somit relativ jung sind; der älteste Codex ist mittlerweile verloren. Es gibt zwei Textausgaben aus den Jahren 1471/72 und 1474, die älter als die jüngsten drei Codices und deswegen sehr wichtig für die Überlieferungsgeschichte sind; man kann aber erkennen, dass die

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Vorlagentexte für diese Textausgaben bereits damals stark korrupt gewesen sein müssen. Das Urteil über die Qualität der Consolatio ad Liviam hat sich im Laufe der Zeit mehrfach stark geändert: Nicolaes Heinsius und Lodewijk Caspar Valckenaer beispielsweise hielten die Consolatio für ein herausragendes Gedicht (s. Valckenaer 1809, 365), vermutlich aufgrund des historisch interessanten Themas, das in der damaligen Zeit auch literarisch relevant war und dessen gründliche und konventionelle Bearbeitung ein großes Maß an römischer gravitas und dignitas ausstrahlte. Diese Einschätzung wurde durch Moritz Haupt grundsätzlich infrage gestellt: In seinen Untersuchungen (Haupt 1875) kommt er zu dem Schluss, die Eigenschaften der Sprache würden zeigen, dass es sich bei der Consolatio um eine Fälschung aus der Renaissance handele. Mittlerweile wurde diese Behauptung durch Funde von antiken Parallelstellen widerlegt, doch die stilistischen Probleme, auf die Haupt hingewiesen hatte, bleiben davon unberührt. Der inhaltliche Aufbau ist insgesamt langatmig und allzu detailversessen, der Autor wiederholt sich oft und verwickelt sich teilweise in Widersprüche: So wird beispielsweise der Umstand, dass Livia beim Tod ihres Sohnes nicht selbst anwesend war, zu Beginn des Gedichtes als Unglück gewertet (95), später aber als glückliche Fügung beschrieben (393). Es gibt mehrere missglückte Übergänge zwischen Textabschnitten (z. B. 271) und Adressatenwechsel, die nicht ausreichend gekennzeichnet sind (z. B. im Abschnitt 328–341, wo ein Adressatenwechsel von Antonia, Drusus’ Ehefrau, zu Livia stattfindet, der aber erst am Ende der Passage klar wird), sowie mechanische Einführungen mythologischer exempla, die Ovids manchmal unkonventionelle, aber doch klare Textgestaltung vermissen lassen. Der strukturierte Aufbau und die Verwendung typischer Stilmittel wie rhetorischer Fragen und Dichterzitate führt John Richmond zu der Einschätzung, dass der Autor vermutlich in einer Rhetorenschule gelernt hat, Trostgedichte zu schreiben (Richmond 1981, 2771–2772); seine nur mittelmäßigen Fähigkeiten zeigten sich aber darin, dass er einige der Stilmittel und möglichen metrischen Besonderheiten (wie z. B. Elisionen) im Übermaß verwende. Wegen dieser Mängel wird im Allgemeinen angenommen, dass Ovid nicht der Autor des Werks gewesen ist, sondern jemand, der zwar mit der Dichtung der augusteischen Zeit aus erster Hand vertraut war, aber nicht an Ovids Talent im Umgang mit Stil, Metrum und inhaltlichem Aufbau heranreichte.

Die Datierung der Consolatio ad Liviam ist schwierig, weil kein anderes antikes Werk, das uns überliefert ist, eindeutig auf die Consolatio verweist. Deswegen versucht man, den Entstehungszeitraum anhand möglicher Parallelstellen und anhand inhaltlicher Elemente der Consolatio einzugrenzen. Die späteste sichere Vorlage für eine Consolatio-Passage findet sich in Ovids Briefen aus dem Exil (Pont. 3–4, 108); die Consolatio entstand demnach frühestens 12 n. Chr. Die späteste wahrscheinliche Datierung für die Consolatio ergibt sich aus zwei argumenta ex silentio, also aus Dingen, die der Text nicht bzw. falsch beschreibt: Zum einen erwähnt der Autor nicht, dass Drusus’ Söhne eine wichtige Rolle in der Kaiserdynastie spielen werden: Der ältere ist der Vater von Caligula, der 37 n. Chr. Kaiser wird, und der jüngere, Claudius, wird nach Caligula Kaiser werden. Zum anderen behauptet Mars in Vers 245, dass aus der Kaiserfamilie nur Caesar und Augustus zu Göttern erhoben werden. Das wäre unter Kaiser Caligula, der sich selbst als lebenden Gott inszenierte, eine unvorsichtige Äußerung; außerdem wurde Livia selbst im Jahr 42 n. Chr. von Claudius zur Göttin erhoben. Deswegen geht man davon aus, dass die Consolatio vor der Herrschaft des Caligula geschrieben wurde, und nimmt die Jahre 12–37 n. Chr. als Entstehungszeitraum an.

19.6 Andere verlorene/unechte Werke Neben der Medea, die uns fast gar nicht überliefert ist, gibt es noch zwei weitere Werke Ovids, die er verfasst hat, die uns aber in Teilen verloren gegangen sind: Die Medicamina faciei femineae sind ein pharmakologisch-kosmetisches Lehrgedicht, von dem nur die Einleitung und vier Rezepte in 50 elegischen Distichen (also insgesamt 100 Versen) erhalten sind. Die überliefernden Manuskripte brechen mitten im Werk ab, und Gianpiero Rosati vermutet, dass das Werk mindestens doppelt so lang gewesen ist (Rosati 1985, 43–45). Auch die zweite Hälfte der Fasti, der Kalenderdichtung Ovids, ist nicht überliefert worden; man vermutet, dass Ovid die Fasti zwar vollständig geschrieben, aber nur die erste Hälfte redigiert hat, so dass die zweite Hälfte nicht veröffentlicht wurde (Herbert-Brown 1994, 204–212). Zwei spätantike Autoren, Pseudo-Probus und Laktanz, zitieren außerdem eine lateinische Übersetzung von Arats Phainomena (»Himmelserscheinungen«), die sie Ovid zuschreiben, doch das Werk wurde nicht weiter überliefert, was einerseits überraschend wäre, wenn das Werk da-

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mals wirklich unter Ovids Namen kursierte, und es andererseits unmöglich macht, die Behauptung durch stilistische und intertextuelle Untersuchungen zu überprüfen. Einige Werkausschnitte Ovids, die heute im Allgemeinen eingebettet in das größere Werk veröffentlicht werden, stehen im Verdacht, nicht von Ovid selbst geschrieben, sondern von späteren Autoren hinzugefügt worden zu sein: So wird zum Beispiel die Echtheit von Amores 3, 5 angezweifelt, weil es sich bei diesem Gedicht um eine Traumerzählung mit daran angeschlossener Deutung handelt. Insbesondere diese Traumdeutung weicht von der Elegientradition ab, die sich von den Autoren Tibull und Properz ableitete und der sich Ovid verpflichtet sah, auch wenn er das Genre stellenweise stark parodierte und mit vorgegebenen Rollenverteilungen und Klischees spielte. Auch einige Briefe der Heroides, insbesondere der Brief von Sappho sowie die Doppelbriefe, stehen im Verdacht, von einem anderen Autor geschrieben und der Sammlung fälschlicherweise hinzugefügt worden zu sein (Näheres zu Echtheitsfragen und Überlieferung findet sich in den Kapiteln »Amores«, »Heroides«, »Medicamina« und »Fasti« sowie im Kapitel »Überlieferung, Textausgaben, Übersetzungen, Kommentare«). Ein Grund dafür, warum die Autorschaft einzelner Stücke aus größeren Werken angezweifelt wird, ist die große Anzahl an Nachahmungen und Fälschungen, die uns aus dem Mittelalter und der Renaissance überliefert sind: Neben mehr oder minder offensichtlichen Nachahmungen wie De sompnio (nach dem Somnium, einem Alternativtitel für Amores 3, 5), De medicamine aurium (»Über ein Heilmittel für die Ohren«, nach den Medicamina faciei femineae) oder De mirabilibus mundi (»Über die Wunder der Welt«, nach den Metamorphosen) gibt es auch Antwortbriefe auf die Heroides, die allerdings klar als nicht-ovidisches Werk gekennzeichnet waren, und ein drei Bücher umfassendes Werk mit dem Titel De vetula (»Über eine alte Frau«), das angeblich in Ovids Grab gefunden wurde und teilweise autobiographisch angelegt ist. Dieses Werk ist aufgrund seiner breit gefächerten Themen

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(Kosmologie, Spielbeschreibungen, Mathematik) sehr interessant, doch der mittellateinische Sprachduktus und die Tatsache, dass Ovid in diesem Werk zum Christentum konvertiert, ließen bereits Petrarca zu dem Schluss kommen, dass Ovid nicht der Autor der Vetula sein konnte (Binns 1973, 203). Die Menge an Nachahmungen ist ein Hinweis auf das starke Interesse, dass Ovid und sein Schreibstil in Mittelalter und Renaissance erfahren haben; oft waren diese Schriften auch nicht als Fälschung intendiert, sondern als Re­ imagination und Fortführung von Ovids Werk im Sinne eines »was wäre, wenn«. Literatur

Binns, James W.: Ovid. London 1973. Haupt, Moritz: ›Epicedion Drusi‹. In: Ders.: Opuscula. Gesammelt von Ulrich v. Wilamowitz-Moellendorff, 3 Bde. Leipzig 1875. Bd. 1, 315–357. Herbert-Brown, Geraldine: Ovid and the ›Fasti‹. A Historical Study. Oxford 1994. Holzberg, Niklas: Ovid. Dichter und Werk. München 1997. Knox, Peter E.: Lost and Spurious Works. In: Ders. (Hrsg.): A Companion to Ovid. New York 2009, 207–216. Lee, A. G.: The Authorship of the Nux. In: Nicolas I. Herescu (Hrsg.): Ovidiana. Recherches sur Ovide. Paris 1958, 457– 471. Lenz, Friedrich (Hrsg.): P. Ovidi Nasonis ›Halieutica‹. Fragmenta. Nux. Incerti Consolatio ad Liuiam. Turin 21956. Ovidius Naso, P.: Nux elegia edidit recognovitque R. Martin Pulbrook, Maynooth 1985. Ovidius Naso, P.: I cosmetici delle donne. Hrsg. von Gianpiero Rosati. Venedig 1985. Ovidius Naso, P.: Ibis. Fragmente. Ovidiana. Lat./dt. Hrsg., übers. und erl. von Bruno W. Häuptli. Zürich/Düsseldorf 1996. Owen, S. G.: P. Ovidi Nasonis Tristium libri quinque. Ibis. Ex Ponto libri quattuor. Halieutica. Fragmenta. Oxford 1915 (mehrf. nachgedr.). Richmond, John A.: Doubtful Works Ascribed to Ovid. In: Wolfgang Haase (Hrsg.): Sprache und Literatur. Literatur der augusteischen Zeit: Einzelne Autoren, Fortsetzung (Vergil, Horaz, Ovid). ANRW Principat. Bd. 31/4. Berlin/ Boston 1981 (Nachdruck 2014), 2744–2783. Valckenaer, Lodewijk Caspar: Opuscula II. Leipzig 1809.

Vera Engels

IV Ästhetik und Poetologie

20 Literarische Rollen Von Anfang an ist das vielfältige Œuvre Ovids von einer eigentümlichen Egozentrik bestimmt: Es ist gekennzeichnet von der Proliferation sich ergänzender, überlagernder und teils auch widersprechender literarischer Rollen – als Dichter, Liebender, Müßiggänger, Lüstling, Ehemann, Lehrer, Antiquar, Provokateur, Brieffreund, Exilierter –, die sich der Sprecher zuschreibt. Ovids Dichtung speist sich dabei aus den Gattungsprätentionen der Liebeselegie, in der scheinbar das persönliche Erleben des Sprechers verhandelt wird, der zugleich als Dichter und Geliebter auftritt. Die Konfiguration des Dichters, der in eigener Sache spricht, wird nach den Liebeselegien des Erstlingswerks Amores nie vollständig aufgegeben, sondern findet in immer neuen Brechungen ihren Niederschlag. In den Werken, die Ovid nach seiner Relegation nach Tomis am Schwarzen Meer (8 n. Chr.) geschrieben haben will – Tristia, Epistulae ex Ponto und Ibis –, behauptet der Sprecher mithin die genaue Korrespondenz von ›Dichtung und Wahrheit‹ und beansprucht für seine Dichtung dokumentarischen Status respektive, im Bemühen um seine Rehabilitation, den Gebrauchswert »einer Art Publizistik in eigener Sache« (Kraus 1942, 1961). Damit bekräftigt Ovid immer wieder eine biographistische Lese- und Interpretationshaltung, wie sie in der antiken Literaturkritik und -theorie verankert ist (Korenjak 2003, Graziosi 2006; grundlegend Möller 2004). Zuweilen widersetzen sich aber die Selbstzuschreibungen Ovids auch der Idee der Korrespondenz von Sprecherrolle und Autorleben und verraten eine Einsicht in die rhetorische Figuration der Sprecher-persona sowie eine neuartige implizite, aber nuancierte Theorie des Rollenspiels (Fuhrmann 1979, Clay 1998, Mayer 2003). Entsprechend hat man von der biographischen Auswertung von Ovids Dichtung zunehmend Abstand genommen. Mit den Schwierigkeiten der Datierung einzelner Werke sowie deren komplexer, werkintern verhandelter Editions- und Revisionsgeschichte sperrt sich das Œuvre gegen solche Rekonstruktionsversuche (Martelli 2013), und selbst die ›autobiographische‹ Elegie trist. 4,10 erweist sich als rhetorisch stark überformt (so etwa Holzberg 2005, 33–35). An die Stelle des Autobiographischen ist u. a.

die Orientierung am Begriff der Autofiktion getreten, welcher die Co-Konstitution von Autor und Werk theoretisch fundiert und nachweist, wie sich ein Bemühen um Referentialisierbarkeit im literarischen Werk selbst Geltung verschafft (zum Begriff: Zipfel 2009, Wagner-Egelhaaf 2013; zu Ovid: Diez 2016, Möller 2019). Zudem hat die vermehrte Auseinandersetzung mit dem Werkganzen, respektive Werkzusammenhängen, zu der Einsicht geführt, dass Kontinuitäten und Brüche zwischen den einzelnen Werken und die Differenz der literarischen Rollen, die Ovid jeweils beansprucht, für die Konstitution seiner Autorschaft produktiv sind (Farrell 2004, Barchiesi/Hardie 2010, Scheidegger Lämmle 2016, 171–246).

20.1 Der Dichter der Liebe – Amores, Ars amatoria, Remedia amoris, Heroides In den Amores zeigt sich die Virtuosität des ovidischen Rollenspiels ebenso beispielhaft wie die Schwierigkeiten, die mannigfaltigen Rollen, die sich der Sprecher im Verlauf der Gedichtsammlung beilegt, in ein kohärentes Narrativ zu überführen. Diese Schwierigkeiten sind dabei auch dem Umstand geschuldet, dass es sich bei den erhaltenen drei Büchern Amores um eine gekürzte Neuausgabe einer ursprünglichen Sammlung von fünf Büchern handeln soll; mit Ausnahme von am. 2, 18, wo spätere Werke Ovids genannt werden (dazu Bretzigheimer 2001, 46–75, 273–282), lässt sich aber nicht entscheiden, zu welchem Grad sich der originale Textbestand verändert hat. Dennoch entwerfen die Amores die Geschichte von Ovids erster Liebe und leisten damit eine ›Archäologie‹ seiner Hinwendung zur Elegie als werbender Dichtung. Indes ist klar, dass die Frage der Dichtungsform vor ihrem Inhalt Priorität hat; die Begegnung mit der Geliebten, und damit die gattungskonstituierende Liebeserfahrung des Dichters, kommt erst verspätet zur Sprache (erste Namensnennung der Geliebten Corinna: am. 1, 5, 9). Damit werden die Gattungsprätentionen der Aufrichtigkeit und inneren Beteiligung des poeta-amator von Anfang an als prekär ausgewiesen: Das ›elegische System‹ wird dabei als solches ausgestellt und an seine Grenzen geführt, wodurch die Fortschreibung der elegischen Gattungstradition nach Ovid gleichsam un-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_20

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IV  Ästhetik und Poetologie

denkbar geworden ist (so z. B. Lyne 1980, 284–287, Holzberg 2005, 20–30). Tatsächlich tritt uns Ovid in dem den Amores vorangestellten und von diesen selbst gesprochenen Epigramm zunächst in der dritten Person distanziert und gleichsam objektiviert entgegen: »Die wir eben noch fünf Büchlein des Naso waren, sind wir nun deren drei: Diesem Werk gab der Autor (auctor) vor jenem den Vorzug. Auch wenn uns zu lesen du noch immer keine Lust hast, wird die Pein nach der Streichung von zweien doch geringer ausfallen« (am. Epigramm). Der namentlich genannte Dichter Naso ist im Besitz der Sammlung und greift als auctor in den Text ein (ironischerweise mit Streichungen, die dem etymon des auctor-Begriffes augeo, ›vermehren‹ widerstreben); zugleich indiziert aber die Prosopopoiie die rhetorische Formung der Sprecherinstanzen in den Amores. Das erste Gedicht (am. 1, 1) setzt gerade bei der Inszenierung des Sprechers an: Hier zeigt sich Ovid als Poetaster und Epigone, der ein ›hyper-vergilisches‹ Epos komponiert, bis ihm der widerspenstige Liebesgott einen Versfuß stiehlt und ihn zum Dasein des Elegikers verdammt (am. 1, 1, 1–4). Freilich wird diese Aitiologie der elegischen Form bereits im Medium der Elegie geschildert. Der gattungskonforme Dichtungsgegenstand – das Liebesleben und -leiden des Dichters – wird erst sekundär durch Cupidos Pfeilschuss gestiftet, so dass der Sprecher schließlich mit der zitathaft montierten Pathos-Formel me miserum seine Zugehörigkeit zum etablierten Kanon der Elegie besiegeln kann (am. 1, 1, 21–30; vgl. etwa Stroh 1971, 144– 148, Bretzigheimer 2001, 11–45). In der Fortsetzung gewinnt das ›Liebesleben‹ des Dichters an Kontur. Auf die eingangs noch unsichere Selbstdiagnose der Liebes-Symptome folgt alsbald die Unterjochung durch Cupido (am. 1–2), und die gattungstypischen Sprechsituationen werden durchdekliniert: Der Dichter verspricht der Geliebten treuen Liebesdienst (am. 1, 3), leidet unter dem Rivalen (am. 1, 4), genießt ein Schäferstündchen (1, 5), bittet den Pförtner erfolglos um Einlass zur Geliebten (1, 6), verflucht sich, weil er sie geschlagen hat (1, 7), belauscht eine Kupplerin, die ihr vom mittellosen Dichter abrät (1, 8), und erklärt, dass sein strenger Dienst an der Liebe jedem Müßiggängertum ein Ende gesetzt habe (1, 9). Während sich aus der Abfolge und Positionierung dieser Episoden ein nur loses Narrativ konstruieren lässt, nehmen andere deutlich auf einander Bezug (vgl. Weinlich 1999, Salzmann-Mitchell 2008). So übergibt der Sprecher von am. 1, 11 einer Zofe Brief-Täfelchen für Corinna und plant, diese Venus zu weihen, falls sie

das ersehnte Treffen herbeiführen (die imaginierte Inschrift erfolgt dabei im Namen des »Naso«: 27–28); das Folgegedicht berichtet vom Scheitern der Korrespondenz (am. 1, 12). Ähnlich lässt sich die Warnung der Geliebten vor Habgier in am. 1, 10 als der Versuch des Sprechers verstehen, den Empfehlungen der Kupplerin in 1,8 entgegenzuwirken: Als Dichter kann er seiner Geliebten statt materieller Geschenke Ruhm und Unsterblichkeit versprechen (am. 1, 10, 59–62). Im Sphragis-Gedicht am. 1, 15 tut der Dichter seinen Anspruch auf eigenen Nachruhm kund und verteidigt seinen unkonventionellen Lebenswandel, der aber nur ex negativo geschildert wird (am. 1, 15, 1–6). Das zweite Buch zeigt eingangs den Dichter, der sich auch hier »Naso« nennt und nun auf seine Herkunft aus dem Paeligner-Land verweist (am. 2, 1, 1–2), wiederum mit einem Epos, nun einer Gigantomachie, beschäftigt, ehe ihn die Geliebte aussperrt und ihn so die epischen Ambitionen vergessen lässt: Wieder gilt es, mit Dichtung um die Geliebte zu werben. Die epigonale Szene des ersten Buchauftaktes (am. 1, 1) wird somit wiederholt, und der Dichter wird zu einem Epigonen zweiten Grades. Entsprechend verschärft erscheinen in der Folge die elegischen Topoi; so weicht der Pförtner aus am. 1, 6 nun erst dem grimmigen Bagoas (am. 2, 2), dann einem Eunuchen (am. 2–3); das Elegienpaar über die Täfelchen (am. 1, 11 und 1, 12) klingt in zwei Gedichten nach, in denen der Sprecher sich erst gegen den Vorwurf verteidigt, Corinna mit der Zofe Cypassis betrogen zu haben (am. 2, 7), ehe er ihn im Gespräch mit Cypassis bestätigt, die er zu weiterem Beischlaf nötigt (am. 2, 8). Vermehrt wird auch die fragwürdige Faktizität des Liebesdiskurses thematisiert. So berichtet etwa am. 2, 11 von einer anstehenden Seereise der Corinna, und der Sprecher bittet sie, ihm nach ihrer Rückkehr ihre Abenteuer in epischer Manier zu schildern (2, 11, 53): omnia pro veris credam, sint ficta licebit – »alles werde ich für wahr halten, auch wenn es erfunden sein mag«. Auf das Liebesverhältnis zugespitzt wird dieser Fiktionalitätsdiskurs in am. 2, 17, wenn der Sprecher – wieder in der Pose des mittellosen Dichterlings – der hochmütigen Corinna mit einer Menge falscher ›Corinnen‹ droht (27–30): sunt mihi pro magno felicia carmina censu, / et multae per me nomen habere volunt. / Novi aliquam quae se circumferat esse Corinnam: / ut fiat, quid non illa dedisse velit? (»Statt eines großen Vermögens hab’ ich glückliche Lieder zur Hand, und viele möchten durch mich Berühmtheit erlangen. Eine kenn’ ich, die überall behauptet, sie sei Corinna – was gäb’ sie nicht darum, es tatsächlich zu werden?«).

20  Literarische Rollen

Der Wirklichkeitsbezug der Elegie wird so zugleich infrage gestellt (Corinna kann durch andere ersetzt oder von anderen gespielt werden) und bekräftigt (auch die neue ›Corinna‹ wird dem Dichter zu Gefallen sein). Einen komischen Höhepunkt findet das Spiel mit der Sprecherrolle in am. 2, 15, wo sich der Sprecher ausmalt, wie er zum Fingerring der Geliebten wird – bis hin zur unwillkürlichen Erektion, die sich bei ihm – als Ring – beim Blick auf die nackte Geliebte einstellt (25–26). Überhaupt ist es auffällig, dass Ovid in den Elegien vermehrt die Nähe zu Jambus und Epigramm sucht und sich bisweilen auch in der Rolle eines ungezügelten Don Juan zeigt. So weicht die Idee des exklusiven elegischen Verhältnisses in am. 2, 4 dem sexualisierten Blick auf alle Frauen zugleich (48: in ... omnis ambitiosus amor – »allen gilt meine ehrgeizige Liebe«), und in am. 2, 10 erklärt er, dass er noch nie eine Frau sexuell enttäuscht habe und durchaus auch zwei zugleich befriedigen könne (21–28), ehe er vom Tod beim Beischlaf träumt (29–38). Dass sich darin ein Bemühen um das Ausloten der Gattungsgrenzen der Liebeselegie spiegelt, zeigt sich spätestens, wenn im abschließenden dritten Buch (am. 3, 7) die sexuellen Höchstleistungen des Sprechers als (Schutz) Erinnerung in der Vergangenheit liegen (23–26), seine Gegenwart aber von Erektionsstörungen überschattet ist und die Phantasie vom Liebestod der Anklage an das tot darniederliegende Glied weicht (15– 16, 65–66). Die Klage fügt sich zu der Idee einer Abkehr von der Liebeselegie, wie sie das dritte Buch bestimmt. Dieses beginnt mit einer Inspirationsszene, in welcher der Dichter über der Fortsetzung seines Werkes brütet (am. 3, 1, 5–6), bis sich die personifizierten Gattungen Elegia und Tragoedia um seine Dienste streiten (7–60). Statt sich – wie Herakles am Scheideweg – für eine zu entscheiden, erklärt er, zunächst Elegiker bleiben und sich später der Tragödie zuwenden zu wollen (67–8). Im Schlussgedicht am. 3, 15 verabschiedet sich der Dichter von Amor und Venus, um zum Tragödiengott Bacchus überzugehen (15–18). Auch sein fortschreitendes Alter entfremdet ihn der Elegie (am. 3, 1, 23–30; vgl. etwa am. 1, 9, 1–4 u. ö.). Ob die beiden Elegien tatsächlich unter dem Eindruck von Ovids tragischer Dichtung (Medea) stehen und also wie am. 2, 18 eine spätere Zutat zur zweiten Amores-Edition darstellen oder ob sie nur ex post durch die Fortsetzung von Ovids Werk beglaubigt werden, ist unklar. Entscheidend ist, dass Ovid auch hier eine mythopoetisch überformte Schreibszene bietet, in der er sich als ebenso zaudernden wie ambitionierten Dichter zeigt, dessen Liebesleben nun – als

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Läster-Erzählung (fabula) – in aller Munde ist (3, 1, 15–24; vgl. etwa auch 3, 11, 15–20), ihm aber auch Ruhm gesichert hat (3, 15, 3–8). Den deutlichsten Bruch mit der Selbstinszenierung des poeta-amator bietet die Elegie am. 3, 13, in der Ovid unvermittelt vom Besuch eines Iuno-Festes in Begleitung seiner – in aller Selbstverständlichkeit erwähnten – Ehefrau berichtet und das entsprechende Kultaition referiert. Dass hier mit dem Gattungs-decorum gebrochen wird, erhellt auch im Vergleich mit am. 3, 10, wo ein Fest der Ceres wegen des rituellen Keuschheitsgebotes mit dem Liebesleben Ovids unvereinbar ist. Alle weiteren Werke schließen mehr oder weniger pointiert an die Amores und die dort entworfenen Autorkonfigurationen an (vgl. etwa von Albrecht 2000, Korenjak 2007). Besonders deutlich wird dieser Anschluss im Lehrgedicht der Ars amatoria, in dem Ovid als Liebeslehrer auftritt, der aufgrund der eigenen Liebeserfahrung – und damit: der eigenen Liebesdichtung – für diese Aufgabe qualifiziert ist; der Dichter ist nicht länger Amor unterlegen, sondern nimmt diesen nun seinerseits an die Kandare (ars 1, 23–30). Überhaupt finden sich häufige Anklänge an die Amores (Frings 2005, 101–125), womit die Werkfolge im behaupteten Erfahrungshorizont und der Reifung des Dichters verankert wird. Die Ars ist eine Reflexion auf die Grammatik der Liebeselegie, die nun der Prätention des persönlichen Erlebens entkleidet ist: Die emphatisch behauptete Subjektposition der Liebeselegie verschiebt sich auf das unbestimmte Du des Lehrgedichts, und die elegische Lebensweise kann erlernt und vorgespielt werden und verliert ihren Authentizitätsanspruch weiter (ars 1, 611–612, 2, 197–198 u. ö.). Das Ich des Sprechers bleibt seinem Stoff gegenüber größtenteils souverän distanziert. Sowohl am Ende des 2. wie des – scheinbar erst später und auf Nachfrage der weiblichen Leserschaft ergänzten – 3. Buches wird der Erfolg der Lehre bekräftigt, und die Leser sollen es dem Dichter mit einer Weihinschrift für Naso magister danken (ars 2, 744 = 3, 812). Zugleich wird die Ars deutlich in der urbanen Szenerie Roms verortet, wo die Folgen der kulturellen und politischen Erneuerung unter Augustus allgegenwärtig sind. Notwendig geht damit eine Politisierung der Sprecher-Person einher, die einerseits das Herrscherhaus preist (bes. ars 1, 177–216), andererseits aber mit dessen Ehe- und Sittengesetzgebung in Konflikt zu geraten droht: Vielfache Beteuerungen, dass sich das Werk nicht an verheiratete Frauen richte und nicht gegen das Gesetz verstoße, sollen dem vorbeugen (ars 1, 31–34; 2, 599–600; 3, 57–58

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IV  Ästhetik und Poetologie

u. ö.); der Sprecher erscheint aber erst recht als moralisch anrüchig. Die Frage nach Verantwortung und Justiziabilität des Autors tritt in den Remedia amoris in den Vordergrund, die als Folgewerk der Ars mit Heilmitteln gegen die Liebe aufwarten. Bereits eingangs tritt der empörte Amor auf und erhebt gegen den Dichter wegen der anti-erotischen Inhalte des Gedichts Anklage, gegen die sich dieser aber verteidigt (rem. 1–40). Das burleske Verfahren klingt dann in der Mitte des Werkes nach, wo der Dichter auf Kritiker reagiert, die ihm nun gerade die Erotik seines Werks, wohl primär der Ars, zum Vorwurf machen (rem. 360–361). In seiner langen Replik unterlässt er es, den Vorwurf zu entkräften, und erklärt stattdessen, dass seine Dichtung die Gesetze der Gattung einhalte (371–386). Dabei spricht er sich selbst nicht nur von der Anklage frei, sondern erklärt zugleich, dass er auch künftig bei den kritisierten Inhalten zu bleiben gedenke (391–392). Die Heroides, eine Reihe von (Liebes)Briefen mythischer Frauenfiguren, lassen sich als intensive Auseinandersetzung mit der Frage nach der Rhetorisierung der Sprecherposition begreifen: Im Modus von Prosopopoiie bzw. Ethopoiie nimmt der Dichter die Rolle der Heroine ein, die an einem entscheidenden Punkt in ihrem Leben das Wort ergreift. In diesem Rollenspiel, das in den späteren Doppelbriefen (epist. 16–21) weiter nuanciert wird, reflektiert der Dichter auch die eigene Textproduktion – ein Aspekt, der in der (in ihrer Authentizität umstrittenen) Epistel im Namen der Dichterin Sappho (epist. 15) besonders deutlich zutage tritt (Farrell 1998). In Ovids Exilgedichten finden sich vielfache Anschlüsse an die Autorinszenierungen und Schreibszenen der Heroides (vgl. etwa Rosenmeyer 1997).

20.2 Der Dichter der Stadt und der Welt – Fasti und Metamorphosen In seinen Fasti bietet Ovid einen poetischen Kommentar zum römischen Kalender und erzählt die Ursprungssagen zu einzelnen Kultfesten. Das Werk verhandelt die vielfachen politischen, kultischen und sozialen Einschreibungen des römischen Kalenders und präsentiert eine Dichterfigur, die besonders offensichtlich am soziopolitischen Diskurs seiner Zeit partizipiert. Auch wenn dies in den Amores bereits vorbereitet ist (am. 3, 13), grenzen sich die Fasti deutlich gegen die erotische Elegie ab und erklären, dass ihr Dichter diese überwunden habe: Er ist gereift und bearbeitet

nun, in elegischen Distichen, einen bedeutungsvollen Gegenstand, der dem Epos in nichts nachsteht (fast. 2–3–4). Andernorts – etwa, wenn der Dichter den Gott Mars auffordert, seine Waffen abzulegen und sein glänzendes Haar von seinem Helm zu befreien (fast. 3, 1–8), – wird aber auch mit der Idee eines Rückfalls in die Liebeselegie gespielt. Verschiedentlich betont Ovid, dass die elegische Form dem hohen Anspruch der neuen Inhalte nicht gewachsen sei – besonders deutlich wird dies gerade dort, wo sich die Fasti dem Herrscherlob annähern (fast. 2, 119–130 – zur Verleihung des Titels Pater patriae an Augustus). Dominant ist jedoch die Selbstinszenierung des Sprechers als eines nicht immer ganz sachkundigen, aber interessierten Antiquars, der einerseits Quellen studiert, andererseits auch wiederholt meist göttliche Informanten befragt (Miller 1991, Green 2008). Formativ ist dabei die erste (und längste) dieser Begegnungen mit dem Gott Janus (fast. 1, 93–288): Der Dichter brütet gerade über seinen Schreibtäfelchen – wie Kallimachos im Prolog der Aitien (Fragment 1, 21–24 Pfeiffer) –, als ihm der Gott persönlich erscheint und ihm die eigene Herkunft und Bedeutung auseinandersetzt. In den Metamorphosen tritt den Gattungsgesetzen des Epos entsprechend der persönliche Standpunkt in den Hintergrund. Bereits das Proömium dürfte aber indizieren, dass die damit einhergehende Neukonfiguration ovidischer Autorschaft selbst den Charakter einer Verwandlung hat und zu einem Gegenstand des Werks wird: So werden die Götter aufgefordert, »seid dem Anfang gnädig – denn ihr habt auch den verwandelt« (di, coeptis – nam vos mutastis et illa – / adspirate meis, met. 1–2–3), wobei deutlich wird, dass die Metamorphosen – anders als alle anderen erhaltenen Werke Ovids – nicht im elegischen Distichon verfasst sind. Zudem wird sogleich eine personalisierte Erzählperspektive markiert, wenn der Sprecher erklärt, er wolle sein Gedicht ›vom Anfang der Welt bis zu seiner eigenen Zeit‹ (primaque ab origine mundi / ad mea ... tempora, met. 1, 3–4) heranführen. In der Tat ist öfters Zeitgeschichtliches hinter den Erzählwelten der Metamorphosen erkennbar (Schmitzer 1990), etwa wenn der Götterrat im ersten Buch nach einer römischen Senatssitzung modelliert ist und die Empörung über den Frevel Lycaons mit der Entrüstung über einen Anschlag auf den Herrscher verglichen wird (met. 1, 200– 206). Virulent wird die historisch-politische Positionierung des Epos im 15. Buch, das mit einem Preis auf die Herrschaft des Augustus ausklingt (met. 15, 853– 870), ehe der Dichter im Epilog zuversichtlich den Erfolg seines Werkes proklamiert: Er und sein Werk (die

20  Literarische Rollen

emphatisch in eins gesetzt werden) erfahren eine Apotheose, die jener, die den Herrscher erwartet, in nichts nachsteht; dennoch bleibt der Sprecher evasiv und nennt nirgends seinen Namen (met. 15, 871–879). Während der Erzähler in den Metamorphosen damit weitgehend hinter seine Erzählung zurücktritt (Wheeler 1999, 66–74), wird seine Rolle in zahlreichen Figuren des Epos, insbesondere den Binnenerzählerinnen und -erzählern, gespiegelt. Gerade hinter leidenden und scheiternden Figuren, mithin Künstlerinnen und Künstlern, sind Reflexe auf Ovids eigenes Exilschicksal gesehen worden, die im Zuge späterer Revisionen in das Epos integriert worden seien (so etwa Sharrock 1994, 171–173 zu Daedalus in met. 8, 183–259, Giusti 2018 zu Teiresias in met. 3, 316–338).

20.3 Der Dichter des Exils – Tristia, Epistulae ex Ponto und Ibis Die Dichtungen, die Ovid nach seiner Relegation nach Tomis verfasst, bieten die eindringlichste Reflexion auf die Frage nach dem Wesen literarischer Autorschaft und der Rollen, die ein Autor in seinem Werk übernimmt. So ist schon der Auftakt des ersten Buches Tristia, das den Abschied von Rom und den Weg ins Exil dramatisiert, von der Idee des Ausgleichs zwischen Leben und Werk bestimmt (trist. 1, 1, 1–2): Parue – nec inuideo – sine me, liber, ibis in urbem / ei mihi, quod domino non licet ire tuo! (»Kleines Buch, ohne mich gehst du – ich neid’es dir nicht –, in die Stadt; weh mir! dass es deinem Herrn nicht vergönnt ist mitzugehen«). Einerseits wird die Differenz zwischen dem Werk und seinem Autor markiert, andererseits steht es emphatisch in seinem Dienst: Es trägt die Insignien seines traurigen Schicksals (trist. 1, 1, 3–12) und erscheint mithin auch als sein Kind (1, 1, 105–116). Während das Exilwerk vehement darauf besteht, dass es die Lebenswirklichkeit des Exilierten dokumentiere, reflektiert es von Anfang an auf die damit einhergehende Literarisierung. So wird schon im ersten Gedicht der Schicksalsschlag des Dichters zu einem idealen Stoff für die Metamorphosen erklärt (1, 1, 117–122). Diese Idee löst sich u. a. in trist. 1, 7 ein, wo der Dichter seiner Leserschaft einen neuen Prolog an die Hand gibt, welche diese ihrer Ausgabe der Metamorphosen voranstellen sollen (trist. 1, 7, 33–40). Dieser Vorgang inszeniert – ebenso wie die Verbrennung des Manuskriptes, die folgenlos bleibt, weil bereits Kopien der Metamorphosen im Umlauf sind (trist. 1, 7, 11–24), – das Problem der Werkherrschaft

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des Autors und erweist damit den Sprecher der ovidischen Exilgedichte emphatisch als Autor, dessen Leben von seinem literarischen Schaffen und dessen Aufnahme beim Publikum bestimmt ist. Die Erklärung, dass die Publikation der Ars amatoria für seine Exilierung (mit)verantwortlich sei, verleiht der Frage der literarischen Rezeption lebensweltliche Dringlichkeit; am nachdrücklichsten wird diese Frage in der Epistel an Augustus (trist. 2) erörtert, in welcher der exilierte Dichter vordergründig die Ars exkulpiert (nun im Gegensatz zu seiner Verteidigung der Ars in rem. 360–392, s. oben), dabei aber grundsätzlich das Wesen von Literatur – und ihr Verhältnis zur außerliterarischen Wirklichkeit – erörtert (Barchiesi 1993, umfassend zur Exildichtung: Wulfram 2008, 214– 404). Nicht zuletzt beteuert der Sprecher, dass »ein großer Teil meiner Werke erdichtet und erlogen« sei (trist. 2, 355: magnaque pars mendax operum est et ficta meorum) und die Dichtung keinerlei Rückschlüsse auf seinen Lebenswandel zulasse (2, 353–354; dazu etwa Schwindt 2002). Damit wird die elegische Grundprätention der Aufrichtigkeit und persönlichen Beteiligung des Sprechers hintergangen. Zugleich schließt die Exildichtung vielfach an die hier denunzierte Elegie und ihre Sprecherfigurationen an, wobei elegische Motive erweitert und umgedeutet werden. So weicht insbesondere die Figur des exclusus amator, der von seiner Geliebten getrennt ist, jener des verbannten Dichters, der sich nach einer Rückkehr in die Stadt Rom sehnt; in ähnlicher Weise werden auch darüber hinaus die früheren Werke in der Exildichtung aufgegriffen, kommentiert und fortgesetzt (Frings 2005, 210–262, Myers 2014). Die Präsenz der Metamorphosen kommt dabei insbesondere dann zum Tragen, wenn der Sprecher sein Schicksal mit Figuren der (in den met. behandelten) Mythologie gleichsetzt (so insbesondere Actaeon in trist. 2, 103–108 mit Bezug auf met. 3, 138–252). Besonders gewichtig ist der Vergleich mit dem ›Vieldulder‹ Odysseus (trist. 1, 5, 57–58; 3, 11, 61–62; Pont. 4, 10, 9–12 u. ö.), wobei Ovid auch seine Ehefrau, die mehrfach als Adressatin in Erscheinung tritt, als ›bessere Penelope‹ bezeichnet, die Aufnahme in seine Heroides verdient hätte (trist. 1, 6, 21–22). Überhaupt zeigt sich selbst in der Beziehung zur Ehefrau die Prekarität der Literarisierung der eigenen Lebensgeschichte; so erklärt etwa der an sie gerichtete Brief Pont. 3.1, dass es sich bei ihrer in Ovids Dichtung scheinbar dokumentierten Treue um eine Rollen-Zuschreibung handle, die sie nun ihrerseits durch ihre Lebensführung zu beglaubigen habe (3, 1, 39–48).

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IV  Ästhetik und Poetologie

Entscheidend für die Autor- und Sprecherfiguration in Ovids Exildichtung ist indes gerade der Umstand, dass nach dem ersten Tristien-Buch immer mehr die Form der Versepistel in den Vordergrund tritt, die als Medium der Korrespondenz Anlassgebundenheit und Gebrauchswert beansprucht: Nach ihrer Prätention dienen die Briefe dem Dichter zur Beziehungspflege und haben ihren Zweck zuletzt darin, ihm die Rückkehr nach Rom zu ermöglichen. Die Exildichtung steht damit im Zeichen der amicitia und der durch sie begründeten sozialen, ökonomischen und politischen Reziprozitätsverhältnisse (Citroni Marchetti 2000). Mit der Freundschaftspflege korreliert die Anklage gegen untreue Freunde (etwa trist. 1, 8; 3, 11; 4, 9), die in der anonymisierten, aber mit namentlicher Nennung drohenden Invektive des Ibis ihren Höhepunkt findet. Überhaupt erweist sich die Verwendung von Eigennamen für den Autor der Exilbriefe als Problem: So unterdrückt er in den trist. Namen und andere Identifikationsmerkmale seiner Adressaten, um sie angeblich vor Repressalien zu schützen, die ihnen aus der Korrespondenz mit dem in Ungnade gefallenen Dichter erwachsen könnten (bspw. trist. 3–4, 53–72), während er die Epistulae ex Ponto namentlich genannten Adressaten zueignet – allerdings nicht ohne sich für ihre Demaskierung zu entschuldigen (programmatisch: Pont. 1, 1, 17–20). Damit zieht sich durch die gesamte Exildichtung ein Subtext der Paranoia, der die Frage nach der Referentialisierbarkeit von Ovids Dichtung und der darin erwähnten Figuren in einer neuen Brechung zeigt (Oliensis 1997). Literatur

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Cédric Scheidegger Lämmle

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IV  Ästhetik und Poetologie

21 Dichtung als Spiel Es ist offensichtlich, dass Ovid Dichtung als ein Spiel behandelt. Damit greift er einigen Aspekten theoretischer Positionen vor, wie sie im 20. Jahrhundert prominent durch Denker wie Huizinga (1938, s. dazu Kraus 1942) und Iser (1991) vertreten worden sind (s. Burke 1994; Assmann 1997). Bereits am Anfang des ersten überlieferten ovidischen Werkes wird der spielerische Charakter durch die Figur eines kindlichen Gottes personifiziert. Das Bild eines lachenden Cupido, der dem epischen Hexameter einen Fuß aus bloßem Spaß raubt (am. 1, 1–6), antizipiert die scheinbare Freiheit, mit der der Dichter die topoi der Elegie und weiterer poetischer Gattungen in seinem Werk behandeln wird. Dieser poetische Spielraum wird durch die Vereinnahmung des Didaktischen in der Ars amatoria und (kumulativ) des Therapeutischen in den Remedia amoris nur noch weiter vergrößert. In den Versepisteln der Heroides stellt die Stimme der Frau, als ein innovatives elegisches Ich, Rollenspiele in Frage (Fabre-Serris 2010). Die spielerische Atmosphäre setzt sich fort, da Humor und Selbstironie oft durch Ambivalenz und sogar Widerspruch gekennzeichnet sind (von Albrecht 1963). Dies ist besonders auffällig, wenn der vates auf seine vorherigen Texte und Rollen zurückgreift (s. z. B. Frings 2005), sei es in phantasievoller Behandlung der Mythologie, die entweder die Verwandlungen (Metamorphosen; Latacz 1979) oder ihre Fixierung als Daten und Feste im römischen Kalender (Fasti) in den Blick nimmt (Newlands 1995), sei es wenn er solche Themen und Bilder in seinen im Modus der Betroffenheit verfassten Exildichtungen nochmals evoziert (Tarrant 2002; Hardie 2002a). Die kaleidoskopischen Anspielungen (Latacz 1979; Jouteur 2001; Fontes 2013) auf die eigene Dichtung und auf weitere Texte aus verschiedenen Gattungen (Fuhrer 1999; Volk 2002) werden durch kühne Sprachspiele (z. B. Metrik und Wortspiele, s. Ahl 1985) aufgebaut und unterstrichen. Damit erlaubt sich Ovid, nicht nur mit den vielfältigen Stoffen seiner Dichtung – die sich aus den verschiedensten corpora von der technischen philosophischen Literatur bis hin zur mythologischen Tradition speist – zu experimentieren, sondern auch mit den damals verfügbaren literarischen Konventionen aus mehreren Gattungen. Wie die Titel der erwähnten Studien zu Ovid suggerieren mögen, wird auf die Präsenz des Spiels (»game«, »play«, »jeux« usw.) in Ovids Werken in der Forschung

mehrfach hingewiesen. Mittlerweile geht es nicht mehr um »Spiel als negative Deutungskategorie« – ein Urteil, das Latacz (1979) in mehreren Studien des 20. Jahrhunderts bereits kritisierte. Wenn jedoch das Wort »Spiel«, dieser »Begriff mit verschwommenen Rändern« (Wittgenstein 1953), für uns so umfangreiche, unterschiedliche und nicht selten gegensätzliche Bedeutungen einschließt, gilt es auch zu fragen, welche seiner Aspekte man in der ovidischen Dichtung und Poetik genauer wahrnehmen kann. Aus der Nähe betrachtet wird der spielerische Eindruck auf verschiedene Weisen nicht nur in Ovids poetischer Praxis vermittelt, sondern auch durch Anwendung von Metasprache in den Versen selbst thematisiert. In der Tat lässt sich die Bezeichnung der Dichtung als ludus (das lateinische Äquivalent des übergreifenden deutschen Terminus »Spiel«, Huizinga 1938; 2014) schon in Ovids Werk in Bezug auf seine Liebeselegie finden. Das Substantiv ludus und verwandte Lexeme tauchen in den elegischen Versen selbst häufig auf (Pichon 1902), z. B. als Attribut der elegischen Muse (»Lieder für zarte Mädchen gab tändelnd dir ein deine Muse«, quod tenerae cantent, lusit tua Musa, puellae, am. 3, 1, 27) oder im Epilog des letzten Buches der Ars amatoria: »das Spiel ist zu Ende« (lusus habet finem, ars 3, 809). Daneben wird mit ludus auf die Liebeselegie auch in anderen Arten von Dichtung hingewiesen. In den Fasti beispielsweise kann das Verb ludere (wörtlich »spielen«) auch »Liebeselegie schreiben« heißen: »Als ich noch jung war, verfaßte ich harmlose Liebesgedichte. Jetzt durcheilt mein Gespann eine weit größere Bahn« (quae decuit, primis sine crimine lusimus annis; nunc teritur nostris area maior equis, fast. 4, 8–9; s. auch fast. 2, 5–6). In der Exildichtung bezeichnet sich Ovid selbst als tenerorum lusor amorum (»tändelnder Dichter der zärtlichen Liebe«, trist. 4, 10, 1; s. auch trist. 3.3.73) und bedauert oft die angebliche Freiheit oder Inkonsequenz seiner jugendlichen »Spiele«, wie z. B. in trist. 1, 9, 61– 62: »... du weißt (...), daß dies alte Gedicht nur ein Spiel meiner Jugend, daß all dies zwar nicht zu loben, jedoch sicher nur scherzhaft gemeint« (scis vetus hoc iuveni lusum mihi carmen, et istos/ut non laudandos, sic tamen esse iocos). Solch eine Qualifizierung der carmina amatoria als ludus (auch bei anderen römischen Dichtern nachweisbar, s. Catull. 68, 17) wirkt fast metonymisch, wenn man daran denkt, dass sie auf das Thema der erotischen Dichtung selbst verweist, da auch der Dichter Liebesbeziehungen und Geschlechtsverkehr (»Liebesspiel«) bzw. erotische Vergnügungen häufig

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_21

21  Dichtung als Spiel

durch die ludus-Lexik bezeichnet, wie beispielsweise in am. 1, 8, 43: »Schöne vergnügen sich; keusch ist nur die, bei der’s niemand versucht hat« (ludunt formosae; casta est, quam nemo rogavit). Zwar geht es hier um eine absehbare Verschiebung im Bedeutungsspektrum der lateinischen Lexik (vgl. Thesaurus Linguae Latinae und Oxford Latin Dictionary, s. v. ludus), aber diese Polysemie wird, einerseits, zur Betonung der Machtund Täuschungsspiele zwischen den Geliebten (Blanco Mayor 2017): »Habt ihr Verstand, betrügt – straflos ist’s – alleine die Mädchen: Nur hier darf man’s; doch sonst werde die Treue bewahrt« (ludite, si sapitis, solas impune puellas: hac minus est una fraude pudenda fides, ars 1, 641–42), andererseits als weiterer Aspekt des Performativen – das sowohl die Beziehungen zwischen den Charakteren der Liebespaare konstituiert als auch die zwischen Dichter und Publikum – eingeführt. Die römische Liebeselegie gilt als ein radikales exemplum für das Dichten selbst, als eine Aktivität, die wegen ihrer auffälligen Mechanismen der Ausschließung von Themen und Stilmitteln – durch Topoi wie die recusatio oder die renuntiatio amoris – und deren erneuter (kodifizierter) Inklusion eine in sich zentrierte Welt konstituiert (Conte 1994). Wenn man außerdem mit Conte annimmt, dass die ovidische Dichtung im Allgemeinen solche Mechanismen noch verstärkt, muss man die ovidische ludus-Dichtung einer allgemeineren Betrachtung von ›Spiel‹ unterziehen, die jedes seiner Werke einschließt. Spuren einer solchen Auffassung von Spiel, die unter anderem bei Gadamer begegnet (1972; s. Wetzel 2003), kann man in den ovidischen Texten selbst feststellen.

21.1 Ovidische ludi Was die umfangreiche metapoetische Dimension der ovidischen Welt betrifft, lässt uns der Dichter in seinen Texten durch die wiederkehrenden Hinweise auf ludus (oder verwandte Lexeme wie lusus, ludere, ludibrium usw.) die konzentrierte Präsenz des Spielerischen als Objekt und als Prinzip seiner Dichtung erkennen. Die Bedeutungen, die ludi als Objekte in Ovids Dichtung annehmen, können auch in seiner Beschreibung der eigenen Werke als Spiel (ludus) gesehen werden. Bei Ovid können das Substantiv ludus sowie das Verb ludere (»spielen«) zwecklose Tätigkeiten zur Entspannung bezeichnen, die als typisch für Kinder und Jugendliche im Allgemeinen (»und du bist ein Junge, und musst nichts tun außer zu spielen«, et puer es, nec

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te quicquam nisi ludere opportet, rem. 23) oder als zu einem locus amoenus gehörend dargestellt werden können (die Götter fliegen »zum befohlenen Strand, wo die Tochter des großen Königs zu spielen pflegt in der Schar der tyrischen Jungfraun«, litora iussa petunt, ubi magni filia regis ludere virginibus Tyriis comitata solebat, met. 2, 844–845). Wie beim kindlichen Spielen deutet sich, wenn Ovid seine eigene Dichtung als ludus bezeichnet, bisweilen an, dass er sie anscheinend als etwas Unernstes qualifiziert. Es handle sich bei ihr bloß um leichte Unterhaltung – ähnlich den nugae (»Kleinigkeiten«) der neoterischen Tradition (Cat. 69, 225, lusimus satis; 68, 17). Was der vates eigentlich in den Remedia mit Cupidos »Spielen« meint, wird aber bald klar: Es gehe nicht nur um (oft geheime) Liebesaffären, sondern auch um den für die elegische Welt angeblich harmlosen Wechsel zwischen Verführung und Ausschluss, Überredung und Täuschung (rem. 27–36). Manchmal wirkt die Beschreibung solcher ablenkenden Spiele in Ovids Erzählungen als Kontrast zu ernsten, sogar als tragisch wahrgenommenen Ereignissen, wie bei dem Mädchen Europa und ihren Freundinnen kurz vor dem Herannahen des als weißer Stier getarnten Jupiter, der die Prinzessin entführen wird (met. 2, 845–875). Programmatisch kontrastiv wirkt die personifizierte Bezeichnung der Liebeselegie (am. 3, 1, 27) und der »ernsten« (gravis) Tragödie – ein Kontrast, der auf den traditionellen Gegensatz zwischen Musa severa versus Musa ludens hinweist. Darüber hinaus werden als weitere Formen des Spiels auch solche genannt, die durch feste Regeln organisiert sind, so etwa Glücksspiele (ars 2, 203–208; trist 2, 471–475) oder Sportspiele (trist. 2, 283–284; trist. 3, 12, 17–26) – also geschäftliche Aktivitäten, die, obwohl sie der Unterhaltung der Zuschauer dienen sollen, für die Spieler von wichtigen agonistischen Elementen gekennzeichnet sind. Aus der Nähe besehen kann man also in Ovids Texten auch weitere der oben erwähnten Aspekte des ludus identifizieren. Dort wird die Geltung der Konventionen oder Spielregeln nicht aufgehoben (vgl. Morgan 2003), sondern verhandelt – und dabei, obschon manchmal so weit wie möglich gedehnt, nur beinahe gebrochen. Diese Verhandlung dient der agonistischen Komponente seiner poetischen Praxis, die noch evidenter wird, wenn Ovid die poetischen Verfahren in der Tradition nennt und konkurrierend nachahmt (z. B. rem. 361– 398 und 757–766; trist. 2, 363–492). In diesem Zusammenhang lassen sich auch Festspiele (ludi) und Theaterspiele (ludi scaenici) bei Ovid

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IV  Ästhetik und Poetologie

aus unterschiedlichen Perspektiven beschreiben. Einige Passagen nehmen auf religiöse Ursprünge (z. B. met. 1, 446; fast. 4, 377–391) der Feste Bezug, andere betrachten nicht wirklich die Bühne, sondern das (ebenfalls als inszeniert dargestellte) Verhalten der Zuschauer (z. B. ars 1, 89–170; s. Littlewood 1981; Davis 1989; Duque 2019). Wie man aus diesen Beispielen ersehen kann, ist bei Ovid der aus der theatralischen Erfahrung abgeleitete Topos der »Welt als Schauspiel« (theatrum mundi) von großer Bedeutung. Unter verschiedenen Aspekten des Topos (Gonzalez-García/Konersmann 1998; Cardoso 2009) wird die Idee des Rollenspiels im Leben, der Simulation, Täuschung und Illusion (Cardoso 2011) nicht nur bei den Liebesbeziehungen, sondern auch in vielen weiteren Kontexten und Abschnitten seiner Dichtung angewandt. Denken wir an die Art und Weise, wie der Dichter den Aufbau der Fiktionalität bzw. der Illusion seiner Erzählungen thematisiert, wenn er die Wahrscheinlichkeit bzw. die ontologischen Aspekte vieler Episoden in Frage stellt. Als Beispiel für den ersten Fall wird die Nebeneinanderstellung der Erzähler in Proserpinas Geschichte in den Metamorphosen angeführt (met. 5, 250–661), die in den Fasti anders thematisiert wird (fast. 4, 417–453; s. dazu Hinds 1987). Für den zweiten hat man bereits die Episoden des Narziss (met. 3, 339– 510) und des Pygmalion (met. 10, 243–397) in den Metamorphosen angeführt (Dörrie 1976; Hardie 2002b). Hier sei die traumhafte Epiphanie des Lethaeus Amor (rem. 551) in den Remedia Amoris erwähnt: Bei dem Treffen des Dichters mit der kuriosen »Liebe des Vergessens« – wahrscheinlich eine ovidische Schöpfung (Hardie 2006) – kontrastiert eingangs der hohe Ton der Erzählung mit der Banalität des göttlichen Orakels – das sich etwa mit dem Rat »gib acht auf deine eigene alltägliche Sorge« zusammenfassen lässt (vgl. rem. 557–576). Diese Art von Trivialisierung der vielzitierten delphischen Ermahnung »Erkenne dich selbst« wird durch praecepta illustriert, die übrigens nicht allzu viel zu den weiteren in den Remedia vorgestellten Vorschriften des doctor-vates hinzufügen: man solle z. B. an die Finanzen oder an die Familie statt an die Geliebte denken. Solch eine Unstimmigkeit betont die erwähnte ontologische Ambivalenz des erzählten Erlebnisses (geht es um einen bloßen Traum? – vgl. rem. 555–556 und rem. 575– 576), die die endgültige Wirkung der praecepta und gleichzeitig das Ziel des Werkes in Frage stellt. In den Remedia verdeutlicht die beibehaltene illusorische Dimension, dass es dort eigentlich nicht um Wahrheit und Unterweisung geht, die von der Liebe als Affekt

definitiv reinigen würde, sondern darum, den Patienten darauf vorzubereiten, die Rolle des Verliebten erneut – aber nun auf eine sichere Art und Weise – zu spielen. In diesem Sinne kann man sagen, dass das im exordium der Remedia amoris gegebene Versprechen, Cupido und seine ludi zu verschonen, nicht gebrochen wird. Es handelt sich also eigentlich um ein Beispiel der ovidischen Methode, die auf Illusion aufbaut, auf die sich auch die Welt des Verliebten durch das Spiel mit der Liebe gründet.

21.2 Ovids spielerische Poetik Ovids Bezeichnung seiner eigenen Dichtung als Spiel kann man an verschiedenen in seinem Werk greifbaren Bedeutungen für das Wort ludus nachweisen: Diese reicht von zweckloser Unterhaltung bis zur gezielten aemulatio. In allen Fällen, selbst wo nicht ausdrücklich als ludus thematisiert, setzt seine Dichtung auf Performanz, besonders, wenn man den (obschon vielfältigen) konsistenten modus faciendi des Dichters ins Auge fasst. An solchen Stellen sollten wir uns jedoch hüten, die Kulissen der ovidischen Dichtung oder die Geheimnisse ihrer Welt enthüllen zu wollen. Die Metasprache und das Spiel im Spiel, das in komplexen Erzählstrukturen auftaucht, haben den besonderen Effekt, gerade die Dichtung als spielerische in so vielen Bedeutungen (z. B. als leichtes Vergnügen bzw. harmlose Unterhaltung, als etwas Unernstes oder umgekehrt als Täuschung und Überredung, als Wettbewerb, als Performanz) darzustellen. Bei alledem wirkt die persona des Dichters als die eines Sehers (vates), nämlich als einer Sprecherinstanz, von der Dichtung als ein Spielzeug des Autors – nicht eines Gottes oder der Musen (Armstrong 2004), nicht des Augustus oder des Maecenas (Barchiesi 1993) – betrachtet werden kann. Dabei erwächst der Eindruck von (Post)Modernität im ovidischen Dichtungsspiel besonders aus einem gewissen Gefühl von Erschöpfung – wenn nicht des Lesers, so doch des Dichters selbst im Gebrauch der poetischen Gattungen: Es ist, als ob man zur Zeit Ovids nicht mehr anders als kombinatorisch mit den zur Verfügung stehenden literarischen Konventionen hätte umgehen können (s. Wetzel 2003). Aus der »bricolage« (Levi-Strauss 1962) mit dem poetischen Gegenstand stellt der ovidische Text eine Atmosphäre des »Endes der Kunst« (Lepenies 1992) her. Bekanntlich hat die Vermutung, dass Ovids Werk in heutiger Perspektive als der Schlusspunkt der rö-

21  Dichtung als Spiel

mischen Liebeselegie (Conte 1994; Volk 2002) und sogar der klassischen römischen Dichtung konzipiert gewesen sein könnte, die Erforschung der römischen Literaturgeschichte für viel zu lange Zeit überzeugt. Zwar hat man die besondere Haltung Ovids nicht nur gegenüber Topoi der Liebeselegie, sondern auch gegenüber der antiken Epik und anderen Gattungen oft als Anzeichen einer poetischen Dekadenz angesehen; doch darf man in dieser Vorstellung vom Ende der Dichtung eine poetische Wirkung, nämlich der ovidischen Poetik des ludus, erkennen. Jedenfalls lassen sich die Spuren des von Ovid begonnenen Spiels auch in der Rezeption seiner Werke deutlich nachweisen (s. z. B. Töchterle 1992; Schwindt 2016). Literatur

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Isabella Tardin Cardoso

22 Rhetorik

22 Rhetorik Ovid wurde oft als Rhetor unter den Dichtern oder Dichter unter den Rhetoren bezeichnet. Mal galt dies als höchstes Lob, mal als vernichtende Kritik. Der Grund für die unterschiedlichen Bewertungen sind die Wechsel in der Haltung gegenüber der Rhetorik und ihrer Nähe oder Ferne zur Dichtkunst. So erreichte die Ovid-Kritik in der Zeit ihren Höhepunkt, in der die Rhetorik als Disziplin ganz und gar aus dem Wissenschaftsraum verbannt war, nämlich im 19. Jahrhundert. Die Ovid-Forschung nutzte die antike Überlieferung, Ovid habe im Rhetorikunterricht insbesondere in der Komposition von Suasorien geglänzt, und transformierte sie in die Deutung der Amores und der Heroides als ›bloße‹ Suasorien. Damit gemeint waren rhetorische Übungsreden ohne jeden Sitz im Leben und ohne den Hintergrund authentischer Leidenschaft. Mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts änderte sich die Situation für die Rhetorik und so auch für Ovid. Wie in den Vergil-Studien war es auch hier Rudolf Heinze, der neue Pfade beschritt und für andere bereitete. Mit seiner 1919 erschienenen Studie rehabilitierte er den Rhetoriker und Dichter Ovid und setzte der sogenannten Suasorien-Theorie (eingeführt von Purser 1898) zumindest in dieser direkten Form ein Ende. Er tat dies nicht so sehr mit einer neuen Deutung der rhetorischen Elemente in Ovids Werken, sondern mit der Entdeckung einer gegenüber Vergil weiterentwickelten Form sentimentalischer Innerlichkeit in den epischen und nicht-elegischen Dichtungen Ovids. Ovid habe Vergils »Eroberung seelischen Lebens« weitergedacht (so auch Otis 1938, 221) und mittels der pathetischen Rede und aus seiner Begabung zu überbordender Phantasie heraus Stimmungen und oftmals besonders komplizierte, »schillernde« und »perverse« Gefühlslagen darge­ stellt (Heinze, 1919, 70–71). Im Sinne der Vorliebe seiner Zeit für Deklamationen habe sich Ovids Talent zum sentimentalisch-psychologischen Erzählen vor allem in Fiktionen und fingierten Monologen Ausdruck gesucht (ebd., 71–72). Es war dieser Gedanke, dass die rhetorische Form lediglich ein Vehikel für die ovidische Kunst sei und nicht deren Dichtungscharakter tangiere, der sich in der (auch englischsprachigen) Forschung durchsetzte (Otis 1938, 216; Higham 1958; Bradley 1969). Damit zementierte sich allerdings in den positiven Bewertungen Ovids ein rein formales Rhetorikverständnis, das das Rhetorische als solches lediglich als Übung in sprachlicher Vollkommenheit fasst (Oppel 1968).

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Der Aspekt bei Heinze, dass er zwischen dem persönlichen Erleben der Elegien und den psychologisch brillierenden Fiktionen der nicht-elegischen Dichtung unterscheidet, findet zwar direkt weniger Echo, das damit benannte Problem aber wird in der gesamten Ovid-Forschung weiter kolportiert. Denn die Frage, ob Ovid seine Amores und andere Dichtungen aus persönlichem Erleben heraus oder als ›rein literarisches Spiel‹ schreibt (Otis 1938; Bretzigheimer 2001) und überhaupt das Spielerische über eine ernsthafte Hinwendung zu den Dingen stellt, wird zu einer Kernfrage der Ovidforschung und zugleich der Deutung seines Verhältnisses zur Rhetorik (so bei Auhagen 1999; Stroh 1971 und 1979). Sie hat aber nicht nur mit dem Verhältnis von Dichtung und Leben (Möller 2004), sondern auch mit dem Rhetorischen in Ovids Dichtung zu tun. Als rhetorisch gilt das Fingierte, Gespielte, Humorvolle als dichterisch das unmittelbar Erlebte, was leicht in den Bewertungen auch ins Negative – das bloß Erfundene, das für das Welterleben Bedeutungslose oder Fade – umschlagen kann. Darin offenbart sich ein bestimmter, verkürzter und im Kern negativer Rhetorikbegriff, der die Rhetorik primär als sprachliche Technik der manipulativen Darstellung der Wirklichkeit sieht. Alles Falsche, Gekünstelte, Unechte gilt demnach als rhetorisch. Wenn Ovids Liebesdichtung also als ›literarisches Spiel‹ oder die Briefsituation der Heroides als unrealistische Fiktion, in der die Briefe niemals zugestellt werden können, aufgefasst wird und wenn sich in ihnen eben deshalb auch keine ›echten‹ Gefühle fänden, dann erscheinen sie eben deswegen als rhetorisch. Diese Fixierung und Reduktion einerseits des Rhetorischen auf das Unechte, Täuschende und andererseits von Ovids Dichtung auf eine manieristische (Burck 1971, vgl. Hauser 1964) Abgehobenheit bloß literarischen, künstlerischen Spiels ohne Ernst und ohne Sitz im Leben bringt der Forschung eine Reihe von grundlegenden Problemen in der umfassenden und differenzierten Beschreibung und Bewertung der Kunst Ovids ein. Daraus entsteht nämlich zum einen die Tendenz dazu, an die Stelle von Analysen die Beschreibung von Empfindungen des Lesers und des intuitiven Erspürens von dichterischen Haltungen zu setzen (z. B. Lefèvre 1987, 130) und zum anderen das (zumindest implizite) Potential zur Abwertung und zur Lokalisierung von Ovid in einer Phase des Verfalls von Dichtung (Schanz 1911, ii. 348). Mit Blick auf die Rhetorik aber wird hier ein problematischer Begriff, der Rhetorik und Wahrheit in einen Gegensatz rückt und Manipulation und Illusion als primäre Praktiken

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_22

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IV  Ästhetik und Poetologie

erscheinen lässt, festgeschrieben, der in der Forschung zur Geschichte der Rhetorik jedenfalls keine Bestätigung findet (Uhlmann 2019). Um hier Klarheit zu erreichen, ist auch ein Blick auf das antike Verständnis des Rhetorischen im Allgemeinen während Ovids Lebenszeit und von Ovids rhetorischen Fähigkeiten und Ambitionen im Besonderen wenig hilfreich und kann das Problem nicht beheben. Denn in Senecas des Älteren Kompendium der Kunst der Deklamation (Controversiae; s. contr. 2, 2, 8–12) erfahren wir lediglich etwas über Ovids Ausbildungszeit (Higham 1958) und vor allem über die Vorstellungen von der Deklamationskunst und ihren Meistern, die Seneca der Ältere in seiner Geschichte der Deklamationen überlieferte. Es gibt keine historischen Nachrichten über Deklamationen Ovids oder andere Ambitionen im Bereich der öffentlichen Rede nach seiner Ausbildung. Wenn wir auf Ovids eigene Äußerungen zu seinem Verhältnis zur Rhetorik schauen, dann finden wir vor allem 1. eine Passage in den Briefen aus dem Exil am Schwarzen Meer, mit denen Ovid versuchte, Aufmerksamkeit und Wohlwollen einflussreicher Persönlichkeiten Roms auf sich zu ziehen (Pont. 2, 5), und 2. eine Äußerung in seiner sogenannten Autobiographie, also in trist. 4, 10. In dem Brief 2, 5 aus den Epistulae ex Ponto adressiert Ovid Salanus, damals Rhetoriklehrer des Germanicus, des Großneffen und Nachfolgeaspiranten des Augustus, und damit einflussreicher Intellektueller im Umfeld des Princeps. Es ist keine Überraschung, dass Ovid hier (in den Versen 59–72) die Nähe zwischen Rhetorik und Dichtkunst betont. Er tut dies allerdings nicht, ohne auf den unterschiedlichen Skopos, das Ziel der beiden Künste, hinzuweisen (distat opus nostrum, Pont. 2, 5, 63–66, hier: 65). Auch wenn er die Rhetorik dafür lobt, der Dichtung nervi, also Kraft oder Struktur zu geben, so ist dies doch die für diesen Zusammenhang größtmögliche zu erwartende Distanzierung. Auch in seiner Autobiographie steht mehr der Kontrast als die Affinität zur Rhetorik im Vordergrund, wenn Ovid von der großen Neigung seines Bruders zur Rhetorik und dem öffentlichen Redekampfplatz, dem Forum (V. 17–18), berichtet und bekennt, selbst von Kindheit an mehr von der Musenkunst und ihren himmlischen Weihen (caelestia sacra) heimlich (furtim) verführt worden zu sein (19–20). Trotz der Warnung vor der brotlosen Kunst seien bei seinen Versuchen, Prosatexte zu verfassen, doch immer nur wieder Verse herausgekommen (24–26). Das knüpft an das programmatische Gedicht Amores 1, 1, 1–4 an, in

dem Ovids elegisches Ich schildert, wie aus den Versuchen, ein Waffenepos zu verfassen, der Gott Amor heimlich einen Fuß gestohlen und die Verse in elegische Distichen verwandelt und sich ein entsprechendes Sujet gesucht habe. Die Abwendung von den Zwecken der Rhetorik, zu denen er ausgebildet worden war, und die Hinwendung zur Musenkunst spricht, auch wenn sie topisch ist, für eine Auseinandersetzung Ovids mit der Nähe seiner Dichtung zu rhetorischen Techniken und bezeugt eine bewusste Distanzierung zur Kunst der (öffentlichen) Rede. Was bleibt also von dem Eindruck, Ovids Dichtung sei rhetorisch? Klar ist, dass bestimmt werden muss, welche Aspekte seiner Dichtung rhetorischen Elementen Funktionen zuweisen oder Affinitäten zu rhetorischen Praktiken aufweisen und diese literarisch produktiv machen. Dies kann natürlich auf der Ebene des sprachlich-stilistischen Ausdrucks geschehen. Allerdings stehen wir damit immer vor dem genannten Problem, dass es sich um literarische Gestaltungen auf der Basis des traditionellen rhetorischen Trainings handeln kann (Fantham 2009). Als rhetorisch im eigentlichen Sinn kann ein stilistisches Mittel nur dann identifiziert werden, wenn es spezifisch rhetorische Kommunikationsstrategien befördert oder von ihnen geleitet ist. Die Suche nach rhetorischen Praktiken kann daher direkter auf der Ebene der Analyse von Funktionen der Sprache erfolgen, also wenn untersucht wird, wann der Dichter oder sein elegisches oder episches Ich versucht, das, was an einem Sachverhalt oder einer Situation überzeugen kann, zu ermitteln und vor allem: zu vermitteln. Mit anderen Worten: Begründet werden kann der Eindruck des Rhetorischen dann, wenn mittels der dichterischen Sprache ein bestimmtes Kommunikationsziel bei einem Dritten angestrebt wird, was freilich auch ein komischer Effekt oder ein spannender literarischer Bezug sein kann. Damit wird ein Weg gewiesen, der auf eine Entdeckung der Innerlichkeit oder eine Wendung auf das Stimmungshafte verzichten kann, ohne in die gegenteilige Position zu verfallen, die Ovids rhetorische Dichtung als bloß technische Übung oder von der Wirklichkeit entrückte, spielerische Fiktion um der Fiktion willen fasst. Folgende Bereiche lassen sich demnach identifizieren: Rhetorik und Verführung (z. B. Ars amatoria), Rhetorik und Imagination (Metamorphosen), Rhetorik im innerliterarischen Dialog (Heroides) und – in allen Werken als wie ein Tenor durchgehaltenes Moment – Rhetorik als Ansprache an die Leserinnen und Leser (besonders prominent in am. 1, 1 und 2, 1).

22 Rhetorik

22.1 Exemplarische Analysen Rhetorik und Verführung (ars 2, 111–144) oder über Erfolg und Misserfolg des Redners beim Überzeugen: In seinem praktischen Lehrwerk, der Ars Amatoria, transformiert Ovid das zur Selbstaufgabe neigende servitium amoris eines Tibull oder Properz in ein bewusst eingesetztes strategisches Instrument, mit dem das Objekt der eigenen Begierde für sich gewonnen werden kann. Das obsequium, das absichtliche und zweckgerichtete Sich-Unterwerfen der ars (2, 179– 186), verfolgt also ein spezifisch rhetorisches Ziel (Wildberger 1998, 214–253). Im zweiten Buch gibt Ovid Anweisungen und Ratschläge, wie ein Mann sein Mädchen für sich gewinnen könne. Dabei betont der Liebeslehrer, dass man sich auf äußerliche Schönheit allein nicht verlassen dürfe, weil diese vergänglich sei (2, 111–118). Daher müsse man seine körperliche Attraktivität durch Kultivierung und Bildung von Charakter und Geist ergänzen (2, 119–122). Es folgt ein komplexes Beispiel, das vor der Folie der Darstellung des listenreichen und redegewandten Odysseus in Homers Odyssee den Irrfahrer als äußerlich hässlich, aber wegen seiner Redekundigkeit attraktiv beschreibt (2, 123–142). Das Beispiel selbst führt dann aber keineswegs die außergewöhnliche und unmittelbar gewinnende Sprachgewalt des Odysseus vor, sondern präsentiert seinen ausgesprochen unbeholfenen Versuch, von seinen Heldentaten vor Troja zu künden. Dadurch, dass dieser Versuch als so oder ähnlich immer und immer wieder vorgetragener Bericht (ille referre aliter saepe solebat idem, 2, 128) gekennzeichnet wird, wirft er ein neues Licht auf den griechischen Helden vor Troja, dessen intellektuelle und rhetorische Brillanz bei Homer ganz unangetastet blieb. Denn Ovid erzählt, wie Calypso Odysseus immer wieder nach seinen Taten befragt habe, um ihn daran zu hindern, es mit seiner Abreise allzu eilig zu haben. Was wir dann aber hören, ist wenig brillant. Anstatt einer freien Rede behilft sich Odysseus mit einem Stock und zeichnet einen Lageplan des Kampfgeschehens vor Troja in den Sand (vgl. epist. 1, 31–36). Seine Rede erläutert und begleitet die kunstlos flüchtigen Zeichnungen auf eine ebenso kunstlose Weise: »›Dies, sagte er, ist Troja‹ und malte Mauern in den Sand / ›Das soll der Simois sein, hier stelle dir mein Lager vor. / Das ist das Schlachtfeld‹, und er malte ein Schlachtfeld, ›das wir mit dem Blut Dolons bespritzt haben, als er nachts die Pferde Achills stehlen wollte‹« (ars 2, 133–136). Doch nicht nur Stil und Thematik erweisen sich als wenig passend, um Liebe und Begeisterung bei einer

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Frau zu wecken – was der heimwehkranke Odysseus auch gar nicht wollte –, sondern der Held trägt mit seiner Vorführung sogar noch dazu bei, dass Calypso in ihrem ganz anderen Überzeugungsziel (2, 125–126) argumentativ unterstützt wird. Denn die ganze schöne in den Sand gekritzelte Rede wird plötzlich von einer Welle ausgewaschen und dadurch »Troja mitsamt dem Lager des Rhesus und Rhesus ausgelöscht«. So kann Calypso kontern: »Du vertraust, wenn du dich auf die Reise machen willst, auf die Treue der Wellen, wo du siehst, wie viele Namen die Wellen zugrunde richten?« (2, 139–142). Mit der Betonung des Iterativen der Handlung werden die bei Homer gefeierte Redekunst des Odysseus, seine Gewandtheit im Umgang mit Frauen und seine vorausschauende Klugheit ganz grundsätzlich in Frage gestellt. Das geschieht ganz nebenbei. Denn Ovid war gerade dabei, auf die Bedeutung von kultivierter Bildung als Ergänzung zu körperlicher Attraktivität hinzuweisen. Die Passage ist auch deswegen mehrdimensional, weil sie auf die homerische Folie der Erzählung von der Abfahrt des Odysseus von Ogygia aufbaut (vgl. für epist. 1: Kennedy 1984). Dort freilich hatte Odysseus, den wir im fünften Buch der Odyssee zum ersten Mal treffen, traurig und sehnsüchtig auf das Meer hinausschauend und sich in Heimweh nach Ithaka und Penelope verzehrend, in der gesamten Passage, die die Abfahrt und den Abschied schildert, kein einziges Mal gesprochen oder gar eine Rede gehalten. Auch Calypso agiert anders. Sie wirkt bei Homer ehrfurchteinflößend und von charakterlicher Größe, bei Ovid hingegen wie eine trauernde Verliebte, die den bevorstehenden Abschied ihres Geliebten trotzig nicht hinnehmen will. Homers Kalypso versucht nicht, Odysseus noch einmal zum Bleiben zu überreden. Sie hilft sogar beim Bau des Floßes. Odysseus setzt dazu das um, was ihm die Götter ermöglicht haben und wonach er aus ganzem Herzen strebt. Er muss gar nicht mehr rhetorisch agieren und er tut es auch nicht, weil es nicht seine Eitelkeit ist, die ihn zum geschickten Reden bringt, sondern die Notwendigkeit der jeweiligen Situation. Ovid transformiert also Charaktere und Situation vollständig (anders Sharrock 1987), und zwar vor allem durch die parodistische Inszenierung der rhetorischen Inkompetenz eines als großer Redner gefeierten homerischen Helden. Die Funktion dieser Parodie ist ihrerseits eine ironische Brechung des Bildungsgebots, das Ovid dem Verliebten als Strategie anrät (vgl. Janka 1997). Keineswegs liegt dafür hier einfach eine rhetorische Wendung eines tradierten Heldenbilds ins Spielerisch-Künstliche vor. Die Funktion der

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IV  Ästhetik und Poetologie

Darstellung und die Reflexion auf die Rolle guter Rhetorik bleiben im Vordergrund. Rhetorik im Raum der Imagination: Metamorphosen oder die Rhetorik zwischen Vernunft und furor: Nicht nur in Ovids epischem Erzählteppich, den Metamorphosen, und seinen Heroinenbriefen (epist. 12) sondern auch in der Tragödie des Euripides tritt Medea als gekonnte Rednerin auf. Das ist also nicht spezifisch für Ovid. Dabei gehört es zum Rahmen des Medea-Mythos auch dazu, dass in diesen Reden ausgehandelt wird, ob und wie Medeas Planen und Handeln von Vernunft oder von Gefühlen der Wut und der Rachelust bzw. der Liebe bestimmt wird. Wie analog in der Euripides-Forschung neigen auch viele Ovid-Forscher und -Forscherinnen dazu, Medeas Monolog in den met., in dem sie überlegt, ob sie Jason beim Gewinnen des Goldenen Vlieses helfen soll oder nicht (met. 7, 12–73), als rationalistisches Pseudo-Kalkül und rhetorisches Lehrstück, das keine echten Gefühle darzustellen vermag, zu klassifizieren (Auhagen 1999, 131). Haben wir es hier mit einem Paradebeispiel für die Ersetzung von echtem Gefühl und ernster Handlung durch innerliterarisches Spiel und sophistisch argumentierende Rede (Nikolai 1973, ähnlich Auhagen 2007, 418–420) und also Ovids rhetorischer Dichtung zu tun? Dagegen spricht, dass Ovid alles tut, um Medea gemäß seiner Ankündigung in der Einleitung der Rede (met. 7, 10–11) als von dem furor der Liebe bestimmt darzustellen. Dass alle ihre Ängste durch Argumente aufgefangen werden, die ihr die Liebe und der Wille, sich ihr hinzugeben, diktieren, setzt dieses Aufgehen in dem Liebesaffekt in einen inneren Dialog um. Das Gefühl wird nicht in einer gekünstelten Intellektualisierung aufgehoben, sondern besteht gerade in diesem radikalen Unterwerfen aller Gedanken unter die Vorgaben Cupidos. Ovid erweist sich darin als guter Schüler des Euripides, der Medea (später im Mythos nach Jasons Betrug an ihr) ebenfalls im Affekt geordnet und mit rationalen Argumenten sprechen lässt (zur Euripides-Rezeption bei Ovid, beschränkt auf die Heroides: Hoffmann 2009), wenngleich es in den zugrundeliegenden Vorstellungen über das Zusammenwirken von Affekt und rationalem Argument Unterschiede gibt. Rhetorische Strategien der Auffindung, Ordnung und Präsentation von Argumenten dienen hier also einem bestimmten innerliterarischen Ziel der Handlungsentwicklung, die unter intertextuellen Verweisen, mithilfe einer bei den Leserinnen vorausgesetzten Kenntnis des Mythos sowie einem (bereits von Rudolf Heinze bemerkten, aber anders ausgewerteten) besonders feinen

Gespür für psychische Zustände und ihre Symptome vorangetrieben wird, und erscheinen nicht als bloße virtuose Präsentation einer Kunstfertigkeit. Die Behauptung einer von Rhetorik überformten Dichtung erweist sich bei genauerer Analyse der Interpretationspraktiken als bedingt durch bestimmte Vormeinungen über die Funktionen und Kriterien des Rhetorischen sowie mehr oder weniger intuitive Einschätzungen darüber, was ›lebenswirklich‹ und was ›bloß‹ gekünstelt und rhetorisch überformt sei. Rhetorik im Dialog: Heroides oder die Kunst des strategischen Kommunizierens: Analoges kann man in exemplarischen Analysen auch für die Frage nach der Rhetorisierung der elegischen Briefdichtung der Heroides sagen, wobei die Briefform der von den großen Heldinnen des Mythos verfassten Texte die Forschung besonders dazu herausforderte, das Fehlen eines Sitzes im Leben (anders Stroh 1991), eines Interesses am ›wahren‹ echten Gefühl und eine schale Blutleere festzustellen, so dass die alte Suasorien-Theorie in anderem Gewand fröhliche Urständ feiern konnte (Otis 1966; Wilkinson 1955; vgl. die Aufarbeitung bei Heldmann 1994). Die Heroides sind in Ovids Œuvre durch eine intensive intratextuelle Praxis des Verweisens und gegenseitigen Bereicherns gleichwohl eng mit anderen Textgattungen (besonders den Amores, [s. am. 2, 18; Heldmann 1994], den Metamorphosen und [vermutlich] der verlorenen Tragödie Medea) verknüpft. Nichts spricht für eine Distanzierung Ovids vom eigenen Werk, so dass sich die Funktionen des Rhetorischen mit großer Wahrscheinlichkeit analog analysieren lassen. So beobachten wir beispielsweise in dem Brief der Penelope an Odysseus (epist. 1) eine Vielzahl an adressatenspezifischen Kommunikationsstrategien, mit denen die seit 20 Jahren auf ihren Ehemann wartende Penelope das eine Ziel verfolgt, ihren Ehemann zur Rückkehr zu bewegen. So ist die Pointe am Anfang – neben der gekonnt sich distanzierenden Reflexion auf die Briefform durch Ovid – vor allem bestimmt von diesem Überzeugungsziel: Haec tua Penelope lento tibi mittit, Ulixe. / nil mihi rescribas attinet: ipse veni (»Deine Penelope sendet Dir dies, träger Ulixes. Schreibe mir bloß nicht zurück: Komm selbst!«). Das klingt unabhängig von der stilistischen Kunst, die Penelope mit allen anderen Heroinen teilt (Jacobson 1974), ein wenig naiv. Es ist dieser argumentative Duktus, den Ovid den gesamten Brief über beibehält (Stroh 2006). Seine Penelope würde sich gerne in die Reihe der Frauen der anderen Helden vor Troja einreihen und hadert mit ihrer homerischen ›Sonderrolle‹, die

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ihr noch mehr Ängste, noch längeres Warten einbrachte. Sie ist weder verschlagen noch besonders vorausschauend, sondern präsentiert alle Argumente, die eine Ehefrau eben vorbringen kann, wenn sie ihren Mann zur Eile bei der Rückkehr bewegen möchte: Sie beschreibt ihm ihre Sorgen und Ängste um ihn (V. 71– 72), ihre bedingungslose Treue (83–84) und die Dringlichkeit der Situation, die eine Rückkehr nicht mehr aufschiebbar macht. Sie ist nicht selbst Herrin der Situation, sondern erwartet von ihrem Mann, dass er sie und seine Familie beschützt (97–98, 109–110). Das ist sehr viel traditioneller als bei Homer, aber darum nicht weniger rhetorisch geschickt. Der Brief rückt mit dieser Strategie, Penelope als ganz gewöhnliche, durchschnittliche Ehefrau zu beschreiben, in die Nähe des »Ratgeberwerkes« Ars amatoria, aber auch sophistischer rhetorischer Musterreden und hellenistischer praktischer Lehrbücher, z. B. Ciceros de inventione, die klassische Redesituationen vorstrukturieren. Trotzdem sind die einzelnen Argumente ganz konkret aus der individuellen Situation und – psychologisch zu antizipierenden inneren Seelenlage – einer anderen als der homerischen Penelope gewonnen und verharren keineswegs auf der abstrakten Ebene ›bloßer‹ Ratgeberliteratur. Literatur

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Gyburg Uhlmann

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IV  Ästhetik und Poetologie

23 Stil und Erzähltechniken 23.1 Stil Immer wieder liest man in (älteren) Abhandlungen über Ovids Stil von einer glänzenden, kunstvollen Sprache und einer meisterhaften Leichtfüßigkeit beim Bau von Hexameter und Pentameter; gleichwohl gab es auch immer wieder Stimmen kritischer Rezeption (zu einer Zusammenschau der wichtigsten Stationen s. Stroh 1969 und Möller 2016, 96–100). Einordnungen ersterer Art jedoch, die Ovid zu einem veritablen Virtuosen und Stilidol erheben, scheinen nicht nur für ein jüngeres und sich erst seit kurzer Zeit mit Ovid befassendes Publikum schwer fassbar und wenig konkret, sondern grundsätzlich als Beurteilungskriterien höchst kontingent und subjektiv. Eine Ausnahme ist Edward Kenney, da er Ovids Metrum (s. Kap. 25) einer beispielreichen und praxisorientierten Analyse unterzieht (Kenney 1973 und 2002). Überschwängliches Lob mag mitunter einerseits auf das Bestreben einer adäquaten Würdigung der dichterischen Leistung Ovids, andererseits aber vor allem auf die definitorische Schwierigkeit des Konzeptes ›Stil‹ zurückzuführen sein. Zu einer ersten Annäherung kann Maximilian Benz’ kurzer Beitrag »Über den ›Stil‹« dienen, der sich, gerade um besagte »suggestiv-metaphorische« Bewertungen zu vermeiden, unter der Zusammenstellung verschiedener Ansätze und hilfreicher Literatur einem systematischen Zugang verschreibt (Benz 2015, 668). Hans Ulrich Gumbrecht definiert Stil ganz allgemein über den Begriff der Rekurrenz: Gerade das Wiederkehrende mache die typische Schreibweise eines Autors aus (Gumbrecht 2003; Benz 2015, 670). Zu einer daraus erstehenden Originalität und Eigenheit eines Dichters – und diese Weitung ist für Ovids Vielfalt unerlässlich – gehörten jedoch auch der spezifische Stil einer ganzen Epoche oder der einer literarischen Gattung (Gumbrecht 2003, 509 und Möller 2004, 18– 26). Angesichts der Fülle der von Ovid bearbeiteten Genres (s. Kap. 8) würde man sich vergebens auf die Suche nach dem einen ›Stil‹ Ovids machen (gleichwohl ihn viele zu erkennen meinen), ja selbst innerhalb eines Werkes darf nicht von einem einheitlichen, unwandelbaren Stil ausgegangen werden; dieses Prinzip der Wandelbarkeit kündigen zum Beispiel Ovids Metamorphosen bereits in ihrem Titel an. Gerade die Unterscheidung zwischen dem individuellen Stil eines Autors und dem Stilprinzip einer Gattung scheint für die Antike maßgebend. So war es Konvention, die drei in der Rhetorik geprägten Stilebenen

jeweils unterschiedlichen Gattungen zuzuordnen, wie der Vergil-Kommentator Servius an einer Stelle deutlich macht: tres enim sunt characteres, humilis, medius, grandiloquus: quos omnes in hoc invenimus poeta. nam in Aeneide grandiloquum habet in georgicis medium, in bucolicis humilem – »es gibt nämlich drei Stilebenen, eine niedrige, eine mittlere und eine hohe: Sie alle finden wir bei dem einen Dichter. Denn in der Aeneis verwendet er den hohen Stil, in den Georgica den mittleren und in den Bucolica den niedrigen« (vgl. auch Gumbrecht 2003, 510). Analog kann dies ansatzweise auch für Ovids stilistische Ausarbeitungen spezifischer Gattungen, sei es des Epos, der Elegie, aber auch des Briefs und der Lehrdichtung gelten; dabei darf für Ovid jedoch nie von einer derart strikten Trennbarkeit einzelner Stile und Gattungen ausgegangen werden. Hier ergeben sich auch Überschneidungen mit narratologischen Ansätzen, wie die immer noch als grundlegend zitierte Monographie Richard Heinzes zeigt: Die Unterscheidung zwischen epischer und elegischer Erzählung entspricht der an unterschiedliche Gattungen gekoppelten Stilvariation (Heinze 1919; Barchiesi 2006). Ebenso lassen sich diese Aspekte mit einer Art Epochenstil engführen. Dafür sind die literarischen Moden und das dichtungsästhetische Programm (s. Abschn. 26.2) einer bestimmten Zeit oder aber auch langanhaltender Traditionen ausschlaggebend. Ovids Werk ist dementsprechend in Teilen im Kontext der sogenannten neoterischen Strömung zu bewerten. Die im griechischen Hellenismus entwickelten und durch römische Autoren wie u. a. Catull, Vergil oder Gallus fortgeführten Stilprinzipien sind die der kleinen Form, der ausgefeilten Sprache und feinziselierten Verse. Die Vertreter dieser geradezu programmatischen Ästhetik geben ihrem Stil dabei konkrete Bezeichnungen (carmen deductum – »feingesponnenes Gedicht«; versus mollis, tener/tenuis, levis – »weicher, zarter, leichter Vers«), wie man sie auch bei Ovid selbst findet. Als weiteren für die Antike vielleicht relevantesten Komplex in Sachen Stilkritik muss hier das bereits erwähnte System der Rhetorik (s. Kap. 22) etwas genauer betrachtet werden. Die grundsätzlich eher dichotomisch anmutende Einteilung in genus grande und genus subtile (vernachlässigt man das genus medium als lediglich zwischen diesen beiden Polen platziert), die in der Prosa der Unterscheidung des pompösen, pathetischen Stils des Asianismus vom weitaus schlichteren des Attizismus entspricht, lässt sich noch weiter auffächern (Benz 2015, 669; Meyer 2007, 71–72; Michel 2003, 518–521). Insbesondere Cicero liefert in seiner Rheto-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_23

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riktheorie konkretes Handwerkszeug für die Beurteilung des Stils; sowohl die weiter gefassten Kategorien des aptum (»passend«) und decorum (»angemessen«) als auch die konziseren Begriffe der perspicuitas (»Klarheit«) – Gegenteil der obscuritas (»Dunkelheit«) –, brevitas (»Kürze«) oder puritas (»grammatikalische Richtigkeit«), aber auch die Lehre der Stilmittel, der Tropen und Figuren (ornatus – »Redeschmuck«), sind allesamt Kriterien der Stilanalyse (vgl. Cic. orat. 69 und 76–112; de orat. 1,  144; part.19–22), auf die in den folgenden Auswahlbeispielen zurückgegriffen wird. Auch die im Wort sal (»Salz«) begriffene Kategorie »Witz« ist für Ovids Stil eine nicht zu vernachlässigende Größe (Tissol 1997; Ahl 1985; zur Narratologie in der Klassischen Philologie s. auch de Jong 2014 sowie 2019, 275–284«).

23.2 Narratologie Weitaus systematischer und häufiger angewandt wird auf dem Gebiet der Klassischen Philologie die Erzähltheorie zur Erforschung und Interpretation der ovidischen Dichtung. Zu nennen ist hier beispielsweise Alessandro Barchiesi, der seinen narratologischen Ansatz im ovidischen Text selbst begründet sieht; gerade Ovids Metamorphosen seien an sich »mostly about narrative« (Barchiesi 2006, 181; dort auch reiche Literaturangaben). Referenzsystem für die beschriebene Herangehensweise ist die aus dem Strukturalismus entwickelte Erzählforschung, deren Grundlagenwerke nach wie vor Gérard Genettes Schriften (dt. »Die Erzählung«, Genette 2010; vgl. auch Bal 2009) darstellen. Die Narratologie beschäftigt sich mit allen Arten von erzählenden Texten und insbesondere der Instanz des Erzählers. Grundprinzip ist die Relation folgender drei zu unterscheidenden Größen: discours (»Erzählung, Text«), histoire (»Geschichte«) und narration (»Akt der Erzählung«). Anhand der Relationsgrößen Zeit, Modus und Stimme ergeben sich unterschiedliche Konzepte zur Charakterisierung des narrativen Textes. Unter ›Zeit‹ lassen sich das Erzähltempus ordnende Phänomene wie Ana- oder Prolepse (»Rück- oder Vorschau«), den Zeitraum betreffende Momente wie Pause, Retardation (»Verlangsamung«) oder Raffung (»Beschleunigung«) sowie mit der Frequenz zusammenhängende Größen wie Iteration (»Wiederholung«) oder Sequenz und deren Verknüpfungen und Übergänge auflisten. Das Kriterium ›Modus‹ beschreibt das Verhältnis des Erzählers zum Erzählten und enthält demnach Unterkategorien wie Distanz, Perspektive oder Fokalisie-

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rung (u. a. personaler oder auktorialer Erzähler, Person). Aus dem Bereich ›Stimme‹ erweisen sich für Ovid vor allem die Betrachtung der Erzählebene (»intra-, extra- oder metadiegetisch«) und die der Relation von Erzähler, Protagonisten und Adressaten als relevant. Über den rein narrativen Aspekt hinaus sind für die Analyse der Erzähltechniken Ovids jedoch auch die Berücksichtigung dramatischer Elemente und die der argumentativen Strategie wichtig.

23.3 Metamorphosen. Alles Wandlung Michel de Montaigne nennt in seinem Essay De trois bonnes femmes (»Über drei tüchtige Frauen«) Ovids Metamorphoseon libri schlicht und einfach »sa Metamorphose« (»seine Metamorphose«, II 35, 749) – eine im Laufe der Rezeptionsgeschichte einmalige Formulierung: Gegen die (moderne) Konvention, von Ovids ›Metamorphosen‹ zu sprechen, welche die Anzahl der rund 250 Einzelerzählungen abbilden soll, klingt es so, als ob Montaigne in dem großen Werk nur eine Verwandlung, nämlich die des Dichters oder seines Textes selbst, gesehen hätte. Die Gewichtung verlagert sich eindeutig vom »grand nombre de fables diverses« (»der großen Anzahl unterschiedlicher Geschichten«; ebd.) auf die Verfugung zu einem »corps entier« (»einem vollständigen Körper«; ebd.). Aus narratologischer Perspektive wäre dies eine Bedeutungsverschiebung von einer immer wieder postulierten Vielheit der Stimmen und einer (durchaus wohlbegründeten) vorherrschenden Konzentration auf einzelne Erzählerinstanzen (Barchiesi 2001b und 2006; Rosati 2002), die ›Ovid‹ als dominante Stimme teilweise sogar in den Hintergrund drängen (Rosati 2002, 286 und 303–304), hin zu einer bereits ebenso formulierten Betonung der Einheit und dauerhaften Präsenz der einen höchsten Erzählerinstanz (Solodow 1988, 38). Eine ähnliche Akzentuierung könnte man in Shane Butlers Studie »The Ancient Phonograph« sehen, in der er die Metamorphosen selbst als »phonographisch« bezeichnet (Butler 2015, 62); Ovids Text lebe aus Klangwiederholungen (ebd., 63–68), die polyphonen Erzählerinstanzen absorbiere der Grundton des zentralen Bauchredners »Ovid« (ebd., 73). Fakt und Besonderheit der ovidischen Metamorphosen sind, dass die einzelnen Verwandlungssagen etlichen unterschiedlichen Erzählern in den Mund gelegt werden, wobei des Öfteren – nach der Art der mise en abyme (Rosati 2002, 271 und 274) – Erzählungen in Erzählungen liegen, das heißt, sich mehrere ineinander ge-

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IV  Ästhetik und Poetologie

schachtelte (intradiegetische) Ebenen eröffnen (Barchiesi 2006, 187–190); dennoch sollte nicht vergessen werden, dass im Zuge einer pragmatisch-performativen Betrachtung der Kategorie ›Stimme‹ die gesamte narration im Mund des einen Proömium- und EpilogSprechers liegt (met. 1, 2–4: coeptis [...] meis – »mein Unterfangen« und met. 15, 897: vivam – »ich werde leben«), der – sich selbst wandelnd – in seine erzählten Erzähler eintaucht. So wichtig wie einleuchtend auch eine differenzierte Analyse der individualisierten, zeitund kontextgebundenen Sprecher ist (Barchiesi 2001b, 40–50, 62, 73 und 77) – erst ›Ovids‹ allumfassende Stimme in permanentem Wandel zu sehen, gäbe auch der narrativen Aufmachung des Gedichts (und nicht nur dem Inhalt der Geschichten) den rechtmäßigen Titel Metamorphosen. Dieses Postulat sei an einer ausgewählten Passage des ersten Buches verdeutlicht: Io, Opfer von Jupiters Liebesbegehren und von Juno in eine Kuh verwandelt, steht unter Bewachung des Riesen Argus (met. 1, 568–667). So die Ausgangslage der Geschichte. Ovids Teilerzählung über die Befreiung der Io setzt mit einer epischen Szene ein (met. 1,  668–674: Schauplatz ›Olymp‹; Jupiter beauftragt Hermes; dieser rüstet sich), die sogleich in eine bukolische Sphäre übersetzt wird (met. 1, 674–677: Dazu tauscht Hermes seine Attribute und spaziert mit Herde und Panflöte zu Argus). Hier nimmt sich die narrative Instanz in Teilen zurück und lässt in dramatischer Manier einen der Protagonisten selbst sprechen; gleichwohl steuert sie das Gespräch weiterhin mit (met. 1, 680: Argus ait – »spricht Argus«). Argus ist von Hermes’ Geflöte begeistert (met. 1, 678: voce nova et captus [...] arte – »von der nie gehörten Stimme und Technik gefesselt«) und bittet um eine ausführlichere Einlage (met. 1, 679–688). Auch diese intradiegetische Erzählung von Pan und Syrinx aus Hermes’ Mund steht letztlich unter der Patronage der höheren Instanz (met. 1, 689: tum deus inquit – »da spricht der Gott«). Schon nach wenigen Versen reißt sie die Erzählung wieder ganz an sich, unterbricht Hermes genau dort, wo er zu deren Kern kommt (met. 1, 700): ›[...] talia verba refert‹ – restabat verba referre (»›[...] Folgende Worte spricht er:‹ – es blieb nur noch, die Worte wiederzugeben«). Die Unterbrechung des Hermes zeigt sich vor allem darin, dass sie im Versinneren geschieht; der Metamorphosen-Erzähler markiert seine Dominanz und rafft den Rest der Geschichte mittels indirekter Rede (vgl. met. 1, 700–712). Von der Verwandlung der Syrinx und der Erfindung der Panflöte zu berichten, fällt somit in seinen eigenen Zuständigkeitsbereich. Auch die repetitive Beobachtung der

Wirkung von Musik (und zugleich Dichtung), nämlich dass Pan in denselben Bann gezogen wurde wie Argus (met. 1, 709: arte nova vocisque [...] dulcedine captum – »von der nie gehörten Technik und Süße der Stimme gefesselt«), zeugt davon, dass die höchste Instanz den logischen Überblick über alle einzelnen Erzählungen und ihre Verknüpfungen jederzeit behält. In einem abschließenden Kommentar treibt sie ihre Omnipräsenz auf die Spitze (met. 1, 713): talia dicturus – Hermes sei also nur »im Begriff gewesen, solches zu sagen«. Doch Argus schläft sofort ein. Hermes befreit Io, indem er deren Wächter tötet, und dessen Augen verwandeln sich in das Rad des Pfaus (met. 1, 713– 723). Wozu Hermes eigentlich gar nicht kam, erfahren wir nur, weil ›Ovid‹ im Erzählen einsprang (Rosati 2002, 274–275). Diese Textstelle soll auch für die Komplexität der ovidischen Erzählkunst in den Metamorphosen stehen, zeigt sich doch, dass man nicht immer Stimme und Erzählung einzelner Instanzen feinsäuberlich trennen kann oder Erzählungen – wie es in mancherlei Interpretation oft klingt – nach strenger, schematischer Ordnung in Erzählungen liegen. Gerade der Stimmwechsel innerhalb eines Hexameters und das Splitten der eingelegten histoire auf zwei discours-Ebenen scheint nur über die Instanz eines dominanten Erzählers, der eine kontinuierliche narration spricht, logisch nachvollziehbar (s. dazu auch Wheeler 2000). Darüber hinaus eignet sich die Passage, Ovids narrative Metamorphose mit der seiner stilistischen engzuführen, wie man im anfangs beschriebenen Übergang der Erzählung vom Epischen ins Bukolische bereits erahnen mag; Ovid selbst macht seine gattungsspezifische Reflexion deutlich: Zwar bezieht er den Begriff aptum (met. 1, 681) in erster Linie auf die Angemessenheit des bukolischen Settings für die folgende Handlung, doch scheint darin gewiss auch ein dichtungsästhetischer Marker auf. Pans Musik/Dichtung wird im Nachhinein als sonus tenuis (»zarter Klang«; met. 1, 708) bewertet; die des Hermes spiegelt sich im mollis somnus des Argus (»weicher Schlaf«; met. 1, 685). Beides sind bukolo-poetisch vorgeprägte Adjektive Vergils und im Allgemeinen dem alexandrinischen Stil entlehnt (zu dieser Szene Barchiesi 2006). Seien es – wie hier – epische und bukolische, seien es elegische Stilelemente oder auch die der Lehrdichtung (wie im Falle der Begegnung von Numa und Pythagoras im 15. Buch) – zu Recht lässt sich mit Alessandro Barchiesi schließen, dass Ovids Stil in den Metamorphosen in ständigem Wandel sei: »perpetual motion of its [d. h. the poem’s] style« (Barchiesi 2001b, 69).

23  Stil und Erzähltechniken

23.4 Fasti. Ovid als Reporter Ähnliche Beobachtungen zu Ovids Stil finden sich in den betreffenden Beiträgen zu den Fasti. John Millers Feststellung, »the narrator’s tone constantly shifts in both works«, zeigt, dass hierin beide Werke zusammen gedacht werden können (Miller 2002, 188). Wieder sind Stilvariationen vor dem Hintergrund von Genrekreuzungen zu sehen, wie Stephen Hinds unter kritischem Weiterdenken von Richard Heinzes eingangs erwähntem Ansatz eindrucksvoll darlegt (Hinds 1992). Auch hier verweist Ovid selbst auf die stilistisch-ästhetischen Folgen seines Vorhabens, indem er die von ihm wohl erkannte gelegentliche Diskrepanz von Inhalt und Form mit dem einschlägigen Vokabular markiert (fast. 6, 22: per exiguos magna referre modos – »in kleinen Versen Großes wiedergeben« und fast. 2, 3–4); Ovid schreibt Elegien (fast. 2, 125–126), doch ergibt sich ein den Metamorphosen ähnelnder gigantischer »corps entier« seriell angeordneter Erzählungen. Miller moniert, dass für eine gattungsanalytsiche und narratolgische Herangehensweise ein Blick auf die Fasti als didaktisches Gedicht oft zu kurz komme (Miller 2002, 182 und 192). Freilich zählen zu den stilistischen Besonderheiten eines Lehrgedichts Imperative (Miller 2002, 182) oder die direkte Apostrophierung des Lesers (fast. 3,  765: cur [...] quaeris – »du fragst, warum [...]«), doch sind diese bei Weitem nicht so ausgeprägt wie in den im Folgenden zu betrachtenden eroto-didaktischen Werken. Anders als die praxisorientierte Wissensvermittlung der Liebesdichtung (s. Kap. 43) scheint die Episteme des römischen Kalenders eher nach einer narrativen und deskriptiven (statt präskriptiven) Umsetzung zu verlangen, wobei die aitiologische Erzählung die Hauptrolle spielt. Gleichwohl sollten narrative und epistemologische Kategorien nicht zu sehr vermengt werden: Zwar mag der Erzähler nicht den kompletten Wissenskomplex ›Religion und Kult‹ (als histoire?) überblicken, ihm Allwissenheit in Bezug auf seinen discours abzusprechen (Newlands 1992, 37, 47 und 50), geht aber zu weit, scheint er doch seine Erzählung durchweg fest im Griff zu haben. Durch Prolepsen (fast. 3, 57: veniet – »wird [im Dezember] kommen«, fast. 4,  948 oder fast. 5, 147) und Analepsen (fast. 5, 721: ad Ianum redeat – »der soll zu Janus zurückblättern« oder fast. 5, 184), aber auch Raffungen von extremer brevitas an geeigneten Stellen (fast. 3, 67–70: Romulus’ Aufstieg bis Remus’ Tod in vier Versen) zeigt er seinen Überblick über den gesamten Plot. Ein ähnliches Zeitma-

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nagement ist auch für die Metamorphosen feststellbar (s. Rosati 2002, 277–279 und 285). Das erzähltechnisch Besondere an Ovids Fasti sind aber die zahlreichen ›(Götter-)Interviews‹ als Scharniere der eingelegten Erzählungen. Ovid stilisiert sich zum Reporter, der sein Notizbuch für die Informationen erster Hand jederzeit bereithält (fast. 1, 93: sumptis [...] tabellis – »mit gezückten Schreibtäfelchen«). Hier sticht abermals das kontinuierliche Ineinander der Erzählebenen heraus: Klare Verweise auf nahtlose Übergänge (fast. 4, 215 und 217: desierat; coepi – »sie [d. h. Erato] hörte auf, ich fing an« und desieram; coepit – »ich hörte auf, sie fing an«; vgl. auch 222) und auf bauchrednerisch verwobene Stimmen (fast. 1, 256: voce mea voces eliciente dei – »meine Stimme Götterstimme hervorlockend«) scheinen erneut auf eine Einheit der dargebotenen narration in einer Stimme abzuzielen. Dennoch ergibt sich im Vergleich zu den Metamorphosen unter dem Aspekt der Hierarchie einzelner Erzählerinstanzen eine wichtige Änderung: Gerade durch die Wahl der dramatischen Form des Gesprächs (mit Informanten) wirkt es, als ob das Gewicht in manchen Passagen eher auf einem Neben- als einem Untereinander der Instanzen läge. Eine Verstärkung dieses Neben- und Ineinander erreicht der Erzähler auch durch eine auffallend häufige Apostrophierung unterschiedlichster ›Realitäten‹. Nicht nur Interviewpartner (Götter oder Musen), sondern auch erzählte Figuren, Gebäude oder Sternenkonstellationen werden adressiert (Beispiele für die ApostrophenVariation innerhalb eines Buches: fast. 2,  225, 284, 425, 451, 459, 544 und 681). Denkt man noch, wie oben erwähnt, den mehrmals angesprochenen Leser als Adressaten hinzu, wird man gewahr, wie durch diesen narrativen Kunstgriff, die Distanz zwischen Erzähler, Erzähltem und Empfänger minimiert wird. ›Ovid‹ ist Reporter on air. Die darin enthaltene simultane Verschränkung oder Überblendung von Lebenswelt und Mythos wird auch dadurch verstärkt, dass mythische teils durch ›real‹ anmutende Interviewpartner (Priester oder Veteranen) ergänzt werden (fast. 4, 681–712 und 905–942).

23.5 Ars amatoria und Remedia amoris. Pragmatisch klar Im Vergleich zu den Metamorphosen (und in Teilen auch zu den Fasti) nimmt beim Blick auf die weiteren Werke Ovids die Fülle narratologischer Ansätze in der Forschung sichtlich ab. Dieses Verhältnis spiegelt sich

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IV  Ästhetik und Poetologie

aber auch in den Texten selbst wider: Während die konstitutive Essenz der Metamorphosen ein Kontinuum von Erzählungen ist und auch im Falle der Fasti die mythisch-erzählende Stimme die didaktische klar überwiegt, verlagert sich in Ovids eroto-didaktischen Schriften das Gewicht von narrativen auf lehrende Passagen, was zugleich Variationen des Stils zeitigt. Auch wenn beispielsweise Alison Sharrock die von ihr bezeichnete hierarchische Beziehung von Didaxe und narrativen Exkursen umzudrehen versucht (Sharrock 2007), bleibt das texträumliche Untergewicht der an einer Hand abzählbaren eingelegten Erzählungen bestehen. Gerade in ihrer logisch-bedachten Anknüpfung an verhandelte Lehrinhalte und ihrer teils expliziten Ankündigung (ars 2,  561: fabula narratur – »man erzählt sich eine Geschichte [die in den folgenden Versen 562–590 auch wiedergegeben wird]«) scheint ihnen eine exemplifizierende wie illustrierende Funktion im Sinne des rhetorischen ornatus zuzukommen (ars 3, 686: exemplum vobis [...] Procris erit – »Procris [und ihre Geschichte in den Versen 687– 746] sollen euch ein Beispiel sein«). Könnte man vor diesem Hintergrund der konkreten Funktionalisierung von Erzählungen dagegen im Falle der Metamorphosen und Fasti von einem funktionslosen Dasein der ›Erzählung für die Erzählung‹ sprechen – gewiss ohne ihren epistemischen Gehalt als aitiologische Narrative schmälern zu wollen? Das Charakteristische von Ovids didaktischem Stil ist eine klare, verständliche Sprache, auf die er als Lehrmeister explizit Wert legt. In seinen Anweisungen an Frau und Mann, wie Liebesbriefe abzufassen sind, könnte man einen indirekten Hinweis auf die Stilanforderungen an die eigene Dichtung finden: Weithergeholter oder ungebräuchlicher Wortschatz (als Ausformungen der obscuritas) wären fehl am Platz (ars 3, 479–480: e medio consuetaque verba [...] scribite – »schreibt naheliegende und gewöhnliche Worte«); vielmehr solle man auf Alltagssprache (ars 3, 480: sermonis publica forma) setzen (vgl. auch ars 1, 467). Mit der Klarheit und Verständlichkeit des Stils geht auch eine einfache Syntax einher, die sich an vielen Stellen durch eine besondere brevitas auszeichnet (ars 2, 199–201): arguet: arguito; quicquid probat illa, probato; quod dicet, dicas; quod negat illa, neges. riserit: adride; si flebit, flere memento: [...] »sie rügt etwas: rüg du es auch; was immer sie lobt, lobe es genauso;

wozu sie ja sagt, sag auch du ja, wozu sie nein sagt, sag ebenfalls nein. Lacht sie, lach ihr auch zu; weint sie, denk dran, auch zu weinen: [...].«

Hier wie in vielen anderen Passagen zeigt sich die Kürze vor allem in einer streng parallel gebauten, asyndetischen Reihung gezielter Anweisungen (vgl. auch ars 3,  513–514). Dieser imperative Verbalstil ist grundlegend für die Lehrdichtung (vgl. auch rem. 41– 43); bei Ovid findet er durch die listenartigen Dos and Don’ts jedoch eine ganz besonders pointiert-pragmatische Ausprägung. Zur Klarheit des Textes tragen weiterhin didakto-poetische Marker wie nunc (»jetzt kommen wir zu...«) oder hactenus (»soweit dazu«) bei, die man bereits von den Fasti kennt; mit ihnen begleitet der Sprecher seine Leser von Thema zu Thema (ars 1, 263–265 und rem. 357).

23.6 Amores. Anekdotisches In Ovids (werkchronologisch gesehen) erstem Elegiencorpus finden sich im Gegensatz zu den bisher besprochenen Texten noch kaum großzügig entfaltete mythische Erzählungen (eine Ausnahme: am. 3,  6). Auffällig ist jedoch deren Reduktion auf Gleichnisse (s. Kap. 26), eines der häufigsten Phänomene der Amores (am. 1, 10, 1–7: qualis [3x!] [...] talis eras – »wie [...] so warst du«; vgl. auch am. 1, 7, 13–18 oder 2, 5, 25–28 und 35–41); Mythen, die so zumindest in ihrem Kern präsent sind, finden erst in Ovids späterem Werk ihre Ausformulierung. An ihre – so ließe es sich vielleicht sagen – ›narrative Leerstelle‹ treten dafür Erzählungen des Alltags, die Ovid in anekdotischen Episoden aus seinem Liebesleben mit Corinna wiedergibt. So hat der Leser wie ein Zuschauer im Theater Teil an dramatischen Einzelszenen, sei es ein kurzes Treffen der Verliebten in der Mittagspause (am. 1, 5), ein Monolog vor der verschlossenen Tür der Geliebten (am. 1,  6 oder 3,  8) oder ein gemeinsamer Besuch im Zirkus (am. 3, 2), deren Wechsel abrupt sind (am. 1, 5, 1: aestus erat – »Mittag war’s« oder am. 3,  5,  1: nox erat – »Nacht war’s«) und deren zufälliges und spontanes Geschehen bisweilen markiert wird (am. 1, 5, 9: ecce, Corinna venit – »schau her, da kommt Corinna« oder 1, 8, 21: fors me sermoni testem dedit – »der Zufall hat mich zum Zeugen dieses Gesprächs gemacht«). Spontaneität und Alltäglichkeit sind dabei auch ein stilistisches Charakteristikum für die Sprache der Amores; Ovid inszeniert schnelle Wortwechsel und

23  Stil und Erzähltechniken

Gespräche, die oft aus kurzen Fragen und simpel gebauten Antworten bestehen (am. 2,  2,  3–8 oder 2, 5, 29–30). Diese vereinfachte Syntax sowie kurze Parenthesen oder Ausrufe unterstreichen die ›Mündlichkeit‹ des Textes; symptomatisch hierfür ist die Zirkusszene, in der der Sprecher wie ein Livekommentator mitfiebert (am. 3, 2, 69–71: me miserum! [...] quid facis, infelix? – »Mensch! Was machst du, du Pechvogel?«). Diese alltäglichen stories lassen sich jedoch auch zu einem größeren Plot, zu einem Auf und Ab der Liebe des Erzählers zu Corinna verknüpfen. Deutlich wird dies zum Beispiel, wenn zwei Elegien unmittelbar aufeinander aufbauen (wie am. 1, 11 und 1, 12). Erzähltechnisch raffiniert – und komisch-theatralisch, da wie im Theater nur Dramaturg und Publikum, nicht jedoch die einzelnen Schauspieler über alle vorherigen Szenen Bescheid wissen – sind die Elegien am. 2, 7 und 2,  8 platziert, da der Sprecher zunächst seine Treue gegenüber Corinna beteuert, sie im folgenden Gedicht im Seitensprung mit deren Friseuse jedoch als blanke Lüge entlarvt. Da es sich bei den Amores allein in Anbetracht des Plots und im Vergleich zu Tibull oder Properz um die wohl ›elegischsten‹ Elegien handelt, überrascht es nicht, dass Ovid im Sinne der eingangs beschriebenen Dichtungsästhetik zahlreiche metatextuelle Betrachtungen über den elegischen Stil einstreut. In am. 3, 1 lässt Ovid eine Epiphanie der Elegie auftreten, deren Äußeres nicht nur für die alltäglichen Inhalte, sondern auch deren anmutige sprachlich-formale Verpackung stehen kann (am. 3, 1, 8: forma decens, vestis tenuissima – »ihre Gestalt war zierlich, ihr Gewand überaus fein« und 41: sum levis – »leicht bin ich«; s. dazu ebenfalls Keith 1994). Ihr Gegenbild ist die Personifikation der Tragödie mit pathetisch-schwerem Style (s. 23 und 35–36: Variationen des Adjektivs gravis – »schwer« sowohl für ihre äußere Aufmachung als auch ihre Sprache; vgl. außerdem den immer wieder besprochenen Einstieg von am. 1, 1 und u. a. rem. 371–380).

23.7 Heroides. Am Puls des Mythos In ihrer Erscheinung als Liebesbriefe im elegischen Versmaß können die Heroides für eine stilistische Beurteilung erneut unter den in der Ars amatoria genannten Kriterien für männliche (und hier vor allen Dingen weibliche) Briefschreiber betrachtet werden (Farrell 1998, 309–317). Gleichwohl ist der Stil der Sprechersituation, das ist die Trennung des Liebespaares, angepasst und findet sein aptum vor allem in einer

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hochpathetischen Ausformung. Charakteristisch für alle Briefe sind demnach flehende wie drohende Imperative (u. a. epist. 1, 2 und 113; 10, 149; 11, 127 und 130), (oft irreale) Bitten und Hoffnungsbekundungen (u. a. epist. 1, 5: utinam – »hoffentlich«/«wäre doch«; vgl. 10, 99 und 11, 23), Ausrufe (wie heu: epist. 2, 48; 9,  153; 13,  162 oder ei mihi: 2,  106; 9,  145; 11,  114; 12, 9) oder (teils anklagende) Fragen (vgl. epist. 2, 27– 34 und 99–103; 5, 1–6; 12, 9–14). Gerade eine Häufung dieser sprachlichen Mittel am Anfang und Ende der Briefe im Sinne einer captatio benevolentiae und eines fulminanten Schlussplädoyers lässt an stark rhetorisierte Texte denken, wobei eine scheinbar logischrationale Argumentation oft der Rhetorik der Emotionen weichen muss (Farrell 1998, 317–323). Narratologisch gesehen sind die Briefe Monologe mit einer radikalen Fokalisierung auf die Perspektive der Sprecherin, was – laut Alessandro Barchiesi – der einen individuellen und subjektiven Stimme der Elegie entspricht (Barchiesi 2001a); der Leser des monologischen Briefes scheint gerade durch die eben beschriebenen sprachlichen Besonderheiten an einem unmittelbaren Gedankenstrom der jeweiligen Heldin teilzunehmen. Trotz allen Pathos darf jedoch nicht vergessen werden, dass sich die mythischen Protagonistinnen durchaus auch als erfahrene Erzählerinnen erweisen. So finden sich neben den eher mündlich anmutenden Klagen, Bitten und Drohungen auch längere Erzählungen über die Stationen der Liebe und die gemeinsame Vergangenheit, die den Zeitpunkt des Briefes im Mythos kontextualisieren. Medea zum Beispiel gibt einen detaillierten, chronologischen Bericht von den Geschehnissen zwischen ihr und Jason (epist. 12, 25–100; auch mit den üblichen temporalen oder lokalen Markern wie 41: interea – »inzwischen« oder 69: est nemus – »es gibt da einen Wald«); dabei lässt sie – ganz wie es später der Erzähler der Metamorphosen und Fasti machen wird – auch andere Personen zu Wort kommen (53: dixerat Aeetes – »so hatte Aietes gesprochen« oder 74: orsus es [...] loqui – »da fingst du an zu sprechen: [mit Jasons Treueschwur, 75–90]«). Auf einen besonderen erzähltechnischen Kniff der Heroinen sei noch hingewiesen: Nicht nur der unmittelbare Zugang zur Gefühlswelt der Sprechenden vermag es, eine Nähe von Erzähler und Rezipient zu erzeugen, auch die Distanz des erzählten Mythos erfährt eine entsprechende Nivellierung. Ovid platziert die Briefe an signifikanten Höhepunkten des jeweiligen Mythos, die Texte werden zu Zeitzeugen am Puls der noch nicht abgeschlossenen histoire. So hält Dido im Akt des Schreibens bereits ein Schwert für ihren Suizid

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gezückt (epist. 7, 186; vgl. auch 11, 5), den sie, wie Aeneas’ Abfahrt, als unmittelbar bevorstehend ankündigt (epist. 7, 172: nunc – »jetzt« oder 7, 188 und 194: iam – »schon«). Im Falle von Deianiras Brief ergibt sich sogar eine absolute Gleichzeitigkeit von histoire und discours: Simultan zur Abfassung erreicht sie die Nachricht vom Tod ihres Geliebten Hercules (s. Kap. 62) (epist. 9, 143: scribenti nuntia venit – »beim Schreiben ist gerade die Botin gekommen«). Diese Simultanität mag sich auch in der Materialität des discours widerspiegeln: Mehrere Sprecherinnen hinterlassen Tränen- oder Blutspuren auf dem Papyrus (epist. 3, 3; 11, 3–4; 15, 98).

23.8 Tristien und Epistulae ex Ponto. Immer dasselbe? Diese dramatische Überschneidung der außertextlichen Zeit der histoire mit der des discours evoziert Ovid auch in seiner Exildichtung: Der Erzähler berichtet von seiner stürmischen Überfahrt ins Exil; mit Meerwasser im Mund vermag er kaum, seine narration voranzutreiben (trist. 1, 2, 34: dumque loquor, vultus obruit unda meos – »und während ich spreche, schwappt mir eine Welle ins Gesicht«; vgl. 14), und wie im Falle einiger Heroides ist seine Stimmung auf dem Beschreibstoff abzulesen (trist. 1,  1,  13–14; 3, 1, 15–16; 4, 1, 95–96). Nach der Seereise im ersten Buch der Tristien kommt die Handlung auch schon zum Erliegen; das statische Exildasein spiegelt sich im Stagnieren des Plots der Tristien 2–4. Auch in den Epistulae ex Ponto 1–5 ändert sich daran nichts. Vielmehr kreisen die einzelnen Gedichte um immer wiederkehrende Themen wie (verlorene) Freundschaft, Isolation, klimatische Widrigkeiten des Exils, Rehabilitierung oder Schuldbekenntnis. Selten lockern eingelegte Erzählungen wie die Etymologie der Stadt Tomis (trist. 3, 9) oder der Mythos von Iphigenie auf Tauris aus dem Mund eines Einheimischen die Monotonie auf (Pont. 3, 2, 42–96); selbst sie sind wiederum nur Illustration und Varianz der Iteration von Exilwidrigkeit und Freundschaftsdebatte. Diese Monotonie soll keineswegs (wie es in der früheren Ovid-Forschung der Fall war) kritisch beurteilt werden. Ovid selbst ist sich seines Kreisens bewusst (Pont. 3, 9, 1: in his eadem sententia [...] libellis – »in diesen Büchlein steht immer dasselbe«; 34 und 41; vgl. auch Pont. 3,  7,  1–8) und erhebt Wahllosigkeit, ungeordnetes Zirkulieren und Wiederholen geradezu zu ästhetischen Kompositionstechniken (s. Kap. 24) sei-

ner Exilliteratur (Pont. 3, 9, 53: postmodo collectas [...] sine ordine iunxi – »danach sammelte ich sie [d. h. die Briefe] und stellte sie ohne Ordnung zusammen«). In keinem anderen Werk kommt der Bewertung des eigenen Stils – analog zu den Kommentaren zur eintönigen Thematik – ein so großer Raum zu wie in den Exilgedichten. Stand in anderen Schriften auf einer Metaebene immer das ästhetische Stilideal vor Augen, kommt es hier im Gegenteil zu einer kühlen Abrechnung mit dem eigenen Text. Der Erzähler sei nicht einmal mehr seiner Sprache mächtig (trist. 5, 12, 57–58: iam dedidicisse Latine [...] loqui – »schon habe ich verlernt, wie man Latein spricht«; vgl. 3, 1, 17; 3, 14, 23 und 45–50; 5, 7, 57–58); hierbei sind Latinitas oder puritas (Sprachrichtigkeit) nicht zu vergessende Kategorien des rhetorisch guten Stils. Während Ovid in seiner Ars amatoria seine Texte noch als culta carmina (»herausgeputzte Gedichte«, ars 3, 341–342) bezeichnete, bewertet er seine Exilschriften mit den Adjektiven incultus und hirsutus (»ungepflegt« und »struppig« trist. 1, 1, 3 und 12; zu hirsutus als Stilmerkmal s.  Barchiesi 2006, zu incultus bzw. horridus Möller 2004); die alexandrinische Ästhetik des deducere und des versus mollis seien dahin (Pont. 1, 5, 13–14). Dass sich stilistisch, verstechnisch oder grammatikalisch im Vergleich zu den früheren Werken Ovids nichts Grundlegendes ändert, wird dem Leser trotz der massiven Gegenwirkung des Dichters ausnahmslos klar. Es mag stimmen, dass thematische, erzählerische, aber auch stilistisch-sprachliche Wiederholungen monoton wirken, aber sie werden zum Instrumentarium eines neuen ästhetisch autonomen Kunstwerks. Die Inszenierung der Demontage von Stil und narrativen Techniken dieser scripta mediocria (»mittelmäßigen Schriften«, Pont. 1,  5,  83) gehört dazu; auch wenn die 9 Bücher Elegien das Gegenteil beweisen (vgl. schon Luck 1961). Literatur

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Matthias Grandl

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IV  Ästhetik und Poetologie

24 Komposition 24.1 Ovids wohlkomponiertes Leben Formale Aspekte der poetischen Komposition sind bei Ovid sowohl mit dem Inhalt seiner Gedichte als auch mit ihrer Stellung innerhalb seines Gesamtwerkes und innerhalb der römischen Literaturgeschichte untrennbar verbunden. In Amores 1, 1 schildert Ovid den Ursprung seiner elegischen Liebesdichtung wie einen aitiologischen Mythos: Der Dichter sei gerade dabei gewesen, mit dem Schreiben eines großen Hexameterepos anzufangen, als der Gott Amor plötzlich einen Fuß aus dem zweiten Vers gestohlen und somit das begonnene Werk in eine Liebeselegie verwandelt habe (1, 1, 1–4, vgl. Holzberg 1997, 55–56). Die verspielte Manieriertheit dieses Bildes dient aber auch dazu, das Schreiben der Liebeselegie als einen vom Willen des Dichters gleichsam unabhängigen, aus einem inneren Drang erfolgenden Prozess darzustellen (vgl. 1, 26). Diese fingierte Natürlichkeit geht wiederum damit einher, dass Ovids Amores – vor allem im Kontrast zur elegischen Dichtung seines unmittelbaren Vorgängers Properz (vgl. Wyke 1989) – die Illusion eines auf eigener Erfahrung basierenden autobiographischen ›Liebesromans‹ (vgl. Holzberg 1997, 24–26) erzeugen können. Dieser Spontaneitätsbekundung wird im einleitenden Epigramm eine strenge auktoriale Kontrolle entgegengesetzt: Die personifizierten Amores behaupten hier, sie hätten ursprünglich aus fünf Büchern bestanden, seien aber, um dem Leser den Genuss zu erleichtern, auf drei Bücher reduziert worden (vgl. Harrison 2017, 190). Unabhängig davon, ob diese Behauptung die Existenz von zwei verschiedenen Auflagen der Sammlung impliziert (vgl. Barchiesi 2001, 159–161), erscheint Ovids Schwanken zwischen den Zahlen fünf und drei höchst bedeutungsvoll – insbesondere angesichts der Existenz der vier Bücher des Properz, die vor dem Erscheinen der überlieferten Version der Amores alle bereits publiziert worden waren (vgl. Holzberg 1997, 41–48 und Hutchinson 2006, 2–7). Das poetische Werk des Properz besteht aus zunächst drei Büchern, in denen sich der männliche Sprecher als eine Art Eroberer des bis dahin durch Gallus dominierten Terrains der römischen Liebeselegie darstellt (vgl. Cairns 2006, 70–249), gefolgt von einem auffällig andersartigen vierten Buch (vgl. Janan 2001). Aus dieser Perspektive heraus könnte man den epigrammatischen Prolog der Amores wie eine Bescheidenheitsgeste interpretieren: Die ursprünglich über

das durch Properz vorgegebene Maß hinausgehende Sammlung der Amores (ein Buch länger als Properz’ Gesamtwerk) sei demnach auf die ›richtige‹, aus drei Büchern bestehende Länge gestutzt worden, wobei die Anlehnung an das properzische Vorbild unter anderem dadurch deutlich gemacht wird, dass Ovid in der letzten Elegie des dritten Buches den Abschied von der Liebeselegie, den Properz am Ende seines dritten Buches ankündigt, unmissverständlich evoziert (Prop. 3, 24 und Ov. am. 3, 15). Im Kontext von Ovids elegischem Gesamtwerk wird jedoch diese Verbeugung vor der Autorität des Vorgängers dadurch zunichte gemacht, dass Ovid im Umgang mit den im vierten Buch des Properz behandelten Themen sein Vorbild maßlos überbietet. Die elf Elegien des vierten Buches des Properz teilen sich in zwei Gruppen auf: In gut der Hälfte der Gedichte steht nicht mehr der männliche Protagonist, sondern eine Vielzahl von Frauenfiguren im Mittelpunkt, während in den übrigen Elegien aitiologische Mythen über die Entstehung römischer religiöser Bräuche erzählt werden. Unter den Frauengedichten des vierten Buches, deren Protagonistinnen ansonsten verstorbene (mythische, fiktionale und reale) Frauen sind (vgl. Wyke 1987), fällt besonders 4, 3 auf – ein Gedicht, in dem eine römische Matrone einen Brief an ihren Ehemann schreibt, der als heldenhafter Soldat dem Reich immer neue Gebiete einverleibt (vgl. Janan 2001, 53–69). Die ›weibliche‹ Hälfte des vierten Buches findet eine überdimensionierte Entsprechung in Ovids Heroides – einer möglicherweise ursprünglich aus drei Büchern bestehenden (und später erweiterten) Sammlung von elegischen Briefen (vgl. Holzberg 1997, 84–96), die mythische (also, wie die meisten Frauen des vierten Buches des Properz, bereits versorbene) Frauen, dem Vorbild der Matrone von Properz 4, 3 folgend, an ihre abwesenden heroischen Liebhaber oder Ehemänner schreiben (vgl. Knox 1995, 17–18). Einer noch größeren Ausdehnung wird die aitiologische Hälfte des vierten Buches des Properz in Ovids Fasti unterzogen: Ovids ätiologische Stücke umfassen ganze sechs Bücher, die auch in ihrem thematischen Umfang Properz’ Auswahl von Gründungsgeschichten aus der legendären Vorzeit Roms bei Weitem übertreffen, indem sie sich vornehmen, die mythischen Ursprünge aller Festtage des römischen Kalenders zu erklären. Deutlicher als in den Amores vermischt sich der Schein einer unverfälschten Natürlichkeit mit der Inszenierung eines sich komplett nach literarischen Vorbildern orientierenden Lebens in Ovids didaktischen Elegien, also in der Ars amatoria und in den Remedia

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_24

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amoris. Die Pose eines elegischen praeceptor amoris, die Ovid einnimmt, fingiert eine geradezu intime Kommunikation mit dem Leser wobei die Komposition des erotischen Ratgebers nur durch die Belange dieser Kommunikation bestimmt zu sein scheint: In den ersten zwei Büchern der Ars amatoria erklärt er allen römischen Männern (vgl. ars 1, 1, in hoc populo), wie sie sich die in den Amores geschilderten erotischen Erfahrungen zu eigen machen können; das dritte, an Frauen gerichtete Buch folgt nur, weil auch Frauen ausdrücklich nach Ratschlägen verlangt haben sollen (vgl. ars 2, 745, rogant); und die Remedia entstehen nur, weil es dem Dichter am seelischen Wohlbefinden seiner unglücklich verliebten Leser(innen) angeblich viel liegt (vgl. rem. 1–40). Als Folge projizieren Ovids didaktische Elegien das literarische Konstrukt der elegischen Liebe uneingeschränkt auf alle Römer, wodurch die Nachahmung von Ovids Amores zum von ganz Rom angestrebten erotischen Ideal erklärt wird. Paradoxerweise resultiert also die durch die rhetorische Kommunikationsstruktur der didaktischen Elegien inszenierte Nähe zwischen dem Dichter und seinen Leser(innen) nicht so sehr in einer ›lebensähnlichen‹ Literatur wie in einem ›literaturähnlichen‹ Leben (vgl. Sharrock 2002). Der Status des erotischen Ratgebers selbst als literarisches Konstrukt wird zusätzlich auch dadurch betont, dass er – genauso wie die Elegien des Properz – aus vier Büchern besteht, wobei, scheinbar auch in Anlehnung an Properz, die ersten drei (die Ars amatoria) die elegische Liebe als das höchste Lebensziel darstellen und das vierte (die Remedia amoris) den Abschied von der Liebe zum Thema hat. Der Kontrast zwischen den Fasti und Ovids Liebesdichtung ist wesentlich größer (vgl. Newlands 1995, 51–86) als der Kontrast zwischen dem aitiologischen vierten Buch des Properz und seinen früheren drei Büchern. Zu Ovids wichtigsten Vorbildern in den Fasti zählt nicht nur der sich als Callimachus Romanus bezeichnende Properz (Prop. 4, 1, 64), sondern auch Kallimachos selbst (vgl. Newlands 1995, 64–66). So wie Kallimachos in den Aitien die Musen nach den Ursprüngen von verschiedenen griechischen Riten, Kulten und Städten befragt und dabei das ptolemäische Königspaar ausgiebig lobt (vgl. Asper 2004, 23– 31), so kommuniziert nun auch Ovid nicht mehr mit seinen Lesern, sondern nur mit den von ihm gelobten Machthabern (Augustus und Tiberius) sowie mit den Musen und anderen Gottheiten, die ihm detaillierte Informationen über die Ursprünge römischer Festtage verraten (vgl. Holzberg 1997, 159–180).

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Es ist jedoch der auffällige Unterschied zu Kallimachos’ Aitien, der die Eigenartigkeit von Ovids aitiologischem Projekt besonders deutlich macht. Die scheinbar beliebige Auswahl von aiotiologischen Geschichten, die Kallimachos in den Aitien zusammenträgt, lässt sich als repräsentativer Blick auf die virtuelle Karte der kulturellen Erinnerungen der griechischen Einwohner Alexandrias und somit als Abbild der in Alexandria entstehenden multikulturellen Realität verstehen (vgl. Asper 2001). Bei Ovid wird dieses offene, wie eine Synekdoche der griechischen Welt wirkende räumliche Bild durch ein das gesamte römische Festkalender lückenlos abdeckendes zeitliches Schema ersetzt, wobei jedem Monat ein eigenes Buch gewidmet ist. Die Tatsache, dass der augusteische Festkalender, der als Grundlage für Ovids poetische Ausarbeitung diente, nicht nur alle offiziellen Festtage auflistete, sondern auch aitiologiche Informationen über deren Ursprünge enthielt (wie zum Beispiel in den fragmentarisch überlieferten Fasti Praenestini, vgl. Feeney 2007, 185–187), bedeutet, dass Ovid sich in einem im Vergleich zu Kallimachos außerordentlich engen, für kompositorische Experimente geradezu ungeeigneten Raum bewegen musste, so dass selbst seine Bemühungen, diese Enge zu überwinden, indem er einige seiner Erzählungen detaillierter ausarbeitete als andere und sowohl formale als auch inhaltliche Verbindungen zwischen weit voneinander entfernten Episoden herstellte (vgl. Braun 1982), die Rigidität der vorgegebenen Kalenderstruktur umso deutlicher spüren lassen (vgl. Barchiesi 1997b, 45–252). Doch die ideologische Aussage der Fasti basiert nicht nur auf einer (je nach Lesart) ideologisch getreuen oder unterschwellig subversiven Wiedergabe der legendären römischen Geschichte, die im zyklischen Festkalender zu einem statischen Symbol erstarrt (vgl. Newlands 1995), sondern auch auf der Darstellung eines umfangreichen Zeitrahmens, der wie in den Metamorphosen die gesamte Entwicklung der Welt ab origine mundi bis zum vermeintlichen Ende der Geschichte unter Augustus einschließt (vgl. Holzberg 1997, 159–161): So wie am Anfang der Fasti Janus sich selbst mit der Entstehung sowohl der Zeit als auch der geordneten Welt aus dem Chaos identifiziert (Ov. fast. 1, 101–132), so wird in zahlreichen panegyrischen Passagen auch Augustus mit der imperialen Ordnung und mit dem unabänderlichen Lauf des offiziellen Festkalenders symbolisch gleichgesetzt (z. B. Ov. fast. 1, 587–616, 1, 637–650, 2, 119–148). Obwohl der überlieferte Text der Fasti nur sechs Bücher enthält und somit nur die Hälfte des Kalenderjahres behan-

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IV  Ästhetik und Poetologie

delt, erscheint in diesem scheinbar auf halber Strecke abgebrochenen Werk (vgl. Ov. trist. 2, 549–552) die sche­matische Darstellung der Geschichte der Welt von ihrer Entstehung bis zu ihrem Gipfelpunkt unter Augustus so abgeschlossen, dass man ihr nichts Wesentliches hinzufügen könnte. Die formale Einheit der vorhandenen sechs Bücher (vgl. Barchiesi 1997a, 197– 207) weist wohl auch darauf hin, dass es Ovid weniger auf die Ganzheit des Kalenders als auf die Abgeschlossenheit dieses augusteischen Ideologems ankam. Aus dieser Perspektive heraus könnte auch die genaue Anzahl der überlieferten Bücher der Fasti eine zusätzliche Bedeutung erhalten. Die Tatsache, dass die Fasti genauso wie Lukrez’ De rerum natura aus sechs Büchern bestehen, könnte unsere Aufmerksamkeit darauf lenken, dass Ovids Gedicht nicht nur zahlreiche erkennbar lukrezische Motive behandelt – z. B. eine Kosmogonie (vgl. Ov. fast. 1, 101–118 und Lucr. 5, 416–508), ein Venus-Hymnus (vgl. Ov. fast. 4, 3–132 und Lucr. 1, 1–43), die Vorstellung von der Befriedung des Mars durch Liebe (vgl. Ov. fast. 3, 1–166 und Lucr. 1, 29–40), eine detaillierte Beschreibung des KybeleKults (vgl. Ov. fast. 4, 179–372 und Lucr. 2, 600–660) –, sondern auch auf einer erkennbar lukrezischen panegyrischen Rhetorik basiert: So wie Lukrez den vergöttlichten Epikur für die Ermöglichung eines philosophischen Daseins lobt, in dem die distanzierte Betrachtung ›der Natur der Dinge‹ von einem gleichsam außerhalb der Natur befindlichen Standpunkt heraus eine vollkommene Seelenruhe garantiert (vgl. Gale 1994), so lässt auch Ovid den göttlichen Augustus als Erschaffer einer außerhalb der Geschichte befindlichen Zeit erscheinen, deren angebliche grenzenlose Perfektion gerade durch eine distanzierte Betrachtung der im Festkalender verewigten Geschichte bestätigt wird (vgl. Ov. fast. 2, 126–144). In den Metamorphosen inszeniert Ovid den Prozess der Selbstbefreiung von einer solchen ›göttlichen‹ Ordnung, die paradoxerweise mit einer Abkehr von der Elegie einhergeht. Wie die Amores werden auch die Metamorphosen als Ergebnis einer Verwandlung dargestellt. Die Leser, die Ovid hauptsächlich als Elegiker kennen, würden nach der Zäsur im zweiten Vers (met. 1–2 corpora: di coeptis) mit Sicherheit eine zweite Pentameterhälfte erwarten. Der Vers wird aber als Hexameter fortgesetzt (nam vos mutastis et illa), wobei diese überraschende Transformation, wie in den Amores, einer göttlichen Intervention zugeschrieben wird: »Denn ihr (= Götter) habt auch sie (= die ›Anfänge‹ meines Gedichts) verwandelt« (vgl. Knox 1986, 9–26). Die Ähnlichkeit zum Anfang der Amores verdeckt aber

einen wichtigen Unterschied: Während der Gott Amor als Symbol eines inneren erotischen Impulses verstanden werden kann, fungieren die alles nach ihrem Gutdünken verwandelnden Götter des MetamorphosenPrologs wie eine äußere Macht, die dem Dichter ihren Willen auferlegt (vgl. Feldherr 2010, 1–11). Mit dieser Verwandlung von Ovids Elegie in ein Epos geht auch einher, dass Ovid in den Metamorphosen den Stellenwert seiner Dichtung anders konzipiert: Während er in den Liebeselegien die ›natürlich‹ entstehende Nähe zu seinen Lesern in den Mittelpunkt stellt, inszeniert er in den Metamorphosen einen schmerzhaften Prozess, bei dem die poetische Stimme sich in einen schriftlichen Text verwandelt und dadurch ihre Unabhängigkeit von den ›göttlichen‹ Mächten erlangt. Die formalen Aspekte der Werkkomposition spielen bei dieser Inszenierung eine entscheidende Rolle. Die ›göttlichen Anfänge‹ des Werks spiegeln sich auch in seiner transparenten Struktur wider, denn die fünfzehn Bücher der Metamorphosen lassen sich trotz fließender Übergänge relativ klar in drei Pentaden aufteilen (vgl. Holzberg 1997, 123–158) – die Erschaffung der Welt und die Gründungsphase der griechischen Mythologie, in der die Götter mit sterblichen Frauen ›heroischen‹ Nachwuchs zeugen (Bücher 1–5); die Heldensagen, die dem Trojanischen Krieg vorausgehen (die Argonauten, Theseus, Hercules, Orpheus: Bücher 6–10); die Zeit vom Trojanischen Krieg bis zur augusteischen Gegenwart (Bücher 11–15). Dabei fungiert die Metamorphose nicht nur als das Hauptthema des Werks, sondern auch als grundlegendes Kompositionsprinzip, das verschiedene Transformationsarten – die graduelle Transformation der Welt ab origine mundi ad mea tempora (met. 1, 1, 1–4), die Verwandlung einzelner Geschichten ineinander, die Verwandlung zahlreicher literarischer Vorbilder – als Facetten eines allumfassenden Phänomens erscheinen lässt (vgl. Schmidt 1991). Doch die aussagekräftigste Transformation, die im Laufe der Metamorphosen stattfindet, ist zweifelsohne Ovids Darstellung der graduellen Verwandlung einer schwachen, der göttlichen Macht völlig ausgelieferten menschlichen Stimme in einen autoritätsreichen, für die Ewigkeit bestimmten schriftlichen Text. Diese Verwandlung vollzieht sich in drei Stufen, die den drei Pentaden entsprechen, in die sich das Werk gliedert. In den ersten fünf Büchern hängen Verwandlungen oft mit Vergewaltigungen sterblicher Frauen durch Götter zusammen (vgl. Richlin 1992), wobei der Verwandlungsprozess oft als Substitution einer menschlichen Sprache durch ein die göttliche Macht verewi-

24 Komposition

gendes ›Monument‹ aufgefasst wird (z. B. Daphne: met. 1, 452–567). Am Anfang der zweiten Pentade findet dann eine bemerkenswerte Verschiebung statt. Im sechsten Buch werden zunächst zwei »schriftliche Texte« miteinander kontrastiert – die sich durch eine klare Struktur auszeichnende Tapisserie der Minerva, auf der Götter dargestellt werden, die Sterbliche für ihre Unbotmäßigkeit mit Verwandlungen bestrafen, und die dagegen chaotisch wirkende Tapisserie der Arachne, die den engen Zusammenhang zwischen Verwandlung und göttlicher Gewalt thematisiert, wobei die anschließende Verwandlung Arachnes durch Minerva die Gültigkeit beider Botschaften bestätigt (vgl. Johnson 2008, 74–95). Am Ende des Buchs wird ein ähnliches Machtgefälle auf eine rein menschliche Ebene projiziert. Dabei wird aber der Schrift eine besondere Bedeutung beigemessen: Da Tereus Philomela nicht nur vergewaltigt, sondern auch ihre Zunge herausschneidet (vgl. Monella 2005), kann sie von seinem Verbrechen nur mittels eines schriftlichen Texts berichten, den sie auch in eine Tapisserie hineinwebt, was am Ende zu einer grausamen Bestrafung des Vergewaltigers führt (met. 6, 424–674, vgl. Salzman-Mitchell 2005, 139–149). Zusätzlich zur Kraft der Schrift wird aber in der zweiten Pentade auch die offensichtliche Fiktionalität der Verwandlungsgeschichten immer wieder thematisiert, deren Glaubwürdigkeit einzig und allein von der rhetorischen Überzeugungskraft bzw. von der göttlichen Macht des jeweiligen Erzählers abhängt (vgl. Feldherr 2010, 51–59). In der dritten Pentade wird anschließend hervorgehoben, dass Dichtung nur als schriftliches Medium eine dauerhafte Wirkung erzielen kann. Der fließende Übergang von der zweiten zur dritten Pentade wird von der Figur des Orpheus dominiert, der als Inbegriff der mündlichen Dichtung geschildert wird und als solcher selbst Götter zu Tränen rühren kann (met. 10, 1–52). Nachdem aber sein Körper am Anfang des elften Buches in Stücke gerissen wird, wandert er in die Unterwelt hinab, ohne in der Welt der Lebenden irgendwelche Spuren zu hinterlassen (met. 11, 1–66, vgl. Feldherr 2010, 160–198). Dagegen wird am Ende des fünfzehnten Buches das Fatum als unabänderlicher schriftlicher Text dargestellt, laut dem der Tod absolut unausweichlich ist (met. 15, 813–814), während Augustus wie ein typisch ovidischer ›göttlicher‹ Erzähler erscheint, der die verewigende Fiktion von der Verwandlung des Julius Caesar in einen Kometen (vgl. Schmitzer 1990, 84–97) nur deshalb propagieren kann, weil er die uneingeschränkte Macht über die ganze Welt besitzt (vgl. Feldherr 2010, 63–83). Im Epi-

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log erscheint dann der schriftliche Text, in den sich Ovid nun verwandelt, als die einzige Möglichkeit, den schriftlichen Text des Fatums dauerhaft zu überlisten: Denn die Ewigkeit des Werks, das Ovid nun zu Ende komponiert hat (met. 15, 871 iamque opus exegi), hängt weder vom ›göttlichen Zorn‹ noch vom Feuer ab (15, 871 nec Iovis ira nec ignes), sondern nur davon, dass es überall in der römischen Welt gelesen wird (met. 15, 878 ore legar populi, vgl. trist. 3.7). Die Unabhängigkeit des poetischen Überlebens Ovids vom ›göttlichen Zorn‹ wird auch zu einem der Leitmotive von Ovids Exildichtung (vgl. Holzberg 1997, 181–202). Das Exil selbst wird sowohl als Folge seiner poetischen Tätigkeit als auch als eine wahr gewordene ovidische Fiktion dargestellt: Die Publikation der Ars soll dazu geführt haben, dass Ovid selbst nun wie eine Figur aus den Metamorphosen erscheint (vgl. trist. 2, 493–494 und 1, 1, 119–120). Die Tatsache, dass er auch im Exil ein Buch nach dem anderen schreibt (fünf Bücher der Tristien, gefolgt von vier Büchern der Epistulae ex Ponto), erscheint dabei wie eine Art ›lebensrettende Maßnahme‹: Die immer größer werdende Anzahl neuer Bücher, die er in regelmäßigen Abständen vom Schwarzen Meer nach Rom schickt, soll als Beweis dafür dienen, dass der ›göttliche Zorn‹ des Augustus tatsächlich nur Macht über seinen Körper hat (vgl. trist. 1, 105–116). Dadurch wird auch seine physische Abwesenheit aus Rom völlig unerheblich, denn die durch seine Gedichte vermittelte imago bleibt in Rom ja weiterhin zugänglich (vgl. trist. 1, 7, 11 sed carmina maior imago), wobei die im Exil entstandenen neuen Bücher sich zu den alten gesellen, um das Bild zu vervollständigen (trist. 1.1). Seine sowohl im Epilog der Metamorphosen als auch in den Tristien geäußerte Zuversicht, dass dieses poetische Bild auch seinen Tod überdauern wird, hängt also nur damit zusammen, dass er dank seiner Popularität bei den Lesern (vgl. trist. 4, 10, 132 candide lector) bereits zu Lebzeiten zu einem kanonischen Autor geworden ist. Literatur

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Alexander Kirichenko

25  Metrum (Hexameter, Distichon)

25 Metrum (Hexameter, Distichon) Alle erhaltenen Dichtungen Ovids sind in daktylischen Versmaßen verfasst: In seinem Epos Metamorphosen verwendet Ovid Hexameter, in den übrigen Werken die sogenannten elegischen Distichen, die aus einem Hexameter und einem Pentameter bestehen. Beide Metren hat die lateinische Literatur wie alle übrigen Metren, die in der klassischen Zeit geläufig sind, aus dem Griechischen übernommen. Die griechischen Versmaße gehen wohl auf indogermanische Vorläufer zurück, fanden ihre überlieferte Form jedoch erst in Griechenland. Die von den Römern übernommenen Versmaße verdrängten die altitalischen und wurden unter Beibehaltung der Hauptmerkmale dem Lateinischen angepasst. Ausführliche Einführungen in die römische Metrik bieten Crusius/Rubenbauer 1967, Boldrini 1999 und Zgoll 2012.

25.1 Unterschiede zwischen antiker und moderner Metrik Die deutsche metrische Dichtung basiert auf dem Akzent, das Versmaß ergibt sich daher aus einer geregelten Abfolge von betonten und unbetonten Silben (sogenannte »akzentuierende Metrik«). Auch jedes lateinische Wort trug einen Akzent. Über das Wesen dieses Akzents ist die Forschung uneins, wahrscheinlich hatte das Lateinische jedoch einen dem deutschen ähnlichen Druckakzent. Dieser war aber nicht die Grundlage für die lateinische Metrik: Wie in der griechischen Literatur ist es allein die Länge der Silben, die für das Versmaß ausschlaggebend ist. Den klassischen griechischen und lateinischen Versmaßen liegt daher anders als den deutschen eine geregelte Abfolge langer und kurzer Silben zugrunde (sogenannte »quantitierende Metrik«). Es ist somit nicht möglich, im deutschen Vers die antike Metrik genau nachzubilden (s. u. ein Beispiel von Schiller), ein Problem, dem sich auch der Übersetzer bei seiner Wahl von Prosa oder gebundener Rede stellen muss. Dem antiken Hörer erschloss sich das Versmaß aus der geregelten Abfolge langer und kurzer Silben unabhängig vom Wortakzent. Da jedoch der moderne Hörer das Versmaß durch ein Lesen der lateinischen Verse mit Wortakzent auch unter genauer Beachtung der im Folgenden dargestellten Regeln der quantitierenden Metrik nur schwer erfassen kann, wird im Schul- und Universitätsalltag meist auf eine Behelfslösung zurückgegriffen und mit einem Druckakzent unabhängig vom eigentlichen Wort-

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akzent die Stelle betont, an der im Deutschen im Versmaß der Akzent stünde.

25.2 Lange und kurze Silben Zur Bestimmung, ob eine Silbe kurz oder lang gemessen wird, gelten folgende Hauptregeln (die Beispiele sind nach Möglichkeit den unten aufgeführten Texten zu Hexametern und Pentametern entnommen, sonst ist eine Übersetzung beigegeben): Eine Silbe ist lang, a) wenn sie einen langen Vokal enthält. Die Quantität eines Vokals ergibt sich entweder aus den Regeln der Morphologie oder muss im Wörterbuch nachgeschlagen werden: Lange Vokale werden dort meist mit ^ oder einem Längsstrich über dem Vokal gekennzeichnet. Kurze Vokale werden durch ˘ bezeichnet, im Wörterbuch geschieht Letzteres jedoch in der Regel nicht, d. h., dass die dort unbezeichneten Vokale kurz sind. Z. B. Ov. met. 1, 6 ūnus: Der erste Vokal ist naturlang, somit wird auch die Silbe lang gemessen. Manche Vokale können in der Dichtung kurz oder lang gemessen werden, so z. B. das letzte -i in den Pronomina mihi, tibi und sibi. Z. B. Ov. am. 1, 27 sex mihi: Hier ergibt sich aus dem noch zu besprechenden Versmaß die Messung der beiden Wörter als – ˘ ˘ mit kurzem Schluss-i. b) wenn sie einen Diphthong, also einen Doppelvokal, enthält. Z. B. Ov. met. 1, 6 caelum mit dem Diphthong -aein der ersten Silbe, die deshalb lang gemessen wird. Silben, die lange Vokale oder Diphthonge enthalten, heißen naturlang. c) wenn auf einen kurzen Vokal zwei Konsonanten folgen, wobei x (= ks) oder z (= ds) als Doppelkonsonanten gelten (sogenannte »Positionslänge«). Diese Regel gilt auch über Wortgrenzen hinweg. Der Name  »Positionslänge« geht auf die lateinischen Grammatiker zurück, die die griechische Bezeichnung dafür, dass eine Silbe »aus Übereinkunft« (thései) lang sei, mit dem lateinischen positione übersetzten. Auch sonst sind in der indogermanischen Dichtung solche Silben lang, es handelt sich also um keine griechisch-römische Übereinkunft. Obwohl die Silbe lang gemessen wird, wird der Vokal kurz gesprochen. Z. B. Ov. met. 1, 5 ante: Das a- ist hier ein Vokal, der kurz gesprochen wird, die Silbe wird jedoch

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_25

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IV  Ästhetik und Poetologie

durch die beiden folgenden Buchstaben -nt- lang gemessen. Z. B. Ov. am. 1, 18 proximus: Das -o- ist hier ein kurzer Vokal, durch das folgende -x- wird die Silbe lang, -o- wird aber kurz gesprochen. h wird nicht als Konsonant berücksichtigt, i und u bezeichnen sowohl die entsprechenden Vokale als auch die Halbvokale j und v. Als Ausnahme ist zu beachten: Folgt auf einen stummen Konsonanten (mutae: p, b, d, t, g, c) einer der Fließlaute (liquidae: l, r oder nasales: m, n), wird die Silbe in der Prosa als kurz gemessen, in der Dichtung kann sie kurz oder lang sein (sogenannte »muta cum liquida-Regel«). Z. B. Ov. met. 13, 607 et primo similis volucri, mox vera volucris, »Und zunächst einem Vogel ähnlich, dann ein wirklicher Vogel.« Nach den unten noch folgenden Regeln für den Hexameter ist hier bei der Verbindung einer muta (-c-) mit einer liquida (-r-) die zweite Silbe bei volucrī kurz, bei volucris lang zu messen: An der ersten Stelle ist volu – cri zu lesen (u bleibt offen und kurz), an der zweiten voluc – ris (die Silbe wird durch Konsonant geschlossen und dadurch lang). Der Vokal -u- wird in beiden Fällen kurz ausgesprochen. Dies gilt nur für die angegebene Reihenfolge, wenn Liquida oder Nasal auf den stummen Konsonanten folgen, im umgekehrten Fall tritt immer Positionsläge ein, vgl. das oben gegebene Beispiel Ov. met. 1, 5 ante. Wenn keiner der gerade genannten Fälle vorliegt, ist eine Silbe kurz.

25.3 Hiat, Elision und Aphärese Die lateinische Sprache versucht zu vermeiden, dass auf ein Wort, das auf einen Vokal oder -m endet, ein Wort folgt, das mit einem Vokal oder h- anlautet. Dieses Zusammentreffen bezeichnet man als »Hiat« von lat. hiare »klaffen«. Um einen solchen Hiat zu vermeiden, wird der letzte Vokal des ersten Worts ausgestoßen oder noch kurz angeschlagen: Dieser Vorgang wird daher »Elision« (von lat. elidere »ausstoßen«) oder »Synalöphe« (von gr. synaloiphḗ »Verschmelzung«) genannt. Z. B. Ov. met. 1, 5 mar⌣ e et: Das auslautende -e wird elidiert oder noch kurz angeschlagen. Endet ein Wort auf einen Vokal oder -m und folgt darauf es (»du bist«) oder est (»er/sie/es ist«), wird das anlautende e- ausgestoßen, was »Aphärese« genannt wird.

Z. B. Ov. am. 1, 1, 16 sua⌣ est. Ein auslautendes -m wird vor est noch gesprochen, sonst fällt es ganz fort: Z. B. Ov. am. 1, 1, 15 tuum⌣ est. Gelegentlich wird nach Interjektionen und auch nach Satzschlüssen und Verseinschnitten ein Hiat geduldet.

25.4 Versfüße: Daktylus und Spondeus Durch die geregelte Abfolge langer und kurzer Silben treten bestimmte Zeiteinheiten stärker hervor. Der durch das Metrum hervorgehobene Teil wird meist als »Hebung«, der unbetonte als »Senkung« bezeichnet. Da sich diese Bezeichnungen eingebürgert haben, werden sie, trotz ihrer Mehrdeutigkeit, auch im Folgenden benutzt. Die kleinsten Gruppen der sich durch Hebung und Senkung ergebenden Einheiten werden »Versfüße« genannt. Eine lange Silbe wird mit – (dies muss nicht der Länge des Vokals entsprechen), eine kurze mit ⏑ bezeichnet, die Hebung kann mit ´ über dem Wort bezeichnet werden (dies muss nicht dem eigentlichen Wortakzent entsprechen). Für Ovid sind zwei Versfüße von Bedeutung. Der Daktylus (von gr. dáktylos »Finger«) besteht wie ein Finger aus einem langen und zwei kurzen Gliedern, also aus einer langen und zwei kurzen Silben: – ⏖, die Hebung befindet sich auf der ersten langen Silbe. Der Spondeus (ursprüngliche Bedeutung »zum Opfer gehörig« von gr. spondḗ »Opfer«) besteht aus zwei langen Silben: – –, ebenfalls mit der Hebung auf der ersten langen Silbe. Meist ergeben zwei Versfüße zusammen ein Metrum, beim Daktylus und Spondeus bildet jedoch schon ein einzelner Fuß ein Metrum.

25.5 Hexameter Aus der Verbindung von mehreren Metren ergibt sich ein Vers. Sechs Metren ergeben einen Hexameter. Zwei Kürzen entsprechen in der Metrik einer Länge. Deshalb kann für einen Daktylus (–˘˘) im Hexameter auch ein Spondeus (– –) eintreten, was mit –⏔ gekennzeichnet wird. In den ersten vier Füßen des Verses geschieht dies regelmäßig, im fünften dagegen nur selten (ein solcher Vers wird spondiacus genannt). Das sechste Metrum ist katalektisch (von gr. katalếgein »aufhören«), also um eine Silbe verkürzt: Es steht also der Trochäus – ˘ (»Läufer« von gr. tréchein »laufen«), allerdings kann die Schlusssilbe auch lang sein, also ein Spondeus. Dies wird durch –⏒ oder – x dargestellt.

25  Metrum (Hexameter, Distichon)

Da vor dem nächsten Vers eine kurze Pause eintritt, gelten beide als metrisch gleichwertig. Für den Hexameter ergibt sich folgendes Schema, die einzelnen Metren werden zur besseren Übersichtlichkeit durch ⦙ abgetrennt: –⏔⦙–⏔⦙–⏔⦙–⏔⦙–⏖⦙–⏒

Da in den ersten vier Füßen jeweils zwischen Daktylus und Spondeus gewählt werden kann, ergeben sich zahlreiche Gestaltungsmöglichkeiten, die von Dichter zu Dichter individuell variieren. Ovid hat sich schon im antiken Urteil hierbei als ein Meister erwiesen. Als Beispiel sollen einige Verse aus den Metamorphosen dienen, die die Weltschöpfung beschreiben (Ov. met. 1, 5–9). Die Hebungen sind im lateinischen Text durch ´ gekennzeichnet und werden heute beim Vorlesen entgegen der antiken Praxis meist durch einen Druckakzent verstärkt: ánte mar⌣ e ét terrás et quód tegit ómnia cáelum – ⏑ ⏑ ⦙ – – ⦙ – – ⦙ – ⏑ ⏑ ⦙ – ⏑⏑ ⦙ – ⏑ únus erát totó natúrae vúltus in órbe, –⏑⏑⦙––⦙––⦙––⦙–⏑⏑⦙–⏑ quém dixére Chaós: rudis índigéstaque móles, ––⦙–⏑⏑⦙–⏑⏑⦙––⦙–⏑⏑⦙–– e eódem néc quicquám nisi póndus inérs congéstaqu⌣ ––⦙–⏑⏑⦙–⏑⏑⦙––⦙–⏑⏑⦙–⏑ nón bene iúnctarúm discórdia sémina rérum. – ⏑ ⏑ ⦙ – – ⦙ – – ⦙ – ⏑⏑ ⦙ – ⏑ ⏑ ⦙ – ⏑ (»Vor dem Meer und der Erde und dem Himmel, der alles bedeckt, gab es nur ein einziges Aussehen der Natur in der ganzen Welt, das sie Chaos nannten: Eine rohe und ungeordnete Masse, nur träge Schwere und die ebendort angehäuften unverträglichen Samen der schlecht verbundenen Dinge.«)

25.6 Zäsuren und Dihäresen Ein Gliederungsmerkmal des Hexameters ist die Tatsache, dass an bestimmten Versstellen das Ende eines Wortes erstrebt bzw. gemieden wird. Die Stellen, an denen ein Wortende regelmäßig erstrebt wird, nennt man »Zäsur« (zu caedere »schneiden«), wenn das Wortende innerhalb eines Versfußes auftritt, oder »Dihärese« (gr. dihaíresis »Trennung«), wenn dies zwischen zwei Versfüßen erfolgt. Der häufigste Einschnitt erfolgt nach der dritten Hebung. Es handelt sich um eine Zäsur, hier mit || ge-

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kennzeichnet, die auch »Penthemimeres« (nach »fünf halben Teilen«, also nach fünf Elementen, die jeweils aus einer Länge oder Doppelkürze bestehen und einen halben Daktylus darstellen) genannt wird: – ⏔ ⦙ – ⏔ ⦙ – || ⏔ ⦙ – ⏔ ⦙ – ⏖ ⦙ – ⏒

Als Beispiele können die oben zitierten Verse Ov. met. 1, 5.6.7.9 dienen, die alle eine Zäsur nach der dritten Hebung aufweisen, so z. B. Ov. met. 1, 5: ante mar⌣ e et terras || et quod tegit omnia caelum Die zweithäufigste Zäsur ist die nach der vierten Hebung, genannt »Hephthemimeres« (nach »sieben halben Teilen«), hier durch || gekennzeichnet, die häufig zusammen mit einer Zäsur nach der zweiten Hebung auftritt. Diese wird »Trithemimeres« (nach »drei halben Teilen«) genannt, hier durch | gekennzeichnet: – ⏔ ⦙ – | ⏔ ⦙ – ⏔ ⦙ – || ⏔ ⦙ – ⏖ ⦙ – ⏒

Beispiel Ov. met. 1, 8: nec quicquam | nisi pondus iners || congestaqu⌣ e eódem

Werden das fünfte und sechste Metrum durch Wortende abgetrennt, spricht man von einer »bukolischen Dihärese« (nach dem häufigen Vorkommen in der bukolischen Dichtung, der Hirtendichtung), hier wieder mit || gekennzeichnet: – ⏔ ⦙ – ⏔ ⦙ – ⏔ ⦙ – ⏔ || – ⏖ ⦙ – ⏒

Diese tritt ebenfalls häufig zusammen mit anderen Zäsuren auf, vgl. z. B. oben Ov. met. 1, 5.

25.7 Pentameter und Distichon Der Hexameter ist das alleinige Versmaß der met. In allen übrigen Werken Ovids kommt er jedoch nicht allein vor, sondern ihm folgt jeweils ein kürzerer Vers, der sogenannte Pentameter. Es handelt sich hierbei ebenfalls um einen daktylischen Vers, der aus zwei Teilen besteht, die durch eine Dihärese getrennt werden. Beide Teile sind der vordere Teil des Hexameters bis zur dritten Hebung, also bis zur Penthemimeres (sogenannter »Hemiepes«). Der etwas irreführende Name Pentameter für einen Vers, der eigentlich sechs Hebungen hat, ergibt sich daraus, dass man die einzelnen Füße zu fünf Metren zusammenzählen könnte. Nur in der ersten Vershälfte können die Daktylen

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IV  Ästhetik und Poetologie

auch durch Spondeen ersetzt werden. Ovid lässt den Pentameter in Weiterentwicklung von Tibull und Properz in den frühen Werken regelmäßig und später vorwiegend auf ein zweisilbiges Wort enden (Kenney 2002, 30–33). Daraus ergibt sich ein ziemlich festes Schema, || bezeichnet die Dihärese: – ⏔ ⦙ – ⏔ ⦙ – || – ⏖ ⦙ – ⏖ ⦙ ⏒

Der Pentameter tritt in der klassischen Dichtung nur zusammen mit dem Hexameter auf, mit dem er meist auch eine Sinneinheit bildet. Ein solcher Doppelvers wird wegen seines häufigen Vorkommens in der Elegiendichtung »elegisches Distichon« (gr. dístichon, »Zweizeiler«) genannt. Ov. am. 1, 1, 15–18 án, quod ubíque, tuúm ⌣ est? tua súnt Helicónia Témpe? – ⏑ ⏑ ⦙ – ⏑ ⏑ ⦙ – ⏑ ⏑ ⦙ – ⏑⏑ ⦙ – ⏑⏑ ⦙ – – est? víx etiám Phoebó iám lyra túta suá ⌣ – ⏑⏑⦙ – – ⦙ – || – ⏑ ⏑ ⦙ – ⏑ ⏑ ⦙ – cúm bene súrrexít versú nova página prímo, – ⏑ ⏑ ⦙ – – ⦙ – – ⦙ – ⏑⏑ ⦙ – ⏑ ⏑ ⦙ – – áttenuát nervós próximus ílle meós. – ⏑⏑ ⦙ – – ⦙ – || – ⏑ ⏑ ⦙ – ⏑ ⏑ ⦙ – (»Ist denn alles das Deinige [angesprochen ist der Liebesgott Cupido]? Gehört [auch] das helikonische Tempe-Tal [d. h. das Tal der Musen] Dir? Ist auch Phoebus [d. h. Apollo] seine Leier kaum mehr sicher? Wenn die erste Seite gut angehoben ist mit dem ersten Vers, schwächt jener zweite meine Kraft.«)

Ov. am. 1, 1, 27–28 séx mihi súrgat opús numerís, in quínque resídat; –⏑⏑⦙–⏑⏑⦙–⏑⏑⦙––⦙–⏑⏑⦙–⏑ férrea cúm vestrís bélla valéte modís! – ⏑⏑ ⦙ – – ⦙ – || – ⏑ ⏑⦙ – ⏑ ⏑ ⦙ – (»Mein Werk soll mir in sechs Versfüßen anheben, sich in fünf senken; lebt wohl ihr eisernen Kriege mit euren Versmaßen!«)

Diese hier von Ovid in Distichen beschriebenen Charakteristika des Distichons finden sich in einer Vielzahl von Ovids Versen. Ähnlich beschreibt Friedrich Schiller das Distichon mit einem (selbstverständlich anderen Regeln folgenden) Distichon (hier die ursprüngliche Fassung Schiller 1797, 67):

Ím Hexámeter steígt des Spríngquells sílberne Säúle, ´ sie melódisch heráb. Ím Pentámeter draúf, fällt

25.8 Besonderheiten der ovidischen Verse Innerhalb der oben beschriebenen Regeln bieten besonders der Hexameter, aber auch der Pentameter eine Vielzahl von Möglichkeiten individueller Gestaltung durch den Dichter: Ovid hat den Hexameter und das elegische Distichon seiner Vorgänger weiterentwickelt und zu einer Form gebracht, die über Jahrhunderte hinweg imitiert wurde und als vorbildlich galt (s. zur gesamten Frage Kraus 1982, 159–162 und Kenney 2002). Ovid selbst beschreibt das Entstehen seiner Verse als einen gleichsam natürlichen Vorgang, das Schreiben von Prosa sei ihm gar nicht möglich gewesen (trist. 4, 10, 25–26): sponte sua carmen numeros veniebat ad aptos,     et quod temptabam scribere versus erat. (»Von selbst kam das Gedicht zu den passenden Versfüßen, und, was ich zu schreiben versuchte, war ein Vers.«)

Ovids metrische Kunst ist oft für diese natürlich anmutende Leichtigkeit und Eleganz gerühmt worden. Diese Eigenschaften lassen sich vor allem auf sein Bestreben zurückführen, den Vers flüssig und glatt zu gestalten, wobei er im Hexameter häufig vor allem von der Praxis Vergils abweicht. So versucht er, weitgehend auf Elisionen zu verzichten (Siedow 1911, 54–55.58; Soubiran 1966, 604–606 sowie Platnauer 1951, 72–90 zu den elegischen Distichen). Auch längere Abschnitte weisen häufiger keine Elision auf (z. B. Ov. met. 1, 292– 313 und 446–463). Im Vergleich zu Vergil bevorzugt Ovid die Elision kurzer Vokale, meidet jedoch die Elision langer Vokale oder die Elision bei auslautendem -m (Kent 1923; am häufigsten findet sich in den elegischen Distichen die Aphärese, vgl. z. B. oben Ov. am. 1, 1, 16, und in den Metamorphosen die Elision des »e« in -que, vgl. z. B. oben Ov. met. 1, 8). Er verwendet vermehrt Daktylen statt der schwereren Spondeen (Dee 2006, XX, Duckworth 1969, 71–80 mit Kenney 1971 zu den Hexametern der met., Platnauer 1951, 36–38 zu den elegischen Distichen; vgl. z. B. oben den rein daktylischen Vers Ov. am. 1, 1, 15). Da die lateinische Sprache von Natur aus ärmer an kurzsilbigen Wörtern ist, erforderte dies auch eine Weiterentwicklung des poetischen Vokabulars (Kenney 2002, besonders 30–

25  Metrum (Hexameter, Distichon)

43 und 56–70). Die Gliederung des Verses orientiert sich häufig an Sinnabschnitten (Otis 1970, 74–77 zu den Metamorphosen, vgl. hier z. B. oben Ov. met. 1, 7.8; Kenney 2002, 80 zu den Parenthesen). Enjambements sind bei Ovid seltener als bei Vergil und werden gezielt eingesetzt (vgl. hierzu die Beispiele in Kenney 2002, 78–83 und 87–88). Mit all diesen Eigenschaften hat Ovid die Form des Hexameters und des elegischen Distichons geschaffen, die für die Folgezeit stilbildend war (Dewar 2002, 385–387). Literatur

Boldrini, Sandro: Prosodie und Metrik der Römer. Aus dem Ital. übertr. von Bruno W. Häuptli. Stuttgart/Leipzig 1999. Crusius, Friedrich/Rubenbauer, Hans: Römische Metrik. Eine Einführung. München 81967. Dee, James H.: Repertorium Ovidii Metamorphoseon Hexametricum. Hildesheim/Zürich/New York 2006. Dewar, Michael: Siquid habent ueri uatum praesagia: Ovid in the 1st-5th Centuries A. D. In: Barbara Weiden Boyd: Brill’s Companion to Ovid. Leiden/Boston/Köln 2002, 383–412. Duckworth, George E.: Vergil and Classical Hexameter Poetry. A Study in Metrical Variety. Ann Arbor 1969. Kenney, Edward J.: Numeri innumeri. Review of Duckworth 1969. In: CR 21 (1971), 200–203.

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Kenney, Edward J.: Ovid’s Language and Style. In: Barbara Weiden Boyd: Brill’s Companion to Ovid. Leiden/Boston/ Köln 2002, 27–89. Kent, Roland G.: Likes and Dislikes in Elision, and the Vergilian Appendix. In: Transactions and Proceedings of the American Philological Association 54 (1923), 86–97. Kraus, Walther: Ovidius Naso. In: Paulys Realencyclopädie für die classische Altertumswissenschaft (RE), XVIII 2, 1942, Sp. 1910–1986. Zit. nach der überarb. Fassung. In: Michael von Albrecht/Ernst Zinn (Hrsg.): Ovid. Darmstadt 1982, 67–166. Otis, Brooks: Ovid as an Epic Poet. Cambridge 21970. Platnauer, Maurice: Latin Elegiac Verse. A Study of the Metrical Usages of Tibullus, Propertius and Ovid. Cambridge 1951. Schiller, Friedrich: Musen-Almanach für das Jahr 1797. Tübingen 1797. Siedow, Gustav Alfred: De elisionis aphaeresis hiatus usu in hexametris Latinis ab Ennii usque ad Ovidii tempora, Greifswald 1911. Soubiran, Jean: L ’ élison dans la poésie latine. Paris 1966. Weiden Boyd, Barbara: Brill’s Companion to Ovid. Leiden/ Boston/Köln 2002. Zgoll, Christian: Römische Poesie und Metrik. Ein Studienbuch mit Audiodateien. Darmstadt 2012.

Philip Schmitz

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IV  Ästhetik und Poetologie

26 Vorstellungswelten: Illusion, Bildersprache, Gleichnisse 26.1 Oberflächlichkeiten und Untiefen – Ovids Sprachkunst zwischen Sein und Schein Wie Mosaiksteine fügen sich positive wie negative Beurteilungen der Sprachkunst Ovids aus unterschiedlichen Epochen bei all ihrer Verschiedenheit zu einem wiedererkennbaren Gesamtbild zusammen: Die Anklage exzessiver Wortspielerei etwa findet sich in der Antike (Sen. contr. 2, 2, 12: »in seiner Dichtung war er sich seiner Laster nicht nur wohl bewusst, sondern in sie verliebt«; Quint. inst. 10, 1, 88: »allzu sehr von seinem eigenen dichterischen Talent eingenommen«) wie in der Frühen Neuzeit (»frequently witty out of season«, urteilt John Dryden). Auch Sturm und Drang sowie viele Romantiker sehen in Ovid einen unoriginellen, effektheischenden, authentischer Tiefe ermangelnden Wortkünstler. Goethes von Herder überliefertes Urteil über die Metamorphosen ist repräsentativ: »[E]s sollte sich keine eigentliche unmittelbare Wahrheit in diesen Gedichten finden [...], alles vielmehr sei Nachahmung des schon Dagewesenen und eine manierirte Darstellung, wie sie sich nur von einem Übercultivirten erwarten lasse.« Ungeachtet ihrer Werturteile erfassen diese Charakterisierungen zutreffend die bei Ovid allgegenwärtige verbale Pyrotechnik; die intensive Auseinandersetzung mit der literarischen Tradition; die starke Präsenz eines pointiert und spielerisch gestaltenden Erzählers; und die prononcierte Literarizität dieser sich oft selbst reflexiv thematisierenden Dichtung. Für all dies sind das neuerliche Engagement mit hellenistischer Ästhetik und die zentrale Rolle rhetorischer Bildung in der literarischen Kultur seiner Zeit von grundlegender Bedeutung; sie bieten den Rahmen für Ovids großangelegtes Ausloten der quecksilbrigen Beschaffenheit von Sprache, Identität, Fiktion und Wirklichkeit. Genau daran entzündet sich die Wertschätzung Ovids in der aetas Ovidiana des Hochmittelalters (12.–13. Jhd.) ebenso wie in der Postmoderne. Sein Erkunden der Figuralität von Sprache im Nachspüren wörtlicher wie dichtersprachlicher Dimensionen von scheinbar vertrauten Bezeichnungen, Wendungen und Erzählungen, oft in raschem und dadurch effektvollen Wechsel miteinander; sein ausgeprägtes Vergnügen an den allgegenwärtigen Ambiguitäten

sprachlichen Ausdrucks; sein Experimentieren mit den fließenden Grenzen von Fiktionalität (innerhalb einzelner Werken, über Werkgrenzen hinweg, zwischen Erzählern und ihren Erzählungen, zwischen fiktionaler Welt und extradiegetischer Wirklichkeit – mit allen daraus erwachsenden Versuchungen und Enttäuschungen, biographische und politische Bezugnahmen dingfest zu machen): aus eben diesen Aspekten ergibt sich die starke Affinität zwischen Ovids Dichtung und mittelalterlicher Allegorese (mit ihrer Faszination für Polysemie und Polyvalenz in der Erkundung vielschichtiger Sinnebenen) sowie postmoderner Skepsis (gegenüber fixen Bedeutungen und letztgültigen Referenzpunkten in Anbetracht der fortgesetzten Aufschiebung sprachlicher Bedeutungsinhalte und ihres unabschließbaren Verhältnisses zur außersprachlichen Wirklichkeit: Jacques Derridas différance). Wenn Ovid zu Recht oft als Meister der Illusion bezeichnet wird, dann verdeutlichen diese Affinitäten, dass seine Sprache und Poesie nicht so sehr eine nachhaltige und ununterbrochene Illusion erzeugen, sondern den Leser bei allen bildgewaltigen Tableaus und unvergesslichen Szenen immer wieder der eigentlichen Illusion überführen, in seiner Dichtung festen Boden unter den Füßen zu haben: Nichts ist (oder bleibt) hier so, wie es sich zunächst präsentiert; alles scheint sich in einer Vielfalt von Bedeutungsebenen weiter zu entfalten oder zu destabilisieren. Zusammengenommen zeigen diese konträren rezeptionsgeschichtlichen Perspektiven, wie sich mit der schimmernden Oberfläche von Ovids flüssig lesbarer Poesie, gerade in ihrer fulminanten Rhetorik und süffisanten Ironie, oft Untiefen auftun. Ovids Wortspiele etwa, deren Witz (zum Teil nach KalauerManier) unmittelbar amüsiert, haben es oft in sich, wenn man ihren Implikationen für den jeweiligen Kontext nachgeht. Die Verspieltheit seiner Sprache verschleiert so häufig tiefere Komplexität (ganz im Sinne von met. 10, 252: »so sehr verbirgt sich durch Kunst die Kunst«). Diese Dynamik geht Hand in Hand mit der intensiven Visualität von Ovids Dichtung (Rosati 1983), die wegen ihrer Aufmerksamkeit für aussagestarke Details als ›malerisch‹ und aufgrund ihrer Panoramaperspektiven und abrupten ›cuts‹ als ›filmisch‹ beschrieben wurde. Die außerordentlich intensive Rezeption der Erzählungen Ovids in der bildenden Kunst lässt sich mithin nicht trennen von der ausgeprägten Bildhaftigkeit und lebendigen Bildersprache seiner Poesie.

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_26

26  Vorstellungswelten: Illusion, Bildersprache, Gleichnisse

26.2 Als die (Sprach-)Bilder laufen lernten: Figuration als poetisches Programm Wie erzeugt Ovids Bildersprache Illusionen, die sich selbst unterlaufen? Wenn sie zugleich verschleiert und enthüllt, wenn sie in den von ihr geschaffenen plastisch-lebendigen Bildern stets die Macht der Sprache mitreflektiert, so tut sie dies, indem sie Figuration, also die poetische Sprachgestaltung dichterischer Texte, selbst zum Gegenstand der Dichtung macht und sich ihre Szenen und Narrative aus dieser Perspektive erschließt. Dichterische Ausdrucksweisen werden entfaltet, ausgeleuchtet, weitergesponnen und dabei auch gern ins Extreme oder Absurde geführt. Zentral ist der hierbei oft zu beobachtende Wechsel zwischen wörtlichen und bildhaften Dimensionen von Kernbegriffen und Ausdrucksweisen. Zu Sprache geronnene Bilder werden so lebendig und entwickeln aus ihrer sprachlichen Gefasstheit heraus ein neues Eigenleben. Die nachspürende (Aus-)Gestaltung der bestehenden Gestalt von Sprache – figura bezeichnet in kongenialer Ambivalenz beides (Quint. inst. 9, 1, 4 und 1, 12; vgl. Hardie 2002, 228–229) – wird bei Ovid zum poetischen Programm. Diese zentrale Dynamik ovidischer Poetik wurde zuerst mit Blick auf das Verhältnis von Metapher und Metamorphose erkannt (Pianezzola 1979; Schmidt 1991; Kaufhold 1997): Ovid nimmt häufig einen poetische Wendung zum Ausgangs- oder Endpunkt einer Geschichte oder Szene, dann auf ihre wörtlichen Dimensionen hin durch erzählerische Konkretisierung (von Personen, Handlungen, Orten und Zeiten) ausgestaltet wird. Wenn z. B. Niobe angesichts des Todes ihrer Kinder ›versteinert‹ dasteht (met. 6, 309), liest sich dies nach der Beschreibung ihrer in Schock erstarrten Reglosigkeit (301–308) wie ein bildhafter Ausdruck, der dann aber mit der Metamorphose in einen Marmorfelsen mit stetem Rinnsal (›emporquellender‹ Tränen) in doppelter Verwörtlichung entfaltet wird (311–312). Eine verwandte Dynamik charakterisiert die (bilder-)sprachlich vorgezeichnete ›Protometamorphose‹ (Barkan 1986), bei der ein vorgelagerter Vergleich eine spätere (wörtliche) Verwandlung vorbereitet, etwa wenn der sterbende Hyacinthus mit verschiedenen welkenden Blumen verglichen wird (met. 10, 190–195), bevor sein vergossenes Blut selbst in die Hyazinthe verwandelt wird (205–213). In zahlreichen Variationen für verschiedene Tropen und Figuren prägt dieses Hin- und Herschalten zwischen bildhafter und wörtlicher Redeweise das gesamte Werk Ovids, dem so eine ›sylleptische Vorstellungs-

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welt‹ (Tissol 1997, 18–26) zu eigen ist. In der Figur der Syllepse wird dasselbe Wort innerhalb eines Satzes sowohl in seiner wörtlichen (oder einer kontextuell erwartbaren) als auch einer tropischen (oder kontextuell weniger erwartbaren) Bedeutung gebraucht. Aus der Spannung der so offengelegten sprachlichen Ambivalenz wird ein oft mit Überraschung verbundener semantisch-ästhetischer Effekt gewonnen (z. B. exul mentis domusque – »verbannt außer Haus, und Verstand«, met. 9, 409). Dieses sylleptische Spiel mit unvorhersehbaren Umschwüngen und Kopräsenzen von Bedeutungsdimensionen sowie dem Gleiten zwischen Abstrakt-Begrifflichem und Konkret-Materiellem ist konstitutiv für Ovids Bildersprache, Vorstellungswelt und narrative Gestaltungstechnik. Dem Standardsprachgebrauch am nächsten bleibt das Entfalten dieser Poetik in der Form des Wortspiels. In etymologischer oder onomatopoetischer Manier werden hier Herkunft oder phonetische Gestalt von Namen und Ausdrücken ausgeformt, etwa wenn Hippolytos’ Name (hippos, »Pferd«, und lyo, »lösen«) in fast. 3, 265 latinisiert und expliziert wird (»Hier liegt Hippolytos, zerissen von den Zügeln seiner Pferde«) oder die für ihre Geschwätzigkeit in Frösche verwandelten Bauern in met. 6, 376 bereits in der Begründung ihrer Verwandlung dreimal lautmalerisch quaken (quamuis sint sub aqua, sub aqua maledicere temptant – »auch wenn sie unter Wasser sind, sollen sie selbst unter Wasser zu beleidigen versuchen«). Auch metapoetische Effekte werden so erzeugt, z. B. wenn in der Fortbewegung der Aesculapius-Schlange das Vokabular des Entrollens einer Schriftrolle (explicat ... volumina) just an dem Punkt aufgegriffen wird, wo die Schlange bald ihr Ziel in Rom und der Leser das Ende der Metamorphosen erreicht (met. 15, 720– 722; Barchiesi 1994, 257). Eine subversivere Note erwächst aus der dreimal wiederholten Alliteration liber ... licet (»dem Buch ... steht es frei«) in trist. 1, 1, 1–2, 15–16 und 57–58: In pointierter Verkehrung ist hier das Buch (lĭber) frei (līber), während der exilierte Dichter, der als dominus sein Werk wie einen Sklaven nach Rom sendet, selbst unfrei ist (Hinds 1985); allein im geschriebenen Wort vermag er sich dennoch illa pede (»mit diesem Fuß«, 16) dort präsent zu machen. Das längst zum Klischee gewordene metapoetische Wortspiel mit dem (Vers-)Fuß wird hier extensiv narrativ entwickelt und zum Gedicht über ein personifiziertes Buch, das auf Reisen geht, gemacht. ›Buchstäblich‹ wortspielerisch untergräbt sich die scheinbar unzweideutige Feststellung am Beginn der Ars Amatoria, inque meo nullum carmine crimen erit (»und keinerlei

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IV  Ästhetik und Poetologie

Verbrechen wird in meinem Gedicht zu finden sein«; ars 1, 34) – denn dem Wort carmine (»Gedicht«) ist crimen (»Verbrechen«) eben gerade doch, Buchstabe für Buchstabe, eingeschrieben (Sharrock 1994a). Dieselbe Passage illustriert auch, wie Ovid verschiedene metonymische und wörtliche Bedeutungsdimensionen miteinander oszillieren lässt, um hinter dem so als Illusion desavouierten Vordergrund pikantere Vorstellungswelten aufblitzen zu lassen. Die eröffnende Leserrestriktion – »bleibt fern, zarte Binden, Merkmal von Scham, / und du, Falbel, die du lang über die Füße reichst«; ars 1, 31–32) – lässt sich metonymisch als Warnung an ehrbare Matronen verstehen, den folgenden Instruktionen zur Verführungskunst fernzubleiben. Dasselbe metonymische Bild lässt aber auch die alternative Lesart zu, dass, wer hier weiterliest, mit den außen vor bleibenden Insignien weiblicher Sittlichkeit auch gleich die bürgerliche Sexualmoral (und augusteische Gesetzbarkeit) zurücklassen solle. Und nimmt man die Metonymien beim Wort, wird hier wenigstens ein Lockern der Kleiderordnung, wenn nicht gar eine Art Striptease (Holzberg 1997, 120) vollzogen: Ab hier soll es leicht(er) bekleidet zugehen. Das gewagte Spiel mit den Grenzen sozial zulässigen Verhaltens – unterstrichen durch das wortspielerische Oxymoron der concessa furta, »erlaubten Diebstähle/Affären« (1, 33) – geht so einher mit einer Destabilisierung der Zeichen von Anstand und Ehrbarkeit selbst: im polyvalenten Verweis erhalten sie ein gegenständlich-zeichenhaftes Eigenleben, bei dem ihre An- und Abwesenheit nicht mehr zuverlässig mit Normen-Konformität ihrer potentiellen Trägerinnen korreliert. Noch pikanter entspinnt sich eine metonymische Dynamik im Kulminationsmoment von Ovids Porträt des Vesta-Kults in fast. 6, 437–460: In einer Notfallsituation muss Metellus den Tempel der zur jungfräulichen Keuschheit verpflichteten Vestalinnen betreten, der Männern ansonsten verboten ist, nun aber in Flammen steht. Dreh- und Angelpunkt der Episode ist das einleitende Vesta / arsit (»Vesta brennt«, 437–438): einerseits eine Tautologie (Vesta als Göttin des Herdfeuers ›brennt‹ ihrem Wesen und ihrer Kultpraxis nach ohnehin unentwegt; vgl. assiduum lumen, »beständiges Licht«, in 436); andererseits eine Metonymie (verweisend auf den Tempelbau, der in Flammen steht). Parallel kultiviert der Text aber auch – mit Blick auf ein poetisches Klischee – eine erotischere Dimension, bei der die Göttin Vesta metaphorisch von Begehren ›entbrannt‹ ist und, in metonymischer Verlängerung, die Vestalinnen ebenso (Newlands 1995, 136–139). Süffisanterweise wird das ›Eindringen‹ des Metellus, der

seine Männlichkeit gleich doppelt unterstreicht (450), dann auch noch genüsslich in einem durch sexuelle Metaphorik konnotierten Vokabular geschildert (intrare, adire in 450; irrumpere in 453) – gekrönt vom hochgradig ambivalenten abschließenden Urteil: factum dea rapta probavit (»die gerettete/geschändete Göttin [rapta bezeichnet beides] billigte die Tat«, 453; erneut wird die sexuelle Dimension von facere und rapere mitaktiviert). Das zum Ereignis gewordene dichtersprachliche Klischee wird so – in doppeldeutiger und narrativierter Form – zu neuem Leben erweckt. In den Metamorphosen ermöglicht diese Poetik eine Qualifikation des Prinzips universellen Wandels als (Neu-)Realisierung dessen, was ohnehin schon vorhanden war. So folgen die aitiologischen Erzählungen von Arachne (»Spinne«), Daphne (»Lorbeer«) und Cyparissus (»Zypresse«) einer bereits in deren Namen angelegten, unausweichlichen Logik. Die paradigmatische erste Verwandlung des ebenfalls onomastisch vorbelasteten Lycaon (lykos, »Wolf«; met. 1, 232–239) signalisiert die Erweiterung dieses Prinzips: Seine (sprichwörtlich-metaphorisch) ›wölfische‹ Raublust nimmt in seiner (wörtlichen) Wolf-Werdung poetische Gestalt an, so dass er in doppelter Hinsicht als feritatis imago (»Bild der Wildheit«, 239), erkennbar wird. Auch Daphnes Baumverwandlung greift über ihren Namen hinaus geläufige metaphorische Redeweisen, nämlich vom Laub eines Baums als seiner ›Haare‹ und seiner Äste als ›Arme‹ (Rosati 1999, 240– 241), in umgekehrter Richtung und narrativer Realisierung auf (in frondem crines, in ramos bracchia crescent – »ihr Haar wächst zu Laub, ihre Arme zu Zweigen«; met. 1, 450). In der erotischen Dichtung werden besonders metaphorische Redeweisen der Elegiker, vor allem des Properz, auf diese Weise in Szene gesetzt. In ars 2, 169–250 etwa werden die Bilderwelt der elegischen Topoi des servitium/militium amoris (»Sklaven-/ Kriegsdienst der Liebe«) und die Metaphorik der Jagd aufgegriffen und kleinteilig in den zwischenmenschlichen Kontext (zurück-)übersetzt. Derart beim Wort genommen und szenisch realisiert, wird die Bildersprache und Vorstellungswelt der Elegie, die dort für die anti-spießige Pose stilbildend ist, ironisch gebrochen und in ihren Grenzen und inneren Widersprüchen ausgeleuchtet. So folgert der praeceptor amoris, der sich eingangs noch selbst nach einem tätlichen Übergriff auf die Geliebte zur Ordnung gerufen hatte (proelia cum Parthis, cum culta pax sit amica / et iocus – »Gefechte schicken sich mit Parthern, kultivierter Frieden und Heiterkeit mit der Liebsten«; ars 2, 170–

26  Vorstellungswelten: Illusion, Bildersprache, Gleichnisse

171) nur wenig später nach dem Durchexerzieren zentraler elegischer Motive in der Praxis (233): militiae species amor est – »Liebe ist eine Art Kriegsdienst«. Dieselbe fließende Grenze von poetischem Ausdruck und amourösem Verhalten wird in am. 1, 9 im Bild des Soldaten thematisiert. Auch hier wird in anzüglicher Doppelbödigkeit die bildersprachliche Dynamik zum lebensweltlichen Selbstläufer: Aus der Kombination des Bildes vom Liebhabers-als-Soldat und dem vertrauten Motiv des Paraklausithyron, bei dem der exclusus amator auf der Türschwelle der unzugänglichen Geliebten sein Leid klagt, erwächst zunächst das Bild der erfolgreichen Belagerung einer Stadt (am. 1, 9, 15– 26). Die Parallelisierung von Stadt und Geliebter (19) lädt so die folgende Beschreibung der brutalen ›Einnahme‹ der Stadt mit sexueller Gewalt auf, die mit der Überwältigung des wehrlosen, schlafenden ›Gegners‹ endet – erneut befördert von doppeldeutigem Vokabular mit obszön-sprachlichen Dimensionen, wie invadere, »eindringen« (21), oder der als Äquivalent zum »Tor«, porta, der Stadt präsentierten foris der Geliebten (20), was sowohl ihre »Tür« als auch – derb – ihre »Scheide« bezeichnet. Der Text ist hier gleichzeitig intensiv visuell in seiner militärischen Bildersprache und ausgesprochen direkt im quasi-wörtlichen Ausbuchstabieren ihrer Implikationen. Im Kontrast und Zusammenspiel von Krieg und Liebe ist auf metapoetischer Ebene stets die Gattungsfrage von Epos versus Elegie mitpräsent und auch hier gestaltet Ovid in verwörtlichender Manier Motive der Elegiker narrativ aus. Der recusatio-Topos etwa, in dem sich der von Liebe getriebene Elegiker für sein Unvermögen, ein Epos zu schreiben, entschuldigt, wird zu Erzählungen ausgearbeitet, in denen Cupido bzw. die Geliebte den Dichter ganz handgreiflich vom begonnenen Schreibakt abhalten (am. 1, 1; 2, 1 und 18, 1–12). Solch lebensweltliches Ausgestalten eines etablierten literarischen Klischees (vgl. z. B. Prop. 3, 3) hat paradoxerweise die Folge, dass gerade die Verwörtlichung die Fiktionalität der Szene erhöht und so den narrativ postulierten Anspruch, sich tatsächlich an epischer Dichtung versucht zu haben, eher unterminiert denn stützt.

26.3 Gleichsam unvergleichbar: Gleichnisse als Sprachspektakel und Interpretationskrise Die paradoxale Dialektik sich selbst untergrabenden Verdeutlichens charakterisiert besonders Vergleich und Gleichnis. Oft kommentiert wird Ovids Vorliebe

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für verzerrend inkongruente Verbindungen, bei denen Ernstes und Komisches kollidieren. Wenn in Pyramus’ Selbstmord das hervorschießende Blut mit dem Spritzen einer löchrig gewordenen Wasserleitung verglichen wird (met. 4, 121–124); oder die herausgeschnittene Zunge der vergewaltigten und so sprachlos gemachten Philomela mit einer zuckend verendenden Schlange (met. 6, 555–560); oder der zermalmende Schlag auf den Kopf eines Lapithen mit Prozessen von Käse- und Ölherstellung (met. 12, 431– 438), dann kann die im Gesamtwerk erkennbare Tendenz, besonders gewalttätige Szenen so distanzierter und goutierbarer darzustellen, als verharmlosende Ästhetisierung ethisch fragwürdig erscheinen. Holzbergs (1997, 148) Beschreibung solcher Gleichnisse als »Verzerrung homerischer Kampfszenen ins Groteske« verweist aber darüber hinaus auf ihre Rolle in generischer und intertextueller Positionierung. Das Bienengleichnis in Ovids ›Aeneis‹ in seinen Fasten (fast. 3, 555–556) etwa greift gleich zwei Bienengleichnisse aus Vergils Aeneis auf und rekalibriert sie (Hinds 1987): Einem Bienenstock gleicht bei Vergil, erstens, die koordinierte Arbeit der Karthager unter Didos Führung (Aen. 1, 430–436), bei Ovid – in markierter Umkehrung – das Chaos der sich zerstreuenden Karthager nach Didos Tod und Iarbas’ Invasion; und, zweitens, das Chaos in der Stadt des Latinus kurz vor ihrem Fall (Aen. 12, 587–592) und bei Ovid – in erneuter Seitenverkehrung – in Didos Karthago. Zusätzlich rekurriert Ovid mit wörtlichen Anklängen auf Vergils Georgica (4, 210–414), wo Bienenvölker in ihrer Loyalität als sogar die Völker des Ostens übertreffend beschrieben werden, während sich bei Ovid ein östliches Volk wie ein Bienenvolk ohne Königin verhält. Die anschließenden formelhaften Wendungen für das Vergehen von Zeit (fast. 3, 557–558: Getreideernte und Weinkeltern, je die Themen der ersten beiden Bücher der Georgica) tun dann ein Übriges, um den intertextuellen Bezug zu unterstreichen und – gerade im Kontext von ›Jahren‹ und ›Zeitmessung‹ – die Überführung von Vergils Bienen in Ovids Kalendergedicht zu markieren und zu kommentieren. Auch die Vergleiche des sterbenden Hyacinthus mit verschiedenen Blumen vor seiner eigenen Verwandlung in eine Blume evozieren bekannte Vorbilder aus epischer und erotischer Dichtung (vor allem Hom. Il. 8, 306–308; Sappho 105; Catull. 11, 21–24 und 62, 39– 47; Verg. Aen. 9, 435–437 und 11, 68–71). Ihre Reihung in schneller Folge unterstreicht aber auch den tentativheuristischen Charakter dieser Redeweise. Gerade die bei Ovid häufig vorkommenden Gleichnisketten (vgl.

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IV  Ästhetik und Poetologie

met. 3, 483–494 und v. a. 13, 789–806) verstärken so den Eindruck der verbleibenden interpretativen Lücke, die Vergleichen inhärent bleiben muss (Glinski 2012): Entgegen der wörtlichen Aussage der Einleitungsformeln (z. B. non aliter; »nicht anders«) markiert die vergleichende Konjunktion neben der engführenden Verbindung unweigerlich auch den Approximationscharakter, also die letztlich nicht auflösbare Differenz der Qualitäten, Dynamiken und Identitäten, selbst von den Gleichnissen, die sie tentativ zu bestimmen versuchen. Ausdrucksstarke Bildhaftigkeit – zumal bei der Illustration immaterieller comparanda durch materielle comparata – einerseits und markierte sprachliche und konzeptuelle Inadäquatheit anderseits fallen so in besonders prägnanter Weise zusammen. Die augenfällig gemachten Grenzen bildhaft-vergleichender Rede und die jedem Vergleich an der Scharnierstelle von Un-/Gleichheit eingeschriebene Möglichkeit zur destabilisierenden Lektüre »against the grain« befördert so die Erkundung eines weiteren Kernthemas der Dichtung Ovids: Fluidität und (Ent-) Grenzen von Identität.

26.4 Dichtung und Wahrheit: Vorstellungswelten ohne Netz, aber mit doppeltem Boden Die Erzählungen von Myrrha, Narcissus und Pygmalion verhandeln und problematisieren Gleichnis und Vergleich auf narrativer Ebene. Alle drei loten Grauzone und Gleitmomente ebenjener Scharnierstelle aus. Wenn Myrrha, von inzestuöser Lust getrieben, auf die Frage ihres Vaters, was für einen Mann sie sich wünsche, similem tibi (»einen Dir gleichen«; met. 10, 364) antwortet; wenn ihr Vater das Alter der ihm anonym angebotenen Gespielin erfragt und auf die Antwort par ... est Myrrhae (»sie gleicht Myrrha«; 440) befiehlt, sie zu ihm zubringen; und wenn beide einander im Inzest-Akt schließlich »zufällig« mit »Tochter« und »Vater« anreden (467–468), dann wird so die poröse Grenze zwischen erotischer Phantasie und illegitimer Sexualität entlang der Achse von (Ver-)Gleichungen offengelegt. Im autoerotischen Begehren des Narcissus ist es die Grenze zwischen Kunst und Leben, Repräsentation und Selbst, die im Bild des sich im Wasser spiegelnden und einer Statue gleichenden Jünglings thematisiert wird. Die situative Rahmung des Statuen-Vergleichs (met. 3, 418–419) verunklart eindeutige Korrespondenzen: Ist es die Repräsentation seiner selbst (das

stille Spiegelbild im Wasser), die mit einer anderen Repräsentation (Statue) verglichen wird? Oder ist es der lebendige Narcissus, der im Sprachbild dem Kunststatus einer Statue angenähert wird? Schildert der Vergleich – so oder so verstanden – die erlebte Wahrnehmung des Narcissus (Hardie 2002, 146) oder den externen Blick des Erzählers auf ihn (Glinski 2012: 120)? In diesem Spiegelkabinett begehrlicher Blicke werden Repräsentation und Identität im Nexus des Statuengleichnisses gleich mehrfach gebrochen. Auch die von Hardie (2002, 190) als »aition of illustionist art« beschriebene Pygmalion-Erzählung entfaltet ein Gleichnis als Narrativ: Pygmalions Statue gleicht einer lebendigen Frau so sehr, dass, wie bei Narcissus, die Grenze zwischen Kunst und Leben zerfließt – in der perfekten Illusion wie im Verhalten des in sein Werk verliebten Künstlers (met. 10, 247–269). Wie Myrrha wagt Pygmalion sein Liebesbegehren im Gebet an Venus nur indirekt als Wunsch nach (Ver-) Gleich(-bar-)em zu äußern: similis mea ... eburnae »meiner Elfenbeinstatue gleich« (276). Venus hingegen gewährt seinen eigentlichen Wunsch: Die Grenze zwischen dem Gleichem und dem Selben, zwischen Repräsentation und Realität, kollabiert; das geliebte Kunstwerk wird zur leibhaftigen Geliebten. Ovids elegischer Geliebten Corinna kommt als in »womanufacture« zum Leben erwachter scripta puella ein vergleichbarer Status zu (Sharrock 1994b). Sie ist mit Haut (in toto corpore nusquam menda fuit, »am ganzen Körper ohne jeden Makel«; am. 5, 18) und Haaren (erant tenues ... qualia ... pede quod gracili deducit aranea filum – »sie waren delikat ... so wie ... der Faden, den mit grazilem Fuß die Spinne webt«; am. 14, 5–7) ein literarisches Geschöpf, ihre Beschreibung stets mit dem poetologischen Vokabular neoterischer Dichtung durchdrungen. Als Objekt intensivsten Begehrens und dichterischer Hingabe changiert sie beständig zwischen bedichteter Person, erdichteter Person und personifizierter Dichtung. In überbietender Auseinandersetzung mit Properz wird das Spiel mit dieser metapoetischen Reflexionsfläche immer weiter getrieben: Wo Properz sein erstes Elegienbuch mit dem Namen seiner Geliebten und dem konkreten Eindruck einer weiblichen Gestalt beginnt, beginnt Ovid seine Amores mit einer Schreibszene; wo Properz mit metapoetischen Tropen der scripta puella spielt, lässt Ovid in am. 3, 1 die personifizierte Frau Elegia auftreten, die in Aussehen und Verhalten der Geliebten der ersten beiden Bücher frappierend gleicht (vgl. Wyke 1989). Diesem hohen Grad an Literarizität entspricht, dass Corinna in am. 1, 7 in einer

26  Vorstellungswelten: Illusion, Bildersprache, Gleichnisse

Gleichniskette in rascher Folge mit literarischen Frauengestalten – Atalanta (13–14; vgl. Prop. 1), Ariadne (15–16, vgl. Catull. 64) und Cassandra (17–18, vgl. Verg. Aen. 2) – sowie mit parischem Marmor (52; Rohmaterial noch zu schaffender Skulpturen) und Naturphänomenen (54–56) verglichen wird: Diese scripta puella, so scheint es, ist geradezu ein Gleichnis. Oder doch nicht? So erfolgreich ist Ovids rühmende Liebesdichtung, dass sich eine Römerin damit schmückt, die echte Corinna zu sein (am. 2, 17, 27– 29) – was den Leser herausfordert sich vorzustellen, hinter der Poesie stehe in der Tat eine wirkliche Geliebte. Eine solche ›Echtheit‹ Corinnas scheint auch die in am. 3, 12 geäußerte Frustration des Dichters zu verbürgen, er müsse sich die durch seine Dichtkunst erst berühmt Gewordene nun mit anderen Liebhabern teilen (5–10). Die Lösung dieses Problems, nämlich Ovids Aufruf, seine dichterischen Ausschmückungen nicht für bare Münze zu nehmen (41– 44), gelingt aber ironischerweise nur dann, wenn der Leser ihm eben doch (wenigstens) glaubt, Corinna sei nicht selbst das Produkt dichterischer Phantasie. Das wiederholte Insistieren auf die Fiktionalität der Dichtung erzeugt dabei oft eine Komplizenschaft zwischen Dichter und Leser in der Vorstellungswelt der Dichtung, etwa in der graduellen Aufforderung an Töchter und Väter, der Geschichte von Myrrhas Inzest fernzubleiben; oder sie zu genießen, aber nicht zu glauben; oder sie zu glauben, aber sich auch des bösen Endes bewusst zu sein (met. 10, 299–303; vgl. auch die bekundete Fiktionalität der Liebesdichtung in trist. 2, 353–358, im direkten Kontrast zur Versicherung der Lehre aus eigener Erfahrung in ars 1, 29). Das Erodieren der Grenze von faktualem und fiktionalem Erzählen wird so von dieser Dichtung aktiv kultiviert. In der Spannung zwischen Ovids Aufforderung in trist. 1, 1, 117–120, mit dem Schicksalswandel seiner Verbannung ins Exil sei sein Leben selbst den Metamorphosen zuzurechnen, und der Feststellung in trist. 2, 63–64, jenes »größere Werk« erzähle Verwandlungsgeschichten, die »nicht zu glauben« seien, geht Ovid gleichsam selbst in dieser sich rekursiv verselbständigenden, hypertrophen Vorstellungswelt auf. Den so textuell inszenierten Zustand eines »il n’y a pas de hors-texte« (»ein Text-Äußeres gibt es nicht«) schreiben postmoderne Autoren wie Malouf (An Ima-

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ginary Life, 1978) und Ransmayr (Die letzte Welt, 1988) fort, deren Ovid-Romane in Auseinandersetzung mit dessen Leben und Werk aufs Neue ambivalente Schwebezustände zwischen Fakt und Fiktion sowie die Eigendynamik (bilder-)sprachlichen Ausdrucks erkunden. Literatur

Barchiesi, Alessandro: Il poeta e il principe. Ovidio e il discorso augusteo. Rome 1994. Barkan, Leonard: The Gods Made Flesh. Metamorphosis and the Pursuit of Paganism. New Haven 1986. Glinksi, Marie Louise von: Simile and Identity in Ovid’s ›Metamorphoses‹. Cambridge 2012. Hardie, Philip: Ovid’s Poetics of Illusion. Cambridge 2002. Hinds, Stephen: Booking the Return Trip: Ovid and ›Tristia‹ 1. In: Proceedings of the Cambridge Philological Society 31 (1985), 13–32. Hinds, Stephen: Generalizing about Ovid. In: Ramus 16 (1987), 4–31. Holzberg, Niklas: Ovid. Dichter und Werk. München 1997. Kaufhold, Shelley D.: Ovid’s Tereus: Fire, Birds, and the Reification of Figurative Language. In: Classical Philology 92.1 (1997), 66–71. Kenney, Edward J.: The Style of the ›Metamorphoses‹. In: James W. Binns (Hrsg.) Ovid. London 1973, 116–153. Newlands, Carole E.: Playing with Time: Ovid and the ›Fasti‹. Ithaca 1995. Pianezzola, Emilio: La metamorfosi ovidiana come metafora narrative. In: Daniela Goldin (Hrsg.): Retorica e poetica. Atti del III convegno italo-tedesco, Bressanone (1975). Padua 1979, 77–91. Rosati, Gianpiero: Narciso e Pigmalione. Illusione e spettaculo nelle Metamorfosi di Ovidio. Florenz 1983. Rosati, Gianpiero: Form in Motion: Weaving the Text in the Metamorphoses. In: Philip Hardie/Allesandro Barchiesi/ Stephen Hinds (Hrsg.): Ovidian Transformations. Cambridge 1999, 240–253. Schmidt, Ernst A.: Ovids poetische Menschenwelt. Die ›Metamorphosen‹ als Metapher und Symphonie. Heidelberg 1991. Sharrock, Alison R.: Ovid and the Politics of Reading. In: Materiali e discussioni per l’analisi dei testi classici 33 (1994a), 247–273. Sharrock, Alison R.: Womanufacture. In: Journal of Roman Studies 81 (1994b), 36–49. Tissol, Garth: The Face of Nature: Wit, Narrative, and Cosmic Origins in Ovid’s Metamorphoses. Princeton 1997. Wyke, Maria: Reading Female Flesh: ›Amores‹ 3.1. In: Averil Cameron (Hrsg.): History as Text. London 1989, 111–143.

Sebastian Matzner

V Themen und Konzepte

27 Mensch und Welt 27.1 Grenzen des Menschlichen So vielgestaltig wie Ovids Werke sind auch die darin entworfenen Welt- und Menschenbilder. Daher lohnt es sich, zunächst den Rahmen der Begriffe ›Mensch‹ und ›Welt‹ abzustecken: Zum Bereich des Menschlichen gehören bei Ovid nicht nur die Personen, die die Stadt Rom, das römische Reich und andere Länder bevölkern, sondern in gewisser Weise auch Götter. Diese werden in Ovids Metamorphosen anthropomorph gezeichnet, sie gleichen den ›normalen‹ Menschen in Verhaltens- und Ausdrucksweisen, sie werden von denselben Gefühlen überwältigt, sie unterstehen teilweise sogar den gleichen Gesetzen wie die Menschen (vgl. Solodow 1988, 92–94). Die Trennlinie wird durch die Sterblichkeit gezogen, der allein die Menschen zum Opfer fallen – die Götter dagegen nicht. Doch selbst diese Grenze ist eine durchlässige, wie u. a. die Apotheose Caesars (met. 15, 745–870) zeigt. Nach seinem Tod steigt er in den Rang eines Gottes auf und überwindet damit den Status als Mensch, ohne dass dadurch das ›Mensch-Sein‹, seine Rolle in der ›zurückliegenden‹ Geschichte, angetastet würde (s. Kap. 28). Des Weiteren werden bei Ovid Tiere und die unbelebte Natur in ungewöhnlich starkem Maße personifiziert (vgl. Solodow 1988, 96–97). Auch hier ist der Übergang zwischen den Gestalten in den Metamorphosen ein fließender, denn sowohl Menschen als auch ›Übernatürliches‹ (etwa Nymphen) können in andere, belebte oder unbelebte Wesen verwandelt werden; sie nehmen die Form eines bestimmten Tieres (Actaeon/Hirsch, met. 3, 138–252), eines Baumes (Daphne/Lorbeer, met. 1, 452–567) oder von Gestein an (Niobe/Marmor, met. 6, 146–312). Trotz ihrer Veränderung behalten sie oftmals Emotionen wie Angst und Trauer oder ihr Bewusstsein, ihre ratio bei (s. Kap. 33); ebendiese Eigenschaften sind es jedoch, die den Menschen von anderen Gattungen unterscheidbar machen. Insofern die Wesen, welche die Welt der Metamorphosen bevölkern, anthropomorph gestaltet sind, können also ihre dezidiert menschlichen Züge im Hinblick auf die Ausgestaltung des Menschenbildes analysiert werden (vgl. Schmidt 1991, 22; 58–62). Die Frage aber, welche Merkmale

›göttlich‹, ›menschlich‹ oder ›tierisch‹ sind und welche Auswirkungen die Zuteilung zu einer dieser Kategorien hat, muss, damit die Antwort sinnstiftend sein kann, kontextgebunden gestellt werden. In den Metamorphosen werden etwa 250 Einzelgeschichten erzählt, welche durch verschiedene Erzähltechniken zu einer fortlaufenden Geschichte verbunden werden, deren jeweiliger Fokus aber doch auf dem Schicksal einer bestimmten Person (oder Personengruppe) liegt (vgl. Schmidt 1991, 17–19). Unter anderem dieser Episodenhaftigkeit, die auch in anderen Werken Ovids zutage tritt, ist es geschuldet, dass kaum von ›dem einen Menschenbild‹ gesprochen werden kann. Vielmehr werden Einzelpersonen gezeigt, deren Attribute bestimmten Typen entsprechen können (vgl. von Albrecht 2000, 277–279; 290–295). Im Zusammenspiel mit der psychologischen Ausgestaltung dieser Figuren, ihren inneren Monologen, ihren Emotionen ergeben sich so unverwechselbare, plastische Charaktere. In der Gesamtschau fallen daneben auch Konflikte auf, die mehrfach verhandelt werden, wie etwa die durch Hybris verursachten. Die Auseinandersetzung darüber, welches Verhalten den Menschen zusteht, lässt sich am Wettbewerb zwischen der Göttin Minerva und der Menschenfrau Arachne (met. 6, 1–145) erkennen: Beide weben einen Teppich, auf dem die Taten der Götter präsentiert werden. Während Minerva die gravitas der Götter darstellt und damit deren (und ihre eigene) hervorragende Bedeutung betont, fokussiert das Bild Arachnes die caelestia crimina (met. 6, 131), die »göttlichen Verbrechen«. Letztlich muss die Menschentochter, obwohl ihre Webkunst tadellos ist, sowohl für ihre Anmaßung, Minerva herausgefordert zu haben, als auch für ihre ›falsche‹ Meinung büßen – sie wird in eine Spinne verwandelt. Das Verhältnis von Minerva und Arachne ist dabei eines der Über- bzw. Ohnmacht: Die Göttin verfügt über mehr Machtmittel als der Mensch, weshalb sie ihre Weltsicht gegenüber der Kontrahentin durchsetzen kann. Von einer ›weltlichen‹ Herrscherin unterscheidet sich Minerva (die von Ovid als dea [met. 6, 32] bezeichnet wird) hier aber nur durch die Art ihrer Gewalt – die Fähigkeit etwas oder jemanden (auch sich selbst) zu verwandeln. Da die Göttin menschliche Züge trägt, Neid und Zorn gegenüber Arachnes Schaffen, kann die Konfrontati-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_27

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V  Themen und Konzepte

on der beiden in dieser Deutung auch als Versuch der Aushandlung von Klassenunterschieden gelesen werden. Die beiden Weberzeugnisse zeigen so zwei Perspektiven auf die Handlungen anthropomorpher Wesen und deren Auswirkung auf die Weltordnung (vgl. von Albrecht 2016, 96–98; Oliensis 2004, 291–293). Die aitiologische Erzählung von Arachne zeigt das Schicksal einer Einzelperson, da ihr an den Moment gebundenes Handeln, das ›Verbrechen gegen die Göttlichkeit‹ und ihre Strafe, nicht verallgemeinert werden. Wohl aber wird der zugrundeliegende Konflikt zwischen Arachne und Minerva, die sich als Patronin der Webkünste von Arachne düpiert fühlt, auch an anderer Stelle thematisiert (vgl. etwa im Fortgang des sechsten Buches in der Erzählung von Niobe [met. 6, 146–312] und der der lycischen Bauern [met. 6, 313–318]). Durch die Iteration der Hybris-Thematik werden die Sichtweisen vervielfacht und zugleich die Konsequenzen hochmütiger Haltung gegenüber übermächtigen Wesen offenbar; das Exemplarische ergibt sich aus Wiederholung und Verkettung (vgl. Schmidt 1991, 16).

27.2 Dimensionen des Weltbegriffs Auch im Hinblick auf ›die Welt‹ bedarf es einer Eingrenzung: In den Metamorphosen umfasst dies zum einen die ›Welt des Mythos‹, die sich räumlich vor allem über Griechenland und Kleinasien erstreckt (s. Kap. 34). Diesen Boden betreten mythische Gestalten, deren jeweilige Geschichte von Ovid neu bearbeitet und zu einem Gesamtkunstwerk gefügt wird. Zum anderen hat das carmen perpetuum den Anspruch ad mea [...] tempora (met. 1, 4), an die Lebenszeit des Dichters heranzureichen. Mit der Erzählung von Aeneas (met. 13, 623–14, 608), die in dessen Apotheose gipfelt, rückt Ovid auf das Gebiet der römischen Gründungssagen vor, in dem auch Romulus seinen Platz findet (met. 14, 772–851). Über in Italien und speziell Latium verortete Mythhistorie gelangen wir zu Caesar und Augustus (met. 15, 745–870), deren Vergöttlichungen geschildert bzw. im Falle Augustus’ als zukünftig vorgestellt werden; sie bilden (als letzte Episode vor dem Epilog) nicht nur den Abschluss der auf Rom fokussierten Erzählung, sondern auch der gesamten Metamorphosen. Rom selbst ist bis auf wenige Ausnahmen auch beinahe selbstverständliche Basis von Ovids erotischer Dichtung (s. Kap. 41), insbesondere der Amores und der Ars amatoria. Es ist die Stadt des (hoffnungsvol-

len) Liebhabers, der sich in ihr mehr oder weniger gekonnt bewegt, denn dort finden sich passende Orte und gute Gelegenheiten, um (die) Geliebte zu treffen (ars 1, 67–228; vgl. Volk 2010, 95–100). Die aitiologisch-didaktische Dichtung der Fasti nimmt sich mit den Festtagen des Kalenders der institutionalisierten Historie an. Damit wird eine Grundkonstante der Welt berührt: die Zeit, und zwar nach römischer Vorstellung und Einteilung (s. Kap. 39). Der ovidische Kosmos konfiguriert sich als eine nicht nur geographisch, sondern auch gedanklich um Rom zentrierte Welt, in deren Mittelpunkt die ewige Stadt mit ihren kulturellen und politischen Errungenschaften als Leitstern funkelt. Dass Rom nicht nur kulturelles, sondern auch politisches Machtzentrum ist (vgl. Sharrock 2006, 241), wird rückwirkend auch aus den im Exil entstandenen Gedichten deutlich. Aus seiner Wahlheimat Rom wird Ovid ans Schwarze Meer, nach Tomis (heute Constanța), verbannt; damit ist seine Lebenswirklichkeit fundamental durch eine politische Entscheidung geprägt, die er dichterisch verarbeitet. Die Gegebenheiten an der Schwarzmeerküste werden in der Schilderung Ovids zur ›Fremde‹ stilisiert: Er ist von Menschen umgeben, die unzivilisiert sind, die nicht einmal seine Sprache sprechen – dem elegischen Ich zufolge sind sie kaum mehr der Bezeichnung ›menschlich‹ würdig (vix sunt homines hoc nomine digni, trist. 5, 7, 45). Aber nicht nur die Kultur, sondern auch die Umgebung in Tomis ist für Ovid ungewohnt; Klima und Natur sind seiner Darstellung nach wesentlich rauer als in Rom. Diese Dichotomie zwischen den Städten wird durch das schmerzhafte, sehnsuchtsvolle Erinnern an Rom noch verstärkt (trist. 1, 3; Pont. 1, 8); durch die Beteuerung, dass seine Dichtung in der ›Fremde‹ schlechter würde, wirft Ovid weiterhin die Frage auf, inwiefern sein künstlerischer Schaffensprozess und Dasein als Künstler mit einem speziellen Ort verknüpft ist (trist. 3, 14, 25–52). In den als ›realistisch‹ gekennzeichneten, stellenweise autobiographisch gestalteten Gedichten erhält der momentane und vergangene Aufenthaltsort große Aufmerksamkeit, denn er ist teils Inspiration, teils Thema der Dichtung (trist. 3, 1).

27.3 Die Stadt als Kulisse menschlichen Lebens An Beispielen aus der elegischen Dichtung zeigt sich auch, dass Orte durch die dort anwesenden Menschen bedeutungsvoll werden: In der Liebeskunst spielen

27  Mensch und Welt

zwar die Bauten Roms (z. B. Tempel, Forum, Theater) als Arena der militia amoris eine wichtige Rolle, aber nur, weil gilt: quot caelum stellas, tot habet tua Roma puellas (»so viele Sterne der Himmel – so viel zählt Roma der Mädchen«, ars 1, 59). Die Formel, dass Rom alles (quicquid) hat, was je auf Erden existierte (vgl. ars 1, 56), ist auf die schiere Anzahl der puellae bezogen, die in einem Katalog von bevorzugten Altersstufen – sehr jung, jung, etwas älter – aufgezählt werden. In der Verallgemeinerung werden sie jedoch zum elementaren Gehalt nicht nur der Stadt, sondern der ganzen Welt (orbis). Als didaktisches Gedicht richtet sich die Ars amatoria im dritten Buch dezidiert an diejenigen (Wahl-)Römerinnen und (im ersten und zweiten Buch) ihre potentiellen Liebhaber, die mit ›zivilisiertem‹ Verhalten bereits bestens bekannt sind (ars 3, 195–196; vgl. Volk 2010, 96–97). Kulturelle Praktiken wie der Besuch einer Theateraufführung werden nicht als neu zu lernende Handlung vorgestellt, sondern im Kontext der Liebeswerbung mit einem bestimmten Ziel verbunden und damit umgedeutet (vgl. Tornau 2007, 271). Die urbanitas Roms, die Ovid an Tomis so sehr zu vermissen scheint, ist damit auch ein Sehnen nach vertrautem menschlichem Umgang. Dies zeigt sich ebenfalls im Abschied von Rom in trist. 1, 3: Eindringlich wird die Trauer im Haushalt Ovids gezeigt, wo sich seine Frau, Freunde und Sklaven versammelt haben. Das Haus in Rom ist Bühne der als Totenfeier inszenierten Trennung (forma [...] funeris, 1, 3, 22), die drei Mal wiederholt wird, weil sich das elegische Ich nur äußerst schwer von seiner familia lösen kann (1, 3, 55). Nicht eine von nostalgischer Erinnerung gefärbte Stadt, sondern die sie bevölkernden Menschen, die in ihrem anhaltenden Leiden gezeigt werden, stehen im Fokus der Erzählung (vgl. Volk 2010, 99). Die gebaute Stadt wird dabei aber trotzdem immer wieder zum Anlass für Auseinandersetzungen mit dem Menschen. Ovid vergleicht die Trauerszenen in seinem Haus mit seiner Vorstellung vom Anblick Trojas nach der Eroberung durch die Griechen (haec facies Troiae, cum caperetur, erat: »dies war das Antlitz Trojas, nachdem es erobert worden war«, 1, 3, 26). Die hyperbolische Synekdoche greift auf mythhistorisches Wissen zurück und erweitert dadurch den Horizont: Räumlich und zeitlich werden die Grenzen Roms überschritten, zugleich wird das Leid einer Familie mit der Verheerung einer ganzen Stadt gleichgesetzt. Troja steht dabei sinnbildlich zunächst für seine eigenen Bewohner und in der erneuten Übertragung für den Haushalt Ovids. Mit ihren Gefühlen machen die Menschen damit die Essenz des Ortes aus.

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Der Blick auf ein weiteres Stück Architektur, das Kapitol, inspiriert ein Bittgesuch an die »Gottheiten« (numina, 1, 3, 31), die – dem üblichen Gebetsschema folgend – über ihre Kultstätten definiert und sogar selbst als templa angeredet werden (1, 3, 31–33). Es sind die in der Stadt manifestierten römischen Götter, die (den nicht namentlich genannten) Augustus dazu bewegen sollen, die Schuld (culpa), die Ovid auf sich geladen habe, nicht als Verbrechen (scelus) zu sehen. Augustus selbst wird als caelestis vir (»himmlischer/gottgleicher Mann«) und deus bezeichnet. Es ist Besänftigungstaktik Ovids, die Augustus in die Menge ebenjener Götter einschließt, die er um Beistand anfleht; er spricht nicht und spricht doch direkt zu Augustus. In der Verquickung landschaftlicher (kapitolinischer Hügel) und baulicher Gegebenheiten (Tempel), deren Funktion (Kultstätte) und der politischen Verhältnisse (Augustus als gottgleicher Herrscher) wird die Stadt Rom integraler Bestandteil der Dichtung; als Stellvertreterin zeigt sie ihr ›menschliches‹ Gesicht.

27.4 Die Ordnung der Welt Nicht nur bei seinem Abschied von Rom setzt sich Ovid mit der Macht des Augustus auseinander: In den Fasten zieht der Dichter einen Vergleich zwischen Romulus und Augustus, der den Kaiser als klar überlegen zeigt. Auch der durch Augustus in Form von Gesetzen, etwa die lex Iulia de adulteriis, geschaffene Lebensraum wird darin thematisiert: tu rapis, hic castas duce se iubet esse maritas / [...] vis tibi grata fit, florent sub Caesare leges (»Du [Romulus] raubst die Frauen; er gibt ihnen Weisung, unter seiner Regierung als keusche Gattinnen zu leben / [...] Gewalt war dir willkommen: Gesetze gelten unter Caesars Herrschaft«, fast. 2, 139; 141). In der Gegenüberstellung zwischen Augustus und Romulus wird ein Konflikt deutlich, der auch in den Metamorphosen verhandelt wird: Indem der Kaiser Gesetze erlässt, kreiert er einen neuen Raum, den der Legalität. Damit wird er vom dominus, der zum Erreichen seiner Ziele Gewalt anwendet, zum princeps, durch dessen Wirken die Welt ›ordentlich‹ wird. Als ein Prinzip der Welt wird das ›Ordnung-Schaffen‹ zu Beginn der Fasti, im Dialog zwischen elegischem Ich und dem Gott Ianus, eingeführt: Chaos sei er früher genannt worden, erläutert Ianus und schildert daraufhin nicht nur die Entstehung der Welt, sondern auch die seines eigenen Körpers (fast. 1, 63–144). Ein »einziger Haufen« (unus acervus, fast. 1, 106) seien die Elemente Luft, Feuer, Wasser und Erde gewe-

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V  Themen und Konzepte

sen, bis sie sich im Zwist (lis) getrennt und in separate Zonen aufgeteilt hätten. Seine eigene Gestaltwerdung leitet Ianus mit tunc (fast. 1, 111) ein, sie scheint also während oder nach der großen Trennung der Elemente einzusetzen, wobei die Beschreibung auch auf die Erde selbst zutreffen könnte: Bevor er »Gestalt und Glieder an[nahm], die einer Gottheit würdig waren«, sei er eine Kugel gewesen, eine »Masse ohne Form« (fast. 1, 111–112). Entstehung und Ordnung der (bekannten) Welt fallen damit ebenso ineins wie die Festigung der äußeren Erscheinung sowohl der Erde als auch des Ianus. Für dessen Epitheton biformis (»zweigestaltig/doppelhäuptig«, fast. 1, 89) wird zum einen der Ursprung aus der Formlosigkeit angegeben, die sich in seiner Dopplung widerspiegle, zum anderen wird auf die Etymologie Ianus von ianua (»Tür«) hingewiesen, mit der Begründung, dass der Tür die Zweiheit in ihren Funktionen Ein- und Ausgang inhärent sei (fast. 1, 125–126; 133–144; s. Kap. 15 und Teil C). Aus diesem letztgenannten Grund leiten sich auch Ianus’ Aufgaben ab: Als Pförtner bewacht er die Himmelstür und hat damit Macht sogar über Jupiter, dessen Kommen und Gehen allein er beschränken kann. Doch erstreckt sich seine Autorität nicht nur auf die Himmelspforte, sondern auf alle Bereiche, die in der Welt voneinander verschieden und damit geschieden sind; all diese Kontaktpunkte unterliegen seiner Herrschaft: quidquid ubique vides, caelum, mare, nubila, terras / omnia sunt nostra clausa patentque manu (»Was du alles ringsum wahrnimmst, Himmel, Wasser, Meer, Wolken und Länder, alles wird von meiner Hand verschlossen und geöffnet«, fast. 1, 115–116). Ebenso wie für ›elementare‹, materielle Grenzen ist er auch für Krieg und Frieden zuständig, also menschliche Verhaltensweisen, die hier personifiziert durch die Tür ein- und ausgelassen werden können (fast. 1, 121–124). Damit entscheidet Ianus als Wachtmeister über Freiheit und Gefangenschaft; er schafft Ordnung, indem er die Erlaubnis erteilt, eine Grenze zu übertreten, eine Tür zu durchschreiten. Im weiteren Verlauf der aitiologisch-didaktischen Erzählung geht Ovid auch auf die Kultstätte des Ianus Geminus in Rom ein (fast. 1, 277–288): Die Öffnung des Ianustempels in Kriegszeiten sieht nun die Menschen als Akteure der Aufgabe vor, die der Gott zuvor als die seine reklamiert hatte. Sie entscheiden eigenständig über Krieg und Frieden und setzen sich damit als Vertreter des Gottes ein, wobei das Bauwerk selbst – als Tür Ein- und Ausgang, biformis – steingewordener Ianus ist. Zwar hat er noch die gleiche Funktion, doch führt er den Akt nicht mehr selbst durch. Die ar-

chitektonische Gestalt der Stadt spiegelt damit nicht nur den Kult und die Gottesverehrung wider, sondern kann auch politische Gegebenheiten wie Krieg und Frieden abbilden. Als Erbauer und Benutzer des Tempels nehmen die Menschen (mit Hilfe und Erlaubnis der Götter) teil am Ordnungs- und Organisationsprozess der Welt.

27.5 Kosmogonie mit Menschenschöpfung Das Phänomen der Re-Organisation wird als eine treibende poetologische Kraft der Metamorphosen gesehen und findet dort seinen Ursprung in den Antipoden concordia und discordia (vgl. Schmitzer 1990, 37–39; s. Teil C). Zu Beginn der von Ovid erzählten Verwandlungssagen steht denn auch die Weltschöpfung (met. 1, 5–88), die mit dem Menschen beschlossen wird (s. Kap. 84). Das Chaos, in dem die Elemente schon vorhanden sind, aber vermischt miteinander kämpfen, ordnen ein deus und die melior natura. Zu einer Kugel geformt erhält die Erde fünf Klimazonen, in denen die Elemente Erde, Wasser und Luft je nach Temperatur lebensfeindlich oder bewohnbar sind; ihren Bedürfnissen entsprechend bevölkern Lebewesen den vom mundi fabricator (met. 1, 57) geschaffenen Raum. Als sanctius his animal (»ein heiligeres Wesen als diese [Tiere]«) entsteht der Mensch entweder aus dem Samen des deus sowie der natura oder aus dem des Himmels und wird durch Prometheus’ Eingriff ein Abbild der Götter: Der Mensch hat im Gegensatz zu den Tieren den Blick nach oben gewandt. Mit der Schöpfung des Menschen ist die Kosmogonie abgeschlossen: »So nahm die Erde, die eben noch roh und gestaltlos gewesen war, verwandelt die bisher unbekannten menschlichen Formen an« (met. 1, 87–88: sic, modo quae fuerat rudis et sine imagine, tellus / induit ignotas hominum conversa figuras). Die Deutungen, die sich aus dieser ersten Erzählung der Metamorphosen ergeben haben, sind mannigfach: Grundlegend wird nach dem metamorphotischen Gehalt der Passage gefragt, was auf der Formulierung der ›gestaltlosen‹ Erde beruht. Lediglich die Verwandlung einer bestimmten Form in eine andere bestimmte Form sei als Metamorphose zu fassen, weshalb der Übergang einer ›formlosen‹ Masse nicht darunterfallen könne. Den Auftakt der Metamorphosen würde damit keine ›echte‹ Verwandlung im ovidischen Sinne machen, was Ernst A. Schmidt in seine Deutung des Epos als ›Gedicht über den Menschen‹

27  Mensch und Welt

einbezieht (vgl. Schmidt 1991, 12–16). In Auseinandersetzung mit den Thesen von Ernst Zinn wendet er sich damit gegen die Ansicht, das Thema der Metamorphosen seien Verwandlungen (vgl. ebd., 37; 56). Das Problem an Zinns Argumentation, die das Epos als »Universalhistorie in naturphilosophischer Deutung« (ebd., 38) sehe, sei deren Rückgriff auf die Pythagorasrede (met. 15, 60–478). Damit werde eine Passage im gleichen Gedicht zur philosophischen Interpretation einer anderen benutzt, was unzulässig sei. Schmidt wendet sich auch gegen eine ›chronologische‹ Lesart des Epos: Die Vier Zeitalter (met. 1, 89– 150) beschreiben den Übergang von der aurea aetas (»goldenes Geschlecht«) über die argentea proles (»silbernes Geschlecht«) und aenea proles (»ehernes Geschlecht«) bis zum ›eisernen Geschlecht‹ (de duro ferro); außerdem entstehen noch Menschen aus dem vergossenen Blut der Giganten (met. 1, 151–162). Da mit den eisernen Menschen aber omne nefas (»jegliches Unrecht«) in die Welt gekommen ist, beschließt Jupiter die Menschen zu vernichten. Die von ihm geschickte große Sintflut lässt allein Deucalion und Pyrrha überleben (met. 1, 253–415); nachdem sich das Wasser zurückgezogen hat, wirft das Paar auf Geheiß der Göttin Steine hinter sich, aus denen Männer (von Deucalion geworfen) und Frauen (von Pyrrha geworfen) entstehen. In der Argumentation Schmidts sind all diese Abschnitte als Entwürfe verschiedener Charaktertypen des Menschen zu verstehen, die Ovid nicht chronologisch, sondern als nebeneinander existent gesehen habe (vgl. Schmidt 1991, 15–16; 20–24). Einen anderen Zugang zum Weltbild der Metamorphosen bietet das Konzept der von Varro beschriebenen theologia tripertita (»dreigeteilte Theologie«; vgl. von Albrecht 2016, 92–96). Die theologia fabulosa umfasst dabei die Unterteilung der Welt in drei Bereiche: Himmel, Erde und Wasser sowie Unterwelt, die der göttlichen Trias des Mythos – Jupiter, Neptun und Pluto – als Zuständigkeitsbereiche zugeordnet werden. Den Raum des Staatskultes bildet die theologia civilis ab, die Augustus als Weltherrscher sieht. Als dritte steht die theologia rationalis oder naturalis für die philosophisch-wissenschaftliche Ausdeutung der Welt. Alle drei Theologien existieren, so argumentiert von Albrecht, in den Metamorphosen nebeneinander: In der Kosmogonie ließe sich das rational-erklärende Konzept u. a. an der Beschreibung der physikalischen Elemente sowie der philosophisch geprägten monotheistischen Vorstellung eines Schöpfergottes festmachen. Omnipräsent sei die Dreiteilung der Herrschaftsbereiche der Götter; dieses Weltbild und das des

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Kultes würden im 15. Buch sogar kombiniert, indem Augustus mit Jupiter gleichgesetzt und als sein Gegenstück auf Erden inszeniert werde (vgl. von Albrecht 2016, 94–95). Die Fluidität der Gattungen ›Mensch‹ und ›Gott‹ wird durch diesen Vergleich ersichtlich, denn Augustus muss bereits als Mensch Attribute haben, die Göttern (hier speziell Jupiter) zugeschrieben werden. Diese berechtigen ihn, über den Status ›gottgleich‹ hinauszuwachsen und schließlich nach der Apotheose ein eigener, selbstständiger Gott zu sein.

27.6 Mensch und Moral Interessant am ovidischen Kosmos ist eine gewisse moralische Unschärfe, die man in den menschlichen Schöpfungsmythen zu Beginn der Metamorphosen erkennen kann (s. Kap. 84): So wird die mehrfache Menschenschöpfung erst dadurch notwendig, dass die existierende ›Iteration‹ des menschlichen Geschlechts den moralischen Ansprüchen der Götter nicht genügt – dabei sind die römischen Götter den Menschen gerade in ihrer eigenen moralischen Unvollkommenheit ähnlich: Ein Menschenvolk, sei es nun aus der Erde, von Halbgöttern oder von den letzten Menschen selbst kreiert, kann sich moralisch nicht über die betrügenden, eifersüchtigen, ehebrechenden und rachsüchtigen Götter erheben, nach deren Ebenbild es geschaffen wurde. Die Welt der Menschen und der Götter existiert im Spannungsfeld einer moralischen Unzulänglichkeit, deren Ubiquität bis heute fasziniert und (im Falle der Götter vielleicht auch) befremdet. Auch die letzte Iteration des Menschengeschlechtes, erschaffen von Deucalion und Pyrrha, scheint keineswegs bedeutend besser zu sein als die vorhergehenden Schöpfungsversuche – nach wie vor sehen Götter sich dazu veranlasst, Metamorphosen auch als Bestrafung für Verbrechen der Menschen aneinander oder für Hybris gegenüber den Göttern zu verhängen. Trotzdem erscheint es nicht notwendig, die Menschheit erneut auszulöschen und einen weiteren Versuch zu starten – Ovid sieht sich und seine Zeitgenossen als Nachfahren des ›harten Geschlechts‹ (inde genus durum sumus, met. 1, 414), das von Deucalion und Pyrrha abstammt –, und das Spannungsverhältnis der moralischen Erwartungen bleibt unaufgelöst: Auf der einen Seite kann menschliches Fehlverhalten durch Metamorphosen geahndet werden, wodurch ein bestimmter moralischer Standard propagiert wird; auf der anderen Seite wird dieser moralische Standard im Allgemeinen nicht ein-

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V  Themen und Konzepte

mal von den Göttern eingehalten. Dadurch ist die moralische Vorbildfunktion nicht an die Sphäre des Göttlichen gebunden, sondern ermöglicht einerseits die herausragende Stellung von Menschen mit einem vorbildlichen Lebenswandel als exempla einer ansonsten nicht reifizierten Moralität, andererseits die literarische Figur von Helden wie Odysseus oder Achilles, deren Handeln nicht über jeden moralischen Zweifel erhaben ist und deren Taten sie dennoch in die Nähe der unsterblichen Götter rücken.

27.7 Schöpfung und Metamorphose Die mehrfache Menschenschöpfung in den Metamorphosen verweist einerseits auf den Status des Menschen als zentrales Beobachtungsobjekt der ovidischen Dichtung, andererseits rückt es auch den sich wiederholenden Prozess in seinen vielgestaltigen Ausprägungen in den Vordergrund. In Ovids Kosmos fungiert der Akt der Schöpfung als Scharnierstelle zwischen dem Dichter und dem Rest der Welt: sie verbindet die physische Welt mit der Sphäre der Politik und der Religion sowie mit der Dichtung selbst. Augustus’ politische Neuordnung, die ihn als zweiten Gründer Roms ausweist, wird im Schöpfungsbericht der Metamorphosen durch die göttliche Erschaffung und Ordnung der Welt und die politischen bzw. zivilisatorischen Entwicklungsschritte im Verlauf der vier Zeitalter dichterisch reflektiert; der Kaiser rückt damit in die Nähe der Schöpfergötter und wird so von Ovid ante litteram vergöttlicht. Doch auch die natürliche Erde ist mit dem Prinzip der Schöpfung auf das Engste verbunden, spielt sie doch in fast jeder der von Ovid erzählten Mensch-Machungen eine zentrale Rolle: Sie ist nicht nur ›Baumaterial‹ für die neuen Menschen in den Kreationen von Prometheus, Deucalion und Pyrrha, sondern formt im Zusammenspiel mit Beigaben wie Titanenblut (met. 1, 157–160) oder dem ›Samen des Himmels‹ (tellus [...] retinebat semina caeli, met. 1, 80–81) die Menschen ohne äußeren Antrieb – sie ist sogar in der Lage, die Welt nach der Sintflut aus sich selbst heraus, nur mithilfe von Nässe und Wärme, neu mit Tieren zu bevölkern (met. 1, 416–434). Dieser schöpferischen Trias aus Kaiser, Göttern und Natur stellt sich nun Ovid an die Seite: Er ist als Dichter nicht nur Schöpfer seiner eigenen Werke, sondern auch der durch seine Werke geschaffenen Welt, in dem die Konstituenten der Trias nurmehr als Figuren auftauchen, die von ihm konfiguriert, verändert und neu gedacht werden können.

In diesem Zusammenhang ist es wichtig, den Unterschied zwischen dem Prozess der Schöpfung und dem der Metamorphose zu verdeutlichen: Der kosmische Schöpfungsakt erscheint zunächst als eine Umwandlung von chaotischer Urmasse in geordnete Welt und damit als ›Sonderform‹ der Metamorphose – es handelt sich nicht um eine Kreation ex nihilo. Doch die Umwandlung von Chaos in Ordnung beinhaltet das Hinzufügen einer Idee, nämlich der von Regeln, Zusammenhängen und Differenzen. In den Metamorphosen wird hingegen keine Idee hinzugefügt; im Gegenteil fokussiert sie meist eine zentrale Eigenschaft, die in der Metamorphose gewissermaßen auf den Rest des Wesens übertragen wird. Dieses Konzept wird von Ovid bereits in einer seiner frühesten Metamorphosen beschrieben, wenn der als wölfisch-blutgierig und grausam dargestellte Lycaon zu einem Wolf wird (met. 1, 177–239): Die Metamorphose, die als Strafe für seinen unmenschlichen, wölfischen Charakter ausgeführt wird, nimmt ihm nicht die Eigenschaften, derentwegen er bestraft wird, sondern passt seinen Körper und sein übriges Verhalten genau diesen Charakterzügen an, so dass Lycaon auf das Prinzip ›Wolf‹ reduziert bzw. konzentriert wird. Wir können die Schöpfung also als Hinzufügen von Ideen und Prinzipien zu einer ungeordneten Urmasse verstehen, die Metamorphose hingegen als Subtraktion von ›überflüssigen‹ Ideen und als materielle Verwirklichung einer zentralen Leitidee.

27.8 Beständigkeit und Veränderung Wenn Ovid die von Göttern und dem princeps gestaltete Welt dem gleichen Prinzip der Veränderlichkeit unterwirft, in das er sein eigenes Werk bewusst einschreibt (vgl. die ›Sphragis‹ am Ende der Metamorphosen, die weiter unten noch angeführt wird), könnte man daraus schließen, dass der Schöpfer-Dichter sich auf eine Stufe mit den Schöpfer-Gottheiten (als alter deus) und dem princeps restaurator stellt oder sogar in Zweifel zieht, wie erfolgreich die jeweiligen SchöpferGestalten nachhaltig Einfluss auf den von ihnen geschaffenen Kosmos nehmen können. Das Verständnis der Metamorphose im Bezug auf die Frage der Beständigkeit und Vergänglichkeit ist jedoch zwiegespalten. Einerseits generieren Metamorphosen prima facie einen Zustand der Unbeständigkeit: Eine fortlaufende Veränderung einzelner Elemente des Kosmos muss dem Aufbau von konservativen, unveränderlichen Staats- und Gesellschaftsstrukturen zuwiderlaufen, da

27  Mensch und Welt

deren statischer Charakter dem metamorphotischen Grundprinzip des Kosmos nicht gerecht werden kann. Andererseits kann man eine Metamorphose auch als Paradigma ewigen Fortbestehens lesen, da an die Stelle der Auslöschung, des Sterbens und Vergehens der Prozess der Umwandlung gesetzt wird, in dem sich eine Lebensform in einem neuen Erscheinungsbild perpetuiert. Am Ende der Metamorphosen nutzt Ovid die Idee der Unsterblichkeit durch Veränderung, um den Geist seines corpus (met. 15, 873) in das Corpus seines Werkes zu übertragen und sich selbst dadurch in der Lektüre der Nachwelt unsterblich zu machen. Die Aufhebung der Zeitlichkeit verhandelt Ovid in den Metamorphosen auch, indem er die Geschichte der Welt bzw. des römischen Reiches in Form einer latenten Ringkomposition darstellt: Augustus’ politische Neuordnung des Staates, die zeitgenössisch zu Ovids Leben stattfindet, wird dichterisch in der initialen Schöpfung der Welt verarbeitet. Dadurch stellt er der linearen historischen Zeit (primaque ab origine mundi / ad mea [...] tempora, met. 1, 3–4) seine zirkuläre, wenn nicht sogar amorphe Dichterzeit entgegen und hebt so die Gesetzmäßigkeiten von Vergänglichkeit und Verfall auf (s. Kap. 33 und 39).

27.9 Die Rolle des Dichters Die Idee einer sich ewig perpetuierenden Geschichte spielt einerseits der augusteischen Politik der Beständigkeit in die Hände, andererseits fordert sie die Position des Dichters in diesem Kosmos heraus: Wie viel Macht hat ein Dichter, der die von Augustus durch Gesetze und Gesellschaftsmoral mühsam konstruierte Beständigkeit fast spielerisch als dichterisches Grundprinzip manifestieren (oder durch eine weitere Metamorphose in Frage stellen) kann? Wie viel Macht hat ein Dichter, der die von Gottheit und Natur geformte Menschheit in einem einzigen Gedicht wiederholt auslöschen und neu erschaffen kann, der die Eindeutigkeit des Menschen als ›heiligstes Geschöpf‹ (sanctius his animal, met. 1, 76) durch das dichterische Durchspielen der Schöpfungsmythen und -möglichkeiten in

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multilineare Wirklichkeiten transformieren kann? Wie viel Macht hat ein Dichter, der die Trennlinie von Sterben und Vergänglichkeit, die zwischen Göttern und Menschen existiert, mit ein paar Strichen seines Griffels auslöschen und sich und seinem Werk den Status der Unsterblichkeit zuschreiben kann, indem er seine Existenz aus der linear verzeitlichten, historisch-politischen Realität heraushebt und in den Kosmos der Dichtung einbettet, in dem Zeit und Raum lediglich Spielbälle poetischer Imagination sind? Literatur

Albrecht, Michael von: Das Buch der Verwandlungen. OvidInterpretationen, Düsseldorf/Zürich 2000. Albrecht, Michael von: Welten und Weltbilder in Ovids ›Metamorphosen‹. In: Forum Classicum 59/2 (2016), 92–102. Fränkel, Hermann: Ovid. A Poet between two Worlds. Berkeley/Los Angeles 21956. Oliensis, Ellen: The Power of Image-Makers: Representation and Revenge in Ovids ›Metamorphoses‹ 6 and ›Tristia‹ 4. In: CA 23/2 (2004), 285–321. Ovidius Naso, P.: ›Die Fasten‹. Hrsg., übers. und komm. von Franz Bömer. Bde. I–II. Heidelberg 1957. Ovidius Naso, P.: ›Metamorphosen‹. Kommentar von Franz Bömer. Buch I–III. Heidelberg 1969. Ovidius Naso, P.: ›Tristia‹, Hrsg., übers. und erklärt von Georg Luck. Bd. II. Kommentar. Heidelberg 1977. Schmidt, Ernst A.: Ovids poetische Menschenwelt: Die ›Metamorphosen‹ als Metapher und Symphonie. Vorgetragen am 3. Juni 1989. Heidelberg 1991. Schmitzer, Ulrich: Zeitgeschichte in Ovids ›Metamorphosen‹. Stuttgart 1990. Sharrock, Alison R.: Ovid and the Politics of Reading. In: Peter E. Knox (Hrsg.): Oxford Readings in Classical Studies. Ovid. Oxford/New York 2006, 238–261. Solodow, Joseph B.: The World of Ovid’s ›Metamorphoses‹. Chapel Hill 1988. Tornau, Christian: Die ›Liebeskunst‹ in den ›Tristia‹. In: Markus Janka/Ulrich Schmitzer/Helmut Seng (Hrsg.): Ovid. Werk – Kultur – Wirkung. Darmstadt 2007, 257– 282. Volk, Katharina: Ovid. Malden, Mass./Oxford/Chichester 2010. Zinn, Ernst: Die Dichter des alten Rom und die Anfänge des Weltgedichts. In: A&A 5 (1956), 7–26.

Johanna Schubert / Vera Engels

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V  Themen und Konzepte

28 Götter In Ovids gesamtem Œuvre sind Götter Ursprung und Ziel, Subjekt wie Objekt poetischer Kreativität. Denn »auch die Götter werden geschaffen durch Gedichte, wenn das erlaubt ist zu sagen« (di quoque carminibus, si fas est dicere, fiunt; Pont. 4, 8, 55); und Zugang zu ihnen haben, glaubt man dem vates der Fasti, ganz besonders die Dichter (fast. 6, 5–8): est deus in nobis, agitante calescimus illo;     impetus hic sacrae semina mentis habet: fas mihi praecipue voltus vidisse deorum,     vel quia sum vates, vel quia sacra cano. (»In uns wohnt ein Gott, und wenn er sich regt, dann erglühn wir; / Dieser Drang trägt den Keim göttlichen Geistes in sich! / Mir ist’s besonders vergönnt, das Antlitz der Götter zu schauen, / Sei’s, weil ich Dichter bin, sei’s, weil ich von Heiligem sing‹.«)

Die Götter in diesen Texten sind die Protagonisten auch, aber nicht nur des antiken Epos: das olympische Pantheon Homers und besonders die handlungsleitende Trias aus Jupiter, Juno und Venus, zu denen u. a. – um nur die wichtigsten bei Ovid zu nennen – noch Apoll, Diana, Mars, Bacchus und Minerva treten. Gerade im Panopticum der Metamorphosen begegnen sie uns in mannigfaltigen Konstellationen; stets werden sie dabei von ihrem Verhältnis zum Menschen her perspektiviert (vgl. Barkan 1986, 37–55; Feeney 1991, 188–249). Auch die genuin italischen, primär ländlichen Gottheiten finden ihren Platz (Fantham 1992 und 2009, 97–132), besonders in den Fasti; dem Begleiter der Liebesgöttin, dem Amor oder Cupido der allerersten Liebeselegie Amores 1, 1, gebührt ein besonderer Rang. Die Götter sind Ovid Inspiration, aber auch Vorlage für das Handeln der elegischen Figuren und das Lehren in Sachen Liebe; sie sind Stoff allzu menschlich anmutender Episoden, selbst Erzähler und Anwälte in eigener Sache sowie nicht zuletzt Informationsquellen in der Erforschung römischer Altertümer (zu Ovids Göttern, s. auch Kap. 34, 58 und 84).

28.1 Das Spiel mit den göttlichen Zuständigkeitsbereichen Ovids Werk beginnt mit der göttlichen Inanspruchnahme einer Zuständigkeit, als Szene einer gattungspoetologischen, also über die Genrezugehörigkeit des

Textes verhandelnden Inspiration, die ihm wie unter Zwang gegeben wird: Amor/Cupido raubt dem Dichter einen Versfuß und macht sich seine Dichtung damit formal zu eigen, prägt ihr von Anfang an seine Zuständigkeit ein (s. Kap. 24). Das elegische Ich antwortet darauf in der Rechtssprache und verweist auf Ordnung und Macht in der Verteilung der göttlichen Aufgaben (am. 1, 1, 5–8; 13–14): Quis tibi, saeve puer, dedit hoc in carmina iuris?     Pieridum vates, non tua turba sumus. quid, si praeripiat flavae Venus arma Minervae,     ventilet accensas flava Minerva faces? [...] sunt tibi magna, puer, nimiumque potentia regna;     cur opus adfectas, ambitiose, novum? (»Wer, wilder Knabe, gab dir dieses Recht auf die Gedichte? Dichterseher der Musen, nicht Teil deiner Schar bin ich. Was wenn Venus die Waffen der blonden Minerva sich wegriss, wenn die blonde Minerva entzündete Fackeln schwänge? [...] Du besitzt ein großes und allzu mächtiges Reich, Knabe; warum, Ehrgeiziger, trachtest du nach einem neuen Werk?«)

Seine Dichtung und er selbst gehörten den (epischen) Musen, nicht dem wahnwitzigen Knaben. Die göttlichen Zuständigkeitsbereiche seien im Grunde klar definiert – jeder Gott habe seine Attribute, jede Göttin ihre Schirmherrschaft, und man könne ihnen diese nicht entreißen wie einem Autor sein Metrum. Was Cupido, die personifizierte Begierde, sich anmaße, sei ein Umsturz dieser Ordnung, die ihm freilich am Ende durch den Abschuss seiner Pfeile gelingt (V. 23–26) und schon mit dem ersten Distichon gelungen ist. In diesem Eingangsgedicht findet damit seinen Ausdruck, was wohl die Grundfigur des ovidischen Denkens ist: die Setzung von Ordnungen und Grenzen, nur um deren Überschreitung und Brechung vorzubereiten. Und dies nicht nur in der formalästhetischen, poetisch-reflektierten, sondern auch in der religiös-ikonographischen, göttlichen Sphäre. Eine der ersten mythologischen Verwandlungssagen in den Metamorphosen, die Transformation der jungen Nymphe Daphne in ihr eponymes Gewächs, den Lorbeer (griech. daphnê), wird ebenfalls initiiert von der saeva Cupidinis ira (der »wilde[n] Wut des Cupido«, met. 1, 453). Ihre Verwandlung ist ein letzter Ausweg auf der Flucht vor Apoll, der analog zum Dichter aus Amores 1, 1 dem Amor zum Opfer gefallen ist und sich, getroffen von dessen goldener Pfeil-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_28

28 Götter

spitze, wie ein elegisch Leidender unglücklich in die Nymphe verliebt hat (vgl. Gärtner 2007). Ein Streitgespräch um göttliche Aufgabenbereiche geht dieser Verwandlungserzählung voraus: ›quid‹ que ›tibi, lascive puer, cum fortibus armis? / [...] tu face nescio quos esto contentus amores / inritare tua, nec laudes adsere nostras! (»Wollüstiger Knabe, was soll bei dir die wackere Waffe? / [...] Dir sei genug, mit der Fackel zu entfachen, ich weiß nicht was für / Liebesflammen, und strebe nicht nach mir eigenem Ruhm!«, 1, 456; 461– 462). Infolge dieser arroganten Äußerungen wird Apoll seinerseits zum Opfer einer ›Assertion‹ (so in Vers 462, nec laudes adsere nostras), also einer Behauptung und Anmutung von Zuständigkeit durch den Liebesknaben. Dieser straft den großsprecherischen Duktus des episch kampfstarken, mit seinen Pfeilen pestbringenden Gottes Lügen – die Verse 459– 460 greifen Ereignisse aus Hesiods Theogonie und Homers Ilias auf –, insofern auch er der Liebe nachgehen, dem Objekt seiner Liebe auch im Wortsinne ›nachgehen‹ muss. Die Götter erscheinen an solchen Stellen einerseits als Vehikel für die raffinierte Durchsetzung der bekannten Sagenstoffe mit poetologischer Reflexion; gleichzeitig aber schafft dieses Spiel auch eine Weiterung ihrer Erzählbarkeit, ihrer Diskursfähigkeit. Besonders evident wird dies in der Bestimmung einer literarisch perspektivierten römischen Religion, im Festkalender der Fasti. Auch in diesem Text stehen die Amtsbereiche der Götter immer wieder zur Debatte, werden vergrößert und beschränkt und immer wieder neu geordnet.

28.2 Mars elegiacus im dritten Buch der Fasti Im Kalendergedicht Ovids sind die Götter selbst Informanten über ihnen eigene Kulte und Feste (ganze 15 mal, wenn man die Interventionen der Musen dazu zählt; vgl. Miller 1983): Neben Janus, Mars, Venus und Juno treten auch etwa die Blumengöttin Flora oder der alte Flussgott Tiber auf. Diese aus Kallimachos’ Aitia übernommene Technik erlaubt es, das vermittelte Wissen in gleichsam eigensinnig-persönlicher Färbung zu präsentieren, da jeder Gott und jede Göttin eine subjektiv perspektivierte Darstellung der Altertümer einbringt: Den Göttern der Fasti eignet stets eine gesteigerte Autorität, insofern ihnen die Erklärung der Feste und des Kalenders zuerkannt wird. Das bewirkt häufig eine literarische Modifizierung der antiquarischen und literarischen Traditionen. Außerdem

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geben einzelne Götter ganzen Gedichtbüchern ihr Thema, da sie eng mit dem jeweiligen Monat assoziiert werden: Wenigstens in der ovidischen Präsentation ist dies der Fall für den Gott Janus (s. Kap. 15 zu seiner Bedeutung für den gesamten Text) in Verbindung mit dem Januar, für Mars und ›seinen‹ Monat März sowie für Venus/Aphrodite und ›ihren‹ April. Merkurs Mutter Maia spielt eine Rolle am Beginn des Mai-Buchs, Juno hält eine lange Rede zu Beginn ihres Monats, dem Stoff des sechsten Buches. Die Zuständigkeitsbereiche der Götter im Kult, etwa als Schutzgötter der Ernte und des Viehs, wirken sich auch auf ihre zeitlich ausgedehnte Präsenz im Jahresverlauf aus, was wiederum vielfach Gegenstand kreativer Behandlung durch den Dichter ist. Das Spiel mit den göttlichen Aufgabenbereichen wird zu Anfang von Buch 3 weiter getrieben, wenn Mars als der Schirmherr des Monats angerufen wird und der Kalenderforscher ihn auffordert, seine Waffen abzulegen und sich der Göttin Minerva ähnlicher zu verhalten (1–6): Bellice, depositis clipeo paulisper et hasta,     Mars, ades et nitidas casside solve comas. forsitan ipse roges quid sit cum Marte poetae:     a te qui canitur nomina mensis habet. ipse vides manibus peragi fera bella Minervae:     num minus ingenuis artibus illa vacat? (»Kriegsgott Mars, komm herbei und lege ab für ein Weilchen / Lanze und Schild, und den Helm nimm von dem glänzenden Haar! / Selber fragst du vielleicht, was mit Mars denn der Dichter zu tun hat. / Du hast dem Monat, der jetzt dran ist, den Namen verliehn! / Eigenhändig – du siehst’s ja – führt wilde Kriege Minerva: / Hat für die Künste nun sie deswegen weniger Zeit?«)

Mars wird in diesem Buchproöm als Kriegsgott geschmälert, nämlich von einer Seite der generischen Oppositionen der Fasti, den epischen Waffen, gleichsam hinübergezogen zur Seite der Kultur, für die Minerva stehe. Diese jedoch ist ihrerseits auch selbst Waffenträgerin (5–6) und kann damit als naheliegendes Vorbild für einen weniger waffenstarken Mars fungieren (s. Hinds 1992; Barchiesi 1997, 63). Im Hintergrund steht einerseits die Poetik eines Werkes, das sich als augusteisches Kulturbuch versteht und ›Zeit für Kultur‹ einfordert: Vers 6 ruft dieses »Zeit Haben« auf, hier explizit für die »schönen Künste« (ingenuis artibus ... vacat). Zudem wird im dritten Buch am 15. März, dem Fest der Anna Perenna, eine aitiologische Ge-

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V  Themen und Konzepte

schichte über den Kriegsgott erzählt, um den Brauch der obszönen Sprüche und Witze an diesem Tag zur erklären: Die alte Anna habe Mars einen Streich gespielt, der sie, verliebt in eben jene Minerva, als Kupplerin für ein nächtliches Stelldichein um Hilfe gebeten habe. So stellt er sich als elegisch Liebender in den Versen 681–682 vor: ›armifer armiferae correptus amore Minervae / uror, et hoc longo tempore volnus alo‹ (»ich brenne, als Waffenträger hinweggerafft in der Liebe zur waffentragenden Minerva, und nähre diese Wunde seit langer Zeit«). Anna selbst sei daraufhin in Verkleidung zu dem Treffen erschienen, um die Küsse des Mars zu empfangen, was dem Gott Scham und Spott gerade von Minerva und Venus eingetragen habe (691–694). Andererseits zeigt sich die kultische Konkurrenz zwischen Mars und Minerva im März, die in den Fasti auf elegische Weise gelöst wird und vermutlich erst Inspiration zur komischen Episode um den verliebten Mars gab, religions- und kalendergeschichtlich auch am Fest der Quinquatrus (maiores): Das Fest vom 19.– 23. März, das in Fasti 3, 809–48 zur Behandlung kommt und dort ausschließlich der Minerva und ihren Schützlingen, den Handwerkern und Künstlern, gilt, könnte ursprünglich ein Kriegsfest für Mars gewesen sein (was umstritten ist: für die antiken Deutungen s. Degrassi 1963, 173; zu einem dagegen ausschließlich kriegerischen Mars Ultor im sechsten Buch vgl. Riedl 1989).

28.3 Alma dea: Religiöser Synkretismus in Fasti 4 Das vierte Buchproöm der Fasti (4, 1–18) führt die nächste programmatische, straff inszenierte Konversation mit einer Gottheit vor (s. Barchiesi 1997, 53–60; Fantham 1998, Komm. zu 4, 1–18; Pasco-Pranger 2006, 126–133). Der April ist für den aitiologischen Sprecher des Textes der Monat der Venus, einer alma mater (»sanfte, nährende Mutter«), wie er sie im ersten Vers nennt. Gleich den Vorreden der Bücher zuvor enthält auch diese wieder eine (gattungs-)poetologische Reflexion; es gibt auch hier ein kurzes Innehalten, um über göttliche Zuständigkeit und eine passende poetische Sujet-Wahl nachzudenken, also die Kohärenz im Gesamtwerk zu verhandeln (4, 3–6): ›quid tibi‹ ait ›mecum? certe maiora canebas.     num vetus in molli pectore volnus habes?‹ ›scis, dea‹, respondi ›de volnere.‹ risit, et aether     protinus ex illa parte serenus erat.

(»›Was‹, sprach sie, ›führt dich zu mir? Bis jetzt hast du Größres gesungen! / Ist denn dein weiches Herz doch noch vom Liebespfeil wund?‹ / ›Göttin‹, erwiderte ich, ›du weißt um die Wunde!‹ Sie lachte: / Dort, wo sie grade stand, klarte der Himmel gleich auf.«)

Die »alte Wunde in der weichen Brust« bezeichnet metonymisch, mit dem Vokabular der Gattung selbst, die Elegie und ihre Inhalte – wie zugleich auch den Prozess des Schreibens solcher Dichtung, die eine solche Wunde hervorbringt. Venus und diese Wunde sind Sujets der Elegie, von denen sich laut der Göttin die ersten drei Bücher der Fasti mit ihren historisch-mythologischen Forschungen entfernt haben. Nach der Versicherung des poeta, seiner »Wunde«, also dem Thema der Elegie, und damit auch ihr treu zu bleiben, lacht die Göttin erfreut, wodurch der ganze Himmel aufhellt. Dies ist eine Wiederaufnahme des Werkproöms von Lukrez’ De rerum natura, in dem Venus als Stammmutter der Römer und als personifizierte voluptas – das Prinzip der Lust und der Kreation aller Natur – angerufen wird, die für Frieden und Eintracht sorge (s. dazu etwa Pasco-Pranger 2006, 130–143; Walter 2014). Im Verlauf des vierten Buchs der Fasti wird sodann eine Art poetischer Synkretismus geschaffen, also eine Form der Synthese von religiösen Vorstellungen, indem mehrere ländliche Gottheiten unter der Schirmherrschaft der Venus zu friedens- und kulturstiftenden Fruchtbarkeitsgöttinnen erkoren werden. In diesem Buch werden vor allem die Feste weiblicher ländlicher Gottheiten besprochen (s. Kötzle 1991; Fantham 1992 zu den ländlichen Gottheiten in den Fasti, bes. in Buch 4). Dennoch ist Venus als Gattin des Mars ebenso wie ihr Monat eng mit diesem männlichen, weiblichen Gegenpol verbunden, wie auch zahlreiche epische Themen und Motive das Buch säumen: So ist etwa Ceres’ Suche nach ihrer Tochter Proserpina auf der ganzen Welt (455–590) ein episches Thema. Dieses dialektische Verhältnis wird auch durch besagtes erstes Wort des Buches, nämlich alma (geminorum mater amorum; »nährende, milde Mutter der Amor-Zwillinge«, 4, 1), markiert, das mit den vielfach aufgerufenen arma des dritten Buches ebenso kontrastiert wie – als initiales Wort – mit dem Einstieg der Amores (1, 1 arma gravi numero, »Waffen mit schwerer Silbenanzahl«) und dessen Vorbild, dem Beginn der Aeneis Vergils (1, 1 arma virumque cano, »Waffen und Mann besinge ich«): alma unterschiedet sich nur durch einen Konsonanten von den epischen arma, steht aber am entgegengesetzten Ende des Bedeutungsspektrums im Hinblick auf Krieg und Frieden. Das Attri-

28 Götter

but stammt ebenfalls aus Lukrez’ Proöm (1–2 alma Venus) und wird im vierten Buch der Fasti noch für einige weitere ländliche Göttinnen verwendet. Angesichts der Tatsache, dass es historisch im April keinen römischen Venus-Kult gab (vgl. Schilling 1954 zur Religionsgeschichte der Göttin), sondern Fruchtbarkeit und Frieden durch Agrikultur im Vordergrund der Feste standen, ist diese synkretistische Tendenz, Venus mit den agrikulturellen Göttinnen auf eine Linie zu bringen, als Mittel zur Herstellung einer literarischen Kohärenz innerhalb des vierten Buchs sowie zur Erweiterung der Bedeutung einer literarischen Schlüsselfigur der Elegie zu betrachten. All diese almae matres im Verbund – nämlich Ceres, Robigo (eine Göttin zur Abwendung des Getreidebrandes, Pales (die Göttin der Hirten) und Venus – verbürgen eine genuin römische Kultur der Landwirtschaft und des Friedens (s. Pasco-Pranger 2006, 126).

28.4 Der göttliche Blick zurück Eine originelle Vermischung und ein weiterer Synkretismus zweier kultischer Figuren gelingt im sechsten Buch der Fasti, wo die Nymphe Carna/Cranae, eine Beschützerin neugeborener Kinder, über die recht geringe lautliche Ähnlichkeit ihres Namens mit cardo, der Türangel, »pseudoetymologisch assoziiert« wird mit einer Göttin der Türangel, Cardea (so Smutek 2015, 91 mit Fauth 1978, 131; zur Episode s. auch McDonough 1997; Fantham 2009, 77). Allerdings ist dieser Name nicht früher als bei Augustinus in De civitate dei 4, 8 belegt; man kann aus diesem Grund durchaus vermuten, dass eine solche ›Göttin‹ erst sekundär als numen der Türangel in den römischen Götterreigen aufgenommen wurde. Der Abwehrzauber gegen kinderschädigende Vogeldämonen, der volkstümlich Carna und ihrem Hagedornzweig zugeschrieben wurde, fungiert dabei als verbindendes Glied in Ovids kreativer Gestaltung. Der 1. Juni, Fest der Carnaria, sei der Tag dieser Göttin (fast. 6, 101–102): prima dies tibi, Carna, datur. dea cardinis haec est: / numine clausa aperit, claudit aperta suo (»Dein ist der erste Tag, Carna, der Türangel Göttin! / Offnes verschließt ihre Kraft, öffnet Verschlossenes auch.«). In den Fasti steht dieser Hinweis am 1. Juni analog zu Beschreibungen am 1. Januar, der in Ovids Kalender dem Janus als dem Gott aller Anfänge sowie der Türen und Tore gehört. Janus benennt in Vers 1, 120 sein Universalrecht über die Türangel (vertendi cardinis, »über das Drehen des Türriegels«) und geht dann zu den Angeln

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des Janustempels über, die nach dem berühmten Brauch, die Tore des Tempels nur in Friedenszeiten zu schließen, den Krieg eingesperrt halten (123–124). Die beiden Götter bilden also einen Rahmen vom ersten bis zum sechsten Buchanfang, dem erhaltenen Werk und ersten Halbjahr, das vermutlich als erste Werkhälfte geplant war. Diese strukturellen Überlegungen geben einen Hinweis darauf, aus welchem Grund die Vermischung der Carna mit einer ›Cardea‹ an dieser Stelle stehen könnte: Der Bezug der Nymphe bzw. Göttin zu dem programmatischen Gott der Fasti wird über die Thematik der Tür hergestellt, die in einer aitiologischen, von Ovid frei erfundenen Verserzählung illustriert wird (vgl. Littlewood 2006, Komm. zu fast. 6, 36–37). In dieser Episode ist Janus nicht mehr der kosmische, zwischen Himmel und Erde waltende Gott des ersten Buchs, der die Macht über alle Anfänge innehat und damit auch über den des römischen Jahres. Vielmehr ist er ein elegisch-komischer Verführer, der Carna durch seine Fähigkeit als Gott der zwei Gesichter, der zugleich nach vorne und hinten blicken kann, bei der Durchführung ihrer eigenen List düpiert: Die Nymphe lässt ihre zahlreichen aufdringlichen Verehrer gewöhnlich unter dem Vorwand eigener Scham in eine Höhle vorausgehen, wo es weniger hell sei und man sich im Verborgenen treffen könne. Stets versteckt sie sich jedoch – hinterrücks – draußen vor der Höhle, was der gutgläubige Freier nicht sehen kann. Janus freilich fällt nicht auf diesen Trick herein und nutzt seinen Sieg sogleich aus; als Gegenleistung erhält Carna besagte Macht über die Türangel sowie den Hagedornzweig (die sog. spina alba), der für Abwehrzauber verwendet wird (6, 127–130): ›ius pro concubitu nostro tibi cardinis esto:     hoc pretium positae virginitatis habe. sic fatus spinam, qua tristes pellere posset     a foribus noxas (haec erat alba) dedit.‹ (»›Über die Türangel sollst, weil du mit mir schliefst, du gebieten! / Nimm für die Jungfernschaft dies, weil du an mich sie verlorst!‹ / Als er’s gesagt hatte, schenkte er ihr den Weißdorn, damit sie / Von den Türen damit abwehre böses Geschick.«)

Dies ist im Text die Scharnierstelle, der Dreh- und Angelpunkt der Verknüpfung verschiedener kultisch-religiöser Vorstellungen: Der Türgott habe seine Macht auf die Nymphe übertragen und ihr mit dem Zweig obendrein apotropäische, also abwehrende Fähigkei-

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V  Themen und Konzepte

ten zum Schutz der Schwelle gegeben (s. Schilling 2013, Komm. zu 6, 154 [Anm. 45, 168]). In der bis zu Vers 166 folgenden Ritualbeschreibung zur Abwehr kinderschädigender Vögel wird deutlich, wie das Element des Zurückblickens der Freier in die Geschichte Einzug gefunden haben könnte: Beim Ritus dürfen die Anwesenden nicht nach hinten über die Schwelle schauen (164). Auf die Passage folgt noch eine mythologische Episode aus der Vorzeit Roms, die die Institution der Carnaria aitiologisch aus Carnas Rettung des Albanischen Prinzen Proca vor solchen Vögeln, den striges, folgend erklärt. Die Bereiche und Elemente – Mythos, poetische Erfindung, Kult und römische Frühgeschichte –, die Ovid originell-kunstvoll verknüpft, bereichern so gerade auch das antike Denken der Götterwelt. Literatur

Barchiesi, Alessandro: The Poet and the Prince. Ovid and Augustan Discourse. Princeton 1997. Barkan, Leonard: The Gods Made Flesh. Metamorphosis and the Pursuit of Paganism. New Haven/London 1986. Degrassi, Attilio: Inscriptiones Italiae, 13.2. Fasti anni Numani et Iuliani, accedunt ferialia, menologia rustica, parapegmata. Rom 1963. Fantham, Elaine: Ceres, Liber and Flora. Georgic and antiGeorgic Elements in Ovid’s ›Fasti‹. In: PCPhS 38, 1992, 39–56. Fantham, Elaine: Ovid. Fasti Book 4. Cambridge 1998.

Fantham, Elaine: Latin Poets and Italian Gods. Toronto 2009. Fauth, Wolfgang: Römische Religion im Spiegel der »Fasti« des Ovid. In: ANRW II, 16, 1 (1978), 104–186. Feeney, Denis: The Gods in Epic: Poets and Critics of the Classical Tradition. Oxford 1991. Gärtner, Thomas: Apoll als elegischer Liebhaber. In: Philologus 151/2 (2007), 244–255. Hinds, Stephen: Arma in Ovid’s ›Fasti‹ Part 1: Genre and Mannerism. In: Arethusa 25/1 (1992), 81–112. Kötzle, Martina: Weibliche Gottheiten in Ovids »Fasten«, Frankfurt a. M. 1991. Littlewood, R. Joy: A Commentary on Ovid’s ›Fasti‹, Book 6. Oxford 2006. McDonough, Christopher M., Carna, Proca and the Strix on the Kalends of June. In: TAPhA 127 (1997), 315–344. Miller, John F.: Ovid’s Divine Interlocutors in the ›Fasti‹. In: Charles Deroux (Hrsg.): Studies in Latin Literature and Roman History III. Brüssel 1983, 156–192. Pasco-Pranger, Molly: Founding the Year: Ovid’s ›Fasti‹ and the Poetics of the Roman Calendar. Leiden 2006. Riedl, Rita: Mars Ultor in Ovids Fasten. Tübingen 1989. Schilling, Robert: La religion romaine de Vénus depuis les origines jusqu’au temps d’Auguste. Paris 1954. Schilling, Robert: Ovide. Les Fastes. Livres IV–VI. Paris 32013. Smutek, Daniel: idem sacra cano – Komik und Mehrdeutigkeit in Ovids ›Fasti‹. Hamburg 2015. Walter, Anke: Ovids alma Venus, die Mutter der Aitiologie. In: Christiane Reitz/Anke Walter (Hrsg.): Von Ursachen sprechen. Eine aitiologische Spurensuche/Telling Origins. On the Lookout for Aetiology. Hildesheim 2014, 431–459.

Christian Badura

29  Tiere und Pflanzen

29 Tiere und Pflanzen In der griechisch-römischen Tier- und Pflanzenkunde hellenistischer Prägung ging das wissenschaftliche Interesse häufig mit der Gelehrsamkeit, der Vorliebe für das Kuriose und Paradoxographische und der Verskunst eng einher. Von der Tendenz dieser Zeit, unterschiedliche Gattungen zu neuen literarischen Ausdrucksformen zu verschmelzen, blieb also auch die Wissenschaft nicht unberührt. Besonders emblematisch für den intellektuellen Habitus der Gelehrten und Literaten dieser Zeit ist die beeindruckende Bandbreite der kallimacheischen Bibliographie, in der, neben enzyklopädischen Werken über u. a. Geschichte, Geographie und Naturkunde, eine kleinformatige und experimentierfreudige dichterische Produktion zu finden ist. Hier ist auch das Werk des Nikander von Kolophon einzuordnen, der Lehrgedichte naturkundlich-medizinischen Inhaltes verfasste. Dem hellenistischen Geschmack entspricht, dass unter ihnen sowohl Schriften über Realien – u. a. über giftige Tiere (Theriaká) und über tierische, pflanzliche und mineralische Gifte (Alexiphármaka) – als auch eine über Verwandlungen (Heteroioumena) zu finden sind. Gerade von Letzterem soll Ovid, der also auch ganz im Sinne des römischen Hellenismus bei der Auswahl und Ausarbeitung seiner Quellen aus den unterschiedlichsten Schriftstellern und Disziplinen Material ausschöpfte, für seine Metamorphosen inspiriert worden sein. Genauso die Ornithogoneia des Boios, ein hellenistisches Lehrgedicht über Verwandlungen von Menschen in Vögel, soll dem römischen Dichter als wichtige Quelle für sein Epos nicht entgangen sein. Auch wenn heute allgemein anerkannt ist, dass das Werk wohl nicht aus Ovids Feder stammt, darf zudem nicht unbemerkt bleiben, dass Plinius der Ältere in seiner Naturalis historia dem römischen Dichter eine Abhandlung über Fischfang (Halieuticon) zugeschrieben hatte (nat. 32, 11; Hoppe 2003). Sein naturkundliches Interesse soll Ovid aber ganz in sein Werk über Verwandlungen einfließen lassen haben, das, wie auch die Heteroioumena des Nikander und die Ornithogeneia des Boios, aufgrund des Gegenstandes und trotz besonderer Merkmale der Darstellung, auf die im Folgenden näher eingegangen werden soll, klar unter dem Zeichen des Mythos steht. Abgesehen von dem im Corpus der Amores flüchtigen Auftreten des verstorbenen Papageis der Corinna (am. 2, 6) – eine klare Replik auf das berühmte Passergedicht des Catull (Catull. 2) – ist nämlich vor allem die mythische Welt der Ort, an dem der Autor seine Vorstellung der Natur prägte. Denn in diesem lebendi-

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gen und vielfältigen Biotop, das sich dem Leser der Metamorphosen öffnet, verwandeln sich stets Menschen in Tiere und Pflanzen. Um den paradoxalen Charakter dieses Textes richtig zu verstehen, in dem der Dichter die unterschiedlichsten Einflüsse und Stimmen ohne die Möglichkeit einer Synthese kreuzt – man denke nur an Nikander und Lukrez als Intertexte oder an die pythagoreische Rede am Ende des Werkes – muss man sich das Wie des Geschehens genau vornehmen. Denn am Phänomen der Verwandlung selbst vollbringt Ovid die innovativste Leistung seiner Dichtkunst: Die Vermengung von Mythos und Natur, Phantasie und Realismus, als typisches Merkmal der Erzählung erschafft die besondere »unnatürliche« Natur der Metamorphosen (s. Barchiesi 2011, CXVII–CXXIII; bes. zum »magischen Realismus«, CXXIII). Das metamorphotische Prinzip tritt hier als ordnende Kraft in Erscheinung, die das natürliche Universum stets durch eine eigene innere Dynamik auszeichnet. So wird dies in der langen und rätselhaften Rede des Pythagoras zur Erläuterung der Seelenwanderung (Metempsychose) am Ende des Werkes (met. 15, 96–478) beschrieben (252– 258; zur umstrittenen Rolle dieser Rede s. Hardie 2015): Keinem Wesen bleibt die eigene Gestalt (sua species) erhalten; vielmehr schafft die Natur als Erneuerin der Dinge (rerum novatrix) immer wieder aufs Neue aus den einen Gebilden die Anderen. Die Welt, die der Philosoph hier beschreibt, zeichnet sich dadurch aus, dass Gattungsgrenzen überschritten werden: Alles organische Material steht der plastischen Schöpfungskraft der Natur zur Verfügung, die immer neue Konstellationen (figurae) ausbildet. Beispiele dafür benennt der Philosoph aus Naturbeobachtungen heraus (361–390): Der zeitgenössischen Vorstellung entsprechend entstehen aus faulenden Leichen Insekten und aus Knochenmark Schlangen, aus Krebsscheren Skorpione, aus Raupen Schmetterlinge, aus Schlamm Kaulquappen, die dann zu Fröschen werden; das Bärenjunge bekommt erst durch die Mutter seine eigene Gestalt, genauso wie die Bienen ohne Glieder und Flügel geboren werden, die sie erst später annehmen; und auch Vögel werden auf wundersame Art aus Eiern geboren. Das Leben bleibt in diesem Zyklus erhalten, die Form ändert sich fortwährend.

29.1 Metapher und Metamorphose Eine solche Vision natürlicher Verwandlungsprozesse, wie sie in der pythagoreischen Rede zu finden ist, hört sich für den modernen Leser vertraut an; sie

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_29

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V  Themen und Konzepte

scheint indes ungenügend zu sein, was den eigentlichen Gegenstand der ovidischen Dichtung betrifft: Denn ein Ei, das zum Küken wird, ist noch lange kein Mensch, der plötzlich aufhört, ein Mensch zu sein, um sich in ein Tier oder in eine Pflanze zu verwandeln. Dennoch weisen die Arbeit der pythagoreischen natura rerum novatrix einerseits und die des Dichters an seinem mythischen Stoff andererseits eine gewisse strukturelle Gemeinsamkeit auf: Auch die mythische Metamorphose folgt nicht einem beliebigen Prinzip, sondern zeigt eine eigene Ordnung. Sie geschieht nicht als abruptes Wunder, über dessen rätselhafte Natur der Leser nur staunen kann. Sie wird stattdessen in einer biologisch anmutenden Ordnung als Übergang von Ähnlichem ins Ähnliche gestaltet, durch eine Reihe struktureller Zwischenstufen: Die morphologische Ähnlichkeit, die zwischen Wurzeln und menschlichen Füßen und Beinen, zwischen Zweigen und Blättern und menschlichen Armen und Fingern, zwischen Nase und Schnabel, Mund und Schnauze, Fingern und Krallen besteht, wird für den Prozess der Transformation genutzt (Ščeglov 1962). Der Übergang von einer biologischen Gattung in eine andere vollzieht sich dadurch als eine Reihe kleinerer Veränderungen am Körper, die auf den Leser trotz ihrer paradoxen Natur nachvollziehbar wirken (Perutelli 2000). Unter dem anatomischen Blick des Dichters wird jedes menschliche Glied so weit verlängert, verkürzt, gebeugt, verschoben, bis es zum naheliegenden Element einer anderen Spezies (pflanzlich oder tierisch) geworden ist. Der faszinierende Realismus der ovidischen Darstellung beruht auf ebendiesem organisatorischen Ähnlichkeitsprinzip, das die metamorphotische Natur durchdringt. Marina Warner beschreibt dieses Prinzip wie folgt: »Ovid’s picture of natural generation, assuming a universe that’s unceasingly progenitive, multiple, and fluid, organizes the relationships be­ tween creatures according to axioms of metaphorical affinity, poetic resonance, and even a variety of dream pun« (Warner 2003, 5). Eine metaphorische Nähe liegt also dem metamorphotischen Prozess zugrunde, setzt diesen frei (vgl. Pianezzola 1999). Ein berühmtes Beispiel dafür stellt etwa die erste Metamorphose des Werkes, die Geschichte des Lycaon, dar (met. 1, 151– 252): Der Mann, dessen Grausamkeit der des Wolfes gleicht, verwandelt sich schließlich in ebendieses Tier (vgl. Solodow 1988). Solche metaphorischen Bindungen können auf mehreren Ebenen – z. B. der geistigen, wie bei Lycaon, oder der physischen, wie oben beschrieben – bestehen, und sie liefern die Grundlage für Transformationsprozesse: Die Metapher wird zu

Metamorphose (vgl. aber Schmidt 1991). Dabei stellt der Mensch den Ausgangspunkt dar; er ist das Rohmaterial, das der Natur für ihre ständige Re-Organisation zur Verfügung steht (vgl. Zgoll 2004, 36–37). In anderen Worten: Die menschliche Gestalt durchdringt das natürliche Universum der Metamorphosen. So führt die morphologische Nähe des Menschen zu anderen Spezies zu einer Art Assimilation, bei der das anthropomorphe Modell eine zentrale Rolle spielt: In der ovidischen Welt, auch nachdem die Verwandlung abgeschlossen ist, gibt es kein Element der Landschaft – sei es Stein, Baum oder Fluss – und kein Tierwesen, das nicht früher ein Mensch gewesen sein könnte. Das erzeugt die besondere Kulisse jeder einzelnen Episode: Die Menschen bewegen sich in einer natürlichen Welt, die nicht untätig bleibt, sondern tiefgreifend am Geschehen beteiligt ist. Der Mensch der Metamorphosen kann von dieser Landschaft einerseits bedroht und angegriffen werden, andererseits kann auch er sich ihr gegenüber eines Gewaltverbrechens schuldig machen: Jede ruhige Quelle kann ein verstecktes Begehren enthalten (z. B. Salmacis), genauso kann jeder gefällte Baum (z. B. Lotis), jedes verwundete Tier (z. B. Actaeon) die Verletzung eines menschlichen Leibes verbergen (Segal 1969; Hinds 2002).

29.2 Beispielanalyse Für eine solche anthropomorphe Natur ist die Geschichte der Dryope, die von Iole, ihrer Stiefschwester und Zeugin des Geschehens, erzählt wird, geradezu emblematisch (met. 9, 324–393). Ihr Drama spielt sich an den durchlässigen Grenzen zwischen den Gattungen Mensch und Pflanze ab, und für die Entdeckung dieser Instabilität muss sie einen hohen Preis zahlen. Dryope wird als fromme Frau und liebevolle Mutter eines fast einjährigen Kindes dargestellt, das sie fürsorglich in ihren Armen trägt und dabei stillt. So kommt sie mit ihrem Sohn und ihrer Stiefschwester an ein Myrtengebüsch, das in der Nähe eines Sees wächst, um Blumen zu sammeln, die sie zu Girlanden flechten und den Nymphen des Ortes weihen möchte. Nicht ahnend, welche Lebensform die Pflanze verbirgt, pflückt sie für das Kind eine rote Lotusblume: Vor den Augen der Dryope und der Erzählerin fängt aber die abgeschnittene Blume an zu bluten und die Zweige der verstümmelten Pflanze zittern vor Schreck (344–345). Durch die Verwendung des Adjektivs cruentus (»blutig«) für die Tropfen (guttae), die aus der gepflückten Blume herausquellen, wird die Ge-

29  Tiere und Pflanzen

genwart des Menschlichen in der pflanzlichen Hülle auf besonders grausame Art offenbar: vidi guttas e flore cruentas / decidere [...]. Dadurch wird die Doppelbödigkeit der Untat offensichtlich: In Gestalt der Pflanze ist ein menschlicher Leib durch die Abtrennung eines Glieds verletzt worden. Dieser Leib gehörte der Nymphe Lotis, die sich in die Lotuspflanze verwandelt hatte, um sich den sexuellen Übergriffen des Priapus zu entziehen (346–348). Als Vergeltung für die unwissentlich ausgeübte Gewalt wird die Verwandlung der Dryope sofort in Bewegung gesetzt (349–362): Instinktiv versucht Dryope zurückzuweichen, aber ihre Füße verwurzeln im Boden (351 haeserunt radice pedes); von den unteren Extremitäten ihres Körpers, die sie nicht mehr bewegen kann, wächst nun langsam eine biegsame Rinde nach oben, die ihren Unterleib ganz umschließt (353 premit inguina cortex). Die zarte Oberfläche des menschlichen Leibes (Haut) verschwindet nach und nach unter der neuen pflanzlichen Hülle (Rinde), die diese umgibt. Auch die Haare werden durch Blätter ersetzt, womit die typische Metapher coma (Haare)/frondes (Baumkrone) zur physischen Erscheinung radikalisiert wird (vgl. Pianezzola 1999). Als Ausdruck der Verzweiflung und Trauer greift Dryope zu ihren Haaren, um sie sich auszureißen; stattdessen hält sie Blätter in der Hand, die nun ihr Haupt gänzlich bedecken (354–355). Bald ist sie ganz und gar Pflanze; nur ihr Gesicht bleibt eine Weile noch menschlich (367 nil nisi iam faciem, quod non foret arbor, habebat). Durch das Phänomen der Tränen kommt diese hybride Körperlichkeit besonders zur Geltung (368–369): Diese strömen aus einem noch als menschlich aufgefassten Leib heraus (de corpore), um aber die neu dazu gehörenden Blätter zu betauen – durch das Verb inrorare spitzt nämlich der Dichter die doppeldeutige Natur der Träne zu, die gleichzeitig menschlich (lacrima) aber auch schon natürlicher Tau (ros) ist. Wie die Augen, so bleibt ihr auch ihr Mund, und somit die Stimme, erhalten, die sie sofort einsetzt, um zugleich bittende und warnende Worte auszusprechen (371–391). In ihrer Rede an die Familienmitglieder zeigt sich nun sehr deutlich, wie menschlich die Morphologie des neu entstandenen Baumes, der nun ihren eigenen Leib darstellt, gedacht wird. Bevor die Verwandlung endgültig abgeschlossen ist, gibt sie ihren Liebsten Anweisungen für die Zukunft (373–379): Die gesamte Sprache baut auf der Realität der Verwandlung auf, die von der menschlichen Perspektive her (um-)gedeutet wird. Zunächst betont sie ihre Unschuld (viximus in-

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nocuae). Falls sie lügt, soll sie nicht verbluten, sondern vertrocknen; nicht Glieder sollen abgetrennt werden, sondern Blätter und Zweige. Dryope verfügt durch diese Operation der Resemantisierung weiterhin über ihren veränderten Leib. Auch die Mutterschaft bleibt ihr in der neuen Existenz erhalten: Die zu Zweigen gewordenen Arme sollen nach wie vor als »mütterlich« (maternis [...] ramis) gelten; auch die Erziehung des Kindes soll darauf gerichtet sein, dass es die Zeichen der Natur zu lesen versteht, um die im Baum verborgene Mutter zu erkennen und mit ihr zu kommunizieren. Das Erlernen der Sprache selbst soll bei ihm darauf zielen, diese Interaktion aufrechtzuerhalten. Es soll die Mutter begrüßen können und das ausdrücken, was sie selbst nicht mehr preisgeben kann: ihre im Baum verborgene Präsenz (latet hoc in stipite mater).

29.3 Linné im Vergleich Eine solche mythische Vorstellung der Natur, wie sie in den Metamorphosen vorzufinden ist, scheint ihren Platz ausschließlich in der Welt der Künste, d. h. in der Einbildungskraft eines Dichters haben zu können – mit der Realität, wie sie uns von den Naturwissenschaften dargelegt wird, hat sie dagegen auf den ersten Blick wenig gemein (vgl. Demuth 2012). Daher mag es überraschen, dass Carl von Linné, der Vater der modernen Biologie, eine solche Vorstellung durchaus teilte und seine Nomenklatur der biologischen Spezies und somit die Organisation der Natur auf ein ähnliches Verfahren gründete. Seine bemerkenswerte Arbeit des Ordnens und Klassifizierens aller natürlichen Spezies machen ihn zum bedeutendsten Biologen des 18. Jahrhunderts. Die revolutionärste Leistung seines Klassifikationssystems basiert auf einer binären Nomenklatur, durch die jede einzelne Spezies identifiziert wird: Wie bei Familien- und Vornamen trägt jede Art die Bezeichnung der zugehörigen Gattung und einen individuellen Beinamen, wodurch sie sich von den anderen Spezies derselben Gattung abgrenzen lässt. Die Funktionalität dieses Benennungssystems begründete in seiner Relevanz eine von der Medizin unabhängige Disziplin und situierte sich somit am Anfang der modernen Biologie (Ingensiep 2001). In der Auswahl der Namen und der Beschreibung der Merkmale der einzelnen Spezies greift Linné auf Eindrücke aus der griechisch-römische Mythologie zurück und zitiert ausführlich seine Quellen: Dabei springt der Einfluss lateinischer Autoren und insbesondere die Präsenz von Ovids Metamorphosen

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V  Themen und Konzepte

ins Auge (Heller 1945 und 1971). Die Vorbilder der Naturarten Linnés sind also Helden und Heldinnen, Männer und Frauen aus der mythischen Welt, deren Namen und Merkmale eins zu eins in die natürliche Welt übertragen werden. Eine solche anthropomorphe Auffassung der Natur macht sich vor allem im pflanzlichen Reich bemerkbar: Das reproduktive System der Pflanzen bildet Linné dem zoologischen Modell nach; es ist von einer stark anthropomorphen Sexualsprache geprägt, wie schon der Titel eines Werkes wie die Nuptiae plantarum (Hochzeiten der Pflanzen) erkennen lässt (Ingensiep 2001; Warner 2003, 5). In der Flora lapponica, einem Werk, das ausschließlich der Beschreibung der nordskandinavischen Landschaft mit ihren breiten Teichen und Sumpfgebieten gewidmet ist, liefert Linné ein ausführliches Beispiel für seine klassifizierende Arbeitsweise. So schreibt er über die Andromeda polifolia, ein Sumpfgebüsch, das äußerst ansehnliche Blüten aufweist (163δ; in Klammern Linnés Fachbegriffe): Sie sei eine äußerst erlesene und schöne Jungfrau, die ihr Haupt auf ihrem hohen, lebhaften Hals (Stiel) stolz emporreckt, und deren Antlitz durch die rosafarbenen Lippen (Blumenkranz) sogar die purpurne Schminke der Venus weit übertrifft. Diese Assimilation der Pflanze mit der mythischen Heldin wird in der Beschreibung ihrer Morphologie und ihres Lebenszyklus weitergeführt, die im Zeichen des Mythos gelesen werden. Bei der Andromeda polifolia – so lässt sich aus der Darstellung Linnés erschließen – handelt es sich nämlich um eine am steinigen Boden verwurzelte Pflanze. Im Frühling umspült das hochsteigende Wasser und das sich damit ausbreitende Sumpfgebiet den unteren Teil der Pflanze; so durch die Fluten bedrängt, neigt sich die rote Blüte der Andromeda dem Boden entgegen. Im Gegensatz dazu ragt sie im Sommer infolge des sich zurückziehenden Wassers auf trockenem Boden empor und wird ganz sichtbar; auch ihre im Sommer reifenden Früchte strecken sich in dieser Jahreszeit steil in die Luft. In diese wechselhafte Lage und Morphologie der Pflanze imaginiert der Wissenschaftler die Geschichte der mythologischen Andromeda hinein, wobei die punktuellen Verweise auf den biologischen Korrespondenten stets in Klammern geliefert werden. Seine Andromeda erscheint so im Frühling aus dem Wasser, an den Füßen gefesselt und an eine Felswand gekettet, mit traurig gesenktem Gesicht, während sie scheußlichen Drachen – Amphibien, die den Sumpf bewohnen – ausgesetzt ist. Im Sommer wird sie durch ihren Retter Perseus – die Sonnenwende – aus dem Wasser gezogen und zur fruchtbaren

Mutter gemacht, weswegen sie nun ihr Gesicht, von Stolz erfüllt, emporträgt. Die botanische Andromeda verweist also bei Linné wegen ihres Aussehens auf die Geschichte der mythischen Heldin und wird wegen dieser Ähnlichkeit metaphorisch in Verbindung mit ihr gesetzt. Durch ein detailliertes Verfahren veranschaulicht der Wissenschaftler sein metaphorisches Bild, indem er dieses in seine einzelnen Elemente zerlegt: Der Stiel der Pflanze ähnelt dem Hals, die Blumenkrone den rosigen Lippen einer Frau; in die Morphologie der Blüte und der Früchte wird sogar eine bestimmte existentielle Lage, wie sie sich der Wissenschaftler für die mythologischen Heldin ausmalt, hineingelesen: Die nach unten hängenden Blüten stehen in dieser Lektüre für Traurigkeit, die emporragenden Früchten für Mutterstolz. Die Pflanze wird dabei also ganz eindeutig anthropomorph aufgefasst. Durch diese Anschauungsweise der biologischen Arten entsteht mitten im wissenschaftlichen System eine metaphorische Bindung, welche die natürliche Welt zusammenhält. Auch bei Linné durchdringt so das menschliche Modell das Naturreich und stellt dessen grundlegendes Deutungssystem dar.

29.4 Fazit Am Ende der Passage über die Andromeda vermerkt Linné schließlich: Wenn Ovid bei der Verfassung seiner Andromeda-Episode (met. 4, 663–739) in den Metamorphosen die Pflanze vorgelegt worden wäre, hätte er seinen Gegenstand nicht anders beschrieben, abgesehen davon, dass er ihn durch seine dichterische Kunst raffinierter dargestellt hätte (Flora Lapponica, 163δ). So legt der Wissenschaftler selbst seinem Leser die Gemeinsamkeiten zwischen seiner naturwissenschaftlichen Skizze und der imaginativen Kraft des römischen Dichters in der Betrachtung der natürlichen Welt nahe. Sowohl Linné als auch Ovid nutzen morphologische Ähnlichkeiten zwischen den Gattungen Tier-Pflanze-Mensch, um metaphorische Bindungen zu ermöglichen. Wenn aber der Wissenschaftler Aussehen und Schicksal mythologischer Helden und Heldinnen in tierische und pflanzliche Spezies hineinprojiziert, führt dies nicht zu Überschreitungs- bzw. Transformationsprozessen. Mit anderen Worten: Die botanische Andromeda ist bei Linné wie die Frau, deren Geschichte sie durch Morphologie, Lage und Lebenszyklus evoziert, sie wird aber nicht selbst zu ihrer mythischen Vorlage. Die Metapher dient lediglich ei-

29  Tiere und Pflanzen

nem eindrucksvollen Bild, das sich dem Nutzer seines Klassifikationssystems einprägen soll. Anders bei Ovid, der das Potential der Metapher weiter ausschöpft: Was bei Linné metaphorisch bleibt, wird nämlich bei Ovid metamorphotisch. Wie Pythagoras, dem der Dichter selbst seine philosophische Stimme verleiht, am Ende des Werkes anmerkt, wandeln die figurae in der Welt stets unter dem Erneuerungsdrang der Natur. Damit ist die typische Dynamik der Metamorphosen beschrieben: Die Metamorphose als Prinzip, das die Welt in stetiger Bewegung gleichzeitig erneuert und zusammenhält, bietet bei Ovid eine durchaus strukturierte aber auch dynamischere Anschauungsweise der natürlichen Phänomene. Das Innovative seiner Dichtkunst liegt nämlich genau in den metamorphotischen Prozessen, durch die bestimmte metaphorische Bindungen, die fremde Spezies aufgrund ähnlicher Merkmale in Berührung bringt, radikalisiert werden können, und zwar in dem Sinne, dass die Grenzen zwischen den unterschiedlichen Gattungen als fließend aufgefasst werden können. Um noch einmal ein Beispiel aus der Textanalyse in Erinnerung zu rufen: Die Haare der Dryope sind wie die Blätter eines Baumes. Sie werden also, anders als bei Linné, zu den Blättern (met. 9, 354–355). Die stetig vorliegende Möglichkeit der Grenzüberschreitung, die jede einzelne metaphorische Bindung freilegt, setzt die vorgegebene Ordnung in Bewegung und bildet die Voraussetzung für Transformationsprozesse. Die Radikalisierung der Metapher durch die Metamorphose stellt schließlich die typische Dynamik der ovidischen Welt dar. Literatur

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Chiara Cavazzani

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V  Themen und Konzepte

30 Körperkonzepte 30.1 Form und Körper Im Panorama der antiken Literatur gilt Ovid als Dichter der Form, der Oberfläche, der poetischen Spiele par excellence (s. Rimell 2019). Seine Vorliebe für Gattungsexperimente und -überschreitungen macht ihn zum Grenzgänger. Bemerkenswert ist aber, dass gerade in den Anfangsgedichten, die als programmatisch für die Poetik eines neuen Werkes gelten, poetologische Aussagen und formelle Spiele häufig mit Bildern starker Materialität zusammengehen (zum materiellen Denken der spätrepublikanischen und augusteischen Dichtung, s. Schwindt 2015). So folgt im ersten Gedicht der Amores die Umwandlung des Epos in die Liebeselegie dem Diebstahl eines Versfußes durch den Liebesgott Cupido (am. 1, 1, 3–4). Die Beeinträchtigung des Versmaßes durch das gestohlene Glied (pes) gleicht in den Augen des Dichters einer körperlichen Schwächung (17–18): Der verkürzte Vers mindert seine Kräfte, wobei das verwendete Wort nervus in erster Linie »Muskel, Sehne« und darüber hinaus »männliches Glied« und »Männlichkeit« bedeutet. Der Dichter, der noch am Anfang seines programmatischen Gedichtes die Kriegskunst besingen wollte, befindet sich nun aufgrund seiner mangelhaften körperlichen Verfassung und seiner verminderten Männlichkeit von diesem Themenfeld ausgeschlossen. Andererseits proklamiert er ebenfalls, er könne genauso wenig die Liebe besingen, ohne verliebt zu sein (19–20). Die Anpassung des Dichters an den Stoff, den die neue Gattung verlangt, erfolgt nun genauso durch eine physische Verletzung: Cupido greift zu seinen Liebeswaffen und trifft den Dichter mit einem seiner Pfeile. Auf diesem Weg verwundet, fällt Ovid dem Liebesgott (Amor) zum Opfer, der seine Herrschaft in der leeren Brusthöhle des Dichters (in vacuo pectore) ansiedelt. Somit empfängt er durch die Pfeilschussverletzung seinen Stoff (24 »Quod« que »canas, vates, accipe« dixit »opus!«). In ihrer Studie über »gendered identity« bemerkt Sharrock wie in der ovidischen Liebesdichtung durch die Metaphorik um die Verwundung des Dichters (vulnus) eine Pervertierung der römischen Sexualität und der geschlechtlichen Rollen stattfindet. In diesem Diskurs wird nämlich der männliche Körper als unversehrt und der Mann als aktiver Penetrator, der weibliche Körper als passivisches Objekt der männlichen Lust und Empfänger der Penetration gedacht. In der Liebesdichtung ist indes der Liebhaber nicht

nur verwundet, sondern ist stets auch der Frust der gescheiterten Penetration ausgesetzt, wie sich am Motiv des Paraclausithyron, des Liebesgesanges vor der Tür der Geliebten, deutlich zeigt (Sharrok 2002, 95–99). Die Trennung des Liebhabers von seiner Geliebten durch ein physisches Hindernis führt ein weiteres wichtiges Spannungsfeld der Liebesdichtung ein: Die Geliebte ist meistens abwesend oder wehrt den Liebenden ab; der Liebhaber muss in dem Wunsch ihrer körperlichen Anwesenheit indes seine frustrierte Lust auf ein greifbares Surrogat projizieren – wie etwa in am. 2, 15, wo sich der Dichter in die Position eines geschenkten Ringes hineinfühlt und dessen Nähe zur Geliebten beneidet. Das Motiv dieser Ersatzstrategie findet sich in Ovids Exildichtung auf ähnliche Weise wieder. In dieser fallen die Bestimmung der neuen poetischen Form und Bilder starker Materialität noch enger zusammen, als dies in der vorigen Produktion der Fall war. In dem Eröffnungsgedicht der Tristien schickt der abwesende Dichter sein Buch nach Rom, das als Surrogat seiner Präsenz die Person des Verbannten vertreten soll (trist. 1, 1, 1 Parve – nec invideo – sine me, liber, ibis in Urbem). Das Buch wird daher gleich am Anfang anthropomorph gedacht, und der Dichter lässt es die Merkmale der veränderten Poetik als körperliche Züge tragen, als physische Zeichen seiner existentiellen Lage (trist. 1, 1, 3–14): Sein gesamtes Auftreten soll ungepflegt und vernachlässigt erscheinen (incultus), wie es sich für das Buch eines Verbannten gehört; es soll nicht mit purpurfarbener Überschrift geschmückt, nicht mit Zeder parfümiert werden; auch seine Stirn (frons; geminae frontes) soll schmucklos und rau bleiben; es soll nämlich struppig (hirsutus) und mit offenem Haar (sparsis [...] comis) auftreten, und auch seine Flecken (liturae) soll es zur Schau stellen, denn sie wurden von den Tränen des Dichters hinterlassen und stellen daher die materiellen Zeichen seines Elends dar (de lacrimis facta). Die Verbindung Leben – Kunstwerk zeigt sich in der Exildichtung deutlicher, nicht nur auf einer formellen, sondern auch auf einer materiellen Ebene: Der in Ungnade gefallene, exilierte Dichter, der eine Verwandlung seiner existentiellen Lage durchläuft, überträgt diese auf seine poetische Produktion, deren Ton ernster und trauriger wird, aber auch auf das Buch selbst als materielles Objekt, da dieses über eine physische Präsenz in Rom verfügt, die ihm verweigert wird. Dichtung und persönliches Schicksal fallen in dieser materiellen Auffassung des Kunstwerkes zusammen.

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_30

30 Körperkonzepte

30.2 Die Metamorphosen: Verwandlung und Leib So überrascht es nicht, dass auch das Meisterwerk Ovids, die Metamorphosen, ein Werk über Transformation, die Verbindung von Form und Körperlichkeit zum Thema seines Proömiums macht. Im incipit dieses Werkes heißt es (met. 1, 1–2): In nova fert animus mutatas dicere formas corpora [..]. (»Singen heißt mich das Herz von Gestalten, verwandelt in neue Leiber.«)

Am Anfang steht somit die Verwandlung, und zwar der Übergang von einer Form in die andere (mutatas formas), und das Entstehen des Neuen aus dem Alten (in nova): Diese Aussage kann zunächst poetologisch in Bezug auf die innovative Kraft des Dichtens gelesen werden. Im nächsten Vers wird aber als unerwartete Ergänzung von in nova das eigentliche Zielobjekt der metamorphotischen Dichtung enthüllt: corpora (Segal 2011; zum Problem s. auch Schwindt 2016, 113– 115). Gleich zu Beginn des Werkes über Transformation stehen nicht leere Gestalten, sondern Körper, und zwar nicht rhetorischer Natur, sondern menschliche Leiber, die in einer instabilen und sich ständig wandelnden Welt Phänomenen von Gewalt, Verlust und Desintegration ausgesetzt sind (Farrell 1999; Elterline 2000; Rimell 2019). Der Fokussierung auf die Form folgt also hier, auf engstem Raum, eine bestimmte Auffassung von Körperlichkeit (in [...] corpora), deren genaue Bestimmung – insbesondere im Verhältnis zur Form (mutatae formae) – keine Selbstverständlichkeit darstellt, wie die vielen unterschiedlichen Interpretationsansätze zeigen. In diversen Studien zu den Metamorphosen wird der Körper als physisch und sexuell determinierte Komponente des menschlichen Seins im Gegensatz zur Psyche als Ort des inneren Lebens aufgefasst. Dies diene wiederum als Grundlage für eine Reihe weiterer Oppositionen in der ovidischen Dichtung: u. a. Form – Materie, Subjekt – Objekt, Bedeutung – Wort, Stimme – Text (Farrell 1999; Gildenhard/Zissos 1999; Theodorakopoulos 1999). Dabei liegt der Akzent jeweils auf einem der beiden Pole: Die Einen betonen die körperliche Auffassung der Darstellung (Barkan 1986; Segal 1997/98 und 2005; Murray 1998), andere die Relevanz für die Untersuchung psychologischer

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Vorgänge (Fränkel 1945; Tornau 2008). Wenn man aber bei der Syntax der ovidischen Formulierung verweilt (Akkusativ der Richtung), wird klar, dass es hier weder um reine Form noch um reine Materie als isolierte Entitäten geht, sondern um die Art ihrer Verbindung: Nicht die statische Polarität beider Extreme wird hier als Gegenstand der metamorphotischen Dichtung erklärt, sondern die Art und Weise ihres dynamischen Ineinanderfließens. Wenn man also in der Englektüre den Fokus auf die syntaktische Struktur legt, öffnet sich für die Interpretation eine dritte Möglichkeit, in der nämlich der Mensch selbst als das Objekt der ovidischen Dichtung betrachtet werden kann (Schmidt 1991), und zwar in einer Menschenauffassung, die nicht dualistisch (Körper – Seele) zu denken ist, sondern auf einem integrativen Modell basiert, in dem all die oben genannten Oppositionen fluide werden und im menschlichen Leib verschwimmen. In der Welt der Metamorphosen verwandeln sich Menschen stets in andere Lebensformen: Dabei sind sie nicht lediglich passive Beobachter der Umgestaltung ihrer Körper, sondern sind tiefer am Geschehen beteiligt. Ihr Empfinden und menschliches Gefühlsvermögen ist nämlich im Prozess der Verwandlung genauso involviert. Diese Idee des menschlichen Leibes als Schwelle und enge Verbindung zwischen Innen (Psyche) und Außen (Körper), wie sie in der Phänomenologie herausgearbeitet wurde – vor allen in den Werken Husserls und MerleauPontys –, erweist sich also für das Verständnis der metamorphotischen Menschenwelt als ein fruchtbares Modell (zur Phänomenologie des Leibes s. Waldenfels 2013). Vor allem spielt hierbei die räumliche Morphologie des menschlichen Leibes eine wichtige Rolle, insbesondere in seinem Hauptmerkmal: seine räumliche Integrität, d. h. seine konstante Struktur. In der Vorstellung des eigenen Leibes erscheint dieser nämlich als abgeschlossener, stetiger Zusammenhang, dessen Grenzen klar gezogen sind und dessen Teile sich in bestimmter Position zueinander befinden (zu den besonderen Merkmalen des menschlichen Leibes s. Waldenfels 2013). In der Welt der Metamorphosen, einer Welt, in der die leibliche Integrität ihrer menschlichen Bewohner ständig von außen bedroht und infrage gestellt wird, erweist nun eben dieser Aspekt seine Relevanz insbesondere im Hinblick auf das Phänomen der Verwandlung: Da der vorgestellte Leib als identitätsstiftendes Element dient, ist der Ausgangspunkt einer Transformation jede räumliche Verschiebung am körperlichen Leib und die daraus resultierende Erschütterung der leiblichen Morphologie.

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V  Themen und Konzepte

30.3 Beispielanalyse Beispiele für solche leibliche Re-Konfigurationen gibt es in den Metamorphosen reichlich, so dass sich für die Textanalyse mehrere Verwandlungen eignen würden. Allerdings sind es im Hinblick auf die Verletzung der leiblichen Integrität vor allem die grausamen Transformationen innerhalb des Werkes, die häufig die Perspektive und Selbstwahrnehmung des sich Verwandelnden mitreflektieren, besonders erkenntnisstiftend. Eine wichtige Station in dieser Hinsicht stellt etwa das dritte Buch dar. Dieses dreht sich um den thebanischen Sagenkreis und stellt die Desintegration menschlicher Leiber ins Zentrum. So verzehren sich etwa Echo und Narzissus in der unmöglichen Interaktion – sie, die nur fremdbezogen ist, und er, der nur Selbstbezug kennt – bis die eine nur Stimme, der andere eine ansehnliche Blume wird (339–510). Das dritte Buch steht aber auch unter dem Zeichen des Dionysos und der kultischen Zerfleischung (Sparag­ mós), wie in der Pentheus-Episode, dessen Leib von der eigenen Mutter und seinen Tanten kaltblütig zerrissen wird (511–733). Zu dieser Typologie der Verwandlung gehört schließlich auch eine der grausamsten Szenen des Werkes: Die Metamorphose des Jägers, der zur eigenen Beute wird (131–259). Dies ist die berühmte Geschichte des Actaeon, der unwissentlich in den Rückzugsort der Jagdgöttin Diana eindringt und sie beim Baden erblickt. Als Strafe muss er zunächst die Entfremdung des eigenen Leibes durch die tierische Gestalt eines Hirsches, die sein menschliches Wesen ganz umgibt (197 velat maculoso vellere corpus), ertragen (202–203 lacrimaeque per ora / non sua fluxerunt [...]), dann den Verlust der Sprache und damit der Möglichkeit, sich als Mensch seinen Gefährten und Hunden zu erkennen zu geben (231 verba animo desunt [...]). Am Ende muss er, verborgen in der tierischen Hülle (250 ... falsi [...] sub imagine cervi), die wilden Bisse seiner Hunde, die ihn und seinen Leib verwunden und zerfleischen (237 iam loca vulneribus desunt; 250 dilacerant [...] dominum), ertragen, wodurch sein Leben erlischt (s. Schwindt 2016). Man könnte noch weitere, zahllose Beispiele heranziehen, jedoch erweist sich die Geschichte der Jungfrau Scylla für die Zentralität des Leibes, mit dem Fokus auf seinen räumlichen Merkmalen und im Hinblick auf die Verletzung seiner Integrität, als besonders emblematisch (met. 14, 51–67). Den Rahmen dieser Verwandlung setzt, wie nicht selten in den Metamorphosen, eine unerwiderte Liebe. Zu Beginn des 14. Buches führt die Bitte des Gottes Glaucus, die Zauberin Circe möge in

der von ihm geliebten Scylla mithilfe ihrer mächtigen Künste Gegenliebe erwecken, zu einer unerwartet bedrohlichen Entwicklung: Nachdem die ihrerseits verliebte Circe von Glaucus auf schroffe Weise zurückgewiesen wird, lässt sie ihre schreckliche Wut an ihrer Rivalin aus. Die Magierin vollzieht ihre Rache in der kleinen Meeresbucht (51 parvus erat gurges), in die sich die Jungfrau gern zurückzieht (52 grata quies Scyllae), indem sie das Wasser mit Zaubermitteln verschmutzt (55–58). Sobald die unwissende Scylla in das verunreinigte Meer bis zu ihrem Unterleib (alvus) eintaucht, wirkt sich der schreckliche Zauber auf die Glieder aus, die mit ihm in Berührung kommen (59–61). Die Mitte ihres weiblichen Leibes stellt bei ihr den identifikationsstiftenden Punkt und somit das Triebwerk der Verwandlung dar. Diese entfaltet sich direkt vor den Augen (aspicit) Scyllas, die bei der Erkundung dessen, was sie noch als eigenen Unterleib betrachtet (sua [...] inguina), das Eindringen eines fremden Mediums in der Form von bellenden Monstern (latrantibus [...] monstris) konstatieren muss. Die Spaltung ihres Leibes in zwei Entitäten und die bei ihr daraus entstehende Entfremdung von sich selbst werden durch das Prädikat aspicit eingeleitet: Ihre Vorstellungsbilder passen nicht zu den scheußlichen Extremitäten, die sie anstelle ihrer Leiste entdecken muss; gegenüber der unruhigen Aktivität der bellenden Monster, die sich an ihrem bisher unversehrten Unterleib abspielt, muss Scylla die Rolle eines passivischen, machtlosen Beobachters einnehmen. Gegen diese neu entstandene Morphologie leistet sie zunächst Widerstand, der sich in zwei aufeinanderfolgenden Momenten ausdrückt (61–63): Zunächst weigert sie sich, die neue, als fremd empfundene Präsenz als eigenleiblich anzuerkennen (credens non corporis illas / esse sui partes); dann folgt eine Bewegung im Raum, die eine gegenteilige Spannung zwischen oberem und unterem Teil des Leibes und dadurch erst die wirkliche räumliche Spaltung erzeugt (refugit abigitque timetque). Die Leiste wird zum Gravitationszentrum zweier gegenteiliger Kräfte, die die leibliche Integrität zum Schauplatz vielfältiger Oppositionen machen: oben – unten, geschlossen – offen, eigen – fremd, menschlich – tierisch. Scylla versucht sich den Schnauzen der Hunde zu entziehen und entdeckt dadurch die entsetzliche Wirklichkeit der Verwandlung (63): sed quos fugit attrahit una »aber die, vor denen sie flieht, zieht sie zugleich an sich heran«. Wäre die neue Präsenz am Rande ihres Leibes ein fremdes (Körper-) Ding, könnte sie sich von ihm entfernen. Die Tatsache, dass dies nicht möglich ist, zeigt ihr aber, dass die neu entstandenen Extremitäten eigenleiblich sind.

30 Körperkonzepte

Nun versucht Scylla erneut durch Untersuchungen am eigenen Leib (64 quaerens) den Zusammenhang, bestehend aus Oberschenkeln, Beinen und Füßen (corpus [...] femorum crurumque pedumque), in Übereinstimmung mit ihren tastend und sehend erworbenen Vorstellungsbildern zu bringen. Als auch dieser zweite Versuch scheitert, ist die Verwandlung abgeschlossen: Anstelle der Glieder, die sie vorzufinden erwartet (65 pro partibus [...] illis), entdeckt sie erneut die höllischen Rachen der Hunde (Cerbereos rictus [...] invenit). Das Verb-Paar quaerere – invenire (suchen – finden) markiert die Spaltung des menschlichen Leibes durch die Metamorphose, als Trennung vom Ort und Objekt des Erkundens: Scylla als Empfindende ist nicht mehr gleich auch Empfundenes, wie im unversehrten Leib, sondern die leibliche Integrität wird auf diese Art durch das Eindringen eines fremden Mediums zerstört. So ist Scylla als Empfindende zum oberen Teil ihres Leibes verschoben worden, während der untere Teil zum Wohnort einer neuen Entität geworden ist. Und doch gehören die noch als fremd empfundenen Monster infolge der Verwandlung zu ihrem Leib. Sie sind paradoxer Teil einer zusammenhängenden leiblichen Konfiguration (63 una): des Wesens Scylla, dessen Existenz an den neuen Leib gebunden ist. Erst jetzt kommt somit die Dynamik der Verwandlung zur Ruhe, und die neue leibliche Morphologie wird beschrieben (66–67): Die räumliche Neubestimmung ihres Leibes ist durch das Paar inguinibus truncis und utero exstante gegeben, welches die Umgestaltung der Grenzen durch die Verwandlung ausdrückt. Das Adjektiv truncus »abgeschnitten, verstümmelt« deckt zunächst einen Mangel in der körperlichen Substanz auf, der auf die ursprüngliche Geschlossenheit des Unterleibes (inguina) hinweist. Die Verletzung der leiblichen Grenzen stellt also das erste Raummerkmal einer neuen Morphologie dar. Der Ausdruck utero exstante bestimmt nun das zweite Merkmal: die Ausdehnung (exstare) der im Inneren verborgenen körperlichen Substanz über die verletzten Grenzen hinaus. Die im Normalfall nach innen gewandte und geschlossene Gebärmutter (uterus) der Frau ist nun nach außen gerichtet. An diesem Punkt zeigt sich ein weiterer wichtiger Aspekt der Leiblichkeit für die Metamorphosen, und ferner für den römischen Geschlechtsdiskurs: die enge Verbindung zwischen leiblicher Verletzbarkeit und Weiblichkeit, die vor allem in der Vergewaltigungsund Verwandlungsszenen weiblicher Protagonistinnen offenbar wird. So interpretiert etwa Segal in seiner Studie über Körper, Gewalt und Sexualität die Entstel-

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lung der Geschlechtsorgane Scyllas als monströse Pervertierung ihrer Jungfräulichkeit und ihre Verwandlung als Variation der vielen Vergewaltigungsszenen dieses Werkes bzw. als scheußliche Entbindungsart (Segal 2011, LXXXII–LXXXIII). Durch die unheimliche Ausstülpung der inneren Organe, werden diese nun zum außergewöhnlichen Objekt von Scyllas Erkundung des eigenen Leibes, worüber sich das Seltsame der neuen leiblichen Morphologie definiert. Ihr Leib, der durch offene, unruhige Grenzen neu entstanden ist, ist also einerseits in zwei Domänen gespalten (menschlich – tierisch), andererseits wird er aber durch Scylla selbst zusammengehalten (vgl. ebd., LXXXIV): Sie versucht nämlich eine gewisse Integrität zu bewahren, indem sie die überschießende leibliche Substanz zugleich nach innen zurückzieht und ordnet (coercet). Diese Geste der Kontrolle über die neuen Glieder bedeutet für Scylla die Wiederaneignung des eigenen Leibes: Nicht die Tiere an ihrem Unterleib profilieren sich als autonome Instanz, deren Aktivität gegenüber Scylla passive Zuschauerin bleibt – wie etwa am Anfang (60–61 foedari [...] aspicit) –, nein, Scylla übt ihren Willen aus und steuert die neuen Bewohner ihrer Leiste. Von dem Moment an, in dem sie ins Leibschema integriert werden, ist ein neues Wesen entstanden: Die leibliche Akzeptanz stellt somit in Ihrem Fall einen wesentlichen Teil der Metamorphose dar und zeichnet das Ende des Transformationsprozesses.

30.4 Fazit Ein wichtiges Merkmal der ovidischen Dichtung ist also die Tendenz zur Physikalisierung nicht nur poetologischer und künstlerischer Vorstellungen, wie wir es in der Liebes- und Exildichtung gesehen haben, sondern auch der Gefühlswelt und der Selbstwahrnehmungsprozesse in den Metamorphosen (vgl. Schwindt 2016, 114), in der sich die Transformation sowohl des inneren als auch des äußeren der sich verwandelnden Menschen leiblicher Natur erweist. Wenn das Zusammenfallen von Form und Körperlichkeit im ersten Fall auf der Ebene einer Metaphorik der Verwundung (Liebesdichtung) und des Spannungsfeldes Anwesenheit – Abwesenheit verläuft (Liebes- und Exildichtung), verschmelzen nämlich die beiden Pole in dem Werk über Verwandlungen in der Dimension des menschlichen Leibes. Wie im Beispiel, das in der Textanalyse präsentiert wurde, können also die einzelnen Verwandlungen vom Gesichtspunkt der Leiblichkeit ausgehend, und mit ihnen die Verletzung der leiblichen Integrität und

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V  Themen und Konzepte

die Erschütterung der räumlichen Grenzen, als eine Reihe extremer leiblicher Konfigurationen betrachtet werden, die als Experimente des Dichters mit Text und leiblichem Material in seinem poetischen Labor entstehen (zu den Metamorphosen als »Labor der Moderne« s. ebd.). Literatur

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Chiara Cavazzani

31  Männlich, Weiblich

31 Männlich, Weiblich Konzeptionen von Männlichkeit und Weiblichkeit sind ideelle Vorstellungen darüber, was typisch für einen Mann oder eine Frau sei. Das Geschlecht ist keine anthropologische Konstante, sondern wird in jeder Gesellschaft und Kultur neu definiert und mit unterschiedlichen Bedeutungen besetzt. Wegweisend dazu ist die theoretische Grundlage, die die Philosophin Judith Butler entwickelt hat. Butler (1990) hebt hervor, dass das Geschlecht wesentlich durch die Sozialisierung und individuelle Identität bestimmt wird; deshalb wird in der Gender-Forschung auf die soziale Konstruktion des Geschlechts verwiesen. In verschiedenen Kulturen und historischen Epochen weisen die Frauen- und Männerbilder und geschlechtsspezifischen Tugenden verschiedene Merkmale auf. In der Antike galt es als typisch männlich, Stärke, Kriegsbereitschaft, Vernunft und Selbstbe­ herrschung an den Tag zu legen, als weiblich galten Irrationalität, Maßlosigkeit und Leichtsinn (vgl. Šterbenc Erker 2013, 26, 33–24). Das Männliche definierte sich traditionell in betonter Abgrenzung vom Weiblichen, mithilfe der eben genannten stereotypen Eigenschaftszuschreibungen wurde das Weibliche gegenüber dem Männlichen abgegrenzt und häufig abgewertet. Geläufig war eine binäre Opposition zwischen den beiden Geschlechtern (vgl. Hartmann/ Hartmann/Pietzner 2007). Nach dieser Vorstellung agierten Männer in der Öffentlichkeit, Frauen waren für den Bereich der domus (»Haus mit Sklaven und Familie«) zuständig (Colum.12 praef. 5). Nur wenn verheiratete Frauen Frauenfeste im Namen der politischen Gemeinschaft zelebrierten, billigten antike Autoren, die in der Regel die Perspektive der sozialen Elite wiedergeben, ihre Präsenz in der Öffentlichkeit (vgl. Šterbenc Erker 2013, 16–19). Ovid setzt auf seine literarische Bühne häufig Figuren, die an elegische Rollenbilder anschließen und von den eben genannten normativen und idealtypischen Frauen- und Männerbildern abweichen. In Ovids Werken zeigt sich das Geschlecht als eine durchlässige und wandelbare Kategorie. Das Geschlecht der ovidischen Figuren ist häufig nicht eindeutig, mit großer Vorliebe inszeniert der Dichter Trans-Gender-Mythen. Um die unterschiedlichen Facetten der Männlichkeit oder Weiblichkeit sowie den Wandel der Frauen- und Männerbilder in Ovids Werken zu bestimmten, wird im Folgenden ansatzweise gezeigt, mit welchen Bedeutungen der Dichter die Frauen- oder Männerbilder in verschiedenen Werken

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oder Erzählungen besetzt. Der Fokus wird darauf gerichtet, wie Ovid die traditionellen Frauen- und Männerbilder umformt. Dabei zeigt sich nicht das biologische Geschlecht als maßgebend für die geschlechtliche Identität literarischer Figuren. Vielmehr definieren das Geschlecht die Denk- und Handlungsweisen, welche mit den sozialen Rollen von Frauen und Männern entweder korrespondieren oder sie konterkarieren. Ovid schildert häufig, wie sich Frauen und Männer die Räume des jeweils anderen Geschlechts aneignen oder anzueignen versuchen, z. B. als Pentheus den als ausschließlich weiblich dargestellten Raum der Mänaden am Ende des dritten Buches der Metamorphosen betritt. Darüber hinaus thematisiert der Dichter häufig, wie Frauen und Männer die ihrem Geschlecht zugewiesene Domäne verlassen und die Grenzen des typisch weiblichen oder typisch männlichen Verhaltens überschreiten. So erscheint Callisto dem Gott Jupiter als begehrenswert, obwohl sie sich nicht typisch weiblichen Tätigkeiten widmet wie der Wollarbeit oder der Sorge um ihre Schönheit (met. 2, 411–412), sondern der Jagd im Dienste Dianas. Geschlechtsidentitäten der Figuren sind in Ovids Werk weder eindeutig noch aus der binären Opposition Mann/Frau abzulesen, sondern sind im Spannungsfeld zwischen diesen beiden Polen angesiedelt und unterliegen stetem Wandel. In Ovids epischem Werk, den Metamorphosen, ist alles dem Wandel und Fluss verpflichtet, auch Ovids Erzählweise und die Motive, die er behandelt, durchlaufen Verwandlungen, darunter auch das Geschlecht mythischer Figuren. Die Wandlungsfähigkeit des Erzählers ist von höchster Virtuosität; Ovid nimmt als der auktoriale Erzähler abwechselnd die Perspektive eines Mannes oder einer Frau ein.

31.1 Geschlecht, Sexualität und Gewalt Tiresias, der sieben Jahre als Frau gelebt hatte, bevor er sich in einen Mann zurück verwandelte (met. 3, 326– 331), gibt Auskunft darüber, dass erotische Empfindungen geschlechtsspezifisch seien. Als ausgewiesener Spezialist für weibliche und männliche Wahrnehmung wird Tiresias im scherzhaften Streit zwischen Jupiter und Juno gefragt, ob Frauen bei der Liebe größere voluptas (»Lust«) als Männer empfänden (met. 3, 320–321). Tiresias bejaht Jupiters Annahme, nach der Frauen mehr Lust empfinden – hier klingt der stereotype Topos der weiblichen Maßlosigkeit sicherlich mit. Deshalb schlägt Juno, die mit dem Urteil un-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_31

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V  Themen und Konzepte

zufrieden ist, Tiresias mit Blindheit (3, 333–334). Jupiter segnet daraufhin Tiresias mit einer Sehergabe, um den Schmerz über das geraubte Augenlicht mit dieser Ehrung zu lindern (337–338). Im Fokus der Erzählung steht Junos ungerechte Strafe, die den berühmten Zorn der Göttin veranschaulicht, der bereits in Vergils Aeneis die epische Handlung vorantreibt. Männliche Götter verlieben sich schnell, begehren heftig schöne Sterbliche und Nymphen, sie bemächtigen sich mitunter gewaltsam der Gegenstände ihrer Begierde (fast. 2, 611–614; 6, 125–126). Zum Erfolg verhelfen ihnen oft Strategien aus Ovids Ars amatoria (z. B. ars 1, 631–658; 663–714; vgl. James 2016). In den ersten zwei Büchern dieses Werkes erteilt der Erzähler Männern Ratschläge zur Eroberung von Frauen, im dritten Buch den Frauen zur Eroberung von Männern. Der Erzähler in der Rolle eines praeceptor amoris (»Lehrer der Liebe«) inszeniert das Begehren der Götter in ihren amourösen Abenteuern in den Amores und in der Ars amatoria. Dieses Thema entwickelt der Dichter in seinen Metamorphosen und Fasti weiter. Der allmächtige Jupiter wird in vielen mythischen Episoden als sexuell unersättlicher Liebhaber dargestellt, der sich blitzschnell für schöne sterbliche Frauen oder Männer (z. B. Ganymed, met. 10, 155– 161) erwärmt. Um seine Begierde zu sättigen, nimmt Jupiter verschiedenste Gestalten an, als Stier täuscht er Europa (met. 6, 103–105; fast. 5, 605–618), er nähert sich Asterie in Gestalt eines Adlers (met. 6, 108) oder Leda als Schwan (met. 6, 109). Diese und weitere Trugbilder, mit welchen die Götter Jupiter, Neptun, Phoebus-Apoll, Liber und Saturn die nichtsahnenden Opfer getäuscht und vergewaltigt haben (met. 6, 103– 128), stellt Arachne auf dem kunstvollen Teppich dar, den sie im Wettstreit mit der Göttin Minerva webt. Die Rezipienten merken, dass sich die Götter nicht um die Opfer der sexuellen Gewalt kümmern, nur die Familienangehörigen trauern mit dem Opfer wie z. B. Inachus, nachdem er seine Tochter Europa in eine Kuh verwandelt erblickt (met. 1, 651–663). Die einzige Sorge des allmächtigen Gottes Jupiter ist, dass ihn seine eifersüchtige Ehefrau nicht in flagranti (»auf frischer Tat«) ertappen und ihm zürnen werde. Als Jupiter das arkadische Mädchen Callisto erblickt, stellt er jedoch fest, dass »sich die Schelte um diesen herrlichen Preis lohnt« (met. 2, 423–424). Häufig kommt Jupiter völlig unbescholten von seinen Seitensprüngen zurück, während Juno ihren Zorn und ihre Eifersucht an den unschuldigen Opfern auslässt. Jupiter gelingt es, Io auf der Flucht vor ihm einzuholen, sie zu vergewaltigten (met. 1, 600) und sie anschließend in

eine Kuh zu verwandeln, da er vorausahnt, dass Juno sein Vergehen ahnden wird (met. 1, 610–611). Juno lässt die verwandelte Io von Erinys durch die ganze Welt treiben (met. 1, 724–727), bevor Jupiter sie in die Göttin Isis verwandelt (V. 747–750). Juno verwandelt auch Callisto in eine Bärin (met. 2, 476–488), die Jupiters Undankbarkeit beklagt. Dass Jupiter Callisto und ihren Sohn Arcas, der aus der kurzen Liaison geboren wird, schließlich in den Himmel versetzt, ist ein schwacher Trost (met. 2, 505–507). Einige feministische Altertumswissenschaftlerinnen sind zu dem Schluss gekommen, dass Ovid Frauen in Vergewaltigungsszenen pornographisch darstelle, z. B. in der Erzählung über den Gott Apoll und die Nymphe Daphne (met. 1, 525–530). Darüber hinaus empfinde Ovid Genuss in Gewaltdarstellungen (Richlin 1992, 158–159). Die Frauen, welche vergewaltigt werden oder der Vergewaltigung nur durch eine Verwandlung, z. B. in einen Lorbeerbaum, entgehen, werden Amy Richlin (1992, 162) zufolge zum Gegenstand eines voyeuristischen männlichen Blickes. An der Columbia University in New York haben sich im Jahr 2015 traumatisierte Studentinnen zu Wort gemeldet und trigger warnings (»Warnhinweise«) von den Lehrenden verlangt, wenn im Unterricht Themen angesprochen werden, welche sie an ihre eigene Vergewaltigung erinnern könnten (Washinghton Post vom 14.5.2015), wie z. B. die Erzählungen aus Ovids Metamorphosen. Hier kann nur ansatzweise für die Erzählung über Apoll und Daphne gezeigt werden, dass Ovid keineswegs männlichen Voyeurismus und Vergewaltigung billigt (vgl. Newlands 2018, 141), indem auf den Erzählkontext und auf narrative Zusammenhänge in den Metamorphosen verwiesen wird. Bei der bildhaften Beschreibung, der Ekphrasis der fliehenden Daphne (met. 1, 525–530) fällt auf, dass Ovid mit der Bildkunst wetteifert, wenn er die Schönheit des weiblichen Körpers schildert, wobei nicht nur mit Männern, sondern auch mit Frauen als Betrachterinnen der Bildkunst und Leserinnen der Metamorphosen zu rechnen ist. Darüber hinaus rückt der Erzähler Apoll in ein sehr negatives Licht; vor allem sein erotisches Begehren gegenüber der schönen Daphne, die vor diesem Gott flieht, stellt er negativ dar. Auf der Flucht bittet Daphne ihren göttlichen Vater, den Fluss Peneus, er möge ihre Gestalt verwandeln, durch die sie Apoll zu sehr gefiel (met. 1, 547). Nachdem Daphne durch den göttlichen Eingriff in einen Lorbeerbaum verwandelt wird, begehrt Apoll sie weiterhin (met. 1, 553–556) und will sich Daphnes auch in der Gestalt des Lor-

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beerbaumes bemächtigen (V. 557–558). Ovid erzählt also ambivalent die Aitiologie, d. h. eine gelehrte Erklärung darüber, wie Daphne (= Lorbeer) zu Apolls Baum geworden ist und somit zum festen Attribut des Gottes. Obwohl Lorbeer von römischen Feldherrn im Triumph getragen und zudem an die Türpfosten von Augustus’ Haus auf dem Palatin angebracht wurde (met. 1, 558–565), ist diese Erzählung nicht gerade eine vorteilhafte Zeichnung des vom Trieb gesteuerten Apoll. Dass dieser vordergründig panegyrischen Aitiologie, wie der Lorbeer zu Apolls und dadurch Augustus’ Baum wurde, eine Erzählung über das lächerliche und moralisch zweifelhafte Verhalten des Gottes vorangestellt ist, unterläuft das Lob auf Augustus und seinen Schutzgott Apoll. Gegen eine vermeintliche Verherrlichung der sexuellen Gewalt spricht darüber hinaus die Tatsache, dass der Erzähler für die Empfindungen und Gefühle von Frauen, die den Göttern zum Opfer fallen, oft Verständnis zeigt und sich z. B. in die in eine Kuh verwandelte Io einfühlt (met. 1, 639–657). Ovid schildert die Episoden, in denen Frauen Gewalt und Grausamkeit durch Götter und Göttinnen erfahren, aus einer Perspektive, die die Rezipienten dazu verleitet, selbst Schlussfolgerungen darüber zu ziehen, wie ungerecht und willkürlich die Mächtigen Gewalt ausüben. Arachne stellt genau diese willkürliche Gewalt auf ihrem Teppich heraus (s. o.), weshalb sich die Frage stellt, inwieweit Ovid seine Darstellungsweise der Götter mit derjenigen Arachnes identifiziert. Ovids Erzählungen über das sexuell ausschweifende Verhalten der unersättlichen Götter, die ihre Opfer durch Täuschung überwältigen, leiten die Rezipienten also zum Nachdenken über die göttliche Devianz und die Konzepte von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit an. Ovid schildert Jupiter in den Metamorphosen sehr ambivalent; einerseits sorgt der Gott für Ordnung und Gleichgewicht im Himmel und auf der Erde, wenn er z. B. Phaethon mit einem Blitz tötet (met. 2, 311–313), um die Schäden zu begrenzen, die dieser mit seiner wilden Fahrt mit dem Sonnenwagen anrichtet, oder wenn er die Giganten tötet, die die Herrschaft im Himmel an sich reißen wollen (met. 1, 151–162). Andererseits schildert Ovid Jupiter als einen Gott, der gerade die Flüsse und Wälder nach dem von Phaethon verursachten Brand wiederherstellt und sich nebenbei in Callisto verliebt. Den Wechsel vom Jupiter, der die Ordnung wiederherstellt, zum verliebten Göttervater beschreibt Ovid knapp in zwei Versen (2, 409–410). Was ist aus diesem unvorteilhaften Bild des Gottes als Schürzenjäger und Vergewaltiger zu schließen? Ovid

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dekonstruiert die epische Würde des allmächtigen und erhabenen Jupiter in seinen Schilderungen von dessen Verhalten gegenüber den Personen, die ihm unterlegen sind, indem er ihn sehr wenig schmeichelhaft charakterisiert (Segal 2001, 95). Aus dieser Feststellung lässt sich auf einen wichtigen narrativen Zusammenhang in den Metamorphosen schließen: Ovid verherrlicht keineswegs den sexuellen Missbrauch, sondern schildert die Götter, die Augustus nahe stehen, durch ihr sexuell deviantes und gewalttätiges Verhalten als ungerecht.

31.2 Das weibliche Begehren und die Geschlechtsverwandlung Ovid schildert häufig nicht nur männliches, sondern auch weibliches Begehren in extremen Formen; so liebt Byblis ihren Bruder (met. 9, 454–665) oder Myrrha ihren Vater (met. 10, 311–502). Der Dichter beschreibt die erotische Erregung der Nymphe Salmacis folgendermaßen: cum puerum vidit visumque optavit habere (»als sie den Knaben sah und beim ersten Sehen begehrte«, met. 4, 316). Salmacis handelt zunächst zurückhaltender als die oben erwähnten männlichen Gottheiten. Sie entbrennt in ihrer Liebe zu Hermaphrodit, lässt sich aber nicht von seiner ersten Abweisung einschüchtern, sondern beobachtet ihn in einem Busch versteckt (V. 339–340). Als Hermaphrodit nackt im Quellwasser badet, kann Salmacis ihr Begehren nicht mehr zähmen (V. 346–355), sie springt ins Wasser, stiehlt ihm Küsse und bedrängt ihn (V. 357–360). Da ihre Kraft nicht mit der der olympischen Götter vergleichbar ist und sich Hermaphrodit weiter ihren Umarmungen verweigert, umschlingt sie seinen Körper und bittet die Götter, sie mögen sie und ihn unzertrennlich machen (V. 317–372). Die Götter erhören tatsächlich Salmacis’ Gebet – möglicherweise verstehen sie es aber falsch – und verwandeln beide ineinander verschlungene Körper in eine einzige Gestalt, einen Zwitter (met. 4. 375–379). Das Geschehene kann wie bei jeder Metamorphose niemand rückgängig machen. Da Hermaphrodit seine Eltern, den Gott Hermes und die Göttin Aphrodite/Venus, darum bittet, dass das Wasser jeden, der in ihm badet, weiblich werden lässt, wird die Quelle Salmacis als diejenige bekannt, die semimares, semiviri (»Halbmänner«) schafft (V. 381–388). Dass die Verweiblichung als physischer und psychischer Zustand dargestellt wird und damit der modernen Gendertheorie entspricht, nach der das Geschlecht nicht lediglich durch die biologischen Eigen-

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V  Themen und Konzepte

schaften bestimmt wird (s. o.), lässt Pythagoras’ Verweis auf die Quelle Salmacis schließen. Der Philosoph hebt hervor, dass Salmacis mit ihrem entmannenden Wasser nicht nur die Körper, sondern auch die Seelen verändert (met. 15, 317–320).

31.3 Die Minyaden und das literarische Programm Alcithoe, eine der Töchter des Minyas, erzählt ihren Schwestern den eben besprochenen Mythos über Salmacis und Hermaphrodit. Narratologisch ist die Genderrelevanz der Erzählung über die Minyaden deutlich markiert, Alcithoe erzählt von der Geschlechtsverwandlung des Hermaphroditen (met. 4, 276–388), unmittelbar bevor der geschlechtlich ambivalente Gott Bacchus sie und ihre Schwestern mit Verwandlung bestraft, weil sie seinen Kult vernachlässigen. Anstatt an den Bacchusritualen teilzunehmen (met. 4, 1–2, 390) und dafür ihre Wollarbeit niederzulegen, verrichten die Minyaden Tag und Nacht ihre Spinn- und Webarbeiten und überwachen bei dieser Arbeit ihre Sklavinnen. Die Minyaden halten die Rituale im Bacchuskult schlicht für erlogen (met. 4, 37: commentaque sacra), Bacchus zählen sie nicht zu den mächtigen Göttern (met. 4, 272–273) und lehnen ihn als neuen Gott (met. 3, 520) mit seinen neuen und deshalb ignota ... sacra (»unbekannten Ritualen«, met. 3, 530) strikt ab. Damit ihre Ohren nicht »unbeschäftigt« (met. 4, 41) bleiben, erzählen sie sich neue, unbekannte und unerhörte Erzählungen, was ihre Vorliebe für literarische Innovationen verrät (vgl. Mateo Decabo 2015, 25). Auch in dieser Hinsicht gilt Ovid als sehr innovativer Dichter. Er folgte dem literarischen Stil des hellenistischen Dichters Kallimachos, der seine Poetik als einen Weg abseits der ausgetretenen Pfade bezeichnet (vgl. Fr. 1, 25–28 Pfeiffer). Darüber hinaus ist es auffällig, dass sich Ovid und andere augusteische Elegiker der der Wollarbeit – einer idealtypisch weiblichen Tätigkeit, die zur oft gepriesenen weiblichen Tugend führt – entlehnten Metapher deducere bedienen, um ihre Gedichte als »fein gesponnen« zu bezeichnen und um das kallimacheische Stilideal des Kleinen und Feinen (leptón) zu berücksichtigen (vgl. Mateo Decabo 2015, 20, 25). Die Metamorphosen sind eine Serie von Mythenerzählungen, die durch das zentrale Verwandlungsprinzip zusammengehalten werden. Dass die Verschränkung von Web- und Dichtkunst in den Metamorphosen programmatisch ist, zeigt der Erzähler, indem er die Götter bittet, sie sollen sein Gedicht bis in

seine Zeit »fortspinnen« bzw. »fortweben« (deducite, met. 1, 4). Ovid projiziert seine eigene Poetik, die offen für neue Stoffe und literarische Innovationen ist, z. B. das Spiel mit den Gattungsgrenzen der Elegie und des Epos, auf weibliche Figuren. Wie bereits erwähnt, steht die Weberin Arachne Ovids Darstellungsweise der Götter in seinen Werken sehr nahe. Ovid als männlicher Erzähler legt seine eigenen literarischen Vorlieben ausgerechnet Frauenfiguren in den Mund. In der Exildichtung ist in einigen weiblichen Figuren Ovids Selbstcharakterisierung zu entziffern (Fulkerson 2005, 146); so inszeniert Ovid die Dichterin Perilla und sich selbst als unsterbliche Dichter (trist. 3,7; zur Poetik der dichterischen Existenz vgl. Möller 2013). Patricia Salzman-Mitchell (2005, 165) zufolge sind die Metamorphosen eine Mischung aus »männlicher« Epik und »weiblicher« Fluidität, deshalb vertritt die Autorin die These, dass die Geschlechtszuschreibungen in den Metamorphosen ins Wanken geraten. Diese Idee verträgt sich gut mit dem programmatischen Wandlungsprinzip der Metamorphosen. Ovid präsentiert die Geschlechterkategorien als instabil (vgl. Lämmle 2005, 201 für die Geschlechtsverwandlung von Iphis, met. 9, 666–797; Sharrock 2002, 95). Auch die Geschlechtsidentitäten schildert Ovid im Prozess der Verwandlung (Salzmann-Mitchell 2005, 165). Alles verändert sich in den Metamorphosen, nichts bleibt bestehen, das Geschlecht wird dem Verwandlungsprinzip unterzogen, auch das Geschlecht des Erzählers.

31.4 Spiel mit Weiblichkeit und Männlichkeit in den Heroides Aufschlussreich ist Ovids narratologisches Spiel mit dem Geschlecht besonders in den Heroides. Der Titel, Briefe der Heroinen, kündigt heroische Themen an, die Protagonistinnen und Protagonisten sprechen aber über die elegischen Themen und Motive wie Liebe, Liebesverrat und Liebestränen, welche traditionell der weiblichen Domäne und der Elegie, die als weibliche Gattung gilt (vgl. Fulkerson 2005, 144, Anm. 4 und 6), zugeschrieben wurden. Ovids Heroinen beharren manchmal auf stereotypen geschlechtsspezifischen Eigenschaften; so erzählt Hermione in der Gefangenschaft des Pyrrhus, sie habe sich nach Kräften gewehrt, aber: cetera femineae non valuere manus (»zu mehr waren meine Frauenhände nicht imstande«, epist. 8, 6). Sie droht ihrem Entführer Pyrrhus mit ihrem »Herrn« und Beschützer Orest (epist. 8, 7–8), mit dem sie verlobt ist; somit beruft sie sich auf das Rol-

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lenschema ›weibliches Opfer – männlicher Retter‹. Um Orest aus seiner Passivität zu locken, erinnert ihn Hermione an seinen idealtypischen männlichen Mut und seine Tapferkeit: nec virtute cares (»du bist nicht feige«, epist. 8, 49). Um Mitleid mit sich selbst als wehrloser Frau zu wecken, schildert sie ihre eigenen hilflosen Tränen (8, 61–64). Wenn Hermione ihre Eltern Menelaus und Helena als epische Figuren erwähnt (epist. 8, 19–22), instrumentalisiert sie den Stoff der Heldendichtung für ihre persönlichen elegischen Belange. Wenn Ovid Heroinen sprechen lässt, überführt er seine männliche Erzählerstimme und den männlichen Blick in eine weibliche Perspektive, womit er ihnen Stimme und Autorität verleiht, um die eigene Wahrnehmung ihrer Situation darzulegen (vgl. Fulkerson 2005, 145). Das Spiel mit den geschlechtsspezifischen Stereotypen ist noch verwirrender, wenn Ovid seine Erzählerstimme Heroinen leiht, die nicht nur eine männliche Perspektive, sondern auch eine männlich-fordernde Haltung einnehmen, z. B. wenn Hermione Orest befiehlt, er solle sie nicht mit vielen griechischen Soldaten aus der Gefangenschaft retten, sondern: ipse veni! (»komm selbst«, epist. 8, 24). Im Gegensatz zu Ovids Amores und seinen Vorgängern, die Elegien verfassten, wie Properz und Tibull, und dabei in ›weibliche‹ Rollen schlüpften, konstruiert Ovid häufig eine doppelte Rollenumkehrung der geschlechtlichen Konstruktion des Erzählers. Durch geschlechtlich ambivalente Charakterisierung der Figuren, d. h. Heroinen, die ›männlich‹ argumentieren, und Rollenbrüche (die Gefangene Hermione, die Orest befiehlt, sie zu retten) entlarvt Ovid den inszenierten Charakter der geschlechtsspezifischen Identitäten (zu geschlechtsspezifischen Ambivalenzen und Brüchen im Briseis-Brief vgl. Feichtinger 2018, 87– 89). In einer Zeit, in der Augustus traditionelle stereotype Frauenbilder propagierte, z. B. weibliche Keuschheit, traditionelles Familienleben und Kinderreichtum für die Elite (Šterbenc Erker 2013, 45–46), stellten Ovids literarische Spiele mit dem Geschlecht sicherlich eine Gegenwelt dar.

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Darja Šterbenc Erker

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V  Themen und Konzepte

32 Liebe, Leidenschaft, Erotik  Ovid ist formal und inhaltlich ein Dichter der Vielfalt. Doch ein Thema bildet als Sujet und als formbildende Kraft das Zentrum seines Schreibens von den Amores bis zu den Remedia amoris, das auch noch für das spätere Schaffen, das von Göttern und seinem Exil erzählt, grundlegend bleibt: die Liebe. Diese Einschätzung wird von Ovid selbst nahegelegt, der sich von Anfang an programmatisch als Dichter der Liebe wie als liebender Dichter präsentiert. Mit seinem Cognomen Naso bekennt er in den Amores, die man als »Liebeserfahrungen« übersetzen kann (Gauly 1990, 33 ff.), Dichter seiner erotischen Aktivitäten zu sein (am. 2, 1–2). Die für das »elegische System« (Spoth 1992, 16 ff., 121–122) typische Personalunion von poeta und amator setzt sich aber auch nach den im engeren Sinn als Liebesdichtungen zu verstehenden Werken Ovids fort. In den Fasti versichert er der Liebesgöttin Venus, dass er auch im epischen Erzählen ausschließlich ihr treu geblieben sei: »Dich hab’ ich ständig im Sinn, dich nur – was immer ich tu’!« (fast. 4, 8) Im späten Selbstporträt (trist. 4, 10, 1) nennt er sich auf sein Lebenswerk rückblickend »tändelnder Dichter der zärtlichen Liebe« (tenerorum lusor amorum) und reiht sich in die Literaturgeschichte als vierten Liebeselegiker nach Gallus, Tibull und Properz ein (trist. 4, 10, 53–54). Diese Selbstverortung entspricht Ovids früherer, nicht minder selbstbewusster Positionierung als weltweit gelesener Liebesdichter im Anschluss an die frühgriechische, hellenistische und römische Dichtungstradition (ars 3, 329–346; rem., 361– 398), der in einer für die Elegie typischen recusatio auf Heldendichtung zugunsten der leichteren Liebesmuse verzichtet habe (am. 1, 1; 2, 1, 11–22; 2, 18, 1–34). Zugleich beansprucht Ovid bis in die Exilelegien hinein immer wieder, nicht nur Dichter, sondern auch ein leidenschaftlicher Liebhaber zu sein: In den Amores bekennt er seine Liebe zu Corinna, der biographisch nicht näher charakterisierten puella/domina seiner Elegien, aber auch zu anderen Frauen einschließlich Sklavinnen (am. 2, 2; 2, 8 und 10), ja zu allen Frauen Roms in ihrer schieren Vielfalt (am. 2, 4, 9–48). Er besingt den Liebesakt und die Zärtlichkeit zwischen sich und seiner Geliebten (am. 1, 5; 13, 6; 2, 12, 2; 18, 6–10) und stellt machistisch, aber nicht ohne Ironie seine erotische Standhaftigkeit heraus, wenn er bekundet, verschiedene Frauen in kurzer Zeit gleich mehrfach befriedigt zu haben (am. 3, 7, 23–26) und zu großer Ausdauer fähig zu sein: »Noch kein Mädchen ist von meiner Leistung enttäuscht gewesen. Oft hab

ich die Stunden der Nacht mit Liebesspielen zugebracht und war am nächsten Morgen frisch und bei Kräften« (am. 2, 10, 23–28). Entsprechend begründet der Dichter in der Liebeskunst seine Motivation zum Verfassen des Werks und seine Lehrautorität in erotischen Dingen nicht mit einem für Lehrdichtung typischen Musenanruf, sondern mit seiner eigenen Erfahrung (usus; ars 1, 29) und verweist mehrfach auf seine erotischen Erlebnisse und Gefühle (z. B. ars 2, 169–170; vgl. am. 1, 7; ars 2, 547–548; rem. 311–314), von denen er angeblich die meisten unerwähnt gelassen habe (ars 2, 639–640). Selbst das Antidot der Liebe, die Remedia, habe er, schreibt Ovid, in fortwährendem Liebesfeuer verfasst (rem. 7–8). Noch im Exil charakterisiert Ovid sich nach der Darstellung seiner Dichterbiographie als einen Mann, der mit drei Frauen verheiratet war, aber auch fortwährend erotisch »vom winzigsten Funken entbrannte«: »Stets war zärtlich mein Herz und erlag den Geschossen Cupidos/ leicht: ein Geringes schon war, es zu erregen, genug« (trist. 4, 10, 67; 65–66). Die beiden Rollen poeta und amator sind zwei untrennbare Seiten derselben ovidischen persona. Wie aber ist ihre Verbindung zu verstehen?

32.1 Erotische Poetik und poetische Erotik Ovid steht als Dichter der Liebe in einer von ihm selbst mehrfach thematisierten literaturhistorischen Tradition, die vom mythischen Epos Homers und Hesiods und der frühgriechischen Liebesdichtung etwa bei Mimnermos, Anakreon oder Sappho und die Liebesthematik in der griechischen Tragödie über die hellenistische Gelehrtendichtung, insbesondere von Philetas, Kallimachos oder Parthenios, die philosophischen Texte zur Liebe seit Platon und die hellenistische Naturphilosophie (insbesondere Lukrez), die erotische Epigrammatik und die kaum erhaltene hellenistische Liebeselegie, den »Neoteriker« Catull als den ersten großen erotischen Dichter Roms und die römische Komödie bis zu seinen Kollegen im Kreis um Macer und den unmittelbaren Vorgängern in der Liebeselegie, Gallus, Properz und Tibull, reicht, also etwa 700 Jahre Literaturgeschichte zum Thema Liebe, Leidenschaft und Erotik umfasst (am. 1, 15, 9–30; 3, 9; 3, 15, 7; ars 3, 329–34; epist. 13; rem. 756–766; trist. 2, 363–470; 4, 10, 43–54). Auch auf Ennius, Cicero, Vergil, Varro, Calvus, Horaz und andere römische Denker und Dichter sowie auf die reichhaltige, wenngleich kaum überlieferte pornographische Literatur des Hellenismus bezieht

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_32

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sich Ovid vielfach, deren (vermutliche) Obszönitäten er aber vermeidet. Die Selbstdarstellung als einerseits liebender Dichter und andererseits dichtender Liebhaber ist ein Kennzeichen der Römischen Liebeselegie, das wir bereits bei Tibull und Properz finden. Ein Dichter ist von Liebe zu einer für ihn unerreichbaren Frau (oder einem Mann) entbrannt, so dass er zum Liebesdichter wird und sein vergebliches Werben, seine Erlebnisse und Gefühle für die Angebetete besingt. Stets ist Ovid nicht nur Zitierer und Fortsetzer, sondern im Sinne der aemulatio auch Überbieter, Vollender und Dekonstrukteur von Traditionen des Dichtens und Denkens unter dem Stern der Liebe. Mit dem Verhältnis zwischen Liebhaber und Geliebten arbeitet er auf eine eigene, hintergründige Weise. Liebe ist für Ovid nicht nur Gegenstand seiner Dichtungen, sondern stellt auch die literarisch formbildende Kraft dar. Dichtung wiederum ist zum einen Wirkung, zum anderen Ursache von Liebe. Poesie und Liebe bedingen und befördern sich gegenseitig. Liebe, Leidenschaft und Erotik bestimmen die Poetik von Ovids elegischer Dichtung daher bis in den Versbau hinein. Nicht er hat sie sich nämlich zum Gegenstand gewählt, sondern sie ihn zu ihrem poetischen Medium, wie Ovid programmatisch im Eröffnungsgedicht der Amores durch eine mythische Urszene zu verstehen gibt: Amor/Cupido stiehlt dem zur Heldendichtung bereiten Dichter einen Versfuß, so dass aus einer Kette von Hexametern elegische Distichen werden (am. 1, 1, 3–4, 27 und 30). Durch Amor wird der Dichter also auf die Gattung der Elegie festgelegt, die der Liebe (amor) als Sujet angemessen ist. Erst danach sorgt der listige Liebesgott für die Einheit von Form und Gehalt, indem er den Dichter durch einen Pfeilschuss verliebt macht, so dass dieser über einen Jungen oder ein Mädchen wird schreiben können (19–26). Amor ›verletzt‹ also zunächst die Poesie, dann den Poeten selbst. Beide Machtdemonstrationen dienen nur dem einen Zweck: der elegischen Liebesdichtung. Ovid präsentiert sich demnach als Amors »neueste Beute« (nova praeda; am. 1–2, 19), als die er sodann wiederum von einem Mädchen erbeutet (praedata) wird (am. 1, 3, 1), so dass er gar nicht anders kann, als in einem der Liebe angemessenen Versmaß über Liebe zu schreiben. Ab da ist es seine Geliebte Corinna (am. 1, 5, 9), die ihn bei der Elegie hält (am. 2, 18, 6–11; 3, 12, 16). Die Funktionen dieser Eröffnung von Ovids Schaffen sind zum einen die Selbstdefinition als Elegiker im Anschluss an Gallus, Tibull und Properz und zum anderen eine strategische Legitimierung, statt des im au-

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gusteischen Rom angesehenen Heroen- das poetisch jüngere und leichtere Erotikgenre der Liebeselegie zu wählen. Dabei zeigt Ovid sich vom ersten Wort an als literarischer Kommentator von Literatur: Zwar reiht er sich ein in die Riege der Liebeselegiker, aber unterscheidet sich doch gleich zu Beginn von ihnen. Denn bei Properz ist es von Anfang an eine Frau, Cynthia, die den Dichter zum Schreiben nötigt (Prop. 1, 1, 1–2), bei Ovid ist es dagegen die Liebe selbst, die ihm die Schreibhand in den Elfsilber führt, bevor eine Frau, über die er schreiben kann, hinzutritt. Während bei Properz Amor im vierten Vers das Haupt des Dichters mit Füßen (pedibus) zu Boden drückt (was der ovidische poeta später mit Amor machen wird: am. 3, 11, 5), stiehlt er in Ovids Eröffnungselegie ebenfalls im vierten Vers dem Dichter einen (Vers-) Fuß (pedem). Dieser Vers ist selbst ein ›bestohlener‹, ein Pentameter, zeigt also in seiner Form das, was mit ihm gesagt wird. In diesem Kommentarspiel verschränkt Ovid sich und Properz zugleich mit Vergil und der Heroendichtung: Denn während das erste Wort in Properz’ Elegiensammlung der Name seiner Geliebten Cynthia ist, lässt Vergil seine Aeneis mit arma, den Waffen, beginnen (Aen. 1, 1). Ebenso setzt Ovid arma als erstes Wort seiner Amores, um dann aber unmittelbar durch Amor zur kleineren, seit Kallimachos popularisierten Form der Liebesdichtung in Properz’ Nachfolge umgeleitet zu werden, noch bevor er überhaupt gewichtige Heroendichtung wie Vergil hat schreiben können. Bezeichnenderweise ist das Wort, das den dritten, katalektischen Versfuß in Vers 2 beendet und durch die folgende Zäsur den Pentameter und damit das elegische Distichon zum ersten Mal hörbar macht, materia: der »Stoff«, den Amor sogleich kapert (am. 1, 1–2). Diese poetische Materie, der die Frau als Gegenstand der Liebe (materiam [...] amori) entspricht (ars 1, 49; Myerowitz 1985, 104 ff.), wird es sein, die die erotischen Dichtungen Ovids in seinem weiteren Schaffen bestimmen wird. In Ovids Selbstdarstellung als Dichter der Liebe aus Liebe liegt auch eine poetologische Theorie der Entstehung von Dichtung. Sie setzt aktive Bereitschaft (parabam) (am. 1, 1, 1), Gelehrtheit – Ovid präsentiert sich in hellenistischer Tradition als poeta doctus – und Begabung (ingenium) aufseiten des Dichters voraus, aber sie entsteht nur zusammen mit der Macht und Eigengesetzlichkeit des jeweiligen poetischen Stoffs. Die Liebe selbst wird somit zum Grund gelingenden Dichtens. Anders als der technisch versierte Rhetoriker auf dem Forum ist der Dichter nach Ovid nicht nur ein aktiver Sprachartist, sondern auch ein von Amor Ver-

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V  Themen und Konzepte

wundeter (am. 1–2, 7–8; ars 1, 21–22), ein von seiner »Feuerglut« (fervida [...] flamma) (am. 1–2, 46), die zum Dichten drängt, Ergriffener. Damit verbindet Ovid zwei unterschiedliche Modelle der künstlerischen Produktion im antiken Denken: das aktive, regelhafte, rationale Herstellen (poiēsis), das Aristoteles in seiner Poetik und auch Horaz in seiner Ars poetica behandeln, und das regel- und vernunftlose Begeistertsein (mania), von dem Platon Sokrates als einer gleichsam magnetischen, göttlich induzierten Kraft der Dichter in seinen Dialogen Ion und Phaidros erzählen lässt (Roth/Trautsch/Möller 2017, 271; Menke 2013, 11 ff.). Die Forschung hat im späten 20. Jahrhundert die elegischen Frauenfiguren als rein literarische Figuren, »written women« bzw. puellae scriptae (Wyke 1987, 1989, 1994) und »poetische Konstrukte« (Holzberg 2015, 9) beschrieben. Auffällig ist, dass Ovid die Frauenkörper, insbesondere Haare und Haut (meist ab den Schultern abwärts), mit dem Vokabular aus Poetik und Rhetorik beschreibt, so dass sie wie kosmetisch, nämlich rhetorisch und poetisch gestaltete Texte wirken (Myerowitz 1985, 104 ff.). Dadurch werden sie nicht nur zur Quelle, sondern auch zur Materie der Dichtung in einem buchstäblichen Sinn (Sharrock 2002, 151), die zur Imagination des weiblichen Körpers im männlichen Blick einlädt (Rosati 2018). Ovids elegisches Dichten wurde entsprechend als gezielte ›Frauenherstellung‹ (womanufacture) im Medium von Texten charakterisiert (Sharrock 1991). Konsistent mit dieser Einschätzung ist die Interpretation der ovidischen Liebesdichtung vom Gros der neueren Forschung als so gelehrtem wie ironischem intertextuellem Spiel, das die Gattung der Liebeselegie zitiert, mit ihr persiflierend spielt und sie kritisiert. Demnach lässt sich Ovids Selbststilisierung als Don Juan (am. 2, 4) nicht nur als Aussage über sein Begehren nach weiblicher Vielfalt, sondern auch über seinen Ehrgeiz verstehen, sich einer Vielfalt von literarischen Formen zu widmen. Doch die Ambiguität, die Ovids poetisches Spiel durchzieht, wirkt sich auf die Unterscheidung von Künstlichkeit und Authentizität selbst aus. Es ist nie eindeutig, ob es ihm allein um intertextuelle Literaturproduktion oder nicht auch – seit den Amores – um das ernsthafte Plädoyer für eine friedliche Liebesform in erotischer Freiheit gegen die augusteischen Sittlichkeitsvorstellungen geht. Gewiss entzieht er sich – wie auch die übrigen Liebeselegiker – jeder naiv realistischen Lesart, die seine Amores als versifizierte Berichte über die erotischen Abenteuer des Publius Ovidius

Naso und seine Liebeskunst als pädagogisches Lehrbuch eines Sexualwissenschaftlers missverstünde. Denn von Anfang an macht er durch seine Verweise auf die gesamte antike Literaturgeschichte und sein virtuoses Spiel mit bekannten Motiven der Liebeselegie deutlich, dass es bei ihm um höchst anspruchsvolle, selbstreflexive Literatur mit gewitzten und subtilen rhetorischen Strategien geht, in denen der vordergründige Gehalt stets auf die Form und Materialität von Poesie selbst verweist. Er besteht entsprechend auf die reine Literarizität seiner Figur Corinna (am. 3, 12, 42–44; trist. 4, 10, 60) wie auf die der mythischen Figuren überhaupt, deren Liebesnarrative als – sachlich meist nicht besonders hilfreiche – exempla in seine didaktischen Schriften eingefügt werden (Heldmann 2001). Auch spielt er auf bloß erdichtete Liebe (trist. 2, 340) und die Fiktionalität seiner Werke überhaupt an, wenn er die aus Catull 16 bekannt Distinktion von Dichtung und sittlicher Lebensführung bekräftigt (trist. 2, 355; 3, 2). Zudem liefern bereits die Amores den Beleg dafür, dass der dichtend-liebende Sprecher sowohl als poeta als auch als amator bewusst unzuverlässig ist. Er lügt vor den Augen der Leser Corinna an (am. 2, 7 vs. 2, 8) und empfiehlt seinem Publikum, den Behauptungen in seinen Gedichten lieber keinen Glauben zu schenken, da die Phantasie der Dichter »ihr Wort nicht zu historischer Treue« verpflichte (am. 3, 12, 19; 41–42). Doch auch diese Aussagen und Anspielungen sind Teil eines literarischen Spiels, bei dem keine Aussage historischen oder wissenschaftlichen Wahrheitsan­ sprüchen genügen muss – paradoxerweise auch solchen nicht, die die Poetizität der Liebesgeschichten und -figuren behaupten. Das Dichter-Ich Nasos spielt mit dem biographischen Selbst Ovids und möglicher Liebschaften in der Imagination der gebildeten wie neugierigen Leserinnen und Leser Spiegel- und Versteckspiele. In Ovids Intertextualität liegen Authentizitätseffekte, zumal mehrere Namen der römischen Zeitgeschichte von Familienangehörigen über Freunde und Kollegen bis zur Familie des princeps in seinen Schriften vorkommen. Zudem ergäbe das mehrfache Bekenntnis in der Liebeskunst, sich aus legale Gründen nicht an respektable Matronen zu wenden (ars 1, 31–34; 2, 599–600; 3, 57–58; 483; 613–616), keinen Sinn, wenn es sich bei der Schrift ausschließlich um ein als erotisch folgenloses, rein literarisches Unterfangen handelte. Wenn der Dichter bekundet, Corinna durch seine Liebeselegien überhaupt in Rom erst bekannt gemacht zu haben (am. 3, 12, 5–20; vgl. bereits 2, 5 und die Ele-

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gie am. 3, 1, 21–22, in der der Dichter selbst zum Gerede in der ganzen Stadt geworden ist), lässt sich das wie immer bei Ovid sowohl als These über ein reales, literarisch mit Pseudonym transformiertes Individuum als auch über eine rein literarische Figur bzw. als eine Allegorie auf seine Dichtung selbst verstehen. Entsprechend kann man sein nachlassendes Feuer für sie (am. 3, 11) sowohl als über die Zeit durch Enttäuschungen erschlaffendes Begehren als auch als durch seine Amores abgearbeitetes Interesse an der allegorischen Figur der elegischen puella bzw. domina lesen. Ovid schafft so eine dichterische persona, die eine Unschärfe zwischen Kunst und Leben auszeichnet. Indem sich seine Leser nie ganz sicher sein können, ob (und was) zitiert oder/und bekundet, empfohlen oder/und persifliert, gelitten oder/und gespielt wird, werden sie nicht nur auf literarische Traditionen und eine diskret umspielte private Intimität verwiesen, sondern auch auf sich selbst. Wie Amor den Dichter erschafft und die Geliebte ihn am Dichten hält, erschafft und erhält dieser den Gott und die Frau als Figuren. In den Metamorphosen wird diese Erotopoetik am Mythos des Pygmalion durchgespielt, der aus erotischem Mangel eine höchst lebendig wirkende Frauenskulptur erschafft, in die er sich verliebt (met. 5, 243–297). Liebe (als Sehnsucht) erzeugt hier die Kunst, die wiederum Liebe erzeugt, so dass aus Kunst Lebendiges zu werden vermag. Ovid dreht dabei das mimetische Verhältnis von Natur und Kunst um: So ahmt der Bildhauer kein natürliches Modell nach, sondern schafft eine Frauenplastik von solcher Schönheit, »wie sie von Natur keine Frau besitzen kann« (met. 10, 248–249). Kunst kann, aus Liebe motiviert, noch erotischer verzücken als Natur, sie schafft lebendige Illusionen (Hardie 2002a, 173 ff.). Dass Literatur und Liebe in einem sich gegenseitig bedingenden, fordernden wie fördernden Verhältnis stehen, hat daher auch einen literaturgeschichtlichen Sinn. Es geht bei Ovid nicht nur um die Liebe zu Frauen, sondern auch um die zur poetischen Sprache. Zum einen erscheint Ovids Dichtung selbst (Boyd 1997, 132 ff.), zum anderen die gesamte Historie des griechischen und römischen Denkens und Schreibens seit Homer und Hesiod nach Art einer vielstimmigen Geliebten, die der Dichter zitierend, anspielend, verändernd seinen Lesern wie seine amica vermittelt, wobei sie sich als puella dura aber auch der Einverleibung widersetzt: Ovid überbietet und vollendet manche Tradition, die er sich aneignet, wie die der Elegie, aber die Referenztexte werden dadurch nicht weniger prä-

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sent in der weiteren Rezeption, eher schärft sein Spiel mit ihnen noch das Bewusstsein für deren Eigenart. Wie aber verknüpft Ovid literarisches Verweisspiel und Liebesdichtung, um eine möglichst intensive ästhetische Wirkung zu erzielen?

32.2 Mehrdeutigkeit und Erregung Während die klassische Rhetorik die Mehrdeutigkeit (ambiguitas) aufgrund des Mangels an Klarheit kritisch sah (z. B. Quint. inst. 8, 2, 16), leistet Ovid mehrdeutigen Lektüren geschickt Vorschub. In seinen Texten bleibt ungewiss, ob sie von einer erprobten Lebensform künden und zu dieser anleiten, also über ihre Textnatur hinausweisen (Wildberger 1998, 381), oder ob sie ein rein literarisches Spiel sind, sich also nur innerhalb der Welt von Dichtung bewegen (Dalzell 1996, 136). Darin besteht aber kein Defizit, kein Mangel an Klarheit, sondern die spielerische Freiheit von Poesie, die eine Pluralität an Lesarten erlaubt (Thalmayr 1990, VI–VIII). Um ein Beispiel für diese ›Polyphonie‹ (Albrecht 2003, 47; Holzberg 1997, 16, 22) in der Liebesdichtung zu geben, sei der politisch-juristische disclaimer der Liebeskunst angeführt: In ihr, so der Dichter, werde »kein Verbrechen gelehrt« (ars 1, 34). Die semantische Ebene der Negation erscheint auf den ersten Blick eindeutig. Doch auf der Ebene der poetischen Tropen wird sie zugleich konterkariert. Denn die benachbarten Wörter carmen (Lied) und crimen (Verbrechen) erzeugen eine Assonanz, die sie dem Ohr als verwandt erscheinen lässt. Zudem bilden sie auf der materiellen Ebene der Schrift ein unvollständiges Anagramm, sind also fast aus denselben Buchstaben gebildet (vgl. das in der Liebeselegie bekannteste Anagramm, das Rom [ROMA] als Stadt der Liebe [AMOR] kenntlich macht). So erscheint in der für die spätere Selbstrechtfertigung Ovids wichtigen Passage der Liebeskunst (1, 31–34, vgl. trist. 2, 247–259) eine Paronomasie von Gedicht und Verbrechen, beide schließen sich semantisch aus, während sie sich phonetisch und buchstäblich ähneln. Auf dieses Widersprüche vermittelnde Spiel, das nur in der Polyphonie mehrdimensionaler Poesie möglich ist, kommt Ovid später explizit zurück, wenn er bekundet, wegen zweier Verbrechen (crimina), nämlich eines Lieds (carmen) und eines Fehlers (error), verbannt worden zu sein (trist. 2, 207, s. auch 2, 240). Dass wir nicht eindeutig entscheiden können, ob diese Stelle intertextuelle Allusion, juristische Selbstaussage oder beides ist, bildet die poetolo-

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V  Themen und Konzepte

gische Pointe: Ovids Dichtung öffnet einen mehrdimensionalen Tiefenraum, in dem sich Geschichte und Gegenwart, literarisches Spiel und ethische Lebenskunst im selben Atemzug verbinden. Sicher scheint in Ovids Liebespoetik nur, dass gerade ihr mehrschichtiger Anspielungsreichtum in strukturellem Gegensatz zu der auf Eindeutigkeit der Interpretation zielenden Sprache der Ehebruchgesetze des Augustus steht, gegen die mit seiner Liebeskunst verstoßen zu haben Ovid nach eigenem Zeugnis vorgeworfen wurde (trist. 2, 211–212). Was aber hat diese Poetik der semantischen Polyphonie nun mit der Erfahrung von Liebe zu tun, die fast das alleinige Sujet von den Amores bis zu den Remedia ist? Was sie gerade zu einer erotischen Poetik macht, ist ihr uneindeutiges, aufregendes Spiel zwischen Implizitem und Explizitem, zwischen Diskretion und Offenbarung, das ebenso die Verliebten in Ovids Dichtung spielen. Klassische Philologen haben häufig Ovids einfach-eleganten Stil hervorgehoben, mit dem er schon in den Amores zum glänzenden Erzähler wird, der auf den Entwicklungsroman der Moderne vorausweist (Albrecht 2003, Holzberg 1997, Boyd 1997, Bretzigheimer 2001). Zugleich verbirgt sich hinter dieser stilistischen Oberfläche ein Tiefenraum, in dem auf andere Stellen in Ovids Werk wie auf die Literatur- und Philosophiegeschichte angespielt wird, als wäre alle antike Kultur in ihren vielen Stimmen zugleich anwesend. Dieser Raum wird nicht vom Autor ausgeleuchtet, kann sich der gelehrten und neugierigen Lektüre aber erschließen. Das Prinzip Ovids, auf das demonstrative Zeigen der Kunstmittel – und der Verführungs- und Liebesmittel – anstelle einer täuschend schönen Oberfläche zu verzichten (ars 2, 313; 389; 571; 601–640; 3, 155; 210), mit der der Leser, wenn nicht sogar Künstler selbst (met. 10, 252) über die Technizität des Gemachten getäuscht wird, bestimmt sein Dichten als Changieren zwischen Offensichtlichkeit und Verborgenheit. Das Prinzip findet sich auch in seiner Liebes- und Erotiklehre. Die Liebe blüht nach Ovid in heimlichen Täuschungsspielen auf, etwa der von anderen unbemerkten Intimkommunikation auf Symposien oder den wie Agentenpost durch die Stadt getragenen Liebesbriefen (am. 1; 4; 1, 11 und 12; ars 1, 437–486; 565– 602; 3, 467–498). Liebe braucht die Hindernisse, die sie überwinden kann wie Alpen oder den Hellespont, der Hero und Leander trennte und zugleich verbindet (am. 2, 16, 19–32, ars 2, 249–50; epist. 18 und 19; zum Fluss als unüberwindlichem Hindernis s. am. 3, 6). Denn erst durch Grenzen und Verbote wird freudianisch ge-

sehen das Begehren entzündet und die Leidenschaft verstärkt (am. 2, 19; 3–4). Daher lässt der Erotikexperte der Liebeskunst die intime, zwei Personen gegen die soziale Erwartung verbindende Liebe anders als das Gros der Liebesdichtung vor ihm in öffentlichen, dafür nicht vorgesehenen Räumen wie Theatern, dem Circus Maximus (auch in am. 3, 2), auf dem Forum, in Säulenhallen und Tempeln sowie auf Festen mit Trinkgelagen heimlich beginnen (Volk 2012, 118 ff.; Armstrong 2005, 115 ff.). Dieses spannungsgenerierende Moment der Täuschung der Beobachter ist ein Lebenselixier der Liebe. Ovid behandelt es als so bedeutsam, dass der poeta/amator in am. 2, 19 das vergebliche Werben des elegischen Liebesdichters ironisiert und den Ehemann der Angebeteten im Sinne einer paradoxen Intervention bittet, seine Frau besser zu bewachen, damit er in einer Mischung aus Liebe und Furcht weiter Interesse an ihr behalte. Denn er wolle einen Grund haben, um »ein erstklassiges Täuschungsmanöver liefern zu dürfen« (am. 2, 19, 50). Liebhaber und Dichter bekräftigen auch hier ihre ästhetische Personalunion im Zeichen spielerischer dissimulatio, die sie virtuos ausüben, wie sie sich auch Symposien gewillt dem Getäuschtwerden aussetzen (am. 3, 14; rem. 513). Wie in dieser verborgenen Kommunikation andere – vornehmlich Ehemann, Rivale und Wächter, aber im weiteren Sinn die Öffentlichkeit überhaupt – über die Liebe der beiden Liebenden getäuscht werden, sollen auch diese gegenseitig sowohl ihre Verführungstricks und Kunstmittel – leere Versprechungen, schmeichelnde Komplimente, Kosmetik, rhetorische Figuren, künstliche Sprachfehler, Körperpositionierungen, Manipulation des Gefühlsausdrucks durch vorgetäuschte Tränen oder gezielte Provokation von Angst und Eifersucht – als auch ihre Untreue voreinander verbergen (am. 3, 14, 29–30; ars 1, 443–444; 463–464; 631–662; 2, 295–314; 425–466; 3, 251–310; 461–462). Zudem empfiehlt der »Erotikprofessor« (Holzberg 1997, 19), körperliche Mängel zu verstecken und sich selbst beim Sex in vorteilhaften Stellungen und im schonenden Dämmerlicht zu exponieren, um über körperliche Schwächen hinwegzutäuschen (ars 2, 617–620; 3, 261–262; 807–808; vgl. die korrespondierende Stelle rem., 407–18, wo der Dichter rät, sich zur Schwächung des Begehrens bei hellem Licht in entsprechenden Stellungen auf die Makel der Geliebten zu konzentrieren). Bei dieser spielerischen gegenseitigen dissimulatio, aufgrund derer Holzberg die Liebeskunst als ars fallendi (Kunst des Täuschens) bezeichnet (1997, 104), geht es aber nicht um Ausnutzung und emotionale Hoch-

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stapelei wie bei Heiratsschwindlern, die am Ende gerade nicht an der Liebe, sondern am Geld interessiert sind. Ovid geht es allein um die erotisch-ästhetische Wirkung der Täuschungen. Diese sind zuweilen bessere Mittel, um Begehren zu wecken und Liebe zu nähren, als Evidenz und ungeschminkte Äußerungen. Alle täuschenden, ästhetischen Spiele haben den Zweck, Liebe zu finden, zu erzeugen und zu bewahren (so das Programm der ars 1, 35–38). Wer nur lang und gekonnt genug spielt, wird irgendwann auch fühlen, was er spielt (ars 1, 615–618, vgl. rem. 211–12, 497– 504). Erotische Lebenskunst und ästhetische Dichtkunst entsprechen einander bei Ovid: Dichtung soll die Frucht ästhetischer Erfahrung tragen und damit zugleich Liebe erregen. Ausdrücklich erklärt Ovid gelungene Dichtung als Stimulans und Medium der Liebe für diejenigen, die sich bereits verliebt haben (z. B. am. 2, 1, 5–10): »meine Liebe reizte viele andere zur Liebe« (am. 3, 11, 20), selbst Götter hätten von ihm lieben und verlieben lernen können (rem. 55–72). Noch in den Tristia gesteht der Dichter (reumütig?) gegenüber Augustus ein, dass seine Dichtung Menschen zur Liebe angeleitet habe (trist. 2, 314). Durch ihre didaktische Orientierung gewinnt seine Liebesdichtung auch erotogene Funktionen. Sie spricht ihre – textinternen wie -externen – Adressaten durch Interjektionen, Imperative, Ironie, Zur-Seite-Sprechen und Fragen wie eine inspirierende Lehrerin an, die sie in eine Art dialogische Komplizenschaft einbezieht (Sharrock 1994; Albrecht 2003, 45–47; Möller 2016, 23). Ovid geht es gleichwohl nicht darum, Dichtung nur als erotischen Brandbeschleuniger zu inszenieren. Im Gegenteil, die Nützlichkeit elegischer Dichtung für erotischen Erfolg wird von der römischen Liebeselegie von Anfang an in Frage gestellt. Der Liebende muss erfolglos bleiben und leiden, um dichten zu können. Die im Praktischen meist nutzlose Rede in Werbung und Sehnsucht (Holzberg 1997, 80 ff.) verweist auf die Eigenständigkeit des dichterischen Sprechens als eines nicht durch externe Zwecke rechtfertigungsbedürftiges ästhetisches Spiel, in dem sich Liebe als Diskurs artikulieren kann. Es leitet weniger zur sexuellen Erfüllung – in am. 1, 5 wird gerade nicht gesprochen, sondern geküsst und berührt, während die ausführlichen poetischen Werbungen und Klagen vor verschlossenen Türen wie in am. 1, 6 meist vergeblich bleiben –, vielmehr lässt es sich als eine Art Ersatz dafür verstehen. Bei Ovid ist das Dichten selbst Form des erotischen Begehrens, das immer wieder danach sucht, sich selbst zu erhalten und zu zelebrieren: Es

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ist eine geschriebene Liebe zum Schreiben (Oliensis 2019, 150 ff.). Daher ist Ovids Liebesdichtung auch nie pornographisch, obwohl ihr das seit dem Mittelalter immer wieder unterstellt worden ist. Denn pornographische Literatur will sexuell stimulieren, aber in der Regel nicht zum Lieben und Genießen ihrer selbst als Literatur animieren. Um das Neuentfachen und Erhalten des Liebens geht es Ovids Dichtung aber, insofern es ihr um das Dichten selbst geht. Es erzeugt einerseits Sinn, unterläuft seine Festschreibung andererseits im mehrdeutigen Spiel. So weist Ovids Liebe im und zum Schreiben voraus auf die zwei Formen der Lust an der Lektüre – plaisir und jouissance –, denen Roland Barthes (1974) an Texten der Moderne nachgeht. Weder Menschen, ihre Moral, Gesetze und Staaten noch die mythischen Götter bieten nach Ovid verlässliche Gründe für ein gutes Leben, sondern einzig die Aktivität des Liebens und des poetischen Sprechens aus und über Liebe. Sie manifestiert sich in Küssen ebenso wie in Versen. Die Lust an der eigenen Dichtung, die Ovid für sich beansprucht (am. 3, 15, 4), ist ihm (inklusive angeblicher Fehler) von antiken Kommentatoren vorgeworfen worden (Sen. contr. 12; Quint. inst. 10, 1, 98). Sie scheint aber zugleich der Grund seiner beispiellosen Inspirationskraft für die weitere europäische Liebesdichtung seit dem 12. Jahrhundert gewesen zu sein. Dichten ist für Ovid Lieben im Medium der Sprache selbst – mit allen Sinnen, mit Phantasie, Gefühl und Vernunft. Eben dadurch erweitert er die Einsamkeit des elegischen Ichs zum dialogischen Sprechen, das sich vom Ich zur Kultur und ihrer Geschichte hin öffnet.

32.3 Erotische Lebensform als Kritik an literarischen und gesellschaftlichen Traditionen Ovids Amores spielen virtuos mit den konventionalisierten Ingredienzen des »elegischen Systems«, das bereits Catulls Liebesdichtung vorbereitet hatte und von Gallus, Properz und Tibull seit etwa 40 v. Chr. entwickelt wurde (vgl. Holzberg 2015). Zu diesem System gehört eine in den Elegien thematisierte Situation, aus der heraus gedichtet wird: Ein Dichter, der meist aus dem zweiten Römischen Stand (Ritter) stammt, wird durch die Liebe zu einem Mädchen (puella), einer jungen, gebildeten Frau – meist einer freigelassenen Sklavin (Libertine) – entflammt, wirbt mit seinen Gedichten um sie und klagt aufgrund ausbleibenden Er-

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V  Themen und Konzepte

folgs (querela). Eigene Erfahrungen, Gefühle, Begehren, Vergeblichkeit und Leid subjektiv reflektierend (Jacoby 1905) werden verschiedene Topoi in unterschiedlichen Typen von Elegie verhandelt, so auch bei Ovid: das Flirten und wiederholte Werben um die Geliebte, das Klagen des ausgeschlossenen Liebhabers (exclusus amator) an der Tür der Geliebten im sogenannten Paraklausithyron, das Ovid zur Beschwerde gegenüber dem Türsklaven variiert (am. 1, 6, vgl. 3, 8), oder die Erweichungsversuche gegenüber Wächtern (am. 2, 2 und 3). Ovid, der pro Elegie meist ein Thema durchspielt, geht aber auch über seine Vorgänger hinaus, indem er Motive wie das der Bewachung zum Gegenstand von Kritik macht (am. 3–4), aber auch ironisch persifliert (am. 2, 19), neue Motive ins Zentrum stellt – z. B. Abtreibung (am. 2, 13 und 14) und Impotenz (am. 3, 7) – oder weitere Formen in die Bücher aus Liebeselegien integriert, etwa ein Trauergedicht auf Tibull (am. 3, 9) und ein – erst über 1000 Jahre später bei Troubadours, Trouvères und Minnesängern popularisiertes – »Tagelied«, das die Situation vor dem morgendlichen Aufbruch vom gemeinsamen Lager thematisiert (am. 1, 13). Zudem reflektiert Ovid seine Elegien auch gattungstheoretisch nicht nur in Bezug zur Heroendichtung, sondern auch zur Tragödie, der er sich nach den Amores zuwenden will (am. 3, 1; 3, 15). Sie hat auch einen großen Einfluss auf seine Heroides, deren Liebende vorwiegend den Mythen der griechischen Tragödie entstammen (epist. 4, 8–9, 11, 13 und 14). Andererseits treibt Ovid elegische Motive weiter, die zu dem gehören, was man »erotische Daseinsform« oder »Lebenswahl« nennen kann (Stroh 1971, 234; Steidle 1962). Bereits bei Tibull und Properz bildet sich eine typisch elegische Lebensform heraus, die in einer Unterordnung (obsequium) des (gesellschaftlich höher stehenden) männlichen Dichters unter die Ägide der Geliebten nach Art eines abhängigen Knechts besteht. Dieser von Hingabe und Nachgiebigkeit (indulgentia) bis zu stilisiertem Masochismus gekennzeichnete Sklavendienst (servitium amoris) an der Herrin (domina), der als foedus aeternum lebenslang bestehen soll (am. 1, 3, 15–18), verkehrt die sozialen Rollen der Kaiserzeit ins Gegenteil (Wildberger 1997, 317–326). Die Männer nehmen gerade keine pflichtbewussten und staatstragenden Rollen ein, sondern widmen sich ganz der Liebe und Dichtung. Doch bleibt der elegische Sprecher insofern aktiv, als er durch die Ablehnung und Herausforderung, die die Geliebte darstellt, etwas zum Schreiben (und Berühmtwerden) gefunden hat. Der amator muss leiden,

damit der poeta reüssieren kann. Ovid treibt dieses von Gallus, Tibull und Properz übernommene Modell auf die Spitze, wird nicht nur Opfer, Beute, Sklave von Amor und seiner Corinna, sondern markiert auch deutlich, dass er der rhetorische Meister ist und sich die Herausforderungen, die ihn zum Schreiben bringen, selbst sucht. Er präsentiert sich als abhängig von Macht der Liebe und ihrem Objekt wie als virtuosen Spieler mit beiden als elegischen Systemelementen. Die Liebe, die Ovid als bestimmend für seine persona ansieht, ist wie das Dichten keine Nebenbeschäftigung, welche die für Männer der beiden oberen Stände (Ritter und Senatoren) vorgesehenen Laufbahnen im Militär und öffentlichen Ämtern flankieren würde, sondern bildet bei den Elegikern das Zentrum ihrer dichterisch entwickelten Identität. Sie entfremden sich von der sozialen Realität und verkehren das traditionelle Verhältnis von Muße (otium) zu öffentlichen Geschäften (negotium), indem sie die Muße fern vom römischen Alltag zur Hauptbeschäftigung machen, denn sie »bewirkt, dass du liebst, und bewahrt, wenn’s gewirkt hat, die Liebe« (rem. 137). Zu dieser Lebensform gehört durch die Dialektik von passiver Abhängigkeit, »einem Mädchen zu dienen« (servire puellae; am. 2, 17, 1), und aktiver Produktivität als Dichter ebenfalls eine Umdeutung des Inbegriffs heroisch-ernsthafter Männlichkeit: Den Kriegsdienst, der auch nach Beendigung des Bürgerkriegs und der Etablierung einer stabilen Ordnung im Patriziat politisch von zentraler Bedeutung blieb, lehnen die Elegiker wie alles Militärische ab und ersetzen ihn durch die Liebe als den wahren Kriegsdienst, die sogenannte militia amoris (vgl. Tib. 1, 3; Prop. 1, 6; 2, 7). Ovid spielt immer wieder mit dem Motiv, Kriegswaffen in die unschädlichen, aber mächtigeren Waffen Amors zu verwandeln. Schon der Anfang der ersten Elegie führt diese Verkehrung vor: Waffengewalt und Krieg (arma [...] violentaque bella; am. 1, 1, 1) werden als Sujets von Amors Bogen, der neben Venus’ Fackel wichtigen Liebeswaffe, abgewehrt. Infolgedessen widmet sich der poeta/amator als Liebessoldat (miles amoris) nur noch dem »Kriegsdienst« der Liebe und ihrem »nächtlichen Kampf« im »Feldlager« (am. 1, 9, 1–2; 45). In ihm werden alle kriegerisch-männlichen Aktivitäten umgedeutet: die Anstrengung, Nächte auf dem Erdboden zu durchwachen, die domina (statt den Feldherrn) zu schützen und ihren Befehlen zu folgen oder aber ihre Tür (statt fremder Städte Tore) zu belagern und aufzubrechen, für sie lange Märsche auf sich zu nehmen und große Hindernisse zu überwinden, unwirtliche Witterung wie Hitze, Kälte, Stürme,

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Schnee und Regen zu ertragen, den Rivalen (statt den Feind) zu beobachten und den Schlaf der Ehemänner (statt den der Feinde) zu nutzen, um Scharen von Wächtern zu umgehen (am. 1, 9, 7–28; ars 2, 223– 250). Zudem, so argumentiert der Dichter, sei Venus nicht unzuverlässiger als der Kriegsgott Mars und dessen Geschäft nicht härter als das Amors (am. 1, 9, 29– 32). Dabei sticht der Liebeskriegsdienst den buchstäblichen immer aus, denn seine Leidenschaft impliziert zwar auch alle Härten und Verletzungen des Letzteren, führt aber gerade nicht zum Tod, sondern zur erotischen Lust wie zur Befriedung. Ebenso wird die besonders in der Liebeskunst virulente Metaphorik der Jagd konsequent erotisiert und vom Ziel der Tötung der Beute befreit, an die die Wiederholung von Begehren und Genuss der »Beute« tritt. Jeder Triumph Amors ist letztlich ein Sieg des Friedens zwischen den Geschlechtern, ein erfülltes Glück, dessen körperliche Dimension die geteilte Lust und die post-koitale Ruhe des Paars sind (am. 1, 5, 25; ars 2, 413; 459–466). Ovid inszeniert sogar einen der Gründungsmythen Roms, den gewaltsamen Raub der Sabinerinnen, als letztlich friedensstiftendes Ereignis durch Einwilligung der geraubten Frauen in Liebe (ars 1, 101–134). Alles buchstäblich Kriegerische lehnt er als Barbarei ab: »Du, Soldat, klatsche deinem Mars Beifall! Mir sind Waffen verhaßt. Frieden erfreut mich und Liebe, die sich mitten im Frieden finden läßt.« (am. 3, 2, 49–50). Rivalen, die Blut an ihren Händen haben, kritisiert er scharf und wirft seiner Geliebten vor, sich mit Männern einzulassen, die getötet hätten (am. 3, 8–9–24). In den Heroides nimmt Ovid die Perspektive von Frauen ein, die sich wie Laodamia sorgen, ihr Geliebter könne im Krieg getötet werden (epist. 13), und markiert jenen als reales Gegenbild zur liebenden Lebensform. Nicht Krieg, sondern »strahlender Frieden ziemt Menschen« (candida pax homines), bekräftigt der praeceptor in der Liebeskunst (ars 3, 501). Ovid zeigt auch hier die Korrespondenz von Form und Gehalt, wenn er Elegien selbst als friedlich (inbelles elegi) charakterisiert (am. 3, 15, 19). Der Dichter aus Sulmo, der die Bürgerkriege selbst nicht mehr erlebt hat und von einer stabilen Ordnung im Prinzipat ausgeht, bringt seinen Pazifismus auch als Grund für das Verfassen der Remedia vor, indem er behauptet, mit dieser Schrift Liebende von ihren Pathologien zu heilen und so zu verhindern, dass jemand aus Liebeskummer zu schaden komme, denn Liebe sei nur Herrschaft durch Spiel, das niemals zum Tod führen dürfe (rem. 15–37, 55–68: vgl. ars 2, 175– 76). Bewaffnet er in der Liebeskunst zuerst Männer,

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dann Frauen, bewaffnet er nun beide gegen Amor, um Konflikte der Leidenschaft im Modus des poetischen Spiels zu belassen (Liveley 2006, 322–323). Ovid plädiert zudem, wie es bereits Catull von sich erwartete (Catull. 8), für eine Art conscious uncoupling, wenn er schreibt, man solle sich keinesfalls hassen oder etwas vorwerfen, sondern friedlich und generös trennen (rem. 655–672, 697–98). Dabei ist die militia amoris für den Liebesdichter sogar in Bezug auf den letzten Zweck überlegen, der männlichem Kriegseinsatz in der Antike seit Homers Ilias zukommt: die Sicherung unsterblichen Ruhms. Denn, so ist Ovid sich sicher, der Dichter als Liebhaber wird (statt des kriegerischen Helden) über den Tod hinaus dauerhaft weltberühmt sein (am. 1, 15, 41–42; 3, 15, 19–20; ars 2, 733–744; met. 15, 871–879).

32.4 Die Geschlechter zwischen Gewalt und Freiheit Ovids Orientierung an Frieden und Eintracht kontrastiert auffällig mit seiner Verharmlosung von und gar seinem Bekenntnis zu sexualisierter Gewalt. Ungefragte Berührungen und Übergriffe werden als männlich und von Frauen, die man(n) alle gewinnen könne, heimlich gewünscht dargestellt (am. 1, 5, 13– 16; ars 1, 269–270; 663–714), da diese ohnehin ein größeres Verlangen als Männer hätten (ars 1, 271– 282). Vergewaltigungen, die bei Trunkenheit der Frau zu erwarten sein können (ars 3, 765–69), werden in den Metamorphosen als Standard erotischer Eroberungen von (meist weiblichen) Menschen durch übermächtige (meist männliche) Götter dargestellt. Die feministische Literaturwissenschaft hat darin einen chauvinistischen Blick, der bis zu männlichen Gewaltphantasien reicht (am. 1, 6 und 7), erkannt und ihn ebenso kritisiert wie Ovids Umgang mit Abtreibung als einer Gewalt, die Frauen ausübten (am. 2, 13 und 14) (Doblhofer 1994; Richlin 1992; Gamel 1989; s. Kap. 31). Diesen Passagen stehen allerdings Plädoyers für Gewaltfreiheit, Unaufdringlichkeit, Diskretion, Freiwilligkeit und Gleichberechtigung im Erotischen und gemeinsame Lusterfahrung gegenüber (ars 2, 177–180, 526–534, 543–640, 725–728). Zudem zeichnet der Dichter die Frauen gegenüber Männern aus, die das ästhetische Spiel besser als diese verstünden (ars 1, 276), zumal sie neben ihrem Verhalten auch ihren Körper zum Kunstwerk machen (Harzer 2002, 41). Zudem wissen wir von keinem anderen Dichter der Antike, der solch eine Empathie für die

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V  Themen und Konzepte

weiblichen Opfer sexualisierter Gewalt entwickelt hat (Holzberg 1997, 134; Möller 2020). Ovid reflektiert auch Geschlechterrollen seiner Adressaten. Er richtet sich an Männer (ars 1 und 2; rem. 41–58) und Frauen (ars 3; rem. 49–52; medic.), deren Verletzlichkeit, Gefühle und Handlungen er bereits in den Amores in die männliche Sprecherposition einbezieht (am. 1, 7; 11; 12). Seines männlichen Blicks ist er sich in den Elegien und der Liebeskunst ausdrücklich bewusst, während er in den Heroides in die weibliche Perspektive wechselt: Frauen treten hier als Autoren und ebenso Leser auf (Fulkerson 2005; vgl. bereits Catull 64 und Prop. 1, 3; 4, 3). Dabei bringt Ovid durchaus ein starkes weibliches Selbstbewusstsein – etwa in der Rolle Phaedras oder Medeas (epist. 4 und 12, vgl. met. 7, 10–71) – zum Ausdruck. Ovids Dichtung ist politisch, indem sie die Dekonstruktion der sozialen Geschlechter- und Rollenerwartung hintergründig, aber unverkennbar zelebriert und Frau und Mann als aktive und clevere Spielpartner porträtiert, die beide ein Recht auf Initiative und gegenseitige Täuschung haben. Die Anerkennung der intellektuellen Selbständigkeit von Frauen gilt auch für die Literatur selbst, da Ovid sich mehrfach anerkennend auf Dichterinnen wie Sappho bezieht, seine Corinna womöglich nach der griechischen Dichterin Korinna benannt hat und einer jungen (vielleicht erfundenen) Dichterin Perilla aus dem Exil kollegiale Ratschläge gibt und dabei ausdrücklich das ingenium der überaus gelehrten (doctissima) Dichterin hervorhebt (trist. 3, 7, 14 und 31). Zudem empfiehlt er Frauen eine weitreichende, vom römischen Schulsystem nicht vorgesehene Bildung in Theater, Musik, Tanz und griechischer wie römischer Literatur (ars 3, 311–352). Doch an keiner Stelle kritisiert der Dichter die gesellschaftlichen Machtverhältnisse wie die fehlenden politischen Partizipationsrechte der Frauen oder die Institution der Sklaverei als solche explizit. Das Liebesspiel findet außerhalb der sozialen Normen statt, revolutioniert sie aber nicht (Labate 1984, 97 ff.). Indem Ovid die elegische Verkehrung der sozialen Rollen fortschreibt und eine Ethik freiwilliger erotischer Aktivität vertritt, nimmt er politischen Ämtern, militärischen Würden und rechtlichen Abhängigkeiten aber das Gewicht, das sie in offiziellen Diskursen haben. Militärische und politische Karrieren, Erfolg als Kaufmann oder Anwalt oder die Zugehörigkeit zu einem sozialem Stand erhalten im erotischen Diskurs keine herausragende Anerkennung mehr, sie werden vielmehr im Zeichen von Venus’ und Amors Allmacht

persifliert. In diesem Sinne schafft Ovid literarisch Alternativen zur sozialen Ordnung seiner Zeit. Auffallend ist mit Blick auf das bedingt subversive Potential von Ovids Dichtungen, dass es bei aller Vielfalt doch fast immer nur um heterosexuelles Begehren geht. Homoerotik kommt selten vor (met. 10, 155– 219) und wird vom Liebeslehrer mit Hinweis auf ungleiche Lust abgewertet oder übergangen (ars 1, 524; 2, 684), obwohl sie offiziell legitim war und zumindest die männliche in Rom zur Normalität gehörte. Zudem darf die Bezeichnung »Enzyklopädie der Liebe« (Stroh 2001) für die Liebesdichtungen Ovids nicht den Eindruck entstehen lassen, als gehe es ihm um Liebe im umfassenden Sinn, den etwa das deutsche Wort ›Liebe‹ hat. Ovid spricht kaum über Liebe im Sinne der Freundschaft und familiären Bindung oder über die Liebe zu Kindern. Auch die religiöse Liebe oder die Liebe zu Dingen und Ideen spielt keine nennenswerte Rolle. Es geht immer nur um Amors Pfeile, durch die Frauen und Männer einander erotisch verfallen.

32.5 Kritik an Kommerzialisierung Ovids Erotodidaxe bietet auch eine Kritik an der Ökonomisierung von Lebensformen. Liebe ist für ihn ein reziprokes Geben und Nehmen im Sinne der römischen do-ut-des-Ethik, ein gemeinsam gespieltes kommunikatives Spiel aus Hingabe und Begehren. Ihr furor widerspricht dabei durchaus ökonomischer Rationalität. Erotische Leidenschaft ist nicht mit Geld oder in der Währung gesellschaftlicher Anerkennung verrechenbar. So kritisiert der Dichter die auf eigenen Vorteil zielende Kupplerin (am. 1, 8) sowie Frauen, die sich aufgrund von Reichtum und Macht Liebhaber nehmen (am. 3, 8), beklagt die bis zur Korruption reichende Orientierung an materiellen Werten (am. 3, 8; ars 2, 277–278; 3, 123–128), plädiert gegen große Geschenke als Verführungstricks, die nichts anderes als Warenwerte sind (am. 1, 8 und 10; ars 2, 261–286), und stellt die Institution der Prostitution als abzulehnende Kommerzialisierung einer göttlichen Kraft dar (am. 1, 10; met. 10, 238–242) – wenngleich er auf die mit ihr verknüpfte Promiskuität in den Amores und der Liebeskunst oft positiv zu sprechen kommt und seine puella Züge einer Hetäre trägt. Was die Prostitution aber aus seiner Sicht mit dem Militärdienst verbindet, ist der gezielte Einsatz des eigenen Körpers für einen anderen Zweck als gleichberechtigte Liebeslust (Albrecht 2003, 53): »Die Liebeswonne, die beiden gleichermaßen willkommen sein wird – warum verkauft die eine sie,

32  Liebe, Leidenschaft, Erotik 

und der andere muss sie kaufen?« (am. 1, 10, 33–34). Gelingende Liebe zeichnet Ovid dagegen als künstlerische Technik der Reziprozität aus (amor mutuus), als Spiel aus freiwilligen Gaben, zu denen man nicht nur die im Text erwähnten Verführungs- und Erregungsspiele, sondern auch die erotische Dichtung selbst zählen kann, die Ovid seinen Lesern in der Erwartung übergibt, von ihnen gelesen und geliebt zu werden. Schreiben und Lesen sind symbolische Tauschhandlungen innerhalb einer literarischen Öffentlichkeit, wie Küsse körperliche Tauschhandlungen im Privaten sind. Wie der Liebeskriegsdienst das für Rom politisch zentrale Motiv des Militärischen ins Friedliche verkehrt, dreht der freiwillige Tausch im Liebesspiel die Idee des Ökonomischen in ein Spiel, in dem statt austauschbarer Geld- und Warenwerte allein die geteilte Lust zwischen Individuen zählt.

32.6 Körperliche und geistige Kultivierung Ovid liebt die Feinheiten der Kultivierung. Anders als Tibull feiert er nicht das Landleben als Alternative zum öffentlichen Leben, sondern die Modernität Roms. Er preist, wenn auch kritisch gegenüber Geldund Bodenschatzmaterialismus (am. 3, 8; ars 2, 274– 280), die zivilisierte Gegenwart, den cultus der urbanen Existenz, und vermeidet die seit Hesiod populäre Abwertung der eigenen Epoche gegenüber mythischer Vorzeit (ars 3, 101–128; medic. 1–10). Damit impliziert er auch eine historische Entwicklung zu verfeinerter Kultur, zu deren Ausdruck sowohl die erotische Lebensform gegenüber der alten Kultur des Bäuerischen oder Kriegerischen als auch das virtuose Referenzspiel des hellenistisch gebildeten erotischen Dichters zählen. Neben anderen öffentlichen Orten, die zum großen Teil erst zu Ovids Lebenszeit im Rahmen von Augustus’ Bauprogramm entstanden – wie Foren, Tempeln und Säulenhallen – hat vor allem das Theater, das in der Liebeskunst mehrfach als Flirtort angepriesen wird (ars 1, 89–90, 497; 3, 317, vgl. rem. 751–752), eine programmatische Funktion. Denn dieser Ort des Kults und der verfeinerten Kunst gleichermaßen bietet das Modell für die ästhetische Praxis der spielerischen Selbstdarstellung und ihre Wahrnehmung (Roth/Trautsch/Möller 2017, 326 ff.). Kleidung, kosmetische Maskierungen, Frisuren, Gesten, gezielte Blicke, Sprechweisen, Gesten, Singen, Tanzen, selbst vermeintlich unwillkürlich expressives Verhalten wie Weinen und Lachen werden für den Liebeslehrer zum Repertoire, mit dem

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Liebesschüler sich gegenseitig verführen können wie die Schauspieler ihr Publikum – und Ovid seine Leser, die zugleich Liebesschüler sein sollen (Jouteur 2009). Er verwendet wie in einer Schauspiellehre einen großen Teil seiner erotischen Schriften auf diese körperlich-performativen Kunstmittel und ihre Verbergung (am. 1, 7 und 14; medic. 27–100; ars 1, 505–524, 723– 738; 3, 101–310, 499–524; ins Gegenteil gewendet: rem. 314–356, 407–440). In den Empfehlungen geht es in buchstäblich körperkuratorischer wie poetologischer Lesart immer darum, ästhetisch vorteilhafte Effekte – etwa durch inszenierte Zufälligkeit der Haare oder geeignete Kontrastbildung zwischen Haut und Kleidung – zu erzeugen und ästhetisch nachteilige Wirkungen – etwa durch zu große Nachlässigkeit oder zu dick aufgetragene Schminke – zu vermeiden. Auf diese Kultivierungskunst wiederum soll die andere Seite, das Publikum, mit – wenn auch nur gespielter – Anerkennung reagieren (ars 2, 287–314, 641–662). Nicht minder wichtig für Liebende ist neben der körperlichen auch die geistige Kultivierung. Dazu gehören Mehrsprachigkeit, Produktion von Dichtung und glaubwürdigen Briefen, Kenntnis der Literaturgeschichte, des Instrumentalspiels und Gesangs, der Schauspielerei, des Tanzes und der Gesellschaftsspiele (ars 1, 437–468; 2, 107–144, 281–286; 3, 281–380). Im Zeichen des cultus stehen alle geistigen wie körperlichen Künste selbst: Die Liebeskunst als Verführungs- und Bewahrungskunst wie die Dichtkunst, durch die erstere zu lernen ist. Ähnliches gilt für die Kunst der Liebesvermeidung, eine apollinische Medizin, deren therapeutisches Anliegen die Remedia ebenfalls als Dichtung und insofern als Ausdruck des cultus darstellen (vgl. besonders die Passagen rem. 79– 134 und 795–810).

32.7 Leiden, Lust und Komik So spielerisch, virtuos täuschend und zu beiderseitigem Vergnügen die Liebe zwischen den Geschlechtern bei Ovid dargestellt und gelehrt wird, so wenig klammert er das Leid aus, das sie erzeugt: »Für Liebende gibt es nur wenig Erfreuliches und viel mehr Schmerzliches; darum mögen sie sich vor Augen halten, daß sie viel ertragen müssen.« (ars 2, 515–516). Das Leid wirft seinen Schatten über die erotische Freude, wird in den Amores beklagt und den Remedia zu therapieren versucht: die elegische Einsamkeit und Entfremdung von der Geliebten, das erfolglose Liebeswerben, brennender Liebeskummer und quälende

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V  Themen und Konzepte

Eifersucht. Vor allem letzterer und dem Verhältnis zum Rivalen bzw. zur Rivalin widmen sich Ovids Liebesdichtungen (am. 2, 5; 2, 19; 3, 3; ars 2, 357–372, 535–600; 3, 449–610; zu Rivalinnen und weitere weiblicher Eifersucht: am. 3, 9, 53–58; ars 2, 373–414, 425– 466; 3, 659–666). Die Heroides sind fast gänzlich der Klage der leidenden, weil verlassenen und sehnenden Frauen gewidmet. Die Briefe kreisen um die Hoffnung auf Wiederkehr der Geliebten (epist. 1–5), Verzweiflung und Resignation (epist. 6–10) und negative Themen wie unerfüllte Sehnsucht, Inzest zwischen Geschwistern, Abtreibungsversuch, Suizid, Rache und Verlustangst (epist. 11–15). Ebenfalls körperliche Leiden wie Krankheiten (am. 2, 13; ars 2, 315–356), Haarausfall (am. 1, 14), Abtreibung (am. 2, 13 und 14); Impotenz (am. 3, 7) und Tod (am. 3, 9) werden teils als selbst verantwortete Probleme, teils als unvermeidliche Leiden der Liebe bei Ovid zum Thema. Leid ist daher in den didaktischen Schriften kein elegischer Selbstzweck des servitium amoris mehr, sondern soll im spielerischen Liebesbemühen überwunden werden. Das an Epikurs Lehre gemahnende Ziel ist Leidfreiheit und Lustgewinn. Schon in den Amores wird die erfüllte Erotik zelebriert (am. 1, 5; 2, 15; 3, 18, 20 ff.), zu deren Ziel der Erotodidaktiker in der Liebeskunst konkrete Anweisungen für lustvolles Vorspiel, vorteilhafte Stellungen und richtiges Tempo beim Sex gibt (ars 2 703–732; 3, 769–808). Das Wichtigste ist dabei die gleichberechtige, wechselseitig befriedigende Erfüllung inklusive Orgasmus: »Eilt gemeinsam zum Höhepunkt; dann ist die Lust vollkommen, wenn Mann und Frau gleichzeitig überwältigt daliegen.« (ars 2, 727–728). Wenn von Liebesleid und -lust bei Ovid die Rede ist, darf der Verweis auf die komische Seite der Liebe nicht fehlen, die ihre Wirkung auch nach über 2000 Jahren Rezeptionsgeschichte entfaltet. Tatsächlich sind bereits die frühen Elegien auch in den Klagemomenten voller komischer und ironischer Szenen, die den poeta/amator selbst betreffen. Er präsentiert sich als großer Don Juan, hat aber Erektionsprobleme (am. 3, 7), lehrt die Geliebte eine geheime Intimkommunikation beim Gastmahl, mit der sie den Ehemann betrügen kann (am. 1, 4), die sie aber auf ihn selbst anwendet (am. 2, 5). Oder: Nachdem er lang und breit bedauert, dass er seine Geliebte geschlagen hat, lädt der Liebhaber sie ein, sich an ihm zu vergehen, sie solle sich aber bitte zuvor frisieren (am. 1, 7, 67–68). Auch in der Liebeskunst gibt es viele komische Stellen, an denen die Elegie parodiert wird (z. B. ars 2, 517– 528) und das Pathetische der Liebe ins Komische um-

schlägt, etwa wenn die Liebenden bleich werden und abmagern sollen, um als ernsthaft liebeskrank zu gelten, und, statt elegisch an Türpfosten zu klagen, senkrecht durch Dachluken ins Gemach der Geliebten einsteigen sollen (ars 1, 729–738; 2, 245–246). Auch die Remedia enthalten komische Passagen, die bisweilen ins Obszöne gehen (rem. 429–440), und führen gemäß hellenistischer Tradition ausdrücklich die Komödie als das für die elegische Dichtung des (erotischen) Alltags angemessene Vorbild ein (rem. 376). Entsprechend nennt Ovid die griechische Hetäre Thaïs, Hauptfigur einer Komödie von Menander, seine Muse (rem. 383–386). In der Liebeskunst leitet wiederum die Muse der Komödie Thalia die Liebessuchenden an (ars 1, 263–264). Dass es Ovid in seinen Liebesdichtungen auch um die Entwicklung neuer Gattungen geht, welche die Elegie und weitere Gattungen wie das Lehrgedicht mit der Komödie verbinden, lassen auch die beiden Liebesgötter, die diese Dichtung initiieren, in ihrem emotionalen und mimischen Ausdruck erahnen: Beim ersten Auftritt in Ovids Amores lacht Amor über den Dichter (am. 1, 1, 3), der Heroendichtung schreiben will, aber nicht kann, wie er später über ihn als Tragödiendichter lacht (am. 2, 18, 15). Zudem beweist der Gott selbst parodistisches Talent, wenn er den just von ihm getroffenen hilflosen Poeten einen Seher (vates) nennt (am. 1, 1, 24). Ebenso lacht und lächelt Venus oft (ars 1, 87), wie die Liebenden, dem elegischen Ideal der Weichheit (mollitia) gemäß, einander sanft zulachen und -lächeln sollen, auch wenn sie es erst lernen müssen (ars 2, 201; 3, 281–291; 513–514). Dass hier nicht nur Liebende und ihre Götter, sondern auch poetologisch die Komik der Gattung selbst mitgemeint ist, zeigt sich in den vielfältigen Anspielungen auf die Neue Komödie und im Verhalten der personifizierten Elegie selbst: Sie lächelt schelmisch (am. 3, 1, 33). Ovid ist in jeder Schaffensperiode nicht nur ein Dichter der Liebe, sondern, selbst in seinen Exildichtungen, auch ein komischer Dichter (Amann 2006).

32.8 Liebe, Leidenschaft und Erotik in späteren Werken Die an die Liebeskunst und Remedia anschließenden Schriften Ovids handeln einerseits von Göttermythen und ihren ätiologischen Funktion (Fasti, Metamorphosen) oder von der Situation des Exils (Tristia, Epistulae ex Ponto, Ibis). Doch die Liebe bleibt weiterhin sowohl zentrales Thema als auch poetologische Bezugsgröße.

32  Liebe, Leidenschaft, Erotik 

Die ätiologischen Mythen der Fasti, die den römischen Festkalender begründen, finden ihre Vorläufer in der hellenistischen Dichtung, insbesondere den Aitia des Kallimachos, und in der Liebeselegie. Properz hatte bereits ätiologische Mythen in das dritte und vierte Buch seiner Elegien aufgenommen, Ovid folgt ihm darin schon in seinen Amores (am. 3, 13). Thematisch gibt es also eine gewisse Kontinuität zwischen erotischen Dichtungen und Fasti, die durch das elegische Distichon formal gestützt wird. Doch scheint sich der Dichter gleich im Proömium klar von seiner persona als poeta/amator zu verabschieden und stattdessen zum Kalenderdichter zu werden, der nicht mehr Amor, sondern den Augustus-Enkel Germanicus anruft (fast. 1, 1–26). Im Proömium zum zweiten Buch verkündet der Dichter ausdrücklich den Abschied von Liebesthemen. Doch zugleich behält er das elegische Distichon bei und bekundet erneut, dass er selbst keine Waffen führe (fast. 2, 1–18). Das Heroische erscheint also weiterhin ins Elegische verkleinert. Selbst der Kriegsgott soll Waffen, Schild und Helm ablegen, um sein erotisiertes Haar wallen zu lassen (fast. 3, 1–8). Ihn erinnert der Dichter daran, wie er einst die Vestalin Rhea Silvia begehrte, sie im Schlaf vergewaltigte und dabei Romulus und Remus, die Gründer Roms, zeugte (fast. 3, 9–40): Alles fing mit Erotik an. Ovid erzählt in den Fasti für Kalenderdichtung erstaunlich viele, teils komische erotische Geschichten (Fantham 1983; Barchiesi 1997, 59) wie die des sexuell übergriffigen Fauns des Festes am 15. Februar, der einst versehentlich zu Herkules ins Bett stieg, als er Omphale vergewaltigen wollte, und hart aus dem Bett flog (fast. 2, 303–358). Oft sind sie brutale wie die von Jupiters Vergewaltigung Callistos für das Fest am 11. Februar (fast. 2, 153–192) oder die von der aus unkontrollierter Geilheit von Tarquinius vergewaltigten Lucretia (fast. 2, 721–852). Zudem werden einige aus den Liebesdichtungen Ovids vertraute Mythen, die erotisches Begehren und Liebesklage thematisieren, in die Ursprungserzählungen weiterer Feste im ersten Halbjahr eingebaut, etwa die von Ariadne, Theseus und Bacchus im März oder von Zeus und Europa im Mai (fast. 3, 459–516; 5, 603–20). Auch das pazifizierende Motiv der Liebesdichtung kehrt wieder, wenn Ovid bekräftigt, dass Waffen Streit bewirkten und nicht in die Ehe gehörten (fast. 3, 395). Im vierten Buch spekuliert der Dichter über die Etymologie des Monatsnamens, der von Aphrodite abstamme (fast 4., 61–84), und singt ihrer römischen Entsprechung Venus, die über alles herrsche, alle Götter und alles Lebendige erschaffe, erhalte und den

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Menschen kultiviere, einen großen, an Lukrez erinnernden Hymnus (fast. 4., 85–132; vgl. ars 2, 467– 488). Zuvor hatte er ihr gegenüber schon bekräftigt, dass er weiterhin verliebt sei und ohnehin immer nur ihr allein diene, als seien auch die Fasti in Wahrheit nichts als erotische Dichtung (fast. 4, 1–14), obwohl sie doch auch etwas Neues darstellen sollen (Armstrong 2005, 146 ff.). Die Metamorphosen verlassen die metrische Form von Ovids Liebesdichtungen: Statt kleiner Elegien in elegischen Distichen schreibt er nun ein langes, weitgehend kontinuierliches Epos im epischen Hexameter über die Geschichte der Welt in Verwandlungen (met. 1, 1–4). Offenbar hat Ovid also spätestens in seinem Hauptwerk seiner Liebesdichtung den Rücken gekehrt. Es geht nun um den Kosmos, die Götter und die Kultur, nicht nur um jeweils partikulare Liebeserfahrungen und -lehren. Doch gibt es poetologisch und thematisch viele Verbindungslinien zwischen den erotischen Dichtungen und den Metamorphosen (Albrecht 2000, 33 ff., Daams 2003, Fantham 2004, 74 ff., Armstrong 2005, 140 ff.; Mayor 2017). In mehreren Verwandlungsgeschichten der Metamorphosen (die den Liebesgott im Namen tragen) treiben Liebe und erotisches Begehren die Handlung voran, so dass das Werk als »epic of love« (Otis 1966, 334, 345) oder auch, die sexualisierte Gewalt hervorhebend, als »epic of rape« (Segal 1969, 93) bezeichnet worden ist. Programmatisch lässt sich die Begegnung von Apollon und Amor im ersten Buch verstehen, die den Reigen aus Geschichten, in denen sich Götter und Menschen verwandeln, eröffnet. Als die Liebe in Gestalt Amors zum ersten Mal nach der Erzählung der Ursprungsmythen erwähnt wird (als primus amor; met. 1, 452), referiert Ovid auf seine ältere Liebesdichtung. Am Anfang der Amores fragt der Dichter Cupido, ob »sich nicht einmal mehr Phoebus seiner Leier sicher sein« könne (am. 1, 1, 16). Die rhetorische Frage wird im ersten Buch der Metamorphosen aufgegriffen und wie in den Amores negativ beantwortet. Denn der Gott der Künste wird selbst von Cupidos Pfeil getroffen, nachdem er ihm ausführlich erklärt hat, dass nur er, der eben den Python getötet hat, mit der männlichen Waffe des Bogens umzugehen wisse. Amor ist – anders als elegische Dichter – dagegen eher wortkarg und beweist die Wahrheit seiner Aussage, dass er mit seinem Bogen Apollon selbst treffen könne, indem er ihm einen Liebe erzeugenden Pfeil ins Mark schießt und einen Pfeil der Ablehnung in die Nymphe Daphne. Apollon muss seine Ohnmacht gegenüber Amor anerkennen, da er unmittelbar in Leidenschaft

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V  Themen und Konzepte

zu ihr entbrennt, sie sich aber entzieht. Wie ein elegischer Dichter beschreibt Apollon Daphnes Körper nach Art eines Textes und wirbt um sie, während sie sich ihm wie eine puella dura verweigert und durch den Wald flieht (Knox 1986, 14–17). Bevor Apollon sie erreicht (um sie zu vergewaltigen), verwandelt ihr Vater, der Flussgott Peneus, Daphne zur Rettung in einen Lorbeerbaum, dessen Blätter seither Apollon und seine Adepten, die Dichter, kränzen. Omnia vincit Amor, könnte man mit Vergil sagen, der Gallus zitiert (Verg. ecl. 10, 69). Das gilt wieder nicht nur auf der Ebene der Erzählung des Götterwettstreits, sondern auch auf der poetologischen. Auch in seinem Epos lässt Ovid das Liebesthema nicht los, dem er neben der Elegie weitere Literaturformen anverwandelt. Eine Stelle aus den Remedia lässt sich wie ein Hinweis auf die späteren Metamorphosen lesen: Kirke, heißt es da, habe Menschen »in tausend Gestalten verwandeln« können, aber »deines Herzens Gesetz wandeln, das konntest du nicht.« (rem., 269–70). So wird auch die Liebe nicht selbst dauerhaft in etwas anderes wie etwa Gleichgültigkeit verwandelt, jedoch treibt sie – wie die Dichtung – immer wieder neue Gestalten aus Verwandlungen hervor. So kommen auch in den Metamorphosen vielfache Erscheinungsformen der Liebe zum Ausdruck: etwa die letale Selbstliebe des Narziss und die vergebliche Liebe der Echo (met. 3, 339–510), die projizierende des Pygmalion (met. 10, 243–297), die homoerotische von Jupiter zu Ganymed oder Apollon zu Hyazinth (met. 10, 155–219), die tragisch misslingende von Pyramus und Thisbe (met. 4, 36–166), Cephalus und Procris (met. 7, 687–756; 794–862) oder Orpheus und Eurydice (met. 10, 1–85), die – zunächst – rettende von Hippomenes und Atalante (met. 10, 560–707), die gewaltsam rächende von Medea zu Jason (met. 7, 1–158; 394–397) oder von Procne zu Tereus (met. 6, 412–674), die inzestuöse von Myrrha zu ihrem Vater Cinyras (met. 10, 298–502) oder von Byblis zu ihrem Bruder Caunus (met. 9, 450–665), die vom Rivalen zerstörte zwischen Galatea und Acis (met. 13, 740– 897), die traurig wirkende der doppelt in Schlangen verwandelten Eheleute Cadmus und Harmonia (met. 4, 563–603) oder Ceyx und Alcyone (met. 11, 410– 748), die nach Gefahren gelingende und durch Hochzeit glücklich besiegelte wie die von Perseus und Andromeda (met. 4, 663–771), die fromme, generöse und einträchtige von Philemon und Baucis (met. 8, 611– 724), die göttliche zwischen Venus und Mars (met. 4, 167–280) sowie immer wieder die oft gewaltsam initiierten oder nur aus einer Vergewaltigung bestehen-

den erotischen Begegnungen zwischen (meist männlichen) Göttern und (meist weiblichen) Menschen oder Nymphen: Apoll und Daphne (met. 1, 452–567), Apoll und Coronis (met. 2, 533–632); Apoll sowie Merkur und Chione (met. 11, 301–317); Jupiter und Io, Callisto oder Europa (met. 1, 568–688; 713–750; 2, 401–532; met. 2, 833–875); Pan und Syrinx (met. 1, 689–712); Venus und Adonis (met. 10, 503–559; 708– 739) oder Vertumnus und Pomona (met. 14, 622–697; 765–771). Aber auch Nymphen können aus erotischer Leidenschaft übergriffig werden, wie das Beispiel der Najade Salmacis und des Venus- und Merkursohns Hermaphroditus zeigt (met. 4, 271–388). Die Exildichtungen stellen gegenüber dem Reigen an mythischen Erotikgeschichten der Metamorphosen einen Bruch dar. Sie thematisieren das unglückliche Exil des Dichters. Ibis ist ein Schmähgedicht, das Liebe nicht vorsieht, und die Tristia ebenso wie die Epistulae ex Ponto sind keine Liebes-, sondern Klagedichtung, wie Ovid betont, der ausdrücklich Abstand zur Liebeskunst einnimmt, die verfasst zu haben er angeblich bereut (trist. 1, 1, 121–122; 67–68; 2, 316). Amor, der in Ovids Werk mit Lachen eintritt (am. 1, 1, 3), lächelt nun nicht mehr und wirkt selbst zerzaust, denn er ist es, der den Dichter durch sein Diktat von Liebesdichtung ins Exil getrieben hat (Pont. 3, 3, 13–64). Deshalb warnt Ovid auch die jüngere Kollegin Perilla vor dem Verfassen von Liebesdichtung (trist. 3, 7, 29–30). Dennoch finden sich in den Exildichtungen, die wieder das elegische Distichon aufnehmen, auch gegenteilige Narrative und intertextuelle Bezüge zur Liebesdichtung (Tornau 2007): So wird die Liebeskunst nicht nur als Schuldgrund eingestanden, sondern auch ausführlich verteidigt (trist. 2, 207–578) und der poeta porträtiert sich selbst als amator (trist. 4, 10, 65–67). Vor allem aber wird die Grundkonstellation der Liebeselegie aufgegriffen und verwandelt: Der Dichter in Tomis ist von seiner Gattin getrennter amator exclusus (Pont. 1, 4; vgl. 2, 2, 39–40) wie er vom römischen Publikum entfernter poeta exclusus ist; die Türschwelle der Amores ist nun die Landmasse zwischen Italien und dem Schwarzen Meer und die domina dura wird zum Ovid nicht hineinlassenden Caesaren Augustus (Harrison 2002, 89–93; Möller 2016, 12). In den Elegien und Briefen aus Tomis findet sich zudem ein neues biographisches Motiv der Liebe: Mehrfach huldigt Ovid – wie einst der poeta Corinna, doch diesmal eindeutig liebevoll – seiner dritten, mit Penelope verglichenen, sie sogar überbietenden Ehefrau, die ihm zu fehlen scheint: »Lyde ward nicht so sehr geliebt von dem Dichter von Klaros,/ nicht von dem

32  Liebe, Leidenschaft, Erotik 

Dichter von Kos Bittis so innig verehrt,/ wie ich tief in mein Herz dich geschlossen, du teure Gattin,/ [...] wenn ich noch jetzt etwas bin, ist es allein dein Verdienst.« (trist. 1, 6, 1–3; 6; vgl. 3, 3; 4, 3; 5, 2; 5, 5; 5, 11; 5, 14; Pont. 1, 4; 3, 1). Um ihr und seinen Freunden und Lesern nah zu sein, wendet er sich wiederholt an sie (trist. 5, 1, 79–80): Schreiben bleibt die entscheidende Form von Liebeskommunikation. Am Ende seines Lebens bleibt aber die gegenseitige Liebeserfüllung aus. Ovid stirbt entfernt von seinem ersehnten Gegenüber (trist. 4, 1, 39–40): seiner Frau und seinem Publikum. Auf seine Dichtung antwortet jedoch auch weiterhin der Liebesdiskurs der Leserinnen und Leser. Literatur

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Asmus Trautsch

33  Metamorphose: Kontinuität und Wandel

33 Metamorphose: Kontinuität und Wandel 33.1 Einleitung Metamorphose bedeutet wörtlich »über die Form hinaus«, was auf das Griechische metá (»nach«, »über«) und morphé (»Form«) zurückgeht. Die Eröffnung der Metamorphosen (in nova fert animus mutatas dicere formas / corpora – »Singen heißt mich das Herz von Gestalten, verwandelt in neue Leiber«), kann als der Versuch Ovids angesehen werden, den Titel des Werkes in lateinischer Sprache auszuführen (Barchiesi 2005, cxxvii). Das technische Verb der Metamorphose, mutare, das sich auf formae bezieht, sowie das Adjektiv nova, das corpora begleitet, unterstreichen das Moment der Veränderung und der Trennung, das jeder Metamorphose innewohnt. Das eigentliche Prädikat des Verses ist jedoch nicht muto, sondern fero. Obwohl es sich auf animus bezieht und die Inspiration des Dichters zum Thema seines Gedichts anzeigt, führt fero die Idee einer Bewegung, einer Passage, ein, die sich folglich auch in der Definition der Metamorphose selbst widerspiegelt: Sie besteht nicht nur aus einem ›Davor‹ und einem ›Danach‹, als zwei voneinander getrennten Zuständen des transformierten Gegenstandes, sondern ist in erster Linie ein Prozess, der die Existenz einer notwendigen Verbindung zwischen dem ursprünglichen und dem endgültigen Äußeren des verwandelten Subjekts impliziert. Damit die Metamorphose stattfinden kann, müssen also zunächst ein oder mehrere konstitutive Merkmale des Subjekts vorliegen, die von der Verwandlung nicht beseitigt oder geleugnet, sondern im Gegenteil für immer nach außen gekehrt werden. Fero steht ferner im Satz nicht allein, sondern beim dritten und letzten Verb des Verses, dicere. Die Metamorphose wird weder als epiphanische Erscheinung dargestellt, noch wird sie erst nach ihrer Vollendung beschrieben, sondern entwickelt sich im Laufe der Erzählung, die alle Stadien der Verwandlung des Körpers bis zu seinem endgültigen Zustand kontinuierlich verfolgt. Das Erstaunen, das der Autor vom Leser erwartet, wird also nicht im Moment der abschließenden Betrachtung erzeugt, als wäre der verwandelte Körper ein zu bewunderndes Kunstwerk, sondern in der Beobachtung des laufenden metamorphischen Prozesses. Die Inspiration wird den Dichter dazu führen, die Metamorphose als einen Vorgang zu erzählen, in dem Kontinuität und Wandel mit anwesend sind. Diese

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Definition reicht aus, um die Weichen für eine der bekanntesten Deutungen von Ovids Metamorphose als »narrative Metapher« (Pianezzola 1999) zu stellen, der der erste Teil dieses Beitrags gewidmet ist.

33.2 Metamorphose und Metapher Von mehreren Studien wurde als wichtiges Charakteristikum der Metamorphosen betont, dass das aus der Verwandlung entstehende neue Wesen immer einen ›Kern‹ des vorherigen beibehält, sei es ein physisches Merkmal oder ein eigentümlicher Charakterzug, die Wiederholung einer Handlung oder die Fixierung einer Geste: Arachnes Webkunst wird zur Webtüchtigkeit der Spinne, der Schmerz und das Weinen der Heliaden spiegeln sich in der Gestalt der Trauerweiden wider, die Schönheit der Daphne erkennt man in der Pracht des Lorbeers. Die Herausforderung für Ovid besteht darin, das Fortbestehen dieses Wesenskerns im erstaunlichen Formenwechsel sichtbar zu machen. 1979 veröffentlichte Emilio Pianezzola den Aufsatz »La metamorfosi ovidiana come metafora narrativa« (»Ovids Metamorphose als narrative Metapher«), in dem er eine der von Ovid entwickelten Techniken untersuchte, die Metamorphose nicht als einen zu betrachtenden, sondern als einen zu erzählenden Akt darzustellen: Die Metamorphose sei in vielen Fällen die erzählerische Umsetzung von Metaphern, die in der poetischen Sprache üblich sind (vgl. dazu auch Barkan 1986, 23; Rosati 1983, 166–169 und 1999, 240– 224). Aufgrund der Ähnlichkeit, die in jeder Metapher sowie in jeder Metamorphose zwischen zwei unterschiedlichen Subjekten besteht, erzähle Ovid viele Metamorphosen, als ob sie die Verwirklichung der entsprechenden Metapher seien: Die Metamorphose ›verschiebe‹ die Metapher von der Sprach- auf die Erzählungsebene. Damit dies möglich ist, muss man sich vorstellen, dass jede Metamorphose ein Vorgang ist, in dem, analog dem Aufbau der Metaphern, eine »Dialektik von alius et idem« erkennbar sei (Pianezzola 1999, 36). In diesem Zusammenhang zitiert Pianezzola Gérard Genette, nach dem »il y a dans toute métaphore à la fois la mise en œuvre d’une ressemblance et celle d’une différence, une tentative d’›assimilation‹ et une résistance à cette assimilation, faute de quoi il n’y aurait qu’une stérile tautologie« (Genette 1966, 46). Das erste von Pianezzola verwendete Beispiel ist die Niobe-Episode, deren Metamorphose zu Stein durch metaphorische Ausdrücke angekündigt und ›vorbereitet‹ wird. Die leidende Niobe wird nämlich aufgrund

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_33

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V  Themen und Konzepte

des Todes all ihrer Kinder metaphorisch als ›versteinert‹ beschrieben (Ov. met. 6, 301–305): »Während sie fleht, fällt die, für die sie fleht; und verlassen / bleibt sie zwischen den Toten, den Söhnen, den Töchtern, dem Manne / und erstarrte im Schmerz. Die Lüfte bewegen kein Haar, die / Röte des Blutes weicht aus den Wangen. Im traurigen Antlitz / stehn die Augen starr. Kein Leben bleibt in dem Bilde.« Die Metamorphose hat hier noch nicht begonnen, aber der Dichter spielt mit der Mehrdeutigkeit zwischen wörtlichem und übertragenem Sinn von Ausdrücken wie deriguit malisque (V. 303): Niobe ist immer noch eine Frau, aber die Steifheit ihres unbeweglichen Körpers, die nach einer etablierten Praxis mit der Härte des Steins verglichen wird, wird bald der einzige Bestandteil, der von ihr überleben wird: Die Metamorphose bewahrt in der Realität für immer die metaphorische Ähnlichkeit, aus der sie hervorgegangen ist. Der Dichter eignet sich daher poetische Bilder an und ›übersetzt‹ sie in Geschichten, indem er sie wörtlich nimmt: Sprachliche Modelle der Repräsentation der Welt, die sich auf symbolische Verbindungen zwischen ungleichen Wesen berühren, bilden die Axiome einer neuen Physik sub specie metaphorae. Die Poesie lässt die Welt entstehen. Die enge Beziehung zwischen Metapher und Metamorphose, die Pianezzola auf eine stilistische und rhetorische Untersuchung beschränkt, wird von Ernst August Schmidt in aitiologischer und anthropologischer Hinsicht entwickelt: »Pianezzola beschreibt die ovidische Technik, bei Metamorphosen von Metaphern auszugehen, während ich die Funktion der Metamorphose herausstelle, Aition für die metaphorische Bedeutung eines Naturwesens zu sein« (Schmidt 1991, 63). Der Abstand zwischen den zwei Standpunkten hängt von völlig unterschiedlichen theoretischen Prämissen ab: Pianezzola interessiert sich für eine stilistische Technik und wählt allgemeine Metaphern aus, die breite Kategorien von Metamorphosen aufzeigen (z. B. Mensch-Stein oder Mensch-Baum). Der grundlegende Ausgangspunkt von Schmidts Untersuchung besteht hingegen darin, dass die Welt, wie wir sie kennen, weitgehend aus der Transformation von ›menschlichem Rohstoff‹ resultiere: Daraus folgten die metaphorische Verbindung und damit das Aition zwischen dem Naturwesen und dem Menschen. Die chronologische Beziehung zwischen Metapher und Metamorphose ist demzufolge umgekehrt: Aus der Metamorphose entwickelt sich die Metapher. Zusammengefasst: Im Rahmen der Niobe-Episode legt Pianezzola den Akzent darauf, wie Ovid in der Beschreibung ihrer Versteinerung vom Schatz derje-

nigen metaphorischen Ausdrücke profitiert, die generell die menschliche Härte mit der eines Steins verbinden. Die gleiche Methode kann man nach diesem Muster bei vielen weiteren Metamorphosen der gleichen Art anwenden. Schmidt unterstreicht hingegen, dass eine menschliche Form in einem bestimmten Stein – in Niobes Fall, im Felsen im Sypylongebirge (met. 6, 311–312) – zu erkennen ist, weil dieser Stein anfangs ein bestimmter Mensch war. Der Mensch lässt die Welt entstehen. Schmidts Interpretation gibt außerdem zu verstehen, dass das aitiologische Gedächtnis die einzige Form der Unsterblichkeit ist, die den verwandelten Menschen gewährt wird. Dies deutet darauf hin, dass in jeder Metamorphose, obwohl sie vom ›menschlichen Rohstoff‹ ausgeht, genau das verloren wird, was den Menschen wirklich zum Menschen macht, nämlich Gefühle, Verstand und Selbstwahrnehmung. Ausgerechnet der Mythos von Niobe zeigt jedoch, dass die Situation nicht so einfach ist.

33.3 Metamorphose zwischen Entität und Identität In Ovids Hexametergedicht erweist sich die Metamorphose in den meisten Fällen als eine sanftere Todesart, die die Charaktere oft von Schmerz, Schaden oder Schuldgefühlen befreit (Labate 2019). Auch wenn die Metamorphose sich als Strafe darstellt, hat das neue Naturwesen keine menschlichen Gefühle und Gedanken mehr, im Gegensatz zur ›Ur-Metamorphose‹ der literarischen Tradition, der homerischen Episode der von Circe bewirkten Transformation von Odysseus’ Gefährten in Schweine. Nach diesem Modell, das sich in der westlichen Literatur von Apuleius’ Metamorphosen bis zu Kafkas Verwandlung durchgesetzt hat, ist das verwandelte Individuum sich seiner selbst bewusst und leidet darunter. Weit davon entfernt, ein bewusster, schmerzhafter Zustand zu sein, erscheint die Metamorphose bei Ovid als ein Anästhetikum mit unendlicher Wirkung: Wenn das nicht der Tod ist, geht es ihm jedoch sehr nahe. Das Gedicht vermittelt dem Leser, der ohne Unterbrechung von einer Metamorphose zur anderen übergeht, den Eindruck eines ständigen Wandels; jeder einzelne Charakter hingegen betritt und verlässt die Szene mit dem endgültigen Übergang von einer Identität zu einer Entität: Die Metamorphose ist das ultimative Ziel, zu dem sich das Schicksal der Charaktere neigt (Holzberg 1997, 156).

33  Metamorphose: Kontinuität und Wandel

Ausgehend von diesen Überlegungen könnte man die folgenden Schlussfolgerungen ziehen: Die Metamorphose bewahrt einige Charakterzüge der Figur und sorgt auf diese Weise für ihre ›Unsterblichkeit‹ (so wird die Verbindung zum ursprünglichen Wesen gewährleistet); gleichzeitig aber opfert sie dafür den wichtigsten Charakterzug des Menschen, nämlich seinen Geist, und hinterlässt ihm lediglich die bloße Existenz (so ergibt sich ein starker Bruch hinsichtlich des ›Davor‹ des Individuums). Kehrt man nun zu der Definition zurück, die Genette der Metapher gegeben hat, stößt man auf die Worte »tentative d’›assimilation‹« und »résistance à cette assimilation«: Das heißt, dass die Identifikation zwischen den beiden verglichenen Objekten zu keinem vollständigen Ausgleich der Unterschiede führt. Dementsprechend stellt Pianezzola drei Phasen fest, die sich in der ovidischen Erzählung der Metamorphose erkennen lassen (Pianezzola 1999, 33): In der ersten, der »preparazione« (»Vorbereitung«) oder der »ambiguità« (»Zweideutigkeit«), spielt der metaphorische Sprachgebrauch auf die unmittelbare Metamorphose an; in der zweiten Phase, in der sich die eigentliche Verwandlung vollzieht, wird beschrieben, wie die einzelnen Teile des ursprünglichen Körpers in der neuen Gestalt ihre dazu passende Form finden; in der dritten Phase, der »persistenza« (»Fortbestehen«), kehrt die anfängliche Zweideutigkeit zurück, wobei es nun nicht mehr um die Grenzen zwischen Sprache und Realität geht (ist die Metapher noch eine Metapher, oder hat die Metamorphose bereits begonnen?), sondern um den ›ontologischen‹ Status des neu geschaffenen Wesens. In der Niobe-Episode entspricht diese letzte Phase den folgenden Versen (Ov. met. 6, 310–312): »[...] und dennoch / weint sie. Und von dem Wirbel umfaßt eines mächtigen Windes, / ward sie zur Heimat entführt; dort niedergelassen auf Berges / Gipfel, zerfließt sie, und heut noch entrieseln die Tränen dem Marmor.« Niobe wurde in einen Felsen verwandelt, doch Tränen fließen über ihr Steingesicht: Tränen, die Pianezzola (34) als »resistenza al totale annullamento dell’essere originario« (»Widerstand gegen die totale Aufhebung des ursprünglichen Wesens«) bezeichnet, die Spur eines ausgeprägten menschlichen Schmerzes. Seltsamerweise werden aber die problematischen Folgen einer solchen Beobachtung nicht untersucht: Deuten die Tränen der Niobe darauf hin, dass sich die Frau auch nach der Metamorphose weiterhin ihrer selbst bewusst ist? Noch merkwürdiger ist jedoch, dass Pianezzola ausgerechnet die Verwandlung Niobes als Beispiel für

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die Erläuterung seiner These gewählt hat, obwohl sie eine der wenigen Ausnahmen innerhalb des Hexametergedichts bildet. Das Fortbestehen von Elementen nach der Metamorphose, die einer nicht mehr menschlichen Natur so offensichtlich fremd sind, findet man tatsächlich nur in drei weiteren Fällen. Der erste ist der von Myrrha (met. 10, 488–514): Die Tränen, die aus dem Myrrhenbaum fließen, zu dem das Mädchen geworden ist, kristallisieren zu Bernstein; der Baum gebiert außerdem einen menschlichen Sohn, Adonis, und während der Entbindung windet er sich vor Schmerzen, wie eine Frau in den Wehen. Der zweite ist der von den Heliaden (met. 2, 340–366): Verwandelt in Trauerweiden, versucht ihre Mutter sie aus ihren Rinden zu reißen, um sie zu befreien, doch kommen nur Blut und Wörter heraus. Der dritte ist der von Cadmus und Harmonia (met. 4, 598–606): In Schlangen verwandelt, bewahren sie die Erinnerung an ihre Vergangenheit und lassen sich dank der Heldentaten ihres Enkels in ihrem neuen Zustand trösten. Was Io, Callisto und Actaeon betrifft (vgl. Rosati 1983, 110–114; Frécaut 1985), so ist ihr »alter menschlicher Verstand« (vgl. met. 2, 485, mens antiqua, und 3, 203, mens pristina) durch die vorübergehende Dauer ihrer Metamorphose gerechtfertigt (Labate 2019), die eine psychologische Untersuchung über »das Schisma des Tiermenschen« erlaubt (Schwindt 2016, 72). In allen anderen Episoden gibt es keine Anzeichen für das Überleben menschlichen Bewusstseins im aus der Metamorphose entstehenden Wesen. In diese Richtung geht jedoch Alison Sharrock, die anhand der Myrrha-Episode die folgende These aufstellt: »On the one hand, it might be that a crucial feature of post-metamorphic existence is the loss of individuality, as the individual becomes the species [...] but on the other hand the loss of individuality never actually appears in the poem. One might almost wonder whether that such loss only arises when the storyline moves away. Myrrha remains an individual suffering childbirth and Daphne remains resistant to the amorous advances of Apollo, until the narrative leaves them. It is only at that point, perhaps, that they are transferred from a state of individuality, and, all too often, individualized suffering, into the fixity and generality of species, the myrrh tree, the laurel tree.« (Sharrock [i.E]). Sharrock lässt den Schatten einer beunruhigenden Hypothese in den Text eindringen: Dass verwandelte Menschen erst dann ihre Identität verlieren würden, wenn die erzählerische Stimme sich um sie nicht mehr kümmert und das Interesse der Leser zu weiteren Geschichten gelenkt wird. Aber dafür

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V  Themen und Konzepte

gibt es keine Garantie und man wird nimmermehr erfahren, wann und wenn überhaupt »the loss of the individuality« stattfinden wird: vielleicht nicht. Eine solche Vermutung würde die Welt der Metamorphosen in eine schreckliche Hölle verwandeln, in der fast jedes Naturwesen das ewige Gefängnis einer menschlichen Seele verkörpern würde. Jedoch ist das Universum der Metamorphosen viel fließender: Denkt man z. B. an die Wiedergeburtstheorie des Pythagoras, die eine weitere Vorstellung des Schicksals der Seele vertritt. Die oben genannten Fälle sind unbestreitbare Ausnahmen von der allgemeinen Regel der Metamorphose als Verlust der Selbstwahrnehmung. In der Einsamkeit von Tomis scheint Ovid selbst das bedrohliche Potential bemerkt zu haben, die solche Ausnahmen für seine Metamorphosen darstellen könnten.

33.4 Die unmögliche Metamorphose Bisher ist die vorliegende Untersuchung auf das Konzept der »Metamorphose« ausgerichtet, dem sich Ovid in seinem Hauptwerk explizit gewidmet. ›Metamorphose‹ ist ein Begriff, der sowohl als Formel zum Verständnis von Ovids lebenslanger Experimentierfreude (s. Kap. 8) verwendet werden kann als auch als »Bild, das der Dichter durch seine Darstellung der bei ihm auftretenden Personen und der sie umgebenden Welt vermittelt« (Holzberg 1997, 30). Liest man die folgenden Verse, wird klar, wie sehr Ovid die Idee der Metamorphose als grundlegend für die Darstellung seiner eigenen Existenz betrachtet, als ob er die Grenzen zwischen Realität und Literatur nicht mehr erkennen könnte (oder wollte) (Ov. trist. 1, 1, 199–122): »Dann sind da die ›Verwandlungen‹ noch in dreimal fünf Büchern, / Dichtungen, welche man jüngst meiner Vernichtung entriß. / Ihnen richtest du aus, daß auch die Gestalt meines Schicksals / einzutreten verdient in der Verwandelten Kreis. / Ist doch sein Aussehn jetzt dem früheren gar nicht mehr ähnlich: / heut ist’s zum Weinen, dereinst war es von heiterer Art.« Zu Beginn der Briefsammlung treibt der Autor den Leser an, die plötzliche Veränderung seiner Lebensumstände als Fortsetzung der in den Metamorphosen erzählten Mythen anzusehen. Wer glaubt, dass der Dichter einen metaphorischen Vergleich zwischen seinem Leben und den Erzählungen der Metamorphosen anstellt, irrt sich: Wie Ovid in den einzelnen Episoden seines Hexametergedichts fiktive Metaphern verwirklicht hatte, so werden nun fiktive Geschichten zum Spiegel seiner realen Lebenserfahrung in Tomis, in de-

nen der Autor Trost für seinen hoffnungslosen Zustand finden kann. Diese Selbsttäuschung erhält er allerdings nicht immer aufrecht (Ov. Pont. 1–2, 27–34): »Ach, meine Tränen versiegen nur dann, wenn Betäubung sie hindert / und in der Brust mein Herz scheint wie im Tode erstarrt. / Glücklich war Niobe noch, wieviel sie auch Tote beklagte; / denn verwandelt in Stein fühlte sie nimmer ihr Leid; / glücklich auch ihr, bei denen mit saftiger Rinde die Pappel / den um des Bruders Tod klagenden Mund überzog! / Ich bin der, dem Verwandlung in keinen der Bäume gewährt wird; / ich bin’s, welcher umsonst Felsen zu werden gewünscht.« Der Exilierte leidet in Tomis unter einem anhaltenden Schmerz und seine Tränen fließen fast ununterbrochen. Manchmal aber kann es zu kurzen Pausen kommen, in denen der Tränenfluss stehenbleibt. Der similis morti [...] torpor (V. 28), der an die Stelle des wachsamen Bewusstseinszustands tritt, löst für einen Moment die Hoffnung aus, den Kontakt mit dem Mythos herstellen zu können: Indem er seinen eigenen Körper nicht mehr spürt, gaukelt sich Ovid vor, dass dies der Ausgangspunkt einer tödlichen Metamorphose sein könnte, wie er es so oft in seinem Hauptwerk erzählt hatte. Diese Annahmen sind natürlich vergeblich: Tränen strömen wieder, der Schmerz kommt überwältigend zurück, denn eine Metapher kann in der realen Welt nicht zur Metamorphose führen. Dem Dichter wird jetzt endlich deutlich, dass eine klare Trennung zwischen ihm und der Welt des Mythos besteht: Daraus folgen die bittere Feststellung seiner eigenen Ausnahmesituation (V. 33, ille ego sum) und der makarismós von Niobe und den Heliaden. Der Verweis auf die beiden Mythen klingt jedoch paradox. Unter den vielen Fällen von ›regulären‹ Verwandlungen, die Ovid zur Verfügung gehabt hätte, scheint er genau die seltenen Beispiele ausgewählt zu haben, in denen eine gewisse Mehrdeutigkeit in Bezug auf den Zustand des neuen Wesens im Text zu ahnen war: Mehrdeutigkeit zwischen Leben und Tod, Selbstwahrnehmung und Unempfindlichkeit, Kontinuität und Abbruch. Diese regelabweichenden Fälle werden ›ausgeglichen‹: Niobe und die Schwestern Phaethons sind ihrer sich selbst und ihres Schmerzes nicht mehr bewusst und erlangen erst dadurch ewigen Frieden. Das in den Metamorphosen geschilderte Universum, die Bühne für die fraglichen Grenzen zwischen dem ›Vorher‹ und dem ›Nachher‹ eines Individuums, wird durch eine viel unkompliziertere Einstellung ersetzt: Nichts Menschliches bleibt, als Niobe und die Heliaden zu Stein oder zu Bäumen geworden sind. In dieser neuen vereinfachten Version der mythischen Welt

33  Metamorphose: Kontinuität und Wandel

herrschen Strenge und sogar Gerechtigkeit, da der Leser schon weiß, was den einzelnen Figuren passieren wird. Gerettet werden damit die ›Unschuld‹ des besten Werkes Ovids und das ›beruhigende‹, erstaunliche Spektakel, das dort fast immer inszeniert wurde: Niobe und die Heliaden müssen nicht mehr leiden, wenigstens sie nicht. Die ›Hölle‹ liegt in Tomis. Literatur

Barchiesi, Alessandro: Introduzione. In: Ders. (Hrsg.): Ovidio. Metamorfosi, I (libri I–II). Milano 2005, cv–clxi. Barkan, Leonard: The Gods Made Flesh. Metamorphosis and the Pursuit of Paganism. New Haven 1986. Frécaut, Jean Marc: Un thème particulier dans les ›Métamorphoses‹ d’Ovide. Le personnage métamorphosé gardant la conscience de soi (Mens antiqua manet: II, 485). In: Ders./Danielle Porte (Hrsg.): Journées ovidiennes de Parménie. Actes du Colloque sur Ovide (24–26 juin 1983). Bruxelles 1985, 115–143. Genette, Gérard: Proust Palimpseste. In: Ders. (Hrsg.): Figures I. Paris 1966, 39–68. Holzberg, Niklas: Ovid. Dichter und Werk. München 1997. Labate, Mario: Instabilité de l’individu, stabilité du monde. Ovide et le projet augustéen. In: Hélène Casanova-Robin (Hrsg.): Ovide, le transitoire et l’éphémère. Une exception à l’âge augustéen? Paris 2019, 267–287.

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Pianezzola, Emilio: La metamorfosi ovidiana come metafora narrativa. In: Der. (Hrsg.): Ovidio. Modelli retorici e forma narrativa. Bologna 1999, 29–42. Bereits in: Retorica e Poetica. Quaderni del Circolo filologico-linguistico padovano, 10 (Atti del III Convegno italo-tedesco, Bressanone 1975). Padova 1979, 79–91. Rosati, Gianpiero: Narciso e Pigmalione. Illusione e spettacolo nelle ›Metamorfosi‹ di Ovidio. Firenze 1983. Rosati, Gianpiero: Form in Motion. Weaving the Text in the ›Metamorphoses‹. In: Philip Hardie/Alessandro Barchiesi/Stephen Hinds (Hrsg.): Ovidian Transformations. Cambridge 1999, 240–253. Sharrock, Alison: Ambobus pellite regnis. Between Life and Death in Ovid’s ›Metamorphoses‹. In: Joseph Farrell/ Damien Nelis/Alessandro Schiesaro (Hrsg.): Ovid: Death and Transfiguration (Rome 9–11 March 2017). Im Erscheinen. Schmidt, Ernst August: Ovids poetische Menschenwelt. Die ›Metamorphosen‹ als Metapher und Symphonie. Heidelberg 1991. Schwindt, Jürgen Paul: Thaumatographia oder Zur Kritik der philologischen Vernunft. Vorspiel: Die Jagd des Aktaion (Ovid, ›Metamorphosen‹ 3, 131–259). Heidelberg 2016.

Laura Aresi

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V  Themen und Konzepte

34 Mythos/Mythologie 34.1 Mythos – Definitionen und Funktionen Der Begriff des Mythos ist komplex und besitzt viele unterschiedliche Aspekte. Es gibt zahlreiche Definitionen, die eng mit den Funktionen, die man dem Mythos zuweist, variieren. Oftmals spiegeln diese Funktionen die Weltanschauung bestimmter Mythentheoretiker wider, die typisch für ganze Epochen sein können, oder sie entsprechen sogar der spezifischen Vision einzelner Autoren und Künstler, die zu verschiedenen Zeiten von Mythen inspiriert wurden. Am kürzesten und allgemeinsten ausgedrückt sind Mythen (auf Lat.: fabulae) ›phantastische Erzählungen über Götter und Helden‹. Diese Definition wurde im Lauf der Zeit mit vielfältigen – zeittypischen – Ergänzungen und Präzisierungen versehen. So betonte die rationalistische Position (typisch für die Aufklärung), dass Mythen ursprünglich von den Priestern angewendet wurden, um die Gesellschaft zu kontrollieren. Ganz im Gegenteil, einer anderen Theorie nach (populär in der Romantik), dienten Mythen dazu, eine absolute Wahrheit zu offenbaren, die sich dem rationalen Verständnis des Menschen entziehe (Blumenberg 1979). Unabhängig von der Theorie, der man sich anschließt, ist eines sicher: Seit Jahrtausenden und bis in die Gegenwart bereiten Mythen Vergnügen (ästhetische Funktion; vgl. die Theorie des Homo ludens von Johan Huizinga) und konfrontieren die Menschen mit universellen Fragen nach der Ursache des Lebens und anderer Phänomene (aitiologische Funktion; aition – griech. ›die Ursache‹), und nach der moralischen Ordnung der Welt (didaktische Funktion). Dabei bieten Mythen eine unerschöpfliche Fundgrube an spannenden Motiven, die die Kultur befruchten, sowohl durch Rückgriff auf die antiken Quellen als auch durch den vielfältigen Prozess ihrer Rezeption (Barthes 1957). Infolgedessen liefern sie Inspiration für neue Generationen von Künstlern; sie bilden einen gemeinsamen Kulturcode, der einen Dialog über die Grenzen verschiedener Länder und Epochen hinweg zu führen erlaubt; und werden zum Spiegel des aktuellen Geschehens, dessen Kern sich dadurch besonders klar herausarbeiten lässt.

34.2 Mythos und Mythologie im Werk Ovids Die mythischen Fäden sind tief in die Textur von Ovids Werken eingewoben, und man kann in seinen Gedichten je nach Kreativitätsphase unterschiedliche Wirkgrade der mannigfachen Mythen-Funktionen beobachten (Graf 2002). Es wird allgemein angenommen, dass die Mythen bei Ovid – in denjenigen seiner Werke, die erotischen Themen gewidmet sind (Amores, Ars amatoria, Remedia amorum, De medicamine faciei femineae) – vor allem die ästhetische Funktion erfüllen. Zugleich aber sind die Mythen Instrumente der Didaktik als exempla, die die Thesen des Dichters illustrieren (z. B., dass den Männern ein nachlässiges Äußeres gemäß ist – forma viros neglecta decet, ars 1, 509, wie im Fall des waldliebenden Adonis). Dies tun sie oft mit Humor, doch auch mit dem Ziel, dank des mythologischen Kulturcodes, sittliche Zensur zu umgehen, wie z. B., wenn Ovid die schönen Waden (crura) der Göttin Diana beschreibt (am. 3, 2, 31–32). Diese Funktionen lassen sich ebenfalls in den Werken beobachten, die Ovid in der Verbannung schreibt (Tristia, Epistulae ex Ponto), obgleich sich dort der Ton der Darstellung radikal ändert: So wird z. B. der Mythos von Actaeon, der zufällig zu viel von Dianas Schönheit gesehen hat, für den Dichter zur Metapher und zum Spiegel seines eigenen tragischen Schicksals (trist. 2, 103–106): cur aliquid vidi? cur noxia lumina feci? cur imprudenti cognita culpa mihi? inscius Actaeon vidit sine veste Dianam: praeda fuit canibus non minus ille suis. (»Weshalb sah ich etwas? Warum ward ich schuldig durch Blicke? Weshalb war ich der Tor, der die Verfehlung erkannt? Ohne Gewand, nichts ahnend, erblickte Actaeon Diana; Doch seinen Hunden dafür ward er nicht minder zum Raub.«)

Für die Problematik des Mythos sind jene Werke Ovids besonders wichtig, die wesentlich auf den mythologischen Geschichten beruhen. In den Heroides, die um das Thema Liebe kreisen, dienen Mythen Ovid dazu, sowohl die Struktur der damaligen Gesellschaft widerzuspiegeln (z. B. durch den Fokus auf mythologische Frauenfiguren), als auch ein Spiel mit seinen Vorgängern (imitatio und aemulatio, Graf 2002) zu treiben (so nimmt Ovid z. B. Protagonisten aus der römischen Epik von Naevius und Vergil, wie Dido und Aeneas, auf, und stellt sie in den elegischen Kontext

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_34

34 Mythos/Mythologie

mit neuen Motiven; s. Heroides 7, wo Dido ihre Schwangerschaft andeutet, während sie in Vergils Epos von einem Sohn nur träumte). In den Fasti hingegen entwickelt Ovid vor allem die aitiologische Funktion des Mythos, und zwar stets bezogen auf seine Gegenwart. Die Krönung von Ovids Mythopoetik sind aber die Metamorphosen – eine Sammlung von ca. 250 Mythen, die als die ›pagane Bibel‹ der Mythologie bezeichnet wird und eine ontologische Dimension hat. Dort geht Ovid den schwierigsten Fragen – denen nach der Natur der Welt und dem Sinn des Lebens – nicht aus dem Weg, auch wenn diese Fragen bei ihm oft im Gewand der Leichtigkeit verhandelt werden. Dieselben Fragen und Funktionen der Mythen werden im Prozess der Rezeption der Metamorphosen zu erkennen. Die Künstler, die Ovid in verschiedenen Epochen und Bereichen (inkl. der Populärkultur und des Alltagslebens) nachfolgen, werden von seinem Werk inspiriert und sie benutzen den mythologischen Kulturcode, um ihre eigenen Einstellungen zu definieren. In der Folge werden die antiken und insbesondere die ovidischen Mythen durch die Rezeption weiterentwickelt, auch wenn sie im allgemeinen Bewusstsein der Gesellschaft keine Assoziationen mehr mit Ovid oder mit der antiken Literatur wecken (›strukturalistischer Ansatz‹ von Umberto Eco, s. z. B. Opera aperta, 1962, und A Theory of Semiotics, 1975). Quod erit demonstrandum (was zu beweisen sein wird) mit einem Beispiel.

34.3 Ovids Mythopoetik: Der Fall von Hylonome und Kyllaros Hylonome und Kyllaros sind die Protagonisten einer Episode aus dem zwölften Buch der Metamorphosen, wo Ovid – durch Nestor, den ältesten und klügsten Mann in Homers Welt – den Kampf der Kentauren mit den Lapithen wiedergibt (V. 393–428, s. Kap. 63). Im Laufe der Erzählung von den brutalen Zusammenstößen, die auf der Hochzeit von Peirithoos mit Hippodameia stattfanden, zeigt uns Ovid ein höchst ungewöhnliches Paar von Kentauren: Hylonome und Kyllaros (vgl. DeBrohun 2004). Sie ist eine geschmeidige und wunderschöne – auf Altgriechisch bedeutet ihr Name ›Waldweide‹ – Kentauride, die sich in Kyllaros verliebt und von diesem wiedergeliebt wird. Kyllaros’ Name, von unsicherer Etymologie, bezeichnet wahrscheinlich einen ›Lahmen‹ und lautet wie ein ironisches Oxymoron im Fall dieses Kentauren, der majestätisch wie eine Skulptur ist. Kyllaros und seine

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Liebste sind einzigartig auch deshalb, weil aus der Gruppe der edlen Kentauren in der Mythologie nur Cheiron und Pholos namentlich bekannt sind. Vor Ovid haben wir nie von Kyllaros und Hylonome gehört und schon die Präsenz einer Kentauride in der Literatur ist äußerst selten. Man kann also vermuten, dass es sich bei dieser mythologischen Episode um eine eigene Kreation von Ovid im Sinne der aemulatio mit seinen Vorgängern handelt (DeBrohun 2004). Darüber hinaus scheint er hier gegen Lukrez zu polemisieren, der in seinem didaktischen Epos De rerum natura gerade am Beispiel der Kentauren die Existenz mythologischer Wesen leugnete (5, 878–881). Ovid stellt die Existenz von Kentauren nicht in Frage. Stattdessen konzentriert er sich – mit intertextuellen Anspielungen an De rerum natura (DeBrohun 2004) – auf Details ihres Aussehens und überlegt, unterstützt von Nestors Autorität, ob man im Fall des Kyllaros von Schönheit sprechen kann (met. 12, 393–394). Hierbei führt Ovid auch einen intertextuellen Dialog mit seinem eigenen didaktischen Gedicht, der Ars amatoria. Er macht mit Hylonome die Frau zum aktiven Part in der Liebe. Die Kentauride kämpft um Kyllaros’ Zuneigung – genauso wie die Rezipientinnen der Ratschläge Ovids aus Buch 3 der Ars, das er speziell für Frauen geschrieben hat. Hylonome kleidet sich schön, sie schmückt ihr Haar mit Blumen, und sie badet sogar zweimal am Tag (bisque die lapsis Pagasaeae vertice silvae / fontibus ora lavet, bis flumine corpora tingat, »Zweimal am Tage wäscht sie das Antlitz im Quell, der von Pelions / Waldigem Gipfel fließt, und badet zweimal im Flusse«, met. 12, 412–413), auch wenn Ovid in der Ars amatoria nur ein Bad empfohlen hatte (oraque suscepta mane laventur aqua, / »morgens sollte das Gesicht [der Mund] mit aufgenommenem Wasser gewaschen werden«, ars 3, 198). Wir sehen hier ein interessantes Spiel des Dichters mit der dualen, pferdemenschlichen Natur der Kentauren, das den Rezipienten eine ästhetische Erfahrung im Laufe der Lektüre anbietet (DeBrohun 2004, 435). Hylonome gewinnt Kyllaros’ Liebe und bestätigt damit die Wirksamkeit des ovidischen Liebesratgebers. Die Entwicklung der Beziehung zwischen den beiden Kentauren ist nicht weniger ungewöhnlich. Ovid stellt die Konventionen in Frage: Kyllaros und Hylonome scheinen ein rechtmäßiges Ehepaar zu sein, doch eine rechtliche Eheschließung scheint unter diesen Geschöpfen ausgeschlossen zu sein. Zudem gibt es in ihrer Beziehung keinen Platz für die Dominanz einer Seite. Sie sind gleichberechtigt und machen alles gemeinsam. Das tragische Ende ihrer Teilnahme am

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V  Themen und Konzepte

Kampf mit den Lapithen ist eine weitere Stufe von Ovids Spiel mit den Konventionen. Der Dichter führt ein elegisches Motiv in die epische, kriegerische Szene ein. In der Hitze des Kampfes wird Kyllaros von einem Speer verletzt. Er fällt zu Boden und stirbt in den Armen seiner Geliebten. Hylonome gelingt es, ihm noch etwas zu zuflüstern, aber – wie Ovid berichtet – ist Nestor wegen des Kampflärms nicht in der Lage, ihre Worte zu hören und zu verstehen. Sie werden für immer ein Geheimnis bleiben. Ebenso wird es nie bekannt werden, wer den tödlichen Speer geworfen hat, weil – im Gegensatz zur epischen Konvention – die Rache in diesem Fall irrelevant wird. Hylonome stürzt sich in denselben Speer, der das Herz ihres Ehemannes (Ovid benutzt den Terminus maritus) durchdrungen hat. Ohne ihn wollte sie nicht weiterleben. Wer hier eine ›konventionelle‹ Metamorphose erwartet, der wird enttäuscht sein. Doch die mythologischen Geschöpfe, die nach Lukrez nur eine Phantasie sind, erteilen uns bei Ovid eine zeitübergreifende Lektion über das Leben, den Tod und die Liebe (DeBrohun 2004).

34.4 Hylonome und Kyllaros nach Piero di Cosimo Ovids Mythos hat den Renaissance-Maler Piero di Cosimo (1462–1522) dazu inspiriert, die mitreißende Szene des Todes von Kyllaros und Hylonome ins Bild zu setzen (1500–1515). Das Bild ist in einem intermedialen, künstlerische Bereiche überschreitenden Dialog mit dem Dichter entstanden. Obwohl dieses Werk nur eines von vielen ist, die in verschiedenen Epochen zum Mythos der Schlacht zwischen Lapithen und Kentauren entstanden sind (s. Kap. 63), unterscheidet es sich von den anderen dank der gewählten Szene und prägt sich den Betrachtern in besonderer Weise ein. Die Brutalität des Mythos lässt den Zuschauer ein blutiges, menschlich-tierisches Durcheinander erwarten. Doch tritt die Schlacht zwischen den zwei Gruppen von Hochzeitsgästen bei di Cosimo in den Hintergrund. Im Vordergrund befinden sich Hylonome und Kyllaros. Wir sehen das Paar kurz vor seinem Tod. Er ist schwer verletzt, sie hält ihn in den Armen. Verzweifelt versucht sie sein Gesicht ihrem eigenen näherzubringen, damit sich ihre Lippen noch einmal in einem letzten Kuss vereinigen könnten. Die Figuren von Hylonome und Kyllaros sind auf dem Bild in die Form eines Dreiecks eingeschrieben, das in der Kunst (Kulturcode-Funktion) Perfektion symbolisiert. Die untere Seite des Dreiecks bedeutet das Fundament der Welt,

und seine Spitze weist auf eine höhere Macht hin. Auf Cosimos Gemälde bilden die Pferdekörper des Kentaurenpaares das Fundament, über ihnen dominieren die menschlichen Teile ihrer Gestalten, und ganz oben sehen wir das Gesicht von Hylonome – der Kreatur, die unter mehreren Aspekten außergewöhnlich ist. Erstens handelt es sich um eine seltene Kentauride. Zweitens ist Hylonome ihrem Mann nicht untergeordnet. Drittens überraschen ihre Frisur und Kleidung durch Sorgfalt und Eleganz (DeBrohun 2004). Hylonome sieht nicht wie eine Wilde aus, die von einer blutigen Schlacht verschlungen wird. Ihr schön gekämmtes, mit einem Blumenkranz geschmücktes Haar und ein leichter weißer Schal machen die Kentauride einer Braut ähnlich (man sollte nicht vergessen, dass der Kampf der Menschen mit den Kentauren an der Hochzeit von Peirithoos und Hippodameia stattfindet!). Schließlich ist es Hylonome, die sich als einzige Figur auf dem ganzen Bild in allen ihren Anstrengungen darauf konzentriert, ein anderes Geschöpf nicht zu töten, sondern es zu retten. Doch Kyllaros’ Wunde ist unheilbar. Auf den Gesichtern der Ehegatten zeichnet sich ein verzweifeltes Verstehen ab. Ein heftiger Kampf herrscht ringsum, aber sie geben darauf nicht Acht. Sie verbringen die letzten Momente einander in den Armen liegend. Dank di Cosimos Darstellung, der den Mythos aus Ovids Metamorphosen weiterentwickelt, sind die Zuschauer in der Lage, ihre aus Ovids Text hervorgegangenen Vorstellungen mit einer visuellen Rezeption zu konfrontieren. Diese Konfrontation lässt sie über die stereotypen Gegensätze von Natur–Kultur, Krieg– Frieden, Mensch–Tier, Mann–Frau usw. nachdenken (DeBrohun 2004; Hedreen 2019). Hylonome und Kyllaros, dieses ungewöhnliche Paar von zweifacher, pferde-menschlicher Natur, drückt in seiner Umarmung Schönheit, Drama und Sinn des Lebens aus.

34.5 Rezeption in der Kinder- und Jugendkultur des 20. und 21. Jahrhunderts Die Teilnahme an der Schlacht gegen die Lapithen endete für Hylonome und Kyllaros tragisch, aber ihre Geschichte hat eine Fortsetzung erhalten, die man sogar als ein Happy End und schließlich als eine Metamorphose im Sinne eines katasterismós (Verstirnung) bezeichnen kann. Die Namen der Ehegatten (Element des Kulturcodes und der modernen Aitiologie) wurden den Planetoiden aus der Gruppe der Kentauren verliehen, die im 20. Jahrhundert auf dem Orbit zwischen Jupiter und Neptun entdeckt wurden.

34 Mythos/Mythologie

Die Kentauren wurden auch in die Kinder- und Jugendkultur aufgenommen (Maurice 2015). Auf diesem Feld aktualisieren sich alle bisher definierten Funktionen von Mythen, mit dem Primat jener ästhetischen und didaktischen, die ermöglichen, den jungen Lesern ernste Aspekte leichter zugänglich zu machen. Die Inspiration durch Ovids ungewöhnliche Bearbeitung der Mythen führt dazu, dass Autoren der Kinder- und Jugendliteratur ›eigene‹, ebenso großmütige Kentauren schaffen. Solche Kreaturen bewohnen beispielsweise die Welt der Narnia-Romane (1950–1956) C. S. Lewis’, wo sie die Dualität der menschlichen Natur repräsentieren. Die klassische Figur des Helden-Erziehers Cheiron, aber auch eine Herde so wilder wie wohlgesinnter Kentauren hat Rick Riordan in die Romane über Percy Jackson (2005–2009) eingeführt. Eine höchst interessante variatio des antiken Topos im intertextuellen Dialog mit der Antike und der mittelalterlichen Rezeption hat Joanne K. Rowling mit dem Kentauren Firenze geschaffen, den Harry Potter schon im ersten Band, Harry Potter und der Stein der Weisen (1997), kennenlernt. Der Name des Kentauren bedeutet auf Italienisch ›Florenz‹, was eine Anspielung auf den berühmtesten Einwohner dieser Stadt, Dante Alighieri, und mit ihm auf sein bekanntestes Werk, Die Göttliche Komödie, sein könnte (Kulturcode). Wie der Dichter seinen Führer Vergil, der die Weisheit der Antike symbolisiert, so trifft auch Harry Firenze in einem dunklen Wald, und es ist gerade der Kentaur, der die antike Tradition verkörpert, der dem Jungen das Leben rettet und Harry als einer der ersten das Wesen seines Kampfes gegen das Böse erklärt (Hofmann 2015). Dieser Kampf ist nicht weniger brutal als der zwischen den Kentauren und den Lapithen, und wie im Fall von Hylonome und Kyllaros wird dem Jungen nur die Liebe ermöglichen, die Dunkelheit zu überwinden. Harry wird auch den Tod besiegen, da Rowling, gemäß dem Grundsatz der aemulatio, ihre eigene literarische Welt kreiert, wo ein Happy End trotz allem möglich ist. Ein interessanter Bereich einer kreativen Rezeption von Ovids Mythen hat sich durch die Entwicklung der Kinematographie eröffnet. Eine der ersten Visualisierungen der Kentauren ist bereits 1921 entstanden, viele Jahrzehnte vor der durch Computertechnik gestützten Verfilmung der Romane von Lewis, Riordan und Rowling. Erhalten haben sich heute ca. zweieinhalb Minuten von Winsor McCays Animation The Centaurs, die die Liebesgeschichte von zwei pferdefüßigen Wesen darstellt. In den ersten Sekunden sieht man übrigens nur den oberen Körperteil der wie Hylonome

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blondhaarigen (so bei di Cosimo) Kentauride. Man erwartet also zunächst einfach eine schöne Frau. Dieser erste Eindruck ist sehr wichtig. McCay, im kreativen Dialog mit Ovid, stellt auf diese Weise ganz moderne und aktuelle Fragen nach der Essenz des Menschseins und nach dem Status jener Wesen, die sich von den Menschen dem Aussehen nach unterscheiden, doch die ebenso fähig sind, tiefe Gefühle zu empfinden. McCays faszinierende Animation ermöglicht auch den Zuschauern, dank der Technik der aemulatio, das Kind zu sehen, das aus der Beziehung dieses sich liebenden Paars entsteht – die Frucht der Liebe, für die Hylonome und Kyllaros keine Chance bekamen. Im berühmtesten Film, in dem die Kentauriden von ovidischer Abstammung auftreten, wurden sie zu Protagonistinnen eines moralischen Skandals. Es handelt sich um die bahnbrechende Disney-Animation Fantasia (1940), und zwar um dasjenige Fragment des Films, das die Sinfonie Nr. 6 F-Dur op. 68 (Pastorale) von Ludwig van Beethovens illustriert. Die halbnackten Figuren der Kentauriden (die in der Produktion als »Kentauretten« bezeichnet werden, was zusätzlich eine erotische Assoziation zur Burleske weckt) wurden für das junge Publikum als ›zu sinnlich‹ empfunden und erhielten Bustiers aus Blumen. Die moralische Zensur war jedoch nicht das größte Problem der Fabelwesen aus der arkadischen Welt von Fantasia. In der Originalfassung des Films taucht neben der atemberaubenden Kentauriden im Stil der amerikanischen Schönheitsköniginnen ihre kleine hufige Dienerin Sunflower auf. Sie ist keine typische Kentauride – statt des unteren Körperteils eines Pferdes hat sie eine ›Eselskomponente‹. Zu ihren Attributen gehören auch dunkle Haut, volle Lippen und eine Afro-Frisur. Sie befindet sich auf einer niedrigeren Stufe der Hierarchie als die anderen Kentauriden. Diese geben sich der Schönheitspflege hin, als ob sie treue Leserinnen von Ovids De medicamine faciei femineae und Ars amatoria Buch 3 wären. Sunflower, selbst ziemlich ungepflegt, kämmt ihnen die Schweife. Die Figur Sunflower wurde zu Recht als rassistisch inkriminiert. Das Problem besteht nicht nur darin, eine dunkelhäutige Kentauride als Dienstmädchen zu zeigen. Wie Kheli R. Willetts (2013), eine Spezialistin für afroamerikanische Kultur, bemerkt, greifen die Anspielungen viel tiefer: So hat beispielsweise der lateinische Name des Esels in der Taxonomie Equus africanus asinus einen deutlichen Bezug zu Afrika. Aus diesem Grund entfernte das Disney Studio in den 1960er Jahren, als sich eine gesellschaftliche Sensibilität hinsichtlich der Stereotypen entwickelte, diejenigen Szenen, in denen

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V  Themen und Konzepte

Sunflower und die ihr ähnliche Kentauride Otika auftauchen. Die Originalfassung wurde in den Archiven als Zeugnis der Geschichte und als Forschungsgegenstand für die Wissenschaft aufbewahrt, die in der Untersuchung der Rezeption des ovidischen Mythos der Kentauren einen Schlüssel zum besseren Verständnis der sich verändernden Welt und einen Spiegel der Gegenwart sieht.

34.6 Ovid in der Werbung Ovids Metamorphosen bleiben die Fundgrube der Mythen, die durch ihre breite Rezeption ein attraktives Material für Marketingspezialisten sind. Manchmal aber nimmt das Spiel mit der Antike in der Werbung eine unerwartete Wendung, wie man am Beispiel des Logos der Drogeriekette Rossmann sehen kann. Wenn man sich das Logo näher ansieht, erkennt man im roten Buchstaben ›O‹ eine Kentaurenfigur. Die DrogerieArtikel und Kosmetika rufen vor allem die Assoziationen mit Aphrodite/Venus hervor. Jedoch sind dank Ovids Hylonome und der Verarbeitung ihrer weiblichen Kentaur-Figur in der Gestalt von Kentauretten in Disneys Fantasia auch Kentauriden auf ihre Schönheitspflege hin orientiert. Die erste Rossmann-Drogerie wurde 1972 geöffnet, und kurz davor, im Dezember 1969, kam eine Neuauflage von Fantasia auf den Markt, was den Mythos in der Popkultur auffrischte und die aus der Antike stammende Inspiration des Unternehmens beeinflussen konnte. Die Drogeriekette entschied sich jedoch für einen männlichen Kentaur. Diese Wahl wird verständlich, wenn man den Namen des Firmengründers Dirk Rossmann analysiert. ›Rossmann‹ bedeutet nämlich wortwörtlich auf Deutsch: ›Pferdemann‹ (zum Weltfrauentag im März 2018 wurden Name und Logo im Rahmen der Werbekampagne »Lasst die Frau raus!« in ›Rossfrau‹ geändert). Der Bezug zur Mythologie scheint rein linguistisch zu sein, doch aktiviert er den Kulturcode und trägt zu einem positiven Image der Firma bei – wenngleich oft außerhalb des Kundenbewusstseins, aber im Marketing zählt auch die unterschwellige Botschaft. Kentauren waren ausgezeichnete Bogenschützen. Die Kreatur mit dem Bogen im Logo könnte also darauf hindeuten, dass die Kunden in der Drogerie unter der mythischen Schirmherrschaft des Kentaurs eine gute Wahl treffen werden. Das ist auch ein Beweis dafür, dass die Grundregel der Welt nach Ovid – die oxymorale Simultanität

der Transformation und Unvergänglichkeit (omnia mutantur, nihil interit – »alles ändert sich, nichts geht verloren«, met. 15, 165) – dank der Rezeption sogar heutzutage stattfindet. Literatur

Barthes, Roland: Mythologies. Paris 1957. Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos. Frankfurt a. M. 1979. Caesar, Michael: Umberto Eco. Philosophy, Semiotics and the Work of Fiction. Cambridge 1999. DeBrohun, Jeri Blair: Centaurs in Love and War. Cyllarus and Hylonome in Ovid ›Metamporphoses‹ 12.393–428. In: The American Journal of Philology 125 (2004), 417– 452. Eco, Umberto: Opera aperta. Milano 1962. Eco, Umberto: A Theory of Semiotics. Bloomington/London 1975. Graf, Fritz: Myth in Ovid. In: Philip Hardie (Hrsg.): The Cambridge Companion to Ovid. Cambridge 2002, 108– 121. Hedreen, Guy: The Question of Centaurs. Lucretius, Ovid, and Empedocles in Piero di Cosimo. In: Dennis Geronimus / Michael W. Kwakkelsten (Hrsg.): Piero di Cosimo. Painter of Faith and Fable. Leiden 2019, 188–209. Hofmann, Dagmar: The Phoenix, the Werewolf and the Centaur. The Reception of Mythical Beasts in the Harry Potter Novels and Their Film Adaptations. In: Filippo Carlà / Irene Berti (Hrsg.): Ancient Magic and the Supernatural in the Modern Visual and Performing Arts. London 2015, 163–176. Huizinga, Johan: Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, übers. von H. Nachod, Nachwort von Andreas Flinter. Hamburg 2011 (1. Originalausgabe 1938). Lukrez: Von der Natur, Hrsg. und übers. von Hermann Diels, Einführung und Erläuterungen von Ernst Günther Schmidt, Geleitwort von Albert Einstein. Berlin 32013. Marciniak, Katarzyna: Mitologia grecka i rzymska. Spotkania ponad czasem. Warszawa 2018. Maurice, Lisa: From Chiron to Foaly. The Centaur in Classical Mythology and Fantasy Literature. In: Lisa Maurice (Hrsg.): The Reception of Ancient Greece and Rome in Children’s Literature: Heroes and Eagles. Leiden/Boston 2015, 139–168. Miller, John F./Carole E. Newlands (Hrsg.): A Handbook to the Reception of Ovid. Chichester 2014. Mik, Anna: Walt Disney Studio, ›Fantasia‹ (›The Pastoral Symphony‹ Episode). The Our Mythical Childood Survey. In: http://www.omc.obta.al.uw.edu.pl/myth-survey/ item/23 (20.1.2019). Willetts, Kheli R.: Cannibals and Coons. Blackness in the Early Days of Walt Disney. In: Johnson Cheu (Hrsg.): Diversity in Disney Films. Critical Essays on Race, Ethnicity, Gender, Sexuality and Disability. Jefferson/London 2013, 9–22.

Katarzyna Marciniak

35  Philosophie und Psychologie

35 Philosophie und Psychologie 35.1 Feldbestimmungen Die Kategorien Philosophie und Dichtung, die ihren Gehalt aus der Differenzierung von Inhalt (res) und Form (verba) oder Wahrheit bzw. Glaubwürdigkeit und Fiktionalität beziehen, sind in der Antike nicht scharf trennbar. Wie schon Aristoteles in der Poetik bezeugt, haben frühe griechische Philosophen wie Empedokles ihre Inhalte in Versen, also dichterischer Form, verfasst. Dichterisches Denken und Sprechen stellt eine Form des Philosophierens dar (vgl. Grassi 1982, 261), so prominent im epikureischen Lehrgedicht De rerum natura des römischen Dichters republikanischer Zeit Lukrez, den auch Ovid rezipiert hat (vgl. Hardie 2009). Theoretisierungen der Natur, die nach modernem Verständnis in den Bereich der Physik fallen, sind in der Antike darüber hinaus Gegenstand der Naturphilosophie. Das hellenistisch-kallimacheische Ideal des gelehrten Dichters (poeta doctus) schließt auch eine Rezeption der philosophischen Texte ein, worauf auch Horaz in der Ars Poetica verweist (ars 310: rem tibi Socraticae poterunt ostendere chartae – »Wesen der Wirklichkeit läßt des Sokrates Weisheit dich schauen«). Ovid hat sich jedoch keiner der antiken Philosophenschulen zugeordnet, verwendet anders als Lukrez keine philosophischen Fachtermini (vgl. Otis 1970, 70) und war an keinem kohärenten philosophischen System interessiert (vgl. Myers 1997, 141). Der griechische Begriff (philosophia) findet sich nicht explizit, der lateinische (sapientia) und andere dem logos zuzuordnende Begriffe wie ratio oder prudentia nur vereinzelt. Dies hat ihm bei manchen den Ruf eines Pragmatikers (vgl. Beasley 2012, 314) und Eklektikers zugetragen (vgl. Otis 1970, 423). Zentral ist für Ovid gerade auch im Umgang mit philosophischen und psychologischen Fragen der griechisch-römische Mythos (s. Kap. 34). Der Beschäftigung mit diesem (z. B. in der philosophischen Form der Allegorese, vgl. Bernsdorff 2013), der Mythologie, kommt eine eigene Rationalität zu (vgl. Gerhardt 2004, 43–45), die auch in die Philosophie hineinwirkt. In Bezug auf die Psychologie ist festzuhalten, dass in der Antike keine psychologische Theorie (und Therapie) modernen Verständnisses existiert, die sich entweder (psycho-)analytisch-kulturwissenschaftlich oder naturwissenschaftlich-medizinisch definiert. Vielmehr sind die Lehre von der psyche, ihre Heilung

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und ihr Affekt-Apparat in der Antike Angelegenheiten der Philosophie, der Rhetorik (s. Kap. 22) und der Dichtung. Ovid verarbeitet diese in seinem Œuvre auf vielfältige Weise. Als Autor (verlorener) Tragödien wie der Medea betätigt er sich in einer Gattung, für die psychologisches Feingefühl zentral ist (vgl. Curley 2013). Auch in den Metamorphosen, den epischen Büchern über die Verwandlung und dem Kulminationspunkt des Œuvres, zeigt er Einflüsse des Dramas (vgl. Keith 2010). In der elegischen Liebesdichtung und der Lehrdichtung beschäftigt sich Ovid intensiv mit den Affekten. Seelenbegriffe wie anima, animus – aufgenommen in die analytische Psychologie Carl Gustav Jungs als Distinktion zwischen männlichem und weiblichem Prinzip (vgl. Henneböhl 2013, 89; s. Kap. 31) – oder mens finden sich häufig, vor allem in den Metamorphosen.

35.2 Wandel als philosophische und psychologische Fragestellung Ovid thematisiert in diesem Werk die Natur, (personale und anthropomorphe) Götter (s. Kap. 28) und Menschen. Das zentrale Thema Ovids ist jedoch der Wandel selbst. E. J. Kenney drückt dies konzise für das gesamte Œuvre aus: »Ovid was from first to last a worker of metamorphoses« (vgl. Kenney 2002, 27). Die in den Metamorphosen detailreich in Szene gesetzten Verwandlungen kommen zwar aus der mythographischen Tradition. Ovid lädt diese jedoch durch seine Fokussierung auf das Innenleben seiner Charaktere und die mannigfachen Anspielungen an die Philosophie mit philosophischen und psychologischen Theoremen auf. Im Proöm (met. 1, 1–4) verbindet Ovid den Wandel (mutatas, mutastis) allgemein mit dem Verhältnis von Körper und Form (in nova corpora, mutatas formas). Der Begriff animus, gesetzt als Subjekt sowohl des Satzes als auch der angekündigten Bewegung »in neue Körper«, schlägt über das Somatische die Brücke in den Bereich der (Tiefen-)Psychologie. Ohne das Gesamtkunstwerk aus dem Blick zu verlieren, können die einzelnen narrativen Episoden auch für sich betrachtet werden, die darüber hinaus auch als psychologische Fallgeschichten einen Eigenwert besitzen. So sind manifeste oder latente Charaktereigenschaften und Wesenszüge häufig zentral für das Resultat der Verwandlung: Der mordende Lykaon wird zum Wolf (met. 1, 209–239), die Weberin Arachne zur Spinne (met. 6, 142–145), der triebgesteuerte Jupiter in der Europa-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_35

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V  Themen und Konzepte

Episode zum Stier (met. 2, 833–875). Ovid ist fasziniert von den Gründen der menschlichen Seele: ihrer Verfasstheit, Triebstruktur, ihren Sublimierungsprozessen wie auch von ihren Abgründen: Strafbedürfnis, Unterwerfung, Wahnsinn, Mord. Die Betrachtung der Gedanken und Gefühle, des Innenlebens seiner Charaktere ist für Ovid dabei wesentlich. Die Verwandlungen gewinnen ihre Intensität auch durch Ovids Inszenierung und Engführung von Gegensätzen und Widersprüchen, Ordnung und Chaos sowie Schöpfung und Zerstörung. Rezipienten finden sich durch diese Seelenführung (Psychagogie) in einem Strudel von Wandlungen und dadurch ausgelösten Gefühlen wieder. So sind die Metamorphosen vor allem für die Psychoanalyse Freud’scher (vgl. Oliensis 2009) und Lacanscher (vgl. Harris 2013) Prägung eine profunde Quelle gewesen. Ambiguität (so durch das zwischen Einheit und Differenz changierende Gleichnis, vgl. Glinski 2012), Fluidität (so durch die Polyphonie verschiedener Erzähler, vgl. Kuhlmann 2017) und eine Tendenz zum Spielerisch-Ironischen sind Ovid, wie sich an der Vielfalt an Inhalten, Metren und Gattungen in seinem Œuvre zeigt, zentrale Gestaltungsmerkmale. In den Metamorphosen wird dies ab ovo naturphilosophisch fundiert.

35.3 Naturphilosophie als Ringkomposition in den Metamorphosen Bereits das Proöm ist eine Bezugnahme auf Lukrez (Lucr. 5, 546–548; vgl. Myers 1997, 6). In der folgenden Kosmogonie, einer mythologisch-aufgeladenen Erzählung von der Entstehung der Welt und des Menschen (met. 1, 5–88, s. Kap. 84) ist neben der Anknüpfung an die archaische Dichtung Homers und Hesiods (vgl. Myers 1997, 27–40) auch der Einfluss einer Kosmologie, wie sie Platon im Timaios entfaltet, beobachtet worden. Dieser lag Ovid wohl in Ciceros lateinischer Übersetzung vor. So ist das bei Ovid vor der weiteren Formung vorhandene Chaos (met. 1, 7: Chaos: rudis indigestaque moles: »eine rohe, verworrene Masse«) Platons »verworrener und ungeordneter Bewegung« (Tim. 30a: κινούμενον πλημμελῶς καὶ ἀτάκτως,) ähnlich (vgl. Schneeweiss 2011, 18– 20). In beiden Texten wandelt bzw. überführt ein demiurgischer Schöpfergott das Chaos in einen geordneten Kosmos. Auch die folgende Elementenlehre wird eng mit dem Thema des Wandels verbunden (met. 1, 15–20):

utque erat et tellus illic et pontus et aer, sic erat instabilis tellus, innabilis unda, lucis egens aer; nulli sua forma manebat, obstabatque aliis aliud, quia corpore in uno frigida pugnabant calidis, umentia siccis, mollia cum duris, sine pondere habentia pondus. (»Gab’s da auch Erde und Wasser und Luft, so konnte man dennoch/nicht auf der Erde stehen und nicht die Woge durchschwimmen;/ohne Licht war die Luft. Kein Ding behielt die Gestalt, und/eines stand im Wege dem anderen, weil in dem einen/einzigen Körper das Kalte mit Warmem kämpfte, mit Trocknem/Feuchtes, mit Hartem das Weiche und Schwereloses mit Schwerem.«)

Erde, Wasser und Luft werden ab dem Moment ihrer Entstehung als Naturkräfte in konflikthaften Wandlungsprozessen dargestellt, die ihre Potenz aus der Verbindung gegensätzlicher materieller Zustände in einem Körper gewinnen. Auch hier gibt es eine große Nähe zum »Atomismus platonischer Prägung« (vgl. Schneeweiss 2011, 20–24). Der Kosmogonie folgt die Entstehung des Menschen und der menschlichen Kultur. Der Schöpfungsakt ist dabei wie auch die Zerstörung eng mit der Natur verbunden: Prometheus erschafft den Menschen, dessen Alleinstellungsmerkmal die Verfü­ gungsgewalt über die mens ist, aus der mit dem göttlichen Samen behafteten Erde und Wasser (met. 1, 78–83). Auch nach der Sintflut entstehen die neuen Menschen mit göttlicher Hilfe aus Erde und Stein (met. 1, 416–433). In seiner Emphase des nach oben gerichteten Blicks (met 1, 85–86: os homini sublime dedit caelumque videre / iussit et erectos ad sidera tollere vultus – »ließ er den Menschen den Kopf hoch halten und hieß ihn den Himmel / schauen und aufrecht das Antlitz empor zu den Sternen erheben«) bedient sich Ovid einer stoischen Etymologie, die das griechische Wort für Mensch (ánthropos) von »nach oben blicken« (áno threin) hergeleitet hatte (vgl. Kuhlmann 2007, 322). Dieser naturphilosophisch-aufgeladene Anfang, der vor allem platonische und stoische Vorstellungen miteinander vermengt, findet seinen Widerhall in der das Werk beschließenden Episode über den legendären zweiten römischen König Numa und den griechischen Philosophen Pythagoras (s. Kap. 81). Seine Rede (met. 15, 75–478), die eine Rekapitulation des Gesamtwerks und eine der längsten Einzelepisoden der met. darstellt, wird wie folgt eingeführt (met. 15,65–69):

35  Philosophie und Psychologie cumque animo et vigili perspexerat omnia cura, in medium discenda dabat coetusque silentum dictaque mirantum magni primordia mundi et rerum causas et, quid natura, docebat, quid deus [...]. (»Als mit der Seele und wachsamer Sorgfalt er alles durchschaute,/ließ er’s die Menschen erlernen und lehrte die Scharen, die schwiegen/und über das, was er sagte, erstaunten, den Ursprung des Weltalls,/ auch die Gründe für alles und was die Natur, was ein Gott ist«)

Pythagoras ist zum einen Naturphilosoph (primordia mundi et rerum causas et, quid natura, docebat), der den Diskurs zur Elementenlehre reflektiert (met. 15, 237: haec quoque non perstant, quae nos elementa vocamus – »Keinerlei Dauer auch hat das, was Elemente wir nennen«), zum anderen ist seine Betrachtung seelengeleitet (cumque animo): eine Anspielung auf das Subjekt des Proöms. Ovid verengt denn auch die Philosophie des Pythagoras in met. 15, 75–175 und 15, 453–478 auf seine Lehre von der Seele (Psychologie) und ihrer Wanderung (Metempsychose). Die Grenzen zwischen Philosophie und Dichtung verschwimmen dadurch, dass Pythagoras sein Sprechen in 15, 174 mit dem Verb vaticinari bezeichnet. Diese Sprechhandlung eines vates ist mehr prophetisch-dichterisch als philosophisch aufgeladen. Gemeinhin wird Pythagoras hier als Identifikationsfigur für Ovid selbst bzw. als Anspielung auf ein Vorbild mit philosophischer Autorität gesehen, wie es Epikur für Lukrez oder Homer für Ennius waren (vgl. Hardie 1995, 212). Der mythisch-exemplifizierte Wandel wird dadurch zum Abschluss zwar philosophisch verhandelt (vgl. Little 1980, 343), allerdings wiederum nicht im Sinne einer kohärenten Philosophie, sondern als Reaffirmation des Wandels als absoluten und endlosen Prinzips (vgl. Segal 1969, 292). Auf die ironisch-komische (vgl. McKim 1984/1985, 107–108), ja paradox-unphilosophische (vgl. Van Schoor 2011) Schlagseite der Pythagoras-Rede wurde vielfach verwiesen. Denn Ovid geht es nicht um die Vermittlung naturphilosophischer Inhalte (vgl. McKim 1984/1985). Seine Emphase des Wandels und sein Verständnis der Natur als belebt und sogar lebendig, wie sie Pythagoras in seiner Rede bezeichnet (met. 15, 342: nam sive est animal tellus et vivit: »Sei es, dass die Erde ein Wesen ist, lebt«), gehen über die aristotelisch-naturwissenschaftliche Perspektivierung der Natur in hellenistischer Dichtung hinaus.

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Das wird auch anhand des Naturhaften als Resultat von über sechzig menschlichen Verwandlungen zu Steinen, Flüssen, Sternen (Katasterismen), Tieren oder Pflanzen deutlich. Diese lassen sich auch als Freudianische Regressionen betrachten: der Verlust des Mensch-Seins und die Rückkehr zur Natur. Dieses Unbehagen in bzw. diese Distanz zur Kultur markieren den Menschen im Einklang mit der Chronologie der Kosmogonie als eigentliches Naturwesen, dessen Bewusstseinsinstanzen des Ich und Über-Ich vom Es eingeholt werden.

35.4 Wandel als ethische Herausforderung Die Ethik als theoretische Fixierung moralischer Normen ist die Bewegung der Philosophie von der Fokussierung der Natur zu der des Menschen. Der Wandel stellt aus ethischer Perspektive allerdings ein Problem dar, denn dieser ist abstrakt betrachtet amoralisch. Zusätzlich erschwert die Verwandlung von Menschen in Tiere oder Pflanzen bzw. von Göttern in Menschen oder Pflanzen eine einheitliche Normengebung und stellt gleichsam eine Flucht vor den eigentlichen moralischen Dilemmata des Verwandelten dar (vgl. Segal 1969, 266). Konkret behandeln die Mythen auch irrationales und ethisch-fragwürdiges Verhalten von Menschen, aber auch von Göttern, das dem Menschen als Objekt göttlicher Begierde (Daphne, Io, Hyazinth) oder (übermäßigen) Strafens (Niobe, Actaeon, Tiresias) gefährlich werden kann. So verweist die Episode des in seine Statue verliebten Pygmalion, der Venus vorsichtig um Belebung des Elfenbeins bittet (met. 10, 270–278), schon auf die Konsequenzen dieser unethischen, weil in den Bereich des Göttlichen hineinreichenden Hybris: beider Enkel Cinyras begeht in der folgenden Episode Inzest mit seiner Tochter Myrrha (met. 10, 298–502). Erysichthon, der aufgrund seiner Götterverachtung mit nie endendem Hungergefühl geschlagen wird, verschlingt am Ende seinen eigenen Körper. Dennoch liefert Ovid keine moralischen Vorbilder. Läuft eine Episode auf ein exemplum hinaus, wird es in der Folge wieder entwertet (vgl. Dörrie 1967, 54). So ist das Kind des Cinyras und der bereits zur Pflanze verwandelten Myrrha der wunderschöne Adonis. Nach der Erysichthon-Episode wird der Theseus-Mythos nahtlos fortgesetzt. Die Ethik wird also ebenfalls durch das inhaltliche und formale Prinzip des Wandels relativiert.

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V  Themen und Konzepte

35.5 Selbstbewusstsein und Sprachverlust Zwangsläufig verknüpft mit dem Werden und der Entwicklung ist ihr Gegenstück: das Sein, die Identität, das Selbstbewusstsein des Subjekts, das Objekt der Verwandlung wird. Damit wirft Ovid eine zentrale psychologische Fragestellung auf. Ambiguitäten des Selbst zeigen sich in Mischwesen wie der Scylla oder den Centauren sowie in Figuren wie Tiresias oder Hermaphroditus, die Geschlechtergrenzen transzendieren. Die Frage nach der Verfasstheit des Selbst wird jedoch am eindringlichsten am Verlust der eigentlichmenschlichen Sprachfähigkeit behandelt. Dies kommt besonders in den Verwandlungen zum Tier zum Tragen, bei denen das menschliche Selbstbewusstsein als lebendiges Wesen noch gegeben ist, mit dem Verlust des Mensch-Seins also kein Ich-Verlust einhergeht. In der Episode über den Gründer Thebens Cadmus und seine Frau Harmonia (met. 4, 563–603) verwandeln sich beide am Ende zu Schlangen. Die letzten Züge der Verwandlung des Cadmus stellt Ovid wie folgt dar (met. 4, 581–589):     quae restant bracchia tendit, et lacrimis per adhuc humana fluentibus ora ›accede, o coniunx, accede, miserrima‹ dixit, ›dumque aliquid superest de me, me tange manumque accipe, dum manus est, dum non totum occupat anguis!‹ ille quidem vult plura loqui, sed lingua repente in partes est fissa duas, nec verba volenti sufficiunt, quotiensque aliquos parat edere questus, sibilat: hanc illi vocem natura reliquit.     (»Die Arme, die bleiben, die streckt er/aus, und als übers jetzt noch menschliche Antlitz die Tränen/fließen, da sagt er: ›Komm, du ärmste Gemahlin, solange/ übrig ist etwas von mir, berühr mich; solang meine Hand noch/Hand ist, nimm sie, solang die Schlange nicht gänzlich mich einnimmt!‹/Sagen will er noch mehr, doch in zwei Hälften ist plötzlich/ihm die Zunge zerteilt, es gehorchen ihm, mag er’s auch wollen,/nicht mehr die Worte; sooft eine Klage zu äußern er ansetzt,/zischt er: Nur dies hat ihm die Natur als Stimme belassen.«)

Körperlich hat die Verwandlung schon zuvor begonnen: Die Beine sind zusammengewachsen und Cadmus hat den menschlichen, nach oben gerichteten Blick abgestreift (met. 4, 576–580). Die ihm noch blei-

bende Sprachfähigkeit wird durch die Einschübe der direkten Rede illustriert, ihr Verlust durch den Wechsel zur indirekten Rede des Erzählers. Ausgangspunkt des Sprachverlusts ist hier das Körperliche: Die gespaltene Zunge erlaubt ihm nur noch den tierischen Zisch-Laut, onomatopoetisch ausgedrückt durch sibilare. Eindrücklich schildert Ovid das mit dieser Transformation einhergehende Moment der Entfremdung vom eigenen Selbst, das als Selbstbewusstsein jedoch intakt bleibt und gerade so die Entfremdung erlebt. Ähnlich in der Episode über Actaeon, der auf der Jagd nach versehentlicher Beobachtung der unbekleidet-badenden Diana in einen Hirsch verwandelt und bei vollem Bewusstsein (met. 3, 203: mens tantum pristina mansit: »Was blieb, war nur sein Bewusstsein«) von seiner eigenen Hundemeute zerfleischt wird. Versuche, sich den Tieren als ihr eigentlicher Gebieter zu legitimieren, scheitern am Sprachverlust (met. 3, 229–231): (heu!) famulos fugit ipse suos. clamare libebat: ›Actaeon ego sum, dominum cognoscite vestrum!‹ verba animo desunt; resonat latratibus aether. (»weh! –, vor den eigenen Dienern flieht er. Da wollte er rufen:/›Ich bin Aktäon, erkennt euren Herrn!‹ Doch die Worte gehorchen/nicht seinem Willen. Es hallt vom Bellen wider der Äther.«)

Dieser wirkt hier bedrohlicher. Den fehlenden Worten wird nicht der tierische Laut des Hirsches entgegengesetzt, sondern schon die Prolepse des unheilschwangeren Bellens der Hunde. Mit dem Sprachverlust wird der Mensch von der Natur eingeholt, seine Materie wieder in ihren energetischen Stoffwechsel aufgenommen. Sein philologisches Kämpfen um die Sprache verweist auf die anthropologische Grundsätzlichkeit der Fähigkeit zur Sprache (vgl. Schwindt 2016, 21; s. Kap. 55). Als integraler Bestandteil des Selbst führt ihr Verlust zu einer Selbstentfremdung, die Ovid durch Verwandlungen zum Tier verdeutlicht. Das Gegenstück zu dieser Selbstentfremdung ist dessen Hypostase. Paradigmatisch entwickelt Ovid dies in der Episode über Narcissus und Echo (met. 3, 339–510). Ovid ist dabei der erste Mythograph, der Narcissus mit Echo verbindet und damit die Archetypen von absolutem Selbst- und Fremdbezug in ein produktives Spannungsverhältnis bringt. Diese Verbindung ist schon an sich Ausweis der psychologischen Färbung seiner Themensetzungen und wird durch die konkrete Ausgestaltung noch deutlicher.

35  Philosophie und Psychologie

Die Frage an den Seher Tiresias, ob der gerade geborene Narcissus ein reifes Alter erreichen werde, wird einigermaßen rätselhaft beantwortet: »Wenn er sich selbst nicht erkennt« (met. 3, 348: si se non noverit). Als Jüngling ist Narcissus eine widersprüchliche Figur. Gestalt und Wesen passen nicht zusammen (met. 3, 354: fuit in tenera tam dura superbia forma – »in zarter Schönheit steckte ein so hartherziger Hochmut«). An der – durch das adhuc wiederum proleptischen – Einführung der Nymphe Echo zeigt sich gerade, dass die Stimme bei Ovid über das Körperliche in den Bereich der Psyche hineinreicht (met. 3, 359: corpus adhuc Echo, non vox erat – »Noch war Echo ein Wesen, nicht Stimme nur«). Sie, die von der Göttermutter Juno dazu verdammt wurde, nur noch den letzten Teil eines Gesagten zurücktragen zu können, verliebt sich in den, der aufgrund fehlender Selbsterkenntnis niemanden lieben kann (vgl. Gemmel 2004, 67). Weil sie bei ihrem versteckten Annäherungsversuch nur passiv seine letzten Worte wiederholen kann, denkt er, sie fliehe vor ihm. Als er sie ruft und sie sich darauf tatsächlich offenbart, flieht er wirklich vor ihr und weist sie von sich. Untröstlich in ihrem Liebeskummer bittet sie die Göttin Nemesis um Rache. Diesem Wunsch wird nachgegeben: Eines Tages ruht Narcissus an einer Quelle und verliebt sich unsterblich in sein Spiegelbild in der Wasseroberfläche. Er kann den Blick von diesem pseudo-körperlichen Bild des eigenen Selbst nicht mehr abwenden und vergisst darüber auch die Befriedigung seiner realen körperlichen Bedürfnisse. Ausgehend von einer Klage über die Unerreichbarkeit des Geliebten, die ihre Intensität gerade aus der absoluten Identität der reflexiven Handlungen bezieht (bewegt sich Narcissus an das Wasser, um sein Spiegelbild zu küssen, tut »der Geliebte« es ihm gleich), eskaliert die Situation. Seine Tränen fallen ins Wasser und verklären das Bild. Nachdem Narcissus seine wahnhafte Trauer im aufgeklarten Wasser am Spiegelgeliebten wahrnimmt, geht er darüber zugrunde. Echo ist anwesend und richtet das von Narcissus an sein Spiegelbild gerichtete Lebewohl an ihn selbst. Als man Narcissus’ Körper verbrennen will, findet sich statt der Leiche nur eine Blume: die Narzisse. Etymologisch eigentlich vom griechischen nárkein: »betäuben« abgeleitet, führt Ovid die tragische Psychosomatik des Narziss als Aition für diese Blume ein. Ovid überträgt in dieser Episode also das lautliche Moment der Reflexion der Nymphe Echo auf eine pseudo-körperliche und bildhafte Reflexion bei Narcissus, die sich als hypostasierter Selbstbezug als abso-

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lute und leere Nicht-Identität ausweist (met. 3,435: nil habet ista sui: »Nichts hat es von sich selber«). Konsequenterweise führt die Überidentifizierung des Narcissus mit dem eigenen Ich, in der modernen Psychologie und im Alltagsgebrauch als Narzissmus bezeichnet, bei Ovid zu einem Ich-Verlust in der Verwandlung zur Pflanze. Deutlich wird, dass Ovids Begriff der psyche, wie schon im Proöm angekündigt, nicht nur in Wechselwirkung mit dem Körper steht, sondern diesen auch aktiv zur Verwandlung treiben kann. Literatur

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Fabian Zuppke

36  Ars und natura

36 Ars und natura 36.1 Der kleine Unterschied (parvum discrimen, met. 10, 242) Ovids berühmteste Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen Kunst und Natur ist seine Version des Pygmalion-Mythos im zehnten Buch der Metamorphosen (V. 243–297). Der Dichter berichtet dort, wie der kyprische Bildhauer »mit erstaunlicher Kunst und glücklicher Hand schneeweißes Elfenbein bearbeitete und ihm eine Schönheit verlieh, mit der keine Frau [auf natürliche Weise] geboren werden könnte« (niveum mira feliciter arte / sculpsit ebur formamque dedit, qua femina nasci / nulla potest, V. 247–249). Die Schönheit der Kunst (ars) wird hier in einen Gegensatz zur defizitären Schönheit der Natur (natura von nasci) gebracht. Dieser Gegensatz wird durch die Verknüpfung der Erzählung mit der Sage der Propoetiden noch verstärkt: Vom Zorn der Venus, die sie verleugnet hatten, getroffen, sollen die Töchter des Propoetus als erste die »Schönheit ihrer Körper« (corpora cum forma, V. 240) feilgeboten haben. Weil Pygmalion Zeuge dieser Urszene der Prostitution geworden sei, soll er, »abgestoßen von den Fehlern, welche die Natur dem weiblichen Charakter in Fülle gab« (offensus vitiis, quae plurima menti / femineae natura dedit, V. 244– 245), sein Leben ledig zugebracht haben. Die Elfenbeinstatue erscheint also als die Antwort der Kunst auf die natürlichen Unzulänglichkeiten des weiblichen Geschlechts. Doch Ovid baut den Gegensatz zwischen Natur und Kunst nur auf, um ihn desto effektvoller wieder aufzulösen. Wenn sich die Propoetiden wegen ihrer Schamlosigkeit zu kaltem Stein verwandeln und die Statue des Pygmalion hingegen durch ein Wunder der Venus zu Leben erwacht, wird klar, dass die Grenze zwischen beiden Bereichen in den Metamorphosen durchlässig ist. Ovid bemerkt ausdrücklich, dass zwischen den Propoetiden, deren Obszönität mit der Schamesröte auch das Blut aus ihren Gesichtern trieb oder, um das Lateinische genau wiederzugeben, es »hart werden ließ« (induruit, V. 241), und den Steinblöcken, zu denen sie erstarren, nur ein »kleiner Unterschied« besteht (parvo ... discrimine, V. 242). Auch im Fall der Elfenbeinstatue markiert die Gesichtsröte, indem sie die erste innere Regung des neuen Menschen anzeigt (erubuit, V. 293), die Grenze zwischen toter Materie und beseeltem Leib. Dass die Fähigkeit zu erröten als subtiles Kennzeichen des lebendigen Körpers anagrammatisch aus dem Elfenbein (ebur) hervorgeht,

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lässt sie dabei wie eine latente Potenz des Kunstmaterials erscheinen. Diese Rekonfiguration auf der Ebene der Buchstaben macht außerdem deutlich, wie eng die Inszenierung des intrikaten Verhältnisses zwischen Natur und Kunst mit Ovids eigener Sprachkunst zusammenhängt. Die Benennung der Minimaldifferenz, auf welche die Metamorphosen durch ihr Gestaltungsprinzip den Gegensatz von leiblicher Präsenz und ästhetischer Repräsentation reduzieren, macht nicht nur das kunsttheoretische Reflexionspotential der Verwandlungssagen transparent. Das parvum discrimen weist jenseits der Verwandlungspoetik in das Zentrum der ovidischen Ästhetik überhaupt. Als unfassliches je ne sais quois der subtilen Unterschiede bezeichnet es die von der Kunst Ovids noch einmal eingefangene Grenze zwischen Natur und Kunst, Schein und Sein, Original und Imitat, die das Werk des Dichters in tausend Variationen umspielt.

36.2 Kunst vor der Kunst? Opus nulla arte peractum (ars 2, 480) Ovid hat, wie Gianpiero Rosati bemerkt, keine Ars poetica, dafür aber eine Ars amatoria geschrieben (1983, 84). Wer Ovids Poetik studieren möchte, wird in den Büchern zur »Liebeskunst« und den Schriften im thematischen Umfeld, den Remedia amoris (»Heilmittel gegen die Liebe«) und den Medicamina faciei femineae (»Schönheitsmittel für das weibliche Gesicht«), die wertvollsten Hinweise finden. Dies gilt insbesondere für die Auffassung des Verhältnisses von ars und natura, deren grundlegende Opposition im Laufe der ovidischen Liebeslehre in immer neuen Spielarten entfaltet wird. Zum semantischen Feld von natura gehören Wörter wie rusticitas (»bäuerliche Art«), verum (»das Wahre«), rudis (»roh«) etc., während ars mit urbanitas (»städtische Zivilisation«), cultus (»Kultivierung«), lima (»Schliff, Verfeinerung«) und Ähnlichem assoziiert wird. Rosati erkennt in der Spannung, die schon der Konzeption einer »Kunst der Liebe« eignet, eine Variante dieses oppositionellen Schemas: »In diesem ›Knigge‹ der Galanterie (›galateo della galanteria‹) verwandelt sich die Liebe, das ›natürlichste‹ der Gefühle, jene Liebe, die omnia vincit, in einen Ritus, ihre viel gerühmte Spontaneität wird neutralisiert, indem sie in die Muster eines subtilen intellektuellen Rasters eingepasst wird« (ebd., 78). An einer Stelle der Ars entwirft Ovid tatsächlich ein Bild der Liebe als einer ursprünglichen Natur-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_36

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V  Themen und Konzepte

macht, wie sie Rosati vorzuschweben scheint. Als der Mensch noch »reine Kraft und roher Körper« (merae uires et rude corpus, 2, 474) war, gab es kein Lehrbuch der Liebe, das ein Regelwerk für die Interaktion von Mann und Frau entwarf: quid facerent, ipsi nullo didicere magistro; / arte Venus nulla dulce peregit opus (»Was sie taten, lernten sie von selbst ohne Lehrmeister, ganz ohne Kunst vollbrachte Venus ihr süßes Werk«, V. 479–480). In diesen paradoxen Vorstellungen einer Liebe als Lehrstück, das keinen Lehrmeister hat und dennoch gelernt werden möchte, und als Kunstwerk, das ohne Kunst vollendet wird, stellt Ovid genüsslich sein Unvermögen aus, sich einen Naturzustand zu denken, ohne immer schon die Kategorien der Kultur zugrunde zu legen. Am Anfang des ersten Buchs der Ars findet sich mit der Erinnerung an die öffentlichen Spiele, die der Stadtgründer Romulus veranstaltet haben soll (V. 101), ein ähnlicher Blick in eine ferne Vergangenheit. Auch hier taucht mit dem Bild einer »Bühne ohne Kunst« (scaena sine arte, V. 106) die paradoxe Idee einer Kunst vor der Kunst auf. Ovids Exkurse in eine weit zurückliegende Zeit inszenieren einen aus der Bukolik bekannten Widerspruch: Sie beschwören eine ›kunstlose‹ Welt herauf, deren innere Ordnung die Kunst selbst vorgibt.

36.3 Totale Kunst: quo non ars penetrat? (ars 3, 291) Mag der rubor in der Pygmalion-Erzählung auch als das Kennzeichen figurieren, das den lebendigen Körper vom Artefakt abgrenzt, weiß Ovid als Verfasser eines kosmetischen Ratgebers nur allzu gut, welch prekäres Kriterium die Röte der weiblichen Wangen zur Unterscheidung zwischen Kunst und Natur abgibt. Im dritten Buch der Ars, das sich spezifisch an die Frauen unter seinen Lesern richtet, macht Ovid im Abschnitt zur Gesichtspflege Werbung für sein »kleines Büchlein« Über Schönheitsmittel und erwähnt in einer Reihe gängiger Schminkpraktiken auch das Rougieren der Wangen: »Eine Frau, die nicht durch echtes Blut errötet, errötet durch Kunst« (sanguine quae vero non rubet, arte rubet, V. 200). Es nimmt nicht wunder, im Kontext eines kosmetischen Diskurses die Konzeption einer Kunst zu finden, die dort zur Anwendung kommt, wo sich die Natur defizitär zeigt. So wird der cultus in den hundert überlieferten Versen der Medicamina insbesondere in

seiner der Natur aushelfenden Funktion vorgestellt (vgl. V. 2–9). Einem kosmetischen Paradigma entspricht etwa die Idee, dass man von Marmor Gebrauch macht, um »die schwarze Erde« zu verbergen (nigra sub imposito marmore terra latet, V. 8). Dass es auch in der Ars die Vorstellung einer Kunst gibt, die einem Nutzen (utilitas) dient, erhellt schon aus der Stilisierung des Gedichts zum praktischen Lehrbuch. Ebenso stellt der werbende Hinweis auf die Medicamina den utilitas-Gedanken zur Schau: non est pro vestris ars mea rebus iners (»meine Kunst ist für eure Angelegenheiten nicht untauglich«, V. 208). Indes verrät bereits die tautologische Formulierung dieses Werbespruchs (ist doch in-ers schon eine Negation von ars), dass Ovid das Gebot der Nützlichkeit systematisch unterwandert. An anderer Stelle benennt Ovid die auxiliare Funktion der Kunst explizit, wenn er einräumt, dass es Frauen gibt, die eine Schönheit besitzen, die »ohne Kunst mächtig« (sine arte potens, V. 258) ist. Wie ein Seefahrer auf ruhiger See, sind die Schönen nicht auf die »Hilfe der Kunst« (artis opem, V. 257) angewiesen: »Wenn das Meer aber aufgewühlt ist, macht der Seefahrer eifrig Gebrauch von seinen Hilfsinstrumenten« (cum tumet, auxiliis adsidet ille suis, V. 260). Allerdings scheint der Wirkungsbereich der Kunst wiederum doch uneingeschränkt, sobald auffällt, dass Ovids Beispiele schöner Frauen, die der Kunst entbehren können, allesamt dem Mythos, der Domäne der Dichter also, entstammen (V. 251–254). In Ovids Darstellung hört ars spätestens dann auf, bloßes Supplement einer defizitären Natur zu sein, wenn sie sogar vermeintlich spontane Verhaltensweisen wie das Lachen und Weinen (V. 281 und 291) umfasst. Der Dichter markiert den totalen Charakter einer Kunstlehre, die keinen Bereich des Lebens unberührt lässt: quo non ars penetrat? (»In welches Gebiet dringt Kunst nicht ein?«, V. 291). Die totale Kunst dient nicht mehr nur dazu, die Fehler der Natur auszugleichen (occule mendas, V. 261). Als möglichst vollständiger Ersatz der Natur fordert sie sogar die kunstmäßige Imitation von Fehlern: in vitio decor est quaedam male reddere verba; / discunt posse minus, quam potuere, loqui (»im Fehler, einige Wörter schlecht auszusprechen, liegt ein Reiz; man lernt schlechter zu sprechen, als man könnte«, V. 295–296). Indem der Künstler absichtsvoll vitia in die Faktur seiner Produkte einarbeitet, rückt er seine Kunst gemäß dem rhetorischen Prinzip der dissimulatio artis entschieden in einen Bereich, in dem sie von der Natur ununterscheidbar wird.

36  Ars und natura

36.4 Latenz der Kunst: ars adeo latet arte sua (met. 10, 252) Von den motae comae (»den in Verwirrung gebrachten Strähnen«, V. 12) der laesa puella in Amores 1, 7 bis hin zu den impulsos capillos (»den wehenden Haaren«, met. 1, 529) der fliehenden Daphne zieht sich durch die ovidische Dichtung eine Faszination für den Dérangement der weiblichen Frisur. Dass die Unordnung der Haare einer in Bedrängnis gebrachten Frau ihre Schönheit noch steigert, ist so etwas wie ein elegischer Topos. Auch in seiner Ars empfiehlt der Dichter seinen Leserinnen, beim Richten ihrer Haare den Eindruck der Nachlässigkeit zu erzeugen: et neglecta decet multas coma: saepe iacere / hesternam credas, illa repexa modo est (»vielen steht auch die lässige Frisur: oft möchte man glauben, die Haartracht sei noch von gestern, dabei ist eben erst nachgekämmt worden«, 3, 153–154). Die kunsttheoretische Lektion, die Ovid seiner Instruktion zur Coiffure beigibt: ars casum simulat (»die Kunst täuscht den Zufall vor«, V. 155 [Konjektur Tränkle]). Im Kontext des mondänen Roms ist die kontrollierte Unordnung der Haare Ausdruck einer Ästhetik der sprezzatura, die die Anstrengungen der Kunst zu verbergen sucht. Eine Variation des Grundsatzes, dass Kunst ihren artifiziellen Charakter verbergen soll, ist die Anweisung Ovids, dass Frauen die Mittel und Verfahren ihrer Schönheitspflege den Blicken ihrer Liebhaber entziehen sollen (vgl. 3, 209–234). Denn diese »werden zwar Schönheit verleihen, aber hässlich anzusehen sein« (V. 217). So verhalte es sich auch bei den berühmten Dokumenten der Kunstgeschichte. Die Werke des Bildhauers Myron, Inbegriffe illusionistischer Kunst, waren einst »unförmige und klumpige harte Masse« (pondus iners ... duraque massa, V. 220). Auch das »berühmte Bildwerk« (nobile signum) der Venus Anadyomene »war, während sie entstand, rauher Stein« (cum fieret, lapis asper erat, V. 223). Wenn die Frau in diesen Vergleichen als illusionistisches Bildwerk konzipiert wird, dann findet sich hier nicht nur das Schema der ovidischen Pygmalion-Erzählung grundgelegt. Der Fokus der Passage auf die Prozessualität der Kunst nimmt ebenso das metamorphotische Ausformungsprinzip vorweg. Auch die Kunst des Schmeichelns, so erfahren wir im zweiten Buch der Ars, ist nur dann von Nutzen, wenn sie sich zu verbergen weiß (si latet, ars prodest, 2, 313). Wer sich etwa durch seine Mimik als Gaukler verrät, zerstört nicht nur den Effekt seiner schmei-

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chelnden Rede, sondern verliert »auf alle Zeit« (tempus in omne) das Vertrauen (fidem) der Geliebten (V. 311–314). Auf der Ebene einer abstrakten Kunsttheorie bezeichnet fides die Bereitschaft des Rezipienten, sich auf die fiktive Welt eines Kunstwerks einzulassen (zum Spiel Ovids mit den unterschiedlichen Bedeutungen von fides vgl. Hardie 2002, 38). Es stellt natürlich einen performativen Widerspruch dar, wenn Ovid mit der Anweisung, dass Kunst ihre inneren Mechanismen verbergen soll, gerade auf die Verfahren seiner eigenen Kunst aufmerksam macht. Ovids bekannteste Formulierung des Latenz-Gedankens führt diesen Widerspruch besonders deutlich vor, findet sie sich doch in einer mit großer Anschaulichkeit vorgetragenen Erzählung: Spätestens das beinahe proverbial gewordene ars adeo latet arte sua (»so sehr verbirgt sich die Kunst durch ihre eigene Kunst«, met. 10, 252) der Pygmalion-Episode setzt der Konvergenz, die zwischen der Beschreibungskunst des Dichters und dem skulpturalen Illusionismus seines Protagonisten zu bestehen schien, ein Ende. Der Hinweis auf die täuschende Macht der Kunst verortet die Perspektive des Lesers jenseits der staunenden Involvenz, mit welcher der Bildhauer sein Werk betrachtet. Der Mythos eines Kunstwerks, das seine eigene Künstlichkeit transzendiert, indem es sich in das verwandelt, was es repräsentiert, kann als die narrative Ausgestaltung des Lehrsatzes von der Latenz der Kunst verstanden werden. Das Latenz-Verfahren der Kunst wird also sowohl erzählerisch dargestellt als auch durch die explizite Benennung des Mechanismus bloßgelegt (zum Zusammenhang von »Illusion und Ironie« in den Metamorphosen vgl. Krupp 2009, 85–120). Wie bereits erwähnt, bleibt noch im Erröten der zum Leben erwachten virgo (erubuit, V. 293) das Kunstmaterial der Statue (ebur) latent vorhanden. In der anagrammatischen Umschrift wird die Kunst in ihrer Latenz bewahrt und zugleich überwunden. So scheint die Kunst (ars, artis) auch in der Bezeichnung der »Glieder« (artus) auf, wenn Pygmalion die Belebung des Elfenbeins in seiner Imagination vorwegnimmt: et metuit, pressos veniat ne livor in artus (»und er befürchtete, dass durch Druck ein blauer Fleck in den Gliedmaßen bleiben könnte«, V. 258). Der livor bezeichnet nicht nur den »blauen Flecken«, sondern den »Neid«, den eine künstlerische Begabung (artes) auf sich ziehen kann (veniat in). Gerade in seiner Unmarkiertheit ist das Anagramm das poetische Mittel, das die Latenz der Kunst in der Form der Implikation thematisieren kann: In der Verborgenheit des anagrammatischen Subtexts wird die Verborgenheit der

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V  Themen und Konzepte

künstlerischen Verfahren reproduziert (vgl. Haverkamp 2002, 168–169). Häufig heben die Metamorphosen den Bereich der Indistinktion zwischen Natur und Kunst hervor, der durch das artistische Prinzip der Latenz entsteht. Ein Beispiel ist die Schilderung der Felsenhöhle der Thetis im elften Buch, von der nicht sicher gesagt werden kann, »ob sie natürlich oder durch Kunst entstanden sei« (natura an factus an arte, / ambiguum, V. 235–236). Bei der Beschreibung der Grotte einer anderen Göttin wird der Gedanke, dass die Natur in der Kunst wieder eingeholt wird (vgl. Rosati 1983, 80), sogar zum Anlass einer Pointe, die das traditionelle Verhältnis von Natur und der sie imitierenden Kunst umkehrt: simulaverat artem / ingenio natura suo (»mit ihrem ihr eigenen Genie ahmte die Natur die Kunst nach«, 3, 158–159). Wenn der invertierte Illusionismus der Diana-Grotte dem tragischen »Irrtum« (error) des unabsichtlich in den heiligen Bereich der Göttin übertretenden Actaeon die Bühne bereitet, dann wird deutlich, dass die Ambiguität zwischen Natur und Kunst nicht allein ein beliebtes Motiv der Verwandlungssagen darstellt, sondern an entscheidenden Stellen sogar als Motor der mythologischen Handlung dient (s. Kap. 42).

der Metamorphosen besonders intrikat gestaltet. Ovid nennt die Schmucksteine Heliadum lacrimae (»Tränen der Heliaden«, V. 263) und erinnert damit an den im zweiten Buch der Metamorphosen berichteten Mythos ihres Ursprungs: Die Edelsteine sollen aus den Tränen der Helios-Töchter, die sich über der Trauer um den tragischen Tod ihres Bruders Phaethon in Bäume verwandelt hatten, entstanden und vom Strom des Eridanus zu den Latinerinnen getragen worden sein, um ihnen als Schmuck zu dienen (vgl. 340–366). Es ist nicht klar, ob die Edelsteine etliche Verwandlungssagen später noch immer die Tränen der Heliaden sind oder nur metaphorisch darstellen. Beziehen sie sich »als« Tränen noch immer auf das phaethonische Unglück, oder sind sie durch ihre Verwandlung in Schmuckstücke zur schönen Form geworden, die auf nichts als auf sich selbst verweist? Indem das Prinzip der Metamorphose eine signifikante Differenz in die Identität eines Wesens oder Gegenstands einführt, verwischt sie die Grenzen zwischen ästhetischer Autonomie, symbolischer Repräsentation und leiblicher Präsenz.

36.5 Die Tränen der Heliaden: Identität und Repräsentation

Die Pygmalion-Episode schließt mit einer Bewegung, die die Metamorphose der Statue zu wiederholen scheint, wenn sich das rhetorische artificium der »volltönenden Worte«, die Pygmalion zum Dank der Göttin »ergreift« (plenissima concipit heros / verba, V. 290–291), in den physischen Vorgang der Empfängnis und der neun »volle« Monate (V. 296) währenden Schwangerschaft überzugehen scheint. Dass die zum Leben erwachte Statue des Pygmalion einen Nachkommen gebiert, kennzeichnet endgültig ihre neue Zugehörigkeit zum Bereich der Natur: Sie ist von der Sphäre der Kreation in die der sexuellen Generativität übergegangen (genuit, V. 297; natura, nascor, [g]natus, gigno haben die Wurzel *gen- gemein). Im ersten Buch der Metamorphosen macht Ovid deutlich, dass der Mensch Anteil an beiden Bereichen hat. Durch eine sive ... sive-Konstruktion bietet der Dichter zwei Varianten der Menschwerdung an, die beide das Prinzip sexueller Generativität (semine, V. 78, und semina, V. 80) mit dem demiurgischer (fecit / ille opifex, »schuf jener Werkmeister«, V. 78–79) bzw. skulpturaler Gestaltung (finxit in effigiem ...deorum, »formte nach dem Bilde der Götter«, V. 83) kombinieren (vgl. Böhme 1996, 45). Auch nachdem das Diluvium fast die gesamte Menschheit ausrottet, bleiben beide Prinzipien

Nicht nur der Illusionsbruch, den er im narrativen Kontext verursacht, sondern schon seine prägnante Form zeigt an, dass der Vers zur Latenz der Kunst in der Pygmalion-Episode eher als in eine mythologische Erzählung in ein praktisches Handbuch für angehende Künstler und Rhetoren gehörte – oder eben in eine verkappte Ars poetica wie der ovidischen Liebeslehre. Tatsächlich wird Pygmalions Bereitschaft, trotz besseren Wissens an die Wirklichkeit seiner Kunst zu glauben, in einer Weise dargestellt, die ihn nicht nur als einen kundigen Liebhaber erscheinen lässt. Wenn der kyprische Held der Statue Schmuck und Kleidung anlegt und die Passage mit dem Vers: cuncta decent; nec nuda minus formosa videtur (»alles ziert; und doch scheint sie nackt nicht minder schön«, V. 266) schließt, werden zentrale Themen der Ars wieder aufgenommen. Die Frage nach dem supplementären Charakter des cultus wird durch die Vorstellung einer so vollkommenen Kunst, dass sie selbst Natur wird, ad absurdum geführt. Schon der Bernstein, der die Liste des Schmucks und der Kleidung einleitet, macht deutlich, dass sich das Verhältnis von ars und natura in der Welt

36.6 Metamorphose zwischen Kunst und Natur

36  Ars und natura

erhalten. Hans Blumenberg hat erkannt, dass es »für die Frage der rechtmäßigen Zugehörigkeit des Menschen zur Natur aufschlussreich« ist, dass gerade Deucalion die Flutkatastrophe überlebt (1979, 386, vgl. Möller 2018). Wenn Deucalion wie im griechischen Mythos auch bei Ovid der leibliche Sohn des Prometheus ist – was sein Wunsch, die Menschheit »durch die väterlichen Künste« (paternis artibus, V. 363) wiederherstellen zu können, nahelegt –, »dann verderben in der großen Flut alle keramischen Geschöpfe des Titanen und überleben nur seine generativen Nachkommen« (Blumenberg 1979, 386). Die übrige Menschheit hingegen lassen Deucalion und seine Frau Pyrrha aus Stein wiedererstehen. Den Übergang vom Mineral zum Leib beschreibt Ovid in Analogie zur skulpturalen Kunst als plastischen Prozess, bei dem die menschlichen Umrisse nur allmählich in Erscheinung treten und zunächst an »Entwürfe in Marmorblöcken, die nicht hinreichend ausgeführt worden sind«, erinnern und »den Rohfassungen von Skulpturen stark ähneln« (uti de marmore coepta, / non exacta satis rudibusque simillima signis, V. 405–406). Das demiurgische Künstlerprinzip und die Generativität der Natur sind von Anfang an ineinander verflochten, wenn Ovid schon bei der Darstellung des sich auflösenden Chaos nicht unterscheidet, ob die Trennung der widerstreitenden Elemente einem Gott oder der »besseren Natur« zu verdanken ist (hanc deus et melior litem natura diremit, V. 21). Hartmut Böhme legt dar, wie sich die Sprache der Metamorphosen in der Beschreibung der entstehenden Welt erst konstituiert, indem sie in den »ebenso prästrukturellen wie vorsprachlichen Zustand des Chaos« Distinktionen und Differenzen einführt, die ihr eigenes Funktionieren ermöglichen (vgl. Böhme 1996, 35). Mit der Konstitution der Rede wird auch das Gestaltungsprinzip grundgelegt: In der Herausbildung der ersten Formen aus den amorphen Verhältnissen der Vorzeit liegt, mit einem Ausdruck Blumenbergs, »die Vorgabe der Metamorphose für alles weitere« (Blumenberg 1979, 384). Dabei lässt sich die Kosmogonie Ovids einerseits als künstlerischen Prozess der Formgebung auffassen, wenn das Chaos als »rohe und ungeordnete Masse« (rudis indigesta moles, V. 7) und »unförmiger Klumpen« (pondus iners, V. 8; s. o. zu Ars 3, 220) charakterisiert wird. An den ersten Versen des Gedichts kann man bereits beobachten, wie Ovids metamorphotische Schilderungen ausgiebig vom Vokabular der Kunst Gebrauch machen (vgl. Solodow 1988, 203– 231; zur Affinität der Erzählweise Ovids in den Metamorphosen zu den bildenden Künsten s. Kap. 63). An-

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dererseits stellt die Kosmogonie das Urereignis einer Natur dar, die die Metamorphosen gemäß dem naturphilosophischen Prinzip der steten Veränderung beschreiben. Das Gedicht ist auch als Naturlehre lesbar, als alternatives De rerum natura. Poetische und natürliche Prozesse konvergieren in einem Werk, in dem die Natur selbst als »Proteus der Poesie« erscheint (Böhme 1996, 30). »Reich an Tropen« (Wendungen) gibt die Natur als »episodisches, unberechenbares [...] zu keinem Sinn auflösbares Spiel von Identitätswechseln« der Dichtung ihre Verfahren vor (ibid., vgl. auch 50; pace Spahlinger 1996, bes. 243–263). Gewissermaßen in Umkehrung von Böhmes Deutung bietet Anselm Haverkamp einen Ausweg aus den Verwicklungen von Natur und Kunst, indem er dem Formprozess der Metamorphose selbst das Unterscheidungskriterium der beiden Sphären abgewinnt. Er sieht in Ovids Metamorphosen das »unübertreffliche Muster der lateinischen Übernahme, Überführung und Aufhebung des griechischen Mythos ›an sich‹ in den Rezeptionsprozess einer anhaltenden Arbeit am Mythos« (Haverkamp 2006, 23). Wenn die Metamorphose mit Blumenberg »das Ausformungsprinzip des Mythos selbst, die Grundform einer noch unzuverlässigen Identität der aus der Formlosigkeit zur Erscheinung herausdrängenden Götter« (Blumenberg 1979, 384) darstellt, dann mache das ovidische Werk den Gestaltbedarf des Mythos als eine ›Latenz der Form‹ zu seinem Thema. Bilden die Metamorphosen, wie Haverkamp annimmt, die poetische ›Metaformation‹ einer geistesgeschichtlichen Bewegung, durch die sich die Römer die griechische Kultur durch Formgebung aneignen, veranschaulichen sie wohl auch am besten den »Witz lateinischer ratio«, die Latenz des Mythos als Natur aufzufassen, die durch die Verfahren der Rhetorik und Dichtung technisiert, d. h. phänomenal bewältigt werden muss (Haverkamp 2006, 26). Rhetorisch gesprochen, zeigt sich das Natürliche gerade an der Unmarkiertheit des ›eigentlichen‹ Gebrauchs, während sich das Künstliche in der Markiertheit des ›uneigentlichen‹ Gebrauchs manifestiert. Die Pygmalion-Erzählung setzt nicht nur Ovids ›Arbeit am Mythos‹ in der Gestaltung und Naturalisierung der Statue durch ihre Belebung ins Bild, sondern bringt auch das Verhältnis von Kunst und Natur als die Dialektik von Form und Latenz auf die Formel des ars adeo latet arte sua. Literatur

Böhme, Gernot/Böhme, Hartmut: Feuer, Wasser, Erde, Luft. Eine Kulturgeschichte der Elemente. München 1996. Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos. Frankfurt a. M. 1979.

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V  Themen und Konzepte

Feldherr, Andrew: Playing Gods. Princeton/Oxford 2010. Hardie, Philip: Ovid’s Poetics of Illusion. Cambridge 2002. Haverkamp, Anselm: Figura cryptica. Theorie der literarischen Latenz. Frankfurt a. M. 2002. Haverkamp, Anselm: Arcanum translationis. Das Fundament der lateinischen Tradition. In: Walter Seitter/Cornelia Vismann (Hrsg.): Römisch. Tumult. Schriften zur Verkehrswissenschaft. Bd. 30, 2006. Krupp, József: Distanz und Bedeutung. Ovids Metamorphosen und die Frage der Ironie, Heidelberg 2009. Möller, Melanie: »Videri forma potest hominis« (Ovid met. I

404 ss.). Man’s Creation in the Shadow of Prometheus. In: Maia 3 (2018), 530–543. Rosati, Gianpiero: Narciso e Pigmalione. Illusione e spettacolo nelle ›Metamorfosi‹ di Ovidio. Firenze 1983. Solodow, Joseph B.: The World of Ovid’s ›Metamorphoses‹. Chapel Hill/London 1988. Spahlinger, Lothar: Ars latet arte sua. Untersuchungen zur Poetologie in den ›Metamorphosen‹ Ovids. Stuttgart 1996.

Maximilian Haas

37  Astronomie und Verstirnungssagen

245

37 Astronomie und Verstirnungssagen

da er selber ein Gedicht Phaenomena verfasst hat, welches nicht überliefert ist (Gee 2000, 68–70).

37.1 Bedeutung der Astronomie und Vorbilder Ovids

37.2 Sterne und Verstirnungssagen in Ovids Werken

Schon seit Hesiod und Homer stellten sich Dichter vor, dass die Sterne am Himmel Bilder von Menschen, Tieren und Gegenständen formen, die von den Göttern als deren Abbild oder durch deren Vergöttlichung geschaffen wurden. Fast alle Gestirne, die Ovid erwähnt, behandelt der griechische Autor Eratosthenes von Kyrene, der vermutlich im ptolemäischen Alexandria lebte, in Katasterismoi, »Verstirnungen«. Eratosthenes erzählt in den Katasterismoi die Aitiologien, die mythischen Ursprünge der Gestirne, seine Schrift ist allerdings nur in Auszügen aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. überliefert. Kallimachos von Kyrene thematisierte als Erster in Alexandria die Vergöttlichung der ptolemäischen Königin Berenike I., der Mutter des Pharao-Königs Ptolemaios II. Philadelphos, die ihr pietätsvoller Sohn vergöttlichen ließ. In seinem elegischen Gedicht Aitia (»Ursprünge«) spielt Kallimachos kunstvoll und im spielerischen Ton auf die Vergöttlichung an, wenn er die Verstirnung von Berenikes Locke erwähnt (110 Pf.). In Carmen 66 nimmt Catull das Motiv der Verstirnung auf, indem er den Fokus auf den Bericht von Berenike II., der Frau von Ptolemaios III. Euergetes, richtet, nachdem sie sich in einen Stern verwandelt hat. Der Glaube, dass man durch Verstirnung in den Bereich der Götter entrückt wird, war in Rom weitgehend bekannt und viel diskutiert (Cic. nat. deor. 2, 44 und 153), aber auch umstritten. Stoiker verteidigten astrale Unsterblichkeit herausragender Männer, Epikureer bekämpften sie. Für die Beschäftigung mit astronomischen Daten in Rom war besonders das epische Lehrgedicht Phainomena (»Himmelserscheinungen«) aus der Feder des hellenistischen Dichters Arat wichtig (vgl. Quint. inst. 10,1,55). Cicero, Ovid und Germanicus haben die Phainomena des Arat auf Latein nachgedichtet, Germanicus’ Werk Aratea (»das Gedicht des Aratus«) ist überliefert. Der antiken biographischen Geschichtsschreibung zufolge, war Ovid mit G. Iulius Hyginus befreundet (Suet. gramm. 20), dem Freigelassenen des Augustus und Leiter der Palatinischen Bibliotheken, der Verstirnungen in seiner Schrift De astronomia (»Astronomie«) beschrieb. Somit ist es möglich, dass Ovid Hyginus’ Werk lesen durfte oder sich zumindest mit ihm über Astronomie ausgetauscht hat,

Die Verstirnungssagen haben verschiedene Funktionen in Ovids Werken. In der Exilpoesie erwähnt Ovid Sterne in unterschiedlichen Zusammenhängen, z. B. um Zeitangaben zu machen (trist. 1, 4, 1), um auf Castor und Pollux als Beschützer der Seefahrer zu verweisen (trist. 1, 10, 45) oder auf die Gefahren, die bei einer Schifffahrt drohen (trist. 1, 11, 13–16; Pont. 2,7,57– 58). Die Sternbilder sollen Ovid berichten, ob seine Ehefrau noch an ihn denkt (trist. 4, 3,1–10). Weitaus bedeutendere narrative Funktionen nehmen die Sterne und Verstirnungssagen in den Metamorphosen und in den Fasti ein. In den Metamorphosen verwandeln sich Callisto und ihr Sohn Arcas (2, 505–509; 516) sowie Julius Caesar (s. u.) in Gestirne, auf die Verwandlung von Herkules in einen Stern wird nur angespielt (met. 9, 254–255). Die Verwandlung von Ariadnes Krone in das Gestirn Corona (»Krone«) beschreibt Ovid in mehreren Werken, in jedem Gedicht hebt er andere Aspekte von Ariadnes Schicksal hervor, um die von Theseus Verlassene aus verschiedenen Perspektiven zu schildern. In der Ars Amatoria verspricht der Gott Bacchus, der Ariadne selbst heiraten möchte, seiner Braut die Verstirnung als Hochzeitsgeschenk (1, 527–564). Im achten Buch der Metamorphosen lenkt Ovid den Fokus auf Ereignisse auf der Insel Naxos, unmittelbar nachdem Theseus Ariadne verlassen hat. Der Gott Liber-Bacchus entdeckt Ariadne, die untröstlich klagt, umarmt sie und möchte ihr helfen. Um sie durch ein ewig sichtbares Gestirn berühmt zu machen und dadurch zu trösten, nimmt er Gott LiberBacchus Ariadne ihre Krone vom Haupt und wirft sie gen Himmel (met. 8, 176–182). Im Flug durch die zarten Lüfte »verwandeln sich die Edelsteine [auf Ariadnes Krone] in strahlende Feuer« (gemmae nitidos vertuntur in ignes), das Gestirn »Krone« (Corona) behält ihre Gestalt. In den Fasti lässt Ovid Ariadne mit aufgelöstem Haar als Zeichen der Trauer unerbittlich darüber klagen, dass auch der Gott Bacchus sie für eine andere Frau verlassen hat (fast. 3, 471–506). Der Gott Liber hört sich Ariadnes Klage an, ohne dass sie ihn bemerkt, deshalb tröstet er sie indem er ihr verspricht »lass uns zum Himmel empor beide nun steigen« (pariter caeli summa petamus). Nach der Verwandlung in ein Gestirn werde Ariadne Libera genannt. Die Ver-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_37

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V  Themen und Konzepte

stirnung von Ariadnes Krone unternimmt der Gott selbst: gemmasque novem transformat in ignes: / aurea per stellas nunc micat illa novem (»verwandelt die neun Juwelen in Sterne: jetzt noch erstrahlen die neun Sterne als goldener Kranz« fast. 3, 515–516). Ovid macht in den Fasti zahlreiche Angaben über das Auf- und Untergehen der Sterne sowie über den Lauf der Sonne durch die Tierkreiszeichen. Die Angaben über die Konstellationen strukturieren den stadtrömischen Kalender unter Ovids Feder oder führen in die Aitiologien ein, gelehrte mythische Erläuterungen darüber, wie die Sterne entstanden sind. Ovid schöpft äußerst kreativ aus seinen literarischen Vorbildern; so übernimmt er Aitiologien aus Kallimachos’ Aitia und Eratosthenes’ Katasterismoi, die Angaben über Bestimmungen der Zeit anhand der Himmelsbewegungen aus Arats Phainomena und verwandelt sie in sein sehr innovatives elegisches Gedicht, in welchem er seine Version des stadtrömischen Kalenders erzählt. Ovid schlägt mit dem Motiv »Sterne« Brücken zwischen den Metamorphosen und den Fasti, in den Fasti wiederum nimmt er die Reihe der Verstirnungen aus dem 15. Buch der Metamorphosen wieder auf.

37.3 Julius Caesars Verstirnung Nachdem der dictator Julius Caesar ermordet worden war, präsentierten sich Octavian/Augustus und Marcus Antonius als seine Nachfolger, Octavian setzte sich aber als Caesars Sohn und Nachfolger durch. Darüber hinaus verbreitete er das Gerücht, Julius Caesar sei vergöttlicht, indem er behauptete, dass die Erscheinung eines Kometen bei den Spielen zu Ehren Caesars im August 44 v. Chr. der Beweis für dessen Vergöttlichung und seine Aufnahme unter die Sterne war. Plinius zitiert ein Fragment aus Augustus’ Memoiren über diesen Beweis: »Das einfache Volk glaubte, dass dieser Stern bedeutet, dass Caesars Seele unter die unsterblichen Götter aufgenommen wurde. Aus diesem Grund wurde dieses Symbol auf dem Kopf seiner Statue angebracht, die wir bald darauf auf dem Forum eingeweiht haben, Plin. nat. 2, 94). Offiziell, d. h. durch einen Senatsbeschluss, wurde Julius Caesar erst 42 v. Chr. vergöttlicht, als Octavian auf dem Haupt von Caesars Statue einen Stern anbringen ließ und sich als Divi filius (»Sohn des Göttlichen«) darstellte. Vergil erwähnt das sidus Iulium in seiner Schildbeschreibung im achten Buch der Aeneis (680–681), indem er schildert, wie dieser Stern in der Schlacht bei Actium über Augustus erschienen ist. Ovid nimmt auf diese

historischen Ereignisse im letzten Buch der Metamorphosen Bezug, indem er die Vergöttlichung des Julius Caesar in Form einer Verstirnung erzählt. Es waren nicht Caesars militärische Errungenschaften, die ihn »in ein neues Gestirn verwandelt hätten, sondern vor allem sein Sohn. Denn von Caesars Taten ist keine größer als die, der Vater dieses Mannes [Augustus] zu sein« (met. 15, 749–751). Obwohl Julius Caesar Octavian erst in seinem Testament adoptiert hat, stellt Ovid mehrere Male heraus, dass Caesar Augustus’ Vater gewesen sei, indem er dieses zusätzlich zur eben genannten Stelle noch zweimal betont: Caesar habe »einen so großen Mann gezeugt« (met. 15, 758). »Damit dieser [sc. Augustus] also nicht aus sterblichem Samen stamme, musste jener zum Gott gemacht werden« (V. 760–761). Mit der Hyperbole, die auf einem biologischen Vater-Sohn-Verhältnis beharrt, macht sich Ovid über Augustus’ Selbstdarstellung als Divi filius (»Sohn des Göttlichen«) lustig, womit er den Leser daran erinnert, dass dieser Teil von Augustus’ Selbstdarstellung nicht der Wahrheit entsprach. Das ironische Spiel mit Caesars Verstirnung führt Ovid weiter aus. In einer Szene, die an die erste epische Vorausschau in der Aeneis (1, 254–296) erinnert, offenbart Jupiter seiner Tochter Venus, sie und Augustus würden bewirken, dass Julius Caesar »als Gott in den Himmel kommen und in den Tempeln verehrt werden wird« (ut deus accedat caelo templisque colatur, met. 15, 818). Ovid beschreibt die phantastische Verwandlung von Julius Caesars Seele in einen Kometen seltsamerweise sehr realistisch. Venus konnte den Mord an Caesar nicht verhindern, sie erscheint aber im römischen Senat: ihre einzige Sorge dabei ist recht merkwürdig. Sie entriss »die Seele noch frisch den Gliedern, erlaubte ihr nicht, sich in Luft aufzulösen, und trug sie zum Sternenhimmel« (nec in aera solvi passa recentem animam caelestibus intulit astris, met. 15, 845–846; vgl. 840–841; Newlands 1995, 43–44. In fast. 3, 701–702 entführt Vesta Caesars Seele). Während des Fluges zum Sternenhimmel spürt Venus, wie die Seele Caesars, welche sie in ihrem Schoß trägt, in Licht erstrahlt und zu Feuer wird, woraufhin sie die feurige Seele oder, besser gesagt, den Kometen loslässt. Mit diesem überaus realistischen Detail signalisiert Ovid, dass Venus eine Verbrennung durch den feurigen Kometen vermeidet. Die Verbrennungsgefahr ist ein spielerisches Detail in der witzigen Szene (Newlands 1995, 43–44), in der die Seele, welche sonst symbolisch als Atemhauch konzipiert wird, einer physischen Verwandlung unterzogen wird.

37  Astronomie und Verstirnungssagen

Die astrale Unsterblichkeit war für die Angehörigen der römischen Elite vor allem in einer abstraktsymbolischen Form denkbar (Cic. rep. 6, 13 und 16; vgl. Man. 1, 758–804), deshalb ist die konkret-plastische Darstellung der Verwandlung von Caesars Seele in einen Kometen ein witziger Einfall, der die theatralische Seite dieser Verstirnung unterstreicht. Julius Caesar als Komet fliegt hoch über den Mond hinaus, zieht in breiter Bahn einen flammenden Haarschweif hinter sich her und funkelt als Stern (met. 15, 848– 851). Ovid nimmt geschickt einige Punkte aus Augustus’ Selbstdarstellung als Divi filius (»Sohn des Göttlichen«) auf und verwandelt sie spielerisch in die Verstirnung des Julius Caesar. Anschließend sagt der Dichter Augustus’ Verstirnung voraus, aber mit vivam (»ich werde leben«), dem letzten Wort der Metamorphosen, behauptet Ovid seine eigene Unsterblichkeit als Dichter. Sein dichterisches Werk werde ihn über die Sterne tragen: »Doch ein Teil von mir [die Metamorphosen oder sein dichterisches Gesamtwerk] wird fortdauern und mich hoch über die Sterne emporschwingen, mein Name wird unzerstörbar sein«, 15, 875–876). Ovid behauptet in mehreren Werken (vgl. trist. 4, 10, 128; 3, 7, 51–52), dass alle Völker der Welt seine Gedichte (met. 15, 878) lesen werden. Dass allein die Dichtung den Schöpfern unsterblicher Werke zur Unsterblichkeit verhelfe, ist zudem ein Leitmotiv im ersten Buch der Fasti, das eng mit dem SternThema verwoben ist.

37.4 Gestirne in den Fasti Das erste elegische Distichon der Fasti ist programmatisch (1, 1–2): Tempora cum causis Latium digesta per annum / lapsaque sub terras ortaque signa canam (»Die Feste mit ihren Erklärungen, durch das römische Jahr hin geordnet, und die Gestirne, die über die Länder unter- und wieder aufgehen, will ich besingen.«). Signa (»die Sternbilder«) verknüpfen die Metamorphosen eng mit den Fasti, weshalb die Fasti als eine Fortsetzung der Metamorphosen interpretiert werden können (vgl. Robinson 2011, 11). Darüber hinaus wendet sich der Dichter an Germanicus, den designierten Nachfolger des Tiberius, der Arats Phainomena ins Lateinische übertragen hatte, um das Thema der dichterischen Unsterblichkeit zu behandeln. Gleich im Proömium widmet Ovid seine Fasti dem Germanicus, indem er ihn im Stil eines griechischhellenistischen Hymnus anredet: numine dexter ades (»steh mir gnädig als Gottheit bei«, fast. 1, 6, vgl. 3–4),

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womit er sich seinen Beistand beim schöpferischen Prozess erbittet. Ovid huldigt den dichterischen Leistungen des Germanicus (1, 23–24) und bittet ihn, dass er ihn als Dichter leite (fast. 1, 25–26). Ovid redet Germanicus wie seinen Dichterkollegen an. In dieser Komplizenschaft bezeichnet er sich selbst und Germanicus als vates (»inspirierter Dichter«), beide beschreiben in ihren Gedichten den Sternenhimmel. Als negatives Beispiel und Figur, die sich überhaupt nicht mit den Sternen auskenne, nennt Ovid Romulus, den ersten mythischen König Roms, der der Legende zufolge ein zehnmonatiges Jahr festlegte (»mehr von den Waffen verstandst du doch, Romulus, als von den Sternen«; fast. 1, 29). Deshalb fügte sein Nachfolger Numa die fehlenden zwei Monate hinzu (fast. 3, 152, als die dritte Kalenderkorrektur nennt Ovid Julius Caesars Neuberechnung des römischen Jahres s. u.). Die beiden sternenkundigen Dichter, Germanicus und Ovid, verbinde eine ausgesprochen wichtige Kompetenz, nämlich die Fähigkeit, selbst die Sterne zu erreichen. Ovid legt Germanicus nahe, dass ein Mensch nur als Autor, d. h. nur durch Geist und Talent, in den Himmel aufsteigen könne: »So geht’s zum Himmel... ich auch durchmesse, von ihnen [hier meint Ovid Dichter, die Sterne beschreiben, wie Hesiod und Arat] geführt, den Himmelsraum, jedes flüchtige Sternbild zugleich ordnend zum richtigen Tag« (Ov. fast. 1, 307, 309–310). Damit negiert Ovid die Vergöttlichung der Herrscher (vgl. Newlands 1995, 42–43) und weist zudem die Idee des Horaz (carm. 3, 3, 1–16) zurück, nach der sowohl militärische als auch dichterische Leistungen zur Unsterblichkeit führten. Das zweite Proömium im fünften Buch der Fasti, in dem Ovid zahlreiche Verstirnungssagen erzählt, beginnt mit Ab Iove surgat opus (»Jupiter steh’ am Beginn meines Werkes!«, fast. 5, 111). Dadurch nimmt der Dichter die erste Phrase aus Arats Phaenomena Ἐκ Διὸς ἀρχώμεσθα auf (»Lasst mit Zeus uns beginnen«), hier wird Zeus’ Ordnung der Sterne thematisiert, mit der Germanicus seine Phaenomena beginnt: Ab Ioue principium magno deduxit Aratus / carminis (»Vom großen Jupiter aus hat Arat geführt seines Liedes Anfang«). Germanicus parallelisiert hier Jupiter als den Schöpfer des Himmels mit sich selbst, dem Autor und Schöpfer des Gedichts über die Gestirne. Ovid unterstreicht mit dem Arat-Zitat, dass er und Germanicus, beide als Dichter, den Sternenhimmel und die Verstirnungen betrachten und Arats Gedicht weiterentwickeln.

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V  Themen und Konzepte

37.5 Astronomie als Grundlage für die Berechnung des julianischen Kalenders Ovid bezeichnet in seinen Fasti Tage häufig durch den Auf- und Untergang der Gestirne, die ebenfalls Namen der Tierkreiszeichen waren. Nur wenn er von festen Tagen im Monat (Kalenden, Nonen und Iden) spricht, übernimmt er die Markierung der steinernen Kalender (fasti). Im dritten Buch der Fasti erwähnt Ovid die julianische Kalenderkorrektur (fast. 3, 155–164). Da die Berechnung der Zeit im Jahr 45 v. Chr. nicht stimmte, da das zivile und das solare Jahr stark voneinander abwichen, nahm Julius Caesar »auch diese Sorge auf sich« (fast. 3, 156), womit Ovid die neue Kalenderordnung als eine von mehreren Kontroll- und Ordnungsanweisungen Caesars thematisiert (vgl. Feeney 2007, 196– 206). Caesar stützte sich bei der Korrektur des Kalenders auf die Berechnungen seines ägyptischen Astronomen, Sosigenes aus Alexandria. »Als Gott und Vater des berühmten Geschlechts, dem der Himmel verheißen war«, schreibt Ovid, »wollte Caesar ihn vorher schon kennen und nicht als ein fremder Gott (deus hospes) auf fremdes Gebiet treten« (fast. 3, 159–160). Der Dichter erwähnt hier einen roten Faden der Fasti, die Vergöttlichung römischer Herrscher, welche sich als Verstirnung kenntlich macht. Sterne seien zu Romulus’ Zeit als Götter wahrgenommen worden (fast. 3, 112); für diese Zeit stellt der Dichter aber die starke Unkenntnis der Astronomie heraus (fast. 3, 105–110). Den Lauf der Sterne, welche zuvor frei und unbeobachtet durch das Jahr liefen (fast. 3, 111–112), ordnete Julius Caesar: »Er hat die Zeit, welche die Sonne in des Tierkreises einzelnen Zeichen zubringen soll, in jedem Jahr, exakt, sagt man, bestimmt« (fast. 3, 161–164). Wenn Ovid feststellt, dass Caesar das zivile Jahr an die astronomischen Phänomene angepasst hat, hebt er die Kontrolle und den Befehlston des Julius Caesar hervor (Feeney 2007, 202–203), die sich sogar auf den Lauf der Sonne auswirkten. Indem Augustus den julianischen Kalender in 8 v. Chr. nochmals korrigieren und die Sonnenuhr auf dem Marsfeld anbringen ließ und sich zudem als ein den Göttern nahe stehender Herrscher darstellte, der sich Vergöttlichung und somit Verstirnung verdiente, übernahm er die Modelle der herrschaftlichen Selbstdarstellung, wie sie z. B. am Hof in Alexandrien in Gebrauch waren. Ovid antwortet auf Augustus’ Selbstdarstellung als mächtiger Herrscher mit seinen Verstirnungserzählungen auf eine ausgefeilte und humorvolle Art. Bei-

spielsweise fügt er in seinen Angaben über den Lauf der Sterne einige wichtige Motive der Selbstdarstellung der domus Augusta ein, indem er auf das Aufund Untergehen eines Gestirns verweist. Im Kalendereintrag zum 16. Januar nennt Ovid mehrere Aitiologien zu Tiberius’ Einweihung des Concordia-Augusta-Heiligtums auf dem Forum; darüber hinaus lobt er Livia, die auch eine Weihung für die eheliche Concordia [»Harmonie«] vorgenommen hat, als sola toro magni digna reperta Iovis (»die einzige, die würdig war, das Ehebett mit Jupiter [d. h. Augustus] zu teilen«, fast. 1, 649). Diesem überschwänglichen Lob der Gattin des Kaisers Augustus fügt er aber die Angabe über den Aufgang des Wassermanns hinzu: »Kaum ist vorüber dieses Fest, verlässt Du, Phoebus, den Steinbock, / um zu nehmen die Bahn dann durch des jungen Wassermanns Sternbild.« (fast. 1, 651–652). Dass die Sonne ihre Bahn vom Steinbock zum Wassermann wechselt, verweist zweifach auf den Kaiser. Augustus veröffentlichte sein Tierkreiszeichen als Steinbock; diese Angabe stützte sich wahrscheinlich auf seinen Aszendenten, denn er war am 23. September unter dem Sternzeichen Waage geboren. Eratosthenes verdeutlicht in seinen Katasterismoi (26; Serv. georg. 3, 304), dass der junge Wassermann Ganymed ist. In ihn verliebte sich Jupiter, weshalb er ihn in den Himmel entführte, wo Ganymed Jupiter als Mundschenk diente. Ovid setzt die Angaben über das Aufund Untergehen der Gestirne geschickt ein. Die Erinnerung an den Wassermann-Ganymed könnte die vorangestellte Aussage verkehren, nach der nur Livia das Bett des Jupiter-Augustus teile. Hier könnte ein subtiler und sternenkundiger Leser die beiden Ideen miteinander verknüpfen und in der Angabe über das Aufgehen des Wassermanns an den sexuell unersättlichen Jupiter, der Frauen und Männern nachstellt, denken. Ovids Text ist bewusst offen und lässt Raum für verschiedene Interpretationen der Angaben über die Sterne. Bei einem Leser, der auf Ovids subtile poetische Spiele achtet, wird der Verweis auf den Wassermann am 5. Februar, als Augustus den Titel pater patriae verliehen bekam (fast. 2, 127–128), einen ähnlichen Gedankengang auslösen: In den Fasti identifiziert Ovid Augustus häufig mit Jupiter. Allerdings fügt der Dichter direkt nach der Panegyrik zugunsten des Titels pater patriae neckisch hinzu, dass das Gestirn Wassermann-Ganymed zur Hälfte zu sehen ist (fast. 2, 145–146). Die Erwähnung des Wassermanns, die zweimal direkt auf die überschwängliche Panegyrik auf das Herrscherhaus folgt, konterkariert somit subtil die Kaiserpanegyrik (Newlands 1995, 45–47). Astro-

37  Astronomie und Verstirnungssagen

nomie und Verstirnungen haben sehr unterschiedliche Funktionen in Ovids Werken. Verstirnungen erzählt der Dichter als Aitiologien, verwendet sie als Herrscherpanegyrik oder nutzt sie als Mittel, um die Herrscherpanegyrik in Frage zu stellen. Literarisch äußerst geschickt verwebt der Dichter Astronomie und Verstirnungen, Themen, welche im augusteischen Rom und in der augusteischen Literatur eine zentrale Bedeutung einnahmen, mit dem Gedanken, dass nur talentierte Dichter die Sterne erreichen und unsterblich werden können. Literatur

Bechtold, Christian: Gott und Gestirn als Präsenzformen des toten Kaisers. Apotheose und Katasterismos in der politischen Kommunikation der römischen Kaiserzeit und ihre Anknüpfungspunkte im Hellenismus. Göttingen 2011.

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Feeney, Denis C.: Caesar’s Calendar. Ancient Time and the Beginnings of History. Berkeley/London 2007. Gee, Emma: Ovid, Aratus and Augustus: Astronomy in Ovid’s ›Fasti‹. Cambridge 2000. Herbert-Brown, Geraldine: Ovid and the Stellar Calendar. In: Dies. (Hrsg.): Ovid’s ›Fasti‹. Historical Readings at its Bimillennium. Oxford (2002), 101–128. Kimpton, Frederick: The Fasti’s Celestial World and The Limitations of Astronomical Knowledge, Classical Philology 109 (2014), 26–47. Newlands, Carol E.: Playing with Time. Ovid and the ›Fasti‹. Ithaca 1995. Robinson, Matthew: Ovid, the ›Fasti‹ and the Stars. In: Bulletin of The Institute of Classical Studies 50 (2007), 129– 159. Robinson, Matthew, A Commentary on Ovid’s ›Fasti‹, Book 2, Oxford (2011). Schmid, Alfred: Augustus und die Macht der Sterne. Antike Astrologie und die Etablierung der Monarchie in Rom. Köln 2005.

Darja Šterbenc Erker

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V  Themen und Konzepte

38 Aitiologie und Antiquarismus Das literarische Verfahren, das den etwa zeitgleich entstandenen Texten Ovids der Metamorphosen und der Fasti zugrunde liegt, ist die Aitiologie: die »Ursprungserklärung« bzw. »-erzählung« (von griech.­ aition, »Ursache«), die eine der gängigsten epistemischen Techniken der hellenistischen Literatur darstellt (s. Kap. 43). In lateinischer Sprache tritt sie bei antiquarischen Schriftstellern wie Varro ebenso auf wie in Livius’ Geschichtsschreibung oder in Vergils Aeneis; als poetisches und konzeptuelles Charakteristikum ist sie vor Ovids Hauptwerken allerdings nur in wenigen griechischen und lateinischen Dichtungen zu finden, angefangen bei Kallimachos’ Aitia (um 245 v. Chr.), dem wichtigsten Vorbild der Fasti, und mehreren Gedichten in Properz’ viertem Elegienbuch (15 v. Chr.). Die Sammlung von aitiologischen Verwandlungssagen der Metamorphosen hat ihrerseits Vorbilder in den nicht erhaltenen Heteroioumena des Nikander (um die Mitte des 2. Jhds. v. Chr.) und der Ornithogonia des Boios (3. Jhd. v. Chr.), die der ältere Zeitgenosse und Freund Ovids, Aemilius Macer, ins Lateinische übersetzte. Die Aitiendichtung in dieser Konzentration ist ein besonderes Phänomen der hellenistisch-alexandrinischen Literatur, die auf einen großen Vorrat an Bücherwissen zurückgreifen konnte; die lateinischen Dichter verknüpfen diese Tendenzen mit dem identitätsstiftenden Projekt der römischen Antiquare, das ebenfalls auf die Sammlung von textlich überliefertem Wissen zielte. Es handelt sich beim aitiologischen Modus der Erklärung stets um die Herleitung in der Natur vorhandener oder zeitgenössischer, besonders kultisch-religiöser Phänomene aus der Vergangenheit, um eine kausale Verknüpfung der sichtbaren Zeichen in der Gegenwart aus der Geschichte und der Mythologie. In der Form, die man in der spätrepublikanischen und kaiserzeitlichen römischen Literatur zumeist antrifft, ist dies ein genuin poetischer, zumal ein Moment der Fiktion beinhaltender Modus des Wissenserwerbs und seiner Darstellung: Römische Aitien sind fast ausschließlich aus der Ur- und Frühgeschichte der Stadt abgeleitet. So ist die Aitiologie als literarische Gedanken-, ja Erzeugungsfigur von Text und Erzählung zu betrachten. Im Fall der augusteischen Dichtung wie auch der Restitutionsideologie des Prinzipats kann sie als »Ausdrucksform teleologisch geschichtlicher Gegenwartsdeutung und restaurativer Gegenwartsgestaltung« bezeichnet werden (Schmidt 2003, 109).

Bei Ovid ist die Aitiologie in den Verwandlungsgeschichten der mythischen Welterklärung der Metamorphosen sowie in der Abfolge von Festerklärungen und Verstirnungssagen der Fasti durchweg anzutreffen (zu den Aitien der augusteischen Elegie, besonders der Fasti, vgl. Miller 1982 und 1992, Loehr 1996 sowie Labate 2010, 157–164; zur poetischen Aitiologie in den Fasti und ihrem literaturgeschichtlichen Hintergrund, s. auch Porte 1985, Barchiesi 1997, 214–237 und Prescendi 2002; zur Aitiologie Ovids in den Metamorphosen, vgl. Myers 1994, 61–94 und Waldner 2007). Allerdings gibt es auch in den Amores, der Ars amatoria und den Tristia immer wieder eingestreute Aitiologien (zu am. 3, 13, einem Aition des faliskischen Juno-Festes, vgl. von Albrecht 2000, 172; zum Aition der sabinischen Frauen im ersten Buch der ars, vgl. Labate 2007; zur »aitiologischen Poetik« der Exilerklärung in trist. 3, s. Curtis 2015).

38.1 Aitiologische Bedeutungskonstitution der Natur: Welterklärung in den Metamorphosen Das innere Telos aller Verwandlungssagen des ovidischen Weltgedichts ist das Resultat einer vollendeten Metamorphose, vor das sich der Mensch in seiner Gegenwart gestellt sieht und das erklärungswürdig erscheint. Nicht immer ist es dabei die Merkwürdigkeit eines Dings – traditionell der Anlass zur Aitiologie, der sie in die Nähe der Paradoxographie oder Mirabilienliteratur stellt –, die eine Geschichte über dieses erzählen lässt, sondern meist ein charakteristisches Merkmal. Es überwiegen die sogenannten ›Natur-Aitien‹, die die Herkunft von Tieren, Pflanzen und anderen Naturphänomenen wie Quellen oder Tau erklären; es gibt allerdings auch in den Metamorphosen Kult-Aitien – die in den Fasti dagegen das Gros der Episoden ausmachen –, und besonders in den römischen Büchern 14 und 15 des Epos finden sich Ursprungserzählungen römischer Bräuche oder genuin italisch-römischer Götter (vgl. Waldner 2007, 220–231, zu den römischen Kult-Aitien, s. Graf 1996). Beide Themenbereiche werden etwa in der Erzählung der lykischen Bauern im sechsten Buch verbunden, die von Latona zu Fröschen verwandelt wurden, weil sie ihr untersagt hatten, zusammen mit den neugeborenen Zwillingen Apoll und Diana ihren Durst an einem Teich zu stillen (met. 6, 313–381; s. Myers 1994, 74 und 83–90). Der Anlass zur Erzählung dieses Aitions wird in diesem Fall mit Verweis

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_38

38  Aitiologie und Antiquarismus

auf seinen »wundersamen« Charakter gegeben (319– 320): res obscura quidem est ignobilitate virorum, / mira tamen (»Wenig bekannt ist die Sache, da niederer Herkunft die Männer, / Wunderbar doch«). Der Teich sei »durch ein Wunderzeichen bekannt« (prodigio notum, 321), und mitten in ihm, »geschwärzt von der Asche der Opfer, / Stand ein alter Altar, umgeben von schwankendem Schilfrohr« (lacu medio sacrorum nigra favilla / ara vetus stabat tremulis circumdata cannis, 325–326). Dieser merkwürdige Altar wird durch den alten Vater des Erzählers erklärt – beide sind anonyme lydische Viehhirten –, was die fiktive Erzählsituation noch einmal verkompliziert: Diese aitiologische Erzählung ist auf dritter Ebene eingebettet in die Erzählung des Sohnes, der in der Rahmenhandlung des sechsten Buches zur Gruppe derer gehört, die in der vorhergehenden Geschichte durch Niobes Wut verängstigt wurden. Der alte Hirte berichtet auf die aitiologische Frage seines Sohnes nach dem Ursprung des Altars von der verstoßenen Latona, die nach der Geburt ihrer Kinder auf Delos durch Lykien irrt und erschöpft auf arbeitende Bauern trifft, die ihr das Trinken am Teich verwehren. Obendrein beschimpfen sie die Göttin und springen im Wasser umher, wobei sie den Schlamm am Ufer aufwühlen – gleich Fröschen, in die sie nun vom Zorn der Göttin verwandelt werden. Damit ist das schimpfende Quaken der Frösche erklärt, aber auch der Kultaltar im Wasser, der von der Asche seiner Opfer schwarz geworden war. Das fiktionale Wesen des Erklärten wird einerseits durch die verschachtelte Erzählsituation markiert, andererseits durch die implizite Referenz auf Nikander, der die Geschichte ähnlich erzählt hatte (allerdings mit abweichender Absicht der Göttin ans Wasser zu kommen, nämlich um zu baden; überliefert ist die Stelle bei Antoninus Liberalis. Kap. 35) und auf Properz, der in der aitiologischen Erzählung der Elegie 4, 4 über die Ara Maxima vom durstigen Herkules erzählt, der von Bona Dea-Priesterinnen abgewiesen wird und daraufhin die Tempeltüren sprengt. Die Geschichte der lykischen Bauern aus dem Mund des alten Hirten erweist sich also als Konstrukt, das in Auseinandersetzung mit literarischen Vorbildern steht – gerade daran wird ihr fiktiv-antiquarischer Charakter deutlich, da es nicht um verifizierbares Wissen geht, sondern um textlich generierte Episteme über die Bedeutung und Verbindung von Natur und Götterkult.

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38.2 Römische Feste und ihre Ursprünge: Aitiologische Kalenderexegese in den Fasti In den Fasti ist es besonders die aitiologische Form von Frage und Antwort als strukturelles Kennzeichen, das den gesamten Text in Unterhaltungen mit Göttern und anderen Informanten ausmacht. Oftmals sind kurze Fragen und ihre Repliken aneinandergereiht wie in den ›Interviews‹ mit Janus im ersten Buch oder Vesta im sechsten, oder eine aitiologische Passage wird von einer Frage oder explizit gemachten Merkwürdigkeit etwa in einem Ritual und dann dem Rekurs auf diese Frage in der abschließenden Auflösung gerahmt. Dabei geht es vor allem um die Sachverhalte und Gegenstände des kultisch-religiösen Bereichs: »Ungefähr 75 % der erfassten Aitiologien erklären Kulte, Kultbilder, Kultorte (Tempel, Altar), Riten, Spiele, Fest- und Götternamen sowie die jeweiligen Monatsnamen« (Loehr 1996, 112). Wo Properz bestimmten Göttern und Kulten Einzelgedichte widmete und Kallimachos seine Erklärungen in fortlaufender Form, aber recht lose thematisch oder nach geographischer Herkunft reihte, bildet den narrativen Rahmen und das Anordnungsprinzip der Aitien in Ovids Fasti ein fiktiver zeitlicher Fortschritt des Jahres. Die Motivierungen der präsentierten Aitiologien liegen somit in deren Verankerung im römischen Kalender, vor allem im Festkalender mit seinen Ritualen und Tempelgründungstagen. Die Aitien werden an ›ihren‹ jeweiligen Tagen erzählt und durch den Anlass des Festes selbst motiviert. So beispielsweise an einer Stelle im dritten Buch der Fasti zum 1. März, an dem die Matronalia gefeiert werden. Die Matronalia waren der Iuno Lucina gewidmet, also der Göttin in der Funktion einer Geburtshelferin, wie im Übrigen alle römischen Kalenden der Juno gewidmet waren. Der 1. März war der Neuanfang des alten römischen Jahres, das mit dem Frühling begann – es gibt also eine Koinzidenz von Gebet für den Neuanfang eines menschlichen Lebens und Jahresanfang. Der mensis Martius war aber auch der Kult-Monat des Kriegsgottes, an den die folgende Frage gestellt wird, die wiederum auf eine Merkwürdigkeit oder gar ein Paradox zielt: Warum wird am 1. März, einem Festtag des Mars, ein Frauenfest gefeiert (fast. 3, 167–170; 229–234)? ›Si licet occultos monitus audire deorum     vatibus, ut certe fama licere putat, cum sis officiis, Gradive, virilibus aptus, dic mihi matronae cur tua festa colant.‹ [...]

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V  Themen und Konzepte

›inde † diem quae prima † meas celebrare kalendas     Oebaliae matres non leve munus habent. aut quia committi strictis mucronibus ausae     finierant lacrimis Martia bella suis; vel quod erat de me feliciter Ilia mater     rite colunt matres sacra diemque meum.‹

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(»›Falls auf der Götter geheime Weisung zu hören gestattet / Ist den Dichtern – daran glaubt ja die Sage ganz fest –, / Sag mir, Gradivus, warum, wo doch sonst für die Kulte der Männer / Du dich nur eignest, dein Fest heut die Matronen begehn.‹ [...]  ›Seitdem ist’s nicht leichte Pflicht für Roms Mütter, den ersten / Tag, die Kalenden des März, die mir gehörn, zu begehn. / Oder weil blanken Schwertern sie trotzten und durch ihre Tränen / Einhalt boten des Mars Kämpfen, begehn sie das Fest, / Oder die Mütter feiern, weil Ilia [d. h. Rhea Silvia, mythische Mutter der Gründerzwillinge] glücklich Mutter / Wurde durch mich, diesen Tag heute nach Recht und Gesetz.‹«)

Mars selbst beantwortet die Frage zunächst mit der Erzählung des Raubs der Sabinerinnen durch Romulus und die frühen römischen Siedler. Die geraubten Frauen stellten sich nach dieser Version der Geschichte im Moment vor der Schlacht zwischen die beiden Heere und beendeten so die Auseinandersetzung; der 1. März sei der Jahrestag dieser Tat. Mit inde (229), einem aitiologischen Signalwort in entsprechenden Kontexten, wird die mythische Erzählung in der Funktion eines Aitions mit dem zu erklärenden Sachverhalt verbunden und so der Bezug zur Ausgangsfrage hergestellt. In Mars’ Auflistung eines weiteren Aitions in den Versen 233–234, das nicht mehr mit der narrativ begründeten Erklärung in Verbindung steht, wird zudem eine Besonderheit der hellenistischen Aitiologie sichtbar: In Ovids Text wie auch bei Kallimachos und Properz wird meist nicht nur eine Erklärung für das je zu erklärende Phänomen gegeben, sondern mehrere. Diese Form der aitiologischen ›Mehrfacherklärung‹ ist das dominante Prinzip auch bei den römischen Antiquaren wie Varro, das verschiedene Erklärungen zu einem Phänomen parallel und häufig sogar als alternative Möglichkeiten präsentiert (vgl. Miller 1992, 13). Man hat die »Gültigkeit verschiedener Aitia für einen Ritus in Rom auf die Komplexität und Pluralität der römischen Gesellschaft« zurückgeführt, da diese nicht mehr als geschlossene Gruppe »den Konsens« darüber herstelle, »welches die momentan wahre Erklärung sei, sondern verschiedene Erklärungen gleichzeitig [...] für wahr« halte. Diesen Zustand

einer real existierenden, sozial begründeten Mehrfacherklärung von Riten oder etwa topographischen Namen bilden die Antiquare ab, insofern ihre Forschungen, zumal die Varros, »im Dienst des spätrepublikanischen und augusteischen Selbstverständnisses durch die ›Darstellung der Vergangenheit zur Erklärung der Gegenwart‹« stehen (Loehr 1996, 191–192).

38.3 Poetischer Antiquarismus: Ovids vates operosus Die Fasti nehmen also an einer dynamischen Exegese kultureller Phänomene Teil und stehen damit in einer Tradition antiquarisch-hellenistischer Fachschriftstellerei, die sich ebenfalls durch die Mehrfach-Aitiologie auszeichnet, alle möglichen in der Tradition auffindbaren Erklärungen sammelt und sich kaum je für eine ›richtige‹ entscheidet (vgl. Scheid 1993, 123 und Pasco-Pranger 2000, bes. 290–291): Der Antiquar interessiert sich für ebenjenes, was ob seines Alters kaum noch zu veri- oder falsifizieren und schon durch seine bloße Präsenz in der Überlieferung der Betrachtung würdig ist. Da die Vergangenheit und ihre Sitten mit dem Fortschreiten der Zeit entschwindet oder wenigstens immer undeutlicher erkennbar wird, ist die Bewahrung bzw. Rekonstruktion ihrer Zeugnisse ein Anliegen der römischen Gesellschaft gegenüber den Schriftstellern, die sich in dieser Zeit häufig selbst als antiquarische Forscher verstehen (vgl. Rawson 1985, 233; Wallace-Hadrill 1997, 13; einen knappen Überblick bietet Sehlmeyer 2003). Eine echte Wissensrevolution fand in dieser Weise am Ausgang der Republik, zum Ende der 50er Jahre v. Chr. statt, als Varro die lateinische Fachschriftstellerei in zahlreichen Abhandlungen auf sichere Füße stellte und Cicero die Beredsamkeit und Philosophie endgültig in ein römisches Gewand kleidete. Als Gegenstände der römischen antiquarischen Schriften im ersten Jahrhundert. v. Chr. sind religiöse Riten, die politische Ordnung oder die Topographie zu nennen, aber auch der Kalender und die lateinische Sprache samt ihrer Herkunft. Es gibt eine Tendenz zum Zitieren der älteren Quellen und zum Argumentieren; häufig ist die Thematisierung von Institutionen der Anlass zu antiquarischen Ausführungen, was den Einschluss der Gründungssage Roms impliziert – die Stadtgründer waren demnach gleichzeitig auch Urheber der ersten Institutionen, was sie häufig zum Thema aitiologischen Schreibens macht. Besonders die Fasti und in Teilen auch Ovids übrige Texte (s. o.) stehen noch in einer Linie mit diesem

38  Aitiologie und Antiquarismus

Zeitgeist und eignen sich die Kenntnisse wie auch – meist vielfach gebrochen – den Ton dieser Werke an. Eine epistemologische Eigencharakterisierung, die in die gleiche Richtung verweist, wird zudem im Text des Kalendergedichts selbst an vielen Stellen skizziert. Die Beglaubigung der dargelegten causae sei einerseits über eigene Forschungen erreicht, nämlich über Autopsie und Bücherrecherche (vgl. den Ausdruck einer solchen antiquarischen ›Liebhaberei‹ etwa in fast. 1, 7 und 289; 3, 87–96; 4, 11; 6, 57–64; man besucht die Feste und Orte selbst: 1, 389; 3, 274, 6; 237–238; auf Reisen hält man aus Neugier an: 4, 679 ff.; 905 ff.; 6, 395 ff.); andererseits sei das Wissen über göttliche Informanten, d. h. Inspiration gewonnen, wozu im Verlauf des Textes auch die Zwiegespräche mit zentralen Göttern der römischen Religion gehören. Dieses zweiteilige Konzept findet in der callida iunctura (einer »klugen Wendung«) des vates operosus (fast. 1, 101) seine prägnante Bestimmung: Übersetzen kann man sie etwa als »arbeitsamer Dichterseher«, den Leser hellenistischer Dichtung auch unter dem Namen des inspirierten poeta doctus kennen. Dieser Dichter ist antiquarisch gelehrt, hat jedoch auch Zugang zu den exklusiven Kenntnissen der Götter. Molly PascoPranger hat diesen Umgang mit Wissen und ›Wahrheit‹ im aitiologischen Dichten über die Kalenderphänomene beschrieben, wobei sie besonders den Umgang mit der fernen römischen Vergangenheit der Aitien beleuchtet, der notwendigerweise freihändig erfolgen muss, da diese ins Spekulative gerückt ist: »The antiquarian mode of discourse does not require a single answer, and indeed often depends on a multiplicity of explanations to build a layered, multifaceted relationship with the past. [...] By filtering antiquarian discourse through the mouths of the gods and by the conflation of vaticism and antiquarianism, the Fasti brings into relief the always mediated nature of access to the past« (Pasco-Pranger 2000, 291). Zwar hat der vates, als der sich der Sprecher der Fasti stilisiert, direkten Zugang zu einer ganzen Reihe von Gottheiten, von Janus und Mars über Flora und den Flussgott Tiberinus bis hin zu Juno. Allerdings konkurrieren, wie besonders am fünften und sechsten Buchanfang zu den jeweiligen Monatsnamen Mai und Juni, bisweilen auch mehrere Götterstimmen zu einer einzigen Frage, wodurch variierende Meinungen und Überlieferungen wie im antiquarischen Schreiben nebeneinander stehen bleiben, ohne dass sich das forschende Ich in jedem Fall zu einem Urteil durchringen müsste. Anhand der strittigen Etymologie des Juni schafft der vates einen solchen Fall (fast. 6, 11–100; zur Stelle vgl.

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Blank-Sangmeister 1983; Loehr 1996, 214–291; Forbis Mazurek 2010), als ihm drei Göttinnen erscheinen, die alle den Monatsnamen für sich beanspruchen: Juno, deren Name tatsächlich im Monat Iunius steckt, hält ein langes Plädoyer und führt unter anderem ihre wichtige Stellung im römischen Kult an. Iuventas, die personifizierte Jugend und Hercules’ Frau, verweist neben der Ehrerbietung für ihren Mann, der auch in der Gründungsgeschichte Roms eine Rolle spielte, auf eine angeblich ursprüngliche Teilung der römischen Gesellschaft in zwei Gruppen, die iuvenes (»jungen Männern«) und die maiores (»Vorfahren« oder »älteren Männern«) – die beiden Etymologien des Mai von diesen maiores und des Juni von den iuvenes sind unhaltbar, tauchen in Ovids Text jedoch öfter auf und dienen Iuventas als Argument. Zuletzt erscheint Concordia, die Eintracht, die eine zweite weit hergeholte Etymologie des Juni anbringt, nämlich von iungere (»verbinden, vereinen«). Das von ihr verkörperte Prinzip stehe dem princeps nahe und sei stets konstitutiv für Rom gewesen, so zuerst im Krieg gegen die Sabiner und Titus Tatius nach dem Frauenraub, der letztlich zur ›Verbindung‹ der beiden Völker geführt habe. Der aitiologische Sprecher der Fasti enthält sich am Ende der Passage jedoch eines Urteils, da es ihm angesichts der drei göttlichen Rednerinnen gefährlich werden könnte wie einst dem Paris und seiner Heimatstadt nach dem Urteil über die Schönheit dreier Göttinnen (fast. 6, 97–100): dicta triplex causa est. at vos ignoscite, divae:     res est arbitrio non dirimenda meo. ite pares a me. perierunt iudice formae     Pergama: plus laedunt, quam iuvat una, duae. (»Dreifach ist also der Grund. Ihr, Göttinnen, mögt mir verzeihen! / Nie kann als Schiedsrichter ich klären, wer recht hat im Streit! / Geht also ohne mein Urteil! Einst fiel durch den Richter der Schönheit / Pergamum: Schaden doch zwei mehr, als die eine dann nützt!«)

Diese Enthaltung steht ganz in der Tradition der Mehrfach-Aitiologie antiquarischen Schreibens – statt um eine klare Entscheidung geht es vielmehr um die Auflistung und kreative Neuschöpfung von Wissen rund um eine Frage zum religiösen und kulturellen Leben Roms. Die geistreiche Inszenierung dieser Art von Forschung literarischer Mittel, die das je Erforschte auch stets in der literarischen Tradition verortet, ist charakteristisch für den Umgang Ovids mit der poetischen Aitiologie und dem antiquarischen Schreiben.

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V  Themen und Konzepte

Literatur

Albrecht, Michael von: Ovids ›Amores‹ und sein Gesamtwerk. In: Wiener Studien 113 (2000), 167–180. Barchiesi, Alessandro: The Poet and the Prince. Ovid and Augustan Discourse. Berkeley 1997. Blank-Sangmeister, Ursula: Ovid und die Aitiologie des Juni in Fast. VI, 1–100. In: Latomus 42 (1983), 332–349. Curtis, Lauren: Explaining exile: the aetiological poetics of Ovid, Tristia 3. In: Transactions of the American Philological Association 145/2 (2015), 411–444. Forbis Mazurek, Elizabeth: Debating Genre in Ovid’s Proem to »Fasti« 6. In: Phoenix 64 (2010), 128–147. Francese, Christopher: Daphne, Honor, and Aetiological Action in Ovid’s ›Metamorphoses‹. In: Classical World 97/2 (2004), 153–157. Graf, Fritz: Römische Aitia und ihre Riten. Das Beispiel von Saturnalia und Parilia. In: Museum Helveticum 49 (1992), 13–25. Graf, Fritz: Römische Kultaitia und die Konstruktion religiöser Vergangenheit. In: Martin Flashar/Hans Joachim Gehrke/Ernst Heinrich: Retrospektive. Konzepte von Vergangenheit in der griechisch-römischen Antike. München 1996, 125–135. Labate, Mario: Erotic Aetiology. Romulus, Augustus, and the Rape of the Sabine Women. In: Roy Gibson/Steven Green/ Alison Sharrock (Hrsg.): The Art of Love: Bimillennial Essays on Ovid’s ›Ars Amatoria‹ and ›Remedia Amoris‹. Oxford 2007, 193–215. Labate, Mario: Passato remoto. Età mitiche e identità augustea in Ovidio. Pisa/Rom 2010. Loehr, Johanna: Ovids Mehrfacherklärungen in der Tradition aitiologischen Dichtens. Stuttgart/Leipzig 1996. Miller, John F.: Callimachus and the Augustan Aetiological Elegy. In: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt 30/1 (1982), 371–417. Miller, John F.: The Fasti and Hellenistic Didactic. Ovid’s Variant Aetiologies. In: Arethusa 25/1 (1992), 11–31.

Myers, Sara: Ovid’s Causes. Cosmogony and Aetiology in the ›Metamorphoses‹. Ann Arbor 1994. Pasco-Pranger, Molly: Vates operosus. Vatic Poetics and Antiquarianism in Ovid’s ›Fasti‹. In: Classical World 93/3 (2000), 275–291. Porte, Danielle: L ’ étiologie religieuse dans les Fastes d’ Ovide. Paris 1985. Prescendi, Francesca: Des étiologies pluridimensionnelles. Observations sur les ›Fastes‹ d’Ovide. In: Revue de l’histoire des religions 219/2 (2002), 141–159. Rawson, Elizabeth: Intellectual Life in the Late Roman Republic. Baltimore 1985. Scheid, John: Myth, cult and reality in Ovid’s ›Fasti‹. In: The Cambridge Classical Journal 38 (1993), 118–131. Schmidt, Ernst A.: Augusteische Literatur. System in Bewegung. Heidelberg 2003. Sehlmeyer, Markus: Die Anfänge der antiquarischen Literatur in Rom. Motivation und Bezug zur Historiographie bis in die Zeit von Tuditanus und Gracchanus. In: Uwe Eigler u. a. (Hrsg.): Formen römischer Geschichtsschreibung von den Anfängen bis Livius. Darmstadt 2003, 157–171. Waldner, Katharina: Griechische und römische Aitiologie in Ovids ›Metamorphosen‹. In: Anton Bierl/Rebecca Lämmle/Katharina Wesselmann (Hrsg.): Literatur und Religion. Wege zu einer mythisch-rituellen Poetik bei den Griechen. Berlin/New York 2007, 203–238. Wallace-Hadrill, Andrew: Mutatio morum. The idea of a cultural revolution. In: Thomas Habinek/Alessandro Schiesaro (Hrsg.): The Roman Cultural Revolution. Cambridge 1997, 3–22. Walter, Anke: Ovids ›alma Venus‹, die Mutter der Aitiologie. In: Christiane Reitz/Anke Walter (Hrsg.): Von Ursachen sprechen. Eine aitiologische Spurensuche. Hildesheim 2014, 431–460.

Christian Badura

39  Zeitkonzepte und der römische Kalender

39 Zeitkonzepte und der römische Kalender In Ovids Werk ist die Zeit wie viele andere Konzepte und Elemente stetem Wandel unterworfen (s. Kap. 33): Die Amores stehen einer elegischen, schon bei Properz und Tibull zu beobachtenden Ästhetik der Eingrenzung von Raum und Zeit sowie einem »Fokus auf den Augenblick, das Hier und Jetzt (Immanenz)« nahe. Das bedeutet, dass die Gedichte zeitlich nicht über sich hinausweisen und die Handlung bzw. der Gedankengang zumeist in sich abgeschlossen ist (zu Immanenz und Transzendenz in der Zeitbehandlung augusteischer Dichter s. Schwindt 2005). In den Heroides wird die Auseinandersetzung der schreibenden Heldinnen mit ihrer mythologischen Vergangenheit gerade in der kreativen Behandlung der zeitlichen Abläufe der Geschehnisse und oftmals in zeitlichen Vor- und Rückgriffen verhandelt (s. etwa Barchiesi 1992, 16– 19). Dem sich eher als zeitlos gültig verstehenden Regelwerk der Liebe in der Ars amatoria gegenüber rückt die Zeit in den Metamorphosen und den Fasti in den Vordergrund: Erstere schreiben eine literarische Weltgeschichte ad mea tempora, »bis zu meiner Zeit« (met. 1, 4), wodurch die eigene Gegenwart zum Telos des Zeitstrahls der Darstellung erkoren wird – dennoch ist das Epos keineswegs von einer linearen Chronologie geprägt, sondern von Auslassungen und Zeitsprüngen, retardierender Erzählfreude und Passagen, die ganze Gruppen myth-historischer Ereignisse in wenigen Versen bündeln. Einen Anspruch auf Transzendenz trägt das Finale (met. 15, 871–875) mit seinem überzeugten vivam (»ich werde leben«, 875) am Ende vor, das über die Grenzen des Werks hinaus unsterblichen Ruhm für den Dichter begründen soll. Tempora cum causis, die »[Fest-]Zeiten mit ihren Ursprüngen« (fast. 1, 1), bilden gar die ersten Worte des ovidischen Kalendergedichts, wo poetische und soziale Zeit aufs Engste verschränkt werden. Die Exildichtung zuletzt löst einerseits fernab von Rom die gewohnten Zeitordnungen auf, transzendiert andererseits das elegische Schreiben des Augenblicks in der Hoffnung, dass die Texte über sich selbst hinauswirken mögen und dem Dichter erneut Anerkennung brächten, wie etwa in den Sendungsgedichten trist. 1, 1 und 3, 1 (s. Giordano 1991).

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39.1 In den Zwischenräumen der Zeit Ovids Behandlung von Raum und Zeit ist »kubistisch« genannt worden (Schiesaro 2003, 187): »Ovid extensively explores the signifying value of a fragmented and often confusing representation of time.« So leitet ein zunächst klares Setting das Gedicht Amores 1, 5 ein (V. 1–2): »Heiß war’s, der Tag hatte eben die mittlere Stunde vollendet; / um zu ruhn, hab ich mitten aufs Bett mich gelegt« (Aestus erat, mediamque dies exegerat horam; / adposui medio membra levanda). Diese Klarheit einer Mittelstellung des erzählten Ereignisses am Tag – wie auch des Sprechers auf seinem Bett – wird jedoch sogleich durch die Markierung eines Zwischenraums gebrochen, der im Zentrum einer »Poetik des Zwielichts« steht (s. Schwindt 2005, 7; mit Hinds 1987, 10– 11 [»a world of borderlines«] und Hardie 2002, 42): Die Fenster stehen halboffen, was ein Licht wie in der Dämmerung erzeugt, als wäre es die Zeit zwischen Tag und Nacht (am. 1, 5, 3–6): pars adaperta fuit, pars altera clausa fenestrae;     quale fere silvae lumen habere solent qualia sublucent fugiente crepuscula Phoebo,     aut ubi nox abiit, nec tamen orta dies. (»Nur der eine Laden des Fensters war offen, der andre / war geschlossen – ein Licht, wie man’s vom Walde her kennt, / wie die Dämmerung schimmert, wenn Phöbus entfliehen will, oder / wenn vorbei ist die Nacht, noch nicht erschienen der Tag.«)

Glaubt man dem elegischen Ich, ist dies die ideale Zeit zur Verführung schüchterner Mädchen (7–8). Zwei Zeitpunkte des Tages werden so in einem unwirklichen Bild überblendet: Die Zeit für die Liebe, eigentlich bei Anbruch des Tages oder zu dessen Neige, ist nun in den Mittag verlegt, der auch als Zeit der göttlichen Epiphanie gilt (Hardie 2002, 42, mit McKeown 1989 zur Stelle; s. auch Nicolli 1977, Papanghelis 1989). Als Corinna in Vers 9 eintritt, wechselt das Tempus ins Präsens (ecce, Corinna venit, »sieh, Corinna kommt«). Die Immanenz eines Aufgehens in der Zeit ist damit komplett, und die (in den Versen 13–24 erotisch ausgestaltete) Wucht dieser weiblichen Präsenz erinnert zunächst an die göttliche Erscheinung einer dea praesens, was wiederum einen starken Kontrast zu Überlegung des Verführers schüchterner Mädchen ergibt. Ob ein solches Stelldichein aber vielleicht nur ein Tagtraum gewesen sein könnte, wird vor allem durch die verwirrende, leicht widersprüchliche

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_39

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V  Themen und Konzepte

Markierung der Zeit angedeutet, letztlich auch noch im abschließenden Wunsch des Sprechers offengelassen, weitere Mittage auf diese Weise verbringen zu dürfen (25–26). Vorstellungen von Zeit können häufig nur in räumlichen Bildern ausgedrückt werden, was auch im chronologischen Entwurf der Metamorphosen – und besonders in dessen Zwischenräumen – zu sehen ist. In den 141 Verwandlungssagen sind spezifische Zeitangaben selten; es gibt sie in etwa einem Viertel dieser Geschichten, sie beziehen sich jedoch meistens nur auf die Tageszeit und skizzieren keinen größeren zeitlichen Rahmen (Grant 1943; Montuschi 2005 untersucht solche Zeitangaben in Ovids Gesamtwerk). Das Epos verläuft nicht in durchweg linearem Zeitfluss von den Ursprüngen der Welt bis in die Gegenwart, sondern vielmehr mäandernd (s. Barchiesi 1997, 182). Eine grobe Dreiteilung der erzählten Zeit lässt sich dennoch feststellen: Zunächst wird die Zeit der Götter verhandelt, danach die der Helden, und zuletzt folgt die Geschichte menschlicher Ereignisse im weitesten Sinne. Die Trennlinien verlaufen zwischen den Versen 6, 420 und 421 sowie zwischen 11, 193 und 194, werden aber vom Erzähler nicht explizit so angezeigt, sondern in Bildern räumlicher Grenzen gezogen. Nach einer langen Sektion des Werks, das Götter und ihre Liebschaften behandelt, beginnt im Vers 6, 421 Tereus’ Geschichte, die erste in einer Reihe menschlich-heldenhafter Gestalten und ihrer Kriege. Im Vers 11, 194 wird zum ersten Mal Troja genannt, dessen Einnahme durch die Griechen in antiken Zeitrechnungen neben Roms Gründung einen häufigen Erst- und Ankerpunkt bildet (Barchiesi 1997, 193). In beiden Fällen werden elusive geographische Grenzen beschrieben, die in ihrem Status als Zwischenräume zwischen zwei Landteilen den Übergang zwischen zwei textlichen und zeitlichen Teilen der Metamorphosen abbilden (ebd., 183). Im ersten Fall ist es der Isthmus von Korinth, der am Ende einer langen Liste von Städten genannt wird; an ihm werden zwei Wasserflächen durch eine enge Landfläche getrennt, die Attika und die Peloponnes verbindet (met. 6, 419–420): quaeque urbes aliae bimari clauduntur ab Isthmo / exteriusque sitae bimari spectantur ab Isthmo (»All die Anderen auch, die hinter den Isthmus geschlossen, / Manche der Städte dazu, die vor dem Isthmus sich finden«). Im zweiten Fall bildet die Grenze der Hellespont, eine kleine Meerenge, an der sich die beiden Kontinente Europa und Asien treffen (11, 194–196): Ultus abit Tmolo liquidumque per aera vectus / angustum citra pontum Nepheleidos Helles / Laomedonteis Latoius adstitit arvis

(»Derart gerächt, verlässt der Sohn Latonas [d. h. Apoll] den Tmolus, / Fährt durch die lautere Luft und erreicht noch diesseits des schmalen / Meeres der Nepheletochter, der Helle, Laomedons Fluren [d. h. Troja].« Die kunstvolle Verknüpfung zweier Narrative, die das Geflecht der Metamorphosen allseits zusammenhält, ist an dieser Stelle, wo die Hauptteile des Epos ineinander übergehen, als fast unmerkliche Überschreitung einer räumlichen und in der Übertragung auch einer zeitlichen Schwelle ins Bild gesetzt. Eine weitere Figur des zeitlichen Zwischenraums ist in Ovids Œuvre am wichtigsten Grenz- und Übergangspunkt des Kalenderjahres zu finden, dem 1. Januar. Die Fasti beginnen den Reigen der römischen Feste an diesem Tag und führen mit ihm den römischen Gott der Anfänge ein, den zweigesichtigen Janus. Er steht Rede und Antwort, als der aitiologische Forscher seine Fragen zum Jahresanfang und zu den Bräuchen des 1. Januar formuliert (fast. 1, 149–150): ›dic, age, frigoribus quare novus incipit annus, / qui melius per ver incipiendus erat?‹ (»Sage, warum denn das Jahr gerade beginnt zu der Frostzeit, / Das viel besser im Lenz könnte beginnen den Lauf!«). In den folgenden Versen singt der Sprecher ein ›Lob des Frühlings‹ (laus veris), um für einen kalendarischen Beginn zur wärmeren Jahreszeit zu plädieren, der einen neuen Zyklus der Natur einleite (1, 151–160). Nach diesem poetischen ›Frühlingseingang‹ der Fasti, der an der Zeitund Textstelle im Winter jedoch fehl am Platz wirken muss, antwortet Janus mit einem einzigen Distichon, das im Text auch mit dem Hinweis auf diese knappe formale Gestaltung eingeleitet wird (1, 161–164): quaesieram multis; non multis ille moratus     contulit in versus sic sua verba duos: ›bruma novi prima est veterisque novissima solis:     principium capiunt Phoebus et annus idem.‹ (»Lang war die Frage; doch schnell war der Gott mit der Antwort zugegen, / Die, in zwei Zeilen gefaßt, gleich mir erteilte sein Mund: / ›Auch die Sonne beginnt mit dem Winter aufs neue den Kreislauf: / Phöbus nimmt mit dem Jahr ein und denselben Beginn!‹«)

Der Gott versteht die Wintersonnenwende als den einen Zeitpunkt im Jahr, an dem die vorherige und die beginnende Jahresbahn der Sonne sich treffen und in der doppelten Funktion eines Tages als »erster« (prima [vermutlich ist dies zu ergänzen]) und »letzter« (novissima, beide 163) einen Moment lang identisch werden. Die rhetorische Verdichtung, die hier in bei-

39  Zeitkonzepte und der römische Kalender

den Versen jeweils zwei getrennte Instanzen (bruma prima/novissima und novus/vetus sol in Vers 163, Phoebus und annus in Vers 164) zu einer verschmelzen lässt, spiegelt die beiden zeitlichen Konzepte, die Janus in je einem Vers präsentiert. Denn auch diese Konzepte arbeiten mit der Vorstellung, zwei Einheiten oder Zyklen in einer Position bzw. Zentralstellung »zusammenzubringen«, wie es Janus’ Distichon selbst tut: Zwei Jahreszyklen überschneiden sich am Tag der Wintersonnenwende, der dadurch den Charakter gleichsam einer Schwelle erhält; und das Jahr wird zu einer Einheit mit der Sonne, wenn man beider principium betrachtet. So wird die Konstitution des solaren Jahres und dessen Konzept in Janus’ Rede auch formal untermauert. Zudem ergibt sich im Kontext dieser Episode der Fasti, die sich eingehend mit Erscheinungsbild und Funktion des Gottes im römischen Kult und Brauchtum beschäftigt, eine Analogie des zentralen Punktes im astronomischen Ordnungsmuster mit Janus’ ikonographischer Gestalt, der berühmten Janusköpfigkeit, die dem zunächst abstrakten Anfangspunkt im Zyklus des Jahres ein Bild verleiht: Denn Janus ist der Gott der Durchgänge und Anfänge, der zwei Köpfe und Gesichter besitzt (65, Iane biceps; 89, Iane biformis; 96, bina ... ora). Die Faszination an Grenz- und Schwellenfiguren, die sich in Ovids Werk immer wieder auch an Zeit-Punkten zeigen lässt, findet in Janus also ein besonders starkes Emblem.

39.2 Tempora cum causis: Das zeitliche Ordnungsmuster des Jahres in den Fasti Zeit ist nicht nur das Sujet der Fasti – die ersten Worte eines antiken Gedichts können meistens auch als sein alternativer Titel gelesen werden  –, sondern bildet auch den Rahmen für den Fortschritt des Textes selbst, der den narrativen Rahmen einer fortlaufenden Handlung ersetzt (Volk 1997, Geue 2010). Der Fortgang des Gedichts wird wie in anderen didaktischen Texten oftmals durch die räumlichen Bilder des fahrenden Streitwagens oder Schiffes ausgedrückt, wie etwa am Ende des zweiten Buches (fast. 2, 863–864): venimus in portum libro cum mense peracto. / naviget hinc alia iam mihi linter aqua (»Wir sind im Hafen: mein Buch ging zugleich mit dem Monat zu Ende; / Nun auf anderem Meer fahre mein Schiff mir dahin«). Was im Text über den Kalender jedoch hinzukommt, ist die Verzeitlichung des besprochenen Inhalts. Das Jahr läuft gleichsam ab, während es im Text beschrieben wird – so etwa am Beginn desselben Buches (fast. 2, 1–2): cum carmi-

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ne crescit et annus: / alter ut hic mensis, sic liber alter eat (»Es wächst mit meinem Sange das Jahr auch: / Wie dieser zweite Mond laufe dies zweite Buch ab!«). Wie aus der eben besprochenen Stelle zu Janus und dem Jahresanfang erhellt, verhandeln die Fasti neben den einzelnen Festen des Jahres mit ihren mythischhistorischen Ursprüngen auch die Gestalt des römischen Kalenders selbst, wozu eine Darstellung seiner Geschichte gehört. Im Verlauf dieser Geschichte bzw. als Resultat verschiedener Phasen der Kalenderkonstitution sind Konflikte entstanden, die im julianischen Kalender wie auch in Ovids Umgang mit diesem deutlich zu sehen sind: Ein älteres Festjahr wird von einem astronomischen Ordnungsmuster (dem Sonnenjahr) überlagert, und aktuelle politische Feste verdrängen die Bedeutung älterer ländlicher Feiertage (zu diesem Aspekt des Kalenders, s. etwa Feeney 2007, 202; s. Kap. 37 ). Die Fasti thematisieren diese Konflikte und versuchen nicht selten, sie auf literarischen, insbesondere auf formal- und gattungsästhetischen Wegen zu lösen. Zu den zwei wichtigsten Variablen des römischen Kalenders gehören erstens die Länge des Jahres und zweitens sein Anfangspunkt; aus dem Bewusstsein eines historischen Wandels entsteht im römischen Diskurs die Theorie eines archaischen ›Zehnmonatsjahres‹, das im März begonnen habe (s. zu Ovids Verarbeitung dieses Konzepts Stok 1989 und 2000). Die Fasti sind der erste erhaltene Text, der von einem solchen frühen Kalender spricht, der durch Romulus bei der Gründung Roms etabliert und in einem nächsten Schritt durch den zweiten römischen König Numa Pompilius um zwei Monate verlängert worden sei – Livius beschreibt in Ab urbe condita 1, 18–19 nur Numas Einteilung des Jahres in zwölf Monate, ohne explizit von der Reform eines älteren Systems zu sprechen. Die zentrale Passage findet sich am Beginn des Textes nach dem Werkproöm im ersten Buch (fast. 1, 27–44) und bildet eine Art Vignette zum gesamten Gedicht, indem sie eines seiner zentralen, immer wieder aufgerufenen Themen zusammenfasst, nämlich die mythische Erstkonstitution des römischen Kalenders und die Namensgebung seiner Monate (fast. 1, 27–30): tempora digereret cum conditor urbis in anno     constituit menses quinque bis esse suo. scilicet arma magis quam sidera, Romule, noras,     curaque finitimos vincere maior erat. (»Als der Gründer der Stadt auch die Zeiteinteilung bestimmte, / Setzte der Monate zehn einst für sein Jahr er da fest. / Waren dir, Romulus, mehr doch vertraut als

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V  Themen und Konzepte

die Sterne die Waffen, / Sorgtest dich mehr, wie zum Sieg über die Nachbarn du kamst!«)

Die Passage führt eine Gegenüberstellung von militärisch orientierter und religiös-gelehrter Kultur in Roms Frühzeit vor, die sich auch auf das zeitliche Ordnungsmuster des Kalenders ausgewirkt habe. Der Kontrast zwischen den ersten beiden Königen Roms, dem kriegerischen Romulus und dem friedlichen Numa Pompilius, habe sich auch in den zwei Phasen von romuleischem Zehn- und numanischem Zwölfmonatsjahr gezeigt. Ovid macht sich diesen Kontrast für seine poetische Darstellung der Kalenderkonstitution zunutze. Denn diese Oppositionen sind im Kontext der elegischen Dichtung auch gattungspoetologisch aufgeladen, umkreisen also die grundlegende Unterscheidung von Militärischem einerseits, das traditionell im Epos behandelt wird, und Kultur bzw. Religion, die als Themen der aitiologischen Elegie der Fasti verstanden werden, andererseits (s. zu alldem Hinds 1992, 117–132). Der Gegensatz von arma und sidera (Vers 29), d. h. der metonymische Ausdruck einer Antithese von Militär und astronomischer Gelehrsamkeit wird in dieser Passage als Ausdruck für verschiedene Stufen in der Entwicklung der Kultur und auch des Kalenders verstanden. Der kriegerisch dargestellte Romulus wird, in einem Atemzug mit der Nennung seiner Rolle in der Gründung der Stadtgemeinschaft selbst, auch als der Begründer eines (noch rudimentären) Kalenders bezeichnet, der sich mit Kultur und Religion allerdings noch nicht beschäftigte: Zu Zeiten des ersten mythischen Königs war das römische Gemeinwesen entsprechend noch rudis, d. h. roh und kulturlos (37–38). Erst Numa Pompilius, der legendäre sabinische Religionsstifter und zweite König Roms, führte laut dieser Darstellung die friedliche Staatsform und eine Vielzahl von religiösen Riten in Rom ein und reformierte auch den Kalender: Er fügte dem Jahr die zwei Monate Januar und Februar hinzu, so dass auch der Jahresanfang vom März auf den Januar wechselte (V. 41–42, at Numa nec Ianum nec avitas praeterit umbras, / mensibus antiquis praeposuitque duos; »Doch auf Janus bedacht und die Schatten der Ahnen zu ehren, / Stellte zwei Monate dann Numa den alten voran«). In den Fasti wird dieser Gegensatz zwischen den beiden ersten Herrschern und Phasen des Kalenders noch bei der Beschreibung von Julius Caesar und Augustus, weiteren Ordnern der Zeit, eine Rolle spielen: Sie werden als kultivierte und gelehrte Männer gezeichnet, die nicht nur für Expansionspolitik, sondern auch für Sternenkunde und

die Verbesserung bzw. Erweiterung des römischen Kalenders Zeit hatten und haben (s. fast. 3, 155–166 zu Julius Caesars Kalenderreform; 1, 9–12 sowie 2, 15–18 zu den neuen Festtagen, die Augustus im Kalender einrichtete).

39.3 Aurea aetas: Ovids Rückkehr des Goldenen Zeitalters Die wichtigste ovidische Figur literarischer Zeitbehandlung ist – nicht nur in den Fasti, wo sie besonders virulent ist – die der Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart. Dies zeigt sich an der Häufigkeit von Aitiologien (s. Kap. 38) wie auch am sogenannten ›Einst-Jetzt‹-Motiv, das eine häufig kontrastive Zusammenschau zweier Zeitebenen ermöglicht (s. Döpp 1968, 77–94). Die Ableitung des Jetzt aus dem Einst findet man ebenso häufig wie den nostalgischen Gestus eines ›Früher war alles besser‹, der seinerseits wieder ironisch gebrochen sein kann. Das Motiv des Goldenen Zeitalters im Deszendenzmodell Hesiods (der locus classicus findet sich in dessen Werken und Tagen, V. 106–201), das Ovid nach Platon am häufigsten von allen antiken Autoren verwendet, steht im Zentrum dieser Zeitbehandlung (s. Reynen 1965; Gatz 1967, 222–223; Galinsky 1981; Schwindt 2005, 12). In den kulturgeschichtlichen Entwürfen nicht nur Ovids, sondern auch bei anderen augusteischen Dichtern ist das Goldene Zeitalter (aurea aetas, eine ovidische Prägung, oder saeculum aureum) stets die Zeit einer Ganzheitlichkeit des Daseins, wo Gegensätze und Wertungen noch nicht in das menschliche Leben eingedrungen sind und die Natur von sich aus Wohlstand und Güter gibt, die im Eisernen Zeitalter nur durch Bebauung des Ackers und dann durch Streit, Geiz und Überschreitungen der natürlich gesetzten Grenzen mittels Bergbau und Schifffahrt zu erreichen sind. Das Gedicht Amores 3, 8, das in einer kulturkritischen Passage zurück ins Goldene Zeitalter blickt und gleichsam die Entstehung des Wertekodex eines elegisch Liebenden aus der sollertia (»Erfindergeist«), der Ausweitung des Kulturraums und der Kulturtechniken erklärt, führt diese Figur der zeitlichen Zusammenschau vor. Während der Herrschaft Saturns gab die Erde alles von sich aus, es gab weder Bedarf für den Pflug noch für die Einteilung der Felder (41–42): nec valido quisquam terram scindebat aratro, / signabat nullo limite mensor humum (»Niemand zerfurchte den Boden mit schwerem Pfluge, nicht hatten / Messer des Feldes ein Land durch eine Grenze markiert«). Im

39  Zeitkonzepte und der römische Kalender

Goldenen Zeitalter geht man zudem nicht über natürliche Grenzen wie die Küste hinaus (44), es herrscht Einheit. Diese wird durch die sollers natura zerbrochen (»Menschennatur, geschickt warst gegen dich selbst du und hattest /allzu großes Talent zu deinem eignen Verderb«, 45–46), so das kulturpessimistische Narrativ, und die Idee von Reichtum entsteht, um dessentwillen Soldaten blutige Waffen führen (54). Der Elegiker überlässt daher den Reichen, gleichzeitig aber auch Anmaßenden und von Blut Besudelten das Feld der gesamten Gesellschaft, ob in Krieg oder Frieden. Dem Sprecher in der Amores-Passage soll so einzig der Bereich der Liebe bleiben, auch wenn er im Zuge dessen verarmen und ihm der Senat verschlossen bleiben muss (57–60). An anderer Stelle in Ovids frühem Werk, in den Versen 2, 273–286 der Ars, wird diese Perspektive umgekehrt: Reichtümer sind im Rom der Gegenwart doch mehr wert als Gedichte, konzediert das Distichon 275–276. Ein Homer, d. h. ein epischer Dichter, werde ohne Geschenke bei den Mädchen nichts erreichen (279–280). Aber ein gelehrtes weibliches Publikum, wenn auch selten, sei dennoch mit Gedichten zu beschenken und so zu erobern. Diese rezeptionsästhetischen Überlegungen münden in einer kulturkritischen Sentenz, die das Goldene Zeitalter im Jetzt verortet (277–278): aurea sunt vere nunc saecula: plurimus auro / venit honos: auro conciliatur amor (»Wahrhaft goldene Zeiten sind jetzt: / Mit dem Golde erwirbt man höchste Ämter im Staat, Liebe gewinnt man durch Gold«). Das semantische Spiel mit den aurea saecula, nämlich das Konkrete (das materielle Gold) für das Abstrakte (die metallurgische Metapher der Zeitalter) einzusetzen, deutet auf eine Überblendung der Gegensätze in der Gegenwart des Textes, die in am. 3, 8 nach dem Verlust des Goldenen Zeitalters erst entstanden waren: Nun bringt Gold, was der elegisch Liebende ersehnt, es wirkt sogar »versöhnend« (278), schafft Einheit – was sonst gerade dem mythischen Zeitalter vor der Entdeckung des Goldes vorbehalten war. Ovids Neuprägung der Junktur aurea aetas geht allerdings auch mit einer neuen Konnotation einher: Das Goldene Zeitalter ist in seiner Gegenwart gekommen und wird durch die goldenen Paläste des Augustus manifestiert (ars 3, 113–114; 121–122): simplicitas rudis ante fuit: nunc aurea Roma est,     et domiti magnas possidet orbis opes. [...] prisca iuvent alios: ego me nunc denique natum     gratulor: haec aetas moribus apta meis.

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(»Rohe Schlichtheit herrschte einstmals, golden ist Rom jetzt; / einer bezwungenen Welt riesige Schätze sind sein. [...] Möge das Alte andre erfreun; da ich jetzt erst zur Welt kam, / preis ich mich glücklich: / Es passt diese Epoche zu mir.«)

Die einfache Frühzeit, sonst häufig, etwa bei Vergil, in idealisierender Verklärung angepriesen, wird an dieser späteren Stelle der Ars als minderwertig abgetan – wie der Zehnmonatskalender des Romulus und sein Mangel an Kultur in den Fasti (s. o.). Die Kultivierung der mores ist den einfachen Sitten des frühen Rom bei Weitem vorzuziehen, besonders wenn es um die Liebe geht; es ist ein Bekenntnis zu ars und cultus der gegenwärtigen Zivilisation (Effe 1977, 240, Anm. 3; Galinsky 1996, 99; s. Kap. 36). Im letzten Buch der Metamorphosen wiederum, in dem der Philosoph Pythagoras u. a. für den Vegetarismus plädiert und dazu die aurea aetas et fortunata (met. 15, 96–98) aufruft, in der die Tiere noch nicht ausgebeutet wurden, gilt die frühere Lebensweise wieder als Garant für moralische Integrität. Wie Pythagoras und ähnlich der zweite römische König Numa zu leben, würde eine wahre Rückkehr des Goldenen Zeitalters bedeuten (s. Buchheit 1993, 95). Auch dieses Konzept des Vergleichs von Gegenwart und Vergangenheit wird in Ovids Œuvre also stets wieder neu perspektiviert und ist nicht frei von Brüchen, was den Reiz des Umgangs mit schon bekannten literarischen Motiven jedoch gerade ausmacht: Keinesfalls werden starre Gemeinplätze aufgerufen, sondern im Kontext des jeweiligen Textes wie auch im Gepräge der zeitgenössischen Kultur zu neuen Pointen getrieben. Literatur

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V  Themen und Konzepte

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Christian Badura

40  Geschichte und Gesellschaft

40 Geschichte und Gesellschaft 40.1 Ovid als Kind des Goldenen Zeitalters Zwischen den Iden des März, als Gaius Octavius das Erbe Caesars antrat, und seinem Tod unter dem Ehrennamen Augustus im Jahr 14 n. Chr. vergingen fast sechzig Jahre. Es war eine Schlüsselzeit, in der neue Formen der Staatlichkeit im Imperium Romanum geschaffen wurden. Die Forschung gliedert diese Zeit in drei Perioden. Die erste Periode geht bis zur Schlacht bei Actium im Jahr 31 v. Chr. Es handelt sich um eine Zeit extremer Spannungen in der Gesellschaft, im Schatten von Bürgerkriegsverbrechen, Angst vor dem Tod, Vertreibung und mangelnder Stabilität. Gerade zu Beginn dieser schwierigen Periode, im Jahr 43 v. Chr., wurde Ovid geboren. Die zweite Periode umfasste die Rückkehr von Gaius Iulius Caesar Octavianus (diesen Namen erhielt er durch den Übertritt in die gens Iulia, die mit der Adoption durch Caesar einherging) nach Rom im Jahr 29 v. Chr. sowie die Stärkung des neuen Systems, des Prinzipats mitsamt seinen Strukturen. In diese Periode – auf den Höhepunkt von Vergils und Horaz’ literarischem Schaffen – fiel Ovids Jugend. Reife und akmé gewann Ovids Kreativität in der dritten Periode, in der die Pax Augusta herrschte (Farrell 2007, 44–57), so benannt nach Octavians Ehrennamen. Die Generationen dieser Periode, zu denen Ovid selbst gehörte, vergaßen schnell die Angst von Bürgerkriegen und Proskriptionen oder hatten sie nie selbst kennengelernt. Man konnte verschiedene Facetten des Lebens in Rom sorglos und frei genießen. Die alten Werte (wie Tugend und Bescheidenheit) und der mos maiorum schienen obsolet. Auf dieser Grundlage konstruierte Ovid seine poetische Welt. Die Bedeutung der ovidischen Kreation entzieht sich jedoch einer eindeutigen Interpretation. Ovids Platz und Rolle in diesem – Vergils Prophezeiung nach (ecl. 4) – »golden« erscheinenden Zeitalter lässt sich in Bezug auf Gesellschaft und Geschichte im Allgemeinen in dreierlei Hinsicht betrachten: 1. Ovid, als »ein Geschöpf der augusteischen Epoche« (»a creature of the Augustan age«), wie ihn die Forscher taufen (Farrell 2007, 54), bringt in seinen Werken das Sicherheitsgefühl der Bürger, die Lockerung der Moral und das Entzücken über Sitten und Schätze aus dem Orient zum Ausdruck. Er wurde zum Sprecher der neuen Gesellschaft. Zwar kannte er die große Geschichte und die Sitten der antiken Römer und respektierte sie zusammen mit ihrem Kult des rustikalen Lebens und den ›cincinnatisch-cato-

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nischen‹ Tugenden. Doch lehnte er es ab, diese Bräuche und Moral in der neuen Zeit anzuwenden (ars 3, 121–128; Harrison 2007, 295–296): Prisca iuvent alios: ego me nunc denique natum     gratulor: haec aetas moribus apta meis. non quia nunc terrae lentum subducitur aurum,     lectaque diverso litore conchavenit: nec quia decrescunt effosso marmore montes,     nec quia caeruleae mole fugantur aquae: sed quia cultus adest, nec nostros mansit in annos     rusticitas, priscis illa superstes avis. (»Das Altertum möge andere erfreuen, ich preise mich glücklich, daß ich erst jetzt geboren bin. Diese Zeit paßt zu meiner Art, nicht weil jetzt der Erde geschmeidiges Gold entrissen wird und weil die am fernsten Strand aufgelesene Perlmuschel zu uns kommt, und auch nicht, weil Berge durch das Schürfen nach Marmor abgetragen werden, und auch nicht, weil die Mole das blaue Meer vertreibt, sondern weil feine Lebensart herrscht und weil sich das bäurische Wesen nicht bis auf unsere Tage gehalten und die Urväter überlebt hat.«)

So wurde Ovid zum Sänger der neuen Möglichkeiten und der gegenwärtigen, stärker sozial als politisch ausgerichteten Geschichte der Ewigen Stadt, die damals circa eine Million Einwohner zählte. 2. Die Verherrlichung des neuen, sorgenfreien Lebensstils war jedoch nicht allumfassend. Gerade in der späten zweiten und in der dritten Periode fanden Augustus’ intensivste Reformen zur ›Reparatur der Sitten‹ statt. Gesetze über die Moral wurden verabschiedet, und enthielten u. a. Maßnahmen zur Förderung der Fruchtbarkeit in legalen Ehebeziehungen und die Bestrafung von Ehebruch. In Ovids Werken kann man Elemente finden, die sich in den Kategorien seines Respekts vor moralischer Reinheit oder zumindest als eine Art von ›hippokratischem‹ non nocere (›nicht schaden‹) im Blick auf Augustus’ Gesellschaftspolitik interpretieren lassen: Zum Beispiel schloss Ovid in derselben Ars amatoria, in der er die rusticitas ablehnte, die römischen Jungfrauen und Matronen aus dem Kreis der Rezipientinnen seiner Liebesgedichte aus (ars 1, 31–34): Este procul, vittae tenues, insigne pudoris,     quaeque tegis medios, instita longa, pedes. nos venerem tutam concessaque furta canemus,     inque meo nullum carmine crimen erit.

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_40

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V  Themen und Konzepte

(»Bleibt fern, feine Kopfbinden, Kennzeichen der Sittsamkeit, und du, langer Besatz, der die Füße bedeckt! Wir werden sicheren Liebesgenuß und erlaubte Heimlichkeiten besingen, und in meinem Gedicht wird kein Verbrechen gelehrt.«)

Paradoxerweise konnte auch das ovidische Konzept der Liebe als Produkt der Erziehung (arte regendus amor / »Kunst muß auch Amor lenken«, ars 1, 4) zugunsten von Augustus’ Moralpolitik wirken. Diesem Konzept zufolge sollte der Liebhaber ein Gelehrter (doctus) werden. Er sollte in der Lage sein, starke Emotionen wie Lust, Aggression und Gier zu kontrollieren. Die Beherrschung des Extremen entsprach auch den Erwartungen des neuen Staates an seine Bürger (Conte 1999, 345). Selbstverständlich sind die Züge einer pro-augusteisch wirkenden Einstellung vor allem in jenen Werken Ovids sichtbar, in denen die Liebe nicht im Vordergrund steht, wie z. B. in den Fasti, einem Gedicht über die wichtigsten römischen Feste (s. Kap. 15). Schon die Wahl des narratologischen Rahmens war hier bedeutsam, da der Kalender durch die Organisation der Zeit der Bürger ein besonders geeignetes Mittel war, um das geschichtliche Bewusstsein der Gesellschaft zu gestalten. 3. Die Fasti lassen sich mit den anderen Werken Ovids zusammen aber auch als eine Alternative zu Augustus’ Vision interpretieren (Kilgour 2014, 219). Ovid versteht Geschichte nicht introspektiv in einem engen Sinne; vielmehr ist er auch für solche neuen Erfahrungen sensibel und offen, die man als kosmopolitische oder sogar globale Erfahrungen bezeichnen könnte (Habinek 2002, 46–61). So nutzt Ovid in der Ars amatoria beispielsweise die Konzepte des Krieges und des Friedens, die für Augustus konstitutiv für die Wiedergeburt einer Gesellschaft der ›wahren‹ Römer waren, um diesen Konzepten eine neue Bedeutung zu geben – und zwar eine Bedeutung im Kontext der Liebe, procul negotiis (»fern von Geschäften«); doch dies nicht nur dem Anschein nach, wie im Fall des Wucherers aus der Epode 2, 1 des Horaz, sondern in einer merkwürdigen poetischen Realität. In dieser poetischen Realität werden Gründerväter Roms, wie Romulus und Caesar, zusammen mit mythologischen Helden, wie Achilles und Herkules, zu Begleitern der neuen Generation von Römern bei deren pazifistischen Liebeseroberungen. Zudem drückt Ovid im Epilog zu den Metamorphosen seine Gewissheit aus, ›global‹ berühmt zu werden (15, 877–879):

quaque patet domitis Romana potentia terris, ore legar populi, perque omnia saecula fama, siquid habent veri vatum praesagia, vivam. (»Wo des Römers Macht auf bezwungenen Landen sich breitet, / Wird mich lesen das Volk, und für alle Jahrhunderte werde – / Ist etwas Wahres am Wort der Seher – im Ruhe ich leben.«)

Tatsächlich ist Ovid – dank der Erfahrung des Exils – der erste Dichter, der nicht nur die Grenzen des Imperiums erreicht, sondern auch die Sprachbarriere überschreitet, wodurch er auch für nichtrömische Gesellschaften Bedeutung gewinnt. Aus Rom nach Tomis verbannt begann Ovid, nach eigenem Bekunden (s. Hofmann 2001 und Kap. 2), Gedichte in den ›barbarischen‹ Sprachen der dortigen Völker zu schreiben. Seine ›globale‹ Karriere dauert bis heute an, und die drei oben erwähnten Ansätze, die man als Schlüssel zu Ovids Werken nutzen kann, werden im Prozess der Rezeption aktualisiert. Der Dichter wird zum Vehikel jener Inhalte, die stets für neue Gesellschaften Bedeutung gewinnen, wenn sie sich mit ihrer Geschichte auseinandersetzen.

40.2 Ein Beispiel: Von den Sarmaten bis zur Solidarność-Bewegung Die Autorität der antiken Dichter bei der Gestaltung des kulturellen Horizonts kommender Generationen war auch noch nach dem Untergang des Altertums so stark, dass es viele Jahrhunderte lang als höchstes Kompliment galt, als ein ›zweiter‹ oder ›neuer‹ antiker Dichter bezeichnet zu werden. Einer der berühmtesten Autoren, denen in Deutschland diese Ehre zuteilwurde, war Jacobus Balde. Der neulateinische Dichter und Jesuit des 17. Jahrhunderts wurde zum Horatius Germanicus (Stroh 2004). Zu einem neuen Ovid wurde hundert Jahre früher in Polen der Dichter Klemens Janicki (Ianicius) ausgerufen, der seine Verse auf Latein komponierte. Er erhielt den Beinamen Ovidius Polonus. Doch steht dieser Name in der polnischen Kultur auch für einen sehr speziellen Topos, der aus Ovids literarisierter Erfahrung der Verbannung nach Tomis und insbesondere aus dem fünften Band seiner Tristia schöpft (5, 12, 57–58). Dort schreibt Ovid, dass er im Exil die lateinische Muttersprache vergessen habe. An ihrer Stelle habe er die getische und die sarmatische Sprache erlernt (ipse mihi videor iam dedidicisse Latine: / nam didici Getice

40  Geschichte und Gesellschaft

Sarmaticeque loqui – »schon hab’ ich, so scheint es, verlernt die lateinische Sprache: hab’ ich sarmatisch doch schon sprechen und getisch gelernt«). Der nationale Mythos über die Herkunft der Polen als Nachfahren der antiken Sarmaten wurde zum Nährboden für die Schlussfolgerung, dass Ovid Pole geworden sei. Natürlich kämpften auch die Rumänen, auf deren Gebiet sich Tomis (das heutige Constanța) befindet, ebenso wie die Ungarn und die Russen im Laufe der Jahrhunderte um die Ehre, Ovid zu ihren Mitbürgern zu zählen. Die Polen aber legten eine spezielle Begründung für ihre Theorie vor: Am Ende des 16. Jahrhunderts fand eine Expedition statt, die auf dem Gebiet Polens Ovids Grab entdeckt haben will – ›der entscheidende Beweis‹ für Ovids polnische Nationalität. In Polen war man darüber hinaus der einhelligen Meinung, dass Ovids polnische, also seine ›erworbene‹ Nationalität über der römischen stehe, weil Rom den Dichter verbannt, Polen – Sarmatia oder Lechia Regna – ihn jedoch herzlich aufgenommen habe (Skulski 1913). Auch später war Ovid für die Gesellschaften in Europa nicht weniger wichtig als für die antiken Römer. Er gab diesen Gesellschaften eine Identität durch das Gefühl der Zugehörigkeit zur Zivilisation des Mittelmeerraums, unabhängig von der geographischen Lage des Landes. Seine Werke und literarisierte Biographie wurden zur Matrix für Bewältigungsstrategien in komplexen Phasen der Geschichte – auch noch im 20. Jahrhundert. Ein Beispiel für eine solche Bewältigungsstrategie bietet Jacek Bocheńskis Roman Der Täter heißt Ovid, der 1969 in der schwierigen Zeit nach dem Prager Frühling und der sowjetischen Invasion in die Tschechoslowakei erschien und das Publikum eroberte (deutsche Übersetzung 1975). Man stellte Bocheński, der 1926 als Sohn des Altphilologen und Dichters Tadeusz Bocheński geboren wurde, in eine Reihe mit Bertolt Brecht, Theodor Mommsen, Thornton Wilder, Robert Graves, Marguerite Yourcenar und Hermann Broch. Der Rezeptionsexperte Theodore Ziolkowki bezeichnete Bocheńskis Ovid-Kreation (eine Art Rockstar) in seiner berühmten Monographie Ovid and the Moderns als »die schillerndste Ovid-Metamorphose« (»the most dazzling metamorphosis of the poet Ovid«, 2005, 159) in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Der Roman, der an der Oberfläche von einer fernen Vergangenheit handelt, erwies sich in Wirklichkeit als äußerst modern und aktuell, denn, wie Bocheński selbst in seinem Roman ausruft: »Die antike Geschichte passiert jetzt« (1999, 9). Die Aktualität der römischen Geschichte hatte der

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Schriftsteller früh verstanden, als er 1961 unter dem Titel Göttlicher Julius den ersten Band seiner Römischen Trilogie veröffentlichte – nach dem Ende einer kurzen Entspannung des politischen Klimas infolge von Stalins Tod, als es zu einer erneuten Versteinerung der totalitären Systeme hinter dem Eisernen Vorhang zu kommen schien. Bocheńskis Darstellung Caesars weckte Assoziationen zu Nikita Chruschtschow und anderen Würdenträgern der Kommunistischen Parteien der Sowjetunion und Polens. 1968 unterstützte Bocheński offen die Proteste gegen das kommunistische Regime und befand sich auf dem Index. Doch ein Jahr später, 1969, wurde das Druckverbot aufgehoben, ein Statement vonseiten der Behörden, die auf diese Weise zeigen wollten, dass es in Polen keine Repressionen gebe. Während der Vorbereitungen zur Publikation des Romans über Ovid kam jedoch der Moment, in dem Bocheński die Veröffentlichung zurückziehen wollte. Das Buch war, wie er es später bezeichnet, von den Zensoren »massakriert worden«. Seine Technik der Quellenübersetzung – der Gebrauch eines modernen Vokabulars, die Verwendung von Anachronismen und das Einfügen des 20. Jahrhunderts als Kontext – führte in der Erzählung über Ovid zu den gleichen gefährlichen Assoziationen mit der aktuellen Geschichte, die in Göttlicher Julius Eingang gefunden hatten. Die Zensoren entschieden, Bocheński habe »ein Werk über einen antiken Dichter, der aus einem unbekannten Grund von Augustus verfolgt wurde, eingeschmuggelt, und dies musste eine Anspielung auf die gegenwärtige Situation Polens sein« (Bocheński 2010, 164). Tatsächlich will Bocheński den Lesern klar machen, dass Ovids Exil kein einzigartiges Ereignis aus der fernen Vergangenheit ist. Ähnliche Schicksale können jederzeit überall wieder geschehen und die Zensur gegenüber einem Künstler ist de facto eine Zensur auch den Rezipienten der Werke gegenüber. Sie begrenzt die Freiheit einer ganzen Gesellschaft. Ovids Stimme im politischen Kontext der gesellschaftlichen Freiheiten lässt sich auch zur Zeit des Kampfes hören, den die ost-, mittelost- und südosteuropäischen Länder in den 1980er Jahren um Demokratie führten. Der Dichter sprach bzw. sang durch Jacek Kaczmarski (1957–2004), den Barden der Solidarność-Bewegung, dessen Lied Mauern (1978), gesungen zur Musik des katalonischen Sängers Lluís Llach, in Polen zur Hymne der Demonstranten wurde und die ganze nach Freiheit strebende Gesellschaft bewegte. Die Ausrufung des Kriegsrechts in Polen im Dezember 1981 überraschte Kaczmarski in Paris. Er erhielt dort politisches Asyl. 1987, im Exil, schrieb er dann das Lied

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V  Themen und Konzepte

Das Alter von Ovid, in dem er die Freiheit der Kunst verteidigt. Kaczmarski treibt in diesem Lied ein Spiel sowohl mit der Antike als auch mit der Gegenwart. Das lyrische Ich ist eine höchst zeitgenössische Person, die zur gleichen Zeit die Maske des antiken Dichters aufsetzt (Milewska-Waźbińska 2008). Kaczmarski verlangt von seinem Publikum eine gute Kenntnis des Kontexts: zum Beispiel, dass der literarische Bezugspunkt für das Lied Ovids Epistulae ex Ponto sind und dass der antike Pontus Euxinus in den späteren Epochen als ›Schwarzes Meer‹ bezeichnet wurde. Doch, wie Kaczmarski anmerkt, außer dem Namen des Gewässers und einer Metamorphose der damaligen ›Barbaren‹ in stolze und ehrgeizige Menschen habe sich tatsächlich nichts verändert. Künstler würden immer noch verfolgt. Aus diesem Grund wird Ovid mit seinem Werk immer weiter die Quelle der Inspiration und einer wichtigen Botschaft an die neuen Gesellschaften bleiben. Interessant ist auch die Perspektive auf Ovid als Vertriebenen, die Kaczmarski annimmt und poetisch bearbeitet. Er drückt das Gefühlschaos eines Emigranten aus: »Na ja, es ist schön hier, aber was dann, wenn man fremd ist« (Vers 1). Das Motiv der Fremde ist von zeitloser Aktualität und macht Ovid zu einem ausgesprochen modernen Autor für die Gesellschaft des dritten nachchristlichen Millenniums.

40.3 Ovid und die globale Gesellschaft im 21. Jahrhundert Das größte Potential Ovids manifestiert sich vor allem in der Konfrontation von Macht und Künstler, und zwar nicht nur im Fall der autoritären Systeme, wie es beispielsweise Alexander Puschkin und Ossip Mandelstam erfahren haben (Kahn 2014, 401–415, s. Kap. 4), sondern auch in der demokratischen Gesellschaft, die ihre eigenen Spannungen zwischen Staat, Bürgerschaft und Individuum produziert. Der Kern dieser Spannungen kann von einer kompromisslosen Kunst offengelegt werden. Nicht ohne Grund ist Ovid zur Grundlage sowohl der gehobenen als auch der populären Kultur geworden. Sein Vorrang wurde bereits nach dem Ersten Weltkrieg erkennbar, als die neue aetas Ovidiana begann (Ziolkowski 2005, 75–82 und 2014, 388). Bislang stabile Autoritäten wie Vergil verloren im Angesicht der Tragödie des Ersten Weltkriegs ihre primäre Bedeutung. In C. G. Jungs Wandlungen und Symbole der Libido (1912), Franz Kafkas Die Verwandlung (1915) und Rainer Maria Rilkes Die Sonette an Orpheus (1923), in

ovidischen Transformationen zwischen Liebe und Tod also, konnte sich die verletzte Gesellschaft besser als in anderen antiken Ideen wieder- und neu erfinden. Im 21. Jahrhundert behielt Ovid sein Potential, die Spannungen in der Gesellschaft sichtbar zu machen und diskutieren zu helfen, wie im Fall des französischen Regisseurs Christophe Honoré, der im Film Métamorphoses aus dem Jahr 2014 die Handlung von Ovids Gedichten auf die gegenwärtige französische Provinz überträgt. Ein junges Mädchen, das Europa symbolisiert, verliebt sich in einen mysteriösen Jungen namens Jupiter und macht sich mit ihm auf eine Reise, in deren Verlauf die Grenzen zwischen Mythos und Wirklichkeit verschwimmen. Diese Reise lässt sich auch im Kontext der verschiedenen Beziehungen innerhalb der Europäischen Union interpretieren (s. Kap. 85). Als eine wichtige Quelle des Mythos von Europa ist Ovids Werk besonders als Grundlage für die Diskussionen über die Ideale der Gemeinschaft im Rahmen der modernen Gesellschaften geeignet. Auch Christoph Ransmayrs Roman Die letzte Welt aus dem Jahr 1988 (s. Kap. 86) beruht auf Ovid, insofern dieser in den modernen Gesellschaften »an das Vergessene gerührt und [...] an archaische, unbändige Leidenschaften erinnert« (93) hat. Der Römer Cotta macht sich auf die Suche nach Ovid in Tomis und er findet Splitter der Metamorphosen in jenen Schicksalen der Stadtbewohner, die von der Geschichte des 20. Jahrhunderts gestaltet und gezeichnet werden. So enthält Ransmayrs Roman beispielsweise Allusionen auf den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg. Die aktuelle Situation dominierte die Rezeption des Buches sogar in einem höheren Maße, als Ransmayr es selbst beabsichtigt hatte. In einem Interview für den »Kölner Stadt-Anzeiger« erinnert er sich daran, dass die rumänische Übersetzung des Romans zuerst zurückgehalten wurde, weil ein Zensor behauptete, in der Figur des Augustus den einheimischen Diktator Nicolae Ceaușescu erkannt zu haben (Oehlen 2007). Die Wirkmacht Ovids reicht tief in verschiedene Schichten der modernen Gesellschaft. In Rom fand am 14. Dezember 2017, zur Krönung des Jahres der Veranstaltungen zu Ehren von Ovid, 2000 Jahre nach seinem Tod (annus Ovidianus), ein epochales Ereignis statt. Der Stadtrat von Rom entschied, dass er über die amtliche Befugnis in der Ewigen Stadt verfügte, auf das von Augustus erlassene Dekret über die Exilierung Ovids Bezug zu nehmen. Auf ein Gesuch der Bürger von Sulmona – Ovids Heimat – entschied er, »das Böse wiedergutzumachen, das ihm [Ovid] angetan worden

40  Geschichte und Gesellschaft

ist«. Das Exildekret wurde aufgehoben. Interessanterweise bezog sich der Stadtrat bei seiner Entscheidung nicht auf das von Ovid angeblich begangene Verbrechen selbst, das bis heute Rätsel aufgibt und das der Dichter selbst enigmatisch gestanden hatte. Der Stadtrat verwies auf einen Verfahrensfehler, der das antike Urteil anfechtbar mache: »[...] Die Entscheidung über das Exil hätte nach römischem Recht durch ein öffentliches Verfahren gefällt und vom Senat genehmigt werden müssen, aber Kaiser August entschied alles allein, ohne die Regeln zu respektieren« (ANSA 2017). Immer noch also, im 21. Jahrhundert, stellt Ovid die Gesellschaft vor die Herausforderungen der Geschichte, mit dem Zweck, die humanistischen Ideale unter neuen Bedingungen zu reflektieren. Literatur

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Katarzyna Marciniak

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V  Themen und Konzepte

41 Stadt und Land 41.1 ›Stadt und Land‹ im augusteischen Diskurs Die Opposition zwischen ›Stadt und Land‹ stellt eine zentrale Denkfigur im ethisch-moralischen sowie im ästhetisch-poetologischen Diskurs besonders der augusteischen Zeit dar (s. Kap. 1): Von Cato d. Ä. über Varros De re rustica bis hin zu den Georgica Vergils reicht die Genealogie einer Denkfigur, die die Macht und den mondänen Glanz der gegenwärtigen Urbs Roma ideologisch an deren agrarisch-bäuerliche Anfänge rückbindet (Diederich 2007; Kronenberg 2009; Haß 2018a). So gelang der augusteischen Restauration die rhetorische Handhabung eines ideologischen Paradoxons: die tatsächliche Expansion verfeinerter, urbaner Lebensweise mit dem ideologischen Programm der Rückkehr zum rustikalen mos maiorum zu vereinbaren (Watson 1982; Eigler 2002). Dieser Tendenz, die zeitgenössische urbanitas Roms genealogisch an die althergebrachte italische rusticitas rückzubinden und Letztere zum Richtwert moralischen Handelns zu stilisieren, korreliert im ästhetisch-poetologischen Diskurs eine gattungsübergreifende Präferenz, das Ausgreifen der poetischen Imagination durch enge Rückbindung an die elementaren Gegebenheiten des jeweiligen Stoffes gleichsam zu ›erden‹ (Schwindt 2005; Haß 2018b) – oft unter Rekurs auf die suggestive Motivik idealisierender Darstellungen des ›einfachen Landlebens‹ (Tzounakas 2006; Perkins 2015). Die Opposition zwischen ›Stadt und Land‹ besitzt in augusteischer Zeit also gleichsam eine Scharnierfunktion zwischen dem politisch-ideologischen und dem ästhetisch-poetologischen Diskurs, die für die Poetik der ovidischen Texte konstitutiv ist: Jede diskursive Verhandlung des Verhältnisses von ›Stadt und Land‹ ist dort also auch als poetologische Reflexion auf die ästhetischen Kategorien von urbanitas und rusticitas zu lesen, so wie umgekehrt jeder poetologischen Bezugnahme im intertextuellen Feld auch eine Funktion im augusteischen Diskurs zukommt (s. Kap. 4; vgl. Sharrock 2006 [1994]; Lowrie 2009).

41.2 Lektüren: ›Stadt und Land‹ als poetologische Matrix in Ovids erotodidaktischem Frühwerk Bereits die Wahl des Gegenstands sowie der poetischen Szenerie lässt sich mithin als signifikante Neuerung im intertextuellen und diskursiven Feld beschreiben (Volk 2002): Schon dass Erotik anstelle von Agrikultur als thematische Leitlinie gewählt ist und dass dabei die stadtrömische urbanitas anstelle der latinischen rusticitas als setting und poetologische Folie des poetischen Schaffens figuriert (s. Kap. 3), legt eine Bezeichnung Ovids als »Autor der Moderne« nahe (s. Kap. 86). Diese ›Modernität‹ ist aber abseits biographischer Lektüren unter Beachtung der semiotischen Differenz zu beschreiben, die die Instanz des poetaamator innerhalb seiner »Autobiographie« durchzieht (s. Kap. 2): Der poeta/amator schreibt sich zwar mehrfach als Naso mit seinem verbürgten cognomen in den Text ein (am., epigr. 1–2; am. 1, 11, 27–28; am. 2, 1, 1–2.; am. 2, 13, 25; ars 2, 743–744; ars 3, 811–812; rem. 71–72; rem. 555–558); dies geschieht allerdings jeweils in markiert poetologischem Kontext, sei es explizit metatextuell in Zusammenhang mit den eigenen Texten, sei es in Verbindung mit fiktionsimmanenten Inschriften, sei es als ironische Verhandlung der Grenze zwischen den im Signifikanten Naso zusammengedachten Instanzen des fingierenden poeta und des fingierten amator (Volk 2005). Diese »ovidische Ironie« (Krupp 2009) lässt sich als Merkmal von dessen ästhetischer Modernität beschreiben: als Ironisierung der rhetorisch figurierten Selbstidentität des poeta-amator sowie der Deckungsgleichheit zwischen erlebten amores und verfassten Amores. Innerhalb dieser ironischen Konstellation spielt auch die Opposition zwischen ›Stadt und Land‹ eine Rolle: Ebenso wie im Signifikanten Naso (mindestens) zwei Signifikate zusammengedacht und zugleich differenziert sind (der poeta-amator als poeta/amator), bewegen sich auch die Nennungen ›urbaner‹ resp. ›rustikaler‹ settings in einem Spannungsfeld zwischen dem Gebrauch rhetorischer Strategien zur Beglaubigung realweltlicher Referentialisierbarkeit und der ironisierenden Subversion ebendieser Strategien, wie etwa in der poetologischen Schlusselegie am. 3, 15, 1–3: Quaere novum vatem, tenerorum mater Amorum: / raditur haec elegis ultima meta meis; / quos ego conposui, Paeligni ruris alumnus [...] (»Such dir einen neuen Dichter, Mutter der zarten Liebesgötter [der zarten Amores, C. H.]! Hier streifen meine Elegien zum letz-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_41

41  Stadt und Land

ten Mal die Wendemarke; gedichtet hab ich sie, ein Sohn des Paelignerlandes [...]«). Die toponymische Selbstbezeichnung in Vers 3 identifiziert den Sprecher mit der aus Sulmo stammenden historischen Person Ovid. Dies geschieht allerdings durch eine Denkfigur, die den Sprecher dezidiert in einem (inter)textuellen Raum verortet: Dass zwischen der poetischen Leistung eines Dichters und den Gegebenheiten seiner – dezidiert als ländlich figurierten – Heimat ein innerer Zusammenhang bestehe, ist nämlich ein Topos griechischer Provenienz, der in Vergils Georgica programmatisch in die römische Literatur eingeführt wurde (Haß 2018b). Allerdings invertiert Ovid hier pointiert die logische Richtung dieses Zusammenhanges (am. 3, 15, 7–8): Mantua Vergilio gaudet, Verona Catullo; / Paelignae dicar gloria gentis ego [...] (»Mantua rühmt sich Vergils, Verona Catulls; mich wird man den Stolz des Paelignerlandes nennen [...]«). Im Ton eines größeren Selbstbewusstseins als der Vergilius der Georgica rekonfiguriert der Sprecher hier dessen Selbstmetaphorisierung als florales Produkt seiner Erde (georg. 4, 563–564): illo Vergilium me tempore dulcis alebat / Parthenope studiis florentem ignobilis oti (»Damals nährte mich, Vergil, die geliebte Stadt Parthenope, in der ich meine Lebensblüte mit ruhmlos-friedlicher Dichtung hinbrachte«). Der Paeligni ruris alumnus (»Sohn des Paelignerlandes«) schmälert nicht die eigene poetische Leistung in rhetorischem Bescheidenheitsgestus, um die Erde in mythologischer Personifikation zu erhöhen (Parthenope me florentem alebat – »Parthenope hat mich, den blühenden, genährt«), vielmehr wird umgekehrt die Heimaterde des Dichters nur aufgrund von dessen poetischer gloria als magna bezeichnet (am. 3, 15, 11–14): atque aliquis spectans hospes Sulmonis aquosi     moenia, quae campi iugera pauca tenent, ›quae tantum‹ dicet ›potuistis ferre poetam,     quantulacumque estis, uos ego magna uoco.‹ (»Sieht dermaleinst ein Fremder die Mauern des wasserreichen Sulmo, Mauern, die nur wenige Morgen umschließen, so wird er sprechen: ›Groß ist der Dichter, den ihr geboren; darum, so klein ihr auch seid, nenn ich euch groß.‹«)

Diese Deflation der vergilischen Denkfigur, dass die – ländliche – Heimat des Dichters zugleich als Inspiration und Gegenstand des Dichtens fungiere, lässt sich auch in am. 2, 16, 1–2 beobachten: Pars me Sulmo te-

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net Paeligni tertia ruris, / parva, sed inriguis ora salubris aquis (»Sulmo, der dritte Teil des Paelignerlandes, hält mich fest, ein kleines Gebiet, aber wasserreich und gesund«). Auch hier ist das setting wieder als Heimaterde des Dichters markiert; in V. 37–38 wird diese topographische Verortung in dreifacher Emphase wiederholt: [N]on ego Paelignos videor celebrare salubres, / non ego natalem, rura paterna, locum [...] (»Mir ist dennoch nicht zumut, als weilte ich im gesunden Paelignerland, an meinem Geburtsort, auf dem väterlichen Gut [...]«). Die Ausgestaltung der Szenerie orientiert sich stark an der Topik der laudes Italiae (»Lob Italiens«) sowie der laudes vitae rusticae (»Lob des Landlebens«) bei Vergil (georg. 2, 136–176; georg. 2, 458–540). Diesen idealisierenden Landschaftsbeschreibungen wird die Abwesenheit der elegischen domina durch at scharf entgegengesetzt (am. 2, 16, 11–12): at meus ignis abest – verbo peccavimus uno: / quae movet ardores, est procul; ardor adest (»Aber meine Flamme ist fern – nein, ich habe mich falsch ausgedrückt: Fern ist sie, die meine Glut entfacht; aber das Feuer ist da«). Die metonymische Bezeichnung der domina als ignis verweist dabei auch auf deren poetologische Funktion als ›Inspirationsfunken‹ des Sprechers; diese Funktion wird nach einer correctio-Figur weiter ausdifferenziert: Dem abwesenden Grund für den ardor des poeta/amator wird die Anwesenheit des ardor selbst gegenübergestellt. Die Abwesenheit der domina ist hier als schmerzlich empfundenes mouens des eigenen Dichtens figuriert, so dass der poeta/amator – im Gegensatz zum poeta-agricola – dieses movens nicht ex positivo aus dem metonymischen Nahverhältnis zur Erde als dem anwesenden Gegenstand seiner Georgica gewinnt (Haß 2018b), sondern gleichsam ex negativo aus dem metonymischen Nahverhältnis zwischen dem abwesenden konkreten Begehrensobjekt des amator (ignis als movens der amores) und der ungebrochen anwesenden allgemeinen ›Reizbarkeit‹ des poeta (ardor als movens der Amores; vgl. am. 2, 4, 31– 32). Diese komplexe poetologische Begehrenskonstellation führt dazu, dass die more Vergilii idealisiert gezeichneten rura paterna vom Sprecher dezidiert nicht als solche erlebt werden (am. 2, 16, 37–39): non ego Paelignos videor celebrare salubres, / non ego natalem, rura paterna, locum; / sed Scythiam Cilicasque feros viridesque Britannos [...] (»Mir ist dennoch nicht zumut, als weilte ich im gesunden Paelignerland, an meinem Geburtsort, auf dem väterlichen Gut. Nein, mir ist, als wohnte ich in Skythien, im wilden Kilikien oder im grünen Britannien [...]«).

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V  Themen und Konzepte

Erneut wird ironisierend auf das Auseinandertreten einer vermeintlichen Einheit verwiesen, hier zwischen der Verfasstheit der rura paterna (»des väterlichen Guts«) und deren als psychologische Selbstreflexion gezeichneten Wahrnehmung durch den Sprecher: non ego videor celebrare (»ich scheine nicht zu weilen«; s. Kap. 35). Der ovidische locus natalis (»Geburtsort«) wird nahezu als ein Exilort erlebt (s. Kap. 5); der Grund dafür besteht in der Trennung von der domina, die zugleich als Gegenstand des Begehrens des amator und als Gegenstand der Liebesdichtung des poeta figuriert ist. Der ovidische poeta/ amator bezieht damit die Triebkraft seiner A/amores aus der Abwesenheit des konkreten Begehrensobjekts, nicht wie der vergilische poeta-agricola aus der Anwesenheit der terrae als des Gegenstands seiner Georgica (am. 2, 16, 41–42; vgl. georg. 1–2): ulmus amat vitem, vitis non deserit ulmum: / separor a domina cur ego saepe mea? (»Die Ulme liebt ihre Rebe, die Rebe verlässt ihre Ulme nicht; warum bin ich so oft von meiner Geliebten getrennt?«). Bezüglich der Frage nach der Opposition von ›Stadt und Land‹ zeigt sich damit eine Konstellation, die das eigene Heimatland gemeinsam mit den Rändern der zivilisierten Welt dem Raum der elegischen Geliebten gegenüberstellt und hierarchisch unterordnet. Diese affektpsychologisch nachvollziehbare Begehrensfiguration artikuliert auch eine poetologische Auseinandersetzung mit den vergilischen Georgica. Die letztliche Deutung des ovidischen Textes hängt damit stark von der jeweiligen Georgica-Deutung ab (Sharrock 2006 [1994] versus Thomas 2009). Für die ars amatoria sowie die remedia amoris stellen die Georgica gattungsbedingt in noch höherem Maße einen Referenztext dar (Winsor Leach 1964; Fantham 1994; Volk 2002). Ein illustratives Beispiel stellt die bereits in med. 1, 1–26 grundgelegte semantische Umcodierung des Wortes colere/cultus dar (Watson 2002). Während bei Varro und Vergil die ›Erdung‹ der kulturtheoretischen und kultisch-religiösen Semantik im agrikulturellen Bereich den rhetorischen Zielpunkt darstellt (Haß 2018a), fungiert in ars 3, 101– 128 die agrikulturelle Semantik lediglich als Ausgangspunkt einer laudatio weiblicher Schönheitspflege. Der cultus-Begriff wird so semantisch ›vom Ackerbau in die Stadtkultur‹, mithin poetologisch aus den Georgica in den Raum der Amores ›transplantiert‹: Die Passage beginnt mit der Evokation der agrikulturellen Semantik von colere (»den Acker bebauen«; V. 101–102), spricht jedoch dann den cultus – nun als Körperpflege verstanden – den veteres (»den Alten«) dezidiert ab (V.

107–108). Pointiert wird dieser Gedankengang in ars 3, 121–122: prisca iuvent alios, ego me nunc denique natum / gratulor: haec aetas moribus apta meis [...] (»Das Altertum möge andere erfreuen, ich preise mich glücklich, dass ich erst jetzt geboren bin. Diese Zeit passt zu meiner Art [...]«). Diese Verse postulieren eine Übereinstimmung zwischen den Zeitumständen des Dichters und dessen eigenen mores (»Sitten«); der poeta/amator figuriert sich als der Moral seiner Zeit gemäßer Dichter. Jedoch wird durch das spezifische Verhältnis, in das am Ende der Passage cultus und rusticitas treten, nahegelegt, diese Verse eher poetologisch als biographisch zu lesen (ars 3, 127–128): sed quia cultus adest, nec nostros mansit in annos / rusticitas priscis illa superstes avis (»sondern weil feine Lebensart herrscht und weil sich das bäurische Wesen nicht bis auf unsere Tage gehalten und die Urväter überlebt hat«). Im Gegensatz zur bei Vergil figurierten metonymischen Kontiguität zwischen italischer Agrikultur und römischer Stadtkultur zeigt sich bei Ovid eine ironische Distanzierung der negativ konnotierten rusticitas der prisci aui vom positiv konnotierten cultus der anni nostri: Vgl. georg. 2, 532: hanc olim veteres uitam coluere Sabini (»So lebten vor Zeiten die alten Sabiner«); ars 3, 107: corpora si veteres non sic coluere puellae (»Wenn die jungen Frauen der Vorzeit ihren Körper nicht so pflegten [...]«). Durch prisca iuvent alios (»Das Altertum möge andere erfreuen«) in ars 3, 121 wird überdies deutlich, dass das ovidische ›Lob der gegenwärtigen Stadtkultur‹ vor der Folie des vergilischen ›Lobes des Landlebens‹ zu lesen ist, wo in georg. 2,503 durch sollicitant alii remis freta caeca (»Andere wühlen mit Rudern unbekannte Meere auf«) ein satirischer Tadel der Verderbnisse der Stadt einsetzt. Die beobachteten Merkmale der Opposition von ›Stadt und Land‹ zeigen sich auch in der konsequenten Entgegensetzung der Begriffe rusticus/rusticitas und Urbs (Roma)/Amores, die – neben einer Auseinandersetzung mit Properz und Tibull im intertextuellen Feld der Liebeselegie – auch eine Grenzverwischung zwischen ästhetischer und moralischer Perspektivierung impliziert: So wird rusticitas oft in die Nähe von castitas/pudicitia/pudor gerückt und als Hinderungsgrund für A/amores als Ziel und Gegenstand des poeta/ amator dargestellt (vgl. am. 1, 8, 39–44; am. 2, 4, 13–14; am. 2, 8, 3; am. 3, 1, 43; am. 3–4, 37–38; am. 3, 6, 87–88; am. 3, 10, 17–18). Damit lässt sich zusammenfassen: Indem erstens das – moralisch positiv besetzte – Konzept des pudor der – ästhetisch negativ besetzten – Kategorie der rus-

41  Stadt und Land

ticitas angenähert wird, rückt auch die augusteische Denkfigur der Rückbindung von Roms Größe an dessen agrikulturelle Anfänge ästhetisch ins Zwielicht. So entsteht eine Transgression des moralischen Diskurses hin zum ästhetischen Diskurs, die bewirkt, dass die ästhetische Eigengesetzlichkeit der ovidischen Poetik, nicht die moralischen Richtlinien des augusteischen Diskurses, als maßgeblich für die Beurteilung der A/amores des poeta/amator dargestellt sind. Dieser Primat der poetischen Form vor dem konkreten Inhalt wird dort besonders deutlich, wo explizit auf die Beliebigkeit der konkret-lebensweltlichen materia/ materies/causa(e) der A/amores hingewiesen wird (vgl. am. 1, 1, 19; am. 1, 3, 19; am. 2, 4, 10 und 31). Indem zweitens die Urbs Roma zugleich in ihrer moralischen Verderbtheit und poetologischen Relevanz ausgestellt ist (vgl. am. 3–4, 37–38) und explizit als Inspirationsraum für die Stofffindung des amator wie des poeta figuriert ist (vgl. ars 1, 49–60; ars 1, 171– 175), zeigt sich eine analoge Konstellation: Der in am. 2, 4, 48 programmatisch erhobene Anspruch auf alle Mädchen Roms (tota Vrbe) ist durch quas quisquam probat als ein diskursiver Anspruch auf literarisch repräsentierte puellae ausgestellt. Die Gegenstrebigkeit zwischen ästhetischer und moralischer Perspektivierung wird also auch in Bezug auf die Weltstadt Rom more poetico unterlaufen, die Stadt wird zur literarischen Größe: Eine Szenerie der rusticitas dient daher den A/amores des poeta/amator jeweils als ›Liebestöter‹ (vgl. rem. 169–198, erneut in intensiver Auseinandersetzung mit den Georgica): Georgische rusticitas steht der ovidischen Poetik amouröser urbanitas diametral gegenüber, im elegischen (Perkins 2015) wie didaktischen Modus (s. Kap. 43). Indem allerdings drittens im Kontext derselben Passage, die eingangs als übergeordneten Leitsatz die Opposition von liebesförderlichem otium und liebeshinderlicher vita activa formuliert (rem. 144: cedit amor rebus; res age, tutus eris; »Tätigkeit weicht sie [sc. die Liebe] –, dann sei tätig, und sicher bist du«), auch eine politische Betätigung in der Stadt als remedium postuliert ist (rem. 152: vade per urbanae splendida castra togae; »Geh durch das Lager Rom, das von den Togen erglänzt«), zeigt sich ein weiteres Charakteristikum: Auch in der Opposition von ›Stadt und Land‹ selbst sind deren Konstituenten nicht als absolutes Gegensatzpaar figuriert, sondern werden relational zu deren (lebenspraktischer wie poetischer) Perspektivierung gedacht. Ob die Urbs Roma als Tätigkeitsbereich einer politischen oder einer amourösen vita activa fungiert, ist ebenso als Frage der Perspektive ausgestellt wie die

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Entscheidung, ob eine Dame als pudica oder rustica zu bezeichnen ist (vgl. rem. 322–330) oder eben die Entscheidung zum Verfassen rustikaler Georgica oder urbaner Amores. Die beobachtete Verfasstheit der Opposition von ›Stadt und Land‹ kann also insofern als ›modern‹ gelten, als sich eine zweifache Ironisierung konzeptueller Grenzen verzeichnen lässt. Die im augusteischen Diskurs klar geregelten Bedeutungszuschreibungen an urbs/urbanitas und rura/rusticitas werden in der ovidischen Dichtung ebenso als semiotische ›Kippfiguren‹ formatiert wie diejenigen an Konzepte wie pudor oder cultus; die semantische Auflösung wird explizit der Perspektivierungsentscheidung des amator sowie des poeta resp. des impliziten Rezipienten überantwortet.

41.3 Ausblick: ›Stadt und Land‹ in der Exildichtung Auch für den poeta/exsul organisiert die Opposition zwischen der – nun existentiell als abwesend figurierten – Urbs Roma (trist. 4, 1, 105–106) und einem – nun als barbara terra (»Barbarenland«) bezeichneten – ›rustikalen‹ Raum (trist. 3, 1, 17–20) die poetologische Matrix des eigenen Dichtens (vgl. Lowrie 2009). Die Frage nach der Nähe oder Ferne zu Rom stellt das Raummaß für die Sprecherperspektive des poeta/exsul dar (trist. 1, 3, 29–34; trist. 4, 10, 3–4). Auch findet sich die poetologische Konstellation wieder, die das eigene ›Heimat-Land‹ der ›Sehnsuchts-Stadt‹ Rom hierarchisch nachordnet: Naso scheint weniger am ›Exil von der terra natalis‹ als ganz spezifisch am ›Exil von der Urbs Roma‹ zu leiden. So steht zwar in trist. 3, 10 die barbara terra noch in Opposition zum ersehnten Italischen Land; in Pont. 1, 8, 39–42 dagegen heißt es: at, puto, sic urbis misero est erepta voluptas,     quolibet ut saltem rure frui liceat? non meus amissos animus desiderat agros,     ruraque Paeligno conspicienda solo [...] (»Aber man raubte wohl so dem Armen die Wonne der Großstadt, daß ihn doch irgendein Feld wenigstens könnte erfreun? Ach es sehnt sich mein Sinn nicht nach den verlorenen Äckern, nicht nach dem Gut, das sich sehn läßt auf paelignischer Flur [...]«.)

Die Abwesenheit der voluptas urbis (»Wonne der Großstadt«) ist als schlichtweg unkompensierbar dargestellt, die amissi agri (»verlorenen Äcker«) des

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V  Themen und Konzepte

heimatlichen Paelignum solum hingegen werden in Pont. 1, 8, 49–50 als durch eine in der barbara terra (hic saltem; »wenigstens hier«) zur Bebauung zugeteilte Ackerscholle (glaeba colenda) wenigstens hypothetisch (utinam) kompensierbar dargestellt; der Wiederaufgriff der amissi agri durch pro quibus amissis (»statt all des Verlornen«) vollzieht diese hypothetische Kompensationsbewegung nach. Nur folgerichtig bleibt auch im abschließenden Wunschsatz (Pont. 1, 8, 73–74) die komparativisch gefasste Romnähe bzw. -ferne des potentiellen Exilortes maßgeblich: terra velim propior [...] detur (»nur ein näheres Land [...] gönne man mir«). Die Opposition von ›Stadt und Land‹ kann also gleichsam als poetologische ›Verklammerung‹ des ovidischen Gesamtwerks – und damit auch der ›Autobiographie‹ des ovidischen amator/poeta/exsul zwischen früher Liebes- und später »Existenzpoetik« (Möller 2013) – bezeichnet werden. Die Urbs Roma wird dabei zunächst als poetische Szenerie, schließlich als abwesender Sehnsuchtsort gezeichnet, fungiert aber in beiden Fällen als poetologisches Zentrum des ovidischen Dichtens – in Inversion zur vergilischen resp. tibulli­ schen ›Rustikalpoetik‹. Die ovidische Rekonfiguration der Opposition von ›Stadt und Land‹ bedeutet mithin eine Neuerung innerhalb des intertextuellen Feldes sowie des augusteischen Diskurses. Literatur

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Christian David Haß

42  Gewalt und Verbrechen

42 Gewalt und Verbrechen 42.1 Formale und existentielle Gewalt (am. 1, 1 und Pont. 4, 16) Das ovidische Werk beginnt und endet mit Gewaltbildern. Wenn Ovid die Begründung und den Abschluss (oder Abbruch) seines poetischen Schreibens in Vorstellungen der körperlichen Verwundung inszeniert, dann erweist sich die aggressive Imagination nicht nur in der Wahl zentraler Themen und beliebter Motive als konstitutiv für seine Dichtung. In seinem letzten auf uns gekommenen Vers gibt der Dichter seinen Körper als vollständig verwundeten preis: non habet in nobis iam nova plaga locum (»An uns ist keine freie Stelle mehr für eine weitere Wunde«, Pont. 4, 16, 52). Hört Ovids Schreiben in dem Augenblick auf, da sein Körper keine neue Wunde mehr aufnehmen kann, impliziert das die Identifikation des poetischen corpus mit dem gemarterten Dichterkörper. Das Schreiben selbst figuriert in diesem Bild als das Schlagen von Wunden. Das entspricht einer poetologischen Szene im ersten Gedicht des ovidischen Werks, in welcher der Dichter erst durch die brennende Wunde (uror), die Cupidos Pfeile in seiner zuvor »leeren« Brust (vacuo pectore, am. 1, 1, 26) reißen, in den Stand gesetzt wird, seine Liebesdichtung zu verfassen. Dass sich Cupidos Geschosse auf die Faktur des Textes beziehen, wird deutlich, wenn der Gott seine Pfeile, die zunächst nicht eigentlich Pfeile, sondern »Spitzen« genannt werden, zum Gegenstand einer Lektüre macht (legit ... spicula, V. 22; legere hier im doppelten Sinn von »auswählen« und »lesen«). Diese Inspiration mit der Begabung zur pointierten Form dichterischen Ausdrucks wird durch Ovids Bericht einer vorangegangenen Intervention Amors vorbereitet. In der für die in kallimacheischer Tradition stehenden Dichtung topischen Absage an das epische Genre inszeniert Ovid die Konstitution seines elegischen Sprechens: par erat inferior versus; risisse Cupido / dicitur atque unum surripuisse pedem (»Jeder zweite Vers war gleich lang wie der erste; da soll Cupido gelacht und einen Versfuß gestohlen haben«, V. 3–4). Dem Dichter kommt durch Amors Diebstahl ein Versfuß abhanden, wodurch sich die gleichmäßige Folge seiner epischen Hexameter in den alternierenden Rhythmus elegischer Distichen verwandelt. Ovid überträgt damit das seit Kallimachos für die apologetische Vorrede traditionelle Motiv der Verknappung der poetischen Produktion (kleinformatige Dichtung statt epischer Großform) auf die metrische Ebene. Signifikant ist der Modus dieser Verknappung: Trotz der ab-

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schwächenden Vorsilbe su(b)- markiert das Grundwort rapere in surripuisse eindeutig die dem Akt der Entwendung immanente Gewalt. Die Knappheit der elegischen Diktion wird auf eine aggressive Operation der Einschränkung, Verkürzung, Beschneidung zurückgeführt. Eine Erörterung der Gewalt bei Ovid muss folglich bei den Anfangsversen der Amores beginnen. Wer Ovid’s Rapes zu lesen unternimmt (so der Titel eines vielbeachteten Aufsatzes, Richlin 1992), sollte zunächst in der formbestimmenden subreptio am Anfang des ovidischen Werks ihre latente (weil formale) Vorgeschichte aufspüren. In seiner Studie zum Witz Ovids in den Metamorphosen benennt Garth Tissol die »aggressive Potenz« (»aggressiv power«) der ovidischen Sprache, die als »ihre Fähigkeit, Leser zu entwaffnen und gewaltsam ihre Aufmerksamkeit an sich zu reißen«, grundsätzlich jedem Element des ovidischen Stils zukomme (1997, 89). Das wirft die Frage auf, ob sich Ovids Interesse an Gewaltthemen aus der aggressiven Tendenz seines Stils ableiten lässt. In einem Aufsatz zu Ovids Grausamkeit hat Karl Heinz Bohrer diese Auffassung am konsequentesten formuliert. Das grausame Sujet empfehle sich dem Dichter als »Modus des UngewöhnlichÜberraschenden«, dessen formale Expression den stilistischen Effekt befördere. Durch Ovids artistisches Programm werde »das grausame Faktum per Stil verwandelt zur einfallsreichen Expression« (2011, 1076; s. Kap. 63). Tatsächlich kommt es einer Deklaration des Primats der Form gegenüber dem Inhalt gleich, wenn Ovid im ersten Amores-Gedicht einen metrischtechnischen Sachverhalt als Grund seiner Liebesdichtung angibt. Indem der Dichter den Mangel eines amourösen Gegenstands ausstellt (V. 19–20), führt er seine Liebesdichtung emphatisch nicht auf ein Liebeserlebnis zurück. Es genügt allerdings, den eingangs zitierten Vers aus Pont. 4, 16 und dessen Identifikation von Text- und Dichterkörper in Erinnerung zu rufen, um an einem Beispiel zu zeigen, dass Ovid gerne und häufig in seinem Werk die in Amores 1 so anschaulich postulierte Trennung von Leben und Dichtung und die damit einhergehende Hierarchisierung von Form und Inhalt revidiert, wenn nicht gar invertiert. Der Blick auf die andere Extremität des ovidischen Werks legt ein entgegengesetztes poetisches Selbstverständnis offen (Pont. 4, 16, 49–52): omnia perdidimus: tantummodo vita relicta est,     praebeat ut sensum materiamque mali. quid iuvat extinctos ferrum demittere in artus?     non habet in nobis iam nova plaga locum.

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_42

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V  Themen und Konzepte

(»Ich habe alles verloren: Allein das Leben ist übriggeblieben/damit es mich mit einem Bewusstsein und dem Stoff des Übels ausstatte./Was liegt daran, das Schwert in leblose Glieder zu senken?/An uns ist keine freie Stelle mehr für eine weitere Wunde.«)

Das Leben wird gerade in seiner Sonderung zum »nackten Leben« als die bestimmende Größe des dichterischen Bewusstseins, dem es den »Stoff des Übels« (materia mali) liefert, charakterisiert. Die dem letzten Vers implizite Identifikation von poetischem corpus und Dichterkörper in der totalen Verwundung wird schon im ersten Vers des Gedichts vorbereitet, wenn der Gewalt am Text die Gewalt am Dichter entspricht: Invide, quid laceras Nasonis carmina rapti? (»Neider, warum zerfetzt du die Gedichte des fortgerissenen Naso?«, V. 1). Während die subreptio in am. 1, 1 die Einsicht, dass in jeder Formentscheidung etwas Aggressives liegt, ins Bild setzt, inszeniert die raptio in Pont. 4, 16 den Bezug auf eine existentielle Gewalterfahrung, die der poetische Text nicht zuletzt in seiner Materialität spiegeln soll. Es ist kein Zufall, dass Ovid zur Artikulation dieser konträren Poetologien auf Gewaltbilder zurückgreift. Die frappante Fügung von dichterischer Reflexion und aggressiver Imagination findet ihren stärksten Ausdruck in den großen Gewaltszenen der Metamorphosen, in denen sich frenetische Verwundungs- und Tötungsschilderungen mit präzisen poetischen Selbstbeschreibungen überlagern. Dabei dient dem Dichter gerade das Gewaltmoment dazu, den existentiellen Betreff seiner poetischen Inhalte und die Autonomie der schönen Form zu verschränken.

42.2 Der Glanz der Wunde: Gewalt und Schönheit in den Metamorphosen Bohrer fasst das zur »purpurnen Blume« verwandelte Blut des tödlich verwundeten Hyazinth (met. 10, 210– 213) als Metapher für seine Konzeption vom metamorphotischen Effekt des ovidischen Stils, durch den »die ›Wunde‹ des Opfers zum Ausdruck des Schönen« werden kann (2011, 1076). In keiner Episode der Metamorphosen scheint Bohrers These eine so genaue Bestätigung zu finden wie im Bericht von der Schindung des Marsyas durch Apollo, in dem Ovids deskriptives Interesse an den optischen Effekten der Verletzung wie etwa dem Glanz der offengelegten Gefäße und Organe dem Leser eine buchstäblich »schöne Wunde« vor Augen führt (6, 387–391):

clamanti cutis est summos direpta per artus nec quicquam nisi vulnus erat; cruor undique manat detectique patent nervi trepidaeque sine ulla pelle micant venae; salientia viscera possis et perlucentes numerare in pectore fibras. (»Während er schrie, ist ihm die Haut über die Glieder gezogen worden./Keine Stelle war mehr, die nicht Wunde war; von überall strömt das Blut,/die blanken Sehnen treten zutage und ganz ohne (den Schutz) der Haut/glänzen die pochenden Venen; zählen könntest du die zuckenden Eingeweide/und die durchscheinenden Fasern auf der Brust.«)

An das wiederkehrende Phantasma der vollständigen Verwundung knüpft sich erneut eine künstlerische Selbstreflexion, kommt in ihm doch der vollständige Sieg Apollos im musischen Wettstreit über seinen Herausforderer zum Ausdruck. In der Häufung von Wörtern, die auch als musikalische Termini gelesen werden können (nervi und fibrae etwa sind Bezeichnungen für die Saiten der Laier; numerare kann sich auf das Verfahren der Metrifikation beziehen), findet sich nicht nur die Verwandlung des unterlegenen Satyrs in das triumphierende Instrument des Gottes angedeutet, sondern ein Hinweis auf die wesentliche Teilnahme der Dichtung am gewaltsamen Vorgang ihrer Beschreibung (vgl. Feldherr 2010, 104). Wie eng sich das Verhältnis von schöner Kunst und der Gewalt, von der sie handelt, darstellt, lässt sich am geistreichen Ausspruch, den Ovid Marsyas im Augenblick seiner Marter in den Mund legt, gut studieren: »quid me mihi detrahis?« (»Warum ziehst du mich mir selbst ab?«, V. 385). Moderne Kritiker haben häufig am Missverhältnis zwischen der Urbanität der Diktion und der Brutalität der beschriebenen Handlung Anstoß genommen. Doch, wie Amy Richlin bemerkt, rührt der geistreiche Effekt der Rede nicht nur von ihrer Form her: »[T]he very source of this wit is the delighted incongruity of clever style with gruesome subject matter. [...] This poetry depends for its elegant existence on the exposure of violence [...]« (1992, 164–165). Wenn man andererseits mit Tissol zugibt, dass das Grauen der Szene durch den urbanen Witz noch gesteigert wird (»horror is if anything intensified by wit«, 1997, 129), dann zeichnet sich das wechselseitige Bedingungsverhältnis der eleganten Form der ovidischen Dichtung und der Grausamkeit ihrer Inhalte ab. Die Reflexion des Zusammenhangs von Schönheit und Gewalt in der Marsyas-Erzählung wird fortgeführt, wenn die Stilisierung der Wunde zur schim-

42  Gewalt und Verbrechen

mernden Hervorbringung einer schauerlich schönen Kunst in der eigentlichen Metamorphose eine symbolische Entsprechung findet. Aus den Tränen, welche die den Satyrn beweinende Trauergemeinschaft vergießt, entsteht der phrygische Strom, der den Namen des Geschundenen trägt. Zwar ist der Fluss gerade aufgrund der Klarheit seines Wassers (liquidissimus, V. 400), die an die diaphane Schönheit der Wunde (perlucentes fibras) erinnert, dazu bestimmt, als ein Requisit des locus amoenus in die bukolische Szenerie einzugehen (vgl. Newlands 2018, 169). Doch die spezifische Verortung der Flussquelle »in den tiefsten Adern« (venis ... imis) der Erde (V. 397–398) hält seinen blutigen Ursprung im Bewusstsein. In der ästhetischen Refiguration der Wunde als Bestandteil eines symbolischen Schauplatzes wird die Grausamkeit der apollinischen Strafe nicht völlig sublimiert, sondern in ihrer irreduziblen Qualität präsent gehalten. Damit hat der Marsyas-Fluss Teil an der das Verhältnis von Gewalt und Schönheit problematisierenden Ambivalenz, die den idyllischen Landschaftsbe­schreibungen der Metamorphosen grundsätzlich eignet (Segal 1969). Die in den Verwandlungssagen entfaltete Gewalt wird nicht nur durch den Eingang ihrer transformierten Opfer in das ewige Archiv der Naturge­schichte aufbewahrt, sondern auch durch die ständig drohende Möglichkeit des Wiedereinbruchs dieser Gewalt in die Lebenswelt der ovidischen Figuren. In einem Aufsatz zur Ästhetik der Landschaften in den Metamorphosen beschreibt Stephen Hinds, wie das Kontinuum der Verwandlungserzählungen die permanente Gefahr eines traumatischen Kollapses von Hintergrund und Handlung generiert: »[T]o plunge into any pool, to pluck any flower is to risk repeating an originary act of violence visited upon a now-metamorphosed victim« (2002, 135). Als illuminierendes Beispiel zitiert er die Dryope-Episode (9. 324–393), in der das unschuldige Pflücken einer purpurroten Lotus-Blume auf verhängnisvolle Weise »die Wunde (und die Geschichte) der Nymphe Lotis wieder aufreißt«, die auf der Flucht vor der drohenden Vergewaltigung durch Priapus ihre menschliche Form verloren hatte.

42.3 Ovids actaeonische Strafe (met. 3, 131–259 und trist. 3, 11) In der Syrinx-Erzählung (met. 1, 689–710), die von der Erfindung der Flöte handelt, lässt Ovid expliziter als in der Marsyas-Episode ein Kunstsymbol aus einer Gewalterfahrung hervorgehen.

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Durch die aufwendige Verschachtelung der Erzählung mit der Geschichte vom Io-Wächter Argus (1, 625–723) stellt Ovid dar, wie sich diese Gewalt aus der ästhetischen Sphäre auf die Lebenswelt überträgt. Der Syrinx-Mythos ist noch nicht zu Ende erzählt, da wird das Musikinstrument, das die Narration begleitete, zum Hilfsinstrument eines Mordes und Argus vom Zuhörer unvermittelt zum Protagonisten einer tragischen Geschichte. In einer den Verwandlungssagen aus dem thebanischen Mythenkreis gewidmeten Untersuchung hat Andrew Feldherr beobachtet, dass die Koinzidenz eines plötzlichen Perspektivenwechsels, wie ihn Argus erfährt, mit einem Gewaltakt ein Leitmotiv ovidischen Erzählens darstellt. Die Geschichten von Cadmus, Actaeon und Pentheus fügen sich in dasselbe Muster eines traumatischen Übergangs von Rezeption zu Partizipation: »[... A]s in the Argus episode, the transition from spectator to spectacle coincides with the moment when each story reaches its violent climax« (Feldherr 1997, 27). Indem Gewalt als das Vehikel des abrupten Transports von der Ebene der Rezeption auf die der unmittelbaren Beteiligung fungiert, dient sie in all diesen Erzählungen als das narrative Mittel, das die Kollision von ästhetischer und lebensweltlicher Erfahrung darzustellen vermag. In der Geschichte vom Jäger Actaeon bringt Ovid dieses Motiv der grausamen Verschränkung von Außen- und Innenperspektive zur vollen Entfaltung. Nachdem der tragische Held Diana beim Bade in einer ihr heiligen Grotte überrascht, verwandelt sie ihn zur Strafe in einen Hirsch. Sie belässt ihm aber das menschliche Bewusstsein, damit er bei Sinnen erlebe, wie er in der neuen Gestalt von seinen eigenen Jagdhunden zerrissen wird. Die Diabolik der Strafe wird deutlich, wenn die ahnungslosen Jagdgefährten beklagen, dass der abwesend geglaubte Freund das »Schauspiel der dargebotenen Beute« (oblatae ... spectacula praedae, 3, 246) nicht genießen könne. Das ebenso grausame wie ingeniöse Moment der Geschichte besteht in der Vergleichzeitigung der Außenperspektive derer, die sich an den Eindrücken der erfolgreichen Jagd erfreuen können, und der Innenperspektive des qualvoll Sterbenden (247–248): vellet abesse quidem, sed adest, velletque videre, / non etiam sentire canum fera facta suorum (»er wollte doch fern sein, ist aber anwesend; er wollte gerne sehen, nicht aber fühlen das wilde Werk seiner Hunde«). Wenn die Erzählung gerade der grausamen Inkommensurabilität von Innenund Außensicht ihre Pointen abgewinnt, stellt sie die oben bereits als Charakteristikum der ovidischen Gewaltschilderungen beschriebene Interdependenz von

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V  Themen und Konzepte

Grausamkeitsmotivik und den ästhetischen Verfahren der Darstellung auf spektakuläre Weise aus. So wie Actaeons Gefährten am Anblick der Hirschtötung Gefallen finden können, weil sie darin das reibungslose Funktionieren des Jagdverfahrens bewundern, kann der Leser die ästhetischen Effekte genießen, die aus der Beschreibung des grausamen Geschehens entwickelt werden. Die Form der göttlichen Strafe eignet sich deshalb so gut zur Reflexion der in den Metamorphosen entfalteten Gewaltästhetik, weil sie das Innen und das Außen, den existentiellen Betreff und die Distanz der ästhetischen Einstellung, verschränkt, ohne sie jemals ganz koinzidieren zu lassen. In eindrucksvollen Bildern zeigt Ovid dabei, wie die Grenze zwischen Selbst- und Fremderfahrung im schizoiden Wesen des Hirschmenschen selbst verläuft. Vor dem Hintergrund dieses Zusammenhangs zwischen Grausamkeit und Schönheit überrascht es nicht, wenn die idyllische Naturszenerie der Erzählung noch deutlicher als sonst in die blutigen Vorgänge der Handlung verwickelt ist. So dient das Wasser, das zu Beginn der Episode die Grotte der Diana als locus amoenus konstituiert hatte, als Ersatz für die abgelegten Pfeile der badenden Göttin. Als Instrument ihrer Rache (ultricibus undis) setzt es die verhängnisvolle Verwandlung des Helden in Gang (3, 188–190). Dass das Natürliche (Wasser) hier symbolisch für das Künstliche (Pfeile) eintritt (vgl. Schwindt 2016, 56), fügt sich in die fundamentale Ambiguität der Naturbeschreibung (157–159): in extremo est antrum nemorale recessu / arte laboratum nulla: simulaverat artem / ingenio natura suo (»in der tiefsten Abgeschiedenheit liegt eine umwaldete Grotte, von keiner Künstlerhand bearbeitet; doch hatte die Natur in ihrer Genialität die Kunst nachgeahmt«, s. Kap. 36). Der invertierte Illusionismus der Diana-Grotte korrespondiert nicht nur mit der Illusion, die zum spectaculum der Zerreißung führt (dilacerant falsi dominum sub imagine cervi, »im Trugbild des Hirschen reißen sie ihren Herrn in Stücke«, V. 250). Die täuschende Erscheinung der Grotte wirft die Frage nach der Schuld des tragischen Helden auf, dessen Fehlen doch im Übertritt in einen heiligen Bereich lag (Newlands 2018, 146–150). Die verführerische Qualität der schönen Landschaften und der schönen Dichtung, die sich in ihnen spiegelt, macht die Verhandlung der Schuldfrage in rein ethischen und rechtlichen Begriffen, wie sie der Erzähler zu Beginn der Episode artikuliert, problematisch (141– 142): at bene si quaeras, fortunae crimen in illo, / non scelus invenies; quod enim scelus error habebat? (»wenn du es aber recht untersuchst, wirst du an ihm die

Schuld des Schicksals, kein Verbrechen finden; denn welches Verbrechen konnte im Irrtum liegen?«). In der direkten Anrede an Cadmus, den Ahnen des Actaeon, offenbart sich zuerst »jene merkwürdige Involvenz des rekonstruierenden Erzählers in das berichtete Geschehen« (Schwindt 2016, 22). Diese am Schicksal des tragischen Helden anteilnehmende Rekonstruktion der Erzählung, die sich hier in der Form der juristischen Untersuchung (quaestio) konstituiert, erlaubt überhaupt erst den Zugang zum Inneren des in der Hirschhülle verschlossenen Menschen. Erst sie macht die Inszenierung der dramatischen Inkongruenz von Innen und Außen möglich. Wie Jürgen Paul Schwindts Englektüre der Episode zeigt, reicht die emphatische Anwaltschaft der Erzählung für das in seiner Tierform sprachlos gewordene Opfer bis hin zu Augenblicken der Identifikation, wenn sie sich mit hermeneutischer Fürsorge an den Nachvollzug der ungesagt bleibenden Gedanken macht und ihnen ihre eigene Stimme leiht (2016, 104). Doch auch die Erzählung reproduziert auf der Ebene der Darstellung das actaeonische Dilemma, wenn sie über der Lust am autonomen Dynamismus der aus ihr hervorgehenden Formenwelt die Empathie für das dem Tod ausgelieferte Leben preisgibt. So scheint sie den Menschen im Hirsch vergessen zu haben, wenn sie das in die Knie sinkende Tier mit einem kniefälligen Bittsteller vergleicht (similis ... roganti, V. 240). Die Ausgabe des Identitätsverhältnisses als bloße Ähnlichkeit ist mit Schwindt einer poetischen Kunst geschuldet, die sich in den Illusionismus ihrer eigenen Hervorbringung verliebt: »Kunst vergißt und unterdrückt das Leben auf einen Augenblick, um sich der Stärke, der Autonomie und der Intensität des kunstmäßig hervorgebrachten Lebens zu freuen« (2016, 124). In seinen Exilwerken bedient sich Ovid immer wieder der Actaeon-Geschichte, um über sein eigenes Vergehen und die Strafe, die er dafür leidet, zu reflektieren. Der prominenteste Verweis auf die Metamorphosen-Erzählung findet sich im zweiten Buch der Tristien, wo der Dichter zur Verdeutlichung seiner eigenen Schuldlosigkeit einen Vergleich mit dem mythischen Helden anstellt (V. 103–108). Erkennbar ist der Bezug auch in trist. 3, 11, wenn Ovid die Begriffe, die er schon zur Verhandlung der Schuldfrage in der Verwandlungssage benutzt hatte, nun auf den eigenen casus anwendet (vgl. die Unterscheidung von error und scelus, V. 34). Es soll einen Eindruck seines Leidens vermitteln, wenn der Dichter kurz darauf vom Schicksal des Künstlers Perillus berichtet (V. 39–54), der als Erfinder einer besonders ingeniösen Form der

42  Gewalt und Verbrechen

Marter Opfer seiner eigenen Schöpfung geworden ist. Hatte er doch einen ehernen Stier mit hohlem Leib gefertigt, in den ein Mensch gesteckt und durch unterlegtes Feuer gebraten werden konnte. Der Witz der Erfindung lag darin, dass die Todesschreie des Sterbenden von außen wie das Brüllen des Stiers klingen mussten: mugiet, et veri vox erit illa bovis (V. 48). Als Perillus in der Hoffnung, reich belohnt zu werden, seine Erfindung dem sizilischen Tyrannen Phalaris vorstellt, erhält er nur den Befehl, selbst in sein Kunstwerk zu steigen. Ovid wird wie Perillus als »erstaunlicher Erfinder von Strafen« (V. 51) Opfer seiner eigenen Kunst, wenn er die Grausamkeiten, die er in der Actaeon-Geschichte imaginiert hatte, im Exil am eigenen Leib erfährt. Durch die Koinzidenz von Leben und Dichtung, welche die Exilwerke, wie beobachtet, inszenieren, vermitteln sie einen dringenden Anspruch, ernst genommen zu werden: ›Dies ist der Text meines Lebens!‹ Doch Ovids Schreiben hatte schon zu lange mit der Grenze zwischen Wirklichkeit und Dichtung gespielt, als dass das Leben nun in ursprünglicher Reinheit aus seinen Spätwerken hervorgehen könnte. Hinter der eleganten Form seiner Verse wird das existentielle Anliegen der ovidischen Texte weiterhin nur in ästhetischer Brechung erkennbar. Die ganze actaeonische Dimension der leidvollen Erfahrung Ovids wird nicht zuletzt an den Stellen deutlich, die von seiner Schuld handeln. Im zweiten Tristien-Buch, in dem sich die erwähnte explizite Actaeon-Referenz findet, benennt Ovid die beiden Verbrechen (duo crimina), die ihn »zugrunde gerichtet« haben sollen: carmen et error (»ein Gedicht und ein Irrtum«, V. 207). In der Dualität des Verbrechens reproduziert sich die Doppelstruktur von Leben und Dichtung. Wenn die Unterscheidung der Strafgründe zunächst die Trennung der beiden Bereiche zu implizieren scheint, macht jedoch schon der von Ovid häufig gesuchte Lauteffekt, der crimen und carmen assoziiert, ihre Abgrenzung wieder durchlässig (s. Kap. 2). Die Oszillation zwischen Leben und Dichtung, die Ovids Werk schon immer gekennzeichnet hatte, steigert sich in der Phase des Exils zur Intensität einer ›Friktion‹ (Möller 2020). Diese friktive Bewegung entkommt selbst nicht

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dem actaeonischen Paradox: Fasst man sie als intendierten Effekt auf, wird aus der Friktion eine poetologische Frivolität. Nimmt man sie jedoch ernst als das autobiographische Dilemma des Dichters, erscheint sie in ihrer tragischen Kontur. Im Bild des vollständig verwundeten Dichterkörpers, mit dem Ovids Werk schließt, wird in der Reminiszenz an die Zerreißung des Actaeon (vgl.: iam loca vulneribus desunt, met. 3, 237) die aufreibende Gewalt dieser Dynamik ein letztes Mal festgehalten. Literatur

Bohrer, Karl Heinz: Ovids Grausamkeit. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 65 (2011), 1071– 1077. Feldherr, Andrew: Metamorphosis and Sacrifice in Ovid’s Theban Narrative. In: Materiali e Discussioni 38 (1997), 25–55. Feldherr, Andrew: Playing Gods. Ovid’s ›Metamorphoses‹ and the Politics of Fiction. Princeton/Oxford 2010. Hinds, Stephen: Landscape with Figures. Aesthetics of Place in the ›Metamorphoses‹ and its tradition. In: Philip Hardie (Hrsg.): The Cambridge Companion to Ovid. Cambridge 2002, 122–149. Möller, Melanie: Ovid und Odysseus. Zur Rhetorik des Exils. In: Dies. (Hrsg.): Excessive Writing. Ovids Exildichtung. Heidelberg 2020, 57–76. Newlands, Carole E.: Violence and Resistance in Ovid’s ›Metamorphoses‹. In: Monica R. Gale/J. H. D. Scourfield (Hrsg.): Texts and Violence in the Roman World. Cambridge 2018, 140–178. Richlin, Amy: Reading Ovid’s Rapes. In: Dies. (Hrsg.): Pornography and Representation in Greece and Rome. New York/Oxford 1992, 158–179. Schwindt, Jürgen Paul: Thaumatographia oder Zur Kritik der philologischen Vernunft. Vorspiel. Die Jagd des Aktaion (Ovid, ›Metamorphoses‹, 3, 131–259). Heidelberg 2016. Segal, Charles Paul: Landscapes in Ovid’s ›Metamorphoses‹. A Study in the Transformations of a Literary Symbol. In: Hermes. Einzelschriften 23 (1969). Segal, Charles Paul: Ovid’s Metamorphic Bodies. Art, Gender, and Violence in the ›Metamorphoses‹. In: Arion 5.3 (1997–1998), 9–41. Tissol, Garth: The Face of Nature. Wit, Narrative, and Cosmic Origins in Ovid’s ›Metamorphoses‹. Princeton 1997.

Maximilian Haas

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V  Themen und Konzepte

43 Wissen und Didaxe 43.1 Vorüberlegungen: Wissen und Didaxe als Inhalt und Form? Innerhalb der Textsorte didaktischer Dichtung wird ›Wissen‹ meist intuitiv als Wissensinhalt gefasst, ›Didaxe‹ als dessen Vermittlungsform. Die Dichotomie zwischen Form und Inhalt wird jedoch der antiken Rhetorik nicht gerecht, wie bereits die Tatsache zeigt, dass in verschiedenen Definitionsversuchen »antiker Lehrdichtung« zwischen inhaltlichen und formalen Kriterien nicht scharf unterschieden werden kann (Effe 1977; Volk 2002; Volk 2005): Das Cato dem Älteren zugeschriebene Diktum rem tene, verba sequentur scheint gleichsam als Leitsatz zu firmieren; stets ist die Bemühung um den Eindruck erkennbar, dass »der Stoff [...] sich seine Form selbst« schaffe (Horster/Reitz 2005, 8). Ein weiteres Problem besteht darin, dass es fraglich ist, ob in der Antike überhaupt ein explizites Gattungsbewusstsein bezüglich didaktischer Dichtung existierte (vgl. Volk 2002). Es lassen sich jedoch induktiv mehreren Texten gemeinsame Merkmale beschreiben, so dass von einem impliziten Gattungswissen auszugehen ist, zu dem die Einzeltexte in einem reziproken Beeinflussungsverhältnis stehen (Fowler 2000). Auch für die ovidische Poetik sind gattungspoetische Verfahren relevant (vgl. am. 1, 1, 17–20; s. Kap. 8). Unter den Texten Ovids findet sich allerdings keiner, der nach theoretischen Maßstäben als didaktische Dichtung strictu sensu zu bezeichnen wäre: Die Ars amatoria sowie die Remedia amoris stehen zwar deutlich in der Tradition didaktischer Dichtung (vgl. zu Hesiod ars 1, 25–30; zu den Georgica s. Kap. 41); sie schreiben sich aber in ihrer subjektiven Fokalisierung sowie im Versmaß des elegischen Distichons in die Tradition der römischen Liebeselegie ein. Die Fasti weisen ebenfalls zahlreiche Merkmale der didaktischen Tradition, besonders des Arat, auf; das elegische Versmaß sowie das antiquarische Interesse hingegen verweisen auf die aitiologische Gattungstradition des Kallimachos (vgl. Fantham 1992; Hübner 2005). Die Metamorphosen schließlich entsprechen metrisch als einziger Text dem Kriterium didaktischer Dichtung und weisen auch inhaltlich viele Bezüge zur durch Lukrez exemplifizierten Tradition des »philosophischen Weltgedichts« auf (Volk 2005); allerdings fehlen die übrigen Merkmale didaktischen Sprechens (vgl. Volk 2002). Im Folgenden soll die oft behandelte Frage der didaktischen (Un)Ernsthaftigkeit in den Hintergrund treten; vielmehr sollen diejenigen Textmerkmale, die

durch ihre Ambivalenzen Anlass zu Deutungskontroversen gegeben haben, als zentrale Momente einer konsistenten Epistemologie beschreiben werden.

43.2 Idem nunc vobis Naso legendus erit (rem. 72): Ovids gegenwendige ›Phänomenologie der Liebe‹ Ovids erotodidaktische Schriften werden aufgrund der Kombination von frivolem Stoff und elaborierter Form sowie des Oszillierens der Sprecherhaltung zwischen subjektiv-erlebender Elegie und präskriptivlehrender Didaxe meist entweder als didaktische Ironisierung der Elegie oder als elegische Ironisierung der Didaxe gedeutet (vgl. Effe 1977 vs. Sharrock 2005). Versteht man Ironie als semiotische Veruneindeutigung der Beziehung zwischen Zeichen und Bedeutung, lässt sich folgende Beobachtung bei Krupp 2009, 13, für die ovidische Epistemologie verallgemeinern: »[Die] subversive Kraft der Ironie hält die Metamorphosen offen – nicht für jeden beliebigen interpretatorischen Einfall, sondern für eine geordnete Vielheit von Bedeutungen.« Die ovidische Didaxe ist dann in der Tat substantiell »ironisch«, ohne dass man für diese Deutung Mutmaßungen über intentionale (Un-) Ernsthaftigkeit anstellen müsste. Freilich impliziert ebendiese Ironie zugleich auch eine Einladung zu biographisierenden Lesarten (s. Kap. 2): Zwischen den Sprecherinstanzen der verschiedenen Texte wird immer wieder eine kohärenzstiftende Instanz Naso figuriert (am. 1, 11, 27–28; am. 2, 1; am. 2, 13; ars 2, 744; ars 3, 812; rem. 71–72; rem. 558). Naso fungiert dabei als Signifikant, der zwischen Selbstidentität und Selbstalterität der personae des poeta amator, des magister amoris sowie des poeta medicus oszilliert (vgl. bes. rem. 7–10; rem. 43 f.; rem. 71 f.). Dies wird in rem. 71 besonders deutlich: Idem Naso ist ironisch als zugleich »the same and not the same« figuriert (Hardie 2006, 169–170). Dies berührt auch die Frage nach dem Gegenstand der ovidischen Liebeslehren: Gegenstand der Remedia ist nämlich die als Raserei respektive Krankheit dargestellte ›elegische Liebe‹, die aufgrund ihres transgressiven Charakters (vgl. rem. 10: impetus) nicht kontrollierbar, sondern nur nach Art der Didaxe des Nikander heilbar ist (vgl. rem. 43: sanari) ist; Gegenstand der Ars amatoria ist hingegen eine als Kulturpraxis dargestellte ›technische Liebe‹ (vgl. rem. 10: ratio), die der Sprecher ausgehend von eigenem Erfahrungswissen (vgl. ars 1,29: usus) didaktisch vermitteln kann. Die in mythologischer Personi-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_43

43  Wissen und Didaxe

fikation gezeichnete gewaltsame Bezähmung des Amor durch den praeceptor Amoris (vgl. ars 1,1–24) ist Voraussetzung, um als praeceptor amoris die eigenen A/amores mit metasprachlicher Verfügungsgewalt als Kunstlehre (ars) zu didaktisieren. Die Autorität des didaktischen Sprechers wird nach dieser Lesart nicht unterminiert, sondern gerade bestärkt: Ein Lehrender, der in der Ars amatoria und den Remedia amoris konträre Stoffe mit demselben Erfolg vermittelt (Rosati 2006), über Praxiserfahrung in Sachen A/amores verfügt (Sharrock 2005), und noch das eigene Scheitern rhetorisch zur Mehrung seiner Authentizität zu nutzen weiß (Volk 2002), lässt sich durchaus als »starke persona« klassifizieren. Die komplexe Gattungshybridisierung wird hier als Ironisierung der Liebeselegie qua Perfektion der Erotodidaxe gedeutet. Aber auch die umgekehrte Perspektivierung ist möglich, dass nämlich die schematisierende Didaxe eines transgressiven Gegenstands Ziel der gattungspoetischen Ironisierung sei (Effe 1977): Wenn die in ars 1, 611 (imitari vulnera verbis) geforderte Verstellungsleistung in ars 1, 615 konterkariert wird (saepe tamen vere coepit simulator amare), unterläuft dies den für die Didaxe konstitutiven Gegenstandsbezug der Distanz zu Gunsten eines Gegenstandsbezugs kontagiöser Nähe. Die Scheidelinie zwischen simulatio und vere amare ist als durchlässig figuriert (vgl. auch rem. 7–8), so dass auch die Aussage des Sprechers vera canam (ars 1, 30) ironisiert wird: Im Anschluss an Hesiod wird ein für didaktisches Sprechen typischer Wahrheitsanspruch postuliert; zugleich aber wird ebendiese hesiodische Urszene mit dem Bereich einer als mentiri bezeichneten Inspirationspoetik assoziiert (ars 1, 25–30). Als ›anthropologische Lehre‹ der ovidischen Didaxe kann damit eine komplexe ›Phänomenologie der Liebe‹ gelten, die in rem. 7–10 eben sowohl als roher, konzeptuell nicht zu bezwingender Trieb (impetus) als auch als Kunstlehre (ars; ratio) gezeichnet ist (vgl. Volk 2002). Das amor in beiden Formen inhärente Prinzip des Begehrens kann als ein Konstitutivum ovidischer Epistemologie beschrieben werden (s. Kap. 9): als Denkform für distanzierte Kommunikation, aufgeschobene Signifikationsprozesse und ironische Selbstalterität; vgl. Schiesaro 2002, 70: »In his treatment of love objects Ovid displays the same tendencies to fragmentation and rearrangement that dominate his view of physical and historical phenomena. Bodies are dissolved [...] and rearranged fetishistically as objects of desire [...] whose identity is thus terminally challenged.«

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43.3 Idem sacra cano (fast. 2, 7): Ovids ironische ›Archäologie römischer Kultpraxis‹ Die Sprecherinstanz der Fasti wurde im Kontrast zu denjenigen der erotodidaktischen Schriften als »schwa­ che persona« bezeichnet (Volk 2002; Newlands 2006). Die häufige Inversion der typischen Lehrer-SchülerSzenerie sowie die Abundanz von Mehrfacherklärungen ohne eigene Parteinahme unterminieren den erwartbaren Ernst einer kalendarischen Archäologie römischer Kultpraktiken. Das für die Erotodidaxe konstatierte Ungleichgewicht zwischen Stoff und Form der Didaxe lässt sich also – in signifikanter Umkehrung – auch für die Fasti beschreiben: Dort doziert ein Lebemann ex cathedra auf der Grundlage seines amourösen Erfahrungsschatzes; hier lässt sich ein studiosus römischer antiquitates bei seinen Feldforschungen zusehen. Auch dieser Befund wurde konträr gedeutet; vgl. Newlands 2006, 364: »The narrator’s [...] reliance on variant explanations [...] and his frequent refusal to choose among them calls attention to the multiplicity [...] of tradition and challenges the authoritarian view of Rome’s history«, sowie Miller 2002, 170: »The fractured persona [...] embodies the variegated approach of educated Romans to religion.« Der Grund für diese Deutungsdiskrepanz liegt auch hier in der ironischen Verfasstheit der Sprecherinstanz: In fast. 2, 5–8 wird die in idem sacra cano postulierte Selbstidentität zwischen aitiologischem und erotodidaktischem Sprecher durch ipse ego bestärkt, jedoch durch die rhetorische Frage ecquis ad haec illinc crederet esse viam? ironisiert (vgl. Newlands 2006, 354). Dies bedeutet allerdings nicht zwangsläufig ein ideologisches Programm; dass dieselbe ironische Figur auch in rem. 71–72 firmiert, legt es vielmehr nahe, sie mit Krupp 2009 als epistemologisches Programm zu verstehen. Nach dieser Lesart besteht der ›Wissensinhalt‹ der Fasti in der Reflexion auf die Polyperspektivität und Poetizität aitiologischen Wissens bei gleichzeitiger Anerkenntnis von dessen Relevanz als Instrument der Weltausdeutung (vgl. Schiesaro 2002, 65–66): »The place of authority is [...] occupied by rhetoric, by the discursive arrangements which articulate reality according to variable points of view rather than ultimate truth. [...] He shows that tradition and aetiology areinextricably linked ingredients of any attempt to make sense of the physical, mythical and historical universe.« Aus dieser Rhetorizität der Fasti folgt, dass es deren rhetorische Form ist, die der o. g. Epistemologie allererst ihren Ausdruck verleiht: So entspricht die programmatische Setzung des Ianus

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V  Themen und Konzepte

am Textanfang nicht nur mimetisch dem im Januar beginnenden Kalenderjahr; sie setzt auch performativ eine Pluralisierung der Denkfigur des Anfangens ins Werk. Als kosmogonische Reinterpretation des Chaos und intertextuelle Überschreibung des vergilischen Anfangs uere nouo in den Georgica (vgl. fast. 1, 149– 164 mit georg. 1, 43–46; vgl. Fantham 1992; Haß 2015) stellt die duplex imago des Ianus eine hermeneutisch signifikante origo biformis dar (fast. 1, 49; vgl. Hardie 2002, 1): Diese epistemologische Pluralität der Fasti ist in der nur spekulativen Erfassbarkeit von deren Gegenstand begründet (Newlands 2006, 369). Diesem entspricht der Text, als Lehrgedicht über tempora cum causis (fast. 1, 1), in zweierlei Hinsicht in optimaler Form (vgl. Miller 2002, 170–174; 186): Als aitiologischer Kommentar zum kalendarisch systematisierten Jahreslauf bewegen sich die Fasti darstellerisch zwischen narrativer Kontinuität und chronologischer Schematisierung; als exegetischer Kommentar zur Tradition annotierter römischer Kalender (re)produzieren sie auch in der Darstellungsweise die epistemologischen Verfahren dieser Bezugstexte. Aufgrund dieser zweifachen Engführung von didak­ tischer Form und epistemologischem Inhalt (re)produzieren die ovidischen Fasti eine weitere ›epistemologische Lehre‹: Deren explizit-philologische Disposition als poetischer Kommentar-Text bringt auch eine implizit-philologische »Selbstexplikation durch textimmanente Verständigungsprozeduren« mit sich (Schwindt 2016, 11–12). Dieses philologisch-reflexive Ausstellen von Sekundarität – im Hinblick auf die augusteische Kalenderreform (vgl. fast. 1, 1 mit fast. 1, 27) sowie auf die eigene intertextuelle Praxis (vgl. fast. 1, 149–150; georg. 1, 43–46) – findet sich emblematisch in der Figur des Ianus verkörpert, der zugleich als personifizierter Wieder-Anfang des Jahreslaufs (fast. 1, 65–66) und als kosmogonisches Substitut des Ur-Anfangs im Chaos figuriert (fast. 1, 103). Das paradoxale Zusammenfallen von Ur-Anfang und Wieder-Anfang stellt die plastische Explikation eines u. a. bei Lukrez und Vergil implizit verhandelten Grundproblems didaktischer Dichtung dar (Haß 2015; Noller 2015).

43.4 In nova [...] mutatas [...] formas / corpora (met. 1, 1–2): Ovids poetische ›(Meta-)Morphologie‹ Diese Denkfigur kann auch als eine der Triebkräfte für die Poetik der Metamorphosen gelten. Bereits im Proöm (met. 1, 1–2) wird programmatisch eine Poetik der

Polymorphie antizipiert (vgl. Barchiesi 2006, 275), die ›das metamorphotische Prinzip‹ nicht nur inhaltlich als komplexe Anschauungsform der naturgesetzlichen Verschränkung von Kontinuität und Wandel darstellt, sondern auch formal als poetologisches Darstellungsproblem durchspielt: Der Ineinanderblendung des Oppositionspaars »Dauer vs. Ende« (Herzog 1996, 310) in der sphragis der Metamorphosen (met. 15,871–879) entspricht ein ebensolches Verfahren bezüglich des Oppositionspaars ›Ur-Anfang vs. WiederAnfang‹ in der Kosmogonie (met. 1, 5–75; vgl. Hardie 2002, 81). Aufgrund dieses Fehlens jeglicher Teleologie können die Metamorphosen als »vom Kern aus unepisch und unhistorisch« bezeichnet werden (Herzog 1996, 314): Der kosmogonische Ur-Anfang aus dem Chaos (met. 1, 5–20) wird als »differenziell bedeutungsstiftende[s] Verfahren« gezeichnet, so dass der vermeintliche Urzustand ein Anderes benötigt, um sich durch eine Reihung von Negationen allererst zu definieren (vgl. Emmrich 2015, 173–177); diese Suspension des kosmogonischen Ursprungsereignisses wird in der Wendung vultus naturae (met. 1, 6–7) explizit, wo ein bereits sprachlich bezeichneter Urzustand (quem dixere Chaos) zusätzlich als bereits anthropomorph perspektiviert dargestellt ist (vultus naturae) – noch vor der Erschaffung des Menschen in met. 1, 76–88. Und auch das Ende der Metamorphosen ist nicht als schlichte Setzung eines Schlusspunkts erzählt; diese schließen – konsequenterweise – mit einer ins Offene strebenden Metamorphose des Dichters in seine Dichtung, die sich zunächst im »Mund des Volkes« verkörpert und sodann qua mündlicher Rezeption weiter transformiert wird (met. 15, 877–879: ore legar populi). Dieses ›Wissen der Metamorphosen‹ ist aufgrund seiner prozessualen Verfasstheit nicht in einem lukrezischen Sprechen de rerum natura abstrahierbar oder in Form pythagoreischer Doktrin formalisierbar (met. 15, 60–478; s. Kap. 81); vgl. Herzog 1996, 315: »Ovid zeigt, was die poetische Metamorphose nicht ist. [...] [E]r hat sie nicht als Reduktion auf Naturgesetze, Abstraktionen und Elemente darge­ stellt; eine Form endet bei ihm mit einer anderen. Die Metamorphosen vergegenwärtigen das fortdauernde Ende ästhetisch.« Auch wenn im Hinblick auf den ›Wissensinhalt‹ die Ähnlichkeiten zwischen Pythagoras und dem Metamorphosendichter überwiegen, besteht zwischen der hyper-didaktisch schematisierenden Darstellungsform des Ersteren (Barchiesi 2006) und der gleichsam ›(meta-)morphologischen‹ Darstellungsform des Letzteren ein fundamentaler Unterschied:

43  Wissen und Didaxe

Wie in den Fasti zeigt sich Ovid als formbewusster Dichter, der allerdings die formale Seite seines Dichtens nicht um ihrer selbst willen zelebriert, sondern im Hinblick auf deren epistemologische Produktivität. Wie Lukrez und Vergil bezieht Ovid dabei das epistemologische Potential seiner Dichtung aus der Figuration eines notwendigen, nicht arbiträren Verhältnisses zwischen Stoff und Form – allerdings in signifikanter Inversion in der Hierarchie der beiden Terme: Während die lukrezische »atomare Poetik« (Noller 2015) und das vergilische »Dichten der Erde« (Haß 2018) vom Gegenstand ausgehend aus diesem eine angemessene poetische Form hervortreiben, artikuliert sich die poetische ›(Meta)Morphologie des Kosmos‹ als rhetorische Technik, die ihren Gegenstand allererst produziert. So werden – in Emanzipation vom o. g. catonischen Imperativ der Stoffbindung – die verba den res und damit die Rhetorik der Didaktik übergeordnet; vgl. Schiesaro 2002, 70–71: »[R]hetoric, the technique of shaping reality and its interpretation according to shifting points of view and more or less preordained patterns, can indeed be seen as the unifying episteme of Ovid’s poetry.«

43.5 Ovids epistemologische und ästhetische Modernität: Ironie und Transgression Rhetorizität stellt mithin ein Konstitutivum der ovidischen Poetik dar, das für die Modernität Ovids von zentraler Bedeutung ist (s. Kap. 86); auf dieser Grundlage treibt das poetische Spiel der ovidischen Texte (s. Kap. 21) zwei epistemologisch und ästhetisch signifikante Momente hervor (s. Kap. 44): Erstens formulieren die ovidischen Texte jeweils eine Epistemologie der Ironie (vgl. Krupp 2009), die die eigene Poetizität ausstellt: Die in der Erotodidaxe formulierte ›anthropologische Lehre‹ der Affektkontrolle vermittelt als Wissensinhalt eine ›Phänomenologie der Liebe‹, die den Gegenstand zugleich in seiner nicht restlos didaktisierbaren Gegenwendigkeit darstellt. Die ›aitiologische Lehre‹ der Fasti vermittelt eine ›kritische Archäologie der Tradition‹, die das vermittelte Wissen zugleich in seiner Konstruiertheit ausstellt. Die ›kosmologische Lehre‹ der Metamorphosen impliziert eine ›poetische (Meta-)Morphologie des Kosmos‹, die zugleich auf die Unmöglichkeit verweist, prozessuales Wissen zu formalisieren; vgl. Schiesaro 2002, 74: »In different ways and across very different domains Ovid’s poetry emphasizes repeatedly the in-

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determinacy and unreliabitity of knowledge, be it religious, aetiological or amorous«, sowie Weiden Boyd 2009, 104: »Ovid’s consistent commitment to the transgression of [...] boundaries is evident [...]. As a result, Ovid’s readers are challanged repeatedly to revise, reconsider, and rethink their own understanding.« Zweitens praktizieren die ovidischen Texte jeweils eine Poetik der Grenzüberschreitung, artikulieren mithin einen souveränen Formwillen im Verhältnis zum poetischen Stoff: Indem die Hierarchie von Stoff und Form verunklart und damit die Grenze zwischen Natur und Kunst durchlässig gemacht wird, präfiguriert Ovid die frühmoderne Ästhetik etwa Charles Baudelaires oder Jean Pauls (Jacquier 2010; Dell’Anno 2018). Die ovidische Tendenz, die konzeptuelle Grenze zwischen den Bereichen von Natur und Kunst zu problematisieren und deren Überschreitung zu einem Prinzip der eigenen Poetik zu machen, kann nämlich in folgender Hinsicht als »modern« bezeichnet werden: Die geläufige Annahme eines mimetischen Verhältnisses zwischen der Kunst und ihrem Gegenstand wird um das Bewusstsein eines im Wortsinne ›poietischen‹ Vermögens der künstlerischen Imagination komplementiert. Vgl. dazu Herzog 1996, 316: »[I]n­ dem Ovid Kunst und Natur kontrastiert und damit das dauerhafte Ende darstellt, versieht er diesen Kontrast mit dem Index eines ästhetischen Vorgangs – in den somit seine eigene Grenzüberschreitung einbezogen wird«, sowie Schwindt 2016, 36: »Die [...] Setzung einer sich dem Kunstschönen andienenden Natur [...] kündet [...] gleichzeitig von der [...] Unterwerfung des Natürlichen unter das Künstliche, wie von der souveränen Selbstsetzung der Natur als Kunst.« Literatur

Barchiesi, Alessandro: Voices and narrative ›instances‹ in the ›Metamorphoses‹. In: Peter E. Knox (Hrsg.): Oxford Readings in Ovid. Oxford 2006, 274–319. Dell’Anno, Sina: Philologischer Waldgang. Bemerkungen zu Form und Stoff mit Blick auf Jean Paul. In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 53 (2018), 33–68. Effe, Bernd: Dichtung und Lehre. Untersuchungen zur Typologie des antiken Lehrgedichts. München 1977. Emmrich, Thomas: Hier freut sich der Tod, dem Leben zu helfen. Katabatische Ordnungen der Literatur. In: Christian D. Haß/Eva M. Noller (Hrsg.): Was bedeutet Ordnung – was ordnet Bedeutung. Berlin 2015, 173– 211. Fantham, Elaine: Ceres, Liber and Flora. Georgic and antigeorgic elements in Ovid’s ›Fasti‹. In: Proceedings of the Cambridge Philological Society 38 (1992), 39–56. Fowler, Don P.: The didactic plot. In: Dirk Obbink/Mary Depew (Hrsg.): Matrices of Genre. Authors, Canons, and Society. Cambridge Mass. 2000, 205–219.

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V  Themen und Konzepte

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Christian David Haß

44  Ordnung und Dekonstruktion

44 Ordnung und Dekonstruktion Ovid ist ein Dichter der Ordnung und zugleich ist er es nicht. Bei dem »most immediate of poets [...] [and] also [...] most slippery of writers« (Hardie 2002, 1) liegen die Dinge nie so einfach und eindeutig, wie es zunächst den Anschein hat – gerade wenn es sich um einen so grundsätzlichen Begriff wie ›Ordnung‹ handelt. Ob thematisch, formal oder auf die poetischen Verfahren bezogen: Ein Denkmuster, das mit der Opposition von Ordnung und einem anderen, zumeist: dem Chaos, operiert, lässt sich bei Ovid leicht aufbauen. Es macht sich aber auch bemerkbar, dass sich seine Texte nicht so leicht in Binäroppositionen stillstellen lassen. Damit soll nicht behauptet werden, dass Ordnung und Chaos in den ovidischen Texten keine Rolle spielten – im Gegenteil: Sie sind auf ganz unterschiedlichen Ebenen von fundamentaler Bedeutung. Doch es geht dabei nie nur um Ordnung oder um etwas der Ordnung Entgegengesetztes. Dies lässt sich an so augenscheinlichen Ordnungen wie Aufzählungen (Katalogen) ebenso zeigen wie mit Blick auf formale Gesichtspunkte. So beinhaltet der Hundekatalog in der Actaeon-Erzählung der Metamorphosen eine individualisierende Darstellung der einzelnen Hunde und macht auf diese Weise die Verkehrung der Ordnung in diesem Mythos nur noch deutlicher: »In dem Augenblick, da die Welt der Jagd sich in sich selbst umkehrt und der Jagende zum Gejagten wird, wird noch einmal das Bild von der geordneten Welt beschworen« (Schwindt 2016, 92). Auch die Selbstverortung Ovids in bestimmte Gattungszusammenhänge, wie z. B. die Liebeselegie, stellt etwa durch die Wahl des Versmaßes und die elegische Konstellation eines Sprechers und seiner Geliebten ein klares Ordnungsbestreben aus. Gleichzeitig wird diese Ordnung aber brüchig, wenn bestimmte Gattungskonventionen unterlaufen werden und damit die Zuordnung zu einer Gattung oder das Konzept ›Gattung‹ als solches hinterfragt werden müssen (Harrison 2002, 79; vgl. zur Gattung auch Conte 1994; s. Kap. 8). Die Einzigartigkeit der Geliebten, die z. B. in den Elegien des Properz oder des Tibull das Zentrum des elegischen Daseins bildet, geht bei Ovid im Allgemeinen auf, wenn er diese Exklusivität relativiert (am. 2, 10) oder ganz aufhebt (vgl. Holzberg 1990) (am. 2, 4, 9–10): non est certa meos quae forma invitet amores: / centum sunt causae cur ego semper amem (»Kein bestimmter Typ animiert mich zur Liebe: Ich habe / Hundert Gründe; darum bin ich auch ständig verliebt«).

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Diese Nicht-Ordnung ist aber auch kein Chaos. Darin besteht die innere Paradoxie des ovidischen Schreibens: Es kommt ohne Ordnungen nicht aus, destabilisiert und unterläuft diese Ordnungen aber zugleich, um so letztlich die potentielle Doppel- und Mehrdeutigkeit von Texten vorzuführen. Ovid rührt damit an den Grund der Funktionsweise von Sprache, die aufgrund ihrer zeichenhaften Verfasstheit stets Gefahr läuft, dass Zeichen und Bezeichnetes auseinandertreten und (scheinbare) Eindeutigkeit zu Vieldeutigkeit wird. Diese Problematik, die Sprache generell eignet, ist für Ovid wiederholt analysiert worden und lässt sich am besten mit den Begriffen Illusion und Ironie erfassen (vgl. dazu Krupp 2009, 39– 42; 85–86). Philip Hardie bringt in seinem Standardwerk Ovid’s Poetics of Illusion (2002) die These in Anschlag, dass für das ovidische Schreiben eine spezifische Doppeldeutigkeit (»duplicity«; ebd., 1–3) konstitutiv sei, die die Grenzen zwischen Absenz und Präsenz verwische und »illusions of presence« (ebd., 3) erzeuge. Besonders mit Blick auf die Verfasstheit der Sprache, die Nicht-Anwesendes (scheinbar) anwesend machen kann, ist dies eine Beobachtung von eminenter Bedeutung. Der Begriff der Ironie, dessen Bedeutung für das ovidische Schreiben in jüngerer Zeit vor allem von József Krupp herausgearbeitet wurde (Krupp 2009), setzt eben an dieser ›Stellvertreterfunktion‹ der Sprache an. Der Ironiebegriff, den Krupp für seine Lektüre der Metamorphosen stark macht, besteht darin, dass diese Funktion der Sprache gestört wird. Das, was bezeichnet, und das, was bezeichnet wird, treten in Distanz zueinander und kommen nicht zur Deckung. Wie Krupp beobachtet, hat diese Störung der Ordnung aber kein Chaos zur Folge: »Dieses Moment des Bruchs, die subversive Kraft der Ironie, hält die Metamorphosen offen – nicht für jeden beliebigen interpretatorischen Einfall, sondern für eine geordnete Vielheit von Bedeutungen« (ebd., 13). Unter dem Rubrum »Ordnung und Dekonstruktion« lassen sich diese Befunde zu den Eigentümlichkeiten des ovidischen Schreibens daher gut subsumieren, wenngleich damit natürlich auch hier eine vereinfachende Ordnung eingesetzt wird. Auch die Struktur des vorliegenden Artikels spiegelt wider, dass es ganz ohne eine Ordnung nicht geht; gleichwohl ist anzumerken, dass diese Ordnung eine willkürlich gesetzte, gleichsam heuristische ist, die auch ganz anders aussehen könnte: Im Abschnitt »Präsenz und Absenz« kann anstatt eines Heroiden-Briefes auch über viele andere Werke von Ovid, wie z. B. die Amores oder die

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_44

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V  Themen und Konzepte

Briefe aus dem Exil (Tristien und Epistulae ex Ponto) gesprochen werden. Gleiches gilt für die Wahl der Textbeispiele im Abschnitt »Zentrum und Spiel«.

44.1 Ipse veni! Präsenz und Absenz (Heroides, Tristia, Amores) Im ersten Brief der Heroides adressiert Penelope den nach dem Ende des Trojanischen Krieges noch immer nicht nach Ithaka zurückgekehrten Odysseus und schildert ihm ausführlich ihre Notsituation am heimischen Hof, bedrängt von den Freiern und in steter Sorge um den Verbleib ihres Ehemanns (epist. 1, 1–2): Haec tua Penelope lento tibi mittit, Ulixe – / nil mihi rescribas tu tamen – ipse veni (»Dies schickt deine Penelope dir, saumselger Ulixes. / Doch schreib mir nichts zurück – komm vielmehr lieber gleich selbst«)! Die Kommunikationssituation, die in den ersten beiden Versen des Gedichts entfaltet wird, weist die zentralen Marker einer brieflichen Kommunikation auf: Ein Ich, Penelope, spricht ein Du, Odysseus, an. Da Odysseus nicht anwesend ist, kann Penelope nur in indirekte Kommunikation mit ihm treten, indem sie ihm einen Brief schreibt und diesen an ihn schickt (haec Peneleope tibi mittit). Zugleich macht Penelope aber deutlich, dass eben diese Konstellation, die Abwesenheit des Herbeigewünschten, mit dem ihr zur Verfügung stehenden Mitteln nicht überwunden werden kann. Damit ist Penelopes Schreiben nicht nur ein Monolog, sondern, wie Duncan Kennedy feststellt, »writing in isolation« (Kennedy 2002, 220). In anderen Heroiden-Briefen vermag es die Schrift als Stellvertreterin für den Menschen, teilweise die Leerstelle des Geliebten zu füllen und als Substitut dessen Funktion zu übernehmen, wie z. B. in Leanders Brief an Hero: pro me pernoctet epistula tecum (»Dieser Brief übernachte bei dir statt mir unterdessen«) (epist. 18, 217). Dieser »epistolary mode« (Kennedy 2002, 220) ist nicht nur elementar für die Kommunikationssituation, die in den Heroides geschaffen wird, sondern für viele Ausprägungen des ovidischen Schreibens. Ebenso wie sich die unauflösbare Spannung von Abwesendem und Anwesendem als Grundprämisse der Liebeselegie fassen lässt – »[T]he lover desires but cannot securely enjoy the presence of the beloved« (Hardie 2002, 106) –, kann sie auch für die Exildichtungen Ovids (Tristia, Epistulae ex Ponto) in Anschlag gebracht werden, die explizit als Briefe verfasst sind. Hier ist die liebeselegische Konstellation von Absenz

und (der Illusion von) Präsenz aber insofern verkehrt, als der Schreiber Ovid weniger die Anwesenheit von Abwesendem herbeisehnt oder sie imaginiert. Er als Abwesender wünscht sich vielmehr selbst zurück in sein gedankliches Zentrum: Rom. Statt durch seine Briefe nach Rom als Anwesender Abwesendes zu imaginieren, ersetzt und materialisiert die Sendung nach Rom seine dortige Abwesenheit, wie im ersten Brief der Tristien-Sammlung programmatisch formuliert ist (trist. 1, 57–58): tu tamen i pro me, tu, cui licet, aspice Romam. / di facerent, possem nunc meus esse liber (»Du aber gehe statt meiner! Du schau dir Rom an: du darfst es. / Gäben die Götter, daß ich dürfte mein Büchlein jetzt sein«)! Die Selbstversicherung, die aus diesen Briefen spricht – ob darauf geantwortet wird, ist nicht von primärem Interesse –, findet sich auch im Brief Penelopes an Odysseus. Explizit bricht auch sie mit dieser Erwartung, wenn sie von Odysseus keinen Antwortbrief fordert, sondern seine Rückkehr: ipse veni! Penelope setzt an die Stelle der Illusion von Präsenz die tatsächliche Präsenz ihres Mannes und macht damit die Grenzen und den Illusionscharakter schriftlicher Kommunikation explizit. Denn was Penelope in ihrem Brief schreibt, ist von vornherein nicht auf eine gelingende Kommunikation hin angelegt. Duncan Kennedy hat noch auf eine zweite Verkehrung einer (scheinbaren) Ordnung hingewiesen, die mit der Spannung zwischen Präsenz und Absenz in Penelopes Brief zusammenhängt (Kennedy 1984). Neben der Briefgattung verleiht der mythologische Hintergrund, vor dem Penelope agiert, dem Brief einen geordneten Rahmen. Im Gegensatz zu der eben erörterten Kommunikationssituation, die auf einer brief-immanenten Ebene zu verorten ist, betrifft der Bezug zu Homers Odyssee eine Ebene, die abhängig ist vom Vorwissen des Lesers. Überblendet man diese beiden Ebenen, also die Informationen, die Penelope in ihrem Brief gibt, und den Handlungsverlauf der Odyssee, so zeigt sich, dass Penelope den Brief zu einem Zeitpunkt schreibt, an dem Odysseus’ Rückkehr kurz bevorsteht – mehr noch, dass Odysseus bereits unerkannt in Ithaka angekommen ist. Dies lässt sich insofern rekonstruieren, als Penelope in ihrem Brief die Rückkehr ihres Sohnes Telemachos von seiner Reise nach Pylos und Sparta erwähnt (epist. 1, 99– 100). In der Odyssee stattet Telemachos seiner Mutter Bericht ab am Morgen, bevor Odysseus die Freier an seinem Hof tötet. In dem so rekonstruierbaren Zeitfenster steht die Zusammenkunft Penelopes mit Odysseus also kurz bevor. Ihre Pointe erhält diese Möglich-

44  Ordnung und Dekonstruktion

keit durch einen weiteren Passus aus Penelopes Brief. So schreibt sie, dass sie ihre Briefe an Odysseus stets Fremden mitgibt, die ihr Weg durch Ithaka führt (epist. 1, 59–62): quisquis ad haec vertit peregrinam litora puppim,     ille mihi de te multa rogatus abit, quamque tibi reddat, si te modo viderit usquam,     traditur huic digitis charta notata meis (»Wenn aus der Fremde an unsere Küste einer sein Schiff lenkt, / frag ich ihn vieles nach dir, sonst kommt er nicht von hier fort, / und ein Papier, das er dir, falls er irgendwo jemals dich antrifft, / geben soll, geb ich ihm mit, das ich mit eigner Hand schrieb«).

Folgt man Kennedy in seiner Argumentation, so ist jener quisquis, dem Penelope den im Entstehen begriffenen Brief anvertraut, ihr noch unerkannter Ehemann Odysseus, der, als Bettler getarnt, die Gastfreundschaft Penelopes in Anspruch nimmt (Kennedy 1984, 417–418). Damit würde nicht nur der anfangs geäußerte Wunsch Penelopes, Odysseus möge nicht zurückschreiben, sondern zurückkehren, erfüllt. Bereits in der Übergabe an Odysseus würde der Brief in seiner Funktion, Absentes präsent zu machen, obsolet. Die Illusion der Anwesenheit von Abwesendem, die die briefliche Kommunikation ermöglicht, wird nur für Penelope aufrechterhalten. Der Leser dagegen vermag den ironischen Gestus zu erkennen, der darin liegt, dass dieser Illusionscharakter durch den Brief erst aufrechterhalten wird und Odysseus sich gewissermaßen verdoppelt: als nicht anwesender Adressat und als anwesender Empfänger. Denn genau genommen, erzeugt der Brief für Penelope die Illusion von Absenz. Dieses komplexe Spiel mit verschiedenen Ebenen der Ordnung – sei sie nun Brief-intern oder auf die eines Rezipienten bezogen – zeigt, wie die zunächst klaren Zuweisungen des Absenten und des Präsenten in dieser Kommunikationssituation zunehmend unklarer werden –unabhängig davon, ob der Rezipient über das nötige mythologische Vorwissen verfügt. Sowohl in Penelopes Schreiben als auch in der Rückbindung ihres Schreibens an Homers Odyssee lassen sich Brüche und Unklarheiten ausmachen, die ganz wesentlich darauf basieren, dass durch die briefliche Konstellation die Illusion von Präsenz bzw. Absenz an die Stelle tatsächlicher Präsenz tritt.

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44.2 Centum sunt causae. Zentrum und Spiel (Amores, Metamorphosen) Die Destabilisierung des Verhältnisses von Absenz und Präsenz, wie sie sich im ersten Brief der Heroides darstellt, ist eng verbunden mit einem wichtigen Denkmuster der Dekonstruktion Derrida’scher Prägung: mit der Abwesenheit eines festen Zentrums. In seinem Aufsatz »Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaft vom Menschen« (1972) stellt Derrida, ausgehend von der Frage, ob sich eine Struktur auch ohne Zentrum denken lasse, folgende Überlegung an: Das Zentrum ist kein fester Ort, sondern »eine Art von Nicht-Ort, worin sich ein unendlicher Austausch von Zeichen abspielt« (ebd., 424). Mit Blick auf die Struktur der Sprache stellt diese Behauptung eine fundamentale Verunsicherung dar. Denn wenn es keinen stabilen Fixpunkt für Bedeutung gibt, sondern, wie bei Verweisen in einem Lexikon, sich die Bedeutung eines Wortes immer nur aus dem Verweis auf ein anderes konturieren lässt, das aber wiederum selbst durch diesen differenzierenden Verweismodus seine Bedeutung erhält (Derrida spricht vom Fehlen eines »transzendentalen Signifikats«), ist Sprache nichts anderes als ein unabschließbares Spiel des Weiterverweisens. Diese von Derrida ausgemachte Verunsicherung scheinbar fester Ordnungen gilt als Signum modernen oder postmodernen Denkens, doch sind solche Denkbewegungen oder Denkmuster nicht ausschließlich ›modern‹ und stellen keinen bestimmten Punkt in einer chronologischen Entwicklung dar. Neben anderen Texten der Antike (einen guten Einblick gibt Fowler 2000; vgl. außerdem Harrison 2001, 1–18) zeigen gerade die Schriften Ovids derartige Figurationen und Reflexionen: ein Bewusstsein für die Bruchstellen, Widersprüchlichkeiten und Scheinhaftigkeiten von Ordnungen. So wird in der Forschung vielfach dafür argumentiert, dass Ovid als letzter augusteischer Elegiker die Liebeselegie nicht nur weiterentwickelt, sondern sie auch konsequent ›zu (ihrem) Ende‹ bringt (vgl. u. a. Schwindt 2005; Volk 2002, 157–195; anders Boyd 1997). Wie die vor ihm schreibenden Elegiker, vor allem Properz, legt auch Ovid offen, dass das Zentrum der Elegie, die puella, nur ein poetisches Konstrukt ist, um Elegien schreiben zu können (vgl. Holzberg 1990). Ovid geht aber noch weiter, indem er der Liebeselegie dieses Zentrum nimmt: In der bereits oben diskutierten Elegie am. 2, 4 sagt Ovid der ›exklusiven‹ elegischen Liebe ab. Damit entfernt er explizit das Zentrum – die Geliebte – aus der Konstellation seines elegischen

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V  Themen und Konzepte

Schreibens, um eine unendliche Zahl an die Stelle dieses Zentrums zu setzen (am. 2, 4, 47–48): denique quas tota quisquam probat Urbe puellas, / noster in has omnes ambitiosus amor (»Kurz denn: Sämtliche Mädchen, die irgendwer in der ganzen / Hauptstadt bewundert, die will meine Libido für sich«). Zusätzliche Eindrücklichkeit erhält diese Umkehrung dadurch, dass Ovid nicht nur von der unüberschaubaren Zahl von puellae spricht, die er begehrt, sondern auch einen Anspruch auf die erhebt, die von einem anderen zum Zentrum ihres Begehrens gemacht werden. Damit erhält diese Liebe einen Wettbewerbscharakter, der sich nach Quantitäten bemisst und die Exklusivität genau dadurch aufhebt: Die Exklusivität vieler ›Lieben‹ zu begehren, bedeutet letztlich, diese Exklusivität aufzulösen. In den (fingierten) Briefsituationen des ovidischen Œuvres tritt besonders deutlich zutage, wie die Problematik sprachlicher Kommunikation zwischen (der Illusion von) Präsenz und Absenz sowie das Fehlen eines Zentrums in Texten reflektiert werden können. Doch auch in den Metamorphosen (s. Kap. 8 und 43) lässt sich zeigen, dass an vielen Stellen Ordnung und deren Instabilität explizit oder implizit zum Thema werden – und dies nicht allein aus einer Perspektive, die die komplexe narrative Ordnung des Werks betrifft. Es lässt sich auch zeigen, dass die ›Störung‹ dieser Ordnungen mit Fragen nach einem Zentrum zu tun haben. Das Prinzip der Metamorphose selbst verdeutlicht dies, werden dabei doch bestimmte Ordnungen, d. h. Körperkonfiguration, nicht zerstört, sondern verändert (s. Kap. 30). Was vom ursprünglichen Wesen bleibt, d. h. was es im Kern ausmacht, verschwindet nicht, es verschiebt sich lediglich. So lassen sich in der Metamorphose Ordnung und Dekonstruktion zugleich denken. In seinem bereits erwähnten Essay beschreibt Derrida ein Zentrum nicht nur als »Nicht-Ort« (Derrida 1972, 424), er setzt es auch mit den primär zeitlich zu fassenden Begriffen des Ursprungs und des Endes (ebd., 423) gleich, deren Aufgabe es sei, »die Struktur zu orientieren, ins Gleichgewicht zu bringen und zu organisieren« (ebd., 422). Derrida kommt es nun aber darauf an, dass das Zentrum nicht fest und stabil, sondern vielmehr dynamisch verfasst ist. Wenn sich in der Sprache Bedeutung nur durch die unendliche Verweisungskette auf anderes konstituieren kann, verlagert sich die begrenzende und dadurch definierende Funktion des Zentrums – in Form einer festen Bedeutungszuweisung – hin zu einem »Spiel des Bezeichnens« (ebd., 242).

Wie aber lässt sich etwas in eine sprachliche Ordnung überführen, wenn es sich eigentlich nicht sprachlich fassen lässt? Die Kosmogonie ganz zu Beginn Metamorphosen illustriert, wie sich diesen von Derrida konstatierten Problemen sprachlicher Natur beikommen lässt. Eine Erzählung vom Ursprung der Welt (gr. kósmos) ist die Erzählung einer Ordnung (gr. kósmos), im Sinne eines Prozesses vom Ungeordneten zum Geordneten. In seiner Darstellung zeigt Ovid, dass er über das Ungeordnete nur in einer Weise sprechen kann, die sich der Sprache der geordneten Welt bedient. Auch bei Ovid gibt es nämlich keinen Anfang der Welt bzw. kein Zentrum, von dem alles ausgeht. Vielmehr legt Ovid offen, dass dies nur eine Konstruktion ist, ohne die es nicht geht. Darauf weist auch Derrida hin: Will man sinnvolle Äußerungen machen, kann man bestimmten (sprachlichen) Konventionen nicht entkommen (vgl. ebd., 425). So spricht Ovid in Begriffen der geordneten Welt, tut dies aber, wie auch später in der Darstellung der vier Weltalter (met. 1, 89–150), im Modus des ›NochNicht‹ (vgl. Barchiesi 2005, 150) (met. 1, 5–10): Vor (ante) dem Meere, dem Land und dem alles deckenden Himmel / zeigte die Natur in der ganzen Welt ein einziges Antlitz (vultus). / Chaos ward es benannt (dixere Chaos): eine rohe, gestaltlose Masse, / nichts als träges Gewicht und, uneins untereinander, / Keime der Dinge, zusammengehäuft in wirrem Gemenge. / Damals spendete noch ihr Licht keine (nullus adhuc) Sonne dem Weltall, / ließ kein neuer (nec nova Phoebe) Mond im Wachsen erstehn seine Hörner.

Das Chaos wird so in Worte gefasst. Durch den Verweis darauf, was es noch nicht gibt, kann Ovid in seinem Bericht einen fixen, genau bestimmbaren Anfangspunkt aussparen und dennoch zugleich eine zeitliche Abfolge herstellen, deren genaue Ordnung (noch) im Unklaren belassen wird. Ein weiteres Moment der paradoxen Ordnung kommt hinzu: Das Chaos wird als solches benannt. Das heißt, das, was eigentlich vor jeglicher sprachlicher Erfassbarkeit liegt, erhält einen Namen und wird somit fassbar. Ob durch die unbestimmte Formulierung in der 3. Person Plural (dixere – »sie haben benannt«) implizit auf die Tradition der griechischen (Natur-)Philosophie hingewiesen wird, ob es sich um eine rein konstatierende Aussage handelt, oder ob im Unklaren belassen werden soll, wer die Namensgebung vornimmt (vgl. Barchiesi 2005, 152; Myers 1994, 40–43), lässt sich nicht entscheiden. Es zeigt sich aber: Über Ordnung und Chaos kann nur ge-

44  Ordnung und Dekonstruktion

sprochen werden, wenn zumindest ein Teil davon sprachlich positiv erfassbar ist. Dass ohne diese Form der Differenz keine Aussagen möglich sind, ist eine fundamentale Prämisse im Schreiben Ovids. Er dekonstruiert in dem Sinne, dass er nicht zerstört und das Schreiben ganz unmöglich macht (Destruktion), sondern aus der Reflexion und Offenlegung der Widersprüchlichkeiten ein produktives Moment gewinnt (Konstruktion). Literatur

Barchiesi, Alessandro (Hrsg.): Ovidio. Metamorfosi. Volume I (Libri I–II). Mailand 2005. Boyd, Barbara Weiden: Ovid’s Literary Loves. Influence and Innovation in the ›Amores‹. Ann Arbor 1997. Bretzigheimer, Gerlinde: Ovids ›Amores‹. Poetik in der Erotik. Tübingen 2001. Conte, Gian Biagio: Genres and Readers. Lucretius, Love Elegy, Pliny’s Encyclopedia. Baltimore/London 1994. Derrida, Jacques: Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen. In: Ders: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt a. M. 1972 (frz. 1967), 422–442. Fowler, Don: Roman Constructions. Readings in Postmodern Latin. Oxford 2000. Hardie, Philip: Ovid’s Poetics of Illusion. Cambridge 2002. Harrison, Stephen: General Introduction: Working Together. In: Ders (Hrsg.): Texts, Ideas, and the Classics. Scholarship, Theory, and Classical Literature. Oxford 2001, 1–18.

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Harrison, Stephen: Ovid and genre: evolutions of an elegist. In: Philip Hardie (Hrsg.): The Cambridge Companion to Ovid. Cambridge 2002, 79–94. Holzberg, Niklas: Die römische Liebeselegie. Eine Einführung. Darmstadt 51990. Kennedy, Duncan F.: The Epistolary Mode and the First of Ovid’s ›Heroides‹. In: Classical Quarterly 34/2 (1984), 413–422. Kennedy, Duncan: The Arts of Love. Five studies in the discourse of Roman love elegy. Cambridge 1993. Kennedy, Duncan F.: Epistolarity: the ›Heroides‹. In: Philip Hardie (Hrsg.): The Cambridge Companion to Ovid. Cambridge 2002, 217–232. Krupp, József: Distanz und Bedeutung. Ovids Metamorphosen und die Frage der Ironie. Heidelberg 2009. Myers, K. Sara: Ovid’s Causes. Cosmogony and Aetiology in the ›Metamorphoses‹. Ann Arbor 1994. Schwindt, Jürgen Paul: Zeiten und Räume in augusteischer Dichtung. In: Ders. (Hrsg.): La représentation du temps dans la poésie augustéenne. Heidelberg 2005, 1–18. Schwindt, Jürgen Paul: Thaumatographia oder Zur Kritik der philologischen Vernunft. Vorspiel: Die Jagd des Aktaion (Ovid, ›Metamorphosen‹ 3, 131–259). Heidelberg 2016. Volk, Katharina: The Poetics of Latin Didactic. Lucretius, Vergil, Ovid, Manilius. Oxford 2002. Wyke, Maria: The Roman Mistress. Ancient and Modern Representations. Oxford 2002.

Eva Marie Noller

VI Rezeption

A Allgemeine Aspekte 45 Überlieferung, Textausgaben, Übersetzungen, Kommentare 45.1 Buchwesen in der Antike Zu Ovids Lebzeiten verstand man unter einem »Buch« (lat. liber/volumen) eine Papyrusrolle (Birt 1882; Bülow-Jacobsen 2009; Johnson 2009; Winsbury 2009). Die Rollen wurden aus Ägypten importiert, wo die Papyrusstaude beheimatet war. Über die Herstellung haben wir nur eine ungenaue Beschreibung von Plinius dem Älteren (Plin. nat. 13, 74–82), aus der jedoch die Grundprinzipien erkennbar sind. Aus den Stängeln der Papyruspflanze wurden Streifen geschnitten und nebeneinander auf ein feuchtes Brett gelegt, eine zweite Schicht wurde quer zu diesen Streifen darübergelegt. Dann presste man die Blätter, trocknete sie und klebte sie zu einer Rolle zusammen. Geschrieben wurde mit einem Rohr (lat. calamus) und meist mit einer Rußtinte auf der Seite der Rolle, auf der die Fasern parallel zur Schreibrichtung lagen, die Rückseite blieb in der Regel unbeschrieben. Für Konzepte verwendete man Wachstafeln (lat. tabellae, s. z. B. Ov. fast. 1, 93–94) oder auch Pergament (lat. membranae, s. z. B. Hor. ars 388–389).

45.2 Publikation der Werke Meist kursierten Exemplare von Büchern im Kreise von Freunden oder Gönnern, wo sie innerhalb der Gruppe vervielfältigt wurden, was einer Publikation gleichkam. Seit Cicero und Atticus wissen wir auch von einem Buchhandel (Reynolds/Wilson 2013, 23–25; Winsbury 2009). Bei Ovid selbst finden wir hierzu auch einige Zeugnisse. Im einleitenden Epigramm der Amores erfahren wir, dass die erste »Auflage« fünf Bücher umfasst habe und die neue, uns erhaltene Ausgabe auf drei Bücher gekürzt worden sei. Hier kann es sich jedoch auch um ein literarisches Spiel handeln. Sabinus schrieb Antworten zu Einzelbriefen der Epistulae He-

roidum, worauf Ovid Doppelbriefe verfasste (am. 2, 18, 27–29): Auch hier scheint es verschiedene Ausgaben gegeben zu haben. Von den unvollendeten Metamorphosen behauptet Ovid, er habe sie verbrannt, als er in die relegatio ging, es seien aber schon Kopien in Rom im Umlauf: Diesen Exemplaren sollen sechs Verse hinzugefügt werden (trist. 1, 7, 13–40). Ob Ovid sein Epos wirklich verbrannt hat, wissen wir nicht. Dass das Werk jedoch schon in Rom in Kopien gelesen wurde, entspricht durchaus der oben geschilderten Praxis.

45.3 Die Überlieferung der Werke bis zur Renaissance Von keinem der klassischen lateinischen Autoren besitzen wir Autographe. Während von manchen Dichtern noch Reste antiker Papyrusrollen existieren, ist von Ovid kein einziger Papyrus erhalten. Erst nach Ovids Tod wurde die Papyrusrolle nach und nach durch den codex ersetzt, der aus zusammengehefteten Pergamentblättern besteht. Der codex ist die Standardform des Buchs in Spätantike und Mittelalter, in die auch die Werke Ovids übertragen wurden. Für alle Schriften von Ovid sind wir daher auf sehr viel spätere Abschriften angewiesen. Bis in die Spätantike war Ovid einer der meistgelesenen und -imitierten Autoren. In der karolingischen Zeit waren wohl die meisten Werke Ovids bekannt, er war jedoch bei Weitem nicht so populär wie Vergil, Terenz, Horaz, Lucan oder Juvenal. Die ältesten erhaltenen größeren Handschriften stammen aus dieser Zeit. Ovid wird in den folgenden Jahrhunderten zusehends populärer, den Höhepunkt bildet das 12. Jahrhundert, das von Ludwig Traube daher als aetas Ovidiana bezeichnet wurde (Traube 1911, 113). Nun finden sich Sammel- und Gesamtausgaben, und auch kleinere Werke wie Ibis oder Medicamina werden wieder kopiert. Neben den Klöstern erlangen ab dem 12. Jahrhundert zunehmend die Kathedralschulen an Bedeutung. Die weite Verbreitung der Werke Ovids

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_45

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VI Rezeption – A Allgemeine Aspekte

hatte zur Folge, dass Ovids Verskunst häufig imitiert wurde: Man verfasste Gedichte in seinem Stil; außerdem verbesserte und ergänzte man korrupte Stellen in seinen Werken. Mit dem Aufkommen der Universitäten im 13. Jahrhundert verlagerte sich das wissenschaftliche Interesse zu Aristoteles, besonders zu seinen logischen Schriften, Ovid wurde aber weiterhin in den Schulen gelesen und seine Schriften in vielen Fällen der Unterrichtspraxis durch die Übernahme leicht verständlicher Varianten angepasst. In der Renaissance begann dann eine erneute intensive Beschäftigung mit den Klassikern und ihrer Überlieferung in den Handschriften: Auch die Humanisten versuchten, den ovidischen Text zu verbessern, was manchmal zur Verschleierung der alten Überlieferung, aber auch zu guten Konjekturen führte. Die Handschriften der Zeit können freilich auch seltene und richtige Varianten bewahren, je nachdem, mit welchen Vorlagen gearbeitet wurde. Durch die Erfindung des Buchdrucks schließlich wurden die Texte der Klassiker sehr viel schneller verbreitet. Dies führte in vielen Fällen, da die Buchdrucker kommerzielle und nicht immer wissenschaftliche Ziele verfolgten, zur Etablierung eines Texts, der nicht zwangsläufig auf der Arbeit mit guten Handschriften basierte. Außer den Amores, der Ars Amatoria und den Remedia amoris, die gemeinsam überliefert sind, sind die Werke in getrennten Handschriftentraditionen auf uns gekommen (Übersicht über die wichtigsten Handschriften und frühen Ausgaben bei Landfester 2007, 425–426; Überblick über die Überlieferung der einzelnen Schriften in Tarrant 1983 und Richmond 2002).

45.4 Textausgaben und Übersetzungen Die frühen gedruckten Ausgaben, die sich durchsetzten, hatten nicht immer die besten Handschriften oder eine intensive Beschäftigung mit der Überlieferung zur Grundlage. Einen Meilenstein noch vor der Etablierung der wissenschaftlichen Textkritik im 19. Jahrhundert stellt die Ausgabe von Nicolaus Heinsius von 1658–1661 dar, auch wenn nicht alle seine zahlreichen Vorarbeiten einfließen konnten. Diese wurden von Petrus Burmannus in seine Ausgabe von 1727 aufgenommen, der jedoch nicht über ein mit Heinsius vergleichbares Urteilsvermögen und Gefühl für die ovidische Sprache verfügte. Im 19. Jahrhundert wird dann auch Ovid nach den neuen, von Karl Lachmann und anderen etablierten Kriterien der Textkritik ediert. Im 20. und 21. Jahrhundert wurde diese Arbeit fortgesetzt, so

dass alle Werke Ovids in kritischen Ausgaben vorliegen, z. B. Epistulae (Heroides) in Dörrie 1971, Amores, Medicamina faciei femineae, Ars amatoria und Remedia amoris in Kenney 1994, Metamorphoses in Anderson 1982 und Tarrant 2004, Fasti in Alton et al. 1997, Tristia in Luck 1967–1977, Epistulae ex Ponto in Richmond 1990 und Ibis in La Penna 1957 (Übersicht bei Landfester 2007, 426–427 sowie Schmitzer (o. J.), zur Geschichte der Editionen Possanza 2009). Seit dem Mittelalter wurde Ovid in die Nationalsprachen übersetzt (Landfester 2007, 427–430 und Schmitzer [o. J.], so auch in das Deutsche (Schmitzer 2016 zu den Metamorphosen und 2018 zur Ars amatoria). Genannt seien als neuere Übersetzungen der Amores v. Albrecht 2016a und Holzberg 2014; der Epistulae (Heroides) Häuptli 2001; der Ars amatoria v. Albrecht 2016b, Holzberg 2011 und Möller/Roth/Trautsch 2017; der Metamorphosen v. Albrecht 2019 und Holzberg 2017; der Fasti Holzberg 2012; der Tristia und Epistulae ex Ponto Holzberg/Willige 2011 und der Ibis, der Fragmente und weiterer Ovidiana Häuptli 1996.

45.5 Kommentare Aus der Antike sind keine Kommentare zu Ovid bekannt, das Mittelalter konnte daher nicht auf eine bestehende Tradition aufbauen. Neben einfachen Anmerkungen zu einem ersten Verständnis war der allegorische Kommentar weit verbreitet, der die für die christliche Tradition anzüglichen Inhalte umdeutete. Als Beispiele seien die Allegoriae super Ovidii Metamor­ phosin des Arnulf von Orléans (ca. 1175), der anonyme Ovide Moralisé aus dem frühen 14. Jahrhundert und der Ovidius moralizatus des Pierre Bersuire von 1362 genannt. Auch in der Renaissance war die allegorische Auslegung noch verbreitet, mit der Erneuerung der philologischen Beschäftigung setzte jedoch auch eine neue Art der Kommentierung der Werke Ovids ein, unter anderem durch Domizio Calderini und Angelo Poliziano, die sich auch in gedruckten Ausgaben niederschlug. Am weitesten verbreitet ist in den folgenden Jahrhunderten die Ausgabe der Metamorphosen mit dem Kommentar des Rafaele Regio (Venedig 1493). Im 19. Jahrhundert spielte die Kommentierung nur eine untergeordnete Rolle; als ein wichtiges Werk sei der von Moritz Haupt begonnene Kommentar zu den Metamorphosen genannt, der in der Folgezeit vervollständigt und erweitert wurde (Haupt u. a. 1966). Wie die Arbeit am Text ist auch die Kommentierung Ovids im 20. und 21. Jahrhundert intensiv weitergeführt wor-

45  Überlieferung, Textausgaben, Übersetzungen, Kommentare

den, so dass zu fast allen Werken neuere Kommentare vorliegen. Aus der Vielzahl der Arbeiten seien einige genannt: Hauptsächlich der philologischen Erklärung von Einzelstellen widmen sich die Kommentare von Bömer zu den Metamorphosen (1969–1986) und Fasti (1957–1958), während Barchiesi u. a. 2005–2015 zu den Metamorphosen, McKeown 1987–1998 zu den Amores und Möller/Roth/Trautsch 2017 zur Ars amatoria darüber hinaus die Werke auch einer literaturwissenschaftlichen Interpretation unterziehen (Übersicht bei Landfester 2007, 430 und Schmitzer [o. J.], zur Geschichte der Ovidkommentierung mit weiteren Angaben s. Knox 2009). Literatur

Albrecht, Michael von: P. Ovidius Naso. Amores – Liebesgedichte, lat./dt. Übers. und hrsg. von M. v. A. Stuttgart 2016a. Albrecht, Michael von: P. Ovidius Naso. Metamorphosen, lat./dt. Übers. und hrsg. von M. v. A. Stuttgart 2019. Albrecht, Michael von: P. Ovidius Naso. Ars amatoria – Liebeskunst, lat./dt. Übers. und hrsg. von M. v. A. Stuttgart 2016b. Alton, Ernest H. et al: P. Ovidi Nasonis Fastorum libri VI, rec. E. H. Alton, Donald E. W. Wormell, Edward Courtney. Leipzig 41997. Anderson, William S.: P. Ovidii Nasonis Metamorphoses, ed. W. S. A. Leipzig 21982. Bagnall, Roger S. (Hrsg.): The Oxford Handbook of Papyrology. Oxford 2009. Barchiesi, Alessandro u. a.: Ovidio. Metamorfosi a cura di A. B. e con un saggio introduttivo di Charles Segal, traduzione di Ludovica Koch (Libri I–IV) e Gioachino Chiarini (Libri V–XV), commento di A. B., Philip Hardie, Edward J. Kenney, Joseph D. Reed, Gianpiero Rosati. 6 Bde. Mailand 2005–2015. Birt, Theodor: Das antike Buchwesen in seinem Verhältniss zur Litteratur. Berlin 1882. Bömer, Franz: P. Ovidius Naso. Die Fasten. Hrsg., übers. und komm. von F. B. Heidelberg 1957–1958. Bömer, Franz: P. Ovidius Naso: Metamorphosen. Kommentar. 7 Bde. Heidelberg 1969–1986. Addenda, Corrigenda, Indices aufgrund der Vorarbeiten von Franz Bömer zsgest. durch Ulrich Schmitzer Teil 1., Addenda und Corrigenda. Heidelberg 2006. Bülow-Jacobsen, Adam: Writing Materials in the Ancient World. In: Bagnall 2009, 3–29. Burmannus, Petrus: P. Ovidii Nasonis opera omnia. 4 Bde. Amsterdam 1727. Dörrie, Heinrich: P. Ovidius Naso. Epistulae Heroidum, ed. H. D. Berlin/New York 1971. Johnson, William. A.: The Ancient Book. In: Bagnall 2009, 256–281. Haupt, Moritz: P. Ovidius Naso. Metamorphosen. Erkl. von M. H. Unveränderte Neuausgabe der Aufl. von Rudolf Ehwald, korr. und bibliographisch ergänzt von Michael v. Albrecht. Zürich/Dublin 101966.

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VI Rezeption – A Allgemeine Aspekte

Schmitzer, Ulrich: Examen in Liebe mit Note 1. Übersetzungen von Ovids Ars amatoria vom 15. bis zum 20. Jahrhundert. In: Gymnasium 125 (2018), 429–468. Schmitzer, Ulrich: KIRKE – Bibliographie zu Ovid: ›Frühe Ausgaben und historische Übersetzungen‹ und › Neuere Editionen‹. In: https://www.kirke.hu-berlin.de/ovid/ oviddt.html o. J. (20.12.2018). Tarrant, Richard J.: »Ovid« und »Pseudo-Ovid«. In: Leighton D. Reynolds (Hrsg.): Texts and Transmission: A Survey of the Latin Classics. Oxford 1983, 257–286.

Tarrant, Richard J.: P. Ovidi Nasonis Metamorphoses. Recognovit brevique adnotatione critica instruxit R. J. T. Oxford 2004. Traube, Ludwig: Einleitung in die lateinische Philologie des Mittelalters, hrsg. von Paul Lehmann. München 1911. Winsbury, Rex: The Roman Book – Books, Publishing and Performance in Classical Rome. London 2009.

Philip Schmitz

46  Ovid im Schulunterricht

46 Ovid im Schulunterricht Ovid und der Lateinunterricht in Deutschland und Europa sind seit dem Mittelalter bis in die Gegenwart eng miteinander verflochten. Die meisten Werke Ovids wurden seit dem Mittelalter im schulischen Unterricht Gegenstand vielfältiger pädagogischer Bemühungen. Ohne Zweifel spielten jedoch die Metamorphosen eine besondere Rolle. Als »Grundbuch der Mythen« (Fuhrmann 1995, 54) mit enormer Wirkungskraft auf die europäische Geistes- und Kunstgeschichte verfügten die Metamorphosen über so großes didaktisches Potential, dass sie sich bis in die Gegenwart zu einem essentiellen Teil der lateinischen Schullektüre entwickelten. Ovid wurde seit seiner Wiederentdeckung im 12./­ 13. Jahrhundert zu einem wichtigen Bestandteil des mittelalterlichen Lateinunterrichts. Neben der beliebten Ars amatoria (Volk 2012, 136–141) bildeten die Metamorphosen die zentrale Quelle für mythologisches Wissen und spielten eine wichtige Rolle als christlich legitimierter, moralisierter Bildungsgegenstand, etwa in der Gestalt des Ovidius moralizatus (Petrus Berchorius, 1340). Ovid wurde zum »›Sittenlehrer‹, dessen Dichtungen, selbst wenn sie die Laszivität nicht mieden, bewundert, interpretiert und imitiert wurden« (Fuhrmann 2001, 24). Im Humanismus der Frühen Neuzeit verstärkte sich die öffentliche Präsenz der Metamorphosen. So lag z. B. der 1493 von Raphael Regius vorgelegte Kommentar 20 Jahre nach seinem Erscheinen in einer Auflage von 50.000 Exemplaren (Schmitzer 2016, 129) vor; damit einhergehend wurde den Metamorphosen erhebliches Bildungspotential zugesprochen: Georg Sabinus bezeichnete sie in seinem Kommentar als »thesaurus eruditionis«, in dem neben wissenschaftlicher Belehrung (z. B. in Geographie, Naturgeschichte, Rhetorik) moralisch wertvolle »imagines totius vitae et conditionis humanae« (Sabinus 1555, 15) enthalten seien. Die Lektüre der Metamorphosen diene somit »ad formandos vitae mores«, lade zur Ausbildung der virtus ein und schrecke von der Schlechtigkeit ab (ebd., 16). Überraschenderweise spielten die Metamorphosen jedoch im humanistischen Schulwesen der Frühen Neuzeit nur eine untergeordnete Rolle. So werden die Metamorphosen in der von Erasmus von Rotterdam 1511 vorgelegten Programmschrift De ratione studii, die Paulsen als die Summe der »Gymnasialpädagogik« des deutschen Humanismus bezeichnete (Paulsen 1919, 68), nur als Studienobjekt für den Lehrer, nicht jedoch als Unterrichtsgegenstand erwähnt. Auch in

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den meisten evangelischen Schulordnungen des 16. Jahrhunderts sucht man die Metamorphosen vergeblich und findet stattdessen die Tristia, die Epistulae ex Ponto, die Fasti und auch die Heroides (Eckstein 1887, 274), die zur Einübung grammatischer Kenntnisse und poetischer Geschmacksbildung gelesen werden sollten (Vormbaum 1860, Bd. 1, 197). Nur selten sind die Metamorphosen Schullektüre, etwa neben Justinus und Florus als »historiarum compendia«, d. h. als Quelle historischer Kenntnisse (Vormbaum 1860, 635). In der Brandenburgischen Schulordnung von 1564 wird darauf hingewiesen, dass die poetische Lektüre neben den Komödien des Terenz nur in Ausnahmefällen »ex castioribus libris Ovidii« erfolgen dürfe. Dann sei sogar die Lektüre der Metamorphosen. denkbar (ebd., 536). Für diese geringe Beachtung war möglicherweise die Kritik Quintilians (10, 1, 88) an Ovids ungeniertem Umgang mit den epischen Stoffen (»lascivos quidem in herois quoque Ovidius«) verantwortlich, der nun als moralisches malum interpretiert wurde und einen Einsatz in der Schule ausschloss. Auch im 17. Jahrhundert kam es zu keiner Änderung, und noch zu Beginn des 18. Jahrhundert wurde die Lektüre der Metamorphosen von pietistischen Pädagogen abgelehnt, nicht zuletzt wegen der erotischen Inhalte (Beims 2015, 231). Ausgewählte Passagen wurden nur gelesen, wenn sie christlich interpretierbar waren (ebd., 231). Zum Umschwung kam es dann unter dem aufstrebenden Neuhumanismus, da Johann Matthias Gesner die Metamorphosen in der von ihm 1737 verfassten Kurfürstlich Braunschweig-Lüneburgischen Schulordnung verankerte. Während die Tristia und die Epistulae ex ponto der Vermittlung der Metrik dienten, sollten die Metamorphosen »um der Mythologie willen [...] vorzunehmen seyn« (Vormbaum 1864, 390). Dafür sprachen drei Gründe: ihre umfassende literarische Rezeption, ihr historisches Bildungspotential und ihr Beitrag zum Verständnis der Gegenwart, weil »an den Höfen großer Herren und sonsten viele hundert und tausend Medaillen, Mahlereyen, Tapezereyen, Statuen und d. g. Stücke vorkommen, welche derjenige, so die Mythologie nicht verstehet, nicht auszudeuten vermag, noch, was darunter verborgen, zu urtheilen im stande ist« (ebd., 391). Die Kenntnis der Metamorphosen wurde somit durch die Bereitstellung hochkulturellen Orientierungswissens zu einem gesellschaftlichen Distinktionsmerkmal. Mit ihrer Hilfe werde sogar das nationale Ansehen gefördert, wenn die Jugend bei ihren Auslandsreisen aufgrund der Lektüre der Metamorphosen nicht mehr das in den

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_46

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VI Rezeption – A Allgemeine Aspekte

»Bilder-Galerien, Kunst-Kammern, Medaillien-Cabineten, Gärten, Schau-Spielen« übliche Unwissen zeige (ebd., 391). Auf dieser programmatischen Grundlage fanden die Metamorphosen im 19. Jahrhundert den Weg in die fachdidaktische Literatur, in die Lehrpläne und auch in die Schulen. Dabei entwickelte sich allmählich ein didaktisches Argumentationsmuster. Die Metamorphosen fanden in Preußen ihren curricularen Platz als poetische Elementarlektüre und Aeneis-Propädeutikum in der Unter- und Obertertia des Gymnasiums (8./9. Jahrgang) bzw. der Unter- und Obersekunda des Realgymnasiums (10./11. Jahrgang). Sie mussten somit von Schülern bewältigt werden, die nur über geringe Erfahrungen mit poetischen Texten verfügten. Dabei wurde beklagt, dass Schüler und Lehrer die Lektüre Caesars dem Ovid vorzögen (Ihm 1884, 335), da die einen Ovids literarische Qualitäten nicht würdigen könnten und den anderen der Text zu wenig für die Grammatik abwerfe (ebd., 336–337). Auch dass Ovid »seinen Stoffen gegenüber ethisch nicht besonders engagiert« auftrete, sei nicht vorteilhaft (ebd., 337). Die Folge sei eine »auf Gegenseitigkeit beruhende Langeweile« (ebd., 336–337). Daher wurde eine Anpassung der Lektüreziele an die Leistungsfähigkeit der Schülerschaft gefordert, die den Charakter einer poetischen Elementarlektüre hat: »1. Erlernung der Gesetze des Hexameters. 2. Einführung in die poetische Sprache. 3. Bildung des Geschmackes. 4. Vertiefung und Erweiterung der Kenntnisse in der Sagengeschichte« (ebd., 338). Der Vermittlung mythologischer Kenntnisse wird auch weiterhin eine wichtige Rolle zugewiesen, und zwar als »Fundgrube [...], wie sie ergiebiger kein anderer Prosaiker und Dichter dem Schüler bietet« (Egen 1894, 817). Die Metamorphosen fungieren auch als »Ergänzung der Geschichte«, da die Mythologie »das Allgemeine reiner zum Ausdruck als diese« bringe und »menschengeschichtliche Verhältnisse« (Dettweiler 1906, 128–129) vermittle. Zusätzlich wird das kulturelle Bildungspotential der Metamorphosen betont, das z. B. beim Museumsbesuch wirksam werde (ebd., 129). Im neuhumanistischen Sinne soll der menschliche Gehalt der Metamorphosen Beachtung finden, um »die Teilnahme und das Interesse der Schüler zu erregen, [...] wenn die Stücke [...] ihnen sympathisch sind und sie womöglich heimatlich anmuten« (ebd., 129). Die Texte sollen dabei strikt gegenwartsbezogen und im Sinne politisch determinierter Bildungsziele interpretiert werden, so z. B. die Geschichte von Perseus und Andromeda als nachahmenswertes Beispiel für »Heldentum, Aufopferung für das Wohl der Gesamt-

heit und Einsetzung des Lebens zur Linderung fremder Not« (ebd., 130). Dabei steht nicht der literarische Text als solcher im Vordergrund: Hauptsache sollen die emotional wirksamen »Lebensbilder selbst sein: Mutter mit unmündigen Kindlein, Vater und Sohn, ein liebendes Paar« (Frick 1884, 263). Auf dieser Grundlage kam es dann zur Bildung eines bis in die Gegenwart stabilen Textkanons. Die Elementarisierung des Stoffes wurde dadurch erleichtert, dass die Metamorphosen als didaktisch vorteilhafte »Kette von kleinen epischen Gedichten« (Naegelsbach 1862, 131) verstanden wurden. Folgende Passagen sollten den Kern der Lektüre bilden: »Dädalus und Ikarus [...] Philemon und Baucis [...] Midas [...] Die lykischen Bauern [...] Orpheus und Eurydike [...]Perseus und Andromeda [...] Die Sintflut. Deukalion und Pyrrha [...] Kadmos gründet Theben [...] Phaeton [...] Niobe [...] Die Schöpfung aus dem Chaos und die vier Weltalter [...] die Apotheose Cäsars.« (Dettweiler 1906, 129–130). Diese gegenwartsbezogene Strategie erwies sich als so erfolgreich, dass Dettweiler vermelden konnte: »Ovids Metamorphosen werden überall gelesen« (ebd., 128), während Tristien und Elegien nur noch als Ergänzung zu den Metamorphosen vorgeschlagen (ebd., 131) und in den preußischen Lehrplänen von 1892 und 1901 nicht genannt wurden. Diese Monopolstellung wurde unter dem Einfluss der kulturkundlich ausgerichteten Lehrpläne von 1925 beendet. Nun sollten in der Untersekunda (nur noch zur Abwechslung) »Ovids Fasten und andre elegische Dichtungen, auch die eine oder andre Erzählung der Metamorphosen« gelesen werden (Richtlinien 1925, 423). Während die Fasten immerhin als Ergänzung zur Liviuslektüre Verwendung finden sollten, wurden die Metamorphosen deutlich kritischer als gewohnt eingestuft, da ihr »Vokabelreichtum den Tertianer oft zu einer Freude nicht kommen« ließ und sich nur wenige »wahrhaft jugendliche«, d. h. moralisch unverdächtige Stoffe fänden (Kranz 1926, 103). Diese Tendenz setzte sich in den nationalsozialistischen Lehrplänen von 1938 fort. Dort sucht man die Metamorphosen vergeblich, da Ovid zugunsten von Autoren wie Vergil und Horaz dekanonisiert wurde, durch welche man die rassisch determinierten Bildungsziele besser zu erreichen glaubte. In der Bundesrepublik knüpfte man dann wieder an die prägende Rolle der Metamorphosen an. Zwar blieb Max Krüger (Krüger/Hornig 1963, 175) auch weiterhin skeptisch gegenüber der Eignung der Metamorphosen, gleichwohl konnten sie sich wieder als verbindliche Lektüre im 10. Jahrgang etablieren (Kipf 2006, 132), ergänzt durch Tristien und Fasten

46  Ovid im Schulunterricht

(ebd., 144). Obwohl Ende der 1970er Jahre die Ars amatoria als Schultext entdeckt wurde, den man nun nicht mehr als moralisch ungeeignet, sondern als motivierend und lebensnah einstufte, änderte sich nach 1970 nichts an der Vorrangstellung der Metamorphosen. Von 1978 bis 2018 wurden allein 19 Schultexte zu den Metamorphosen vorgelegt, wobei sich der dabei verwendete Kanon im Kern am Stand des 19. Jahrhunderts orientiert. Wie schon im 18. Jahrhundert erhält die Lektüre ihre didaktische Relevanz, indem sie auf die Gegenwart bezogen wird und dadurch zur (vermeintlichen) Befriedigung gesellschaftlich akzeptierter Erwartungen an den Lateinunterricht dient. Im Fall der Metamorphosen bleibt dies ein kulturelles Orientierungswissen, das unter dem Einfluss humanistischer Bildungsideologie von allgemeinmenschlichmoralischen Bildungszielen überlagert wird. Die Erwartungen sind dementsprechend hochgesteckt: Mit den Metamorphosen könne man nichts weniger als »allgemeine Einsichten über Mensch, Welt und Gott« (Henneböhl 2007, 3) gewinnen. Literatur

Beims, Klaus Dieter: Antike Texte an christlichen Schulen. Die römischen Autoren im Lateinunterricht des Halleschen Pietismus. Halle 2015. Dettweiler, Peter: Didaktik und Methodik des lateinischen Unterrichts. München 21906. Eckstein, Friedrich August: Lateinischer und griechischer Unterricht. Leipzig 1887. Egen, Alfons: Zur Lektüre Ovids. In: Gymnasium 12/23 (1894), 815–818. Erasmus von Rotterdam: De ratione studii ac legendi interpretandique auctores, 1511. In: Opera omnia. Hrsg. von Jean-Claude Margolin. Amsterdam 1971, I. Bd. 2, 79–151. Frick, Otto: Mitteilungen aus der Praxis des seminarium praeceptorum an den Franckeschen Stiftungen zu Halle IV. Die Ovid-Lektüre in Tertia. In: Zeitschrift für Gymnasialwesen 38 (N. F. 18) (1884), 257–268.

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Fuhrmann, Manfred: Das Grundbuch der Mythen. Gerhard Fink hat die ›Metamorphosen‹ neu übersetzt. In: Ders., Europa fremd gewordene Fundamente. Zürich 1995, 54–63. Fuhrmann, Manfred: Latein und Europa. Geschichte des gelehrten Unterrichts in Deutschland von Karl dem Großen bis Wilhelm II. Köln 2001. Henneböhl, Rudolf: Ovid, ›Metamorphosen‹. Bad Driburg 22007. Ihm, Georg: Die Ovidlektüre auf dem Gymnasium. In: Gymnasium 3/10 (1885), 335–344. Kipf, Stefan: Altsprachlicher Unterricht in der Bundesrepublik Deutschland. Historische Entwicklung, didaktische Konzepte und methodische Grundfragen von der Nachkriegszeit bis zum Ende des 20. Jahrhunderts. Bamberg 2006 (Nachdruck: Heidelberg 2020). Kranz, Walter: Die Neuen Richtlinien für den lateinischgriechischen Unterricht am Gymnasium. Berlin 1926. Krüger, Max/Hornig, Georg: Methodik des altsprachlichen Unterrichts. Frankfurt a. M. 21963. Naegelsbach, Karl Friedrich von: Gymnasialpädagogik. Erlangen 1862. Paulsen, Friedrich: Geschichte des gelehrten Unterrichts. Berlin 31919. Bd. 1. Richtlinien für die Lehrpläne der höheren Schulen Preußens. In: Beilage zum Centralblatt für die gesammte Unterrichtsverwaltung, Heft 8. Berlin 1925. Sabinus, Georgius: Metamorphosis seu Fabula Poeticae. Earumque Interpretatio Ethica, Physica et Historica. Wittenberg 1555. Schmitzer, Ulrich: Ovids Verwandlungen verteutscht: Übersetzungen der seit dem Mittelalter und der Frühen Neuzeit bis zum Ende des 20.Jahrhunderts. In: Josefine Kitzbichler, Ulrike C. A. Stephan (Hrsg.): Studien zur Praxis der Übersetzung antiker Literatur. Geschichte – Analysen – Kritik. Berlin 2016, 133–245. Volk, Katharina: Ovid. Dichter des Exils. Darmstadt 2012. Vormbaum, Reinhold (Hrsg.): Evangelische Schulordnungen. Gütersloh 1860. Bd. 1, 16. Jhd. (1863). Bd. 2, 17. Jh. (1864). Bd. 3, 18. Jh.

Stefan Kipf

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VI Rezeption – A Allgemeine Aspekte

47 Ovid in Wissenschaft, Enzyklopädien und Ratgeberliteratur 47.1 Einleitung Ovids reiche Rezeptionsgeschichte ist heute ihrerseits ein überaus beliebter Untersuchungsgegenstand (Miller 2014), nicht nur aus der Perspektive Moderner Philologien, Kunstwissenschaften oder der Komparatistik (Ziolkowski 2005), sondern auch in der Klassischen Philologie selbst. Sicherlich hat die wissenschaftliche Beschäftigung mit Ovid unter anderem vom vermehrten Interesse an und verstärkter Reflexion über Rezeptions- und Transformationsphänomene insgesamt profitiert. Damit wären wir bereits mitten in der wissenschaftsgeschichtlichen Betrachtung der Ovid-Rezeption, die hier im Zentrum stehen soll: Es geht nicht um die literarische Rezeption oder um künstlerische Rezeptionen in anderen Medien, sondern erstens um die Aufnahme Ovids in den Wissenschaften und zweitens um die Weitergabe des Wissens über Ovid und aus Ovid sowie um die Formen der Präsentation. Untersuchungen zu dieser Art von Rezeption sind in der Forschung bisher eher selten gesondert unternommen worden (bei Miller 2014 überhaupt nicht, in den rezeptionsgeschichtlichen Beiträgen zu Ovid in Der Neue Pauly – Schmitzer/Vischer/Hexter 2010 und Simonis 2013 – nicht separat, und ansonsten unter Überlieferungs- und Textgeschichte, s. Richmond 2002 und Landfester 2007; s. aber Knox 2009, 311– 393; zu Forschungsberichten s. u.). Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Ovid ist eine Form, in der das Wissen über Ovid und seine Werke (re-)konstruiert und transportiert wird und die sich zumeist an Spezialisten richtet. An ein schon breiteres Publikum wenden sich Enzyklopädien und verwandte Formen der Wissensvermittlung, welche die Inhalte in geordneter und knapper Form präsentieren; sie bewegen sich zwischen den Polen von Didaktik und Wissenschaftstheorie, von Wissenspopularisierung und Wissensfunktionalisierung. Enzyklopädien sind ein Leitmedium neuzeitlicher Wissenskultur geworden (s. Gierl 2006). Eine dritte Form, in der sich Ovid-Wissen präsentiert, diesmal weniger über ihn als vielmehr aus seinem Werk selbst, ist die Ratgeberliteratur, in der der magister Naso Tipps in Liebesangelegenheiten gibt, die vor allem aus der Ars amatoria und den Remedia amoris genommen wer-

den. Nicht nur werden Auszüge aus Ovid in entsprechenden Publikationen dargeboten, Ovid selbst wird gar zum »Vater aller Ratgeberliteratur« erklärt (Bauer 2017). Um der langen Rezeptionsgeschichte Ovids gerecht zu werden, die in der Antike begann, werden ›Wissenschaft‹, ›Enzyklopädie‹ und ›Ratgeberliteratur‹ auch in ihren Formen ante litteram verwendet, ohne dabei freilich die historischen Begriffsverschiebungen außer Acht zu lassen. Der Frage, inwieweit Ovid die Rezeption selbst gesteuert hat und inwieweit diese Formen der Rezeption in seinem Werk selbst angelegt sind, soll auch nachgegangen werden. Die Metamorphosen etwa haben Enzyklopädisches an und in sich und können daher wunderbar als Quelle für andere Enzyklopädien und Lexika dienen. Die verschiedenen Schriften zur Liebe lassen sich in ihrer Gesamtheit durchaus als Ovids Enzyklopädie zum Thema bezeichnen (s. etwa Stroh 2001). Ovid bietet also sowohl eine erotische wie mythologische Enzyklopädie im weiteren Wortsinn – als Enzyklopädie im engeren Sinn hätte Ovid seine Werke sicherlich nicht verstanden wissen wollen. In der Ars amatoria bezeichnet Ovid seine Ich-persona als Liebescoach (ars 1, 7, 17: ego sum praeceptor amoris) und zweimal an exponierter Stelle als Lehrer (ars 2.744; ars 3.812: Naso magister erat), so dass es nicht verwundert, dass die praktische Anwendbarkeit seiner didaktischen Poesie, seine Erotodidaxe (Wildberger 1998), beim Wort genommen wird und er als Ratgeber in Liebesangelegenheiten dient (Weeber 1999, Higgins 2007, Weeber 2017). Von Lehrdichtung ist es eben nicht weit zur Ratge­ berliteratur. Der Handbuchartikel befindet sich freilich selbst in dem von ihm untersuchten Bereich der wissenschaftlichen Ovid-Rezeption wieder und kann die vollständige Objektivität, wie sie von wissenschaftlichen Beobachtern bei der Untersuchung von Rezeptions- und Transformationsprozessen gefordert wird, nicht gewährleisten (s. dazu die Schlussbemerkung). Dass das Ansehen Ovids insgesamt und auch (bzw. gerade) in der Wissenschaft nicht immer sehr hoch war, wird beim geschichtlichen Rückblick sehr deutlich. Da das Œuvre Ovids sehr facettenreich ist, haben die einzelnen Werke auch eine unterschiedliche Rezeptionsgeschichte, was hier nur angedeutet werden kann.

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_47

47  Ovid in Wissenschaft, Enzyklopädien und Ratgeberliteratur

47.2 Zeitlicher Abriss Antike Ovid wurde nicht nur von Anfang an in produktiven Prozessen der künstlerischen Rezeption verarbeitet, sondern auch sachlich und sprachlich diskutiert. Die antike Literaturkritik ist eher skeptisch: Seneca d. J. bezeichnete ihn zwar anerkennend als ille poetarum ingeniosissimus (»jener Geistreichste der Dichter«, nat. 3, 27, 13), kritisiert aber seinen Stil, ähnlich wie Quintilian (inst. 4, 1, 77; 10, 1, 98; Anderson 1995). Der Rhetorikprofessor des ersten nachchristlichen Jahrhunderts wirft dem Dichter Selbstverliebtheit und Verspieltheit vor (ein Urteil, das sich perpetuiert) und schätzt nur Ovids verlorene Tragödie Medea (inst. 10, 1, 88). Bei Aulus Gellius, dessen Noctes Atticae man als eine Unterform der Enzyklopädie fassen kann, ist Ovid bemerkenswerterweise nicht explizit erwähnt. Doch Plinius in seiner Naturalis historia führt ihn als Autorität in naturwissenschaftlichen Fragen an. Vibius Sequester (4./5. Jhd. n. Chr.) nutzt Ovid (neben Vergil und Lukan) für seine alphabetische Auflistung in einer Art geographischen Lexikons (De fluminibus fontibus lacubus nemoribus paludibus montibus gentibus). In der ausgehenden Spätantike findet Ovid Eingang in enzyklopädisch angelegte Werke wie die Etymologiae (oder Origines) des Isidor von Sevilla. Auch mythographische Werke, etwa die Mythologiarum libri des Fulgentius, nutzen Ovid als Quelle. Von antiken Kommentaren oder Scholien zu Ovid haben wir nur spärliche Spuren, wie die Narrationes Ovidianarum fabularum (4. oder 6. Jhd. n. Chr.) oder die mittelalterlichen Scholia zum Ibis, welche antike Kommentierungen aufnehmen. Ein abschließendes Bild zur wissenschaftlichen Behandlung Ovids in der Antike können wir uns aufgrund des ungünstigen Überlieferungsstandes nicht machen. So sind auch sachliche Auseinandersetzungen mit Ovids Biographie, etwa in Suetons De poetis, verloren. Doch im Vergleich zu etwa Vergil war das Interesse und die Akzeptanz Ovids in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung zweifelsohne deutlich geringer. Mittelalter Nach einem Bemühen um die antiken Texte in der sogenannten Karolingischen Renaissance, welches auch ein erstes neues Interesse an Ovid bewirkte, wird der Dichter aus Sulmo erst in der sogenannten aetas Ovidiana des 12. und 13. Jahrhunderts (Traube 1911, 113) nachweislich wieder verstärkt zu einem Schul-

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autor und Wissensvermittler und somit auch zum Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzung, vor allem durch Abschriften und Kommentare. Die accessus – formelle Einleitungen zum Autor und Werk, die den Kommentaren vorgeschaltet sind, – geben Aufschluss über die Interpretationsrichtung. Im Mittelalter herrscht die allegorische Exegese vor, die schon mit Fulgentius begonnen hatte und den Werken auch mythographische Natur verleiht: so in Arnulfs Allegoriae super Ovidii Metamorphosin (ca. 1175), im anonymen französischen Ovide moralisé (Anfang 14. Jhd.), der nicht nur die Metamorphosen paraphrasiert, sondern auch die Heroides an passenden Stellen hineininterpoliert, und im Ovidius moralizatus des Pierre Berçuire (Mitte des 14. Jhds.). Es ist vor allem der allegorisch verwandelte Ovid, der Akzeptanz erfährt (Ovidius christianus). Alle Werke Ovids, wie die der anderen antiken Autoren auch, werden zur Quelle für Information, im Falle Ovids vor allem zur Mythologie. Die Metamorphosen erreichen als umfassende Quelle zur antiken Mythologie im Mittelalter den Status einer Bibel (s. Munari 1960, 23; Wheeler 2013). Florilegien und enzyklopädische Werke (welche wiederum selbst auf Florilegien zurückgreifen) bilden nicht selten einen Zwischenschritt zur Verwendung Ovids auch zu wissenschaftlich-fachlichen Zwecken: Wie schon Isidor von Sevilla, so führt auch Rabanus Maurus (9. Jhd.) Ovid-Zitate aus den Metamorphosen und den Fasti in seinen enzyklopädischen und theologischen Schriften an. Vincent von Beauvais (etwa 1260) zitiert in seinem enzyklopädischen Werk Ovid häufiger als alle anderen Autoren. Ovid besitzt zudem nicht nur Weisheit in Liebesangelegenheiten, vielmehr werden die Remedia amoris auch medizinisch gelesen (Ovidius medicus). Dabei darf nicht vergessen werden, dass Ovid sich selbst in den Remedia amoris nicht nur als amator und praeceptor amoris, sondern eben auch als Doktor und Heiler stilisiert und dass er hier wie auch in den Medicamina faciei femineae Fachliteratur verarbeitete. Insgesamt ist die naturwissenschaftliche Rezeption Ovids im Mittelalter bemerkenswert, die Ovids dichterische Verarbeitung seiner Quellen gleichsam wieder umkehrt und das Wissen herausdestilliert. Das wird sich auch im Humanismus fortsetzen. Neuzeit Die Humanisten sahen neben ihrer Erklärerfunktion in den Kommentaren auch eine Form, ihr Wissen auf den Bereichen der antiken Rhetorik, Grammatik und

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VI Rezeption – A Allgemeine Aspekte

Geschichte ebenso wie der Mythologie zu zeigen. Der einflussreiche Kommentar des Raffaele Regio zu den Metamorphosen von 1493 hebt in seiner praefatio (Vorrede) nicht nur die stilistischen Leistungen Ovids hervor, sondern vor allem, dass Ovids Werk inhaltlich gleichsam als propädeutische Enzyklopädie dienen kann: als Wissensvermittler zu Geographie, Astrologie, Musik, Rhetorik, Moral- und Naturphilosophie eröffne es Zugang zu allen Disziplinen. So verwundert es nicht, dass Ovids Expertise in anderen, auch bzw. gerade nicht-philologischen Disziplinen angesehen war und seine Werke als Wissensschatz verwendet wurden. Georg Sabinus bezeichnet daher die Metamorphosen in seiner interpretatio von 1555 (die lange fälschlicherweise Philipp Melanchthon zugeschrieben wurde) als Enzyklopädie der Kenntnisse, als thesaurus eruditionis, für Geschichte, Moralphilosophie, Geographie, Astronomie und Naturkunde. Gerade aus mythologischen und ikonologischen Handbüchern ist Ovid nicht wegzudenken, bis heute. Die kommentierte Ovid-Ausgabe des Nicolaus Heinsius von 1652 (2. Auflage 1658–1661 und zahlreiche Neuauflagen) markiert einen neuen Standard, gerade auch für die Textkonstitution. Sie blieb bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts die dominierende Ausgabe (Landfester 2007). Das späte 18., 19. und beginnende 20. Jahrhundert konnte Ovid nichts abgewinnen, in allen Belangen, ethisch wie ästhetisch. Vor allem in Deutschland hatte der Klassizismus zur Konzentration auf die Griechen und zur Abwertung der Römer geführt, was aber Ovids Stellung als Mittler der Mythologie und als früher Autor innerhalb der Schullektüre keinen Abbruch tat. Natürlich wird er in Enzyklopädien, die seit dem 18. Jahrhundert in Form von Sachwörterbüchern als Universal- oder Konversationslexikon auftreten, dargestellt und seine Bedeutung betont, in der Wertung ist man aber zurückhaltend bis kritisch (s. etwa in verschiedenen Auflagen der Allgemeinen deutschen RealEncyclopädie für die gebildeten Stände im BrockhausVerlag), auch in der Philologie selbst (s. noch Schanz/ Hosius 1935, 206–264). Die Philologie konzentrierte sich, anders als bei Vergil und Horaz, welche von der Spezialisierung der Klassischen Philologie im 19. Jahrhundert und vom Kommentarboom dieser Zeit profitierten, mehr auf die Edition als auf die Kommentierung, welche häufig über paraphrasierende Erklärungen nicht hinauskam. Franz Bömers siebenbändige Erklärungen zu den Metamorphosen (1969–1986) sind Spätausläufer der enzyklopädischen Tendenzen. Es dauerte bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts,

dass Ovid literaturwissenschaftlich interpretiert und gewürdigt und auch entsprechend erklärt wurde. Ovid im 20. Jahrhundert, in (Post-)Postmoderne und Gegenwart In den 1910er bis 1930er Jahren kam es zu einem OvidRevival bei Künstlern und Intellektuellen. Einen Umschwung in der disziplinär-wissenschaftlichen OvidKritik löste aber erst Hermann Fränkels Buch Ovid. A Poet between Two Worlds von 1945 aus, das 1970 auf Deutsch erschien. Seit den ausgehenden1960er Jahren (1968 erschien ein Band zu Ovid in der Reihe »Wege zur Forschung«, 1969 der erste Band von Franz Bömers Metamorphosen-Kommentar), spätestens aber seit den 1980er Jahren ist endgültig eine wissenschaftliche Rehabilitation Ovids zu konstatieren, die bisweilen als neue aetas Ovidiana bezeichnet wird (Janka 2007). Sie vollzog sich – wohl nicht zufällig – zeitgleich mit der produktiven künstlerischen Rezeption Ovids einerseits (etwa in Christoph Ransmayrs Die letzte Welt von 1988) sowie mit einem neuen Verständnis von Rezeption andererseits, ja mit einer neuen Methoden- und Theoriereflexion in den Literaturwissenschaften an sich. Auch die neuen Kommentare zeugen davon, vor allem aber die Interpretationen: Viele Ansätze lassen sich nicht nur an Ovid erproben, sondern seine Dichtung bietet sich nachgerade selbst an und lehrt die Philologie, über bestimmte Themen und Methoden nachzudenken: Intertextualität und Gattungen (s. Casali 2009 mit Verweisen auf Conte 1974 und weitere Literatur; Farrell 2009 mit weiterer Literatur), Sexualität und Gender (Keith 2009 mit weiterer Literatur), Selbstreflexion und Thematisierung der Textlich- und Künstlichkeit (mit oder ohne neu-formalistischen Vorzeichen; s. etwa Rosati 1979), Narratologie (s. exemplarisch für die Metamorphosen Rosati 2002 mit weiterer Literatur sowie Barchiesi 2011) und eben Rezeption u. v. m. Die Metamorphosen, Fasti und Heroides und dann auch die liebeselegische und -didaktische Poesie wurden in neuem Lichte interpretiert und geschätzt. In der OvidForschung und anhand von Ovid findet eine starke Methodenreflexion der Disziplin statt (Spentzou 2009, Schwindt 2016, Rimell 2019). Ovid ist (post-)modern oder lässt sich modern machen und als Vorreiter für zentrale Themen des Daseins und ihre künstlerische Umsetzung interpretieren, etwa als Archetyp der Exilliteratur, als der er nunmehr nicht nur in der künstlerischen Rezeption wahrgenommen, sondern als der er jetzt ebenfalls in der Philologie analysiert und interpretiert wird.

47  Ovid in Wissenschaft, Enzyklopädien und Ratgeberliteratur

Die Popularität Ovids auch in der Wissenschaft schlägt sich in der explodierten Forschungsliteratur nieder, welche wiederum Überblicksdarstellungen nötig machen (Myers 1999; Schmitzer 2002–2003, 2007). Diverse Companions, Sammelbände und Einführungen zu Ovid und auch zur Ovid-Rezeption zeugen vom anhaltenden Interesse am Dichter und von der Notwendigkeit, aktuelles Forschungswissen kompakt zu präsentieren (Holzberg 1997; 2007, Schmitzer 2001, Hardie 2002, Boyd 2002, von Albrecht 2003, Knox 2009). Der Ovid-Boom, potenziert durch den 2000. Todesjahr des Dichters 2017, hält an und führt auch dazu, dem Interesse einer breiteren Leserschaft entgegenzukommen. Die komprimierte und schnell zugängliche Form wird von den Verlagen für die Vermarktung bevorzugt (Möller 2016; Janka 2017). Neuübersetzungen von profilierten Ovidforschern (etwa Michael von Albrecht, Niklas Holzberg und Markus Janka) antworten ebenso auf einen Bedarf, Ovid in vermittelter Form zugänglich zu machen. Die Geschichte der Ovid-Übersetzungen als ein Teilbereich der – sowohl künstlerischen aber auch wissenschaftlichen – Ovid-Rezeption beginnt in der Forschung Berücksichtigung zu finden (s. Schmitzer 2016). Ratgeberliteratur entspricht ebenfalls dem Zeitgeist, wie aus deren Marktanteil abzulesen ist – und Ovid mischt mit seinen ›Flirttipps‹ munter mit (s. o.), von den antiken Autoren etwa vergleichbar mit der Präsenz Senecas, der mit seinen philosophischen Schriften als Ratgeber von Lebensweisheiten dient. Popularisierung und Spezialisierung verlaufen nebeneinander. Jeder Wechsel des Trägermediums bewirkt auch eine veränderte Rezeption und Wissenspräsentation: nach Handschrift und Buchdruck nun Internet, E-Books und Blogs. Der Neue Pauly ist als Online-Ressource verfügbar, wird aber sicherlich nicht die breite Leserschaft finden wie Wikipedia, wo der Hauptartikel Ovid momentan in 122 Sprachen präsent ist, in unterschiedlicher Qualität. In der künstlerischen Rezeption hat man von trivialisierenden Tendenzen in der unmittelbaren Gegenwart gesprochen (Ziolkowski 2005, 225). Stand und die Qualität der Ovid-Rezeption in Wissenschaft und Enzyklopädie können nur später objektiv(er) beurteilt werden. Literatur

Albrecht, Michael von: Ovid. Eine Einführung. Stuttgart 2003. Anderson, William S.: First-century Criticism on Ovid: The Senecas and Quintilian. In: Ders: The Classical Heritage. New York/London 1995, 1–10.

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VI Rezeption – A Allgemeine Aspekte

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Nina Mindt

B Erotische Dichtung, Heroides, Exildichtung 48 Die erotische Dichtung in der Literatur Ovid war zur Hochzeit seines Schaffens in Rom ein bekannter, in den öffentlichen Bibliotheken vertretener Dichter, der sich seiner Stellung in der zeitgenössischen Literatur bewusst war. Doch er sann darauf, nicht nur im Rom seiner Gegenwart, sondern auch in der Zukunft gelesen zu werden. Sein Name sei unzerstörbar, »so weit sich die römische Macht über den unterworfenen Erdkreis erstreckt« (met. 15, 877). Ovids selbstbewusste Prognosen waren im Rückblick auf die Geschichte der letzten 2000 Jahre zweifellos ein Understatement.

48.1 Die Rezeptionsstationen in Antike und Mittelalter Die Ovid-Rezeption, deren Stationen im Folgenden anhand der bisherigen Forschung skizziert dargestellt werden, beginnt bei ihm selbst. In seinen Werken von der späteren Ausgabe der Amores über die Liebeskunst und Remedia bis zu den Exil-Dichtungen reflektiert Ovid seine Poetik und Genreinnovationen und ordnet sich in die antike Literaturgeschichte ein (Frings 2005; Myers 2014). Nach seinem Tod lässt sich der Einfluss des Liebesdichters auf eine breite Leserschaft an Wandinschriften aus Pompeji und der Epigraphik ablesen (Albrecht 2003, 279; Knox 2014). Ovid habe, so Seneca der Ältere, den Liebenden geflügelte Worte hinterlassen (Contr. 3, 7). Wie sehr Ovid den mündlichen Liebesdiskurs im Römischen Reich prägte, lässt sich freilich nicht mehr nachvollziehen. Zweifellos aber wurde Ovid zu einem Referenzautor, wie für ihn die Griechen und seine Vorgänger in der römischen Liebeselegie Referenzautoren gewesen waren. Seine Verskunst wurde stilbildend (Kenney 2002, 59–60; Dewar 2002, 386 ff.), seine Ausdrucksschärfe, Plastizität und

diskontinuierliche Art der Narration erschienen vorbildlich (Gagliardi 1972, 8 f.). Ovids sämtliche Literaturgattungen verknüpfenden Werke boten formal und inhaltlich vielseitige Inspiration sowie Anlass für Einfügungen und Ergänzungen. Auch neue Texte unter seinem Namen entstanden, die sogenannten PseudoOvidiana, (Tarrant 2002). So unterschiedliche Autoren wie Seneca, Lucan, Juvenal, Statius und Apuleius orientierten sich an den rhetorischen Strategien, an Metrik, Stil und Motiven aus Ovids Liebesdichtungen (Tarrant 1978, Dewar 2002, Wheeler 2002, McNelis 2009, Harrison 2014, Rosati 2014). Auch im griechischsprachigen Osten des Römischen Reichs, vor allem in Ägypten, scheint Ovid rezipiert worden zu sein (Fisher 2011). Zwar standen die Metamorphosen im Zentrum der Rezeption, aber auch die erotischen Dichtungen wirkten fort. Statius’ Silvae 1–2 etwa erzählt unter Einbeziehung elegischer Motive von der Hochzeit von Stella und Violentilla, auf der Ovid und seine elegischen Kollegen ein Ständchen singen (1–2, 251–22; McNelis 2009, 398). Insbesondere bei Martial wirken Ovids erotische Dichtungen fort (Zingerle 1877, Siedschlag 1972, Szelest 1999, Kenney 2002, Williams 2002, Janka 2006, Hinds 2007, Holzberg 2007). Kritische Anspielungen auf Ovid als Liebesdichter finden sich bei Dracontius (Bouquet 1982), in Prudentius’ Hamartigenia, in der patristischen Epigrammatik (Epigramma Paulini), den spirituellen Elegien von Venantius Fortunatus oder Maximianus, in Claudians Beschreibung der Prozession des Kaisers Honorius durch Rom (Dewar 2002, 409 ff.) und im Commonitorium des Orientius, das die Liebeskunst und Remedia adaptiert, um Begehren zu überwinden und christliche Keuschheit einzuüben (Vessey 1999). Diese Quellen sind Belege dafür, dass die Rezeption der erotischen Dichtungen bis in die Spätantike des 6. Jahrhunderts nicht abbrach (Fielding 2014, 105 ff.). Gleichwohl wurde Ovid zunächst nicht so intensiv studiert wie Vergil, dessen Aeneis schon kommentiert wurde. Kommentare zu Ovids erotischen Dichtungen aus der Antike sind uns dagegen nicht bekannt. Auch

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_48

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VI Rezeption – B Erotische Dichtung, Heroides, Exildichtung

bleibt die Ovid-Überlieferung zwischen später Antike und karolingischer Renaissance weitgehend im Dunkeln. Papyri sind nicht erhalten, die frühesten Handschriften datieren auf das 9. Jahrhundert, aus dem sich die erste teils lateinisch, teils altwalisisch kommentierte Ausgabe der Liebeskunst, St. Dunstan’s Classbook genannt, aus Britannien erhalten hat (Knox 2009). Sie lässt darauf schließen, dass schon im 9. und 10. Jahrhundert die Liebeskunst als Schullektüre für Lateinschüler eingesetzt wurde, wie auch Handschriften aus Sankt Gallen vor dem 11. Jahrhundert belegen (Clark 2011, 7). Danach erschienen weitere glossierte Ausgaben mit Hinweisen zu Grammatik und Vokabular sowie inhaltlichen Erläuterungen (Hexter 2006, 305– 306). Ovids erotische Texte fanden sich vermehrt seit Mitte des 11. Jahrhunderts in den Klosterbibliotheken, auch in Britannien (Clark 2011). Es wird nicht ersichtlich, warum gerade die skandalträchtige Liebeskunst zur maßgeblichen Schullektüre wurde. Erotodidaktische Absichten dürften weitgehend gefehlt haben (Hexter 2006, 314–315). Man kann in jedem Fall eine kulturgeschichtliche Ironie darin erkennen, dass nach dem Ende der Antike ausgerechnet von der lateinischen Schulbank und den christlichen Klöstern die Erotisierung der europäischen Dichtung ausging. Ihre Folgen lassen sich ab dem späten 11. und frühen 12. Jahrhundert genauer rekonstruieren, als Konrad von Hirsau und geistliche Dichter der Loire-Schule wie Balderich von Bourgueil, Marbod von Rennes oder Hildebert von Lavardin anfingen, Ovid zu kommentieren. Dann nämlich setzt fast schlagartig eine neue Aufmerksamkeit für den römischen Liebesdichter ein. Das beispiellose »auf Ovid zentrierte [...] Beziehungsgeflecht«, das nach Hans Blumenberg die europäische Phantasie bilde (1979, 383), geht vor allem auf seine Rezeption im Hochmittelalter zurück, in dem Ovid ausgehend vom nördlichen Italien und Frankreich und seiner Verbreitung in den Benediktinerklöstern zu dem stilbildenden lateinischen Schulautor avancierte und auch an Universitäten und unter Dichtern der Vernakularsprachen, also der nicht-lateinischen, nicht-standardisierten Regionalsprachen, rezipiert wurde. Ovids Einfluss ging so weit, dass in Bezug auf das 12. und 13. Jahrhundert von der aetas Ovidiana, dem Ovidischen Zeitalter, gesprochen wird (Traube 1911, 113). Insbesondere die Liebesdichtungen, deren Rezeption inklusive der Heroides bereits in der karolingischen Renaissance begann, zeitigen in dieser Hochzeit des Ovidianismus eine in ganz Europa bis weit in die Renaissance anhaltende Wirkung (Desmod 2014). Die Liebeskunst insbesondere war La-

teinkursmaterial ebenso wie kanonisches Lehrbuch der Liebe und höfischen Sitten, während man die Remedia, die fast immer mit der Liebeskunst zusammen rezipiert wurden, als Kompendium zur Triebregulation las, das als Quelle für Liebestherapien galt (Hexter 2006, 299). Selbst die unbekannteren Medicamina faciei femineae inspirierten Traktate zu diversen Heilmitteln (Hexter 2011, 301–302). Die mittelalterliche Literatur imitierte, alludierte, korrigierte, persiflierte Ovid und verhandelte an seinen erotischen Schriften das Geschlechterverhältnis und die Autorität im Erotischen. Zudem entstanden viele lateinische und vulgärsprachliche Glossen und Marginalien zu seinem Werk (Knox 2009, 329 ff.). Das Spektrum der Ovid-Rezeption allein in der Schullektüre reichte von Zusammenfassungen in Prosa über Abrisse und Auszüge zu mehr oder weniger moralisierenden, philologischen bis allegorischen Kommentaren (Fumo 2014, 115; s. Kap. 46 und 85). Ovid war eine philosophische Autorität, galt als Liebesexperte, Naturphilosoph und ethischer Lehrer (Huygens 1970; Rand 1925, 131 ff.; Wilkinson 1955, 366 ff.). Seine Amores (im Mittelalter meist ohne Titel ediert), Ars und Remedia befriedigten die beiden von Horaz geprägten Grundbedürfnisse mittelalterlicher Leser, mit Vergnügen über Liebe zu lesen und stilistisch und inhaltlich dabei belehrt zu werden (Hexter 1986, 17). Ovids Liebesdichtungen, die die Ideale höfischer Liebe prägten (Liveley 2005, 113 ff.), entfalteten ihre Wirkung zuerst vom provenzalischen und nördlichen Frankreich aus (Tilliette 1994, Desmond 2011). Sie eröffneten Möglichkeiten eines Liebesdiskurses, den die Literatur Europas seit dem 12. Jahrhundert weitergeschrieben hat. Die Vorstellung, dass sich Liebe lernen und diskursiv vermitteln lasse, war verbreitet, wie viele Adaptionen von Ovids Liebeskunst zeigen, die sie erzählerisch für den höfischen Kontext anpassten (Desmond 2014, 164–165). Mit De amore fertigte um 1180 Andreas Capellanus in Nordfrankreich eine der einflussreichsten lateinischen Prosaadaptionen der Liebeskunst und Remedia an, die Ovid neu interpretiert und Personen aus der Zeitgeschichte aufnimmt, allerdings schließlich mit misogynem Einschlag für Keuschheit statt Liebe plädiert. Gelehrte und Dichter wie Arnulf von Orléans erstellten seit dem 12. Jahrhundert teils kommentierte vernakularsprachliche Arts d’Aimer oder Ars d’amours, von denen noch fünf Texte aus dem 13. und 14. Jahrhundert erhalten sind (Hexter 2006, 307 ff.). Darunter finden sich Versübersetzungen, etwa von Maistre Elie, und eine Prosaübertragung. Kein geringerer als Chrétien de Troyes, auf

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dessen Versromane auch der Großteil der deutschsprachigen höfischen Epik zurückgeht, hat um 1160/70 selbst eine Übersetzung der Liebeskunst und Remedia angefertigt. Ebenfalls die provenzalische Dichtung der Troubadours und die nordfranzösische Liebesdichtung der Trouvères nehmen Ovid auf (Stapleton 1996, 65 ff.), wenngleich ihre auf Ergebenheit gegenüber der Dame und Vervollkommnung durch Liebe zielende Liebeskonzeption der täuschend-taktischen Verführungskunst der Ars widerstrebt (Schnell 1985, 152 ff.). Die Liebeskunst findet sich mit den Amores und Remedia auch in der Elegiendichtung wieder (Sabot 1982, 248 ff.). Ovids am. 1, 13 wird vermutlich zum Vorbild für das okzitanische alba (Morgenröte), dem das mittelhochdeutsche tageliet des Minnesangs entspricht (Harzer 2002, 63 ff.). Anders als das auf unüberbrückbare Distanz gründende höfische Minneverständnis setzt das Tagelied erotische Erfüllung voraus. So tritt auch wieder die elegische Figur des Wächters in der Liebesdichtung in Erscheinung (zur nicht nur europäischen Geschichte des Tagelieds s. Hatto 1965). Im Briefwechsel des berühmten Liebespaars Petrus Abaelard und Héloise aus dem frühen 12. Jahrhundert, die sich an Ovids Heroides orientieren, wird mehrfach aus der Liebeskunst zitiert, die den voneinander getrennten Liebenden Modell für die Verbindung aus erotischer Lust und Schmerz steht (Baldwin 1992, 20–21). Héloise spielt gleich in ihrem ersten Brief auf die Ars an, wenn sie bekennt, lieber Abaelards meretrix als die Gattin des Augustus sein zu wollen (Desmond 2014, 163-164). Marie de France setzt in der Lais Ovids Liebesdiskurs fort, ebenso der Roman de la Rose, den Guillaume de Lorris begann und Jean de Meun beendete. Der Text präsentiert sich selbst als eine Liebeslehre im Zeichen Ovids, auf dessen Ars amatoria bereits zu Beginn des Textes (Vers 37–38) hingewiesen wird: Ce est li Romanz de la Rose,/ Ou l’art d’Amors est tote enclose. (»Das ist der Roman von der Rose, / in dem die Kunst der Liebe ganz enthalten ist.«) Ovids goldenes Zeitalter wird als Epoche freier Liebe und Gemeingüter gepriesen, das die Ehe zerstört habe. Eine an Ovids Kupplerin aus am. 1, 8 und die Lehren aus ars 3 angelehnte »Alte« unterstützt diese Auffassung durch die These, dass damals alle Frauen und alle Männer als gleich füreinander gemacht gewesen seien (Bouché 1977; Minnis 2001; Fyler 2009, 414-415). Insgesamt lassen sich im Rosenroman an die 2000 Ovidzitate nachweisen (Albrecht 2003, 280). In Italien, wo Ovids Werke im 14. Jahrhundert zur allgemeinen Schullektüre wurden, sind Liebeskunst

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und Remedia neben den Heroides vor allem im 14. Jahrhundert vernakularsprachlich bearbeitet und kommentiert worden, so dass sie auch von illiterati, d. h. Nicht-Lateinern, rezipiert werden könnten (Lippi Bigazzi 1987; Hexter 2006, 310–311). Für Dante wird Ovid gerade wegen der Analogien als Dichter des Exils aufgrund von Liebe zu einem Vorläufer (Picone 2002; Keen 2014, Clay 2014). Andererseits grenzt der Florentiner sich zeitlebens von Ovid ab. Er zitiert in der Vita nuova Ovids Remedia als Revision der freizügigen Ars und im Convivio die Metamorphosen als Ablösung der Remedia und macht so nachvollziehbar, dass er zwar in ovidischer Tradition steht, aber in seiner Liebeskonzeption über den Römer hinausgeht (Ginsberg 2011, 146, 149). In der Divina Commedia gibt er Vergil als Lehrer den Vorzug vor Ovid, der zunächst eher still erscheint, doch im Paradiso wird Ovid zum poetischen Modell (Dimmick 2002, 276–277). Trotz zahlloser Bezüge bleibt Dante in Distanz zu Ovid, dessen Ironie vor allem in der Liebeskunst Dantes Liebesverständnis widerspricht (Ginsberg 2011, 158). Vielfache Bezüge zu Ovid gibt es auch in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters, wenngleich in ihr – anders als in Frankreich – noch keine Bearbeitungen oder Ausgaben der Liebeskunst erschienen. Die erotischen Schriften wirken seit dem 12. Jahrhundert über französische Quellen auf die Entwicklung der Minnetheorie als einer ars amandi im deutschen Sprachraum ein. Sie ist in vielem von Ovids Liebeskunst über den Bezug zu Andreas Capellanus’ De amore und pseudo-ovidianische Minnetraktate inspiriert und übernimmt ihre Lehren weitgehend (Wenzel 1974, 78  ff.). Im hochhöfischen System schließt die Minnelehre aber jede Schamlosigkeit und Gewalt aus, die Ovid in der Liebeskunst in gewissem Rahmen als zulässig vorstellt (ars 1, 663–722). Die Distanz der geliebten Dame bleibt in der hochhöfischen, anders als in der niederen Minne, gewahrt (Schnell 1985, 143 ff.). Ovids Liebesdichtungen wirken direkt oder indirekt auf Gottfried von Straßburgs Tristan, Konrad von Würzburgs Trojanerkrieg und Heinrich von Veldekes Eneasroman, ebenso wie schon auf dessen Vorbild, den französischen Roman d’Énéas. Der Einfluss Ovids ist eher über französische Bearbeitungen nachzuverfolgen, aber es gibt auch von französischen Quellen abweichende Auseinandersetzungen mit Ovids erotischen Dichtungen wie im Eneasroman, in dem Heinrich von Veldeke Ovids Lehren aufnimmt, aber auch bewusst von ihnen abweicht (Kistler 1993, 114 ff.). Ebenso haben Ovids Liebesdichtungen bereits im

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11. Jahrhundert Einfluss auf die Vagantendichtung, vor allem den Archipoeta (Hexter 2011, 297), und den Minnesang, etwa in den Tageliedern von Wolfram von Eschenbach, Heinrich von Morungen oder Walther von der Vogelweide (Harzer 2002, 62). Naso, der in Liebeskünsten glücklich beschlagene (feliciter instructus), habe gelehrt, »weise zu lieben« (sapienter amare), singt der im christlichen Mittelalter wie ein fremder Gott auftauchende Amor in den Carmina Burana (105, 34 und 37), einer Sammlung von teils lateinischen, teils vulgärsprachlichen Liedern aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, die im zweiten Teil (Lieder 56–186) vielfach Motive aus Ovids erotischen Dichtungen aufnehmen und beklagen, dass die Gegenwart verlernt habe, Ovids Liebeslehren richtig anzuwenden (Hexter 2002, 435 ff.). In Spanien war Ovid seit dem 13. Jahrhundert ebenso weitbekannt. Der Autor der Remedia galt – über Galen und arabische Denker wie Avicenna und Rhazes vermittelt – spanischen und portugiesischen Gelehrten als Liebesarzt, den Lope de Vega später den »Galen der Liebenden« nennt (Giles 2010, 4). Der Einfluss von Ovids erotischen Dichtungen in der iberischen aetas Ovidiana zeigt sich auch in der lateinischen Verssammlung Carmina Riuipullensia oder im Pamphilus de amore, einer lateinischen Elegienkomödie von etwa 1100. Die Comediae elegicae, meist in elegischen Distichen gehaltene episch-dialogische Texte, stammten aus dem Loire-Gebiet und spielten mit Ovids erotischer Dichtung (Munari 1960, 18), etwa die anonyme De nuntio sagaci, auch Ovidius puellarum genannt, die ebenfalls anonyme De tribus puellis, deren Beschreibung der Geliebten des Dichters mit der Corinnas aus den Amores spielt, oder Guillaume de Blois’ Alda über die Verführung einer Frau. Über die berühmteste, den Pamphilus de amore, wirkten die Elegienkomödien vor allem auf die iberische Literatur. Eine Kupplerin, modelliert nach am. 1, 8, tritt als Vermittlerin des liebeskranken Pamphilus und seiner Geliebten Galatea in dieser Komödie auf, als deren Autor lange Zeit Ovid galt (Sabot 1982, 246 ff.). Über den Pamphilus gewinnt Ovid Einfluss auf Juan Ruiz’ Libro de buen amor, Fernando Rojas’ Tragikomödie La Celestina und andere (Giles 2010, 7 ff.). Die Wirkkraft der erotischen Schriften wuchs, etwa beim katalanischen Bernat Metge, noch weiter (Cristóbal 2011). Ovid hatte in ganz Europa den Rang eines vertrauenswürdigen Lehrers der Liebe: »Venus’ clerk« nennt ihn bewundernd der »Ovidianissimus« Geoffrey Chaucer (Albrecht 2003, 281), dessen Werk von Frank-

reich ausgehend stark durch Ovids Amores, Ars und Remedia geprägt ist, in seinem House of Fame (Fyler 2009, 416 ff.). Chaucer wendet sich schon im frühen Book of the Duchess vom didaktischen Liebesverständnis ab, um aber Ovids emotionale Liebespoesie aufzunehmen. In der »Wife of Bath« aus den Canterbury Tales nimmt Chaucer das Modell einer alten Frau, die ihre ovidischen Lektionen gelernt hat, aus dem Roman de la Rose und Ovids Liebeskunst auf (Desmond 2006). Die vor allem nach den Heroides modellierte Legend of Good Woman wiederum stellt sich selbst als eine elegische Liebeskunst, eine »craft of fyn lovynge« (544), dar (Dimmick 2002, 283). Auch John Gower schreibt den ovidischen Liebesdiskurs weiter, so in Confessio amantis und Vox clamantis mit Gewicht auf den Remedia (Harbert 1988; Sadlek 2004, 167 ff., McKinely 2011). Offenbar wurden Ovids erotische Dichtungen nicht nur im westlichen Europa, sondern auch weiterhin im Osten gelesen, wofür eine bis auf Fragmente verlorene Übersetzung der Amores, Ars amatoria und Remedia ins Griechische durch den Byzantiner Mönch Maximos Planoudes aus dem späten 13. Jahrhundert spricht (Fisher 2011). Im Mittelalter kommt die Wertschätzung der Liebeskunst und ihres Autors auch in ironischen Texten zum Ausdruck, in denen die Liebe, ihre prädestinierten Teilnehmer und ihr diesseitiges Genusspotential diskutiert werden. In ihnen erscheint Ovid als Lehrer wie höchster Künder und Vertreter der Liebe auf Erden: So wird im sogenannten Liebeskonzil von Remiremont, einem anonymen Text vermutlich aus dem 12. Jahrhundert, in dem Ritter und Geistliche darüber streiten, wer die besseren Liebhaber seien, vor der Eröffnung des Streitgespräches in Anwesenheit aller Mädchen, die Richterinnen werden, von einer liebeserfahrenen Frau, Eva von Deneuvre, die Liebeskunst »gleichsam als Evangelium« verlesen (Munari 1960, 20 ff.). Dieses Liebesgericht (Jugement d’Amour) fand in Frankreich viele Nachfolger. In einem ebenfalls anonymen Spottgedicht aus dem 12. Jahrhundert auf einen eifersüchtigen Priester wird Ovid vom Evangelisten zum Papst. In dessen Dekreten stehe geschrieben, dass Frauen mehrere Männer haben dürfen – der eifersüchtige Priester solle sich diesen Erlass gut merken, sonst werde er exkommuniziert (Volk 2012, 148). In einem anderen, ernsthafteren Text aus dem 13. Jahrhundert wird dagegen erklärt, Ovid sei wirklich zum Christen geworden und sei, nachdem er von Johannes von Patmos bekehrt und getauft worden sei, als heiliger Bischof von Tomis gestorben – eine These, die dem pseudo-ovidischen, im Mittelater weit rezi-

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pierten De vetula (»Über die Alte«) aus derselben Zeit nahesteht, in dem Ovid seine erotischen Sünden der Liebeskunst bereut, dem Polytheismus abschwört und zum Kenner der Heiligen Jungfrau wird, der er ein abschließendes Gebet widmet (Dimmick 2002, 274 ff.; Hexter 2002, 439 ff.; Hexter 2011, 304 ff.). Ovids Gestalt ist seit der mittelalterlichen Rezeption aber nicht ohne Ambivalenz gewesen und widersteht ihrer mal scherzhaften, mal ernsthaften christlichen Aneignung. Die Bestrafung durch Augustus wird in vielen accessus ad auctores – erläuternden Vorbemerkungen in Prosa zu den Klassikertexten (Huygens 1970) – auf das carmen, die Liebeskunst, zurückgeführt und selbst in der Kaiserchronik erwähnt, wobei über den error wild spekuliert wird (Hexter 2002, 433; Hexter 2006, 299). Nicht nur aufgrund der kaiserlichen Strafe, sondern auch wegen seiner persona, mit der er sich seit den Amores selbst als polyamouröser Liebhaber inszeniert, wird er zuweilen als immoralisches und je nach Situation abschreckendes Beispiel gehandelt. Er bleibt als »archpriest of transgression« (Dimmick 2002, 264) in sexueller und politischer Hinsicht vor dem Hintergrund der christlichen Moralität und theologisch begründeter Politik problematisch und insofern bei vielen weiterhin quasi exiliert (Fumo 2014, 117). Ovid steht für den Einschub der Imagination einer säkularen, erotisch liberalen Welt in das sexualmoralische Korsett des Mittelalters und für die poetische Ambivalenz in einer auf die eine Heilige Schrift gebauten Kultur. Deshalb war der Vorbildcharakter seiner Dichtungen stets umstritten. Einige Lateinlehrer vermieden es, die Liebesdichtungen und Heroides zu unterrichten (Hexter 2006, 298 f.). Christine de Pizan sah in ihm und dem Rosenroman eine misogyne Bedrohung für die Göttlichkeit von Frauen. In den Epistre au dieu d’amours lässt sie Cupido persönlich die Liebeskunst und die Remedia verdammen. Diese habe Ovid, so erzählt sie in ihrem Le Livre de la Cité des Dames, aus Misogynie geschrieben, nachdem ihn wegen seiner Promiskuität eine zweite Bestrafung nach dem Exil ereilt hätte: seine Kastration (s. Kap. 31). Aber nicht weniger wurde er von männlichen Kollegen angegriffen, die vor allem seine Heroides als Ausdruck weiblicher Subjektivität vor Schülern zurückhielten. William von St. Thierry schrieb den Traktat De natura et dignitate amoris gegen die Liebeskunst, mit der Ovid die natürliche Liebe verdorben habe, und der anonyme Anti-Ovidianus aus dem Italien des 14. Jahrhunderts lässt den Autor deswegen in der Hölle schmoren (Dimmick 2002, 267–268).

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Um eine interpretatorische Schutzzone für seinen weiteren Gebrauch zu schaffen, entstanden im 14. Jahrhundert in Frankreich Texte wie der am Modell der Bibel moralisch erklärende Kommentar zu den Metamorphosen, der Ovide Moralisé, der auch Teile aus den Heroides einbaut, oder der Ovidius moralizatus aus dem enzyklopädischen Reductorium morale des Benediktinermönches Pierre Bersuire, eines Freundes Petrarcas (Knox 2009, 332; Fumo 2014, 119 ff.).

48.2 Renaissance In der Renaissance setzt sich die intensive Ovid-Rezeption fort: Er ist der meistimitierte und einflussreichste Autor der Antike (Burrow 2002, 301). Die Metamorphosen werden zu einer der wichtigsten Quellen der antiken Literatur, und die Vorbilder der neuzeitlichen Liebesdichtung und Liebesdramatik wie Petrarca und Shakespeare gehen in die Schule Ovids. Petrarca, der sich auch im Exildichter Ovid wiederfindet (Keen 2014, 154 ff.), entwickelt den lyrischen Liebhaber, der im Canzoniere aus der Distanz heraus Laura besingt – der Name setzt sie und das liebende Ich in Beziehung zu Daphne, dem Lorbeer Apollons, und damit dem Dichterruhm –, an Ovids elegischem amator/poeta und nimmt Motive, Formulierungen und konkrete Formen aus dessen erotischen Dichtungen auf. Zudem verbinden die Sonette Liebes- und Dichter-Ich in einer über einen langen Gedichtzyklus verbundenen Narration wie in den als Vorform des Romans gedeuteten Amores (Braden 2014, 265 ff.; vgl. Holzberg 1997, 74 ff.). Auch spielt Petrarca variantenreich mit der Verbindung aus Liebeslust und -leid – einem ausgezeichneten Merkmal des Petrarkismus, das Ovid in der Kennzeichnung der puella als dulce malum, »süßes Übel«, vorwegnimmt (am. 2, 9, 26). Ovids Liebesdichtungen, die auch Einfluss auf den Trionfo d’amore und De Remediis Utriusque Fortune haben, werden insbesondere durch Petrarcas Wirkung in die vernakulare Literatur Europas eingeführt. Von ihm und anderen Renaissance-Dichtern aus verbreiten sich ovidische Liebesmotive über die Dichtung Europas. Es wird daher zunehmend schwierig, sie von anderen Einflüssen der römischen Liebeselegie und ihrer Aufnahme bei Petrarca und seinen Nachfolgern klar zu unterscheiden (Lyne 2002, 291 ff.). Petrarcas Freund Giovanni Boccaccio schreibt um 1340 im Filocolo, dem ersten volkssprachigen Prosaroman Europas, die alte und berühmte Liebesge­

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schichte von Floire et Blancheflor auf neue Weise. Die beiden Protagonisten der verwickelten Geschichte verlieben sich bereits als Kinder ineinander, weil sie die Liebeskunst in die Hand bekommen, sobald sie lesen können, und dadurch ein Leben führen, das ganz den »heiligen Feuern der Venus« geweiht ist. In Boccaccios Fiametta, einer Art Anti-Liebeskunst, tritt wiederum eine an am. 1, 8 angelehnte Kupplerin auf. Die ersten drei Tage von seinem berühmtesten Werk, dem Decamerone, hat Boccaccio senza titulo – unter dem im Mittelalter die Amores bekannt waren – angeführt (Hollander 1977, 112 ff.). Auch für die teils offen erotischen Verse aus In Cynthiam von Aeneas Silvius Piccolomini, dem späteren Papst Pius II., steht nicht nur Properz, sondern ebenfalls Ovid Pate: Eine promiske Frau lädt ihren Liebhaber ein, tagsüber zum Sex zu kommen (vgl. am. 1, 5). Der Einfluss von Ovids erotischen Dichtungen zeigt sich über die gesamte Renaissance-Dichtung (s. die Beispiele im Kommentar von Roth/Trautsch/Möller 2017). Kurze Zeit nach Erfindung des Buchdrucks erschienen gleich drei Ausgaben der Liebeskunst im Kontext von Werkausgaben Ovids: Baldassare Azzoguidi, Francesco Dal Pozzo und Annibale di Guglielmo Malpigli eröffneten jeweils ihr Verlagsprogramm mit einer Werkausgabe Ovids; Konrad Sweynheym und Arnold Pannartz, die die Technologie nach Italien importiert hatten, veröffentlichten 1471 ebenfalls eine Werkausgabe, wie Günther Zainer, der erste Drucker in Augsburg, im selben Jahr eine Ausgabe der Ars und der Remedia herausbrachte. Die Druckerpresse vergrößerte Ovids Reichweite sehr, eine große Zahl von Inkunabeln enthält seine Werke. Die erste – vom Humanisten Bartolomeo Merula – kommentierte Ausgabe der Ars wurde 1494 in Venedig produziert und erschien gleich im Folgejahr in Lyons, wo weitere Auflagen bis Mitte des 16. Jahrhunderts folgten. Unter den Humanisten war allerdings nicht nur die Liebeskunst verbreitet, auch die Amores erfreuten sich großer Beliebtheit, die etwa Erasmus in mehreren Schriften zitiert (Cytowska 1999) und die eine Fülle von Elegien anregten, so etwa die Amores von Conrad Celtis (Harzer 2002, 61) oder die neulateinischen Elegien von Heinrich Bebel, Simon Lemnius, Georg Fabricius, Jacob Balde oder Johannes Secundus (d. i. Jan/Johann Nico Everaerts) (Harzer 2002, 61; Burrow 2002, 304; Braden 2014, 267 ff.). Ebenso wurden Ovids Remedia, etwa in Joachim Trösters De remedio amoris von 1454, weitergedacht. Sie galten weiterhin als Ovids Widerrufung der Liebeskunst und

wurden wie die Ausgabe des Flamen Aegidius Delphis von 1493 mit mehreren Auflagen im 16. Jahrhundert breit rezipiert. Ovids Einfluss in Frankreich blieb vor allem in der Elegiendichtung eines Jean Doublet und der petrarkistischen Liebespoesie virulent, etwa in Pierre de Ronsards Amours. Joachim du Bellay nimmt sich Ovid zum Vorbild, und Michel de Montaigne zitiert ihn vielfach. Auch auf der iberischen Halbinsel riss der Einfluss von Ovids Liebesdichtung nicht ab, wenngleich der Dichter der Mythen dominanter war. Für Ovids reichhaltige Rezeption im siglo de oro sprechen vielfältige Bezüge, die etwa in Juan de Menas an den Remedia orientiertem Tratado de amor (Cristóbal 2011, 244 ff.) oder bei Pedro Mexía und Miguel de Cervantes zu erkennen sind, der im Sonett Gandalins aus der Vorrede zum Don Quijote auf sich als »unser[en] spanische[n] Ovid« verweist (Worden 2010; Armas 2014). Mehr noch wäre die englische Renaissance- und Barockliteratur ohne Ovids Einfluss undenkbar. Der Stil des »schoolmasters of love«, dessen Werke für die Dichter die rhetorischen Lehrbücher ersetzten, war maßgeblich und seine Liebesdichtungen wurden vielfach zitiert, kommentiert und adaptiert, zugleich jedoch von Moralisten kritisiert (James 2009, 423 ff.). Ovids erotische Dichtungen und sein Lobpreis urbanen Lebens zeigen sich in Theaterstücken der Restauration wie William Congreves The Way of the World (Rand 1925, 166) und in der elisabethanischen Dramatik, insbesondere bei Shakespeare, der »berühmtesten elisabethanischen Verkörperung Ovids« (Burrow 2002, 306), dessen Allusionen auf Ovid sich vielfach nachweisen lassen (Dundas 1987; Martindale 1990, Bate 1993). Um nur wenige Beispiele zu nennen: Shakespeares Tragödie Romeo and Juliet geht wie viele literarische Adaptionen seit dem 12. Jahrhundert auf die tragische Liebesgeschichte von Pyramus und Thisbe aus den Metamorphosen zurück (Rudd 2000), nimmt aber auch Ovids erotische Dichtung auf. So zitiert die Protagonistin ihrem Geliebten Romeo gegenüber Ovids Liebeskunst (Romeo and Juliet 2, 2, 92–93; vgl. ars 1, 633), welche als Buch auch in The Taming of the Shrew (4, 2, 8) zitiert wird. Shakespeares erstes publiziertes Werk, Venus and Adonis, das wie Christopher Marlowes Epyllion Hero and Leander vielfach von Ovids erotischen Dichtungen Gebrauch macht (Bate 1993, 48 ff.), zitiert auf dem Titelblatt ein Distichon aus den Amores (1, 15, 35–36), die kurz zuvor in der ersten Übersetzung durch Marlow posthum erschienen waren und auf die Shakespeare auch in anderen Werken

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anspielt (Braden 2009, 443–444; s. Kap. 38). Seine Sonette an eine junge Schöne kombinieren Momente von Ovids elegischer Liebe zu Corinna mit denen seiner Liebe zu seiner Frau in den Tristia (Bate 1993, 95; Stapleton 1996, 133 ff.), und für die Komödien gilt: »In Shakespearian comedy, love is among other things an art learnt from Ovid.« (Bate 1993, 17) John Lyly spielt mit Motiven aus Ovids Leben und erotischen Dichtungen in Sapho and Phao oder dem Roman Euphues. The Anatomy of Wit, dessen Charaktere den Anweisungen aus Amores und Ars folgen und daran scheitern. Christopher Marlowe formt Charaktere in Hero and Leander und Doctor Faustus nach elegisch-ovidischem Vorbild (Burrow 2002, 305). Englische »quasi-Ovids« (Lyne 2002, 296) wie John Donne, der Earl of Rochester, Thomas Kyd, Thomas Churchyard, Michael Drayton oder Ben Jonson, der Ovid in seinem Stück Poetaster zu einer Figur des Exils aufgrund einer (in der Renaissance von vielen angenommenen) Affäre mit Augustus’ Tochter Julia macht, knüpfen an den Liebesdichter an (Keach 1976; Braden 2014). Referenzen auf Ovids erotische Schriften, insbesondere die Amores, sind auch in Edmund Spensers The Faerie Queene und seinen Amoretti von 1595 zu entdecken (Pugh 2005, 152 ff.). Anfang des 17. Jahrhunderts wird Thomas Heywoods Übersetzung der Ars amatoria publiziert, der mit Oenone and Paris auch ein erotisches Narrativ nach ovidischer Art schreibt. Nicht nur männliche Dichter, auch künstlerisch arbeitende Frauen und Dichterinnen wie Christabelle Rogers, Anne Wharton, Isabella Whitney, Aphra Behn, Mary Wroth, Amelia Lanyer oder Katherine Philips nahmen Ovids erotische Schriften in Dichtung und Dramatik, Malerei und Webkunst als Ausdruck ihrer Selbständigkeit auf. Von Männern geschriebene Lehrbücher hielten auch deswegen ihre männlichen Adressaten dazu an, Ovid und Liebesdichtung überhaupt von Frauen fernzuhalten (James 2009, 436 ff.). Für John Milton, dessen Elegien ovidische Allusionen aufweisen, wird Ovid zum wichtigsten antiken Autor (Burrow 2002, 315). Der Einfluss Ovids wurde aber wie im Mittelalter auch in der Renaissance durchaus kritisch gesehen und teilweise drastisch bekämpft. Während Giovanni Boccaccio mit der Liebeskunst ein santo libro, ein heiliges Buch, inszeniert, bezeichnet Francesco Petrarca in seinem Ende der 1340er entstandenen De vita solitaria die Liebeskunst als ein insanum opus, ein »geisteskrankes Werk« und ihren Autor als lasziv und schlüpfrig, dem erotische Zusammenkünfte mit Frauen das größte Vergnügen gewesen seien. Vor allem aber kam

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Kritik, Ablehnung und Zensur aus klerikalen Kreisen. Insbesondere die Zensur der Gegenaufklärung ging gegen den aus ihrer Sicht zu starken Einfluss von Ovids erotischen Dichtungen vor. Im 14. und 15. Jahrhundert wurden Ovids Texte zwar in noch größerem Maße zur Schullektüre, doch weniger die erotischen Schriften als die Metamorphosen. Im 16. Jahrhundert zensierte man sie sogar, wenngleich die Texte einfach erhältlich blieben und Ende des Jahrhunderts textkritische Ausgaben erschienen (Moss 1982, 3 ff.). In England der Tudors entfernten geistliche Gelehrte und Puritaner Ovids Texte aus den curricula der Schulen (James 2009, 426). Es gab reichlich Kritik am Schulautor Ovid, etwa vom Florentiner Dominikaner Giovanni Dominici, der seine Werke als unmoralische Schullektüre diskreditierte (Black 2011, 142). Die Attacken trafen aber auch die literarische Rezeption. 1498 ließ Savonarola Ovids Werke im »Fegefeuer der Eitelkeiten« in Florenz verbrennen; ein Jahrhundert später, 1599, wurde Marlowes Amores-Übersetzung ebenfalls verbannt und -brannt. Der schon mittelalterliche Konflikt zwischen ästhetisch-poetischen und sexualmoralischen Werten hielt an: »Ovidian eroticism was distinctly difficult to reconcile with the humanist conviction that the classics should be translated because of their moral worth.« (Bate 1993, 32).

48.3 Vom Barock bis in die Moderne Im 17. und 18. Jahrhundert wird die Sicht auf Ovid in Europa noch ambivalenter. Einerseits reißt der Einfluss seiner Liebesdichtungen nicht ab, die z. B. in England ab 1662 in einer kollektiven Übersetzungen erschienen und weitere Übersetzungen und Bearbeitungen, etwa von Henry Fielding (1747), nach sich zogen, die populär blieben (Lyne 2002, 256; Burrow 2002, 318). Andererseits verstand man die erotischen Dichtungen mehr und mehr als anzüglichen Kitzel, wenn nicht als Pornographie (Liveley 2006, 320). Entsprechend wurden Ovids Mangel an Ernsthaftigkeit, seine Liebeskonzeption und sein Fokus auf Verwandlungen kritisiert; seine Person und Werke wurden von evangelischen Geistlichen diskreditiert und Teile seiner erotischen Dichtungen zensiert (Horowitz 2014, 357–358). Man kritisierte Ovids Oberflächlichkeit und erotische Freizügigkeit und las ihn dennoch. Alexander Pope nennt Ovid bezeichnenderweise eine »mistress whose faults we see, but love her with them all« (ebd., 358). Einerseits wurde er gerade in klerikalen Kreisen abgelehnt, andererseits in der britischen Aufklärung zum meistre-

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VI Rezeption – B Erotische Dichtung, Heroides, Exildichtung

zipierten und -diskutierten antiken Autor, insoweit sie ihre Werte an ihm reflektierte (ebd., 367). Während die barocke Liebesdichtung – die Amores bilden einen der antiken Primärtexte in Opitz’ Teutschen Poemata – und besonders die galante Lyrik des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts in petrarkistischer und ovidisch-elegischer Tradition stehen, wurde im deutschen Sprachraum im Laufe des 18. Jahrhunderts eher der Ovid der Metamorphosen und des Exils rezipiert. Ihren Autor sahen Kollegen oft kritisch, so etwa Gottsched, Sulzer, Kant oder Herder (s. Kap. 85). Im späten 18. und 19. Jahrhundert fällt Ovids Reputation dann massiv ab (Fränkel 1970), teils wegen der von Johann Joachim Winckelmann inaugurierten Dominanz der griechischen über die römische Antike, teils aus moralischer Kritik seiner Person gegenüber (Vance 1988, 216 ff.), teils, wie in Wielands Anti-Ovid, oder die Kunst zu lieben von 1752, aus den Vorstellungen der Empfindsamkeit heraus, die das Ideal der Liebe mit Natürlichkeit und Gefühl verbanden und sich, wie auch später die Romantik, gegen die kalkulierende Kunst der Erotik des urbanen Römers richteten (Horn 1999). Der Affekt gegen Reflexion in der Liebe – in Deutschland durchaus auch gegen Rom und Frankreich adressiert – setzte der Rezeption von Ovids erotischen Schriften jedenfalls nachhaltig zu. Im 19. Jahrhundert dominierte die Achtung für Vergil klar über die Ovids. Er bot keine Bezugspunkte für den erstarkenden Nationalismus, zumal in Deutschland, wo Vergil, im Gegensatz zu Ovid, schließlich selbst unter der Herrschaft der Nationalsozialisten gefeiert wurde (Ziolkowski 2014, 388 ff.). Goethe war dagegen ein begeisterter Ovidleser und Einflüsse der Amores und Liebeskunst sind in Gedichten vom Heidenröslein über die Römischen Elegien bis zum Westöstlichen Divan zu konstatieren (Harzer 2002, 63). In Russland kritisiert Alexander Puschkin das ovidische Liebesverständnis in seinem Versroman Eugen Onegin, dessen Hauptfigur als amatorisch geschulter Dandy die erotischen Verhältnisse reguliert, bis er selbst von Liebe ergriffen wird und die Remedia amoris nicht auf sich anzuwenden versteht (Albrecht 2003, 283). In England nimmt Lord Byron Ovid mit hintergründiger Ironie in seinem Don Juan auf, dessen Hauptfigur während seiner Ausbildung Ovid bis auf inkriminierte Stellen lesen darf. Während Horaz und Catull Gelehrte (scholars) der Liebe gewesen seien, sei Ovid ihr Lehrer (tutor). Auch in anderen Varianten des Don-Juan-Stoffs, etwa Søren Kierkegaards Ta-

gebuch des Verführers kann man Spuren des elegischen Liebhabers ovidischer Schule lesen. Insgesamt aber tritt die Rezeption des Liebesdichters Ovid im 19. Jahrhundert bis weit ins 20. massiv zurück. Die Reputation Ovids als Verwandlungs- und Exildichter steigt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, etwa bei Kafka, Rilke, Valéry, Mandelstam, Masefield, Garnet, Woolf, Hesse, Broch, Feuchtwanger, Brecht, Pound und T. S. Eliot, sowie und vor allem seit Mitte der 1980er Jahre wieder an, etwa bei Brodsky, Ransmayr oder Hughes (Podossinov 1999; Ziolkowski 2009). Im eingeschränkten Maß gilt das auch für die erotischen Dichtungen, die in einigen Fällen von politisch linken Dichtern wie Josef Eberle und Ernst Fischer aufgenommen wurden. Letzterer würdigt die Liebeskunst als politisches Buch des Sozialreformers Ovid (Ziolkowski 2014). An den folgenden kurzen Beispielanalysen soll schlaglichtartig gezeigt werden, wie die erotischen Dichtungen von späteren Dichtern rezipiert, d. h. zitiert, variiert, implizit kommentiert und neu bzw. umgedeutet wurden.

48.4 Beispiel Antike: Martial Unter den antiken Dichtern nach Ovids Tod hat wohl keiner seine erotischen Schriften so umfassend aufgenommen wie Martial (zu einem Forschungsüberblick s. Janka 2006, 280 ff.). Ovid ist ein »omnipräsenter Intertext« in Martials Werk (Mindt 2013, 131 ff.), was sowohl für die erotischen Schriften als auch für die Metamorphosen und mehr noch die Exildichtung gilt (Hinds 2007). Wie bei Ovid sind bei Martial soziale Rollen, Genderidentitäten und sittliche Gesetze im Fluss (McNelis 2009, 403), und viele Epigramme nehmen die Lektionen ovidischer Erotodidaxe auf. Martials Epigramm 7, 30 spielt mit Ovids Hinweis auf die römische Abundanz der Flirtoptionen (ars 1, 55–66). In der Liebeskunst heißt es, dass die Männer es nicht nötig hätten, weit entfernt – etwa bei Inderinnen oder Griechinnen – nach Liebeskandidatinnen zu suchen, denn in Rom gebe es eine überbordende Vielfalt von Frauen jeden Alters, so dass den Suchenden der Eindruck entstehen müsse, dass diese Stadt alles habe, »was es je auf der Welt gegeben hat.« (ars 1, 56). Martial greift dieses Motiv auf und verwandelt es in einen Beleg für den didaktischen Erfolg der für beide Geschlechter geschriebenen Liebeskunst. Denn bei Martial ist es eine Frau, Caelia, die das ovidische Lob der Vielfalt mit Blick auf die Männer umgesetzt hat. Doch nicht in Be-

48  Die erotische Dichtung in der Literatur

zug auf die Abundanz der Altersklassen, sondern auf die Vielfalt der Herkünfte: Parthern, Germanen, Dakern, Kilikiern, Kappadokiern, Indern, Juden, Alanern und Ägyptern habe sie sich hingegeben, also buchstäblich aller Welt, die in Rom lebt oder nach Rom reist. Nur eine Gruppe von Männern meide sie, an die Ovid sich mit seiner Erotodidaxe gewandt hatte: die Römer. Martial beendet das Epigramm, das Ovid durch Perspektivenwechsel variiert, mit einer Frage, die zugleich die Differenz seiner saturnalischen Poetik (Scheidegger Lämmle 2014, 341 ff.) zur elegischen des Dichters aus Sulmo stilistisch hervorhebt – die bei diesem fehlende, bei Martial aber deutlich zur Schau getragene Obszönität: »Wie kommst du, wo du doch ein römisches Mädchen bist, dazu/ dass dir kein römischer Schwanz gefällt?« (7, 30, 7–8). In 11, 104 gibt der Epigrammatiker der eigenen Ehefrau (uxor) – also gerade der einzigen sozialen Rolle im Geschlechterverhältnis, die in Ovids Amores, Liebeskunst und Remedia nicht erotodidaktisch behandelt wird – Ratschläge als praeceptor amoris, der weiß, was er – für sich selbst – von ihr will (Janka 2006, 296): gerade keine Würde der Matrone in Tunika und Pallium, wie Ovid, der Ehefrauen als Adressatinnen für die Liebeskunst ausschließt (ars 1, 31–32), sie etwa am Beispiel der keuschen Lucretia schildert (fast. 2, 685–855), sondern wilden Sex nackt wie die auf Hektor reitende Andromache (11, 104, 14; vgl. ars 3, 778, wo es heißt, diese habe »nie rittlings auf Hektor« gesessen) oder die wie Korinther Hetäre Lais (inklusive Handjob und Analsex) »bei Licht« (11, 104, 6), statt wie von Ovid empfohlen im Halbdunkel (am. 1, 5, 3–8; ars 2, 619–20; 3, 807–08) bzw. nur dann bei Licht, wenn man sich die Liebe abgewöhnen wolle (rem., 411–412). Die intertextuellen Bezüge zur Ars, den Amores und den Remedia sind in diesem Epigramm reichhaltig (Scheidegger Lämmle 2014). Die Aufnahme ovidischer Liebesdidaxe, das Verkehren der Motive und ihre Überbietung ins Obszöne sind typische Merkmale von Martials Rezeption Ovids, so auch, wenn dessen Plädoyer für den Liebhaber als Proteus mit dem Rat mille animos excipe mille modis (»wisse tausend Herzen auf tausenderlei Arten zu nehmen«: ars 1, 756) von Martial umgedeutet und überboten wird im Porträt des durch mille modis (»tausend Stellungen« 9, 67, 3) ermatteten Liebhabers, der gleichwohl noch zwei weitere, über Vaginalsex hinausgehende Stellungen mit seiner puella ausprobiert (Hinds 2007, 127 ff.). Ovid bezieht die Vielfalt der Sexpositionen auf die Vielfalt der Körper. Frauen sollten Stellungen ihrem eigenen Körper gemäß wählen:

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»Laßt euch von eurem Körper die festen Normen (modos certos) diktieren. Nicht für alle schickt sich ein und dieselbe Liebesstellung.« (ars 3, 771–72). Demgegenüber lässt Martial ein Paar allein diese Vielfalt von tausenderlei Arten ausprobieren, auch die, für die man über das Diktat heterosexueller Körperbilder hinausgeht: »wie man’s Knaben macht./ Bevor ich fertig war mit Bitten, schenkte sie’s mir nach den ersten Worten./ Noch etwas Unanständigeres bat ich sie lachend und errötend:/ Ausgelassen, wie sie war, versprach sie es, ohne zu zögern.« (9, 67, 3–6) Anders als Ovids Liebesschüler bedarf der epigrammatische Playboy Martials zudem kaum der Worte und Mimik, um zum Ziel seiner über das ovidische Maß zweifach hinausgehenden Wünsche zu kommen (zur schriftlichen und mündlichen Beredsamkeit sowie zum Lächeln als Mittel zum Liebeserfolg vgl. ars 2, 437–486; 609–612; 3, 159–160; 201). Auch bedarf er keiner Nötigung oder gar Gewalt wie der amator Corinnas (am. 1, 5, 13–16): Seine puella gibt ihm alles sofort, froh und freiwillig. In den intertextuellen Hommagen Martials an Ovid liegt somit auch ein Moment der aemulatio (zu weiteren Bezügen zur Ovids erotischer Dichtung s. Hinds 2007).

48.5 Beispiel Mittelalter: Carmina Burana Die 130 Liebeslieder der um 1230 niedergeschriebenen und 1803 im Kloster Benediktbeuern gefundenen Carmina Burana, einer Sammlung von anonymen, vor allem mittellateinischen, aber auch mittelhochdeutschen, altfranzösischen und provenzalischen Liedern und Dramen, enthalten eine Vielzahl ovidischer Motive (Unger 1914; Wagner 2009). Fast durchgehend kommt die Verbindung aus Lust und Qual, aus Glück und Verletzung in dieser Sammlung von Vagantendichtung zum Tragen, die bereits die Amores prägt und die Ars mit den Remedia verbindet: dulcis est lesura (139, 5, 1). Entsprechend sind auch Motive der Hoffnung auf Heilung von Liebe durch Flucht vor Venus (63, 4, 4–9; vgl. rem. 213–248), Beschäftigungen statt Muße als tempus perditum (63, 1a, 13 et passim, vgl. rem. 136–210) oder durch neue Liebe (121, 1, 1–9; vgl. rem. 441–486) im zweiten Teil der Carmina Burana ebenso virulent wie das Mythenpersonal Ovids, insbesondere die schlechthin übermächtig entflammenden, tödlich verletzenden wie selig betörenden Venus und Amor. Zudem sind mehrere konkrete Allusionen auf Ovids erotische Dichtungen zu finden, etwa der elegische Liebesdienst, das Sklavenverhältnis, die Mühen der militia amoris, die körperliche Ver-

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VI Rezeption – B Erotische Dichtung, Heroides, Exildichtung

fassung des (unglücklich) Liebenden, die Wirksamkeit von Schmeicheleien und falschen Versprechungen, die (vergebliche) Sehnsucht nach Erfüllung, die angesichts der Schönheit der Geliebten erfolglose Abkehr von der Liebe und ihr Aufblühen im Frühling. Ebenfalls findet sich eine Abwandlung des Tagelieds nach am. 1, 13, in der die Geliebte dem Geliebten aufzubrechen rät, um nicht von Wächtern entdeckt zu werden (183). Die elegische Liebe als Lebensform, die Ovid in seinen erotischen Dichtungen als Kontrast zum negotium des öffentlichen Lebens in Rom kultiviert, erhält in den Carmina Burana eine epikureische Erneuerung: Sie steht nun im Gegensatz zur strengen Sittlichkeit des christlichen (Kloster-)Lebens. Ovid wird ausdrücklich als Liebeslehrer Naso erwähnt (105, 7, 2), und auch Corinna kommt als Geliebte namentlich vor: einmal als fesselnde Herrin (108, 8, 7), einmal ausgerechnet als Heilerin für den an Liebe Leidenden (164, 2, 4): Die legendäre puella als remedium amoris! Mehrfach haben die unterschiedlichen anonymen Dichter konkrete Formulierungen aus Ovids erotischen Dichtungen aufgenommen, etwa das Ausgesetztsein des Liebenden wie ein Schiff auf den Meereswellen (108, 1, 1–3; 3, 1–10; 128, 1, 3–4; 175, 1, 4–5), das als Metapher des cursus der Liebenden durch die Liebeskunst bestimmend ist (vgl. ars 1, 3–8, 51, 368, 373, 725, 773; 2, 9–10, 337–338, 429–432; 3, 26, 99–100, 259–260, 499–500, 748), die These, dass Liebe kein Verbrechen (crimen) sei (121a, 1; vgl. ars 1, 34), oder die Fülle der süßen, immer jedoch quälenden Liebesleiden. In Gedicht 119 wird auf Ovids liebesbedingtes Exil angespielt. Die dritte Strophe ist nahezu ein Zitat von ars 2, 517–519: Quot sunt flores in Ible uallibus quot redundant Dodona frondibus et quot pisces natant equoribus, tot habundat amor doloribus Vsque. (119, 3, 1–4) (»So reich wie die Täler des Hybla an Blumen,/ so reich wie der Hain von Dodona an Blättern,/ so reich wie die Meeresfluten an Fischen,/ so überreich ist die Liebe an Schmerzen, für und für.«)

Die drei Mengenvergleiche werden allerdings nicht wortwörtlich übernommen, sondern Parallelstellen aus der Liebeskunst werden kompiliert und figürlich variiert: Ovid führt Hyblas Bienen in ars 2, 517 (quot apes pascuntur in Hybla) und ars 3, 150 als Vergleichsmenge an. Der Dichter des benediktbeurischen Liedes

aber wählt dafür die Blumen im Tal des sizilianischen Berges, von denen die Bienen Ovids – die in der Antike symbolisch auch für die Dichter stehen (Waszink 1974) – sich nähren. Die Fische des Meeres sind den von Ovid an der entsprechenden Stelle erwähnten Muscheln am Strand (ars 2, 519) ebenfalls räumlich nah, angeführt werden sie von Ovid aber in einem früheren Mengenvergleich für die Abundanz an Frauen in Rom (ars 1, 58: aequore quot pisces; vgl. 1, 48): Erst durch die vielen puellae, so gibt die intertextuelle Referenz in den Carmina Burana zu verstehen, entstehen die Leiden für den Sprecher des Gedichts. Der Blättervergleich aus dem mittelalterlichen Lied ist eine Zutat, die in der in der Liebeskunst direkt nicht vorkommt; aber das wahrheitsverbürgende Zeusorakel von Dodona erwähnt Ovid (ars 2, 541), dessen Aussagen, wie der Autor des Liedes 119 gewusst haben muss, sich im Rauschen der Eichenblätter vernehmen ließen. In den Liebesschmerzen trifft die Anspielung wieder die Vorlage (tot sunt in amore dolores: ars 2, 519). Auch im folgenden Lied 120 sind elegische und erotodidaktische Einflüsse Ovids omnipräsent: Dort beklagt sich der lyrische Sprecher über das Gerücht von der Untreue der Geliebten, das auf dem Markt die Runde mache. Kernpunkt des Geredes sei die Promiskuität »in schändlicher Käuflichkeit« (commercio probroso), die auf das heimliche »Band der Liebe« (amoris copula) zwischen ihm und ihr gefolgt sei (120, 2, 11; 2). Nun sei die »taubengleiche Freundlichkeit« (columbinam mentis dulcedinem) der Frau gewichen, die »heller strahlte als das Gestirn der Venus«, denn: »Bittende weist du mit unfreundlichen Worten ab –/ wer aber Geschenke mitbringt, den verwöhnst du auf deinem Lager.« (120, 3, 3; 5–6). Diese Motive sind in Ovids Liebesdichtungen prominent: Der amator beklagt sich in am. 3, 3 über die Untreue der Geliebten (die er bereits betrogen hat) und kritisiert sie in am. 3, 8 scharf für ihre abweisende Haltung und die Präferenz reicher Männer, die sie sich »kaufen« (am. 3, 8, 59). In der Liebeskunst polemisiert Ovid gegen teure Geschenke als Tauschwerte im Liebeshandel. Aufmerksamkeiten für die Geliebte sowie Sklavinnen und Sklaven, die man sich gewogen machen möchte, sind laut Liebeslehrer akzeptabel, aber die ökonomische Verrechnung göttlicher Liebesfreuden mit Geldgeschenken lehnt er ab, weil er auf ein freiwilliges Gabenspiel zielt (ars 1, 419–436; 2, 251– 286). Das Motiv des stadtweiten Geredes über die Promiskuität der Geliebten wird in am. 3, 12 durchgespielt: Hier sind es Ovids eigene Dichtungen, die, wie der poeta vermutet, dazu beigetragen haben, dass

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sich nun verschiedene Männer für Corinna interessieren und sie »käuflich geworden« ist (am. 3, 12, 10). Er hat, wie er behauptet, unfreiwillig die Rolle des Kupplers eingenommen, die er in der Figur der geschäftstüchtigen Kupplerin in am. 1, 8 harsch abgelehnt hatte. Demgegenüber signalisiert der amator aus den Carmina Burana, ein guter Schüler Nasos gewesen zu sein, denn er hat – anders als seine ehemalige Geliebte, die sich nach ihrer Liaison öffentlich anbot – das praeceptum befolgt, Liebe in Verborgenheit und Diskretion zu leben (ars 2, 373–414, 555–640; vgl. auch am. 3, 14). Seine entsprechende Didaxe (120, 1, 7–11) erweist ihn als Ovidschüler, der selbst zum Lehrer geworden ist. Heimliche Liebe in Diskretion ist das neben dem süßen Liebesleid am häufigsten wiederkehrende Motiv der ovidischen Liebesdichtung in den Carmina Burana, das ausdrücklich auf ihn zurückgeführt wird (105). Im wohl aus dem deutschen Raum stammenden Gedicht 126 erhält es eine proto-feministische Wendung, die eine Leerstelle in der Didaxe der Liebeskunst kenntlich macht: Die lyrische Sprecherin bekundet ihr bislang kluges Vorgehen, »unentdeckt zu lieben« (126, 2–3). Das aber sei ihr nicht mehr möglich, seit sie schwanger geworden sei. Ihr Bauch wird zum Zeichen für ihre Liebe, auf die Eltern und Öffentlichkeit strafend regieren, der Geliebte habe vor ihrem Vater vom Ende der Welt nach Frankreich fliehen müssen (126, 13). Das alles versetzt sie in Trauer und Kummer. Ovids Erotodidaxe und seine Remedia bieten für diesen Fall den Frauen keinen Rat an. Abtreibung lehnt der Dichter jedenfalls ab (am. 2, 13 und 14). Die Gedichte 116–121 aus den Carmina Burana sind vermutlich um 1150 – beeinflusst von Hilarius von Orléans – in Pariser Studentenzirkeln entstanden (Lipphardt 1955, 130 ff., vgl. den Kommentar von Vollmann 1987, 1101 ff.). Sie und andere Lieder aus der Anthologie sind Beispiele für die vor allem von Frankreich ausgehende aetas Ovidiana Europas.

48.6 Beispiel Renaissance: Petrarca Francesco Petrarca, die Initialgestalt der italienischen Renaissance, zielte wie Ovid auf öffentlichen Ruhm als glaubwürdiger Dichter und erhielt ihn, als er am 8. April 1341 in Rom für sein angefangenes lateinisches Epos Africa zum poeta laureatus gekrönt wurde. Aber er widmete sich ebenso wie Ovid (allerdings auf Italienisch) sein Leben lang der Liebesdichtung – also dem Genre, das Ovid in Rom in Verruf gebracht hatte und den Grund seines Exils darstellte, wie Petrarca in

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De vita solitaria 2 bemerkt. Petrarcas Gesang über die unerfüllte Liebe zu Laura in seinen Rime sparse, dem sogenannten Canzoniere, ist von Ovids elegischer Liebe der Amores und den Gegensätzen von Süße und Qual, Hitze und Kälte vielfach angeregt, welche bei Petrarca und seine Nachfolgern bis ins 18. Jahrhundert in einer Fülle von Oxymora ausbuchstabiert wurden. Doch befreit Petrarca Ovids amator in seinen Gedichten vom Charakter des womanizers (desultor), der Ausdruck der Liebe ist kein simulierendes Spiel mehr, sondern selbstreflexives Bekenntnis (Stapleton 1996, 115 ff.). Von den Rime setzt sich – petrarkistisch transformiert – der Einfluss von Ovids erotischen Dichtungen in der europäischen Liebespoesie bis ins frühe 18. Jahrhundert fort. Für den italienischen Begründer der neuzeitlichen Liebespoesie gibt es keinen mit Ovid vergleichbaren Dichter: puto nullum aequari posse Nasoni poetae (Rerum memorandum liber 2, 20; vgl. Braden 2014, 265). Das zeigt sich indirekt auch in seinem vierteiligen Triumphus Cupidinis, dem ersten von sechs Triumphi bzw. Trionfi, einer zwischen 1351 und 1374 in volkssprachlichen Terzinen geschriebenen allegorischen Lehrdichtung. Sie spielt vielfach auf Ovid an, wie hier nur am ersten Gedicht gezeigt werden soll. Ovid imaginiert eine filmreife Szene von Amors Triumph in am. 1–2, 23 ff.: Amor, der den Dichter erst durch seinen Pfeil und Bogen versehrte (am. 1, 1, 21–26), wird dem furor amoris gemäß als wildes (ferus) Kind porträtiert (am. 2, 2, 8; vgl. ars 1, 9 und 18), das auf einem ihm von Mars zur Verfügung gestellten Wagen steht, gezogen von Tauben der Venus, die die den Triumphzug Umgebenden »entflammen [...] im Vorüberfahren« (46), während ihn das Volk bejubelt: »dieser Zug wird ein prächtiger Triumph (magnificus pompa triumphus) für dich sein.« (28) In Petrarcas Version träumt der in Vaucluse eingeschlafene Dichter ebenfalls einen Triumphzug Amors, der als »wildes Kind« (un garzon crudo) auf einem »feurigen Wagen« (un carro di foco) triumphierend mit Pfeil und Bogen gefahren kommt (TC 1, 22– 24). Allerdings wird der Wagen nicht von venerischen Tauben, sondern Pferden gezogen, so wie der Wagen des Gaius Caesar, den der Dichter in der Liebeskunst als Option zum Anbandeln für die Zuschauer imaginiert, von vier schneeweißen Pferden (quattuor in niveis [...] ibis equis) gezogen wird (ars 1, 214). Petrarca überbietet das Zitat subtil: Amors Pferde sind überaus schneeweiß (più che neve bianchi) und stehen damit durch die Assoziation von Schnee mit Kälte auch in einem für den Canzoniere typischen oxymorontischen Verhältnis

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zum feurig-heißen Wagen der Liebe. Bei Ovid führt Amor, wie es bei römischen Triumphzügen üblich war, als Sieger eine Schar seiner ihm folgenden Gefangenen an: Junge Männer und Frauen und den Dichter selbst, Amors »neueste Beute« (am. 2, 2, 19). Bei Petrarca folgt auf Amors Wagen ebenfalls eine Schar an Gefangenen, die er zum Teil namentlich anführt. Zuerst sieht der Dichter Gaius Julius Caesar, dann seinen Neffen Augustus (TC 1, 89–96), der in Ovids Elegie abschließend als Vetter Amors herangezogen wird, an dessen schützender Geste dieser sich ein Beispiel nehmen solle (am. 2, 2, 51–52). Bei Petrarca aber folgen die Cäsaren selbst besiegt dem Liebesgott – wie alle Herrscher, Helden und Götter, die der Dichter nun mit Bezug zu Ovids mythischen exempla aus Amores, Liebeskunst, Heroides und Remedia aufzählt: Auf die Cäsaren folgen mythische Heroen und Heroinen wie Theseus und Ariadne, Hercules, Achill, Jason und Medea, Hypsipyle oder Laodamia und Protesilaus, darauf wiederum die Götter: Während im Triumphzug Amors aus den Amores Venus »hoch vom Olymp herab« (am. 2, 2, 39) applaudiert, ist sie bei Petrarca selbst Teil des Gefolges unter Amor: Sie geht zusammenmit Mars als Paar (TC 1, 151), dem Ovid sich mehrfach, so auch in der Liebeskunst, gewidmet hat (ars 2, 561–594). Im Tross muss selbst Apollon mitziehen, der einst über Amor und seinen Bogen gespottet habe, bis er selbst getroffen wurde (TC 1, 154–156). Dieser Hinweis spielt auf Amors leichtfüßigen Triumph über den Gott der Dichter in met. 1, 452–567 an. Schließlich erblickt der träumende Dichter im ersten Gedicht des Triumphus Cupidinis den Göttervater selbst: »schwer beladen mit unzähligen Schlingen/ Geht Jupiter gefesselt vor dem Wagen.« (TC 1, 159–60) Dass Jupiter wie jeder andere Gott auch Amor ausgesetzt ist, erwähnt Ovid zwar nicht in am. 2, 2, aber an anderen Stellen. So heißt es etwa in der Liebeskunst, dass Jupiter »als Bittflehender zu den Heroinen der Vorzeit« ging, um sie zum Lieben zu bewegen (ars 1, 713). Dass Amor, wie schon Vergil Gallus sagen lässt, schlichtweg alle und alles besiegt (Verg. ecl. 10, 69), ist ein Motiv, mit dem Ovid immer wieder spielt, seit Amor ihn selbst zum Liebesdichter bestimmte (am. 1, 1). In der Reaktion der von Amor Versklavten, zu denen in den folgenden drei Gedichten noch eine Vielzahl aus mythischen und literarischen Figuren auch des Mittelalters sowie schließlich die Dichter, darunter Ovid selbst (TC 4, 22), gehören, zeigt sich aber eine entscheidende Differenz zwischen der prä-christlichen Liebeskonzeption Ovids und der christlich geprägten Petrarcas: In den Amores wird Amor trotz sei-

ner verbrennenden, versklavenden Macht, die gesunden Menschenverstand und Sittsamkeit fesselt und gestützt wird von Schmeichelreden, Verblendung und Raserei, allseits zugejubelt (am. 2, 2, 31–38). Auch der poeta/amator reiht sich zwar gezwungenermaßen, doch taktisch freiwillig (am. 2, 2, 10–22) und sogar gerne (am. 2, 2, 49–52) in die Schar der Gefangenen ein, so wie die elegischen Dichter sich freimütig zum servitium amoris bekennen. In Petrarcas Triumphzug Amors herrschen aber dunkle Klänge vor: Amor selbst sei bitter (amaro; TC 1, 76–77): Seine Opfer würden getötet oder gequält (TC 1, 85–87), sein zwingendes Gesetz sei hart und keinesfalls lobenswert (TC 3, 148): Liebe blühe nur im Leiden wirklich auf (TC 3, 37). Petrarca zählt zudem gleich im ersten Gedicht die Namen der im Triumphzug Mitgehenden auf, die Ovid in den Remedia als Beispiele für aus Liebe zu Tode Gekommene erwähnt, die nicht hätten sterben und leiden müssen, hätten sie (seine) Heilmittel gegen die Liebe gehabt, wie Phaedra und Hippolyt, Phyllis und Demophoon, Menelaus und Helena oder Paris und Oenone (TC 1, 127, 109–116, 140–41; vgl. rem. 55, 64– 65, 457, 591–607, 743–44, 773–76). Amors Triumphzug wirkt bei Petrarca daher weit weniger wie ein Fest als wie ein Beleg für die bedauernswerte Ineffektivität von Ovids Remedia. In den nicht feierlichen, sondern vielmehr leidvollen Gefangenenzug reiht sich schließlich auch der Dichter, dessen Freude allein im Erkennen besteht (TC 1, 21; 3, 7–9), neben Laelius und Sokrates ein (TC 4, 67–69). Freiwillig gefesselt und gerne wie der ovidische amator geht er aber nicht mit. Im folgenden Triumph-Gedicht wird Amor, mit seinem Zug nach beschwerlichem Transfer auf Zypern, der Geburtsinsel der Venus, angekommen, schließlich bekämpft und entmachtet: Es ist der – Ovid gänzlich fremde – Triumphzug der Keuschheit (Triumphus Pudicitie).

48.7 Beispiel 18.  Jahrhundert: Goethe Während die Liebe zu Ovid im Laufe des 18. Jahrhunderts abnahm, war Goethe ein begeisterter Ovid-Leser, den er gegen Herder als seinen »Liebling« und »ein vorzügliches Individuum« verteidigte (Dichtung und Wahrheit 2, 10). Nach seinen beiden Romreisen 1786– 1788 entstanden die 24 Römischen Elegien, von den 20 in Schillers Horen 1795 mit einem Motto aus der Liebeskunst (ars 1, 33) erstmals veröffentlicht wurden. Schon im Versmaß erinnern sie an die römische Liebeselegie, deren »Triumvirn« Goethe im letzten Vers

48  Die erotische Dichtung in der Literatur

der fünften Elegie erwähnt. Entsprechend sind in der Forschung Bezüge zu Catull, Tibull und vor allem Properz ausgemacht worden (Wimmel 1958, Luck 1967, Riedel 1992). Neben ihnen und nach-antiken Quellen ist auch ovidischer Einfluss in geringerem Maß bemerkt worden (Luck 1967, 191–192; Rüdiger 1978; Horst 2012, 413 ff.). Die Römischen Elegien lassen sich aber auch als Spiel mit Motiven Ovids verstehen. Vor allem ovidisch kann man zunächst Goethes Feier Roms als Ort der Liebe nennen (1, 13–14), ist doch Ovid der urbanste, Rom zeitlebens innig verbundene Dichter, der die Stadt mehrfach als Ort der Liebe unter Regentschaft der Venus kennzeichnet. Für Properz und insbesondere Ovid typisch sind zudem die Vergleiche mit mythischen Liebenden, die Goethe ebenfalls ins elegische Spiel bringt (2, 10–18; 13, 50– 51; 19, 9–52, vgl. ars 2, 561–590; 20, 7–14). Eine Referenz an die Liebeskunst scheint das Bekenntnis der Liebenden zu sein, wie die in Mysterienfeiern Eingeweihten zu schweigen (3, 11–12), auch wenn es hart sei, weil »den Lippen entquillt Fülle des Herzens so leicht« (20, 16). Das gebietet ihnen schon der praeceptor amoris im Einklang mit Venus (ars 2, 601–12). Die spielerische Camouflage des Liebhabers als Geistlicher im christlichen Rom (6, 9–10) könnte auf Ovids wenig überzeugenden Ausschluss der keuschen Priesterinnen der Vesta von seinem Adressatenkreis anspielen (ars 1, 31–32). Sie wendet zudem das Gebot, sich für ein Stelldichein im Schutz der Erotik ausschließenden Tempel zu treffen (ars 1, 77–78, 81–82; 3, 393; 635–638), ins Maskenspiel: Man treffe ich im geistlichen Gewand. Für Liebende jedenfalls zählt auch im von Kirchen dominierten Rom der Neuzeit nur »ein einziger Tempel, / Amors Tempel« (1, 11– 12). Wie der Gott den poeta der Amores zum Liebesdichter formt, indem er ihm Liebe zu einem Mädchen als materia gibt (am. 1, 1; 1–2), so bildet er auch bei Goethe nach eigener Aussage die Kunst und »gibt Stoff zu Gesängen« (13, 27). Dieselbe dreizehnte Elegie bietet auch eine Referenz zum ovidischen Tagelied, der ebenfalls dreizehnten Elegie des ersten Buchs der Amores. Dort soll Aurora bleiben, um den poeta/amator die Schwellenerfahrung der Dämmerung – die Geliebte, in deren Armen er bereits erwacht liegt, schläft noch an seiner Seite – auskosten zu lassen. Oft habe er sich gewünscht, das Morgenrot würde gar nicht erst eintreten, um den Liebenden die Nacht zu verlängern (am. 1, 13, 27–30), doch die beschimpfte Aurora zieht weiter und der Tag bricht an, was zur Trennung der Liebenden führt. Goethe lässt seinen Dichter/Liebhaber

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stattdessen wie in einer aemulatio Ovids das morgendliche Erwachen preisen und Aurora als Freundin Amors besingen (XIII, 33–36). Der Wechsel von Nacht zu Tag ist ihm eine Erfahrung der Freude. Auch er möchte wie Ovids poeta/amator nicht, dass der Moment der Schwelle zwischen Liebesnacht und Tag entschwindet, denn er erfreut sich an seiner noch schlafenden Geliebten und ihrer gemeinsamen Liebe. Anstatt aber Aurora zu beschimpfen, besingt er seine Geliebte, wie sie sich schlummernd bewegt und seine Hand hält, bis sie die Augen öffnet und ihn anblickt: »Ewig nun hält sie dich fest.« (XIII, 52) Eine Trennung ist ebenso wenig in Sicht wie ein Wächter. Zum Entstehungshintergrund der Römischen Elegien schilderte Goethe 1827 in einem Gespräch mit dem Maler und Architekten Wilhelm Johann Karl Zahn die Begegnungen mit einer Frau in einer römischen Osteria: »Hier traf ich die Römerin, die mich zu den Elegien begeisterte. In Begleitung ihres Oheims kam sie hierher, und unter den Augen des guten Mannes verabredeten wir unsere Zusammenkünfte, indem wir den Finger in den verschütteten Wein tauchten und die Stunde auf den Tisch schrieben.« (Goethe 1950, 510) Goethes ästhetische Überblendung von Lebensgeschichte und Literatur, die in der Faustine der Römischen Elegien (XVIII, 9) sowohl historische Person als auch reines poetisches Produkt vermuten lassen kann, ist so elegisch wie die Anwendung eines praeceptums aus der Liebeskunst, das auch schon Tibull (1, 6, 19–20), sowie Ovids Amores und Heroides anführen: mit verstohlenen Blicken zu sprechen und mit Wein als Tinte auf dem Tisch zu schreiben, um sich heimlich in Gegenwart des Ehemanns (oder Oheims) zum Rendezvous zu verabreden (am. 1, 4, 17–20; ars 1, 569–574; epist. 17, 87–88). Ausführlicher und konkreter als Ovid beschreibt Goethe diese Intimkommunikation in der Osteria in Elegie XV: »Wein floß über den Tisch, und sie, mit zierlichem Finger,/ Zog auf dem hölzernen Blatt Kreise der Feuchtigkeit hin./ Meinen Namen verschlang sie dem ihrigen; immer begierig/ Schaut’ ich dem Fingerchen nach, und sie bemerkte mich wohl./ Endlich zog sie behende das Zeichen der römischen Fünfe/ Und ein Strichlein davor.« (XV, 15–20) Die Vier signalisiert die Stunden bis zum Liebestreffen allein zu zweit. Wie »Cynthia« Properz und »Corinna« Ovid zu ihren Elegien trieben, so begeistert Goethe seine »Faustine«, auf deren Rücken der Dichter Versfüße zählt (V, 16–17), was die textuelle, poetische Qualität der von Ovid beschriebenen Frauenfiguren konkret ins Bild setzt (Wyke 1989). Wie Corinna wird Faustine »von

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VI Rezeption – B Erotische Dichtung, Heroides, Exildichtung

vielen Männern gesucht« (XX, 23), doch anders als jene wird sie als treu dargestellt (XVIII). Wie laut Ovid die Amores (am. 3, 12) haben auch die Römischen Elegien zu biographischen Spekulationen über den Dichter und seine Geliebte geführt; hinter ihr mag Goethes spätere Ehefrau Christiane Vulpius stehen, die Goethe kurz nach seiner Rückkehr aus Rom im Juni 1788 kennenlernte (Luck 1967, 176 ff.), vielleicht aber auch Faustina di Giovanni, die in der Osteria alla Campana ihres Vaters kellnerte (Damm 1998, 110 f.) oder andere Frauen, die aber wohl nicht Faustina hießen (Zapperi 1999). Wie bei Ovid ist hier historische Genauigkeit aber letztlich nur spekulatives Geschäft, das Goethe in Bezug auf sich in der ersten Version der zweiten Elegie zurückweist (Horst 2012, 403 ff.). Wenn Amor in der Nacht die Lampe in der Kammer des Dichters und seiner Geliebten schürt, in der sie sich lieben und er dichtet, erinnert sich der Liebesgott daran, wie er schon die elegischen Triumvirn in der untrennbaren Doppelrolle von poeta und amator entfacht hat (V, 19–20). So reiht sich Goethe als Dichter/Liebhaber in die Kette der Elegiker ein, wie Ovid sich bereits hinter Gallus, Tibull und Properz einordnete (trist. 4, 10, 53–54). Wer wie Goethe römisch liebt, zitiert – schreibend wie lebend – Ovid.

48.8 Gegenwart Im späten 20. Jahrhundert ist eine neue Popularität Ovids zu verzeichnen (Holzberg 1997, Ziolkowski 2005). Markus Janka spricht sogar von einer aetas Nasonis. Das gilt auf jeden Fall für die Forschung, die sich allen Texten Ovids inkl. der erotischen Dichtungen vor allem seit den 1980er Jahren verstärkt zugewendet hat (Janka 2007, Ursini 2017, 27 ff.). Auch literarisch ist seitdem eine Blüte der Ovidrezeption zu verzeichnen. Während aber Schriftstellerinnen und Schriftsteller, vor allem aus dem englischsprachigen Raum, sowohl an Ovids persona des Exils und seine Dichtungen aus Tomis als auch an die Metamorphosen und auch die Heroides geradezu in einem »Ovidian Boom« (Ziolkowski 2005, 195 ff.) vielseitig anschließen (Walde 2007), wird seine persona als Liebhaber und Liebesdichter kaum rezipiert, von wenigen Ausnahmen abgesehen wie etwa Robert Graves in den 1920ern (Liveley 2006), Bezügen zur Liebeskunst in dem von Philip Terry herausgegebenen Band Ovid Metamorphosed (2000) oder jüngst im Liebesratgeber-Update Latin Love Lessons: Put a Little Ovid in Your Life von Christine Higgens (2007) sowie in Durs Grünbeins Lob der Liebeskunst in

Aus der Traum (Kartei): Aufsätze und Notate von 2019. Es mag sein, dass das romantische Liebesverständnis Ovids spielerisch-täuschende Liebeslehre bis heute nachhaltig ersetzt hat. Ein Grund mag aber auch darin liegen, dass in das Gros der europäischen Liebesdichtung der letzten 900 Jahre bereits die Motive und Situationen der erotischen Dichtungen Ovids eingeflossen sind (Lyne 2002, 299–300). Demnach ist Ovid, auch wenn er nicht direkt rezipiert wird, bereits in der Liebesdichtung Europas aufgehoben. Abschließend sei noch auf eine der erfolgreichsten Ethiken der Liebe des 20. Jahrhunderts hingewiesen, die einen ovidischen Titel trägt: The Art of Loving des Psychoanalytikers, Sozialpsychologen und Philosophen Erich Fromm aus dem Jahr 1956 stellt in ihrer kapitalismuskritischen, humanistischen Anlage, die auch nicht-erotische Liebe reflektiert, zwar keine direkte Rezeption Ovids dar, doch versteht auch Fromm die Liebe als Kunst mit Blick auf die Grundziele der Liebeskunst (ars 1, 35–38) – die Liebe nicht nur zu finden und zu gewinnen (also sich zu verlieben), sondern auch zu erhalten. Sie wurde wie andere Schriften Fromms lebhaft in der Gesellschaftskritik der 1960er und 1970er Jahre rezipiert. Vielleicht kann man cum grano salis die sexuelle und soziale Befreiungsbewegung im Zuge der 1968er mit ihrem pazifistischen Aktivismus als Ovidianisierung des Westens begreifen. Make love not war – das Motto der von den römischen Elegikern initiierten Gegenbewegung zur verhassten Kriegskultur, die insbesondere Ovid von den Amores bis zur Liebeskunst im Zeichen Amors fortschrieb, ist in liberalen Gesellschaften innerhalb der letzten 50 Jahre mehrheitsfähig geworden (vgl. Holzberg 1997; Möller 2020). Literatur

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Asmus Trautsch

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VI Rezeption – B Erotische Dichtung, Heroides, Exildichtung

49 Die erotische Dichtung in Kunst und Musik  Der beispiellose Einfluss Ovids auf die Kunstgeschichte geht weniger von seinen erotischen Dichtungen oder den Exilelegien als von den Fasti, vor allem aber von den Metamorphosen aus. Ebenfalls auf die Musik hat Ovid vor allem über die Metamorphosen bis in die Gegenwart gewirkt (s. Kap. 53 und 54). Mit ihrer beispiellosen Anschaulichkeit hat die ovidische ›Bibel der Künstler‹ die Wirkung der ebenfalls bildfähigen Mythendarstellungen aus den erotischen Dichtungen weitgehend ersetzt, zumal sie die mythischen Narrative oft ausführlicher präsentiert (die Liebeskunst bietet dagegen die längsten Erzählungen von Ariadne und Bacchus, Daedalus und Icarus sowie Venus und Mars; zudem ist sie die ovidische Hauptquelle für den Raub der Sabinerinnen und die Geschichte von Pasiphaë und dem kretischen Stier). Das lebendige szenische Erzählen in Ovids carmen perpetuum ist der plastischen Imagination und narrativen Bildphantasie seit dem Mittelalter weitaus stärker entgegen gekommen als die elegisch-subjektive Reflexion der Amores, die erotische Didaxe der Liebeskunst und Remedia oder die Rezepturen der Medicamina faciei femineae. Doch auch die Mythenerzählungen aus der erotischen Dichtung haben die bildnerische Kreativität inspiriert, wobei nicht leicht zu entscheiden ist, welche der ovidischen Versionen die Künstler jeweils beeinflussten, zumal auch andere Darstellungen in der griechischen und römischen Literatur vorliegen. Selbst für Venus und Amor, die in Ovids erotischen Dichtungen allgegenwärtig sind, gab es bereits zu Ovids Zeiten eine Fülle an literarischen Quellen wie auch eine Typologie an skulpturalen und gemalten Darstellungen, auf die Ovid selbst mit einer Beschreibung der Venus Pudica (kapitolinische bzw. knidische Venus, s. ars 2, 613– 614) und Hinweisen auf die Venus Anadyomene anspielt (ars 3, 224, 401–402). Eine Rezeptionsgeschichte der erotischen Dichtungen in Kunst und Musik muss ihren Einfluss also im grandiosen Schatten der Metamorphosen und weiterer antiker Quellen zu erkennen versuchen. Vermutlich deshalb ist die Rezeption der erotischen Dichtungen auf die bildende Kunst und Musik bislang so gut wie nicht erforscht. Selbst neuere Beiträge zur Rolle Ovids als Dichter der Liebe für die Kunst fokussieren fast ausschließlich wieder Themen der Metamorphosen (Griesbach/Roberts 2018). Statt einer systematischen Synopsis sollen daher im Folgenden

einige exemplarische Bezüge zur Liebesdichtung in der Kunst-, Film- und Musikgeschichte schlaglichtartig beleuchtet werden.

49.1 Bildende Kunst Einen früher Einfluss Ovids auf die Kunst des Römischen Reichs lässt sich in Pompeji ausmachen, wo sich auch Graffiti finden, die unter anderem Amores und Ars amatoria abgewandelt zitieren (Milnor 2014, Wallace-Hadrill 2018). Von den 758 mythologischen Bildern, die in Pompeji erschlossen wurden, lassen sich 311 auf Ovid zurückführen; vor allem die Verbreitung erotischer Themen scheint ovidisch zu sein (Hodske 2007, 34, 56–57, 130). Doch schon hier wird der Einfluss der Metamorphosen neben dem der Fasti auf die Bildproduktion als weitaus höher eingeschätzt als jener der erotischen Dichtungen (Knox 2014; Wallace-Hadrill 2018). Die Entstehung einiger Bilder war womöglich eher an der Liebeskunst als literarischer Quelle orientiert, etwa im Casa del Ristorante genannten Haus (9, 5, 14–16) das Bild von Ariadne und Bacchus mit Amor, Pan, Silen und Satyr am Strand von Naxos, das sich gegenüber einer Darstellung der genuin ovidischen Figuren Pyramus und Thisbe befindet (Hodske 2007, 162 und Tafel 35.1; Knox 2014, 42–43). Auch das Liebespaar Venus und Mars (s. Abb. 49.1), von dem 28 Darstellungen in der Stadt erhalten sind, könnten neben den Metamorphosen und Fasti und älteren Quellen wie der Odyssee auf einen Bezug zur Ars amatoria schließen lassen. Da aber in Pompeji dokumentarische Hinweise zu den Hintergründen und Referenzen der Wandbilder fehlen, bleibt eine Zuordnung zu dichterischen Vorlagen notwendigerweise bis einem gewissen Grad spekulativ. In Fällen wie dem reichhaltig bebilderten Haus des Octavius Quartio (2, 2, 2–5), dessen Bilder im Biclinium innerhalb des Gartens ein gewisser Lucius signierte, scheint es aufgrund der Motivwahl sehr plausibel, beim Auftraggeber von einem Liebhaber der Dichtungen Ovids auszugehen (Knox 2014, 47 ff.). Zudem waren Ovids Ausführungen zu unterschiedlichen Sexstellungen, den figurae Veneris, in der Liebeskunst (ars 3, 769–788) der locus classicus während der Entstehung der pompejanischen Wandbilder in der frühen Kaiserzeit. Eine Reihe der zahlreichen erotischen Darstellungen dürfte daher durch die Liebeskunst inspiriert sein, aus der sich vier Stellungen jeweils mit der Frau oben in Pompeji abgebildet finden (Ritter 2017, 249). Während in römischer Wandmalerei mythische Themen eher dekorativen Charakter hatten, herrschte

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_49

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im Mittelalter ein didaktischer Einfluss vor. Ovids Werke wurden illustriert, wobei die Künstler in einem anspruchsvollen Medienwechsel den narrativen Zusammenhang der Texte, dessen Latein sie meist nicht verstanden, überzeugend vermitteln mussten, was auch noch für Renaissance und Barock gilt, wenngleich immer mehr volkssprachige Ausgaben den Malern und Stechern zur Verfügung standen (Llewellyn 1988, 152, 156). Der Liebesdichter und -lehrer Ovid wurde zudem selbst zur Inspiration von mittelalterlichen Holzschnitten und Porträts auf Frontispizen seiner Ausgaben seit der Renaissance bis zur Ovid-Statue von Ettore Ferrari von 1887 in Constanţa (Papponetti 1999). Standen die erotischen Dichtungen im Zentrum der mittelalterlichen Ovid-Rezeption (s. Kap. 48), wurden in der Renaissance die Metamorphosen zur Hauptquelle mythischer Geschichten, die für die von Alberti geforderte Gattung der Historienmalerei geeignet waren (Llewellyn 1988, 157). Zu den Malern, die in Renaissance und Barock Ovid als Mythenerzähler und Erotiker am häufigsten aufgenommen und variiert haben, gehören vor allem Tiziano Vecellio, Nicolas Poussin und Peter Paul Rubens (Blunt 1967, Alpers 1971, Llewellyn 1988, Allen 2002, McGrath 2015). Poussin, der volkssprachige Ovidausgaben studierte und Anfang des 17. Jahrhunderts im »Ovidian Age« (Unglaub 2006, 133 ff.) vielfach Motive aus den Metamorphosen bearbeitete, widmete dem Liebesdichter um 1624/25 das Bild Triumph des Ovid (Galleria Nazionale d’Arte Antica, Palazzo Corsini, Rom), auf dem der Dichter, bekränzt mit der Venus geweihten Myrte am Fuße einer Anhöhe sitzend, von neun Amoretten und einer schlafenden nackten Frau mit venerischen Tauben umgeben ist. Rubens zitiert am. 1, 9, 4 unter seinem Stich Susanna and the Elders von 1624, auf dem sich die zwei Männer der zum Bad bereiten Frau ohne Scham handgreiflich nähern (British Museum, London), und ars 3, 93 und 90 unter der Radierung Old woman and a boy with candles (British Museum, London), die eine Alte mit einer Kerze zeigt, an der ein Junge seine eigene entzündet (McGrath 2015, 165). Vermutlich mehrfach ist die Liebeskunst zur Vorlage für Rubens geworden, etwa für den Wandteppich zum Leben Achills, dessen Entwürfe und Skizzen sich vor allem im Museum Boijmans in Rotterdam befinden (Lammertse/ Vergara 2003). Auf dem um 1630–1635 entstandenen Modellbild The Education of Achilles (Museo Nacional del Prado, Madrid) reitet der junge Held auf dem Kentauren Chiron und scheint von diesem, der sich zu ihm umdreht, unterrichtet zu werden. In seiner Lin-

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Abb. 49.1  ›Mars und Venus‹. Fresko aus dem Haus 7, 9, 47.65 (laut Hodske 2007) Pompeji. Quelle: mauritius images / Sites und Photos / Shmuel Magal / Alamy

ken hält Chiron eine Rute, die zur Züchtigung von Achills Händen, mit denen er sich am Oberkörper des Kentauren festhält, geeignet erscheint, womit Rubens auf Ovids Beschreibung des Verhältnisses der beiden in ars 1, 11–17 anspielt (McGrath 2015, 165 ff.). Um nur eines der berühmtesten Beispiele für die Fülle an Künstlern in Renaissance, Manierismus und Barock zu nennen, die ein Echo auf Ovids amouröse Themen aus den Metamorphosen schufen, sei Gian Lorenzo Berninis ebenfalls um 1622–1625 entstandene Skulptur Apollo e Dafne (Galleria Borghese, Rom) genannt, die die Macht Amors über den Kunstgott und die Nymphe (met. 1, 452–567) in der komplexen Dynamik ihrer Verwandlung mit einem dramatischen Ineinander aus Begehren und Angst grandios ins Bild setzt. Bezüge zu Ovid als Erotiker lassen sich auch noch vereinzelt im 18. Jahrhundert etwa bei Boucher verfolgen, danach liegt die Rezeption weitgehend im Dunkeln. Offenbar erst im 20. Jahrhundert haben wieder Künstler wie Aristide Maillol und Pablo Picasso die Liebeskunst illustriert (Albrecht 2003, 228).

49.2 Film Die Dynamik ovidischer Erzählkunst, die knapp 1900 Jahre vor der Erfindung des Films ein »Kino im Kopf« (Fondermann 2008) erzeugt, hat auch den Film und

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seine Theorie inspiriert. Insbesondere die Metamorphosen eignen sich aufgrund des hohen Erzähltempos ausgesprochen gut als literarische Quelle für Filme, wie Italo Calvino bemerkt und Federico Fellini für seine Arbeit bestätigt (Walde 2007, 332). Ovids Technik schneller Schnitte und nicht-linearen Erzählens nimmt die Entwicklung des modernen Films vorweg, so dass die »ars cinematographica« sogar als eine »ars Ovidiana« begriffen wird (Winkler 2014, 475, 481). Wie in der Bildenden Kunst sind also auch für die Geschichte des Films vor allem die Metamorphosen als Vorder- und Hintergrund einflussreich gewesen (Winkler 2020). Doch ohne Echo blieben auch die erotischen Dichtungen nicht. So dient Ovids am. 2, 4 in einer Szene aus Roberto Rossellinis L ’età di Cosimo de’ Medici (Italien 1972/73) als Grundlage für eine Florentiner Diskussion über die Fähigkeit der antiken und der Vernakularsprachen, Liebe und Schönheit zu preisen (Winkler 2020, 350 ff.). Die Liebeskunst ist deutlich erkennbare Vorlage für Walerian Borow­ czyks Film The Art of Love (Frankreich/Italien 1983), der hauptsächlich im Jahr 8 n. Chr. in Rom mit Ovid als Figur, einer Art Professor der Liebe, spielt und Zitate aus seiner Liebeskunst – teilweise pornographisch und gewaltsam – in Szene setzt, ohne dabei Ovids Subtilität nahezukommen (Winkler 2014, 477 ff.; Winkler 2020, 307 ff.). Der Film Ovid and the Art of Love (USA 2019) der Regisseurin Esmé von Hoffman versetzt die Geschichte von Ovid als Liebeslehrer dagegen ins Detroit der Gegenwart, in dem soziale Missstände zu Protesten und sozialen Unruhen führen. Ovid, ein junger Dichter, gerät wegen seiner in den Clubs und Ruinen der Motor City performten Liebesdichtung und -lehre und einer Begegnung mit Augustus’ Enkelin Julia in Konflikt mit der Macht des autoritären Herrschers.

49.3 Musik Musik ist in Ovids Dichtungen ein bedeutsames Thema, unter anderem im mehrfach ausgiebig erzählten Mythos des Orpheus (Albrecht 1996). In der Liebeskunst empfiehlt der praeceptor amoris den Frauen, Instrumente wie Kithara oder Harfe spielen und singen zu lernen, um u. a. aus den Amores etwas vorzutragen oder eine Passage aus den Heroides darzubieten (ars 3, 315–345). Dass er den Mädchen etwas zum Singen geschrieben habe, bemerkt bereits die Personifikation der römischen Tragödie in am. 3, 1, 27. Man kann davon ausgehen, dass elegische Dichtung in Rom zu

Ovids Zeiten generell gesungen wurde (Wille 1967, 282 ff.), wie überhaupt in der Antike das griechische Verständnis der mousikē technē prägend blieb, in dem Dichtung, Musik und Bewegung (Tanz) in sich verbunden waren. Ovid berichtet, wie er Horaz singen und Lyra spielen hörte (trist. 4, 10, 49–50), seine Dichtung im Theater getanzt werde (trist. 2, 519; 5, 7, 25– 30) und bekennt, dass seine Leier mit Klagegesängen beschäftigt sei (Pont. 3, 4, 45–46). Gebundene Sprache und Musik gehören für ihn zusammen. Wie die Performance von Ovids Dichtung zu seinen Lebzeiten ist die breite Rezeption seiner eroti­ schen Schriften in der Liebesdichtung des Mittelalters immer auch eine musikalische. Denn die Troubadours, Vaganten oder Minnesänger boten ihre ovidischen Lieder durch instrumental begleiteten Gesang dar. Ebenso wurden später im Humanismus der Renaissance an Ovid angelehnte Liebeselegien musikalisch komponiert. Ovid hat zudem die Oper ab ovo geprägt: Angelo Poliziano nutze u. a. die Amores und Metamorphosen als Quellen für das erste italienische Drama, seine Favola di Orfeo, die mit Gesang und musikalischer Begleitung um 1480 in Mantua uraufgeführt wurde. In der Folge wurde in humanistischen Kreisen der Florentiner Camerata die Gattung der Oper aus dem Wunsch entwickelt, das antike Theater wiederzubeleben. Jacopo Peris La Dafne favola drammatica nach einem Libretto von Ottavio Rinuccini (1598) gilt als erste Oper der Geschichte und beginnt mit einem Prolog, in dem Ovid als Figur selbst auftritt und nach Art der Ars amatoria als Erotodidaktiker zu zeigen beansprucht, wie riskant es sei, gegen die Macht der Liebe zu opponieren (Solomon 2014, 373). Der Liebesdichter steht also buchstäblich direkt am Eingang der europäischen Operngeschichte. Inhaltlich sind auch die auf Peris Dafne folgenden italienischen Opern wie Claudio Monteverdis Arianna (1604) an Ovids Dichtungen, vor allem den Metamorphosen und Fasti, orientiert, welche auch die Vorlage für zahlreiche Opernstoffe des 17. und 18. Jahrhunderts in Italien, Frankreich, England und Deutschland bilden. Mitte des 18. Jahrhunderts geht die Rezeption Ovids in der Oper wie auch in der Literatur zurück, u. a. aufgrund einer neuen Orientierung am attischen Drama. Erst im 20. Jahrhundert werden ovidische Stoffe in Opern wieder populärer, wenngleich sie nicht den erotischen Dichtungen, sondern den Metamorphosen entlehnt sind. Dagegen bleibt der Liebesdichter Ovid im Opernschaffen Wolfgang Amadeus Mozarts vom frühen Bühnenwerk Apollo et Hyacinthus (1767) über Le

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nozze di Figaro (1786) bis zu Così fan tutte (1790) von spürbarem Einfluss (Solomon 2014, 380). Die berühmte ›Registerarie‹ Madamina, il catalogo è questo des Leporello gegenüber Elvira aus Mozarts Don Giovanni ist mittlerweile als eine Art Gattungsbegriff für am. 2, 4 in Gebrauch, deren Einfluss auf Mozarts Librettisten Lorenzo Da Ponte über den Don-Juan-Stoff der Commedia dell’arte wiederum angenommen wird (Holzberg 1997, 63; Holzberg 2014, 22; s. Kap. 54). Seit Ende des 18. Jahrhunderts ist es auch musikalisch ruhig geworden um den Erotiker Ovid. Doch gegenwärtig wirkt er unter Singer-Songwritern weiter, vor allem bei Bob Dylan. Seit dem Album Love And Theft (2001) arbeitet Dylan mit Zitaten und Collagen in seinen Lyrics, in die er auch intertextuelle Bezüge zu Ovid einbaut, etwa zu Amores 1, 6, 57–58 in Summer Days (Detering 2016, 226). In mehreren Songs seines Albums Modern Times von 2006 spielt er mit dem Status des Exils und intertextuellen Verweisen auf die Tristia und die Epistulae ex Ponto, die er in der englischen Übersetzung von Peter Green zitiert. Die Exilklage in der »mask of a new Ovid« (Fell 2006) ist mit der Erfahrung des enttäuschten Liebhabers verbunden, die Dylan in die Nähe von Ovid als verbanntem Erotiker rückt: So baut er in ›Thunder on the

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Mountain‹, dem ersten Song des Albums, eine Referenz auf Ovids Liebesdichtung ein, wenn er im letzten Vers der vierten Strophe vom elegischen servitium amoris singt: »Remember this, I’m your servant both night and day« und zwei Strophen später auf die Ars amatoria verweist: »I’ve been sitting down studying the art of love/ I think it will fit me like a glove«.

49.4 Beispiel Malerei – Tizian, Rubens, Boucher Vielfach auf Ovid zurückzuführen sind Motive Tizians, der sich im Venedig des 16. Jahrhunderts als einem Zentrum des Buchdrucks auf kommentierte vernakularsprachige Ovidausgaben bezogen haben kann. Sein großformatiges, 1520–1523 im Auftrag von Alfonso I. d’Este, dem Herzog von Ferrara, für die Camerini d’Alabastro des Palazzo Ducale gemaltes Bild Bacchus und Ariadne (s. Abb. 49.2) zeigt die Begegnung des ungleichen Liebespaars am Strand von Naxos. Dort treffen die von Theseus verlassene Ariadne und der Gott zum ersten Mal aufeinander, was Ovid in der Liebeskunst beschreibt (ars 1, 525–564). Sie stellt

Abb.  49.2  Tizian, ›Bacchus und Ariadne‹.The National Gallery, London. Quelle: Wikipedia

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für dieses einflussreiche Bild Tizians die Hauptquelle dar (Thompson 1956; Alpers 1971, 150). Tizian scheint die von Theseus verlassene Ariadne am linken unteren Bildrand nach Ovids plastischer Beschreibung gemalt zu haben: Die Tochter des Minos und der Pasiphaë geht »in gürtellosem Gewande«, dessen dunkelblauen Stoff sie mit der Linken zusammenhält, »mit nacktem Fuß« in Richtung Meer, auf das sie mit dem rechten ausgestreckten Arm zeigt (ars 1, 529– 530, vgl. epist. 10, 145–147). Ihren auch seelisch bewegten Zustand, ein besinnungsloses Umherirren (ars 1, 527), setzt Tizian durch eine ausladende Pathosformel ihres Kleides, dessen rotes Band sie vom Boden bis zu den Schultern kreisförmig umschwingt, und ihr über beide Schultern fallendes »blondes Haar ohne Band« ins Bild (ars 1, 530). Aus dem geöffneten Mund, der im Halbprofil zu sehen ist, scheint Ariadne »den tauben Wogen« die ihr von Ovid in den Mund gelegten Klageworte zuzurufen, auf denen Theseus, ihr Adressat und Herzensbrecher, bereits fast bis zum Horizont am linken Bildrand gesegelt ist (ars 1, 530–532; zur Trauer und Klage Ariadnes am Strand von Naxos vgl. ausführlich epist. 10 sowie met. 8, 176–177 und Catull 64, 54–70 und 123–201). Die Szene rechts von der Ariadnefigur hat vor allem Catulls Lied mit seiner detaillierten Beschreibung des bacchantischen Zugs auf der Hochzeitsdecke von Peleus und Thetis zum Vorbild (Catull 64, 251–264). Aber auch das Echo von Ovids Beschreibung ist in den lebendigen Bewegungen deutlich wiederzufinden, mit denen Tizian das Gefolge des Weingotts von rechts in Richtung der am Ufer klagenden Ariadne ziehen lässt. Es besteht aus »Cymbeln und Pauken« spielenden »Mimalloniden, denen das Haar offen auf den Rücken fällt«, »leichtfüßigen Satyrn« und dem betrunken auf einem Esel reitenden »alte[n] Silen« im rechten oberen Bildmittelgrund (ars 1, 537–544). Die musizierenden und tanzenden Figuren mit dionysischen Attributen wie Efeukränzen, Schlangen und abgerissenen Tiergliedmaßen folgen dem goldenen Wagen des Bacchus, der just neben Ariadne zum Halten gekommen scheint. Gezogen wird er von zwei Geparden, einer Variation der bei Ovid dem Wagen »vorgespannten Tiger« (ars 1, 550), die wohl auf die Geparden in der Menagerie des Auftraggebers, die Tizian studiert haben dürfte, zurückzuführen ist, aber auch für eine Rückkehr des Gottes aus Indien sprechen könnte (Panofsky 1969, 144; Tresidder 1981). Der nur mit einem zur Pathosformel geschwungenen rötlichen Tuch bekleidete Bacchus ist bei einem leidenschaftlichen, Ariadne zugewandten Sprung aus dem Wagen zu sehen, als wolle

er wie bei Ovid sicherstellen, dass sie »die Tiger nicht fürchte« (ars 1, 559), wonach es allerdings nicht aussieht, zumal die Geparden als die ruhigsten Wesen auf dem Bild erscheinen (die Angst artikuliert Ariadne in epist. 10, 86, dazu die Furcht vor den am Himmel erscheinenden Göttern [epist. 10, 95], die Bacchus einerseits auslöst, andererseits offenbar aufzuheben versucht). Aus seinem geöffneten Mund scheint der Gott die tröstenden Worte zu sprechen, die Ovid ihn vor seinem Sprung Ariadne zurufen lässt: »Sieh, ich bin für dich da, ein treuerer Beschützer. Fürchte dich nicht, Mädchen von Cnossus, du wirst Bacchus’ Gemahlin. Nimm den Himmel zum Geschenk« (ars 1, 555–556) – auf eben dieses Geschenk zeigt der Gott bei Tizian während des Sprungs mit der nach hinten ausgestreckten Linken. Seine Ankündigung in der Liebeskunst, Ariadne werde als Sternbild »oft einem unsicheren Schiff als kretische Krone den Weg weisen« (ars 1, 558), holt Tizian ins Jetzt der Szene, indem er weit über Theseus’ Segeln und Ariadnes Gestalt am linken oberen Bildrand die Corona Borealis mit acht Sternen markiert (in den Fasti wird sie erst das Trostgeschenk sein, nachdem Bacchus Ariadne wie einst Theseus untreu gewesen war: fast. 3, 459–516). Tizians Bild inszeniert in den komplexen Bewegungen der Körper und Gesichter auch die Gegensätze von Wildheit und Zähmung, Trauer, Angst, Freude, Liebesverheißung und göttlich-männlicher Selbstherrlichkeit, die Ovid in der Liebeskunst aufruft. Mit Kenntnis der literarischen Quelle können die Betrachter sich den nächsten Moment der Szene vorstellen, in dem der Gott des Weins, aus dem Wagen in den Sand gesprungen, Ariadne an sich drücken und sie, die sich nicht wehren kann, forttragen wird, bis das neue Paar sich »auf heiligem Lager« unter bacchantischen Hochzeitsrufen der hier anwesenden Schar vereinigen wird (ars 1, 561–564). Auch Rubens malte eine Szene, die literarisch in der Liebeskunst (ars 1, 679–680) präfiguriert ist: den Raub der Töchter des Leukippos (s. Abb. 49.3). Das Bild zeigt mittig die beiden Schwestern Phoebe und Hilaeria übereinander, die rechts und links von den beiden Dioskuren Castor und Pollux, hinter denen sich ihre Pferde in Aufregung befinden, halb ergriffen, halb getragen werden. Dabei schaut Cupido vom linken Bildrand aus, das braune Pferd um den Hals fassend, den Betrachter gelassen an. In den leicht angewinkelten Armen der oberen Leukippide, die mit geöffneten Fingern eher sanft ihre rechte Hand auf den rechten Arm des Diskouren legt, der sie ohne Gewalt anzuheben scheint, mag man einen Reflex auf Ovids Bemer-

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kung erkennen, dass jede eingesetzte körperliche Kraft sanft sein solle und dass den beiden geraubten Frauen ihr Räuber gefallen habe (ars 1, 667; 680). Die Stelle, die wie auch Rubens’ Bild die Entführung als legitim erscheinen lässt, steht im Kontext von Ovids Plädoyer für eine Aufdringlichkeit, die, so sein männlicher Blick, von schamhaften Frauen durchaus begrüßt werde (ars 1, 663–680). Ein Spiel mit erotischer Leichtigkeit und weiblicher Souveränität kann man ein Jahrhundert später in François Bouchers Bild Madame de Pompadour bei der Toilette von 1758 erkennen (Fogg Art Museum, Cambridge), das das Motiv der Frau bei der Toilette aus der venezianischen Malerei des 16. Jahrhunderts aufnimmt (Schäpers 1997). Ovid präsentiert die Kosmetik der Frauen in der Ars amatoria und den Medicamia faciei femineae als Ausdruck des von ihm gefeierten cultus. Die Technik der Selbstgestaltung steht im urbanen Kontext einer kultivierten Zivilisation und kontrastiert mit einem rohen Naturzustand auf dem Lande (ars 3, 101–128; med. 1–10; vgl. Myerowitz

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1985, 41 ff.). In ähnlichem Geist bringt einige Jahre vor Bouchers Bild Voltaire das Lob der Kultur in seinem Gedicht Le Mondain zur Sprache. Kosmetische Selbstgestaltung vergleicht Ovid mit der künstlerischen Gestaltung von Skulpturen, Ringen und Kleidung und führt als Beispiel eine Skulptur nach dem Typus der Venus Anadyomene an (ars 3, 219–224). Im intimen Kontext des erotischen Täuschungsspiels hält der praeceptor amoris allerdings die Verbergung der Kunstmittel nach der Toilette für geboten (ars 3, 209– 234), denn es verderbe die ästhetische Wirkung, dem Geliebten Schminktöpfen und Salbe zu zeigen (vgl. rem. 340–356 für den entsprechenden Rat an die Männer, diese Techniken gezielt bei ihren Geliebten zu besichtigen, sofern sie sich die Liebe abgewöhnen wollen). Auf Bouchers Bild werden diese Techniken der Kosmetik für den derart ins Verborgene blickende Betrachter ausgestellt: Die Mätresse des Königs Louis XV. sitzt, aufwendig gekleidet und frisiert, an einem Toilettentisch vor einem Spiegel mit einem RougePinsel in der linken, einem Rougekästchen in der

Abb. 49.3  Peter Paul ­ Rubens, ›Raub der Töchter des Leukippos‹.Alte Pina­ kothek, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, München. Quelle: Wiki­ pedia

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rechten Hand. Vor ihr auf dem Tisch befinden sich noch eine Puderdose mit Quaste und andere Dekorationselemente. Doch wird sie keineswegs gemäß der Remedia ertappt oder entlarvend gezeigt, vielmehr schaut sie mit makellosem make-up als Meisterin einer ihre Erscheinung vollendenden Kulturtechnik, die allegorisch auch für die Malerei steht, souverän und selbstbewusst den Betrachter an (Sammern 2018). Das ovidische Motiv der Frau, die aus sich ein Kunstwerk macht, wird von Boucher aufgegriffen und weist durch den allegorischen Charakter auf die Emanzipation voraus, in der Frauen den Künstlerinnenstatus – nicht nur in Bezug auf ihren Körper – selbst in Anspruch nehmen werden.

49.5 Beispiel Film – Kubrick Stanley Kubricks letzter Film Eyes Wide Shut (Großbritannien/USA 1999), eine tiefsinnige Reflexion über Liebe und Begehren nach Arthur Schnitzlers Traumnovelle, eröffnet mit einer kurzen Szene, in der sich das New Yorker Ehepaar Alice (Nicole Kidman) und Bill Harford (Tom Cruise) für den Besuch einer weihnachtlichen Dinnerparty bei ihrem Freund Victor Ziegler (Sydney Pollack) vorbereitet. In der zweiten, längeren Szene, die ein intermediales Spiel mit Ovid vorführt (zum Hintergrund des Drehbuchs s. Winkler 2020, 323 ff.), befinden sich die beiden Eheleute auf der Party, auf der Jimmy McHughs und Dorothy Fields’ Song I’m in the Mood for Love von 1935 zu hören ist. Die nach einem Tanz mit ihrem Mann allein an der Bar lehnende Alice wird von einem älteren Mann namens Sandor Szavost (Sky du Mont) angesprochen, nachdem dieser, wie bezeichnenderweise in einer Einstellung im Rücken von Alice zu sehen ist, ihr Champagnerglas genommen hat. Auf Alices Bemerkung, dass das ihres sei, antwortet Sandor: »Oh, I’m absolutely certain of it« – und trinkt demonstrativ den Rest aus. In dieser Annäherung liegt ein Verweis auf Ovid, der dem Liebhaber empfiehlt, er solle rasch das Glas ergreifen, aus dem die Geliebte getrunken habe, und an der Stelle trinken, an der sie ihre Lippen hatte (ars 1, 575–76; vgl. am. 1, 4, 31–32; epist. 17, 79–80). Dieser mediale Fernkuss, den Sandor durch einen langen Blick in Alices Augen und einen ostentativen Handkuss sinnlich akzentuiert (ars 1, 573), ist ein Übergriff, dem nicht wie bei Ovid zärtlich-spielerische Fernkommunikation vorausgeht, aus der die Geste überhaupt erst ihr erotisches Potential entfalten könnte. Sandor markiert von Anfang an eindeutig seinen Sta-

tus als Verführer. Auch sein Name hebt das in ironischer Weise hervor, ist doch Sandór die ungarische Variante des griechischen Namens Alexander, der wiederum ›der Männerabwehrende‹ und ›Beschützer‹ bedeutet. Sandor Szavost möchte aber den Ehemann abwehren und, euphemistisch gesagt, Alice vor der exklusiven Bindung an ihn durch eigenen Eroberung beschützen, wie im weiteren Verlauf der Szene klar wird. Auch sein Nachname verweist auf das Ziel, erscheint er doch anagrammatisch zusammengesetzt aus sáv (ungarisch für ›Band‹) und oszt (ungarisch für ›teilen‹), als ginge es darum, das Band der Ehe – selbst in der Buchstabenfolge schon – zu trennen. Auch wenn Sandor als Charmeur elegant und relativ dezent vorzugehen weiß, erweist er sich als zwar selbstbewusster, doch nicht wirklich erfolgreicher Schüler des praeceptor amoris, denn nicht nur lässt er ein Spiel mit Ambiguität und Mehrdeutigkeit vermissen, er legt – nun aus einer Einstellung der beiden von vorne – auch umgehend seine Kunstmittel, die Lehren des römischen Erotikdozenten, offen: »Did you ever read the Latin poet Ovid on the art of love?«, fragt er Alice, nach dem er sich als Ungar vorgestellt hat (s. Abb. 49.4). Alice, die sich, ironisch auf den Exotismus Sandors reagierend, als Amerikanerin vorstellt, erweist sich – für Sandor vermutlich unerwartet – in ihrer Rückfrage als so gebildete wie gewitzte Frau, als wäre sie die wahre Schülerin Ovids, die ihren Autor wirklich gelesen hat (ars 3, 329–48) und sein späteres Schicksal aus den Tristia und den Epistulae ex Ponto kennt: »Didn’t he wind up all by himself, crying his eyes out in some place with a very bad climate?« Während dieser Frage bewegt sie sich fast schwankend zu Sandor und von ihm weg wie eine gekonnt angetrunken wirkende Schauspielerin, die somit auf Sandors Spiel performativ mit ihrer eigenen Rolle à la Ovid reagiert. Auch im weiteren Verlauf der Verführungsszene, in der Sandor Ovids Leben als Erotiker hochhält (»But he also had a good time first. A very good time.«), kommt der Verführer, als Ovidschüler natürlich auf Dinnerpartys unterwegs (ars 1, 229–252; 565–630), in kultivierter Diktion, aber ohne den Umweg des cultus, wie Ovid ihn zelebriert, in drei Schritten recht schnell zur Sache. Zunächst fordert er Alice zum Tanzen auf, wogegen ihr Ehemann sicher nichts einzuwenden habe. Auch im Tanzen, zum dem sie einwilligt, erweist sich die Leiterin einer Kunstgalerie als Könnerin der Gesten und Bewegungen, wie Ovid es den Frauen rät (ars 3, 349–352). In ihren lächelnden Augen, mit denen sie auf Sandor reagiert (ars 3, 510–514), verwandeln sich, anders als im dunkel-ausdruckslosen Blick

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Abb.  49.4  Filmstill aus: Stanley Kubrick, Eyes wide shut (1999). Quelle: Wikipedia

von dessen »Eyes Wide Dead« (Winkler 2020, 327), die Lichter der Wanddekoration in ein Ausdrucksphänomen (Rice 2008, 203). Diese Dekoration besteht zum Teil aus mehrfarbig leuchtenden, achtzackigen Sternen, die zum einen Weihnachtssterne, zum anderen aber auch das heidnische Symbol der babylonischen Göttin des Begehrens und des Krieges Ištar (sumerisch Inanna) darstellen. Dieses auch als Stern des Planeten Venus, mit dem Ištar assoziiert war, bekannte Symbol lässt an die Venus und Mars verbindende militia amoris Ovids denken, die Sandor gerade an Alice zu erproben versucht. Diese spielt mit Mimik und der auf Sandors rechter Schulter tändelnden Linken, ihre Lippen und nackte Schulter sind ihm stets etwas zu nah (ars 3, 281–284; 299–310). Nachdem sie beim Tanz ihren Mann Bill mit zwei Models flirten gesehen hat, beginnt Sandor einen Dialog über die Ehe, die für Mann und Frau Täuschung (deception) zu einer Notwendigkeit mache – ebenfalls ein klarer Verweis auf die Liebeskunst, die sich auf mehreren Ebenen als Kunst der Täuschung (dissimulatio) präsentiert. Sandor fährt fort mit einer Erklärung, dass Frauen nur in die Ehe eingewilligt hätten, damit sie ohne Jungfräulichkeit mit anderen Männern schlafen konnten. Während Ovid es offenlässt, ob seine Liebesdidaxe auch zu Ehebruch rät, wird der ungarische Don Juan eindeutig. Schließlich bietet Sandor Alice an, mit ihr in die Galerie des ersten Stocks zu gehen, um Victors Renaissancebronzen anzuschauen – ein wenig missverständliches Angebot zu einem gemeinsamen Abenteuer. Alice, die längst den Flirt durch ihre Blicke, ihr Lachen, ihre zärtlichen Gesten und ihr angetrunkenes Spiel bestimmt, lehnt diese Offerte und somit das Exil außerhalb der urbanen Party und ihrer

Ehe aber sanft ab und nimmt sich stattdessen gegen Sandors Hartnäckigkeit vor, ihren Ehemann Bill zu suchen. Der aufdringliche Flirt des Ovidadepten war nicht erfolgreich, ist doch Alice bereits in Liebe mit Bill verbunden und lässt sich auf den erotischen Flirt nur im Modus der dissimulatio ein. Nicht ihren Ehemann täuscht sie, sondern den Verführer. Die Kunst der Liebe müssen die Eheleute aber erst wieder lernen und zelebrieren, von der sie der Film im weiteren Verlauf zunächst wegführen wird. Abschließend aber sind Alices und Bills Blicke und Gesten wieder aufeinander bezogen, sie sind, so Alice, beide wieder wach. Nachdem sie Bill ihre Liebe bekannt hat, plädiert Alice am Ende des Films dafür, etwas äußerst Wichtiges sehr bald zu tun. Was es sei, fragt Bill. Alice: »Fuck.« Auf vielfältige Weise, würde Ovid ihnen raten, denn mille ioci Veneris (ars 3, 787). Literatur

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Asmus Trautsch

50  Die Heroides

50 Die Heroides Auch wenn Ovids Epistulae Heroidum keine so intensive Rezeption zuteilwurde wie seinem Hauptwerk, den Metamorphosen, lässt sich doch eine konstante literarische Nachfolge bis ins frühe 18. Jahrhundert ausmachen, gefolgt von vereinzelten Bezugnahmen, die sogar bis in die Gegenwart reichen (zum Gesamtzusammenhang: Dörrie 1968 [grundlegend]; überblickshaft Vischer 2010 und Czapla 2000; zu Humanismus und Barock: Eickmeyer 2012, Manuwald 2015, Beck-Chauvard 2009, 129–337). In gewisser Weise luden die ersten fünfzehn fiktionalen Briefe mythischer Frauen an ihre Ehemänner, tatsächlichen oder erwünschten Liebhaber aufgrund ihrer einseitigen Kommunikationssituation immer schon zur Fortsetzung ein. Ovid selbst verzeichnet in einer Elegie der Amores sechs Gedichte, die ein gewisser ›Freund‹ Sabinus (meus... Sabinus) als Antwortschreiben auf sechs seiner Heroides verfasst haben soll (am. 2, 18, 27–34). Nur drei Antwortbriefe sind überliefert, galten allerdings für Jahrhunderte als Interpolationen eines humanistischen Gelehrten namens Angelus de Curibus Sabinis (z. B. Dörrie 1968, 104–106). In jüngerer Zeit wird allerdings im Rahmen einer neuen Edition die These vertreten, dass die Gedichte antik und im Mittelalter tradiert worden seien (Lingenberg 2018).

50.1 Inseln der Rezeption: Spätantike und Mittelalter Als gute Grundvoraussetzung für die frühe Rezeption der Heroides kann gelten, dass mindestens einzelne von ihnen in christlicher Spätantike und Mittelalter kontinuierlich als Stoff der Lateinschulen verwendet wurden. Zum einen konnten sie (zum Großteil) einer christlichen Ethik weniger prekär erscheinen als Amores und Ars amatoria, zum anderen bildeten sie ein übersichtlicheres, leichter aufteilbares Werk als die Metamorphosen, die indessen zur Enzyklopädie der Mythologie aufstiegen (s. Rezeptions-Artikel zu den Met.). Mittelalterliche Einführungen und Kommentare aus dem Schulkontext belegen eine im Wesentlichen didaktisch operierende Auslegung, die positive (Penelope) und negative (Phaedra, Medea, Helena) Exempel gleichermaßen zur moralischen Erbauung der Schüler verwandte (u. a. Huygens 1970, 29 u. ö.; Hexter 1986, 144–148). Auf dieser Basis konnten Dichter vereinzelt, sei es in Form expliziter Anspielungen auf Versebene, sei es

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in der Imitation formaler Aspekte wie der Briefkommunikation oder der Suasorie als Grundhaltung der schreibenden Frau gegenüber einem abwesenden Mann, Ovids Briefdichtung nachahmen oder zu übertreffen suchen. So integriert Venantius Fortunatus, italisch-gallischer Dichter des 6. Jahrhunderts, in sein Langgedicht De virginitate in mehrfacher Verschachtelung einen fiktiven Brief, in dem eine junge Nonne in ovidischer Diktion ihrer Sehnsucht nach dem ›Geliebten‹ Christus Ausdruck gibt (ediert in Venantius 1994–2004 II, 129–146 [c. 8,3]). Im 12. Jahrhundert kann Ovids stärkere Präsenz im Bildungskanon einerseits an Imitationen in Form antikisierender Antwort- oder Alternativbriefe abgelesen werden (z. B. einer anonym überlieferte Briefelegie Deidamia Achilli; dazu Stohlmann 1973, hier der Text 224–231), andererseits an kreativerem Umgang mit Form und Grundsituation der Heroides. Exemplarisch der bretonische Bischof Baudri von Bourgueil, der die Form des ovidischen Doppelbriefs in drei Varianten aufgriff und variierte (ediert jeweils in Baudri 1979): Ein Paar folgt thematisch eng dem antiken Vorbild, da Helena und Paris als Schreiber auftreten, variiert inhaltlich aber die Vorlage stark, indem selbst diese ehebrecherische Verbindung par excellence einer massiven, mit Mythenkritik durchsetzten Enterotisierung unterzogen wird (c. 7/8). Im zweiten Briefpaar wendet der Autor die Konfiguration der Heroides auf Ovid selbst an, indem er ihn aus dem Exil mit einem Freund namens Florus kommunizieren lässt, somit eine im Mittelalter florierende Biographik Ovids mit dessen Exildichtung (Tristia, Epistulae ex Ponto) kombinierend (c. 97/98). Und im dritten Paar transponiert der Dichter die Konfiguration in die christliche Gegenwart, in der ein Mönch und eine Nonne Briefe wechseln, die sich zwar der erotischen Sprache Ovids bedienen, diese aber in jedem Punkt auf eine keusche, himmlische Liebe ummünzen (c. 200/201). Mit Mythenkritik, biographischer Grundierung, einer vor allem auf Enterotisierung zielenden interpretatio Christiana und (möglicherweise) Allegorisierung sind bereits bei den mittelalterlichen Rezipienten die wichtigsten poetischen Strategien der HeroidesRezeption benannt, die in der Frühen Neuzeit weiter ausgebaut, variiert und ergänzt wurden.

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_50

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VI Rezeption – B Erotische Dichtung, Heroides, Exildichtung

50.2 Ovid übertreffen. Die Hochzeit der Heroides in der Frühen Neuzeit Von der verstärkten und aktualisierenden Hinwendung der italienischen Renaissance zu antiker Philosophie, Rhetorik und Dichtung konnte auch das Werk Ovids profitieren. Einzelne Frauengestalten aus den Heroides begegnen bereits bei Dante, Boccaccio, hier vor allem in der Fiammetta (1343/44), und Chaucer, teils unter signifikanten Modifikationen ihrer jeweiligen mythologischen Einbettung (s. dazu Hagedorn 2004). Gerade mit Chaucers Legend of Good Women und Boccaccios De claris mulieribus (ca. 1360) hielten Ovids verlassene Heldinnen Einzug in eine europaweit geführte Debatte über den Wert des weiblichen Geschlechts, die heute als Querelle des femmes bezeichnet wird. Diese Aufwertung, die sich teils an mittelalterliche moralische Deutungen anschloss, teils sie modifizierte, sorgte für eine intensive literarische imitatio und aemulatio der ovidischen Prätexte, sei es in den zahllosen einzelnen, meist antikisierenden Briefelegien, die sich bei Dichtern in ganz Europa finden, sei es in Zyklen von Versepisteln, z. B. des Hofpoeten in Rimini, Basinio da Parma, der in einem Liber Isottaeus fiktive Liebesbriefe zwischen seinem Dienstherrn Sigismondo Malatesta und Isotta degli Atti dichtete, sei es in politisch motivierten Heroiden, etwa Ulrichs von Hutten, der eine (deutlich an vergleichbaren Episteln Petrarcas orientierte) Allegorie Italiens an Kaiser Maximilian II. schreiben lässt, er möge doch über die Alpen marschieren, um die von Franzosen und Spaniern Bedrängte zu ›befreien‹ (Eickmeyer 2012, 124–151). Den entscheidenden Schritt von solchen vereinzelten panegyrischen Aktualisierungen oder Allegorisierungen der Briefform zu humanistischen Heroides als ganzem Buch machte zu Beginn des 16. Jahrhunderts Helius Eobanus Hessus mit seinen Heroidum Christianarum Epistolae (1514), 24 elegischen Briefen, die, wie schon der Titel nahelegt, Ovids mythische Frauengestalten in solche aus Bibel und Hagiographie umwandelten (Edition: Hessus 1990 und Hessus 2004 ff., II). Die Schreiberinnen üben dementsprechend reichlich Mythenkritik und ersetzen in ihren Briefen den sehr irdischen Eros Ovids durch die geistliche Liebe. Sprachlich und stilistisch orientiert sich der Humanist deutlich enger an Ovid als seine mittelalterlichen Vorläufer, was ihm unter Zeitgenossen den Ehrentitel eines ›Ovidius Christianus‹ einbrachte. Dabei versteckt er christianisierende Anspielungen oftmals gezielt in Imitationen von Junkturen aus Ovids Heroides, bevor

er im Schlussbrief der Sammlung diese mit Ovids autobiographisch gedeuteter Exildichtung kombiniert und zugleich sein humanistisches Selbstbewusstsein präsentiert: Der Autor persönlich richtet einen sehnsüchtigen Brief an eine spröde Dame namens ›Nachwelt‹ (epist. 24, dazu Weinczyk 2008). Mit seinen Christianae Heroides schuf Hessus ein Gattungsmodell, das in ganz Europa als Alternative zu einer nach wie vor antikisierenden Heroiden(nach) dichtung etwa Italiens fortwirken sollte: Claude d’Es­ pence in Frankreich publizierte christianisierte Heroides (1564), während Mark Alexander Boyd in Schottland nicht nur Ovids Heldinnenbriefe mit originären Antwortschreiben versah, sondern auch in einer eigenen Sammlung (1592) ganz der antikisierenden aemulatio treu blieb, indem er Frauengestalten schreiben ließ, die zum Großteil aus Ovids Metamorphosen entlehnt waren (Teiledition: Ritter 2010). In den Niederlanden florierte die Gattung die gesamte Frühe Neuzeit hindurch, früh auch in der Volkssprache, wobei sich antikisierende Versepisteln mit politisch aktualisierenden und dezidiert nach Hessus’ Vorbild christianisierenden lange die Waage hielten. Die interpretatio Christiana, die von Andreas Alenus’ Sacrarum Heroidum libri tres (1574; 77 Briefe) bis Joost van den Vondels Brieven der Heilige Maeghden, Martelaressen (1642) reichte, setzte sich letztlich aber durch (dazu umfassend van Marion 2005). Abgesehen von der obligatorischen Enterotisierung der Gattung im geistlichen Bereich reduzierte die erforderliche Treue etwa zum biblischen Text – gerade im protestantischen Raum – diesen Rezeptionsstrang um einen wichtigen Aspekt der ovidischen Heroides: die Freiheit der schreibenden Heldin, ihre Vorge­ schichte umzuschreiben. Dieser Primat der Heroides Sacrae gilt vor allem fürs 17. Jahrhundert, als Dichter der Societas Jesu sich an Hessus, Alenus und anderen orientierten, um diese Spielart weiter auszubauen. Im literarischen Feld fand eine deutliche Diversifizierung der Sujets statt: Männliche Schreiber ergänzten die ›klassische‹ Form der Heroide etwa bei Jakob Bidermann, der innerhalb weniger Jahre Heroum Epistulae (1630, 1634) und Heroidum Epistulae (1638, 1642, s. d. Reprint Bidermann 2005) in jeweils drei Büchern herausbrachte. Während Bidermanns oft aufgelegte Heldenbriefe ihre Sujets und Schreiber bzw. Empfänger ausschließlich aus Heiligenlegenden beziehen, stammen die ersten beiden Bücher der Heldinnenbriefe ohne Ausnahme aus dem Alten Testament, bevor im letzten Buch dreimal allegorische Figuren der Ecclesia zu Schreiberinnen wer-

50  Die Heroides

den. Mit ähnlichen Diversifizierungs- und Innovationsstrategien sollten die zeitgenössischen und nachfolgenden Jesuitendichter operieren: Der Flame Baudouin Cabiliau (Cabillavius) legte mit seinen 99 Briefe umfassenden Epistolarum Heroum et Heroidum libri quatuor (1636) nicht nur die umfangreichste Heroidensammlung überhaupt vor, sondern baute die Einzel- und Doppelbriefe immer wieder zu ganzen Zyklen von bis zu 13 Briefen aus. Von solchem universalen Anspruch grenzte sich wenig später Jean Antoine Vincart ab, indem er drei Bücher Sacrarum Heroidum Epistolae (1640) mit jeweils acht Episteln vorlegte. Seine Innovation liegt in einem Bereich, der sich mit didaktischen Zwecken (auch) im Schulkontext erklären lässt: Er schickte jedem seiner Briefelegien je ein umfassendes argumentum in Prosa sowie eine bildliche, emblemhafte Darstellung im Kupferstich voraus und reicherte die Gedichttexte selbst mit erläuternden Anmerkungen zu historischen oder theologischen Kontexten an. Als letzter jesuitischer Heroidendichter im Barock legte Jacob Balde ein deutliches Krisenbewusstsein an den Tag. In der umfänglichen Vorrede zu seiner Urania Victrix (1663, Teiledition: Balde 2003) bietet der Jesuit eine lange Liste der bereits bedichteten Figuren aus Antike, Bibel und Hagiographie, um aufzuweisen, wie man nun eben nicht mehr dichten könne (Balde 2003, 14 [5]). Er setzt sich demgemäß am weitesten von seinen Ordensgenossen ab, indem er die Titelfigur seiner 30 Versepistel als Allegorie der christlichen Seele konzipiert, die von Allegorien der fünf Sinne und ihren lebensweltlichen Agenten (z. B. einen Koch und einen Jäger für Gustus; ein Musiker und ein Poet für Auditus) brieflich umworben wird, ihre constantia aber dadurch bezeugt, dass sie alle abweist. Eine solche, u. a. auf Augustinus zurückgehende Typologie der menschlichen Sinne (s. die Einleitung in Balde 2003) schöpfte das schon von Alenus (u. a. in einer Epistel Anima Corpori) oder Bidermann (in seinen Ecclesia-Briefen) genutzte allegorische Potential der christianisierten Heroidenbriefe vollends aus, so dass nach Balde auch in dieser Richtung keine Innovationsversuche mehr unternommen wurden. Andere Wege beschritt zeitgleich Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau, dessen Helden-Briefe (1666, gedruckt postum 1680; Edition: Hoffmann 1984 II, 428–600) die erste deutschsprachige Heroidensammlung darstellen. Während sich das Werk naturgemäß formal stärker vom antiken Vorbild entfernt, führt Hoffmannswaldau in teils gemäßigter, teils frivoler Weise die Erotik wieder ein, indem er sich nicht am Strang der geistlichen Heroides-Rezeption orientiert,

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sondern an den historische Sujets verarbeitenden England’s Heroicall Epistles (1597; Edition von Drayton 1961 II, 129–308) des Michael Drayton. Neben Christopher Marlowes Epyllion Hero and Leander (gedruckt 1598), das Ovids Briefpaar epist. 18/19 in ein Langgedicht transformiert, können Draytons subtil an Ovid orientierte Doppelbriefe als wichtigstes volkssprachliches Rezeptionszeugnis der elisabethanischen Dichtung gelten. Anders als Marlowe, der den antiken Stoff sprachlich-stilistisch transformierte, modifizierte er auch inhaltlich, indem seine Versbriefe ebenso aus der englischen Geschichte von Henry II. bis zu Jane Grey und Lord Dudley schöpften, wie Hoffmannswaldau knapp siebzig Jahre später historische Figuren ›Deutschlands‹ als Schreiber(innen) präsentierte: von Einhard bis zu skandalumwitterten zeitgenössischen Adligen, deren Namen er wohlweislich verschlüsselte (s. Noack 1999, 325–367; Helmridge-Marsilian 1991). An diese im preziösen Barockstil verfasste, teils verrätselte Kombination von Historie und Erotik knüpften weitere Dichter des deutschen Spätbarock an, während zugleich auch eine deutschsprachige geistliche Heroidendichtung, etwa in Ziglers Helden=Liebe der Schrifft Alten Testaments (1691) noch eine späte Blüte erlebte.

50.3 Getrennte Wege: Adaptionen der Heroides im 18. und 19. Jahrhundert Dieser barocken Blüte einer vorwiegend (aber nicht nur) lateinischen Heroidendichtung wurden in den sich nach und nach etablierenden Nationalliteraturen ganz unterschiedliche Weichen gestellt. Der Klassizismus Frankreichs ermöglichte im späten 17. und 18. Jahrhundert, dass die Tradition reichhaltig fortgeführt werden konnte, die sich rasch mit epistolarer Prosa verband (s. dazu umfänglich Carocci 1988, v. a. die Anthologie in Bd. II). Auf französische Einflüsse dürfte auch die Mode antikisierender Heroides-Nachdichtungen im Russland des 18. Jahrhunderts zurückzuführen sein (Dörrie 1968, 118–119). In England initiierten die neuen ›Augustans‹ eine Ovid-Rezeption, die auch die Heroides einschloss und etwa in Popes europaweit rezipiertem und nachgeahmten Briefgedicht Eloise to Abelard (1717) den nahtlosen Übergang der Gattung in die ›sentimental poetry‹ sicherstellte. In der italienischen Dichtung, die sich ohnehin immer wieder ihrer Renaissance-Tradition versicherte, war vom Barock bis ins 19. Jahrhundert eine schmaler werdende, doch ungebrochene Rezeption der Heroides zu verzeichnen, namentlich von Marinisten wie

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VI Rezeption – B Erotische Dichtung, Heroides, Exildichtung

Antonio Bruni, der in seinen Epistole eroiche (1627; ediert als Bruni 2003) Schreiberinnen und Schreiber aus der Antike ebenso heranzog wie aus den Renaissance-Epen Tassos und Ariosts, bis ins 19. Jahrhundert, etwa zu Ugo Foscolo (s. umfassend: Puggioni 2017). In Deutschland hingegen gerieten humanistische und barocke Traditionen schnell unter das Verdikt einer Stil- und ›Schwulst‹-Kritik, die hier eine Fortführung des Rezeptionsweges deutlich erschwerten. Mitte des 18. Jahrhunderts mochte Christoph Martin Wieland mit seinen Briefen Verstorbener und Moralischen Briefen (je 1753, anonym erschienen [Wieland 1753a und 1753b]) an die Tradition der Versepistel anknüpfen, doch sind sie eher von empfindsamer Freundschaft als ovidischer Erotik geprägt, die Wieland seit seinem kurz zuvor publizierten AntiOvid ohnehin prekär erscheinen musste. Für den Herder der Literaturbriefe sollten wenig später die Epistulae Heroidum nur noch als »dramatische Übungen« taugen, die »im ganzen ungefühlte Empfindungen« nur noch daher »leierten« (Herder 1985–2000 I, 493, Anm. 92). Dieser Tenor wirkte bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts nach. Dem Primat der Volkssprachen zum Trotz muss jedoch auch betont werden, dass die lateinische Heroidendichtung, wenngleich auch literarhistorisch meist unbemerkt, fortgeführt wurde, wobei stärkere Anknüpfungen an frühneuzeitliche Vorbilder festzustellen sind. Zahlreiche Sammlungen und Publikationen historischer, allegorischer und panegyrischer Heroiden (Dörrie 1968, 418–427) sind sicherlich dem Kontext von Schule und Akademie zuzurechnen, doch finden sich immer wieder originellere Adaptionen, meist in Einzelgedichten wie Knox’ (1888–1957) Ulixes Penelopae (written inside the Trojan horse) (1921), das Ovids ersten Heroidenbrief in der Weise eines ›mock heroic poem‹ parodiert. Kaum genau zu erfassen ist hingegen der Einfluss der Heroides auf die performativen Künste, da sich einerseits ihre monologische Struktur besonders für Adaptionen durch Theater- und Operntexte eignet, diese andererseits zumeist die konstitutive Schreibsituation zu Gunsten des affektgeladenen Monologs oder der Arie aufgeben. Angesichts solcher, in der Differenz der Kunstformen gründender, Modifikationen kann zwischen Rezeption und Konvergenz nur von Fall zu Fall unterschieden werden. Mit großer Sicherheit dürfte die Barockoper vom zeitgenössischen Interesse an heroischer Briefdichtung profitiert habe, meist im direkten Rückgriff auf Ovid, etwa in Monteverdis Lamento d’Arianna (1608), Glucks Paride ed

Elena (1770) oder Metastasios vielfach vertontem Libretto Didone Abbandonata (1724), das die DidoHandlung aus Vergils Aeneis und Ovids Heroides amalgamiert. Plausibel ist auch die Annahme, Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal hätten ihre Oper Ariadne auf Naxos (1912) in Kenntnis von Ovids siebter Heroide konzipiert (s. Vischer 2010, 581 und 583). In ähnlicher Weise sind für die französische Tragödie des classicisme, Racine, Thomas und Pierre Corneille, Bezugnahmen auf einzelne Heroides aufgewiesen worden. Noch im 19. Jahrhundert können Franz Grillparzers Stücke Sappho (1818) und Des Meeres und der Liebe Wellen (1831), vor allem in monologischen Passagen, mit Ovids 15. bzw. 18. und 19. Heroidenbrief in Verbindung gebracht werden.

50.4 Einzelstücke: Bezugnahmen im 20. und 21. Jahrhundert Nachdem spätestens am Ende des 19. Jahrhundert der Roman in Europa als Leitgattung die Versdichtung verdrängt bzw. der Briefroman die Versepistel absorbiert hatte, konnten Rückgriffe auf die Heroides nur noch in einem marginalen Genre oder aber durch Gattungstransposition erfolgen. Dennoch belegen einzelne, durchaus prominente Bezugnahmen ein Fortwirken von Ovids Versepisteln als Modell und Konfiguration, die hier nur schlaglichtartig erhellt werden kann. Marguerite Yourcenar veröffentlichte unter dem Titel Feux (1936, 1957, 1974; s. Surmonte 2006, 35–104 und Peyroux 2014, 124–152) eine Reihe kurzer Novellen bzw. Prosagedichte, die um unerfüllte Liebe kreisen, wobei sie neun Frauen- und Männergestalten der vorchristlichen Antike (mit einer biblischen Ausnahme: Maria Magdalena) ins Zentrum stellt. In dieser Anlage sowie insbesondere in den Texten, die als Monologe aus Frauenperspektive verfasst sind (u. a. »Antigone ou le choix«, »Marie-Madeleine ou le salut«), nähert sich das Werk über verschiedene Vermittlungsstationen (Racine, bildende Kunst) den ovidischen Heroides an, zumal dann, wenn einzelne Frauenfiguren wie Phèdre oder Sappho zum direkten Vergleich mit ihren augusteischen Vorgängerinnen einladen. Wie auch anderswo in ihrem Œuvre modifiziert die Kennerin der Antike mythologische Traditionen auf eine Weise, die teils dem ›Re-Writing‹ durch Ovids Schreiberinnen gleicht und die nicht zuletzt der Frage nach einer spezifisch weiblichen Erotik nachgeht. Damit dürfte sie als Inspirationsquelle für eine feministisch oder zumindest anti-hegemonial geprägte

50  Die Heroides

Anverwandlung der Epistulae heroidum in der deutschen Literatur der 1980er Jahre gelten. 1983 publizierte Christine Brückner »ungehaltene Reden ungehaltener Frauen« (Brückner 1983), einen erfolgreichen und oft aufgelegten Prosa-Reigen, der in seiner Reihung mythologischer, literarischer und historischer Frauenfiguren von Desdemona bis Ulrike Meinhoff die Kompositionsweise von Ovids Heroides und in der Rede Sapphos sogar direkt einen seiner Stoffe aufgriff. Zeitgleich ließ der Schweizer Jürg Amann im Band Nachgerufen (1983, 1987) Frauen oder Geliebte berühmter deutscher Dichter zu Wort kommen. Obwohl sie im Text ungenannt bleiben, wenden sich Suzette Gontard, Bettine Brentano, Dora Diamant etc. in kurzen Prosa-Monologen und Briefen, mal anklagend oder sehnsüchtig, mal resigniert Abschied nehmend an Hölderlin, Goethe, Kafka etc. In wechselnden, den Figuren jeweils angepassten Stillagen beleuchtet Amann so literarische Höhenkämme aus dezidiert weiblicher Perspektive. Ob nun durch Konvergenz oder direkte Rezeption, stehen in Brückners und Amanns Tradition zwei jüngere deutsche Prosabände: Yōko Tawadas (*1960) Opium für Ovid (2000) versammelt zwar 22 Frauenfiguren und verknüpft damit die altjapanische Literaturgattung des »Kopfkissenbuchs« mit antikem Personal. Doch kann hier lediglich die äußere Form des Reigens verschiedener Frauen an die Heroides erinnern, denn sie stellen allesamt modernisierte Versionen von Figuren aus Ovids Metamorphosen dar. Feridun Zaimoğlu operiert in seiner, zu Unrecht »Roman« untertitelten, Geschichte der Frau (2019) ebenfalls mit einer Serie von Frauenfiguren, deren zehn er (ähnlich manchen Heroides Sacrae des Barock) in chronologischer Reihung von der Zeit des Moses (Zippora) bis ins Jahr 1968 (Valerie Solanas) durch Monologe oder kurze Erzählungen aus ihrer Perspektive präsentiert. Schließlich begegnen im zeitgenössischen Briefroman mitunter Aspekte, die von Ovids Versepisteln entlehnt oder zumindest ihnen analog erscheinen: Der sich in zahlreichen Briefen ausdrückende Liebesverlust steht im Zentrum von Annette Pehnts Briefe an Charley (2015), wobei die Schreiberin, ähnlich manchen Heroinen Ovids, ihre Vorgeschichte mitunter neu und umschreibt. Im anglophonen Raum erscheint die Rezeption ähnlich vereinzelt, aber formal und thematisch diverser: Sie reicht etwa bei Michèle Roberts von der modernisierenden Parodie eines konkreten ovidischen Vorbildes (Hypsipyle to Jason. In: Terry 2011, 53–56) bis zu einer historisierenden Aufnahme der Heroides Sacrae, die zwar ohne Briefform auskommt, allerdings die ha-

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giographische und didaktische Zielrichtung frühneuzeitlicher geistlicher Versepisteln hinter sich lässt, vielmehr Ovids Technik einer Revision des Mythos (hier der Hagiographie und Kirchengeschichte) aus weiblicher Perspektive anhand verschiedener Heiliger (Thais, Barbara, Maria v. Ägypten u. a.), fortführt (Roberts 1997). In diesem Sinne kann auch Margaret Atwoods oft aufgelegte und in zahlreiche Sprachen übersetzte Penelopiad (2005), trotz episierendem Titel, als moderne Amplifikation der ersten Heroide gelesen werden. Insgesamt als marginal muss die Rezeption in der bildenden Kunst bezeichnet werden, wohl vor allem weil sich die Schreibsituation der Heldinnen, die ihre Affekte im Wesentlichen in Text umsetzen, kaum für eine effektvolle bildnerische Darstellung eignete. Ein Kupferstich-Zyklus des Jacobus Harrewijn zu einer französischen Heroides-Übersetzung des frühen 18. Jahrhunderts belegt mit seinen zwischen Pathosformeln (z. B. zu Dido), introspektiven Schreib-Momenten (z. B. zu Hermione) und markanten Szenen der im Brief geschilderten Handlung (z. B. zu Helena) wechselnden Bildfindungen einen gelungenen Versuch druckgraphischer Umsetzung (Dörrie 1968, 82–89). Andere künstlerische Aneignungen (s. Vischer 2010, 584) blieben vereinzelt. Literatur

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VI Rezeption – B Erotische Dichtung, Heroides, Exildichtung

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Jost Eickmeyer

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51 Exildichtung 51.1 Wesentliche Merkmale der Rezeption Erst im späten 20. Jahrhundert fand in der Literaturwissenschaft eine Aufwertung der bis dahin inhaltlich als ›unmännlich‹ und formal als redundant kritisierten, qualitativ angeblich weit hinter den Metamorphosen und der erotischen Dichtung zurückfallenden Exilpoesie Ovids statt: Ovids poetische Briefe in elegischer Form, die Tristien sowie die Epistulae ex Ponto, gelten seither als Urtypus, wenn nicht gar als idealtypisches Modell der Exilliteratur. Denn Exil wird bereits dort als anhaltende Katastrophe mittels einer Ästhetik der Wiederholung poetologisch fassbar gemacht: in Form traumatologischen Schreibens. Schreiben ist von Ovid erkannt worden als Technik heilsamen Vergessens (Butzer 2013), als Nicht-Erinnern: »macht ihn vergessen das stets doch gegenwärtige Leid« (praesentis casus inmemoremque facit, trist. 4, 1, 40). Zugleich lassen sich Ovids Briefe aus der Verbannung, insbesondere die zehnte Elegie des vierten Buchs der Tristien, als Keimzelle autobiographischen Schreibens betrachten (vgl. Möller 2016): als ein raffiniertes Spiel literarischer Selbstinszenierung von Autorschaft zwischen Fakt und Fiktion. Seine literarischen Strategien verdienen dabei mindestens genauso Beachtung wie seine angebliche Wiedergabe realer Erfahrungen, ist es doch ganz offensichtlich ein mythischer Ort, den Ovid beschreibt: ein Ort ewig gefühlten Winters, an dem der Dichter seines größten Guts beraubt wird, des Verstehens und Verstanden-Werdens durch Sprache. Beide ästhetisch hochwertigen Qualitäten des traumatologischen und autobiographischen Schreibens sind in der Literatur des 20. Jahrhunderts bereits früh erkannt worden: Der russische Dichter Ossip Mandelstam bezog sich mit seiner Gedichtsammlung Tristia (1922) auf das gleichnamige Werk Ovids und wurde damit zum Vorbild zahlreicher deutschsprachiger Lyriker von den unmittelbaren Nachkriegsjahren bis hin zur Gegenwartspoesie, um nur die beiden Büchner-PreisTräger Paul Celan oder Marcel Beyer zu nennen. Und Ovids faktenarme, jedoch stilistisch kunstvolle Anspielungen auf den bis heute unbekannten Grund seiner Verbannung, seinen »Fehler« (error), dienten Romanciers weltweit zum Anlass phantastisch-spekulativer Ausschmückungen: Der deutsche Schriftsteller Eckart von Naso überschrieb seinen Roman um Ovid mit dem reißerischen Titel Liebe war sein Schicksal (1959). Den rumänischen Schriftsteller Vintila Horia zeichnete man für seinen Roman Dieu est né en exil (dt. Gott ist im

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Exil geboren, 1960), der Ovids Leben fiktionalisierte und christlich überformte, sogar mit dem Prix Goncourt aus – wegen Horias faschistischer Vergangenheit wurde er ihm allerdings nie offiziell überreicht. Und der australische Autor David Malouf verflicht raffiniert in seinem die Not des kargen, halbwilden Lebens schildernden Roman An Imaginary Life, 1978 (dt. Das Wolfskind, 1987) die Biographie Ovids mit dessen Hauptwerk, den Metamorphosen – genau wie der österreichische Schriftsteller Christoph Ransmayr in seinem phantastischen Roman mit »Ovidischem Repertoire«: Die letzte Welt (1988). So ist es nicht verwunderlich, dass sich ausgerechnet an Ovids Exilliteratur, die den Autor gleichermaßen als Figur inszeniert wie in mythologischen Topographien und Textwelten verschwinden lässt, postmoderne Debatten über Autorschaft entzündet haben (Vollstedt 1998; Harzer 2000).

51.2 Von Mandelstams Tristia über Celans »Pontisches Einstmals« zu Marcel Beyers Taistra In der Moderne hatten Ovids Tristien (»Trauerelegien«) eine ästhetische Vorbildfunktion für eine ausdrucksstarke Form der Klage über Abschied und Aufbruch, Verbannung und Verlust: Der Not des Einzelnen versucht Ossip Mandelstam in politisch finsteren Zeiten über poetische »Bettelworte« Gehör zu verschaffen, so in seinem 1918 verfassten Gedicht Tristia, dem Zentrum des gleichnamigen russischen Gedichtbandes aus dem Jahr 1922. Es setzt, in der berühmten Übersetzung Paul Celans, ein mit: »Ich lernte Abschied – eine Wissenschaft; / ich lernt sie nachts von Schmerz und schlichtem Haar« (V. 1–2), und bedient sich dabei der Bilder, die aus Ovids Briefen über den Abschied in seiner letzten Nacht in Rom (besonders trist. 1, 3) vertraut sind. Die Formulierung »Weiberweinen war im Musensang« (V. 8) greift möglicherweise die OvidKritik des frühen 20. Jahrhunderts auf, deren Vorwurf der ›Unmännlichkeit‹ von Mandelstam grundsätzlich hinterfragt wird: »Wer, hört, dies Wort er: Auseinandergehen, / weiß, was die Trennung und das Scheiden bringt [...]?« (V. 9–10). Zwar scheinen am Ende des Gedichts noch einmal »Glück« (V. 24) und »Zukunft« (V. 32) auf, verschwinden aber im russischen Original mit dem letzten letalen Wort umeret (sterben). Diesen poetisch dunklen und zugleich melodischen Grundton führt Paul Celan in seinen Übersetzungsarbeiten Ossip Mandelstams fort und schreibt ihn seiner eigenen Poetik ein, frei nach dem die anti-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_51

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ken Moiren zitierenden Motto Mandelstams »Ich lieb, was stet sich fortspinnt, Fäden –« (Tristia, V. 17). Getroffen von Mandelstams Schicksal, der 1934 den stalinistischen Säuberungen zum Opfer fiel, verweist Celan in seiner Notiz zur deutschen Erstausgabe (1959) auf die traurige Aktualität Mandelstams, dessen Tristia-Gedichte zeitlebens von existentieller Bedeutung für ihn blieben: »das aus seinem Untergang wieder zutage tretende Gedicht eines Untergegangenen« (71). Nicht nur vermittelt über Mandelstam rekurriert Celan auf Ovid: Ein »Pontisches Einstmals« (V. 4) entwirft er, in Bezugnahme auf Ovids Epistulae ex Ponto, in seinem Gedicht Aschenglorie aus dem Zyklus Atemwende (1967) und macht Ovid implizit zum Archegeten des modernen Flüchtlings »auf / dem ertrunkenen Ruderblatt« (V. 6–7). Auch für die »Weitgereisten ohne Wiederkehr« des 21. Jahrhunderts bleibt Ovid der Bezugspunkt, so in Marcel Beyers kleinem Zyklus Taistra aus dem Gedichtband Graphit (2014), der beginnt mit: »Taistra. Wäre in die Parfümerie gegangen (Tomis, Tristia), doch ich lernte Podologie, die Wissenschaft der Weitgereisten ohne Wiederkehr.«

Beyer ist begeisterter Leser Mandelstams und Celans und bringt in klangvollen Wortspielen vermeintlich Unvereinbares zusammen: Die real existierende Parfümerie »Taistra« in der als sozialistische Wohnstadt entworfenen Stadt Eisenhüttenstadt setzt er lautmalerisch zu »Tristia« in Bezug und greift den Gedanken Mandelstams von »Abschied« als »Wissenschaft« wieder auf. Die »Podologie«, Fußheilkunde, wendet er sowohl auf die Exilsituation derer an, »die genug / gelaufen sind« (V. 6–7), als auch auf seine eigene lyrische Poetologie, seine Verskunst: »Der schlanke / Fuß – hier gilt: Anmutig sein« (V. 11–12). Mit dieser Doppeldeutigkeit spielt bereits Ovid und verweist auf sein elegisches, hinkendes Versmaß:«Daß diese Dichtungen hinkend mit zweierlei Versen einhergehn, / kommt von des Versmaßes Art oder der Weite des Wegs« (clauda quod alterno subsidunt carmina versu, / vel pedis hoc ratio, vel via longa facit [trist. 3, 1, 11–12]). Nicht nur auf die Lyrik, sondern auch auf die Prosa des späteren 20. Jahrhunderts wirkt Ovids Exildichtung inspirierend. Besonderer Faszination erfreut sich in Zeiten der Postmoderne die Topographie einer apokalyptischen Öde, die schon in Ovids barbarischer Tomis-Schilderung angelegt ist: Aufklärung schlägt

hier wieder, ganz im Sinne vom Max Horkheimers und Theodor W. Adornos Dialektik der Aufklärung (1944), in Mythologie um. Die aufgeklärte Zivilisation, für die Rom das Sinnbild ist, kehrt zur Barbarei in der Wirklichkeit, der auch zivilisatorischen Wildnis an den Grenzen des römischen Reichs, zurück. Und diese Ödnis der gebirgigen Gegend geht zugleich einher mit einer Verrohung der Gesellschaft.

51.3 David Maloufs Das Wolfskind Mit »ich beschreibe eine Geistesverfassung, keinen Ort« (10) endet eine eineinhalbseitige Landschaftsschilderung, womit der 1978 unter dem Titel An Imaginary Life erschienene Roman des vielfach preisgekrönten australischen Autors David Malouf (geb. 1934) einsetzt: »Acht Monate im Jahr gefriert die Welt. Ein polarer Fluch senkt sich auf das Land. Über Nacht wird es weiß. Und, wenn sich das Eis endlich löst und aufbricht, verwandelt sich die ganze Ebene in einen stinkenden Sumpf. Die Insekten kommen in Schwärmen und plagen uns, heiße Nebelschwaden steigen zwischen den Grasbüscheln auf. Kein Baum erhebt sich zwischen dem niedrigen, graubraunen Gestrüpp. Keine Blume. Keine Frucht. Wir sind am Ende der Erde« (9).

Eng lehnt sich Malouf hier an die Beschreibungen Ovids an: Ein locus terribilis, ein Schreckensort, bildet das Gegenbild zum paradiesischen, beispielsweise aus Vergils Hirtendichtung vertrauten locus amoenus. Als das traurigste Land zwischen den beiden Polen (terra sub ambobus non iacet ulla polis, Pont. 2, 1, 65) schildert bereits Ovid seinen Verbannungsort, als ultima [...] orbis (Pont. 2, 1, 66), »Ende der Erde«. Auch bei Malouf erzählt ein älterer Mann namens Naso aus der Ich-Perspektive von seinem Leben an einem wüsten Ort zwischen Barbaren in der Verbannung am Schwarzen Meer: »Mein Leben hier ist karg bis zum Äußersten. Ich wohne beim Dorfoberhaupt, dem es obliegt, über mich zu wachen und mich vielleicht auch, wenn die Zeit kommt, zu töten« (10). Die Sprachlosigkeit bedingt, wie bei Ovid, die existentielle Krise: »Aber niemand in Tomis spricht meine Sprache. Seit fast einem Jahr habe ich nun kein lateinisches Wort mehr gehört. Ich führe das Leben eines Stummen. Wie ein Kind verständige ich mich durch lallende Töne und Zeichen« (11). Durchbrochen wird die todesnahe Ereignislosigkeit für den Ich-Erzähler erst,

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als es zu einer Begegnung mit einem nun wahrlich sprachohnmächtigen wilden Kind kommt, das unter Wölfen groß geworden war, dem »Wolfskind«. Die Ovid-Figur, deren Umgebung mitunter an diejenige australischer Aborigines erinnert, setzt sich für die Aufnahme des Kinds in der Gemeinschaft ein. Wie Vieh wird es eingefangen. Doch als es zu einem möglicherweise durch Tollwut ausgelösten Todesfall in der abergläubischen Gemeinschaft kommt, für den das Wolfskind verantwortlich gemacht wird, müssen Protagonist und Kind fliehen. Sie überqueren einen Fluss, der zugleich die symbolische Grenze zwischen Zivilisation und Wildnis markiert: »Hier endlich sind wir in der Welt des Jungen. Er taucht freudig in sie ein, zieht mich mit sich [...]« (143). Mit dem Eintreten in diese andere, letzte Welt, wird die Realexistenz des Jungen vom Erzähler rückblickend in Frage gestellt: »Woher kam dieser Junge? Aus welcher Zeit? Habe ich ihn dort draußen in den Birkenwäldern wirklich entdeckt?« (145). Dennoch ist dessen Präsenz – hier fühlt man sich an Hermann Brochs großartiges Prosawerk Der Tod des Vergil (1945) erinnert – für die Ich-Findung und zugleich für die Loslösung des Protagonisten von der hiesigen Welt unabdingbar. Seine eigenen Kindheitserinnerungen und -sehnsüchte werden überblendet mit der zunehmend imaginären Beschreibung des Wolfskindes, das den Ich-Erzähler in eine Nicht-Zeit kindlichen Glücks entführt: »Es ist Sommer. Es ist Frühling. Ich bin unermeßlich, unerträglich glücklich. Ich bin drei Jahre alt. Ich bin sechzig. Ich bin sechs. Ich bin da« (154).

51.4 Christoph Ransmayrs Die letzte Welt Auch der Protagonist Cotta, ehemaliger Begleiter und Leser Ovids (im Roman ebenfalls als Naso bezeichnet), entschwindet im zweiten Roman Christoph Ransmayrs, Die letzte Welt (1988), der den österreichischen Autor (geb. 1954) über Nacht berühmt werden ließ, am Ende in einer imaginären Nicht-Welt. Identitäts(er)findung und Identitätsverlust liegen erneut nah beieinander: »Wenn er innehielt und Atem schöpfte und dann winzig vor den Felsüberhängen stand, schleuderte Cotta diese Silben manchmal gegen den Stein und antwortete hier!, wenn ihn der Widerhall des Schreies erreichte; denn was so gebrochen und so vertraut von den Wänden zurückschlug, war sein eigener Name« (287–288).

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»Die Erfindung der Wirklichkeit bedurfte keiner Aufzeichnung mehr« (287), weil die Phantasien von Ovids Verwandlungssagen längst Realität geworden sind: Die Leserfigur Cotta findet sich nach und nach selbst im Werk wieder. Um Letzteres philologisch zu rekonstruieren, war Cotta aus Rom aufgebrochen. Mit der Ankunft dieses römischen Bürgers am Ende der Erde setzt der Roman ein: Nach siebzehntägiger stürmischer Seefahrt auf der Trivia (eine lautmalerische Anspielung auf die Tristia) fährt Cotta als »Fremde[r]« im »Kaff« Tomi ein, dem »Irgendwo«, der »eiserne[n] Stadt« (9). Er hat sich als freiwilliger Emigrant von Rom ans Schwarze Meer auf den Weg gemacht, um Spuren von Naso und dessen Werk, den Metamorphoses, zu finden. Dort stößt er auf ein menschenfeindliches, verrohtes Ödland, einen locus terribilis, Schreckensort. Die mythische, prä-apokalyptische Erzählwelt ist von Anachronismen durchzogen: Bushaltestellen, Lichtprojektoren und andere technische Gerätschaften des 20. Jahrhunderts sind selbst schon wieder dem Zerfallsprozess ausgesetzt. Daran ändern auch die zahlreichen Rückblenden nichts in das zunächst vermeintlich vernunftorientierte, doch zunehmend von Phantasmen durchwirkte antike Rom. Die Dialektik zwischen logischem Rom und mythischem Tomi wird mehr und mehr hinterfragt, Cotta befindet sich in einem »Schwebezustand zwischen der imperialen, unbezweifelbaren Wirklichkeit Roms und den Unbegreiflichkeiten der eisernen Stadt« (231). Bei den Menschen, die er dort antrifft, wie Fama, Echo oder Arachne, handelt es sich um Figuren der Metamorphosen: Jede erzählt eine andere Version vom angeblichen Leben Ovids, von seinem Werk, das einmal als Buch der Steine, dann wieder als Buch der Vögel tituliert wird. Fama, das Gerücht selbst, wird zum Erzählprinzip ästhetischer Wiederholung und Variation (Wohlleben 2005). In diese literarische Wirklichkeit, eine Überblendung mythischer Orte aus Ovids Metamorphosen, Tristien und Epistulae ex Ponto, geht auch der Protagonist am Ende ein, wenn er in den Geröllhalden einer steinernen letzten Welt verschwindet. In einer Mittagsszene, die stark an Friedrich Nietzsches Also sprach Zarathustra erinnert, läuft er einem »neuen Berg« (286) entgegen, einem neuen Olymp: »Hier war Naso gegangen; dies war Nasos Weg. Aus Rom verbannt, aus dem Reich der Notwendigkeit und der Vernunft, hatte der Dichter die Metamorphoses am Schwarzen Meer zu Ende erzählt, hatte eine kahle Steilküste, an der er Heimweh litt und fror, zu seiner Küste

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gemacht und zu seinen Gestalten jene Barbaren, die ihn bedrängten und in die Verlassenheit von Trachila vertrieben. Und Naso hatte schließlich seine Welt von den Menschen und ihren Ordnungen befreit, indem er jede Geschichte bis an ihr Ende erzählte« (286–287).

Das bereits bei Ovid raffinierte Spiel mit Zeitlichkeit (Abschied und Aufbruch) sowie Räumlichkeit (Nähe und Distanz) wird bei Christoph Ransmayr kunstvoll fortgeführt. Das Buch, Medium und Mittlerfigur in den Tristien, ist zwar noch Anlass der Reise, selbst aber nicht mehr auffindbar – anders als bei Ovid: »Ohne mich gehst du, mein Büchlein, zur Stadt, und ich will es dir gönnen. / Weh mir! Ist deinem Herrn doch diese Reise versagt.« (parve – nec invideo – sine me, liber, ibis in urbem: / ei mihi, quod domino non licet ire tuo! [trist. 1, 1, 1–2]). Während bei Ovid jedoch – so in den berühmten, auch in der Letzten Welt zitierten (50–51) Schlussversen seiner Metamorphosen – das Werk selbst als perpetuum carmen, als ewiges Lied, der Zeit enthoben zu sein scheint, macht bei Ransmayr die Vergänglichkeit der Welt vermeintlich auch vor der Kunst nicht halt: »Bücher verschimmelten, verbrannten, zerfielen zu Asche und Staub; Steinmale kippten als formloser Schutt in die Halden zurück, und selbst in Basalt gemeißelte Zeichen verschwanden unter der Geduld von Schnecken« (287). Doch darf diese keineswegs als ein Abgesang auf die Wirkungsmacht der Metamorphosen Ovids missverstanden werden: Deren Verkaufszahlen schnellten mit Ransmayrs Welterfolg in die Höhe. Die Mythenrezeption wurde zu einem beliebten Forschungsfeld, Ransmayrs Exil-Roman an den Anfang einer Wiederkehr des Erzählens (Förster 1999) im deutschsprachigen Gegenwartsroman gesetzt. Möglicherweise ist die zu Beginn der 1990er Jahre gelegentlich geäußerte altphilologische Fiktionsthese, die behauptet, Ovids gesamte Exilpoesie sei »pure Fiktion mit scherzhafter Absicht« (hiergegen Holzberg 1995, 603) auch durch die spekulativen OvidRomane des 20. Jahrhunderts inspiriert oder zumindest intensiviert worden. Ob es sich bei den Schilderungen Tomis allerdings um eine »Erfindung der Wirklichkeit« (Ransmayr 1991, 287, vgl. auch Wittstock 1997) oder um eine vom Dichter real empfundene autobiographische Wirklichkeit handelt, spielte

aufgrund der nun auch in der komparatistischen Forschung bewunderten hohen Literarizität der antiken Texte kaum mehr eine Rolle. Dass Ovids Exildichtung gerade in einem Jahrhundert neu entdeckt und zu einem literarischen Modell für Gegenwartsautoren wird, das Verbannung und Flucht auf so grausame Weise wie keines zuvor zu einer menschlichen Grunderfahrung hat werden lassen, zeugt vielmehr von deren existentiellem Gehalt und poetischer Verwandlungsfähigkeit als perpetuum carmen. Literatur

Beyer, Marcel: Graphit. Gedichte. Berlin 2014, 72–77. Butzer, Günter: Erinnerung des Exils. In: Bettina Bannasch/ Gerhild Rochus (Hrsg.): Handbuch der deutschsprachigen Exilliteratur. Von Heinrich Heine bis Herta Müller. Berlin/ New York 2013, 151–170. Celan, Paul: Gedichte in zwei Bänden. Zweiter Band. Frankfurt a. M. 1983. Förster, Nikolaus: Die Wiederkehr des Erzählens. Deutschsprachige Prosa der 80er und 90er Jahre. Darmstadt 1999. Harzer, Friedmann: Erzählte Verwandlung. Eine Poetik epischer ›Metamorphosen‹ (Ovid – Kafka – Ransmayr). Tübingen 2000. Holzberg; Niklas: Einführung. In: Ovidius Naso, P.: Briefe aus der Verbannung. Tristia. Epistulae ex Ponto. Lateinisch und deutsch. Übertragen von Wilhelm Willige. Eingeleitet und erläutert von Niklas Holzberg. Zürich 21995, 593–612. Malouf, David: Das Wolfskind. Titel der englischen Originalausgabe: An Imaginary Life (1978). Frankfurt a. M. 1998. Mandelstam, Ossip: Gedichte. Aus dem Russischen übertragen von Paul Celan. Frankfurt a. M. 2017. Möller, Melanie: Ovid auf 100 Seiten. Stuttgart 2016. Ovidius Naso, P.: Briefe aus der Verbannung. Tristia. Epistulae ex Ponto. Lateinisch und deutsch. Übertragen von Wilhelm Willige. Eingeleitet und erläutert von Niklas Holzberg. Zürich 21995. Ransmayr, Christoph: Die letzte Welt. Roman. Frankfurt a. M. 1991. Vollstedt, Barbara: Ovids ›Metamorphoses‹, ›Tristia‹ und ›Epistulae ex Ponto‹ in Christoph Ransmayrs Roman ›Die letzte Welt‹. Paderborn/ München u. a. 1998. Wittstock, Uwe (Hrsg.): Die Erfindung der Welt. Zum Werk von Christoph Ransmayr. Frankfurt a. M. 1997. Wohlleben, Doren: Schwindel der Wahrheit. Ethik und Ästhetik der Lüge in Poetik-Vorlesungen und Romanen der Gegenwart. Freiburg i. Br. 2005, 239–268.

Doren Wohlleben

C Die Metamorphosen 52 Wirkungsaspekte der Metamorphosen 52.1 Ovids Metamorphosen als Naturphilosophie Neben der Bibel hat wohl keine Dichtung der Antike eine ähnlich reiche bildkünstlerische, literarische wie musikalische Anverwandlung erfahren wie die Metamorphosen. Sie sind ein Grundbuch der europäischen Künste. Die erstaunliche Robustheit des mythopoetischen Denkens bis heute ist wesentlich den Narrativen und Bildern Ovids zu danken. Auch Transformationen der Wissenschaft, besonders Morphologie und Gestaltlehre, gehen auf Ovid zurück, man denke an die Geomorphologie, die Tier- und Pflanzen-Metamorphose, die morphologische Biologie. Als philosophischer Eklektiker versammelt Ovid die Motive der hellenistischen stoischen Kosmologie ebenso wie sich Züge der vorsokratischen Naturphilosophie finden. Seine Leistung besteht darin, die zersplitterte mythische Tradition in Literatur zu transformieren und damit freizugeben zur Verwendung auf allen Ebenen der Kunst (beispielhaft der PygmalionStoff: Dinter 1979; Mayer/Neumann 1997; Eschenburg 2001; Stoichita 2011; Lebensztejn 2017). Die geniale Idee, die das Buch zusammenhält, ist die der Metamorphosen, deren Transformation schon in der Antike beginnt (Apuleius, Asinus Aureus, um 160–170 n. Chr.). Diese Idee ist ebenso mythisch wie modern (vgl. Lichtenstern Bd. 2 1990; Honold/Harich-Schwarzbauer 2013). Noch wird einer übermenschlichen Lebensordnung Tribut geleistet, in welcher Grenzverletzungen sich, wie eine Nemesis, am Menschen rächen; und schon deutet sich die Einsicht an, dass alle Verwandlungen in Konstellationen des Individuums integriert sind: als Gestaltwandel im Lebenszyklus, als Verwandlung durch Leidenschaften, als übermächtige Widerfahrnisse oder krisenhafte Konflikte im Handlungsfeld der Person. Derart steht

Ovid auf der Grenze zwischen Mythos und Aufklärung, zwischen Natur und Geschichte. Dem entspricht, dass es bei Ovid noch die naturphilosophische Überzeugung gibt, wonach Mensch, Tier und Pflanze, aber auch Mensch, Stein und Gestirn ineinander übergehen könnten. Aber schon heißt Metamorphose auch, dass Natur keineswegs den Kosmos der Götter oder eine Kette von homogenen Ursachen und Wirkungen bilde. Natur ist eher ein episodisches, unberechenbares, zwischen Heimtücke und Erlösung, Strafe und Güte pendelndes Spiel von Identitätswechseln – ohne zeitliche oder topische Ordnung, reich freilich an Tropen: ein Proteus also der Künste. Darum lassen sich die etwa 250 Verwandlungen auch nicht auf ein einheitliches Bild von Natur, Ethik oder religiöser Überzeugung hochrechnen. Sondern eher ähnelt dieses gewaltige patchwork von ebenso strafenden wie rettenden, malignen und benignen, katastrophalen wie ordnungsstiftenden Metamorphosen dem endlosen, inkommensurablen und fast mit sich selbst spielenden Prozess des Wirkens der Natur. Und eben das macht die Natur der kreativen Mannigfaltigkeit der Kunst ähnlich. Metamorphosen bilden die Dramaturgie des Überbordens von Kräften. Sie lösen die Grenzen von Menschen und Lebewesen in überraschenden ›Tropen‹ auf. Während sich im augusteischen ›Goldenen Zeitalter‹ der römische Staat im Glanz prätendierter Ewigkeit sonnt, lässt Ovid diesen Äon gleichwohl ins Zeichen des tragischen Eisernen Zeitalters treten (met. 1, 89–150) und die Natur unentschieden verharren auf der Schwelle zwischen mythischer Ordnung und chaotischer Kraft, die beide das stoische Schöpfungsprivileg des Menschen dementieren. Metamorphosen sind nicht einfach Veränderungen, nicht nur vanitas (tempus edax rerum, met. 15, 234– 236). Das wäre Dynamik im Kontinuum der einen Zeit, des einen Raums, des einen Kosmos. Eher neigt Ovid dem Zufall, der Fortuna zu: »Ziellos schweift sie umher, die wandelbare Fortuna; nirgends verharrt sie; kein Ort hält sie auf Dauer fest. Heiter schreitet sie jetzt

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_52

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und jetzt mit bedrohlicher Miene, bleibt sich in einem nur gleich: in der Veränderlichkeit« (Ovid, Tristia 5, 8). Ovid lehrt das Unstete der Zeit, die Disruption des Kontinuums und damit einen oft kompletten Gestaltwechsel: von einem Genus ins andere, Sprünge über die Speziesgrenzen hinweg (die es nach Aristoteles nicht geben kann; s. Kap. 8), Sprünge von einem Naturreich ins andere (ins Mineralische, Tierische, Pflanzliche), vom Organischen ins Anorganische, vom Terrestrischen ins Astrale, vom einen Element zum anderen Element, Wandlung vom Alten zum Jungen, vom Lebenden zum Toten (aber nicht umgekehrt). Ganz selten ist die Rückverwandlung der Verwandlung, wie bei der von Jupiter verführte Königstochter Io, die, von Juno zur Kuh verwandelt, am Ende wieder ihre menschliche Gestalt erhält (met. 1, 568–745). Dabei werden oft Teil-Identitäten beibehalten, so dass Disruption und Kontinuität sich nicht widersprechen. So behält der in einen Hirsch verwandelte Actaeon seine innere Sprache, während er nach außen hin nicht identifizierbar ist (met. 3, 131–252; vgl. z. B. Tizian: Der Tod des Actaeon, um 1559–1575). Selbstidentifikation nutzt nichts: der Ausruf Actaeon ego sum bleibt stumm. Ebenso wenig schützt das iste ego sum (met. 3, 463), womit Narziss sich, zu spät, als bloß imaginäres Bild im Wasser erkennt, vor Selbst-Auflösung und Verwandlung in die Blume. Meist ist die Metamorphose ein Gestaltwechsel (Daphne, die, auf der Flucht vor Vergewaltigung, zu einem Lorbeerstrauch wird, z. B. Lorenzo Bernini, um 1622–1625). Öfters aber ist die Verwandlung auch ein Stoff-Wechsel bei Erhaltung der Form: so wird die Elfenbein-Plastik Pygmalions zu einer Frau aus Fleisch und Blut (vgl. J. J. Rousseau: Pygmalion, scène lyrique, 1762; Jean-Philippe Rameau: Pigmalion, Oper, 1748; Etienne-Maurice Falconet: Pigmalion et Galathée, Skulptur, 1763). Oder die Metamorphose ist die Reduktion auf eine finale Eigenschaft, die fortan die Person bestimmt: Niobe ist ganz und gar Trauer, so dass sie, zu Stein verwandelt, dennoch weint (met. 6, 146–312; z. B. Marmor-Skulptur, Uffizien; Adrian Bloemaert, Gemälde 1591). Endlos sind auch die Tränen der Satyrn und Nymphen um den lebendig gehäuteten Marsyas: Sie werden in einen Fluss verwandelt (met. 6, 382–400). Cyane löst sich in Wasser auf und kann Ceres nicht mehr sagen, wo ihre geraubte Tochter Proserpina ist (met. 5, 425–437, 466–467; vgl. Arethusa, 5, 632–41). Der Schluss aus solchen Metamorphosen ist denkbar modern: Wenn die personale Identität nicht mehr kommuniziert werden kann, oder wenn sie durch horrende Gewalt geraubt wird, oder wenn der emo-

tionale Ausdruck etwa der Trauer so überwältigend ist, dass er irreversibel ist, dann brechen die Grenzen, mittels derer eine Selbstidentifikation als Mensch möglich wäre, zusammen und die Metamorphose tritt ein: in transhumane Stoffe und Entitäten. Hinter den Metamorphosen steht keine Auffassung von Historie, auch wenn Ovid sein Buch als Geschichte der Welt von der Schöpfung bis zu Kaiser Augustus angelegt hat. Grundlegend ist vielmehr ein atomistischer Dynamismus. Er ist das Prinzip der Kräfte der Natur, die in alles hinein und durch alles hindurchwirken (vgl. die Schöpfungserzählung in met. 1, 5–415, und die Naturphilosophie in met. 15, 60–417). Geschichte und Geschichten sind nur ephemere Verkörperungen dynamischer Prozesse der Natur. Eine solche Auffassung, die Ovid grosso modo mit Lukrez und den epikureischen Atomisten teilt, wird seit dem 16. Jahrhundert wieder aktuell und findet bei Goethe und der Naturphilosophie der Romantik einen Höhepunkt. Der Dynamismus Ovids ist dabei nicht harmonikal. Rousseauisten aller Zeiten können sich auf ihn nicht berufen. Die ubiquitäre Gewalt, die Ovid neben den erotischen Dynamiken mächtig sein lässt, zeigt die Zwiegestalt der Natur. Diese weist keine sinnhafte Qualität auf, ebenso wenig eine Teleologie. Das ätiologische Verfahren, das vielen Episoden zugrunde liegt, ist nicht mit Teleologie zu verwechseln. Es sind Projektionen der Menschen, wenn sie Teleologie aus dem, was sie beobachten, herauszulesen glauben. Ebenso irrig wäre es zu meinen, Geschichte würde Intentionen folgen. Bei Ovid herrscht das Unvorhersehbare: Zufall, Spiel, Verhängnis, Fatum, also Spielformen der Natur oder der Fortuna (Adamowsky/Böhme/Felfe 2010). Doch nie steht die Verwandlung in einem proportionalen Verhältnis zur Vorgeschichte, die für die Metamorphose Anlass gibt. Diese unvorhersehbare, oft unheimliche Disproportion zwischen Handlung und Effekt macht die Metamorphosen so modern. Das metamorphotische Weltbild Ovids ist nicht mehr mythisch, nicht mehr religiös, so viel von Mythen und Göttern auch erzählt wird. Vielmehr ist das Metamorphotische der Metaprozess der Welt. Dieser ist die Konsequenz, die Ovid aus dem Atomismus und der Elementen-Philosophie zieht. Das metamorphotische Prinzip erlaubt es, die ehemals mythischen Narrative zu unterlegen mit einer Philosophie, in der die Götter nur Mitspieler im Gestaltwandel der Natur sind. Wie sehr die Natur von sich aus metamorphotisch ist, betont Ovid, wenn er die spontane Entstehung von Lebewesen aus Schlamm und Fäulnis erwähnt. Dies ist die generatio spontanea (Archigenese, Urzeugung),

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die auch Aristoteles, neben der sexuellen und vegetativen Fortpflanzung, als dritten Typus kennt: die Metamorphose von amorpher Materie in Tiere (met. 1, 416–433; 15, 361–377). In der Pythagoras-Rede weitet Ovid den metamorphotischen Prozess auf immer mehr Tierarten aus und verallgemeinert ihn zu einem Merkmal des biologischen Lebens (ζωή, βίος), ja, er spricht auch von Metamorphosen von Landschaften und Gebirgen (Geomorphologie) oder dem Gestaltwandel von Zeiten, Gesellschaften, Städten und Personen (met. 10, 165–478). Omnia mutantur, nihil interit (ebd., 165) –: Dies meint zwar auch Vergänglichkeit, vor allem aber ein Naturprinzip, die Verwandlung aller Dinge und Lebewesen. Dies ist die lebendige, beseelte Natur, die stets aus dem Einen ein Anderes werden lässt (ebd., 252–253). Die Beseelung alles Lebendigen, aber auch der Erde selbst hat schließlich in der Rede des Pythagoras (in Anlehnung an die vorübergehende Herrschaft der Pythagoreer in Süditalien) eine ethisch Komponente, nämlich das Verbot von karnivorer Ernährung und Tier-Opfer, also eine streng vegetarische Kultur: Denn aufgrund der Seelenwanderung (Metempsychose oder Reinkarnation als einer Form von Metamorphose) kann man nie sicher sein, ob man nicht in irgendeinem Tier einen menschlichen Verwandten isst, der vorübergehend in der Gestalt eines Tieres wohnt. Dies ist ein Glaube in allen Weltreligionen und verbreitet sich heute besonders im esoterischen Vegetarismus. Dem widerspricht nicht, dass es die Kunst ist, die Ovid am höchsten schätzt. Denn Natur ist ihrem Wesen nach Formbildnerin (artifices natura manus admovit), also Künstlerin (ähnlich der daedala tellus oder sollertia naturae bei Lukrez). Kunst kann Natur sein und Natur Kunst; oder aber die Natur verbirgt, dass sie Kunst ist; wie umgekehrt in einem Werk die Kunst so perfekt ist, dass man sie für Natur hält (Kemp 1973; Modersohn 1997). So kann die Grotte, auf die Actaeon zufällig trifft, so aussehen, als habe hier die Natur die Kunst nachgeahmt (met. 3, 156–160), obwohl es oft genug umgekehrt ist: ars imitat naturam (Flasch 1965; Felfe 2015), ein Grundsatz von fast zweitausendjähriger Dauer. Das ist schon nahe bei Goethe. Doch das Schrankenlose, ja bisweilen Wüste der Metamorphose bei Ovid entspricht nicht ausgewogenen Formidealen (concinnitas) oder harmonikalen Natur-Bildern. So bieten die Metamorphosen dem Klassizismus weniger Anschlüsse als etwa der modernen Biologie. Auch in einem anderen Aspekt kommt Ovid der Moderne überraschend nah. Disruptionen schaffen etwas Neues und zugleich zerstören sie anderes. Dies ist

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nahe verwandt der »kreativen Zerstörung«, die Joseph A. Schumpeter für ein Prinzip der modernen Wirtschaft und der Kunst hält (Böhme 2017). Bei Ovid ist kreative Zerstörung ein basaler Mechanismus der Natur. Darum die Omnipräsenz von Eros und Gewalt. In ihnen verkörpert sich das Disruptive zugleich mit dem Prokreativen. Es sind die Pole, zwischen denen das menschliche Handeln pendelt. In den Metamorphosen öffnen sich, gerade im erotischen Feld, derart horrende Abgründe der Gewalt, dass es bis heute schwer fällt, diese Dimension als zum homo sapiens gehörig zu akzeptieren (z. B. das Gemetzel zwischen Phineus’ Gefolge und Perseus und den Seinen, met. 5, 1–243). Darum ist Ovid, und mit ihm alle Naturphilosophien, die nicht der Schöpfungstheologie folgen, weit entfernt von friedlichen Naturbildern, einem Paradies oder einem Kosmos, der die göttliche Vernunft (nous) spiegelt. Natur ist nicht nur doppelgesichtig in ihren Prinzipien, sondern auch instabil in ihrem Formenarsenal. Darum entwickelt Ovid auch kein systema naturae, sondern ein unübersichtliches, gewaltiges und mobiles Gewebe, das keine ewige Ordnung repräsentiert, sondern sich ständig auflöst und neu schöpft. Ein Beispiel soll die folgenreiche Auffassung Ovids von der Kunst verdeutlichen. Es sind die Mythen von Arachne (met. 6, 5–145) und von Philomela (met. 6, 441–670): ›Mythen des Webens‹. Natürlich wusste Ovid schon von der Umkehrung: dem ›Weben der Erzählungen‹. Der textor ist der Weber – und Goethe hat es gerne aufgenommen, dass sein Vorfahr seinen Namen Wolfgang Weber zu Textor latinisierte. Textum/ textus meint das Gewebe, das Gefüge, den Bau der Rede. Aus diesen metaphorischen Transfers entstand eine Poetik: die Lehre vom Herstellen kunstvoller Gewebe aus Wörtern. Die Metamorphosen sind ein gewaltiger Erzählteppich aus zahllosen Wirk-Bildern. Darin ist Ovid das unübertroffene Vorbild der nichtlinearen Erzählkunst, wie sie seit dem Tristram Shandy (1759–1769) von Laurence Sterne oder Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahren (1821/29) den modernen Roman charakterisiert.

52.2 Metamorphose und Morphologie Als ein Beispiel der Transformation der Metamorphosen in den Naturwissenschaften soll Goethes Morphologie dienen. In ihr wird der Prozess der Verwandlung generalisiert: Gestaltung und Verwandlung sind basale Prozesse des Lebendigen und finden sich in den drei Naturreichen (Mineralia, Flora, Fauna) wie im Leben

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der Menschen. Auch wenn Goethe seine Elegie Die Metamorphose der Pflanzen an Lukrez anlehnt, so ist die Morphologie doch ein starkes Zeugnis der Bedeutung Ovids für die Ausarbeitung einer Biologie, die an der Schnittstelle zwischen Naturphilosophie und positiver Wissenschaft steht. Seit etwa 1790, bis wenig vor seinem Tod 1832, arbeitete Goethe immer wieder zum Konzept der Gestalt, der Organisation, der Bildung, des Urphänomens, des Typus etc. Gewiss kann die Morphologie als ein Kernstück seiner Naturauffassung gelten: 1. Fast alle seine Naturstudien kreisen um die Frage, wie natürliche Prozesse sich in stabilen, wiedererkennbaren, ja auch generativen Formen bzw. Gestalten manifestieren. 2. Dabei ist ›Gestalt‹ bei Ovid, Goethe oder bei Ernst Haeckel (Kunstformen der Natur, 1904; Kockerbeck 1986; Breidbach 2006) übergänglich, ein Moment im Kontinuum der Umbildungen. Jede Gestaltung findet ihren Gegenpol in Entstaltung; jede Ganzheit hat in der Fragmentierung ihr Gegenteil. ›Gestalt‹ ist also durch das Prinzip der Polarität gekennzeichnet. Das ist die Generalisierung, die Goethe an der noch halb mythischen Fassung der Metamorphose bei Ovid vornimmt. 3. ›Gestalt‹ (eidos, vultus) hat, wie auch die Physiognomie, eine ästhetische Dimension: Gestalten müssen wahrgenommen werden. Sie gehören der sinnlichen Welt an – doch nicht dieser allein. ›Gestalt‹ ist eine Kategorie der in Anschauungen wurzelnden Urteilskraft. Auch wenn ›Gestalten‹ und ›Verwandlungen‹ in ihrer individuierenden Phänomenalität als kontingent zu verstehen sind, so manifestieren sie doch auch Baupläne von Phänomenen. 4. ›Gestalt‹ ist ein der Natur innewohnendes Formvermögen (Schiller nennt es ›Formtrieb‹). Schon Kant entdeckte jenseits der Kausalität ein ästhetisches Vermögen der Natur – eben ihre Formkraft. Diese Formkraft ist ein »tief versteckter« »Fremdling in der Naturwissenschaft« (Kritik der Urteilskraft B 320). Für die Urteilskraft gilt dieser Fremdling als subjektive Zweckmäßigkeit der Natur. Diese liegt der Naturästhetik zugrunde, welche die Natur als ein bewegliches Sprechen und Zeigen erscheinen lässt, das unseren sensorischen wie kognitiven Vermögen gemäß ist. Dieses Vermögen weist für Goethe eine Art Kunst auf, eine subjektlose Technik der Natur, im Gegensatz zur Menschenkunst, die stets Subjekte des ›Machens‹ voraussetzt.

Kunst und Natur verweisen aufeinander: In der Natur entdecken wir eine erfinderische Kraft (inventio, vis plastica), die auch für den Künstler charakteristisch ist (Pygmalion, Arachne, Marsyas). 5. ›Gestalt‹ ist ein ›Zugrundeliegendes‹, gr. hypokeimenon lat. substantia. Dies gehört zu einer schon antiken Leitdifferenz, deren Gegenpol das »Beiherspielende« (Hegel), synbebekós oder accidens ist; dies ist eine zufällige Bestimmung. Diese Leitdifferenz erinnert daran, dass auch morphé, lat. forma, zu den Leitdifferenzen gehört: Sie ist der Gegenpol zu hyle/materia. Diese gilt als chaotisch, ordnungslos, strukturlos, aber doch als dynamisch, d. h. mit dem Vermögen (potentia) ausgestattet, zur morphé/forma/Gestalt werden zu können. Die in der Materie wirksame dynamis folgt bei Ovid und Goethe der Regel, wonach ›Gestalt‹ und Metamorphose der strukturlosen Materie zur (Selbst-)Organisation verhilft – diese aber auch wieder auflöst. Bildung und Umbildung stellen kein normatives Set von moralischen oder kulturellen Werten dar. Auch wenn dafür viele der ovidischen Episoden Anlass bieten (z. B. nach der Regel: der Hybris folgt die Strafe), so geht die wirkungsreiche Tradition des Ovide moralisé (1317–1328) doch an den Metamorphosen vorbei, die sich nicht auf moralisches Wissen reduzieren lassen. Bildung und Umbildung bezeichnen vielmehr die mal geregelten, mal unvorhersehbaren Übergangszonen von Pflanzen, Tieren, Menschen, von Fels- oder Landschaftsformationen, Elementen-Bildungen auf der Erde und im Kosmos, aber auch von Kunstwerken oder sozialen Konfigurationen mit mal benignem mal malignemAusgang. Auf keinen Fall ist Gestalt bei Ovid und Goethe teleologisch zu verstehen, auch wenn die ›Gestalt‹ eine Art »Vorschrift der Natur« (FA I/24, 149) darstellt oder sogar einem »großen Zwecke« (FA I/24, 111) zuarbeitet, nämlich der Fortpflanzung (und anderen Funktionen wie der Ernährung, Geselligkeit etc.). Dies ist besonders an der Elegie Die Metamorphose der Pflanzen (1798) und der hexametrischen Metamorphose der Tiere (1820) zu erkennen. Gewiss hat jeder Teil eines organisierten Körpers eine Funktion, aber diese manifestiert nicht ein absichtsvolles Design. Die Gestalt ist eher die relativ stabile Versammlung von Funktionen und Körperteilen zu einer ganzheitlichen Figuration, durch die eine Entität lebensfähig wird. Dieses Ensemble aber beruht auf epigenetischen Prozessen, die sich in kontinuierlichen oder katastrophi-

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schen Metamorphosen vollzieht, wie der Biologe Adolf Portmann sagt. Erst durch Goethe, oder auch durch Schellings Naturphilosophie (natura naturans) und die biologische Morphologie erkennen wir rückwirkend, warum Ovid sein Epos mit der Urzeit beginnt (von der chaotischen Materie, ihrer Metamorphose in Elemente bis zum Werden der Dinge und Lebewesen). In der Rede des Pythagoras fasst Ovid die philosophischen Fundamente des Metamorphosen-Konzepts noch einmal zusammen (met. 15, 60–478). Die verwirrende Vielfalt von Objekten wahrzunehmen als Elemente einer Einheit ist für Goethe möglich, wenn wir über einen Bauplan dessen verfügen, was eine Pflanze zur Pflanze, ein Tier zu einem Tier, einen Mensch zu einem Menschen, einen Naturbereich zu einer geomorphologischen Bestimmtheit, zu einer Landschaft macht. Diesen Bauplan nennt Goethe in der Botanik Urpflanze. Und so liegen allen Mannigfaltigkeiten jeweilige Urphänomene zugrunde. Die Urpflanze schwebt eigenartig zwischen einem anschaulichen Bild, einem Muster von Pflanzen überhaupt, und den vielen Pflanzen vor dem Auge. Man könnte die Urpflanze, wie es Schiller tut, auch als idéa (Idee, Urbild) oder eîdos fassen. Doch für Goethe wie Ovid ist eine ideelle Struktur nur in der Anschauung erfahrbar. Goethe hängt nicht der Präformations-These an, wonach das spätere Individuum bereits im Samen oder Ei ›eingeschachtelt‹ ist und sich nur ausfaltet. Hiernach wäre die spätere Gestalt von Anfang an ›da‹ als materielles Apriori: der Homunculus im Samen. Die Entwicklung, von der Goethe spricht, ist kein ›Sich-Auseinanderwickeln‹, sondern ein ständiges Umwandeln. Das ist die Spur Ovids. Nach dem Epigenetiker Caspar Friedrich Wolff, dem Goethe folgt, muss man »eine vim essentialem« annehmen, »die sich zu allem fügt, was sich selbst hervorbringen wollte«. Johann Friedrich Blumenbach prägt für diesen »unbegreiflichen Punkt« der selbst-organisierten Materie den Begriff des »nisus formativus« (Bildungstrieb, 1810. In: FA I/24, 451). Dies ist ein Trieb, der die Gestaltwerdung eines Lebewesens bewirkt. Der »Bildungstrieb« ist mithin jene Kraft, die aus formlosem Stoff eine reproduktionsfähige Gestalt werden lässt. Damit ist das gestaltende Prinzip in die Natur hineinverlegt und kennt keinen Autor. Gegen physikotheologische, teleologische oder kreationistische Annahmen wendet sich Goethe entschieden (Versuch einer allgemeinen Vergleichungslehre, um 1790, FA I/24, 209–214). Goethes Natur ist ein subjektloser Prozess, in dem das alte stoische Argument mundus propter nos conditus nicht mehr gilt. Auch Ovids Natur folgt nicht dem

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stoischen Anthropozentrismus. Natur ist kein für den Menschen eingerichteter Dienstleistungsbetrieb, wonach man annehmen dürfe, »daß alles was existiert um seinetwillen existiere, alles nur als Werkzeug, als Hilfsmittel seines Daseins existiere« (FA I/24, 211). Die Wechselwirkung zwischen intrinsischer Formbildung und epigenetischen Einflüssen, denen jede Metamorphose unterliegt, gibt Raum für eine nichtanthropozentrische Erforschung der Natur, sei es in der Botanik, der vergleichenden Anatomie, der Tierkunde oder gar der Gebirgs- oder Wolkenbildung, der Geomorphologie. Goethe schließt dabei nicht aus, den Menschen als den dichtesten Knoten im Netzwerk der Natur zu verstehen. Das meint nicht, wie in der Anthropozentrik, dass der Mensch den höchsten Rang im Kosmos einnehme: vielmehr erkennt der Mensch in der eigenen Komposition seines Körpers und seiner Lebensform die Survivals der einfacheren Tiere wieder (vgl. Einleitung in die Vergleichende Anatomie..., 1796, FA I/24, 266). »Von unten herauf«, so heißt es, sei das Wissen zu entwickeln: das erfasst das ovidische Verfahren ebenso wie die Goethesche Wissenspoetik, von der Botanik bis zur Dichtung, von der Geomorphologie bis zur Wolkenlehre, von der Statuenkunst bis zur vergleichenden Anatomie, vom Erzählen bis zur begrifflichen Bildung. Alles ist Metamorphose. Das kann, wie in Christoph Ransmayrs Ovid-Roman Die letzte Welt (1988), zuletzt auch bedeuten, dass sich an der Kultur und den Menschen eine finale Verwilderung und Versteinerung vollzieht, eine Art apokalyptischer Metamorphose, eine Verwandlung ins Anorganische. Literatur

Adamowsky, Natascha/Böhme, Hartmut/Felfe, Robert (Hrsg.): Ludi Naturae. Spiele der Natur in Kunst und Wissenschaft. München 2010. Böhme, Hartmut: Das Schumpetersche Paradox und die späte Triebtheorie Freuds. In: Wolfram Bergande (Hg): Kreative Zerstörung. Über Macht und Ohnmacht des Destruktiven in den Künsten. Wien/Berlin 2017, 18–56. Breidbach, Olaf: Ernst Haeckel. Bildwelten der Natur. München 2006. Dinter, Annegret: Der Pygmalion-Stoff in der europäischen Literatur. Rezeptionsgeschichte einer Ovid-Fabel. Heidelberg 1979. Eschenburg, Barbara: Pygmalions Werkstatt. Die Erschaffung des Menschen im Atelier von der Renaissance bis zum Surrealismus. Köln 2001. Felfe, Robert: Naturform und bildnerische Prozesse. Elemente einer Wissensgeschichte in der Kunst des 16. und 17. Jahrhunderts. Berlin/New York 2015. Flasch, Kurt: Ars imitatur naturam. Platonischer Naturbegriff und mittelalterliche Philosophie der Kunst. In:

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Parusia. Studien zur Philosophie Platons und zur Problemgeschichte des Platonismus. Frankfurt a. M. 1965, 265–307. Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Hrsg. von Hendrik Birus u. a. Bd. 24: Schriften zur Morphologie, Hrsg. von Dorothea Kuhn. Frankfurt a. M. 1987. (abgekürzt zitiert als FA + römische Ziffer: Abteilung + arabische Ziffer: Band). Honold, Alexander/Harich-Schwarzbauer, Henriette (Hrsg.): Carmen perpetuum. Ovids ›Metamorphosen‹ in der Weltliteratur. Basel 2013. Kemp, Wolfgang: NATURA. Ikonographische Studien zur Geschichte und Verbreitung einer Allegorie; Phil. Diss. Tübingen 1973. Kockerbeck, Christoph: Ernst Haeckels »Kunstformen der Natur« und ihr Einfluß auf die deutsche bildende Kunst der Jahrhundertwende. Frankfurt a. M. u. a. 1986.

Lebensztejn, Jean-Claude: Pygmalion. Berlin 2017. Lichtenstern, Christa: Metamorphose in der Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts. Bd. 1: Die Wirkungsgeschichte der Metamorphosenlehre Goethes. Von Philipp Otto Runge bis Joseph Beuys. Bd. 2. Metamorphose – Vom Mythos Zum Prozessdenken – Ovid-Rezeption – Surrealistische Aesthetik – Verwandlungsthematik Der Nachkriegskunst. Weinheim 1990/1992. Mayer, Mathias/Neumann, Gerhard (Hrsg.): Pygmalion. Die Geschichte des Mythos in der abendländischen Kultur. Freiburg 1997. Modersohn, Mechthild: Natura als Göttin im Mittelalter. Ikonographische Studien zur Darstellung der personifizierten Literatur. Berlin 1997. Stoichita, Victor: Der Pygmalion-Effekt. Trugbilder von Ovid bis Hitchcock. München 2011.

Hartmut Böhme

53  Die Metamorphosen in der bildenden Kunst

53 Die Metamorphosen in der bildenden Kunst Auch für die Geschichte der bildenden Künste kann Ovid als kontinuierlich präsenter Bildgeber und kunsttheoretische Referenz genannt werden. Vor allem in der Profanikonographie der Frühen Neuzeit ist Ovid dauerhaft gegenwärtig, und dies nicht nur im Bereich der ›Hochkunst‹ von Galeriebild und Marmorskulptur, sondern auch im gesamten Feld der sogenannten angewandten Künste wie im Buchdruck, der Druckgraphik, in der Kleinplastik, auf Medaillen, Tafelgeschirren und Möbeln, auf Tapisserien, im dekorativen Ornament, in der Gestaltung der Gärten und Grotten und natürlich auch in der Wandmalerei. Gewissermaßen durchdringt Ovids Bilderwelt die gesamte visuelle Kultur des Profanen in der Frühen Neuzeit. Der Einfluss Ovids auf die Kunst der Neuzeit ist kaum erfassbar, und so existiert bis auf den heutigen Tag kein Überblickswerk zum Problem (vgl. die Ansätze in Martindale 1988; Walter/Horn 1995; Barolsky 2014). Dass die Metamorphosen sogar die ›Bibel der Maler‹ seien, ist ein Gemeinplatz, dessen Herkunft noch nie genau ermittelt wurde. Tatsache ist, dass seit dem 15./16. Jahrhundert die schiere Menge der Darstellungen nach Ovid und anderen mythologischen Texten in den bildenden Künsten einen Prozess intensiver Rezeption antiken Bildungswissens bezeugt. In der Frühen Neuzeit wurden die heidnischen Göttersagen auf Grundlage einer lange zurückreichenden Tradition allegorisch, moralisch, naturphilosophisch und euhemeristisch gedeutet; ihre dämonische Kraft, welche ihnen noch der Kirchenvater Augustinus zugemessen hatte, dem zufolge sie den Christen zum falschen Glauben verführen könnten, hatten die Mythen schon lange verloren. Gegen den Tadel des genus fabulosum wurde dagegen der Nutzen des in den Metamorphosen enthaltenen Wissens über die Antike sowie die naturkundliche, geographische, historische, religionsgeschichtliche und zuletzt auch moralische Belehrung hervorgekehrt. Die Frühe Neuzeit ist zugleich aber auch die Periode, in der die Darstellungen der Götterfabeln sich zunehmend von den allegorischen Deutungszusammenhängen emanzipieren und zur Ausbildung des mythologischen Historienbildes führen, das wiederum einen Freiraum der Kunst markiert. Es ist eine bemerkenswerte Erkenntnis, dass in keinem Zeitalter zuvor so viele Bilder von Göttern gemalt wurden, an die keiner mehr glaubte; religionsgeschichtlich ist dieser Befund wohl einmalig (Möseneder 2004). Selbst in Pa-

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lästen von christlichen Kirchenfürsten wie im Palazzo Farnese in Rom, dessen Galerie Annibale Caracci um 1600 mit einem mythologischen Freskenprogramm ausstattete, wurden die antiken Heidengötter in ehebrecherischen Handlungen sowie in monströsen Verwandlungsvorgängen verwickelt an die Decken und Wände gemalt. Mythologische Bilder fanden Verwendung in unterschiedlichen profanen Verwendungszusammenhängen, als Teil der politischen Repräsentation wie in Rubens’ Medici-Zyklus, als Frühformen pornographischer Bilder im höfischen Kontext wie in Correggios Mantuaner Bilderserie der Amori di Giove, als genealogisch-naturphilosophische Bilder wie in der Sala degli Elementi von Giorgio Vasari im Palazzo della Signoria in Florenz und generell als Schmuck der Villen, Paläste, Galerien und Gärten im frühneuzeitlichen Europa; die künstlerische Rezeption Ovids außerhalb Europas bleibt hingegen marginal.

53.1 Ovid in der Kunstgeschichte Die Ovid-Rezeption wurde von der Kunstgeschichte bereits intensiv – zumeist in Fallstudien – erforscht; zusammenhängende Darstellungen liegen für die Niederlande (Sluijter 1986) und Italien (Lord 1968) vor. Anhand der Rekonstruktion mythologischer Bildprogramme wurde im frühen 20. Jahrhundert einerseits die Ikonologie als kunsthistorische Methode der Bedeutungsforschung entwickelt, andererseits ist die Ovid-Forschung eng mit dem Grundproblem des sogenannten Nachlebens der Antike verknüpft. Gerade an der mythologischen Ikonographie und Darstellungsweise der Verwandlungen, Raub- und Liebesszenen ließ sich die Reaktivierung des Ausdruckspotentials der Antike in der frühneuzeitlichen Profankunst rekonstruieren. Der Hamburger Kunsthistoriker und Kulturwissenschaftler Aby Warburg gilt gemeinhin als Begründer der kunsthistorischen Ikonologie, die nicht nur den Bildgegenstand benennen, sondern auch dessen Bedeutung beschreiben will. Warburgs Straßburger Dissertation (Warburg 1893) wird immer wieder als Schlüsseltext für die Entwicklung der Ikonologie als Methode und für die Begründung der kunsthistorischen Ovid-Forschung benannt. Die Aufgabe, den Text zum Bild zu finden, spielte Warburg an den beiden mythologischen Gemälden Botticellis, Geburt der Venus und Primavera, durch. In der Dissertation werden die Gemälde in kulturwissenschaftlicher Perspektive untersucht: als partielle Produkte der florentinischen Festkultur und als Ort der Visualisierung hu-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_53

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manistischen Wissens, in das die Lektüre von antiken Texten, vor allem Ovids, eingegangen ist. Warburg versuchte nicht nur, den intellektuellen Konzeptor der Gemälde in dem mediceischen Hofpoeten Angelo Poliziano festzumachen, sondern ermittelte als Erster die textlichen Grundlagen für die einzelnen mythologischen Figuren und den bildlichen Erzählzusammenhang der Darstellungen, die auf keine vorgängigen Bilder zurückgeführt werden konnten. Und hier kommt Ovid zum Tragen, den Warburg erstmals auf die mythologischen Konfigurationen und Details hin befragt und einzelne Textstellen aus den Metamorphosen und den Fasti mit den bis dato unerklärbaren Bilddetails konfrontiert hat. In einer konzertierten Lektüre von Ovid, Lukrez und Polizian gelang ihm die Entschlüsselung der bisher rätselhaft gebliebenen Figuren auf der rechten Bildhälfte von Botticellis Primavera. Hierin erkannte er im direkten Rekurs auf Ovids Fasti nun Zephyr, der die Nymphe Chloris in Flora verwandelt (Ovid, fast. 5, 193 ff.), die als Sinnbild des Frühlings einherschreitet und das ›Reich der Venus‹ (so Warburgs Titelvorschlag) mit Blüten schmückt: Chloris eram, quae Flora vocor (»Chloris hieß ich dereinst, doch jetzt Flora«). Die Zephyr-Chloris-Flora-Gruppe ist in ihrem bildlichen Arrangement als experimentell zu bezeichnen, indem verschiedene Zustände im Sinne einer Metamorphose zum Gegenstand des Gemäldes werden. Warburg interessierte zweifellos schon das Motiv der Verwandlung und die Bewältigung transitorischer Zustände im simultanen Bild. Sein Erkenntnisinteresse war jedoch weitergehend. Zunächst zielte es auf die genaue Benennung der Figuren durch Identifikation und die Suche des ›Textes zum Bild‹. Doch blieb Warburg nicht bei den philologischen Einsichten stehen, die er bei der Lösung des Bilderrätsels in die Forschung eingebracht hat. Warburg war vor allem an dem Ausdrucksproblem der Bilder interessiert, nämlich wie sich gesteigerte Bewegung durch im Wind flatternde Gewänder und Haare als »bewegtes Beiwerk« im Sinne eines erneuten Hervorbrechens antiker Gestaltungsweisen in der florentinischen Frührenaissance gestaltet hat. Warburg begriff diesen Prozess des Rückgriffs auf die Antike als eine Wiedererinnerung an das energetische Potential leidenschaftlich bewegter Figuren, wie sie die Antike in den ekstatischen Mänaden hervorgebracht hatte, welche der besonnene Geist der Florentiner des 15. Jahrhunderts unter Nutzung der antiken Pathosformeln in die serene Gestalt der ›Ninfa‹ transformiert hat (Wolf 2016). Warburg analysiert das Phänomen zweigleisig: Einerseits als ein auf Kunstwerke bezogenes Formproblem, andererseits

aber im Sinne der imitatio als einen Rückgriff Polizians, eines Zeitgenossen Botticellis, auf Ovids Raubund Verfolgungsszenen von Apoll und Daphne, Europa und Proserpina, die dem neuzeitlichen Dichter sprachliche Bilder vorgaben, um leidenschaftlich bewegten Handlungen Ausdruck zu verleihen. Die Dissertation enthält damit weit mehr als die Suche des Wortes zum Bild. Der sprachliche Ausdruck selbst ist auch Gegenstand der Untersuchung; in Ovids Metamorphosen findet Warburg diejenigen »Urworte« und archetypischen Formulierungen, die Polizian wie Pathosformeln verwandte und ins Italienische übertrug, um einen gesteigerten Ausdruck zu erzielen. Warburg war überzeugt, dass der Rückgriff auf die Antike in der bildenden Kunst der Frührenaissance nicht als ästhetischer Selbstzweck erfolgt war, sondern nur dann, wenn es um die »Verkörperung äusserlich bewegten Lebens«, ja um den »Schein gesteigerten Lebens« ging. Warburg begriff die Antike dabei als eine archaische, lebendige und dämonische Macht und nicht im Sinne der idealisierten Antikenferne des auf ›edle Einfalt und stille Größe‹ bedachten Gipsklassizismus. In seiner Dissertation beschreibt Warburg erstmals die Transformation und Wanderschaft der mythischen Bilder leidenschaftlich bewegten Lebens, wie sie die Verfolgungsszenen bei Ovid und Claudian sprachlich gestaltet hatten, indem er ihren Weg von den antiken Texten über die mythologischen Festspiele des 15. Jahrhunderts in die Gemälde und Gegenstände des Kunstgewerbes nachzeichnet, die Warburg immer als Teile einer gesamten Kultur und Geschichte des sozialen Lebens begriff. Für die Auseinandersetzung Warburgs mit Ovid lassen sich in der Dissertation bereits entscheidende Belege finden: Die Mythen interessieren ihn weniger als genuine Erzählungen oder allegorisch-hermeneutische Wissensträger (also eigentlich nicht im heutigen ikonologischen Sinne), sondern als Archetypen von heftig bewegtem Ausdruck, der sich namentlich in den Verfolgungs- und Raubszenen der Metamorphosen verdichtet. 1905 griff Warburg auf diese Studien zurück. Ausgehend von einer Zeichnung Albrecht Dürers, widmete er dem Tod des Orpheus als Teilaspekt der Ovid-Illustration eine der ersten Vorführungen seiner Methode vor der Versammlung deutscher Philologen in Hamburg (Warburg 1905; Ausst. Kat. Köln 2012). Auch dort geht es ihm allein um das Problem des Ausdrucks, nämlich um die Übernahme von Motiven pathetischer Gebärdensprache in der Kunst der Frührenaissance und deren Wandern zwischen Norden und Süden. In diesem Kontext verwendete Warburg erstmals den Begriff

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der »Pathosformel«. In ihm vereinigte sich für Warburg gleichermaßen die wiederholbare typische Form, die zu einer lebensfernen Formel ohne wirkliches Verständnis für den mystisch-dramatischen Kern dieser Affektäußerung werden konnte, mit tatsächlich nachempfundenem Pathos (Wedepohl 2012, 42).

53.2 Das Nachleben Ovids Metamorphosen waren in nachantiker Zeit immer präsent, sie wurden im Mittelalter als Schullektüre gelesen, fanden Eingang in enzyklopädische Werke wie Petrus Berchorius’ Reductorium morale (um 1340) und wurden im theologischen Zusammenhang einer umfassenden Allegorese unterzogen. Berchorius integrierte im 15. Buch seiner Enzyklopädie eine systematische Auslegung der Metamorphosen, den Ovidius moralizatus. Die Zahl der überlieferten mittelalterlichen Ovid-Handschriften ist reichhaltig; vor allem in der Buchmalerei des 14. Jahrhunderts entstanden höchst originelle Illustrationszyklen, welche die Metamorphosen in der Abfolge der in einzelne Kapitel unterteilten fabulae veranschaulichen (Munari 1957; Lord 1995; Longo 1997; Lord 2011). Auch Handschriften des französischen Ovide moralisé wurden mit Illuminationen versehen. Besonders ragt die Berchorius-Handschrift aus der Forschungsbibliothek in Gotha (Membr. I 98) hervor, die um 1350 in Bologna entstanden sein dürfte und über 200 Illustrationen aufweist. Die Bilder visualisieren einerseits die Mythen, dienen aber auch durch die Darstellung der Verwandlungen als naturkundliche Verständnishilfen (Blume 2014). Erst im 15. Jahrhundert häufen sich die Darstellungen nach den Metamorphosen, doch hier zunächst in eher randständigen Bildmedien wie der Cassone- und Spalliera-Malerei sowie im Buchdruck. Auf den florentinischen Hochzeitstruhen (cassoni) kam eine Auswahl von Verwandlungssagen (z. B. Diana und Actaeon; Apoll und Daphne; Eurydice) neben Motiven aus Homer, Vergil, der römischen Geschichte und anderen literarischen Quellen zur Darstellung, dienten diese Mythen im Hochzeitskontext doch als Tugendexempel für die eheliche Keuschheit (Watson 1970; Tosetti Grandi 1990). Der funktionale Ort dieser Bilder war privat und auf das Schlafgemach beschränkt. Im Medium der Cassone-Malerei wurden aber zugleich Modi für die Darstellung der Verwandlung entwickelt, die noch in der großformatigen Tafel-, Leinwand- und Freskomalerei ovidischer Mythen, die um 1500 einsetzt, fortwirken. Einen wesentlichen Einschnitt in der

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Bildgeschichte der Metamorphosen markiert 1497 die Publikation des mit 52 Holzschnitten ausgestatteten Ovidio Metamorphoseos vulgare in Venedig. Die qualitätsvollen Holzschnitte, die zu der zwischen 1375 und 1377 entstandenen und mit moralischen Erklärungen versehenen italienischen Prosaübersetzung des Giovanni de’ Bonsignori geschaffen wurden, sind sehr häufig wiederverwendet und variiert worden (Guthmüller 1981; Blattner 1998). Die Bilder wurden nicht zum lateinischen Originaltext, sondern zu der freien und oft auch falschen Übersetzung angefertigt (HuberRebenich 1995). Ikonographisch markieren sie einen Neuanfang der Ovid-Illustration, da sie nicht auf die mittelalterliche Handschriftentradition zurückgreifen. Der Einfluss der Holzschnitte auf die frühneuzeitliche Ovid-Ikonographie war beachtlich. Erst mit den Serien von Jörg Wickram (1545), Virgil Solis (1563), Pieter van der Borcht (1591) und Antonio Tempesta (1606) entstanden neuartige Bilder, welche ebenfalls durch häufiges Kopieren und Neukombinieren das Bildgedächtnis bezüglich der Metamorphosen entscheidend geformt haben (Henkel 1930; Huber-Rebenich 1999; Huber-Rebenich 2004–2014). Die Attraktivität der Metamorphosen, die Geschichte der Welt von ihren Anfängen aus dem Chaos bis in die Gegenwart des Autors im Zeitalter des Augustus als eine kontinuierliche Folge von Verwandlungen, Liebschaften, Frauenrauben und Zerstörungen zu beschreiben, war groß. Der kunstvolle Zusammenhang der Erzählung ging in der bildlichen Rezeption jedoch weitgehend verloren, da die Mythen ikonographisch isoliert und in Darstellungskonventionen typisiert wurden. Nicht alle Mythen der Metamorphosen wurden zudem visualisiert, vielmehr bildete sich ein umfänglicher Kanon von Stoffen heraus, die vorzüglich dargestellt wurden. Erst im 16. Jahrhundert gab es wieder Versuche, im Medium der Handzeichnung oder der Druckgraphik dem gesamten poetischen Text ein bildliches Äquivalent zur Seite zu stellen: Nur bis zum vierten Buch gelangten der humanistische Zeichner Jean Jacques Boissard im Jahr 1556 (Thimann 2005) und der niederländische Kupferstecher Hendrick Goltzius, der von 1589 bis 1604 insgesamt 52 Darstellungen in einer bemerkenswerten Dichte der ausgewählten fabulae schuf, die offenbar als visuelles Konkurrenzunternehmen zu dem carmen perpetuum Ovids gedacht waren (Pappas 1992; Ausst. Kat. Kornwestheim 1997). 1641 lieferte Johann Wilhelm Baur 150 Darstellungen für die 15 Bücher, systematisierte also die Anzahl der zu visualisierenden Mythen pro Buch auf die Zahl von zehn. Die druckgraphischen Zyklen haben

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entscheidend auf das europäische Bildgedächtnis eingewirkt, zumal die bildlichen Repräsentationen der Mythen oft ein Eigenleben entfalten und sich vom Urtext der Metamorphosen ablösen. Wesentliches Kriterium der bildlichen Imagination war die Umsetzbarkeit der mythologischen Erzählung in ein handlungslogisches Historienbild, wie es die zeitgenössische Kunsttheorie erforderte. Dies schloss im weitesten Sinne unwahrscheinliche oder unwahre Darstellungen aus, infolge dessen der eigentliche Verwandlungsakt als Moment der Veränderung der Gestalt vom Mensch oder Gott zum Tier oder Naturding vergleichsweise selten zur Anschauung kam. Insbesondere im großformatigen Galeriebild oder der Wandmalerei ist die Darstellung der Metamorphose selbst, wie sie beispielsweise Parmigianino mit der Verwandlung des Actaeon in einen Hirsch im Camerino der Rocca Sanvitale in Fontanellato (um 1523) zeigt, eher die Ausnahme. Darstellungstechnische Schwierigkeiten in dem auf die Naturnachahmung festgelegten frühneuzeitlichen Bild wie auch religiöse und moralische Bedenken hatten die Verwandlungsdarstellung grundsätzlich problematisch gemacht (Thimann 2002). Besonders bemerkenswert ist das Eigenleben der Bilder im Hinblick auf die Wiedergabe der Mythen. Dies hat verschiedene Gründe. Ein wesentlicher Punkt ist die Rezeption des Textes auf vielfältige Art und Weise, die zumeist nicht den lateinischen Originaltext betraf, der ab 1492 in der von dem Humanisten Raphael Regius redigierten und kommentierten Version verbindlich vorlag. Die gelehrte Rezeption spaltete sich von der Rezeption durch die des Lateinischen nicht mächtigen Künstler deutlich ab, welche volkssprachliche und illustrierte Bearbeitungen favorisierten (Guthmüller 1975; Guthmüller 1995). Die frühneuzeitlichen Künstler und ihre Auftraggeber bedienten sich in der Regel volkssprachlicher Übersetzungen, moralischer Auslegungen und Kompendien, mythographischer Werke oder verkürzter Zusammenfassungen des lateinischen Textes. Aufgrund dieser Rezeptionswege, die oftmals auch Übersetzungsfehler und eklatante Verkürzungen und Veränderungen der mythologischen Erzählungen mit sich brachten, entstanden Bilder, für deren kunsthistorische Entschlüsselung der Urtext Ovids nicht reicht, da in sie in hohem Maße zeitgenössische Verständnisdimensionen eingeflossen sind, wie besonders eindringlich am Beispiel der zwischen 1531 und 1535 entstandenen Fresken der Sala dei Giganti von Giulio Romano im Palazzo del Tè in Mantua gezeigt werden konnte (Guthmüller 1977). Der bei Ovid nur kurz er-

wähnte Gigantensturz (met. 1, 151–162) ist hier der Ausgangspunkt für eine hochkomplexe und artistisch virtuose bildliche Phantasie, die auf Grundlage der volgare-Übersetzungen von Giovanni de’ Bonsignori und Niccolò degli Agostini (1522) und einem dezidiert zeitgenössischen, nämlich politisch-moralischen Verständnis des Mythos entwickelt werden konnte. Für viele Mythen prägten sich relativ konstante Darstellungstypen aus, die namentlich im Buchdruck und in der Druckgraphik häufig wiederholt wurden. Eine Reihe von Mythen ließen sich zudem im Modus christlicher Bilder darstellen, was insbesondere die Schöpfungsgeschichte und die Sintflut betraf (Thimann 2006; Chernetsky 2016). Mit der Motivübernahme wurde oftmals ein Bedeutungstransfer vollzogen, der auf ein moralisch-christliches Ovid-Verständnis abzielte. Die moralische, naturphilosophische und historische Deutung der Mythen Ovids hatte wiederum weitreichende Konsequenzen für ihre Verwendung in politischen Bildprogrammen und in moraldidaktischen Kontexten wie der Emblematik und Impresenkunst (Guthmüller 1973; Bardon 1976; Saunders 1977; Enenkel 2003). Im 16. Jahrhundert wurden illustrierte Ovid-Ausgaben und -Kompendien vermehrt auch schon auf dem Titelblatt explizit als ›Bibel der Maler‹ oder als nützliche Handreichung für Maler, Bildhauer, Poeten und Kunstliebhaber empfohlen. Zuerst findet eine nicht-illustrierte Metamorphosen-Auslegung in Carel van Manders Schilder-Boeck (1604) Aufnahme in ein genuin kunsttheoretisches Werk; Joachim von Sandrart wird die Metamorphosen-Deutung ebenfalls in seine Teutsche Academie der Bau-, Bild- und MahlereyKünste (1675–1680) integrieren. Das mythologische Material wird hier einerseits für die inventio des Künstlers aufbereitet, andererseits als enzyklopädischer Speicher des Wissens über die Antike, welches dem Maler auch nützlich sein könne, um seine Bilder zu erklären. Im Hinblick auf die Künstlerbildung nehmen die Metamorphosen daher einen zentralen Platz ein; auch sind sie in volkssprachlicher Übersetzung fast durchgängig in den Inventaren frühneuzeitlicher Künstlerbibliotheken nachweisbar.

53.3 Wettstreit mit Ovid Im 16. Jahrhundert wurde die Eigenmächtigkeit mythologischer Fiktion im Sinne der admiratio-Ästhetik aufgewertet. Dies lässt sich rein quantitativ an dem Zuwachs an mythologischer Malerei erkennen, die im 15. Jahrhundert noch weitgehend auf kleinformatige

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Bildgattungen beschränkt war. Dafür ist wesentlich die höfische Kultur mit ihrem Repräsentationsbedarf durch antike Stoffe und ihre veränderten erotischen Konventionen verantwortlich. Amoralität wurde als Image gepflegt und bei der Ausstattung der Fürstenhöfe wurde die Lust an bildlichen Fiktionen und an vorgetragener Künstlichkeit kultiviert. Zugleich ist der soziale Aufstieg der bildenden Künstler zu benennen, die dem Dichter ebenbürtig wurden. Die antike Mythologie wurde zu einem neuen Illusionsraum der Kunst, in dem auch das Unmögliche und Unwahrscheinliche mit den Mitteln der malerischen Fiktion gezeigt werden konnte. Diesen Paradigmenwechsel spiegelt der Zyklus ovidischer Verwandlungssagen und Götterliebschaften, der sogenannten poesie, den Tizian zwischen 1553 und 1562 für den spanischen König Philipp II. gemalt hat (Diana und Actaeon, Diana und Callisto, Venus und Adonis, Danae, Raub der Europa, Perseus und Andromeda). Das eigentlich niedere Genre der Mythologie hat Tizian im Format des großen Historienbildes behandelt. Tizian dürfte bei der Wahl des Begriffs poesie in seiner Korrespondenz mit dem König bewusst auf den hohen ästhetischen, und intellektuellen Status seiner Malerei angespielt haben, der sie den Werken der Dichtung ebenbürtig werden ließ. Vermutlich schwingt auch der griechische Wortsinn mit und bezeichnet den eigenschöpferischen Charakter der Serie, die mythologische Körperfiktionen offenbar weitgehend allegoriefrei und als Selbstzweck im Sinne cinquecentesker admiratio-Ästhetik vorführt (Ginzburg 1978). Zwar verbildlichen die poesie allesamt phantastische Erfindungen Ovids, zeigen jedoch kaum Verwandlungs- oder Deformationsvorgänge des Körpers, welche dem literarischen Prätext eigen sind. Möglicherweise ist für diese Entscheidung Tizians die rasche Rezeption der aristotelischen Poetik in Kunst- und Dichtungstheorie des 16. Jahrhunderts verantwortlich zu machen (Puttfarken 2005). Eine dezidierte Bezugnahme auf die literarische Vollendung des Textes der Dichtung Ovids mit ihren komplex verknüpften Binnenerzählungen und ekphrastischen Elementen findet sich in der bildenden Kunst seltener. Gianlorenzo Berninis Marmorgruppe von Apoll und Daphne (1623–1625) wäre hier zu nennen. Dieses Werk hatte seinen Kontext in der römischen Villa des Kardinalnepoten Scipione Borghese und war daher für einen im besten Sinne humanistisch-literarischen Rezeptionskontext gedacht. Bernini stellte sich selbst die Aufgabe, den von Ovid höchst kunstvoll beschriebenen Vorgang der Flucht der Daphne, ihrer Verfolgung durch Apoll und die ab-

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schließende Verwandlung in den Lorbeerbaum in einem auf Simultaneität abzielenden Marmorbild darzustellen (Wilkins 2000). Zeitverlauf und Verwandlung – die Veränderung der Materie – musste Bernini im selben Material des Steines darstellen. Hier ist fraglos von einem Paragone mit der Dichtung zu sprechen, der die Bewunderung der Kunstliebhaber und Villenbesucher hervorgerufen haben dürfte. Bernini ist mit Ovid selbst in Wettstreit getreten und hat Qualitäten der Dichtkunst, wie die Beschreibung der im Winde wehenden Haare der Daphne, in den Marmor übertragen. Bemerkenswert ist, dass bei diesem Hauptwerk der profanen Hochkunst auch noch die Anbringung eines die Erotik moralisch entschärfenden Distichons durch den neulateinischen Dichter Kardinal Maffeo Barberini vonnöten war, das auf dem Sockel angebracht wurde: Quisquis amans sequitur fugitivae gaudia formae / fronde manus implet baccas seu carpit amaras (»wer auch immer als Liebender die Freuden flüchtiger Form verfolgt, füllt die Hand mit Laub und ergreift bittere Beeren«). Es lässt sich fragen, ob das von Maffeo Barberini verfasste Epigramm mit seiner moralphilosophischen Ermahnung tatsächlich eine moralische Rechtfertigung für die Aufstellung des Profanbildes in einer Kardinalsvilla ist. Analog zum Schriftverständnis der Epoche ist die mehrfache Auslegung eines Bildstoffes ja durchaus möglich. Der künstlerischen Virtuosität in der Behandlung des Marmors und dem erotischen Thema von Begehren und Ablehnung, von Flucht und Verfolgung widerspricht nicht, dass das Werk auch einen sensus moralis besitzt. Das Bildverständnis eines frühneuzeitlichen Kardinalnepoten ist durchaus in der theologischen Schulung der Schriftauslegung zu kontextualisieren. Das ästhetische Vergnügen dürfte gerade in der medialen Ferne von künstlerischem Vortrag und dichterischem Kommentar, in der gleichzeitigen Erweckung des Verlangens und seiner diskursiven Disziplinierung gelegen haben. In der Malerei des 17. und 18. Jahrhunderts sind die Metamorphosen als Bildthema omnipräsent. Mythologische Themen, insbesondere die erotischen Abenteuer der Götter, bleiben eine wesentliche Aufgabe der profanen Historienmalerei. Aus den Œuvres der großen Maler sind die Metamorphosen als Themenkreis nicht wegzudenken, so bei Rubens (Georgievska-Shine 2003; Ausst. Kat. Kassel 2004; Georgievska-Shine 2009), Rembrandt (Grohé 1996); Velázquez (Bach 1995) und Nicolas Poussin, der sich insbesondere in seinem römischen Frühwerk 1620/30 intensiv mit Ovid beschäftigt und oftmals mehrschichtige Bildalle-

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gorien geschaffen hat, die weniger Mythenillustration als individuelle Mythendeutung sind (Held 1996; Ausst. Kat. Rom 1998; Thimann 2013). Im 18. Jahrhundert fokussiert sich die Rezeption Ovids auf dessen galante Liebesdichtung und die heiteren erotischen Bildthemen (s. Kap. 49), die namentlich in der Kunst des Rokoko, etwa bei François Boucher und Jean-Honoré Fragonard, zur Darstellung kamen (Ausst. Kat. Paris 1991). Im europäischen Neoklassizismus verschwanden die Götterfabeln Ovids weitgehend aus der Hochkunst, was mit veränderten ästhetischen und ethischen Vorstellungen zu tun hat. Nach Winckelmann war die laszive Erotik und Zeugungsenergie der Götter mit der Vorstellung einer auf ›edle Einfalt und stille Größe‹ abzielenden Imagination der Griechenwelt kaum noch harmonisierbar. Die Epen Homers und der schöne griechische Heros rückten ins Zentrum des Interesses und ließen die Verwandlungen mit ihren Körperdeformationen und Degradierungen des Menschen zum Tier ästhetisch unattraktiv erscheinen (Burdorf/ Schweickard 1998; Ausst. Kat. Stendal 1999). So wurden, mit Ausnahme der Buchillustration, nur ausnahmsweise wesentlich neue Bilder zu den Mythen Ovids geschaffen. Ein gezeichneter Zyklus wie derjenige des italienischen Klassizisten Luigi Ademollo (1764–1849) bleibt eine Ausnahme (Ausst. Kat. Rom 2006). Bezeichnend ist, dass in diesem Zyklus die eigentlichen Verwandlungen nicht gezeigt werden und ein klassizistischer Darstellungsmodus im Reliefstil gewählt wurde. Die künstlerische Rezeptionsgeschichte im 19. Jahrhundert und in der Moderne ist kurz. Nur ausnahmsweise findet sich eine intensivere Beschäftigung mit dem Mythos wie etwa bei Arnold Böcklin, der seine mythologischen Bildphantasien jedoch von der reinen Textillustration ablöst (Boehm 2004). Allein in seinem Frühwerk lassen sich altmeisterlich wirkende Ovid-Illustrationen wie Pan verfolgt Syrinx (Dresden, Gemäldegalerie) nachweisen. Als Solitär im 20. Jahrhundert ist Picassos Zyklus von dreißig Umrissradierungen zu den Metamorphosen aus dem Jahr 1931 zu sehen, wogegen das Prinzip Metamorphose als Verwandlung, Formveränderung und prozesshafte Gestaltgebung zu einem Schlüsselkonzept in der künstlerischen Moderne wird (Lichtenstern 1990–1992). Literatur

Ausst. Kat. Kassel 2004: Pan und Syrinx. Eine erotische Jagd. Peter Paul Rubens, Jan Brueghel und ihre Zeitgenossen. Hrsg. von Justus Lange, Ausst. Kat. Kassel, Gemäldegalerie Alte Meister. Kassel 2004. Ausst. Kat. Köln 2012: Die entfesselte Antike. Aby Warburg und die Geburt der Pathosformel in Hamburg. Hrsg. von

Marcus Andrew Hurttig, Ausst. Kat. Köln, WallrafRichartz-Museum. Köln 2012. Ausst. Kat. Kornwestheim 1997: Der verblümte Sinn. Illustrationen zu den ›Metamorphosen‹ des Ovid. Hrsg. von Gabriele Bickendorf und Jens Kräubig, Ausst. Kat. Kornwestheim, Galerie der Stadt. Kornwestheim 1997. Ausst. Kat. Paris 1991: The Loves of the Gods. Mythological Painting from Watteau to David. Hrsg. von Colin Bailey, Ausst. Kat. Paris, Grand Palais. New York 1992. Ausst. Kat. Rom 1998: Nicolas Poussin. I primi anni romani, Ausst. Kat., Rom, Palazzo delle Esposizioni. Mailand 1999 Ausst. Kat. Rom 2006: Le Metamorfosi di Ovidio illustrate da Luigi Ademollo (Milano 1764 – Firenze 1849), Ausst. Kat. Kunsthandel Paolo Antonacci. Rom 2006. Ausst. Kat. Stendal 1999: Wiedergeburt griechischer Götter und Helden. Homer in der Kunst der Goethezeit. Hrsg. von Max Kunze, Ausst. Kat. Stendal, WinckelmannMuseum. Mainz 1999. Bach, Friedrich Teja: ›Metamorphosen‹ Ovids in Velázquez’ Malerei. In: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte 48 (1995), 43–60. Bardon, Françoise: Les ›Metamorphoses‹ d’Ovide et l’expression emblématique. In: Latomus 35 (1976), 71–90. Barolsky, Paul: Ovid and the Metamorphoses of Modern Art from Botticelli to Picasso. New Haven 2014. Blattner, Evamarie: Holzschnittfolgen zu den ›Metamorphosen‹ des Ovid. Venedig 1497 und Mainz 1545. München 1998. Blume, Dieter: Bild-Lektüren der ›Metamorphosen‹ Ovids im Italien des 14. Jahrhunderts. In: Codices manuscripti & impressi 9 (2014), 52–64. Boehm, Gottfried: Böcklins Mythen. In: Margit Kern/Thomas Kirchner/Hubertus Kohle (Hrsg.): Geschichte und Ästhetik. Festschrift für Werner Busch zum 60. Geburtstag. München/Berlin 2004, 411–420. Boissard, Jean Jacques: Ovids ›Metamorphosen‹ 1556. Die Bildhandschrift 79 C 7 aus dem Berliner Kupferstichkabinett. Hrsg. von Michael Thimann. Berlin 2005. Burdorf, Dieter/Schweickard, Wolfgang (Hrsg.): Die schöne Verwirrung der Phantasie. Antike Mythologie in Literatur und Kunst um 1800. Tübingen 1998. Chernetsky, Irina: »The Creation of the World« by Virgil Solis. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 79 (2016), 211– 225. Enenkel, Karl A. E.: Ovid-Emblematik als Montage und Scherenschnitt. Aneaus ›Picta Poesis‹ in Reusners ›Picta Poesis Ovidiana‹. In: De steen van Alciato. Literatuur en visuele cultuur in de Nederlanden. Opstellen voor Karel Porteman bij zijn emeritaat. Leuven 2003, 729–749. Georgievska-Shine, Aneta: Horror and Pity. Some Thoughts on the Sense of the Tragic in Rubens’ ›Hero and Leander‹ and ›The Fall of Phaeton‹. In: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 30 (2003), 217–228. Georgievska-Shine, Aneta: Rubens and the Archaeology of Myth, 1610–1620. Visual and Poetic Memory. Surrey 2009. Ginzburg, Carlo: Tiziano, Ovidio e i codici della figurazione erotica nel Cinquecento. In: Paragone 24 (1978), 3–24. Grohé, Stefan: Rembrandts mythologische Historien. Köln 1996.

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VI Rezeption – C Die Metamorphosen

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Michael Thimann

54  Die Metamorphosen in der Musik

54 Die Metamorphosen in der Musik 54.1 Rezeption in der Barockoper Die Metamorphosen haben in der Musik, wie in Literatur und bildender Kunst, über Jahrhunderte hinweg als Inspirationsquelle gewirkt. Besonders für die Operngeschichte, die mit Jacopo Peris Euridice in Florenz (1600, Libretto [L.] Ottavio Rinuccini) und Claudio Monteverdis L ’Orfeo in Mantua (1607, L. Alessandro Striggio) beginnt, sind sie von zentraler Bedeutung. Denn ungeachtet der Frage, ob Peri oder Monteverdi als der primus inuentor des Genres zu gelten habe (s. z. B. Schrade 1951, 226 vs. Monterosso Vacchelli 1969, 126 und Pirrotta 1969, 276), ist von Anfang an die Figur des Orpheus zentral. Die Geschichte des apollinischen Sängers, der durch seine Stimme die Gesetze der Unterwelt außer Kraft setzte, wird in den Metamorphosen (met. 10, 1–85; 11, 1–66) sowie in Vergils Georgica (georg. 4, 454–527) erzählt, und allgemein ist Ovids Epos die Hauptquelle für die Themen der frühen Oper (Rosow 2005, 208). Die Anfänge der Oper leiten zugleich die erste intensive Phase der musikalischen Metamorphosen-Rezeption ein (Wolff 1971, 93). Davor sind in der Troubadour-Lyrik Anklänge an Ovid zu finden, aber zumeist an die Liebesdichtung (Schrötter 1908, 24; Butterfield 2002, 256), und Gestalten aus den Metamorphosen tauchen in der Madrigalistik auf, insofern sie in ihre Welt pastoraler Idylle und höfischer Liebe hineinpassen (Roche 1972, 53). Besonders deutlich wird die Verbindung von Madrigal und Pastorale an Pietro Bembos Ableitung des Wortes Madrigal, mandriale, von mandria, Herde (Fanelli 1986, 152). Im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts wurden unzählige Libretti von den Metamorphosen inspiriert. Da sich verschiedene Opernzentren nacheinander behaupteten (Pirrotta 1969, 311), sind die Rezeptionshauptschritte am leichtesten städteweise zu verfolgen. Nach L ’Orfeo komponierte Monteverdi in Mantua L ’Arianna (1609, L. Rinuccini), von der nur das berühmte lamento erhalten ist. Manche der in der Oper beliebtesten mythologischen Figuren kommen, wie Ariadne oder Dido, nur am Rande in den Metamorphosen vor, oder gar nicht, wie Hero und Leander. Andere, wie Medea, sind zwar präsent, jedoch in einer Nebenentwicklung zu den Ereignissen, die den Kern des Mythos bilden. Auch in Rom begann die Oper mit Orpheus, nämlich mit Agostino Agazzaris Eumelio (1606, L. Torquato De Cupis, Francesco Tirletti), wo Euridice durch

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Eumelio, Orpheus durch Apollo ersetzt werden, um die Aufführung vor Geistlichen zu ermöglichen, und Stefano Landis La morte d’Orfeo (1619, L. vermutlich Landi; Johnson 1971, 492). Ebenso waren in Venedig, das bis 1641 bereits vier öffentliche Theater hatte, ovidische Themen prominent. So wurde das Theater San Cassiano mit Le nozze di Teti e di Peleo von Monteverdis Schüler Pietro Francesco Cavalli eröffnet (1639, L. Orazio Persiani; Glover 1978, 18). Weiter drehen sich die erste deutsche Ballett-Oper und die erste Opernproduktion, die in Paris nennenswerten Erfolg genoss, um Orpheus: Heinrich Schütz’ Orpheus und Eurydike (1638, L. August Buchner; Artsibacheva 2008, 51–54) und Luigi Rossis Orfeo (1647, L. Francesco Buti). Aus den Metamorphosen schöpften auch Jean-Baptiste Lully, dessen Cadmus et Hermione (1673, L. Philippe Quinault) und Phaéton (1674, L. Quinault) die ersten französischsprachigen tragédies en musique sind, und Marc-Antoine Charpentier, der verschiedene Opern ovidischen Sujets widmete (Isotta 2018, 62; Giroud 2010, 7; 18–21). Jenseits des Ärmelkanals schuf John Blow mit Venus and Adonis (1683, L. anonym) das wichtigste musikalisch-dramatische Werk der frühen Restauration. Ebenfalls in London arbeitete Georg Friedrich Händel erfolgreich die in Neapel komponierte Pastorale Aci, Galatea e Polifemo (1708, L. Nicola Giuvo) zum englischen Maskenspiel Acis and Galatea (1718, L. John Gay) um und schrieb das Oratorium Semele (1744, L. William Congreve u. a.; Lang 1966, 409; Dean 2006, 130; 325). Einer anderen Kadmostochter widmete Georg Philipp Telemann die Kantate Ino (1765, L. Karl Wilhelm Ramler), und Johann Joseph Haydn schrieb 1791 am unvollendeten Werk L ’anima del filosofo ossia Orfeo ed Euridice (Isotta 2018, 73). Im 18. Jahrhundert wurde Wien als kulturelles Zentrum wichtig. Hier ist Mozarts erstes Singspiel zu erwähnen, Apollo et Hyacinthus seu Hyacinthi metamorphosis (1767, L. Pater Rufinus Widl; Prince 2012, 216). Ebenfalls zog Christoph Willibald Gluck mehrfach aus Ovids Epos Inspiration, so auch für die erste seiner sogenannten Reformopern, Orfeo ed Euridice (1762, L. Ranieri de’ Calzabigi). Darin versuchte er, dem aufklärerischen Streben nach einem als ehrlich empfundenen Ausdruck menschlicher Gefühle entsprechend, sich durch musikalisch-dramatische Einheit und klare Formen von den ausufernden Barockopern abzusetzen (Howard 1963, 2; Giroud 2010, 84). Allerdings nahm damals die Beliebtheit mythologischer Themen für Opern bereits stark ab.

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_54

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VI Rezeption – C Die Metamorphosen

54.2 Beispielanalyse: Monteverdi und Gluck Die Gestalt des Orpheus leitete mit Monteverdis L ’Orfeo und Glucks Orfeo ed Euridice Anfang und Ende der Barockoper ein. An diesen beiden Werken lässt sich exemplarisch zeigen, wie unterschiedlich der Mythos verarbeitet werden kann. Monteverdis L ’Orfeo wird durch die personifizierte Musik eröffnet, die im Prolog ihren Einfluss auf die menschliche Seele preist (5–12) und die Geschichte des Orpheus ankündigt (13–16). Schließlich befiehlt sie Vögeln, Luft und Wasser, innezuhalten (17–20): Wie Orpheus die Natur zähmte, so wird es auch L ’Orfeo tun. Die Handlung beginnt wie in den Metamorphosen (met. 10, 1–7) mit der Hochzeit von Orfeo und Euridice, ist hier aber nicht von bösen Omina geprägt (vs. met. 10, 4–7). Der heitere, pastorale Charakter der Szene erinnert an Angelo Polizianos Fabula di Orpheo (ca. 1480), wo zu Beginn der vergilische Aristaeus als in Euridice verliebter Hirte auftritt (Tissoni Benvenuti 1986, 76). Im zweiten Akt teilt eine Botin Orfeo und dem Chor Euridices Tod mit. Ihre durch Parallelismus und Anapher hochpathetisch wirkende Klage (Ahi caso acerbo, ahi fato empio e crudele/ahi stelle ingiurïose, ahi cielo avaro, 200–201) wird mehrfach wiederaufgegriffen und bildet den Leitfaden des Aktes. Orfeo schweigt zunächst und gleicht, wie ein Hirte anmerkt, einem Stein (241–243; vgl. met. 10, 64–71), beschließt dann aber, Euridice aus dem Tod zu retten oder dort mit ihr zu verweilen, ein Zusatz, mit dem im Epos Orpheus seine Rede vor den Unterweltsherrschern abschließt (met. 10, 38–39). Im dritten Akt folgt Orfeo in der Unterwelt der Speranza, der Hoffnung, wie Aeneas der Sibylle und Dante Vergil. Bei Charon angelangt, teilt ihm die Speranza mit, dass es nun eines mutigen Herzens und schönen Gesangs bedürfe (332; vgl. Verg. Aen. 6, 261), und verabschiedet sich mit einem Dantezitat: An der Schwelle zur Unterwelt stehe der Befehl an die Eintretenden, alle Hoffnung hinter sich zu lassen (Lasciate ogni speranza, o voi ch’entrate: Div. comm. Inf. 3, 9). Orfeo richtet sich an Charon und schläfert ihn durch seinen Gesang (komischerweise) ein; seine Worte folgen allerdings eng dem ovidischen Vorbild (Wolff 1971, 97). Im vierten Akt wird Pluto von Proserpina überzeugt, Euridice zu befreien. Der Dialog ist nach Poliziano gestaltet, wobei Plutos Verbot an Orfeo, sich umzudrehen, ovidisch ist, da Vergil es Proserpina zuschreibt (georg. 4, 487). Weiter stammt ihr Argument,

dass Pluto selbst, von Amor bezwungen, sie einst geraubt habe (450–49), aus Orpheus’ Rede bei Ovid (met. 10, 26–29). Orfeo preist seine Leier, dreht sich dann aber um; Euridice apostrophiert Orfeo und entschwindet, er bleibt klagend zurück. Im letzten Akt wird Orfeo im Libretto von den Mänaden zerrissen, in der Partitur hingegen vom deus ex machina Apollo in den Himmel befördert. Insgesamt steht Vergils Orpheus-Episode vor allem indirekt über Poliziano für den pastoralen Anfang sowie direkt für Euridices letzte Worte (georg. 4, 494–498) Pate, Ovids hingegen für die Gestaltung der Katabasis, und insbesondere von Orpheus’ Rede, da Vergil nur ihren Effekt schildert (georg. 4, 471–484). Die beiden Vorlagen sind gewissermaßen komplementär, da aber das Hauptmotiv der Oper, die Macht der Musik, dramatisch in Orfeos Bezwingung der Unterwelt durch seinen Gesang (Hanning 1980, 53) kulminiert, kann man sagen, dass die Metamorphosen den zentralen Subtext darstellen. Glucks Orfeo ed Euridice beginnt in medias res an Euridices Grab: Orpheus trauert und will sie suchen (57–59). Amore erscheint und teilt ihm Jupiters Erlaubnis mit, sie zu befreien, sowie dessen Verbot, sich umzudrehen, das aber nicht erwähnt werden darf. Im zweiten Akt begegnet Orfeo in der Unterwelt einer Furienschar. Er bittet sie, sich zu beruhigen (113– 114) und gnädig zu sein (116–117), denn auch er erleide Qualen, ja er trage seine Hölle in sich (123–126); wenn sie Liebesschmerz kannten, hätten sie Mitleid (132–135). Die Furien öffnen ihm ein Tor, das ins Elysium führt. Der Ort, sagt Orfeo, atme ruhige Zufriedenheit, jedoch nicht für ihn: Euridices Blicke und ihr Lachen seien sein Elysium (154–157). Der Chor führt sie herbei und merkt an, dass solch ein Gatte ein anderes Elysium sei (178–180). Im letzten Akt folgt Euridice Orfeo, ist aber zunehmend durch sein erklärungsloses Schweigen sowie seine Weigerung irritiert, sie anzublicken. Orfeo ignoriert ihre Vorwürfe zunächst, dreht sich aber schließlich um. Sie stirbt, Orfeo will die Unterwelt nicht verlassen. Wiederum erscheint Amore, der Orfeo Euridice zurückgibt. An die Oberwelt gelangt, besingt das Paar gemeinsam mit dem Chor und dem Gott selbst dessen Macht. Neu sind gegenüber den antiken Vorlagen und Monteverdi der Anfang in medias res, die Figur des Amore und der Umstand, dass Jupiter anstelle der Unterweltsgötter das Geschehen leitet, wie auch die Reise ins Elysium, das nach Vergil gestaltet ist (Aen. 6; Kerman 1988, 34). Weiter fällt die rekurrierende Deutung

54  Die Metamorphosen in der Musik

der Außenwelt als Spiegel der Seele auf. Insgesamt erfolgt eine dem rationalistischen Zeitgeist entsprechende Internalisierung des Geschehens: Orfeo steigt durch die Hölle, die seiner Trauer entspricht, erreicht das Elysium, für das er jedoch noch nicht bereit ist, und verstößt nur nach langem Ringen mit sich selbst gegen die göttliche Weisung. Dabei verändert das Schweigegebot das Geschehen beträchtlich, da Orfeo sich nur umdreht, weil Euridice Druck auf ihn ausübt. Die Wiedervereinigung durch Amores Eingriff erfolgt als Belohnung für Orfeos Beständigkeit: er hat die Probe bestanden, die prova estrema (79), wie Amore sie bezeichnet.

54.3 Moderne und zeitgenössische Rezeption Nach Gluck erfolgte die Metamorphosen-Rezeption auf der Opernbühne zunehmend in einer burlesken Weise, wobei oft unterschiedliche Episoden zusammengeführt und manche Charaktere zentraler als zuvor wurden. So erscheint Midas in André Grétrys Le jugement de Midas (1778, L. Thomas d’Hèle) und in Victor Massés Galathée (1852, L. Jules Barbier, Michel Carré), wo er als ein Kunsthändler dem Bildhauer Pygmalion seine Statue abkaufen will. Diese heißt hier Galathée wie in Jean-Jacques Rousseaus Scène lyrique Pygmalion, 1762 verfasst und 1770 von Horace Coignet vertont (Waeber 1997, X; Giroud 2010, 170). Von Rousseau gehen auch Gaetano Donizettis erste Oper Il Pigmalione (1816) und Franz von Suppés Die schöne Galathea aus (1865; Poduska 1999, 263). Actaeon figuriert im 19. Jahrhundert als Titelheld zweier Operetten von Daniel-François-Esprit Auber und Francis Chassaigne und kommt auch in Jacques Offenbachs Orphée aux enfers als Liebhaber Dianas vor (1858, L. Ludovic Halévy; Giroud 2010, 189), während Aristaeus mit Eurydice eine Affäre hat. Als Letztere dies Orphée mitteilt, ist er als Ehemann, aber vor allem als Künstler beleidigt (Tu me dédaignes comme artiste?) und zwingt ihr seine Musik auf. Der Tod befreit Eurydice von Orphée, der hocherfreut reagiert, jedoch vom Chor dazu gezwungen wird, sie zu suchen (Munteanu 2012, 81). Einen ähnlichen Ton schlägt Richard Strauss’ Die Liebe der Danae an (1940, L. Joseph Gregor, nach Hugo von Hofmannsthal). Jupiter verleiht Midas, in dessen Gestalt er sich Danae annähern will, die Fähigkeit, alles in Gold zu verwandeln. Tatsächlich wird sie schon in Ovids Midas-Episode erwähnt: Als er seine

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Hände wäscht, entsteht eine Flüssigkeit, die Danae täuschen könnte (met. 11, 116–117). Seit dem späten 18. Jahrhundert wurden auch zunehmend instrumentale Werke durch literarische Werke, nicht zuletzt die Metamorphosen, angeregt, wie Carl Ditters von Dittersdorfs zwölfteiliger Symphoniezyklus (1786; Oade 2014, 247) oder Benjamin Brittens Six Metamorphoses after Ovid für Oboe Solo (1951; Evans 1966, 306; Kildea 2013, 352). Im 20. Jahrhundert wurden Ballette wie auch ernste Opern von den Metamorphosen inspiriert. So sind einerseits Igor Stravinskys Apollon musagète (1928, Choreographie [C.] George Balanchine) und Orphée (1947, C. Balanchine; Griffiths 1992, 212) sowie Luigi Dallapiccolas Tanzdrama Marsia (1948, C. Aurel von Milloss), andererseits Gian Francesco Malipieros L ’Orfeide (1925, L. Malipiero), Paul Dessaus Orpheus und der Bürgermeister (1977, L. Robert Seitz) und Thomas Heyns Marsyas oder Der Preis sei nichts Drittes zu nennen (1986, L. Ralph Oehme). Von Jean Cocteaus Film Orphée (1950) ausgehend schöpfte auch Philip Glass eine gleichnamige Oper (1993, L. Glass; Ruffini 2002, 151; Isotta 2018, 93; Neef 1992, 62; 238). Themen aus den Metamorphosen wurden auch zur Spielfläche für technologisches Experimentieren in der Musik. Besonders wichtig sind Milton Babbitt, der in seinem Werk Philomel Sopranstimme, registrierte Sopranstimme und Synthesizer verbindet (1963, L. John Hollander; Poduska 1999, 259), und Harrison Birtwistle, der in die lyrische Tragödie The Mask of Orpheus (1986, L. Peter Zinovieff) die elektronische Musik von Barry Anderson integriert, die als erfundene orphische Sprache fungiert. Weiter werden die Charaktere jeweils von mehreren Sängern und Schauspielern verkörpert und die Geschichte in verschiedenen Versionen erzählt. Durch die Vervielfachung von Figuren und Inhalten werden die Instabilität des Mythos sowie von Sprache und Gedächtnis allgemein hervorgebracht (Beard 2012, 79; 311). Ovids Metamorphosen, insbesondere die Figur des Orpheus (s. Kap. 69), prägen somit nicht nur die Musikgeschichte ab den Anfängen der Oper, sondern dienen weiterhin als Inspirationsquelle und als Ausgangspunkt für musikalische Reflexion über die Gegenwart. Literatur Primärtexte

Calzabigi, Ranieri de’: Orfeo ed Euridice. In: Giovanna Gronda/Paolo Fabbri (Hrsg.): Libretti d’opera italiani dal Seicento al Novecento. Milano 1997, 678–700. Offenbach, Jacques/Crémieux, Hector: Orphée aux enfers.

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VI Rezeption – C Die Metamorphosen

Opéra féerie en quatre actes et douze tableaux. Nouvelle partition reduite pour piano et chant. Paris 1874. Striggio, Alessandro: La favola d’Orfeo. In: Giovanna Gronda und Paolo Fabbri (Hrsg.): Libretti d’opera italiani dal Seicento al Novecento. Milano 1997, 21–47.

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Laura Loporcaro

D Einzelmythen und Mythengruppen 55 Jäger und Gejagter: Actaeon oder Die ›totale Rezeption‹ Wie rezipiert man einen Mythos, der sich in seinem Kern so gegen jede Form der Rezeption oder Überlieferung sperrt wie die Erzählung vom Jäger Actaeon? Er, der die Göttin nackt im Bade erblickt haben soll (1. Rezeption), wird, damit er von dem Blick nicht erzählen kann (2. Rezeption), in seine eigene Beute, den Hirsch, verwandelt. Seine Hunde zerreißen ihn und sättigen sich an seinem Blut (3. Rezeption). Nirgends in den Metamorphosen ist der Kreislauf von Anlass und vernichtender Strafe unheimlicher und geschlossener ins Werk gesetzt als hier. Die mögliche Erzählung von dem verbotenen Bild wird eingeschlossen erst im Fell des Tiers, dann in den Schnauzen (und Mägen) der Hunde. Kein Rest bleibt in der grausamen Ökonomie der Erzählung von dem ziellos schweifenden Jäger. Eins geht im anderen so sehr auf, dass sich die ganze Geschichte auch geradezu als Erfolgsgeschichte lesen lässt: Das Drama des vollendeten Bösen gibt zugleich Kunde vom Gelingen der göttlich-tierischen Jagd. Der Text selbst verweist uns auf eine solche Lesart: et abesse queruntur (erg.: comites Actaeona) / nec capere oblatae segnem spectacula praedae. / vellet abesse quidem, sed adest: velletque videre / ...; met. 3, 245–247). Wie so oft bei Ovid ist es die Sprache, die den Unterschied macht: In ihr und nur in ihr überdauern die widerständigen Reste – als Erinnerungsspur: wenn der Jäger schon in seiner ersten Aufrufung (mit bezeichnender genealogischer Verkürzung: als Enkel des Cadmus) nur mehr als das verwunschene Bild eines desintegrierten Körpers erscheint: aliena ... cornua fronti / addita (V. 139–140). Als in der Sprache verfertigter ist der Mythos unverdaulich. Daran können die mancherlei Glättungen, die Spätere an ihm vorgenommen haben, nichts ändern. Noch jede Rezeption hat der ovidischen Fassung etwas genommen oder hinzugefügt, das den Mythos

für diese oder jene Auslegung geeigneter zu machen versprach. Die große Herausforderung für jede produktive Aneignung des Actaeon-Mythos in der ovidischen Variante liegt darin, wie man der evidenten Unverhältnismäßigkeit von Anlass und Strafe begegnen könne. Ovid selbst thematisiert die Schieflage: at bene si quaeras, Fortunae crimen in illo, / non scelus invenies: quod enim scelus error habebat? (»Wenn man es recht betrachtet, wird man dabei Fortunas Schuld und kein Verbrechen finden. Denn was für ein Verbrechen sollte im Irrtum liegen?«, 141–142). Und auch der vom Erzähler selbst inszenierte Gerichtshof am Ende der Geschichte (253–258) kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass dem wuchtigen Schicksalsdrama kein fabula docet zu entnehmen ist. In Erinnerung geblieben sind aus der unübersehbaren Zahl der Aneignungen und Interpretationen nicht so sehr diejenigen, die ihren Ehrgeiz darein setzten, die Statik des Dramas zu berichtigen, indem sie die Schuldfrage nach der einen oder anderen Seite hin forcierten und bald Actaeon als lüsterner Betrachter des ihm sich darbietenden Bildes, bald Diana als von blinder Wut getriebene Rachegottheit erschien. In Erinnerung geblieben sind vielmehr jene Rezeptionen, die den inneren Zwiespalt der Erzählung nicht auflösten, sondern in und an ihm den Vorschein einer veränderten condicio humana erkannten: der condicio humana der Moderne.

55.1 Giordano Bruno, De gli eroici furori (1585) Ohne dass er diesen Anspruch selbst formuliert hätte, weist Giordano Brunos (1548–1600) Deutung des Actaeon-Mythos doch genau in diese Richtung. Zwar sucht auch Bruno den Mythos zu heilen, indem er aus der tragischen Ironie, dass der Jäger sich selbst zur Beute wird (e ›l gran cacciator dovenne caccia, 1, 4, 154), einen Hauptpunkt seiner Theorie des im Lichte des Göttlichen zu besonderer Stärke gelangenden

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_55

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VI Rezeption – D Einzelmythen und Mythengruppen

Subjekts gewinnt: Die Hunde liest er – nach Pietro Bembo und Ägidius von Viterbo – als die Gedanken des Jägers, die sich in dem Moment, wo er des Schönen, nach dem er immer gesucht hatte, innewurde, gegen ihn wandten und ihn unter ihren Bissen begruben. So erleidet und erträgt der Jäger in der Stärke seines Willens und voll Sehnsucht nach der Erkenntnis des göttlichen Schönen durch das Medium seiner Gedanken das »heroische« Selbstopfer und lebt nun selbst ein geistiges Leben, »das Leben der Götter«. Was sich wie eine Parabel auf die Stufenleiter der Läuterung und Sublimierung des Erkenntnisstrebens im Neuplatonismus liest, birgt in Wahrheit eine Theorie der Aneignung (oder ›Rezeption‹), wie man sie bis dahin noch nicht gelesen hat. Zur Beute wird der Jäger zwar »durch die Tätigkeit der Vernunft, mit der er die begriffenen Dinge sich anverwandelt« (»per l’operazion de l’intelletto con cui converte le cose apprese in sé«; 1, 4, 157). Die Intellektualisierung des Metamorphosen-Begriffs beschreibt jedoch nur die eine Seite des Umschlags. Zugleich nämlich »formt [Actaeon] die intelligiblen Erscheinungen auf seine Weise und nach den Maßgaben seines Fassungsvermögens, denn sie werden auf die Weise dessen, der sie aufnimmt, aufgenommen« (»perché son ricevute a modo de chi le riceve«, ebd. [meine Hervorhebungen]). Ferdinand Fellmann hat die Leistung des Willens des Jägers korrekt beschrieben: »Erst in der Hingabe an die Dinge« erschließe sich »die Wirklichkeit des Erkannten«. Aber er hat auch den Preis für diese Form des sinnlich geleiteten Erkennens benannt: »Der Tod des Jägers markiert diesen Umschlag der Aktivität des Denkens in Rezeptivität, in der der Erkennende von der Macht der Dinge zerstört wird«. Das ist die Nachtseite der Erkenntnis, die Bruno am Actaeon-Mythos exemplifiziert. Die Theorie der Kunst und der schöpferischen Erkenntnis kommt ohne eine Theorie des Opfers nicht aus. Wo etwas Neues entstehen soll, muss etwas anderes untergehen. Pikanterweise – und das ist das zeitlos Radikale, das Bruno dem Mythos abgewinnt – ist das, was zum Untergang verurteilt ist, dasselbe, das das Neue schaffen muss. Und so nähern wir uns am Beginn der Moderne schon jenen Denkfiguren, die Giorgio Agamben (2005) in unseren Tagen vielleicht am eindringlichsten als Kennzeichen einer Autorschaft gewürdigt hat, die gerade dadurch, dass sie sich im Werk aufs Spiel setzt, als gestuarium überlebt.

55.2 Apuleius, Metamorphosen 2, 4–5 (zweite Hälfte des 2. Jahrhunderts n. Chr.) Die Actaeon-Erzählung stiftet keinen Sinn, sie will als Drama in actu durchlitten und genossen sein. Was man an ihm »verstehen« kann, versteht man oft gerade dann nicht, wenn es in der übermächtigen Didaxe des fabula docet daherkommt. Das bezeugt gleich eine der frühesten Rezeptionen: Im »Eselsroman« des Apuleius beobachten wir Lucius, den Protagonisten, dabei, wie er im Hause seiner thessalischen Tante im Atrium (in dessen vier Ecken auf Säulen Statuen mit Gestalten der Siegesgöttin aufragen, wie sie, »die Flügel ausgebreitet, mit taufrischen Sohlen, ohne fest aufzutreten, den schwanken Grund einer rollenden Kugel berühren und doch nicht so darauf haften, dass sie verweilen; man möchte sogar glauben, sie fliegen«) einer marmornen Figurengruppe gewahr wird, die er alsbald zu lesen und zu deuten beginnt. Gelesen wird die Szene vom Bad der Diana und der Verwandlung des ihrer ansichtig gewordenen Jägers als das Schauspiel einer Kunst, die jederzeit imstande ist, sich aus ihrer marmornen Scheinwelt in Realität zu verwandeln. Die Göttin scheint sich auf die hier Eintretenden zuzubewegen, ihr Gewand bauscht sich im energischen Ausschreiten. Die Hunde formen den steinernen Ausdruck drohender Augen, gespitzter Ohren, geblähter Nüstern und fletschender Mäuler. »Dränge«, so der Erzähler, »ein Bellen irgendwo aus der Nähe heran, so würde man glauben, es komme aus den Marmorrachen.« Doch das Erstaunlichste, was der in die Betrachtung versunkene Erzähler mitzuteilen hat, ist die Perspektivierung der Figur des werkimmanenten Betrachters, Actaeons, im Raum. Er steht nicht einfach da, von Fels und Laubwerk verdeckt, nein, dieses selbst wirft schon den Anblick der Göttin zurück: »Drinnen schimmert der Widerschein der Statue vom Marmorglast«. Und Actaeon? Nachdem der Blick des Betrachters lange bei den am äußersten Rande des Felsens von Kunst im Wettstreit mit der Natur geformten Früchten verweilt und noch ihren vermeinten Bewegungen im zu den Füßen der Göttin plätschernden Wasser nachgespürt hat, sieht man »mitten zwischen dem Marmorlaubwerk ... in Stein und im Wasser« Actaeon, »mit neugierigem Blick zur Göttin vorgebeugt, zum Hirsch sich verwandelnd schon halb ein Tier und lauernd, dass Diana ins Bad steige«. Alles an diesem Bild ist Ausdruck der Schwebe, jedes Detail erscheint als der flüchtige Ausdruck eines Wesens, das in eigentümlicher Mittelstellung zwischen einem »noch nicht« und

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einem »nicht mehr« verharrt. Hier formt sich etwas zum Bilde, das man als den künstlerischen Selbstausdruck einer Szene des Betrachtens und des Lesens, eben der Rezeption, auffassen kann. Hier sind Einsichten zu gewinnen über eine Form der Erkenntnis, die zugleich die Form des literarischen Textes – und noch die von dessen Rezeption? – ist. Dem so in die exzessive Betrachtung lustvoll vertieften Besucher ruft die Hausherrin zu: Tua sunt cuncta, quae vides! (»Dein ist alles, was du siehst!«). Es ist bekannt, dass Lucius aus diesem Wink nichts zu machen wusste. Er versenkte sich in die bloße Anschauung und übersah den existentiellen Betreff. Er suchte und fand und floh den Text und verlor sich dann, zum Esel verwandelt, auf eine grausam lange Weile selbst. Es genügt eben nicht, dass man sein Aufmerken auf das Aufmerken der anderen, wie Lucius auf das des Actaeon, richtet. Als Preis für das selten gewährte Glück des erkennenden Lesens haben die Götter, Diana nicht anders als die Mächte im »Eselsroman«, im schlimmsten Falle Verwandlung und Selbstverlust gesetzt. Und wer das Selbstopfer über der nur oberflächlichen Aneignung des geschauten Bildes vergisst, wird statt des »Lebens der Götter« das der Esel leben. Was wir schon hieraus lernen könnten, ist, dass es nicht genügt, etwas als etwas zu identifizieren. Es kommt darauf an zu erkennen, dass man selbst es ist, der in dem seltsamen Schauspiel gegenwärtig ist (»Fernsein möchte er, doch er ist da!«; met. 3, 247). Das ist genau die Art von Rezeption, die Bruno meint, wenn er seinen Jäger das Gesuchte in sich selbst finden lässt. Was uns am identifizierenden Lesen und Schauen so peinlich berührt, ist eben, so scheint es jetzt, dies: dass man nicht wirklich, d. h. im Vollsinne, rezipiert oder doch nur mit der Hypokrisie des Konsumenten, der »den Kuchen zugleich essen und haben möchte«.

55.3 Pierre Klossowski, Le Bain de Diane (1956) In der theoriegeschichtlich vielleicht bedeutendsten neueren Adaption des Stoffes, in Pierre Klossowskis Le Bain de Diane, wird das sich in der Dialektik von Abwesenheit und Anwesenheit, Entzug und Gewährung realisierende Begehren des Jägers zum Kristallisationspunkt, an dem das Bad der Diana seine »simulakrischen« Qualitäten entfaltet. Im trügenden Wahrbild (simulacrum) finden, wie Giulia Agostini in ihrer feinsinnigen Deutung gezeigt hat (2012), Schein und Sein für den Augenblick der Kunst (Ereignis) zusammen.

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Sprache und Dichtung bewahren und zeigen den Riss, der durch die Texte und Bilder geht. Klossowskis Actaeon entfernt sich zuweilen weit vom ovidischen Metamorphosen-Text, um ihm am Ende doch Einsichten in das Wesen der Kunst zu entnehmen, die in manchen textnäheren Begegnungen verschattet geblieben sind. Das häretische Potential der ovidischen Erzählung, die das Redeverbot der strafenden Göttin fortwährend unterläuft, wird schon in den ersten Sätzen des Klossowski-Textes offengelegt, wenn er das Wort der Göttin als Motto voranstellt und dann wie folgt beginnt: »J’aimerais vous parler de Diane et d’Actéon«. Es ist für die Karriere des Mythos nicht unerheblich, dass in solcher Sprachphilosophie schon die einzelnen mythischen Namen zu »mots-simulacres« werden, die in sich das Ereignis und das Drama der Selbstoffenbarung des wahren im falschen Leben anzeigen können.

55.4 Ezra Pound, The Coming of War. Actaeon (1915)/Canto IV (1925/30) Die vielleicht avancierteste Rezeption des ActaeonMythos liegt Klossowskis Bad der Diana um fast dreißig Jahre voraus. In Ezra Pounds Gedichten ist ›Actaeon‹ nicht mehr als ein Sprachfetzen. Seine mythische Zerreißung ist zum unhintergehbaren Fundament seiner Aufrufung geworden (eine Erkenntnis schon des Ovid, s. o.). Der Name ›Actaeon‹ steht nicht mehr für ein ›Programm‹, bedient nicht die Bedürfnisse einer Identitäts- noch die einer Kunstphilosophie. Der Name ist zum bloßen Wort geworden, um das herum sich andere Wörter, nicht Worte, versammeln, um den Boden zu bereiten für die unheimlichste aller Aktualisierungen des Mythos: wenn er mit einem Mal als das »Ereignis eines ›Jetzt‹« (Karl Heinz Bohrer) erscheint. Wenn einer der Götter im frühen Gedicht The Coming of War: Actaeon sagt: »This is Actaeon« (V. 14), dient diese Aussage gerade nicht der Feststellung einer wie immer gearteten Identität, sondern signalisiert, wie Karl Heinz Bohrer gesehen hat, »Intensität und Gefahr« (2015). Die klassischen Kontextualisierungen des Mythos werden hinter den irisierenden Bildern aus Archaik (»Hosts of an ancient people«, V. 19) und Gegenwart (der im Titel aufgerufene Erste Weltkrieg) zum Verschwinden gebracht, um in eine neue »mythische Imagination« eintreten zu können. Pound liest und schreibt auf Lücke, nicht auf Riss (1975). Aber ist das noch Rezeption? Oder nur die Arbeit an den unverdauten Resten des Mythos, die zu immer neuen Phantasmagorien recycelt werden?

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VI Rezeption – D Einzelmythen und Mythengruppen

Im Zusammenspiel der einflussreichen Deutungen wird die Größe der Aufgabe sichtbar: Wie kann es gelingen, die Zerreißung des Helden ernst zu nehmen und doch das Totum der Erzählung nicht preiszugeben? Manches spricht dafür, dass der Actaeon-Mythos seine Wucht daraus bezieht, dass er wie kaum eine andere Metamorphosen-Erzählung die ominöse coincidentia oppositorum, über die im Gefolge des Cusaners schon Bruno nachgedacht hatte, vollzieht. Wenn Herr und Knecht, Jäger und Beute so sich ineinander verkehren, dass der Unterschied – nach der berühmten Kippfigur – nur als ein Unterschied ums Ganze erkennbar wird, ist ein neuer Zustand erreicht, den man vorläufig die völlige Simultanität von Glück und Unglück, Herrschaft und Unterwerfung, Schöpfung und Vernichtung, Leben und Tod, Anwesenheit und Abwesenheit nennen kann. Die Simultanität ist freilich keine nur zeitliche und auch keine nur zeitlich-räumliche, sondern – und das macht die Actaeon-Episode zu einer Schlüsselerzählung der Metamorphosen – auch eine substantielle Übereinstimmung. Nicht mehr nur um die Verwandlung der formae in »neue Körper« geht es, sondern um die zugleich glück- und grauenvolle Verfassung der condicio humana in den Intermundien der Erzählung, wenn der eine Zustand noch nicht quittiert und der andere noch nicht erlangt ist. Derselbe Actaeon, der sich ob der Leistung der Hunde glücklich schätzen kann, soll unter ihren Bissen elend zugrunde gehen. Die Zerreißung des Jägers ist ein Fanal. Aber wofür? Zeigt sie, dass die Geschichte des Dramas, die mit der Zerstückelung des Dionysos Zagreus begonnen hatte, nun an ihr Ende gekommen ist? Oder zeigt sie – im Gegenteil –, dass jenseits aller bekannten Schrecken ein größerer, ungeheuerlicherer Schrecken auf uns wartet? Der Schrecken des namenlosen, nein, des unbekannten (weil in der »richtigen« Welt als Sieg des überlegenen Lebens gefeierten) Todes? Es wäre das Ende nicht des Menschen, sondern des menschlichen Betreffs. Wenn aber der Betreff erlischt, ist es auch um die Sache des Menschen geschehen. Die condicio humana spräche nicht mehr von der Gegenwart und Zukunft, sondern nur mehr von der Vergangenheit des Menschen, der mit

dem Verlust seines Betreffs selbst von der Bühne verschwunden wäre. Eine Aufgabe der Rezeption aber ist es, dieses Verschwinden – wenn nicht aufzuhalten, so doch anzuzeigen und den Riss oder die Lücke oder das Schweigen sichtbar und hörbar zu machen, die das Ding und die Erscheinung, das Gemeinte und das Gesagte, das Zeichen und seinen Sinn zugleich verbinden und trennen. Das ist im Übrigen der unauflösliche ›humanistische‹ Kern der Philologie. Mitunter auch muss sie den verschütteten menschlichen Betreff erst zu dem ihren machen, um ihn in einem Akt actaeonischen Lesens (oder der ›totalen Rezeption‹) freizulegen – und dann vielleicht auch als den eigenen zu erkennen: »Mea causa agitur!«. Ein Glücksfall der Rezeption: Philologie, die sich selbst aufs Spiel setzt, sich scheinbar darin verliert und ihren Gegenstand, die Sache des Menschen, genau hierdurch – im Gegen-Stand – gewinnt. Aber das ist Schwarzer Humanismus. Literatur

Agamben, Giorgio: Profanierungen. Aus dem Italienischen von Marianne Schneider. Frankfurt a. M. 2005 (ital. 2005). Agostini, Giulia: Der Riss im Text. Schein und Wahrheit im Werk Pierre Klossowskis. München 2012. Apuleius: Metamorphosen oder Der goldene Esel. Lateinisch und deutsch von Rudolf Helm [1956]. Darmstadt 61970. Bohrer, Karl Heinz: Das Erscheinen des Dionysos. Antike Mythologie und moderne Metapher. Berlin 2015. Bruno, Giordano: Von den heroischen Leidenschaften. Übers. und herausgegeben von Christiane Bacmeister. Mit einer Einleitung von Ferdinand Fellmann. Hamburg 1989. Bruno, Giordano: De gli eroici furori – Von den heroischen Leidenschaften. Italienisch – Deutsch. Unter Verwendung der Übersetzung von Christiane Bacmeister grundlegend überarb. von Henning Hufnagel. Einleitung von Maria Moog-Grünewald. Edition des italienischen Originaltextes, Kommentar und Philosophisches Nachwort von Eugenio Canone. Hamburg 2018. Klossowski, Pierre: Le Bain de Diane. Paris 1956. Pound, Ezra: Selected Poems 1908–1969. London 1975. Schwindt, Jürgen Paul: Thaumatographia oder Zur Kritik der philologischen Vernunft. Vorspiel: Die Jagd des Aktaion (Ovid, Metamorphosen 3, 131–259). Heidelberg 2016.

Jürgen Paul Schwindt

56  Gewalt und Entzug: Apoll und Daphne; Jupiter, Juno und Callisto; Hippomenes und Atalante

56 Gewalt und Entzug: Apoll und Daphne; Jupiter, Juno und Callisto; Hippomenes und Atalante 56.1 Motivbeschreibung und Analyse In den unzähligen Jagdgeschichten von Göttern und Menschen wird auch der Gedanke der Metamorphose als Moment des Entzugs prominent eingeführt. Ovids Heldinnen und Helden wandeln sich, um Gewalt oder Strafe zu entgehen, oder sie werden von Götterhand in der Metamorphose mit Welt- und Wesensentzug bestraft. So gelingt es Daphne (met. 1, 452–567) nur unter Berufung auf ihren göttlichen Vater Penëus, der Verfolgung und Bedrohung durch Apoll anhand einer wundersamen Verwandlung zu entgehen. Diesem ersten Verwandlungs-Mythos (vgl. Holzberg 2007, 32) als Gegenmittel gegen den primus amor Phoebi (met. 1, 452), den Ovid in der thessalischen Variante schildert, zeigt an, wie in der Folge Verwandlungen inszeniert werden: Sie dienen in der Konfrontation von Göttern und Menschen gleichzeitig dem Entzug vor und der Umsetzung von mythischer Gewalt (Benjamin 1991). Daphnes Geschichte kommt mit ihrer prominenten Position im Buch auch poetologische Bedeutung zu: Ihre Verwandlung steht schon innerhalb der Metamorphosen »Modell für die weiteren Liebesgeschichten des Werkes, besonders auch innerhalb der Thematik der ›Götterliebe zu Menschen‹« (Müller-Reineke 2000, 33). So gelingt wie Daphne späterhin auch Syrinx die Flucht vor Pan nur, indem sie sich – ebenfalls durch göttliche Intervention – ins Pflanzliche wandelt (met. 1, 689–713). Daphnes Metamorphose zum Lorbeerbaum beendet ihre Verfolgung mit dessen Namensgebung und zeigt, wie solche mythischen Verwandlungen Götter wie Nymphen betreffen können. Auch Apoll ist nach der Verwandlung ein anderer; er hat zum ersten Mal geliebt und in seinem Begehren sein Ziel nicht oder zu spät erreicht, und er trägt fortan den Lorbeer als Attribut, das aus dieser gescheiterten Götterhandlung zum Siegeszeichen werden soll. Ovid löst mit diesem Mythos ein, was er zuvor selbst als ausstehend eingeklagt hatte: nondum laurus erat, longoque decentia crine / tempora cingebat de qualibet arbore Phoebus (»noch gab es keinen Lorbeer, und seine schönlockigen Schläfen umwand Phoebus Apollo noch mit Kränzen von jeglichem Baum«; met. 1, 450–451). Kennzeichnend für dieses Modell ist die Übersetzung des Agons in Bewegung: Ovid lässt Bewegung in

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Verwandlung übergehen, und damit die dynamische Szene der Verfolgung in der Statik der verwandelten Protagonistin abrupt enden. Die widerstreitenden Affekte in Gott und Nymphe werden von den widerstreitenden Dynamiken von Jagd und Verwandlung eingefasst, der Übergang mündet in Stillstand. Die Verse Ovids fordern diese dynamische Darstellung geradezu heraus (met. 1, 128–129: obviaque adversas vibrabant flamina vestes, / et levis inpulsos retro dabat aura capillos – »im Gegenwind flatterte ihr Gewand, ein sanfter Hauch erfaßte ihre Locken und wehte sie rückwärts«).

56.2 Rezeption des Daphne-Mythos Diese Tendenz zur chiastischen Verschränkung (bspw. ebd., 474: alter amat, fugit altera; vgl. Müller 1965, 134.) lebt vor allem in den bildenden Künsten fort. In der Malerei wird meist der Beginn der Verwandlung eingefangen; so etwa in der etwas schematischen Darstellung bei Antonio del Pollaiuolo (»Daphne und Apoll«, ca. 1470–1480), in der Daphne stehend den erst im Bildraum ankommenden Apoll bereits im Zustand fortgeschrittener Verwandlung erwartet. Für die Plastik dient die Verschränkung der Dynamik zur medienspezifischen Verhandlung der Darstellbarkeit von Bewegung allgemein; besonders zeigt sich dies in der Figurengruppe »Apollo und Daphne« von Lorenzo Bernini (1622–1625). Bernini hält exakt den Schnittpunkt von Jagd und Verwandlung fest; Apoll holt die Nymphe gerade ein, als die Verwandlung einsetzt. Daphnes von Schrecken ergriffenes Gesicht zeugt von der Bedrohlichkeit der Lage und fängt den Augenblick ihres Übergangs ein, noch bevor sie selbst um ihn weiß – ihr fliegendes Haar und ihre erhobenen Hände gehen bereits in Äste und Zweige des Baumes über. Mit diesem Arrangement kommentiert Bernini die Bewegungsdarstellung in der Plastik und fasst damit die Gewaltsamkeit der Szene in klare Form – in ihrer Verwandlung und Rettung vor Apolls Übergriff verliert sich Daphne ans Statische. Ovid zeigt mit der mythischen Erzählung vor allem den Triumph der Liebe (Amors) über Apoll. In christlichen Lektüren wird dies zum Lob der Keuschheit. Daphnes Entzug steht für beispielhafte Lustentsagung. Im Ovide moralisé des frühen 14. Jahrhunderts (Boer 1915, 120–132) wird die Szene als Geschichte der Begehrenskonkurrenz wiedergegeben, erfährt aber in der ambivalenten Dopplung eine neue Deutung. Sie zeigt einerseits, wie die beiden Figuren von Begehren ergriffen sind und es überwinden. Die Ver-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_56

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VI Rezeption – D Einzelmythen und Mythengruppen

wandlung der Nymphe wird zum Entzug aus dem Irdischen und zur keuschen Weltflucht. In ihrer Metamorphose entsagt sie den gewaltsamen fleischlichsündigen Neigungen, die im göttlichen Apoll als teuflische Versuchung sowie als menschliche Schwächen dargestellt werden. Dieses Deutungsmuster findet sich ebenfalls im Parallelprojekt des Petrus Berchorius (1340), der die Vorbildfunktion Daphnes nutzbar macht und auch Apolls Liebe christologisch zu deuten weiß. Seine unstillbare Liebe wird die zur Keuschheit selbst, die sich darin ausdrückt, dass er am Ende der Jagdszene den Lorbeerbaum als Präfiguration des Kreuzes liebend umfasst (Berchorius 1960, 39–40). Berchorius’ Umdeutung gelingt nur, wenn man den Zusammenhang der Spiegelung in der Szene unterdrückt; man muss die Götterkonkurrenz Apolls und Amors, die Daphne erst zum Opfer der Götter und zum Objekt der Begierde werden lässt, ebenso ignorieren wie die Ambivalenz in Apolls Attributwahl am Ende der Jagdszene. Ovids nachgereichte Erklärung von Attribut und Siegessymbol als Umbesetzung des Begehrens Apolls lässt offen, ob Daphnes Rettung für ihn Sieg oder Niederlage, Enttäuschung oder späte Einsicht gewesen ist (vgl. zur Figur Apolls bei Ovid: Fumo 2010, 33–34). Die Gewalt der Szene wird so weitestgehend ignorierbar gemacht; an die Stelle der drohenden Vergewaltigung rückt eine abstrakte teuflische Sündhaftigkeit, die beide Figuren gleichermaßen betreffen soll. Zudem steht Daphnes Motivation gespiegelt zu derjenigen Apolls. Sie entwickelt keineswegs aus freien Stücken, sondern ebenfalls durch Amors Einwirken ihre grundtiefe Abneigung gegen ihn. Indem beide Jagdteilnehmer mit Daphnes Verwandlung zum Stehen kommen, wird auch – zumindest in Ovids Andeutung – der Agon aufgelöst; Apoll erkennt an, dass das Objekt seiner Begierde sich ihm entzogen hat, und verwandelt seinerseits sein zuvor bedrohliches Begehren in die Verehrung des Baumes in seiner Attributwahl. Gegenüber dieser Form der nunmehr keuschen Zuneigung scheint Daphne aufgeschlossen zu sein, was in der Verbeugung oder dem Nicken des Baumes erkannt werden kann (met. 1, 565–566: finierat Paean: factis modo laurea ramis / adnuit utque caput visa est agitasse cacumen – »Apollo hatte geendet; mit eben entstandenen Zweigen nickt ihm der Lorbeer Beifall zu, und gleich einem Haupt scheint sich der Wipfel zu neigen«). Auch Dante greift in der Göttlichen Komödie Daphnes Verwandlung auf, die eine verschobene, retroaktive Deutung des Mythos bei Ovid erlaubt. Im 13. Gesang des Infernos (Alighieri 2011, Canto 13, 1–126, 194–

207) wird das Motiv der Baumwerdung als jenseitige Strafe für Selbstmörder aufgegriffen. Dante schildert, dass Suizid in der Hölle mit der Transformation ins Pflanzliche bestraft wird; neben der Anspielung auf Daphne wird ebenfalls Ovids Actaeon evoziert (ebd., 121–151, 206–209). Im Rückblick kann dies als Kommentar zu Ovids Text verstanden werden; der Entzug aus Apolls Übergriff war keineswegs als Triumph, sondern als Freitod aufzufassen. Petrarca schließt deutlicher an die heilsgeschichtliche Lesart an, wenn er die Dynamik von Daphne und Apoll als Psychomachie adaptiert (vgl. Kablitz 2003, 71). Gewalt und Entzug sind damit vollends intrapsychische Momente des Begehrens und dienen als eine der poetologischen Leitmetaphern der Canzoniere (1470/1501). Als Entzogene steht Daphne der besungenen Laura Modell, und dies nicht nur in der Wiederholung des Wortspiels im Namen – laurus steht im Lateinischen wie Daphne im Griechischen für den Lorbeer. Deutlicher greift Petrarca unter Rekurs auf viele weitere Mythologeme Ovids die christliche Mythenallegorese auf und setzt Laura als Liebesobjekt fernab von aller Dynamik der Verfolgung; durch die Verlagerung ins schreibende Subjekt stellt sich die Unerfüllbarkeit der Szene in der chiastischen Spannung im Dichter selbst dar (vgl. Münchberger 2008, 205). Der Sänger selbst wird durch Amor und die geliebte Laura zum Lorbeer: »Ei duo mi trasformaro in quel ch’i sono, / Facendomi d’uom vivo un lauro verde, / Che per fredda stagion foglia non perde« (Petrarca 87, Can. 23, 38–40, 66–67; »durch beide ward mein Wesen mir genommen: / Sonst Mensch, ward ich ein Lorbeer, grün belaubet,/ dem seine Blätter auch der Frost nicht raubet«). Die Schwere, die in diesem Zugriff liegt, baut deutlich auf der moralischen Allegorese des Mittelalters auf, gewinnt aber durch die Rekombination der diversen Mythologeme sowie durch die Subjektivierung des tradierten Stoffes neue poetologische wie subjektive Tragkraft. Die mythische Gewalt der Metamorphosen ist nun zum Kampf im Dichter und in der Dichtung selbst geworden, sie führt über in den zweiten Teil der Sammlung Petrarcas, in der die Trauer um die Geliebte mit orphischer Motivik als Resultat des Entzugs in anderer Form wiederaufgegriffen wird. Andere literarische Anschlüsse des 16. und 17. Jahrhunderts schlagen auch andere Richtungen der Umdeutung ein. Ariost nutzt das Bild in parodistischer Umkehrung weniger Ovids als Dantes, wenn er im Orlando furioso (1516) der mühsam geretteten Nymphe die Schuld an der Jagdszene zuschreibt: »Auch Daphne muß hier ihre Schuld erkennen, / Daß sie Apollen zwang, so weit zu rennen«. (Ariost 1888/2013, 1115,

56  Gewalt und Entzug: Apoll und Daphne; Jupiter, Juno und Callisto; Hippomenes und Atalante

Canto XXXIV, 12, 7–8; für die Übersetzung vgl. Geyer 2008, 197–198). Nicht sexuelles Begehren und Gewalt, sondern im Gegenteil der Entzug der Gejagten wird von ihm skandalisiert. Auch Shakespeare greift die Szene in komisch-parodistischen Abänderung auf (vgl. Staton 1963). Im Midsummer Night’s Dream (1595/96) wird die Szene der widerstreitenden Neigungen durch göttliche Eingriffe deutlich um Personal erweitert und durch andere Motive der Metamorphosen stabilisiert. Ovids Mythos der widerstreitenden Neigungen gerät in weitere Dynamik, ihre schicksalhafte und tragische Wendung aber ist suspendiert. Shakespeares Heldinnen und Helden stehen unter göttlichem Einfluss, aber dieser ist selbst irrig und, vor allem, reversibel. Von den Figuren wird diese parodistische Inversion explizit gemacht. Helena bringt ihre aussichtlose Liebe zu Demetrius noch vor dem Einsetzen des Zaubers deutlich als Umkehrung der ovidischen Szene zum Ausdruck (Shakespeare 2008, Akt 2/1, V. 231, 40: »Apollo flies, and Daphne holds the chase.«). Unter den jüngeren Aufgriffen des Motivs dürfte derjenige von Sylvia Plath besonders hervorstechen: »Virgin in a Tree«, das deutlich von Paul Klees gleichnamiger Darstellung (»Jungfrau im Baum, träumend«, 1903; vgl. Kirk 2004, 76) inspiriert ist, stellt die Frage nach Gewalt und Entzug an Daphnes Geschichte auf eine neue Art und Weise. Für Plath liegt im Mythos die Gewalt nicht nur in der Szene, sondern in der idealisierten oder aufoktroyierten Keuschheit der Heldinnen, die bis zur Selbstaufgabe aufrechterhalten werden soll. Das Geschehen der Metamorphose wird – ganz wie im Bild Klees –ausgelassen. Im Gedicht ist ebenso wenig von Apoll wie von einer Jagdszene die Rede, und dennoch geht es Plath darum, der Dopplung von Gewalt und Entzug eine neue Wendung zu geben. Plath lässt Daphne ihren »Pakt« entrückt und ohne Not schließen, den sie entgegen der Chronologie Ovids am Vorbild der von Pan verfolgten Syrinx leistet. Das, was bei Ovid als letztes Mittel der Rettung eingeführt wird, ist bei Plath zum priesterlichen Schwur geworden, in dem Keuschheit als »Jungfräulichkeit um der Jungfräulichkeit willen« von Daphne gefeiert wird. Wie Plath die mythische Abfolge der Metamorphosen umkehrt, kehrt sie auch die logische Reihung von Verfolgung und Entzug um. Keuschheit als Selbstzweck ist keineswegs die freie Wahl Daphnes, sondern sozio-kulturelle Erwartung an die weibliche Stimme im Gedicht. So kommentiert denn auch der Text als Antwort auf Daphnes Lob der Keuschheit in derben Worten, die Klees Darstellung rekapitulieren, deren Schwur, der sich der Betrachterin eingebrannt

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(etch) habe (Plath 1981, 81: »Be certain some such pact’s / Been struck to keep all glory in the grip / Of ugly spinsters and barren sirs / As you etch on the inner window of your eye / This virgin on her rack.«). Auch ohne die Transformation nutzt Plath die Inszenierung Klees, um dem Irreversiblen dieses Entzugs eine neue Form zu geben. Die göttliche Intervention wird zur übermächtigen gesellschaftlichen Norm, die sich in der Körperlichkeit der Figur niederschlägt – was ihr als Ausweg bleibt, ist, sich hart zu machen und zu entziehen. Mit ihrem Rekurs auf den Mythos attackiert Plath die Idealisierung dieses Entzugs.

56.3 Rezeption des Callisto-Mythos Die Intervention der Götter als gewaltsame Einwirkung auf die Sterblichen findet sich bei Ovid in der Gegenerzählung zu Gewalt und Entzug im Falle Callistos (met. 2, 401–530). Ihre Ausgangslage ist mit derjenigen Daphnes durchaus vergleichbar (s. Müller 1965, 137), doch gelingt es ihr nicht, durch eine zweite Götterintervention der ersten zu entkommen. In ihrem ganz den göttlichen Gewalttaten unterworfenen Schicksal ist die Metamorphose als Strafe, nicht als Rettung zu verstehen, und Callisto ist schutzlos der Vergewaltigung durch Jupiter und den Übergriffen von Diana und Juno ausgeliefert. Erst nach ihren Leiden erhebt Jupiter sie zum Stern und verhindert so ihren von der Hand ihres Sohnes drohenden Tod. Ovid lässt in ihr wiederum eine Diana-Priesterin und damit eine Jägerin zur Gejagten werden, wenn ihr und Jupiters Sohn sie nach ihrer Verwandlung zum Bären im Wald entdeckt und töten will. Erst hier greift die abschließende Transformation, mit der Jupiter Mutter und Sohn dem schicksalhaften Irrtum entzieht, indem er beide in den Himmel erhebt – darin liegt die ätiologische Motivation Ovids für die Callisto-Erzählung, mit der er den Ursprung der beiden Bären-Sternbilder angibt. Anstelle des Schutzes vor Verfolgung und Missbrauch wird hier die Verwandlung als Schutz vor darauffolgender Strafe verstanden. In der bildenden Kunst kam vor allem die Entdeckung der schwangeren Nymphe zur Darstellung; bei Tizian (Bad der Diana, 1556–1559) oder bei Rubens (Diana und Kallisto, ca. 1639) sehen wir den Zwischenschritt im Mythos ihrer Misshandlung durch die Götter, in dem sie entblößt aus dem Kreis der DianaPriesterinnen ausgeschlossen wird (met. 2, 453–465). So setzt sich die Gewalt von der Vergewaltigung durch Jupiter an fort. Tizians Darstellung zeigt die Weisung

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VI Rezeption – D Einzelmythen und Mythengruppen

Dianas, Callisto zu entkleiden, der einige Nymphen nachkommen. Sie wird entblößt und ihre Schwangerschaft erkannt, während ihr Gesicht im Schatten liegt. Das Geschehen unter der Direktion Dianas folgt göttlicher und schicksalhafter Weisung, der die Bloßgestellte unterworfen ist. In Rembrandts Bad der Diana (1637) wird die Entkleidung Callistos mit der verwandten Geschichte von Actaeon (met. 3, 143–231) verbunden; Rembrandts Komposition nutzt die Ausleuchtung des Waldsees für die doppelte Entdeckungsbewegung, indem er den nichtsahnenden Jäger zeitgleich mit der Bloßstellung der schwangeren Callisto auftreten lässt. Auch wenn der Bildraum symmetrisch auf beide Motive verteilt wird, steht die narrative Ausarbeitung der Geschichte Actaeons im Vordergrund. Als Vorwegnahme seiner Verwandlung zeigt Rembrandt ihn mit Zweigen am Kopf geschmückt, die auf den Hirsch, in den Diana ihn sogleich verwandeln soll, vorausdeuten, ebenso wie die ihn begleitenden Hunde, deren Kampfbereitschaft neben ihrem Herrn unzweifelhaft aufgewiesen wird. Callistos Schicksal wird nicht vorbedeutet; die Szene zeigt sie mit schon halbentblößtem Bauch in den Händen ihrer Gefährtinnen, die sie in Analogie zum erlegten Wild in den Hintergrund zur Beute setzen. Anders als in der erhabenen Gestik bei Tizian hebt Rembrandt die Gewalttätigkeit wie die Schadenfreude von Callistos Gefährtinnen hervor. Im Unterschied zu den Metamorphosen wird hier die schicksalhafte Entkleidung nicht nur festgestellt (met. 2 460: dubitanti vestis adempta est; »Der Zaudernden zieht man das Kleid aus.«), sondern als weitere Überwältigung und als Kampf gegen übermächtige, weil überzählige Gegner inszeniert. Der Verstoßung Callistos durch Diana, als zweiter von drei göttlichen Gewaltakten, unterlegt Rembrandt so noch die Misshandlung durch die Nymphen. Die lachende Zuschauerin am oberen Rand des kämpfenden Ensembles zeugt deutlich von dieser Dopplung in der Bloßstellung. Rembrandts Darstellung ihres Spotts dürfte ein Novum in der Darstellung von Akten sein (vgl. Hammer-Tugendhat 2009, 51). Ob er mit dieser beigefügten Zuschauerin auf den zweideutigen Hinweis Ovids über die wissenden Nymphen anspielt, kann nicht letztgültig entschieden werden, wird aber von der Dynamik der Szene nahegelegt. Während Diana aufgrund ihrer sexuellen Unerfahrenheit nicht in der Lage ist, schon vor der Entkleidung die trügerischen Zeichen von Scham und Schwangerschaft an Callisto zu lesen, fällt es den Nymphen leicht (met. 2, 451–452): et, nisi quod virgo est, poterat sentire Diana mille notis culpam; nymphae sensisse feruntur; »ja, wä-

re Diana nicht Jungfrau, sie hätte an tausend Merkmalen ihre Schmach ablesen können. Die Nymphen bemerkten sie, sagt man«; vgl. Börner 1969, 352).

56.4 Rezeption des Atalante-Mythos Im zehnten Buch der Metamorphosen wird die Gegenüberstellung von Gewalt und Entzug wiederum anders gefasst. In der Episode über Hippomenes’ Sieg über Atalante wird die Verfolgung zum sportlichen Wettkampf (met. 10, 560–704). Die ohnehin im Lauf überlegene Atalante bietet ihren Brautwerbern ein abgekartetes Rennen an, an dessen Ende ein Gewaltakt droht: Jeder unterlegene Herausforderer wird hingerichtet. Sollte Atalante wider Erwarten von einem ihrer Herausforderer geschlagen werden, muss sie in die Ehe mit ihm einwilligen. Dies will sie aber unbedingt vermeiden will, um dem Orakelspruch zu entgehen, der ihr in Aussicht stellt, eine Verbindung zu einem Mann würde ihr Unheil bringen. Die Vorsicht vor diesem Orakel führt zur Entzugsbewegung der Jungfrau. Somit rahmt die göttliche Intervention das Geschehen; Apolls Weisung steht am Beginn, Aphrodites Unterstützung des Hippomenes beendet es. Wenn sie recht unsportlich in den Wettlauf eingreift und den heillos Verliebten mit den magischen Äpfeln ausstattet, dient diese Bezauberung vor allem der kunstreichen Überwindung der ohnehin Überlegenen, aber mittlerweile durchaus nicht mehr ganz Abgeneigten – die Liebe zwischen den Kontrahenten ist bereits gestiftet, bevor es zur Verfolgung kommt, und die Täuschung Atalantes wird von ihr mehr als nur geduldet, will sie doch ebenfalls verhindern, dass Hippomenes unterliegt und getötet wird (met. 10 636–637). Die Liebe der beiden triumphiert scheinbar über die Verheißung und führt zur Suspendierung der (menschlichen) Gewalt, endet aber dessen ungeachtet in der Durchsetzung von mythischer. Wenn Held und Heldin nach der Szene den Göttern keinen gebührenden Respekt erweisen, ziehen sie eine Strafe auf sich, die von der Verfolgung unabhängig ist – sie verweigern Aphrodite den gebührenden Dank und lassen sich zudem vor der Eheschließung auf sexuelle Handlungen ein. Damit erzürnen sie ihre göttliche Helferin. Ihre Strafe wird am Vergehen bemessen: Aphrodite verwandelt sie in Löwen, da es Löwen nach einer antiken Auffassung verwehrt ist, sich untereinander zu paaren (vgl. Kern 2003, 122). Diese für den Leser im zeitgenössischen Rom eindeutige Wendung ist in der Rezeption übersehen wor-

56  Gewalt und Entzug: Apoll und Daphne; Jupiter, Juno und Callisto; Hippomenes und Atalante

den. Beispielhaft hierfür kann Albrecht von Halberstadts deutsche Nachdichtung (1190 oder 1210; Erstdruck der erhaltenen Fragmente 1545 von Wickram; Bartsch 1965) stehen; in seiner Adaption der Szene wird die Löwenverwandlung am Ende in der Drastik Ovids wiederholt, aber die in der Binnenerzählung Aphrodites angelegte Moral des Mythos verweigert sich der Übersetzung. Im allegorisch-emblematischen Fortleben des Mythos in der Frühen Neuzeit wird das Narrativ einerseits selektiv verkürzt, andererseits prominent mit naturphilosophischen Deutungen aufgeladen, die sich weit von den Metamorphosen entfernen. Vorrangig in Francis Bacons De Sapientia Veterum (1609; s. Bacon 1963, 667–669) wird Atalante zur Allegorie der Kunst, Hippomenes zu derjenigen der Natur erklärt – Bacons Auffassung, dass Ars grundsätzlich schneller vorankomme als Natur, wird listenreich unterlaufen. Die Natur findet wie Hippomenes Mittel, diesen Vorsprung wieder aufzuholen. Die goldenen Äpfel stehen für die Untugenden eines wissenschaftlichen Geistes, namentlich Gewinnsucht und Orientierung am Nutzen (lucrum und commodum); solche Verunreinigungen brächten die sonst voranschreitende reine Kunst auf die schiefe Bahn. Bacons pessimistisches Fazit speist sich – wenn auch nur in Andeutungen ausgeführt – aus der Versuchung und letztlichen Überwindung Atalantes durch Hippomenes, woran sich zeige, dass die Kunst durch menschliche Schwäche und Neigung immer korrumpiert werden könne und so der Fortschritt in den Künsten aufgehalten wird. In ungeahnter Weise setzt sich diese Nutzbarmachung des Mythos in allegorisch-emblematischer Weise bei Michael Maier fort. Er stellt namentlich die Heldin des Mythos seiner Sammlung von Emblemata voran, die 1617 unter dem Titel Atalanta fugiens erscheint. In Ausschöpfung aller verfügbaren Deutungsangebote wird Atalanta zur Patronin einer Mythen- und Stoffsammlung von alchemisch informierten Emblemen, die als intermediale Sammlung in »wohl einzigartige[r] Kombination von Bild, Text und Musik« (Wels 2010, 149) Natur- und Geheimwissen vermitteln – einem meist mythischen Kurznarrativ wird eine Abbildung sowie ein gedichtetes Musikstück zugeordnet. Jedem Emblem folgt eine deutende Diskussion, die den Gehalt des Mythos erläutern soll. Die eigentümliche Deutung der direkt aus Ovid übernommenen Geschichte von Atalante und Hippomenes wird dabei einleitend zum Sinnbild der musikalischen Fuge und gibt dem Buch seine Struktur vor – mit der Flucht (fugia) Atalantes meint er die erste Stimme, mit

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der Verfolgung durch Hippomenes die zweite, und im goldenen Apfel schließlich die dritte, die zum Dreiklang vereinigt wird. Neben der textstrukturellen Bedeutung (als Dreiklang von Lied – Bild – Diskurs) kommt dem Mythos sogleich auch eine chemische Dimension zu: Das Quecksilber kann auf seiner »Flucht« vom goldenen Sulfur fixiert werden (Maier 2007, 13: nempe Mercurius Philosophicus a sulfure aureo in fuga fixatus & retentus). Beispielhaft dient Ovids Mythos zur Illustration des im Mythos verborgenen Geheimwissens und bietet zugleich anhand seiner Dreigliedrigkeit ein Formprinzip an, das selbst als Anleitung zur Allegorese von Mythen verstanden wird. Die nur in der Lektüre erfahrbare erlesene Natur in Verwandlung, wie sie bei Ovid geschildert wird, ist geeigneter als die sinnlich erfahrene, ihr lassen sich die alchemischen Geheimnisse leichter abgewinnen (Maier 2007, 11: potius per contemplationem profundam ex lectione authorum; »vielmehr aber durch die tiefgehende Betrachtung aus der Lektüre der Autoren«). Literatur

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VI Rezeption – D Einzelmythen und Mythengruppen

nis von antikem Mythos und christlicher Heilsgeschichte in Petrarcas ›Canzoniere‹. In: Klaus W. Hempfer (Hrsg.): Petrarca-Lektüren: Gedenkschrift für Alfred Noyer-Weidner. Stuttgart 2003, 69–96. Kern, Manfred: Lexikon der antiken Gestalten in den deutschen Texten des Mittelalters. Berlin 2003. Kirk, Connie Ann: Sylvia Plath. A Biography. Westport 2004. Maier, Michael: Chymisches Cabinet: Atalanta fugiens deutsch nach der Ausgabe von 1708. Hrsg. von Thomas Hofmeier. Berlin 2007. Müller, Werner: Untersuchungen zum Liebesmotiv in den ›Metamorphosen‹ des Ovid. Kiel 1965. Müller-Reineke, Hendrik: Liebesbeziehungen in Ovids ›Metamorphosen‹ und ihr Einfluss auf den Roman des Apuleius. Göttingen/London 22000. Münchberg, Katharina: Daphne. In: Maria Moog-Grünewald (Hrsg.): Mythenrezeption. Die antike Mythologie in Literatur, Musik und Kunst von den Anfängen bis zur

Gegenwart (= Der Neue Pauly. Supplemente. Bd. 5). Stuttgart/Weimar 2008, 203–211. Petrarca, Francesco: Canzoniere: zweisprachige Auswahl (Italienisch – Deutsch). Hrsg. Von Gerhard Regn. Übers. Von Karl Förster. Mainz 1987. Plath, Sylvia: Collected poems. Hrsg. von Ted Hughes. London 1981. Shakespeare, William: A Midsummer Night’s Dream. Waiheke Island 2008. In: http://search.ebscohost.com/login. aspx?direct=true&db=nlebk&AN= 313601&site=ehostlive (11.2.2019). Staton, Walter F.: Ovidian Elements in »A Midsummer Night’s Dream. In: Huntington Library Quarterly 26/ 2 (1963): 165–78. Wels, Volkhard: Poetischer Hermetismus. Michael Maiers Atalanta fugiens (1617/18). In: Peter-André Alt (Hrsg.): Konzepte des Hermetismus in der Literatur der Frühen Neuzeit, Göttingen 2010, 149–194.

Simon Godart

57  Der Künstler und sein Werk: Arachne, Pygmalion, Daedalus, Marsyas, Orpheus

57 Der Künstler und sein Werk: Arachne, Pygmalion, Daedalus, Marsyas, Orpheus 57.1 Die Allgegenwart von Künstlern und Kunst in den Metamorphosen Eine ganze Reihe von Künstlern und Kunstwerken stehen im Zentrum einiger der bekanntesten und meistgelesenen Erzählungen der Metamorphosen: Daedalus, Arachne, Pygmalion, Marsyas, Orpheus. Auch in der Ovid-Philologie vielbeachtet, werden diese Erzählungen insbesondere als Momente der ästhetischen Selbstreflexion des Epos und seines Autors gelesen (grundlegend: Leach 1974, Lateiner 1984, Solodow 1988, 203–231; Spahlinger 1996, 88–200; Johnson 2008). Zugleich ist festzustellen, dass sich die Künstlergeschichten nicht trennscharf von anderen Erzählinhalten abgrenzen lassen. Einerseits sind sie integraler Bestandteil eines Epos, das sich programmatisch mit dem Phänomen des Gestaltwandels auseinandersetzt – mit spontanen Mutationen ebenso wie, häufiger, mit mutwilligen Eingriffen und eigentlichen Schöpfungsakten, die meist von Göttern herrühren – und dabei grundsätzlich Fragen der Ästhetik, und insbesondere das Verhältnis von Form und Inhalt, zur Debatte stellen. Andererseits gehen die Künstlererzählungen im anthropologischen Interesse der Metamorphosen auf: Facettenreich wie kein zweites poetisches Werk der Antike verhandeln diese die Frage nach dem Wesen des Menschen und seinem Ort im Kosmos – sein Hervortreten aus der Schöpfung, sein Verhältnis zur Natur, sein Sozial- und Geschlechtsleben, seinen Platz in der Geschichte. Die Idee der anthropologischen Differenz, von der belebten und unbelebten Umwelt ebenso wie von der Welt der Götter (die freilich ebenso oft anthropomorphisiert erscheinen, wie sie dem Menschen als ›das Andere‹ gegenüberstehen), wird in zahlreichen Verwandlungsgeschichten kritisch befragt (vgl. Schmidt 1991, 9–78; Gildenhard/Zissos 2013, 68–72); dabei ist es zuvorderst das Artikulationsvermögen des Menschen, das die Grenze des Menschseins markiert, aber auch über sie hinausweist: vom Zittern der Blätter der verwandelten Daphne zu den unartikulierten Schreien des Actaeon, von der Webelist der verstümmelten und verstummten Philomela zum Brief der Byblis erzählt Ovids Epos immer wieder von Akten der Selbstverständigung – in Wort, Schrift, Gesten, Mimik, Zeichen; es sind Akte, die oft scheitern, ihre Triftigkeit aber gerade in diesem Scheitern erweisen (met. 1, 553–

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56; 3, 229–31; 6, 571–86; 9, 515–73). Die Schilderung von Künstlern und ihren Werken ist also Teil des grundlegenden anthropologischen Diskurses der Metamorphosen. Obwohl etwa die Erzählungen von Philomelas Gewebe oder Byblis’ ›Schreibszene‹ (met. 9, 521–525, eine der plastischsten Schilderungen literarischer Komposition in der antiken Literatur überhaupt; vgl. Wheeler 1999, 50–58) beide einen kreativen Akt thematisieren, der zu einem Werk gerinnt, kommen sie ohne Begriffe wie ars oder ingenium aus, die in anderen ›Künstlergeschichten‹ der Metamorphosen prominent aufscheinen; dennoch tragen sie wie diese zur Konturierung eines Begriffes von Kunst in den Metamorphosen bei. Solches gilt auch für die zahlreichen Binnenerzähler und anderen Figuren, deren Perspektive sich das Epos zu eigen macht, und die als ›Surrogate des Autors‹ verstanden werden können, auch wenn sie nicht explizit als solche ausgewiesen werden (vgl. etwa die Narcissus-Erzählung in met. 3, 339–510 mit Pavlock 2009, 14–37 oder das Lied des Polyphem in met. 13, 719–879 mit Lateiner 1984, 13–14). Besonders facettenreich ist die Auseinandersetzung mit Kunst in der verschachtelten Geschichte von Argus, der die in eine Kuh verwandelte Io bewachen soll, aber von Merkur mit einer Erzählung in den Schlaf gelullt und getötet wird (met. 1, 668–723): Merkur spielt auf der Hirtenflöte (gr./lat.: syrinx) und erzählt Argus von der Erfindung des Instrumentes durch den Gott Pan, der einst die Nymphe Syrinx begehrte. Als Pan dieser nachstellte, entzog sie sich ihm im letzten Moment durch Verwandlung in Schilfrohr, aus dem der frustrierte Gott dann die Flöte fertigte. Ist das Spiel auf der Syrinx in der Binnenerzählung damit ein kompensatorischer Akt im Zeichen der Trauer und des enttäuschten Begehrens, das der Künstler selbst empfindet, so erscheint es in der Rahmenerzählung als publikumsgerichtet und zweckgebunden. Tatsächlich erfüllt es seinen Zweck, Argus einzuschläfern, so effizient, dass Merkur seine Erzählung vor dem Ende abbrechen kann. Alsdann fasst der Erzähler des Epos den Ausgang der Geschichte zusammen – und bekräftigt damit implicite erneut die Konvergenz der Erzählerstimmen (met. 1, 700–712). Eine vergleichbar ironische Auseinandersetzung mit Künstlertum und der Zweckorientierung von Kunst bietet auch die Erzählung von Perseus (met. 5, 177–235), der sich in einer Schlacht darauf besinnt, dass er seine Feinde mit dem Haupt der Medusa versteinern kann; nicht nur vollzieht er damit eine Grundform der Metamorphose – die Verwandlung (von Menschen) in Stein – in absurder Häufung, sondern er legt einen eigentlichen Statuengarten an,

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_57

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der die Schlacht überdauern wird und als ›Mahnmal in aller Zeit Bestand haben soll‹ (mansura ... monimenta per aevum, met. 5, 227; vgl. etwa Reitz 1999, 367–68; Hardie 2002, 178–186). Auf einen ausgebildeten und allgemein verfügbaren Kunstbegriff können die Metamorphosen nicht zurückgreifen (einführend EgelhaafGaiser 1999); in der Summe der Schilderungen von künstlerischen Praktiken und ihrer Rezeption lässt sich aber der Beitrag der Metamorphosen zur Ausbildung eines solchen Begriffes ermessen; einen Höhepunkt findet diese Begriffsarbeit bzw. ihre Verweigerung in der paradoxen Formel ars ... latet arte sua (met. 10, 252, »die Kunst bleibt durch ihre Kunst verborgen«) in der Pygmalion-Erzählung, welche gerade die Latenz der Kunst zu ihrem definiens erhebt (vgl. etwa Haverkamp 2002, 8–11). Die Frage nach der Kunst durchzieht das Epos insgesamt; so stellt sie sich schon in Proömium deutlich (met. 1, 1–4): Dieses bekräftigt den hohen Anspruch von Künstler und Werk, kreiert aber eine Spannung zwischen dem schöpferischem Impuls des Dichters (fert animus ... dicere), der Eigengesetzlichkeit der im Stoff liegenden Gestaltungspotenz (mutatas formas) und dem göttlichen Beistand, den der Dichter einfordert (di coeptis ... aspirate meis), der aber dem Schaffensakt des Dichters auch immer schon vorausgegangen ist (nam vos mutastis et illa). Das Werk, das aus diesem Spannungsfeld hervorgeht, erhebt einen universalen Anspruch – es ist Kosmographie und Universalgeschichte zugleich (primaque ab origine mundi... ad mea tempora): Der Kosmos soll nicht abgebildet werden, sondern im Medium der Dichtung aufs Neue entstehen. Dass Kunst in dieser Weise für die Metamorphosen grundlegend ist, bestätigt sich sogleich in der auf das Pröomium folgenden Kosmogonie-Schilderung: Erweist sich diese zwar einerseits als Realisierung eines Gestaltungspotentials, das in der Natur der Dinge selbst liegt, so ist sie andererseits auch das Werk eines schöpfenden, namenlosen Gottes (pointiert gegenübergestellt in met. 1, 21: deus et melior ... natura). Der ungenannte Gott erscheint dabei auch als ›Hersteller der Welt‹ und ›Erzeuger aller Dinge‹ (mundi fabricator, met. 1, 57 resp. opifex rerum, met. 1, 79; vgl. Solodow 1988, 214–215). Im rhetorisch-ästhetischen Vokabular dieser Schilderung erweist sich die Schöpfung der Welt als ein Kunstwerk, das mit jenem des Dichters als Demiurgen des poetischen Kosmos zusammenfällt (vgl. etwa Solodow 1988, 207–209). Dabei macht die ovidische Kosmogonie bei der Beschreibung von Achills Schild in Homers Ilias Anlei-

hen, der zugleich Kosmogramm und literarisiertes Kunstwerk par excellence ist; diese Intermedialität wird spätestens dann augenscheinlich, wenn die in Buch 1 geschilderte Kosmogonie zu Beginn des zweiten Buches rekapituliert wird (Brown 1987; Wheeler 1995; Hardie 2002, 177–178): Diesmal erscheint sie als Gegenstand der Bilder auf den Toren des Palasts der Sonne, die detailreich beschrieben werden, während dem Künstler, Vulcanus, nur wenig Aufmerksamkeit zuteil wird (2, 1–18). In der Behandlung der Kosmogonie zeigt sich schließlich ein weiterer Aspekt, der für den Kunst-Diskurs der Metamorphosen relevant ist: Der geschöpfte Kosmos bleibt instabil, und die Metamorphosen berichten von einer ganzen Serie von Schöpfungsakten (vgl. etwa Barkan 1986, 27–37; Wheeler 2000, 7–47). Passenderweise lässt sich auch die Ekphrasis des Palastes der Sonne nicht nur als Rekapitulation der eingangs geschilderten Kosmogonie, sondern zugleich als Vorverweis auf die kosmische Katastrophe verstehen, die mit Phaethons Fahrt im Sonnenwagen über die Welt hineinbricht (und die ihrerseits eine Wiederholung der ›Sintflut‹Katastrophe in met. 1, 253–312 darstellt).

57.2 Das Scheitern der Kunst in den Metamorphosen Tatsächlich sind werkhafte Geschlossenheit und Dauerhaftigkeit keine Eigenschaften, welche die Kunstwerke der Metamorphosen auszeichnen. Was zahlreiche Künstlergeschichten des Epos eint (und damit wiederum zur Profilierung der ›Künstlergeschichte‹ beiträgt), ist vielmehr der Umstand, dass Künstler an Widerstände geraten, leiden und scheitern; ihr Wirken findet oft ein jähes Ende, und ihre Werke haben keinen Bestand – es ist letztlich nur Ovids eigenes Werk, das unangefochten bleibt und fortdauert (met. 15, 871–879 – auch wenn die Zuversicht dieses Werkschlusses in den Exilwerken Ovids infrage steht). Die Minyaden, die sich dem Bacchus-Kult verweigern und stattdessen der Erzähl- und Webkunst hingeben (met. 4, 1–398), wobei ihre Geschichten auf den Erzählraum des Epos übergreifen, werden zuletzt vom geschmähten Gott in Fledermäuse verwandelt (met. 4, 399–415) und ihre Webarbeiten in seine Symbolwelt überführt, wenn er ihre Webstühle mitsamt dem gewebten Tuch zu Efeu und Weintrauben werden lässt (393–398). Ansonsten hinterlassen sie keine Spuren. Ähnlich desaströs endet der Auftritt der Pieriden, die sich in der Gesangskunst an den Musen messen und – zumindest

57  Der Künstler und sein Werk: Arachne, Pygmalion, Daedalus, Marsyas, Orpheus

dem Bericht der Musen zufolge – besiegt werden, sich aber weigern, ihre Niederlage anzuerkennen (met. 5, 250–665a; zu den Ambiguitäten der Geschichte vgl. etwa Johnson/Malamud 1988): Sie werden zur Strafe in schnatternde Elstern verwandelt (met. 5, 665b– 678). Der Gesangswettbewerb steht in direktem Zusammenhang mit der Geschichte Arachnes, die sich zu Beginn des sechsten Buches anschließt (met. 6, 1–145): Unter dem Eindruck der vehementen Selbstbehauptung der Musen will Minerva ihrerseits die stolze Weberin Arachne in die Schranken weisen. Diese produziert im von der Göttin anberaumten Wettbewerb zwar ein Werk, »das nicht Pallas und nicht der Neid selbst kritisieren könnten« (non illud Pallas, non illud carpere Livor / possit opus, met. 6, 129–130); dennoch wird es von der Göttin zerrissen, während die Weberin selbst, die sich darauf erhängen will, von der Göttin dazu verdammt wird, ihr Handwerk in immerwährender Gleichförmigkeit fortzusetzen (zur Arachne-Geschichte und ihrer Nachwirkung s. Kap. 57.3). Wieder und wieder zeigt sich, dass den Künstlern der Metamorphosen die Transzendenz der Kunst verwehrt bleibt: Statt Unsterblichkeit erlangen sie nur eine schlechte Unendlichkeit, in der sie »mindlessly and mechanically carry out the activities by which they had once attempted to achieve autonomy as individual creators« (Leach 1974, 133). Die Idee des artistischen Wettbewerbs, die im Falle Arachnes mit der Selbst-Identifikation der Künstlerin mit ihrem Werk einhergeht, hallt wenig später nach, wenn die Geschichte des Satyrs Marsyas erzählt wird, der sich mit seiner Flötenmusik über das Leierspiel Apolls erheben will und von diesem zur Strafe bei lebendigem Leib gehäutet wird. Die Strafe wird bis ins grausige Detail geschildert (met. 6, 387–391), und die pointierte Frage des leidenden Marsyas quid me mihi detrahis? (met. 6, 385; »was ziehst du mich von mir selbst ab?«) verrät, dass der göttliche Gewaltakt auch das Drama der Selbstentäußerung des Künstlers in seiner Kunst ins Bild setzt (zum ovidischen Mythos vgl. etwa Feldherr/James 2008; zu seiner Nachwirkung, u. a. bei Dante, vgl. insbes. den Überblick bei Drügh 2008 und die Beiträge in Renner/Schneider 2006). Ein burleskes Nachspiel hat die Marsyas-Geschichte im elften Buch der Metamorphosen, in dem vom Wettbewerb zwischen Apoll und Pan berichtet wird (met. 11, 146–171): Nach dem einhelligen Urteil aller Anwesenden obsiegt Apoll; wie Pan selbst reagiert, erfahren wir nicht. Der Fokus verlagert sich hier von den Kunstschaffenden auf das Publikum, von der Kunstpraxis auf ihre Rezeption und Kritik: Es ist der

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Unglückskönig Midas, der – gerade erst von seiner unseligen Gabe befreit, alles durch Berührung zu Gold machen zu können (met. 11, 100–145), – Pan besser findet und deswegen das Urteil anficht. In deutlichem Kontrast zu seinem Gewaltausbruch gegenüber Marsyas macht sich der Gott hier über den banausenhaften Zuhörer lustig, indem er ihn mit Eselsohren ausstattet (met. 11, 172–179). Der Gruppe der scheiternden Künstler ist auch Daedalus – der Künstler und Erfinder schlechthin (von griech. daidallō, ›schaffen, gestalten‹) – zuzuordnen, dessen Geschichte im achten Buch des Epos – und damit in der Werkmitte – erzählt wird. Bereits im Bau des Labyrinths, das immer wieder als Spiegel für die komplexe Architektur der Metamorphosen selbst interpretiert worden ist (met. 8, 157–168, vgl. etwa Weiden Boyd 2006, 175–184), erweist sich das Verhältnis zwischen Künstler und Werk als prekär: Der Architekt selbst erliegt beinahe den Täuschungen des eigenen Werks und findet nur mit Mühe wieder aus dem Labyrinth heraus (met. 8, 166–168). Zugleich werden hier die Schwierigkeiten antizipiert, denen sich Daedalus gegenübersieht, als er sich aus dem Dienst am Hofe des Tyrannen Minos befreien und Kreta verlassen will: Die Flucht mit den Vogelschwingen, die er für sich und den Sohn Icarus herstellt, endet bekanntlich mit der Katastrophe (met. 8, 183–235). Kunst erscheint hier als Mittel der Emanzipation; wie es sich eindringlich in Ovids Exildichtung zeigt (trist. 1, 1, 87–90), lässt sich die Geschichte aber zugleich als Allegorie auf die Gefahren lesen, die in der Verbindung von Kunst und politischer Macht liegen (zur Rezeption des Mythos vgl. den Überblick bei Greiner/Harst 2008). In ähnlicher Weise ist auch die Geschichte des Sängers Orpheus, dessen Erzählungen fast das gesamte zehnte Buch einnehmen und ihn so zum produktivsten Binnenerzähler des Epos machen, von mehrfachem Scheitern geprägt: Zwar gelingt es Orpheus, mit seiner Musik Einlass in den Hades zu gewinnen und die Unterweltsgötter so sehr zu bezaubern, dass sie ihm die tragisch früh verstorbene Gattin Eurydice zurückgeben; deren Rückführung an die Oberwelt scheitert aber, als Orpheus sich verunsichert nach der Gattin umsieht und damit gegen die Auflage der Götter verstößt. Eurydike sinkt wieder ins Reich des Todes herab, und die Macht von Orpheus’ Kunst, die Grenze von Leben und Tod zu überwinden, ist gebrochen (met. 10, 1–77). Der Sänger zieht sich in die Wildnis zurück, schwört der Liebe zu Frauen ab und widmet sich Musik und Gesang, wobei er in einem eigentlichen Erzählreigen das Thema der (unglücklichen) Liebe behandelt.

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VI Rezeption – D Einzelmythen und Mythengruppen

Die Ausnahme unter Orpheus’ Erzählungen bildet die Geschichte des Künstlers Pygmalion, der seinerseits der Frauenliebe abschwört, jedoch alsbald in Liebe zu einer Statue entbrennt, die er selbst geformt hat, und sie mit Venus’ Hilfe zum Leben erweckt (met. 10, 243– 297). Der Umstand, dass diese wohl bekannteste Künstlergeschichte der Metamorphosen ihrerseits von einem Künstler erzählt wird, verweist – ebenso wie die zahlreichen Korrespondenzen zwischen Orpheus’ und Pygmalions Geschichten (Misogynie, Künstlertum, Überwindung der Schwelle vom Leben zum Tod) – wiederum auf eine ›Familienähnlichkeit‹ zwischen den Künstlerfiguren die Metamorphosen (vgl. etwa Hardie 2002, 188–189). Während aber Pygmalions Geschichte (s. dazu unten, S. 372–374) vielleicht als einzige Künstlergeschichte der Metamorphosen einen glücklichen Ausgang findet, endet Orpheus’ Erzählreigen tödlich: In Rage über Orpheus’ Zurücksetzung der Frauen zerreißen Mänaden den Sänger und trennen sein Haupt vom Körper, wobei Zunge und Leier ein Klagelied ertönen lassen (met. 11, 50–53), bis Orpheus schließlich in der Unterwelt mit der Gattin wiedervereint wird (met. 11, 61–66). Auch wenn damit zuletzt mit der Rückkehr in den Hades die Tradition von Orpheus als Mysterienstifter aufscheint, ist der Hauptzug der ovidischen Behandlung (die sich eng mit der Bearbeitung des Mythos in Vergils Georgica [georg. 4, 450–527] auseinandersetzt, vgl. etwa Anderson 1982) das mehrfache Scheitern und Leiden des Sängers. Als Geschichte eines Scheiternden hat der Orpheus-Mythos denn auch ein reichhaltiges Nachleben gefunden, auch wenn dabei spezifische Auseinandersetzung mit den Metamorphosen Ovids nicht immer nachzuweisen ist (zum Nachleben des Mythos vgl. den Überblick bei Huss 2008 und die Beiträge in Warden 1982 resp. Maurer Zenck 2004). Dass die Orpheus-Erzählung in den Metamorphosen die Buchfuge zwischen dem zehnten und elften Buch, und damit die Grenze zwischen der zweiten und dritten Buch-Pentade, einnimmt, verstärkt die Verbindung zu den beiden eng aufeinander bezogenen Geschichten der Pieriden und der Arachne, welche ihrerseits die Buchfuge zwischen dem fünften und sechsten Buch, und damit die erste Pentaden-Grenze, des Epos markieren: Künstlergeschichten strukturieren die Metamorphosen und thematisieren dabei immer wieder das prekäre Verhältnis von Künstler und Werk und die grundsätzliche Frage nach dem Wesen der Kunst – nach ihrem Weltbezug, ihrem Verhältnis zur Natur, ihrem Gehalt, ihrer Instrumentalisierung und ihren Gefahren. Der Facettenreichtum dieser Auseinandersetzung mit Kunst in den Metamorpho-

sen wurde in späteren Zeiten in den unterschiedlichsten Medien aufgegriffen und zum Ausgangspunkt produktiver Fort- und Umschreibungen gemacht (hilfreiche Überblicksdarstellungen bieten Davidson Reid/Rohmann 1993, Moog-Grünewald 2008 und das online-Repertorium http://www.iconos.it). Beispielhaft sollen im Folgenden einige Stationen aus der Rezeptionsgeschichte der Erzählungen von Arachne und Pygmalion beleuchtet werden.

57.3 Ovids Arachne und ihr Nachleben Zu Beginn des sechsten Buches wird die Geschichte der Weberin Arachne erzählt, die, von niederer Geburt (met. 6–7–8), ihre Kunst mit solchem Stolz ausübt, dass sie den Zorn Minervas auf sich zieht, die sie zu einem Agon herausfordert. Das Kräftemessen am Webstuhl endet unentschieden, und Minerva zerreißt im Zorn das Tuch der Konkurrentin. Arachne will sich das Leben nehmen, wird von der Göttin aber in eine Spinne verwandelt, die weiterhin spinnt und webt (met. 6, 1–145). Die Stoffe der beiden Weberinnen sind sodann Gegenstand einer ausführlichen Ekphrasis, in welcher die Erzählung des Herstellungsvorgangs und die Beschreibung des fertigen Tuchs ineinanderfließen (met. 6, 70–128). Die beiden Gewebe sind einander inhaltlich und formal entgegengesetzt. Minervas Tuch zeigt ein Bild der göttlichen Ordnung und des eigenen Willens zur Macht: Die zwölf Olympier stellt sie in »erhabener Würde« (met. 6, 73: augusta gravitate) dar, sich selbst als Schutzpatronin Athens (75–82), wobei sie in den Ecken ihres Tuchs die Strafe von Gotteslästerern platziert (84– 102). Arachnes Tuch dagegen stellt eine Fülle von Geschichten dar, in denen Götter eine andere Gestalt annehmen und sich über sterbliche Frauen hermachen; die katalogartige Aufzählung impliziert dabei gerade kein klares Arrangement der Bilder (met. 6, 103–128). Ihr Werk, das explizit Verwandlungsgeschichten zeigt – noch dazu solche, die vom Erzähler andernorts behandelt werden (insbesondere die Entführung der Europa in met. 6, 103–107 und 2, 833–3, 5) –, ist als eigentliche mise en abyme des Epos zu verstehen, in der grundlegende Fragen der Poetik vordergründig werden (so z. B. die Frage nach Fiktion und Illusion; vgl. etwa Hardie 2002, 176–177; Oliensis 2004). Auch in Minervas Werk artikulieren sich aber Aspekte der Poetik der Metamorphosen, und nicht zuletzt verweist die pointierte Gegenüberstellung der beiden Webarbeiten auf den Widerstreit

57  Der Künstler und sein Werk: Arachne, Pygmalion, Daedalus, Marsyas, Orpheus

zwischen wohlgeordneter Einheit und Fragmentierung (vgl. etwa Johnson 2008, 83–92). Es fällt auf, dass sich die Metamorphosen einer Bewertung der beiden Tücher ebenso enthalten wie einer klaren Entscheidung des Wettbewerbs. Der Umstand, dass Pallas die lydische Weberin im künstlerischen Wettstreit nicht zu überwinden vermag (met. 6, 129– 130, Übersetzung oben, S. 367), lässt ihre Reaktion ebenso willkürlich wie brutal erscheinen: »die Kriegerin litt unter dem Erfolg [Arachnes] und zerriss das bunte Tuch, die Vorwürfe gegen die Götter« (met. 6, 130–131: doluit successu flava virago / et rupit pictas, caelestia crimina, vestes). An der Stelle bleibt unklar, ob die Beschreibung von Arachnes Tuch als caelestia crimina eine kritische Intention des Gewebes erfasse, oder ob sie nur der Perspektive der erzürnten Göttin geschuldet sei, die Arachnes Werk – vielleicht bewusst – missverstehe (vgl. etwa Oliensis 2004, 290–293; vgl. Beer 2018, 75–76 zur »Deutungsindifferenz« Arachnes). Ähnlich zweifelhaft bleibt Minervas Intention in der Verwandlung Arachnes: Einerseits erfolgt diese aus Mitleid mit Arachne, die sich den Tod geben will (met. 6, 135: miserata), andererseits potenziert und verstetigt sie Arachnes Leiden (met. 6, 136–138). Neben die Frage nach Maß und Rechtfertigung von Pallas’ Bestrafung tritt in der Schilderung von Arachnes Tod und Verwandlung ebenso dringlich jene nach dem Status ihres Tuches: Von Beginn an ist die Erzählung nicht nur am Gewebten, sondern ebenso am Akt des Webens selbst interessiert (6, 17–18: nec factas solum vestes spectare iuvabat / tum quoque, cum fierent: tantus decor adfuit arti; »Es war nicht nur ein Vergnügen, die vollendeten Stoffe zu beschauen, sondern auch, sie entstehen zu sehen, solche Anmut lag in ihrer Kunst«); während diese Dualität in der Ekphrasis der beiden Gewebe zwischenzeitlich in den Hintergrund tritt, kommt sie zum Schluss der Erzählung wieder zum Tragen. Genau im Moment seiner Vervollständigung wird Arachnes Gewebe von Pallas zerrissen (met. 6, 129–133), und Arachnes Verwandlung lässt sie die Arbeit wieder aufnehmen: »in Spinnengestalt frönte sie weiter ihrem alten Handwerk, der Webkunst« (6, 145: antiquas exercet aranea telas). Im Lichte dieses Ausgangs lässt sich auch der Saum von Arachnes Gewebe verstehen: Die Darstellung von Blumen und Efeu, die Arachnes Gewebe abschließen, erinnert an die Webearbeit selbst (»Blumen, die mit rankendem (nexilibus) Efeu verwebt waren (intertextos)«, met. 6, 128), so dass der vermeintliche Abschluss der Arbeit wieder auf den Arbeitsprozess zurückweist (vgl. etwa Vincent 1995, 369–370). Die Geschichte ex-

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poniert damit den prekären Moment, in dem die Künstlerin ihr Werk in die Welt entlässt, und gibt »eine skeptische Antwort auf die Frage nach der Geschlossenheit und dem Werkcharakter der Metamorphosen selbst« (Scheidegger Lämmle 2015, 201; vgl. Theodorakopoulos 1999; Harzer 2000, 80–82). Die Rezeption des Arachne-Mythos, die deutlich unter dem Eindruck der Metamorphosen steht (der Mythos ist ansonsten nur spärlich belegt), ist denn auch von diesen zwei zentralen Anliegen dominiert – einerseits dem Verhältnis von menschlicher Kunst und göttlicher Macht, resp. nach der Ohnmacht der überragenden Künstlerin im Angesicht der allmächtigen Gottheit; andererseits der Beziehung von Kunstwirken und Kunstwerk (zur Rezeptionsgeschichte: Ballestra-Puech 2006; Reinhardt 2014; vgl. Brown 2005, 105–122). Die Frage nach dem Verhältnis von Kunstpraxis und Kunstwerk tritt etwa im Epos De raptu Proserpinae Claudians (um 400 n. Chr.) deutlich zutage: Hier wird die Protagonistin Proserpina eingangs bei der Arbeit an einem großen Tuch gezeigt, das den ganzen Kosmos darstellt (rapt. 1, 245–267); im Moment, da sie sich an den Schlusssaum macht, wird sie aber von den Göttinnen Athene, Minerva und Diana aufgesucht, die sie aus der Sicherheit ihres Palastes locken, und Proserpina »lässt die Arbeit unvollendet zurück« (1, 268– 71, hier 270–271: imperfectumque laborem / deserit). Als Proserpinas Mutter nach ihrer Tochter sucht, findet sie das zurückgelassene Gewebe (rapt. 3, 154–163, hier 157–158): »Jene göttliche Arbeit ging zugrunde und den Raum, der übrig blieb (spatiumque relictum) ergänzte (supplebat) die freche Spinne mit ihrem frevlerischen Text (sacrilego...textu)«. Mit der Idee von Frechheit und Frevel verweist Claudian hier nicht nur auf Ovids Arachne als theomachos, sondern übernimmt zugleich das in Ovids Geschichte exponierte Problem des unfertigen Werkes: In der Auseinandersetzung mit Ovid artikuliert sich eine Poetik der Supplementarität, die sowohl Claudians epigonale Position in der Traditionslinie der lateinischen Epik (vgl. etwa Pelttari 2014, 162–163) wie möglicherweise auch den Status des unfertigen Epos De raptu Proserpinae betrifft, das im dritten Buch abrupt abbricht (Formisano 2018, 48–50; Schottenius Cullhed 2019). Von hier ist es nur ein kleiner Schritt zur poststrukturalistischen Auseinandersetzung mit dem Begriff des Textes selbst: Wenn Roland Barthes die konstitutive Produktivität des Texts der überkommenen Idee des Textes als eines statischen Produkts entgegenstellt, baut er dieselbe Spannung auf, die in den Webeszenen der Metamorphosen ausgelotet wird. Nicht

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VI Rezeption – D Einzelmythen und Mythengruppen

zufällig illustriert er seine Reflexion zum Begriff des Textes mit dem Bild der Spinne: »telle une araignée qui se dissoudrait elle-même dans les sécrétions constructives de sa toile« (Barthes 1994, 1527; zur Nähe zu Ovids Erzählung: Vincent 1994, 380–383; Ballestra-Puech 2006, 407–410). Vor diesem Hintergrund lassen sich das Motiv der Spinne in David Maloufs An Imaginary Life (1978, hierzu etwa Kaminski 2010, 73–75) oder die Rolle Arachnes in Christoph Ransmayrs Roman Die letzte Welt (1988) verstehen. In Ransmayrs dystopischem Roman begegnet der Protagonist Cotta auf der Suche nach dem exilierten Naso in Tomis auch der Weberin Arachne. Sie ist eine taubstumme alte Eigenbrötlerin, deren dürrer, gekrümmter Körper das Bild einer Spinne evoziert. Wie Cotta bemerkt, sind die von Arachne gewebten Teppiche, die im unkultivierten Tomis lediglich als Gebrauchsgegenstände Verwendung finden (»sie bedeckten die Wände, um die Winterkälte abzuhalten«, 168), Abbilder der Metamorphosen selbst; er besucht Arachnes Haus, um sich mehr Teppiche zeigen zu lassen, und wird »in einen stickigen, durch die geschlossenen Fensterläden völlig verdunkelten Raum« geführt (170–71), in dem ihre Werke achtlos herumliegen. Der Raum ist Archiv und Echokammer zugleich. Wie in Ovids Metamorphosen etwa Philomelas Tuch wie eine Buchrolle aufgerollt werden muss, um ›gelesen‹ werden zu können (met. 6, 581–582), so erscheinen auch die Teppiche von Ransmayrs Arachne als Texte (»Es mußten dreißig, vierzig oder mehr Rollen sein, die Arachne hier wie morsche Prügel verwahrte«, 171), und Arachnes Arbeit wird zum Symbol für die Prinzipien der Fragmentierung und (Re)Kombinatorik, die dem Roman selbst zugrunde liegen (vgl. etwa Harzer 2000, 190–192; Kaminski 2010, 83–85; Schilling 2012, 6–8). Die Szene in Arachnes Kammer exponiert den Widerstreit zwischen Dynamisierung und Verfestigung, die sich im Begriff des Textes antagonistisch gegenüberstehen: So erfahren wir, »daß für die Taubstumme ein Teppich nur so lange von Wert war, so lange er wuchs und eingespannt blieb in das Gerüst der Bäume und Schäfte« (171). Verwandt ist die Auseinandersetzung mit der Arachne-Geschichte in Hélène Cixous’ experimenteller Erzählung Illa (1980), die sich intensiv an der antiken Mythologie abarbeitet (insbes. dem Mythos der Persephone/Kore). Die Auseinandersetzung mit dem Begriff des Textes wird hier auf die Frage nach einer spezifisch weiblichen Textproduktion hin zugespitzt, und die Geschichte der Weberin und ihrer Verwandlung in die Spinne, die aus sich selbst heraus das Mate-

rial ihres Gewebes gebiert, erscheint als Symbol weiblicher Subjektivität und Autorschaft (Cixous 1980, 47– 83, bes. 63–64; vgl. Ballestra-Puech 2006, 365–370; Stern 2009). Ihr Gewebe wird dabei zur Anklage gegen männliche Gewalt, in der sich die Summe weiblicher Erfahrung artikuliert, womit die geschilderte Webarbeit mit der Tendenz und mytho-poetischen Grundkonfiguration von Illa selbst zusammenfällt: »soi qu’elle retrace, en tant qu’araignée sortie du peuple, en couleurs vives, sur la toile, les événements dont des femmes ont répandu le bruit, à travers les villes du Phrygie, au fil des mythologies, le long des générations, ce que des femmes lui ont appris, à son tour, elle l’annonce, en première page, elle dessine Europe trompée par l’image d’un taureau...« (Cixous 1980, 71, »... sei es, sie zeichne, als Spinne aus der Mitte des Volkes, in lebendigen Farben, auf ihrem Tuch, die Ereignisse, über die Frauen Lärm geschlagen haben, quer durch die Städte Phrygiens, mit dem Faden der Mythologien, über Generationen hinweg, das, was Frauen ihr beigebracht haben, für sich selbst, sie kündigt es an, auf der ersten Seite, sie zeichnet Europa, die vom Bild des Stieres getäuscht wird...«, Übers. CSL). Cixous’ Text steht damit im Einklang mit einer Reihe feministischer Bearbeitungen des Mythos, die Arachne positiv bewerten und ihre Auseinandersetzung mit Minerva zuvorderst als Widerstandes des subalternen Subjektes sehen (vgl. etwa Miller 1984). In eine ähnliche Richtung weist etwa A Web of Stories (London 1994) der karibisch-britischen Autorin Grace Hallworth, eine Sammlung von Legenden und Mythen zu Spinnen aus unterschiedlichen Kulturräumen, die von einer Bearbeitung der Arachne-Geschichte unter dem Titel ›A Woven Testament‹ beschlossen wird (vgl. hierzu Ballestra-Puech 2006, 371–375; Stead 2012). Arachnes Geschichte ist hier die Ich-Erzählung der Weberin Lydia, wobei sich gleich zu Beginn zeigt, dass sie postum erfolgt (»Yesterday I hanged myself«, lautet der erste Satz, Hallworth 1990, 95); damit gerät die Frage nach den (Dis) Kontinuitäten von Arachnes Metamorphose gleich zu Beginn in den Blick. Erst zum Schluss wird dann klar, dass die vorliegende Ich-Erzählung der Gegenstand eines Gewebes ist, das Lydia nach ihrer entwürdigenden Verwandlung gewebt habe; sie ist Testament und Anklage gegen die Willkür Athenes zugleich (»I pray that someone finds this woven testament of my fate so that all may know that she is no goddess. she is no heroine. Athene is a bitch«, ebd., 108). Dabei knüpft das Ende der Erzählung an den sozialkritischen Impetus ihres Beginns an, in dem Lydia – im Anschluss an die

57  Der Künstler und sein Werk: Arachne, Pygmalion, Daedalus, Marsyas, Orpheus

Lehren ihres Vaters, eines aufgeklärten Immigranten aus dem Osten – die Göttlichkeit Athenes und der anderen Olympier infrage stellt: »The people worship her ... They are simple folk who confuse patronage with love, and beauty with virtue« (ebd., 95–96). Lydias Entscheidung, auf ihrem Tuch die (sexuellen) Abenteuer des Zeus darzustellen, atmet denn auch den widerspenstigen Geist von Goethes Prometheus (um 1774), dessen höhnische Aufforderung, Zeus solle seine Wut »dem Knaben gleich, der Disteln köpft« nachgeben, hier anzuklingen scheint (»As children snatch at flowers one minute and thrust them aside the next, so do they with their pleasure«, 105). Solche Bearbeitungen stehen in Einklang mit jüngeren wissenschaftlichen Interpretationen, die Ovids Arachne-Geschichte – wie andere Kunst-Agone der Metamorphosen – als Reflexion auf die unversöhnliche Spannung zwischen Kunst und Macht auffassen, die auf Ovids Exilschicksal vorausweist oder u. U. bereits unter dessen Einfluss steht (vgl. etwa Johnson 2008, 117–124; zur politischen Resonanz der Geschichte: Schmitzer 1990, 230–238 u. ö.). Demgegenüber zeigt sich in der longue durée ihrer Rezeptionsgeschichte aber auch immer wieder die Tendenz, Arachne als Frevlerin abzuqualifizieren. Solche negativen Bewertungen stehen oft unter dem Eindruck der generell negativen Konnotationen, mit denen Spinnen schon in der Antike behaftet sind, die sich aber im Christentum besonders stark ausprägen und Spinnen zu Symbolen der Unbeständigkeit und diabolischen Selbstüberhebung werden lassen (vgl. insbes. Hiob 8, 13–14, Jesaja 59, 5–6; dazu Ballestra-Puech 2006, 69– 138; Reinhardt 2014, 111–128). In diesem Sinne kann die ovidische Geschichte auch als Allegorie menschlicher Hybris gelesen werden, wobei die beiden Tücher – vielleicht im Sinne Minervas – als Gotteslob versus Gotteslästerung ausgelegt werden. Eine entsprechende Lektüre resp. Lektüreanweisung findet sich z. B. im Kommentar des Giovanni del Virgilio (um 1330): Per Palladem intellige sapientem. Per ipsam texere telam de laudibus deorum intellige quod sapiens continuo studet in laudando et predicando deum. Sed per Aragnem intellige juvenem nolentem deum laudarae et contendentem cum sapiente (»Unter Pallas verstehe einen Weisen. Unter dem Umstand, dass sie ein Tuch über das Lob der Götter webt, verstehe, dass der Weise sich fortwährend um das Lob und den Preis Gottes bemüht. Unter Arachne aber verstehe die Jugend, die sich weigert, Gott zu loben, und dem Weisen den Rang streitig macht«, Text nach Ghisalberti 1931, 72; Übers. CSL).

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Unter den bildnerischen Umsetzungen des Mythos, die zu großen Teilen auf Buchillustrationen entfallen (dazu Davidson Reid/Rohmann 1993, 1, 185–186), treten zwei Gemälde von Peter Paul Rubens und Diego Velázquez besonders hervor. Rubens Gemälde, das die Bestrafung der Arachne zum Gegenstand hat, ist heute verloren, hat sich aber in einer Vorstudie erhalten (entstanden um 1636; s. Abb. 57.1), aus der sich das Bildprogramm ablesen lässt: Die Szene ist dominiert von einer behelmten Athene, die das Weberschiffchen drohend erhebt, um – wie bei Ovid (met. 6, 132–133) – auf Arachne einzuschlagen, die sich am Boden befindet und entsetzt aufblickt; im Hintergrund befinden sich zwei Frauen bei der Arbeit am Webstuhl, von denen eine mitleidig nach vorne blickt. Zur Rechten befindet sich Arachnes Bildteppich, der die Entführung der Europa darstellt. Das Bild zitiert dabei die berühmte Darstellung der Europa Tizians (1562; Isabella Stewart Gardner Museum, Boston, Inv. P26e1), die Rubens schon früher eingehend studiert und imitiert hatte (1628, Museo del Prado, Madrid, Inv. P01693). Die Selbstreferentialität des Arachne-Gewebes bei Ovid, wo gerade die Europa-Darstellung auf den größeren Werkzusammenhang verweist, wird hier zugleich zur Hommage an den Meister und zum Mittel kunstgeschichtlicher Selbstpositionierung. Damit wird auch die Frage nach der Vermittelbarkeit künstlerischen Meistertums in ein neues Licht gestellt, die bei Ovid – jedenfalls von Arachne – in Abrede gestellt wird: scires a Pallade doctam. / quod tamen ipsa negat (met. 6, 23– 24, (»man hätte meinen können, Pallas selbst habe sie gelehrt – doch dies verneinte sie«). Eine weitere Komplexitätssteigerung erfährt die Auseinandersetzung mit dem Arachne-Mythos in Velázquez’ Gemälde Las Hilanderas (›Die Spinnerinnen‹, um 1657; s. Abb. 57.2), dessen Vordergrund eine Gruppe von fünf ärmlich gekleideten Frauen bei der Spinnarbeit zeigt. Im Hintergrund eröffnet sich durch einen Torbogen der Blick auf eine zweite Szene mit fünf weiblichen Figuren, die sich ihrerseits vor einem Wandteppich befinden; dabei erinnern die klaren Linien des Torbogens an den Rahmen eines Gemäldes, wodurch der Status dieser zweiten Szene unklar erscheint; ebenso wirft das Verhältnis der Figuren zueinander Fragen auf: Während drei der Frauen durch ihre Gewänder als höfische Gesellschaft gekennzeichnet sind, lassen Helm und Drohgestus die Frau in der linken Bildmitte als Pallas erkennen, die Arachne, zu ihrer Rechten, attackiert. Dies wird dadurch bestätigt, dass der Wandteppich wiederum Tizians, nun auch durch Rubens vermittelte, Entführung Europas erken-

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VI Rezeption – D Einzelmythen und Mythengruppen

Abb. 57.1  Peter Paul ­ Rubens, ›Bestrafung der Arachne‹ (1636/37). ­ Virginia Museum of Fine Arts, Richmond, Inv. 58.18. Quelle: Wikipedia

nen lässt. Während das Gemälde lange Zeit als Genrebild aufgefasst wurde, das die ärmlichen Handwerkerinnern neben ihrer reichen Klientel zeigt, wird vermehrt die Bestrafung der Arachne im Bildhintergrund, die Velázquez auch im fast zeitgleich entstandenen Gemälde Las Meninas zitiert (›Die Hoffräulein‹, um 1656; Museo del Prado, Madrid), als Verständnisschlüssel zur Gesamtkomposition gesehen (Deutungsgeschichte bei Hellwig 2015). Rubens’ Kunstreflexion wird also aufgegriffen, aber in den Bildhintergrund gebannt und durch die Neukontextualisierung in der Handwerks-Szene weiter radikalisiert: Velázquez misst sich an der Kunsttradition, in der er steht und von der er sich distanziert; er lotet das Verhältnis von hoher Kunst und niederem Handwerk aus, und er fragt zugleich – wieder ganz im Sinne der ovidischen Geschichte – nach dem Ort der Kunst im sozio-politischen Gefüge der Zeit (vgl. etwa Alpers 2005, 133–262; Ballestra-Puech 2006, 152–158; Barolsky 2014, 146–152).

57.4 Metamorphosen der PygmalionGeschichte Mit ihrem (zumindest vordergründig) guten Ende nimmt die Erzählung von Pygmalion unter den Künstlergeschichten der Metamorphosen eine Sonderstellung ein. Erzählt wird sie im zehnten Buch vom Sänger Orpheus (s. o.). Orpheus lässt Pygmali-

ons Geschichte ihrerseits aus einem Moment von Enttäuschung und misogyner Abscheu erstehen: In seinem Erzählreigen geht ihr nämlich die Erzählung von den Propoetiden voran, die Venus geringschätzen und von der Göttin erst zur Prostitution gezwungen und dann in kalten Stein verwandelt werden (met. 10, 238–242). Der Bildhauer Pygmalion ist vom lasterhaften Lebenswandel der Propoetiden abgestoßen und »angewidert von den Fehlern, welche die Natur allzu zahlreich dem weiblichen Sinn gegeben hat« (met. 10, 244–245: offensus vitiis, quae plurima menti / femineae natura dedit), wobei schon hier die Vorstellung der mängelbehafteten Natur aufscheint, von der sich Pygmalions Kunst abheben will. In der gedrängten Exposition der Geschichte erfahren wir, dass der Künstler sich in ein Junggesellendasein zurückzieht, aber bald schon »mit wunderbarer Kunst glücklich weißes Elfenbein formte und ihm eine Gestalt gab, wie sie keine Frau durch natürliche Geburt erlangen könnte; und ihn ergriff Liebe zum eigenen Werk« (met. 10, 247–249: niveum mira feliciter arte / sculpsit ebur formamque dedit, qua femina nasci /nulla potest, operisque sui concepit amorem). Während sich Kunstund Naturbegriff (mira arte – nasci) hier noch pointiert gegenüberstehen, verliert der Gegensatz alsbald an Trennschärfe: Das Bild scheint lebensecht, und die Kunst Pygmalions hebt sich gleichsam auf (met. 10, 252: ars adeo latet arte sua); der Künstler erliegt der Täuschung des eigenen Werks; er prüft nach, »ob es schon Körper oder noch Elfenbein sei« (met. 10, 254–

57  Der Künstler und sein Werk: Arachne, Pygmalion, Daedalus, Marsyas, Orpheus

255: an sit / corpus an illud ebur), ehe er sich immer mehr in die Statue verliebt, sie schmückt und kleidet und schließlich zu sich ins Bett legt (met. 10, 259– 269). Scheint die Erzählung hier zunächst mit dem aus verschiedenen Künstleranekdoten vertrauten Motiv der Agalmatophilie (der pathologischen ›Liebe zu Bildnissen‹) zu enden, nimmt sie unerwartet eine neue Wende: Anlässlich eines Venus-Festes betet der Künstler, der nun bereit ist, sein Junggesellentum aufzugeben, zur Göttin: » ›Meine Gattin möge, dies wünsche ich mir...‹, so sprach Pygmalion (er wagte nämlich nicht anzufügen ›...die elfenbeinerne Jungfrau werden‹) ›...der elfenbeinernen ähnlich sein‹ » (met. 10, 275–276: »sit coniunx, opto« non ausus »eburnea virgo« / dicere, Pygmalion »similis mea« dixit »eburnae«). Der zuvor am Medium des Bildnisses ausgefaltete Imitationsdiskurs hat sich damit ins Medium der Sprache verlagert. Venus durchschaut, dass die von Pygmalion bemühte Ähnlichkeit (similis) nur Schutzbehauptung für den Wunsch nach Identität von Gattin und Statue ist, und erfüllt Pygmalions Begehren. Vom Fest zurückgekehrt, legt er sich zur Statue, küsst

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sie und merkt, dass sie lebendig wird; die Jungfrau errötet und erblickt, als sie den Blick ›zum Himmel erhebt‹, den Liebhaber (met. 10, 290–294). Es kommt zur Hochzeit, und bald gebiert die bei Ovid namenlos bleibende Frau dem Pygmalion die Tochter Paphos (met. 10, 295–298). Damit findet die Geschichte vorerst eine glückliche Auflösung, die indes später dadurch relativiert wird, dass aus ebendieser Erblinie Myrrha und Adonis hervorgehen, deren tragisches Scheitern an der Liebe von Orpheus in ungleich größerer Ausführlichkeit erzählt wird; insbesondere Myrrhas inzestuöse Liebe zu ihrem Vater spiegelt Pygmalions Liebe zum eigenen Kunstwerk (met. 10, 298–502 und 503–739; vgl. etwa Janan 1988, bes. 124–126). Wenn damit in Pygmalions Geschichte das Wesen der Kunst, die Identität des Künstlers und sein Verhältnis zum von ihm geschaffenen Werk besonders explizit verhandelt werden, ist es ferner ebenso bedeutsam, dass Pygmalion nicht nur als Erzeuger des Kunstwerkes, sondern auch als dessen erster (und einziger) Rezipient auftritt (vgl. Elsner/Sharrock

Abb. 57.2  Diego Velázquez, ›Die Spinnerinnen‹ (Las Hilanderas, um 1657). Museo del Prado, Madrid, Inv. P01173. Quelle: ­ Wikipedia

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VI Rezeption – D Einzelmythen und Mythengruppen

1991). Als solcher erliegt er dem Illusionismus des eigenen Werks; sein Unvermögen zu dessen ästhetischem Genuss ähnelt dem begehrlichen Blick des Narcissus auf das eigene Spiegelbild (met. 3, 339–510; zur Verbindung: insbes. Rosati 1983, 58–67). Pygmalions Fehlleistung wird ex post korrigiert, wenn Venus tatsächlich Signifikant und Signifikat zusammenfallen lässt, damit aber zugleich die Logik artistischer Repräsentation aufhebt. Entsprechend kann der Ausgang der Geschichte ebenso als Scheitern wie als Triumph der Kunst begriffen werden (Elsner/Sharrock 1991, 154–155). Die Rezeptionsgeschichte des Pygmalion-Mythos ist äußerst reichhaltig und sehr gut erforscht (insbes. Dörrie 1968; Dinter 1979; Mayer/Neumann 1997; Weiser 1998; Stoichita 2008; Überblick bei Martin 2008); sie steht dabei ganz unter dem Eindruck der ovidischen Erzählung (zu den spärlichen Resten alternativer Traditionen des Mythos vgl. etwa Dinter 1979, 13–16). Während die Geschichte von Pygmalion durchgängig als Parabel auf das Verhältnis von Künstler und Werk aufgefasst und in unterschiedlichen Medien für die künstlerische Selbstreflexion fruchtbar gemacht wird, zeigen sich spätere Bearbeitungen insbesondere am weiteren Schicksal der einmal belebten Statue interessiert. Damit weisen sie über die ovidische Vorlage hinaus, in der auf das Belebungswunder unmittelbar der Vollzug der Hochzeit folgt, resp. entdecken in diesem abrupten Übergang eine produktive ›Leerstelle‹. Zwei Aspekte geraten dabei in den Fokus – und sind nicht selten eng miteinander verbunden: Einerseits wird die Frage virulent, wie die zum Naturkörper gewordene Statue in Sprache, Kultur und Gesellschaft eingeführt werde. Der Fokus verlagert sich von Pygmalion auf die (ehemalige) Statue, und die Idee begnadeten Künstlertums weicht dem Interesse an Individuation und Subjektgenese. Andererseits treten mit Erotik, Sexualität und Ehe Aspekte der Geschichte in den Fokus, die in Ovids Erzählung weitgehend implizit bleiben resp. durch deren Nahbeziehung zu anderen Erzählungen im zehnten Buch der Metamorphosen (insbesondere die Erzählungen von den Propoetiden und Myrrha) nur suggeriert, aber nicht ausgeführt werden. Wegweisend ist die Bearbeitung im sogenannten Ovide moralisé (frühes 14. Jhd.), der die ovidische Pygmalion-Geschichte ausführlich paraphrasiert (met. 10, 929–1079) und ihr dann zwei konkurrierende Interpretationen zur Seite stellt. Deren erste rationalisiert die Erzählung als Affäre eines Edelmannes mit einer schönen Frau einfachen Standes: Während

er sie zunächst mit Kleidung und Schmuck beschenkt, geht er schließlich dazu über, sie auch zu bilden (10, 3560–3585, hier 3575: ...et tant l’enseigna qu’el fu sage). Hier wird die Vorstellung von Pygmalion als Lehrer und Ausbildner antizipiert, wie sie besonders wirkmächtig in George Bernard Shaws später verschiedentlich als Musical und Film adaptierter Komödie Pygmalion (1912; bes. Berühmtheit erlangte die Musicalverfilmung My Fair Lady aus dem Jahr 1964 [Regie: George Cukor], die auf dem gleichnamigen Musical von Adam Jay Lerner basiert, der das Drehbuch verfasste) ausgeführt wird, in der die einfache Blumenverkäuferin Eliza Doolittle an die Stelle der Statue tritt; mit Hilfe des Linguistik-Professors Higgins das Stigma ihres Cockney English überwindet und lernt, mit gepflegtem Akzent zu sprechen (hierzu etwa Weiser 1998, 188–194; James 2011, 66– 79). Im Ovide moralisé wird der realistisch-sozialen Auslegung des Mythos indes sogleich eine weit abstraktere, theologische gegenübergestellt, die weit mehr Raum einnimmt (10, 3586–3678): Der Mythos wird zur Allegorie auf die biblische Schöpfungsgeschichte erklärt, und die Liebe des Bildhauers zur Statue als Bild für die göttlichen Gnade gedeutet; eine interessante Spannung in der Allegorese ergibt sich dadurch, dass die Deutung u. a. durch den Rückgriff auf die erotische Bildersprache der Bibel untermauert wird (vgl. Dinter 1979, 44–46). Das Interesse an der sexuellen Beziehung des Künstlers mit seinem Werk findet sich ausgeprägt bereits in der allegorischen Deutung des Giovanni del Virgilio (um 1330, vgl. oben zu Arachne, S. 371), die zum ›realistischen‹ Zugang des Ovide moralisé eine gewisse Nähe aufweist, jedoch eine andere Vorstellung von Bildung im Sinn hat: Pygmalion heiratet eine Frau, die »wunderschön wie Elfenbein« ist (pulcerrimam ut ebur, Text bei Ghisalberti 1931, 72, Übers. CSL), aber als ›Statue‹ bezeichnet wird, weil sie sich beim Sex kalt und abweisend zeigt. Hinter Pygmalions Anrufung der Venus und der ›Verwandlung der Statue‹ verbirgt sich – wiederum ganz ovidisch – eine eigentliche Liebeslehre (...didicit se plicare et blandiri sicut alie. Et ideo dicitur de statua in femina conversa – »sie lernte, sich wie andere Frauen hinzugeben und zu schmeicheln. Und deswegen sagte man, aus der Statue sei eine Frau geworden«, ebd.). Das satirische Epyllion The Metamorphosis of Pigmalions Image des Engländers John Marston (1598; Text in Davenport 1961, 47–61) macht sich den begehrenden Blick des Pygmalion auf den weiblichen Körper zu eigen und lotet dabei die Grenzen ero-

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tischer Sprache aus. Dass der Künstler nach sexueller Erfüllung strebt, macht ihn zum Vorbild für den Erzähler selbst, der sich in Pygmalion versetzt: »O that my Mistres were an Image too, / That I might blameles her perfections view« (Davenport 1961, 54, Stanze 11, »O wäre doch auch meine Geliebte eine Statue, dass ich ohne Schuld ihre Vorzüge betrachten könnte«, Übers. CSL). In einem metapoetischen Spiel legt Marston seinem Pygmalion dabei auch eine Apostrophe an den Dichter Ovid in den Mund, dessen Begegnung mit Corinna Pygmalion zu übertreffen glaubt (angespielt wird auf Amores 1, 5): »O Ovid would he cry, / Did ere Corinna show such Iuorie / When she appear’d in Venus liuorie?« (ebd., Stanze 12, »Oh Ovid, rief er da; zeigte jemals Corinna solches Elfenbein, wenn sie in Venus’ Gewand erschien?«). Mit der Thematisierung sexuellen Begehrens, dessen Erfüllung über die 39 Stanzen des Gedichts hinweg unmittelbar bevorzustehen scheint, wendet sich Marstons Gedicht polemisch gegen die erotische Sublimation in der Liebeslyrik des Petrarkismus (im Hintergrund stehen insbesondere Petrarcas Sonette 77 und 78, die ihrerseits den Pygmalion-Mythos aufgreifen). Dabei macht Marstons Werk zuletzt deutlich, dass das Verwandlungswunder – und der damit ermöglichte Liebesvollzug – nur im Medium der poetischen Sprache stattfinden kann (Stanze 28). In einer großen ironischen Geste verweigert das Gedicht zuletzt die Schilderung des Beischlafes: »Who knowes not what ensues ? O pardon me / Yee gaping eares that swallow vp my lines / Expect no more. ... And chaster thoughts, pardon if I doe trip, / Or if some loose lines from my pen doe slip« (ebd., 61, Stanze 38, »Wer weiß nicht, was nun folgt? Verzeiht mir, ihr weit geöffneten Ohren, die ihr meine Verse verschlingt; erwartet nicht mehr ... Und keuschere Gedanken, verzeiht, wenn ich bisweilen fehle und ein paar laxe Verse aus meinem Stift schlüpfen lasse«). Mit dieser – wiederum nach Ovids Amores 1, 5 modellierten – Aposiopese macht Marston die Pygmalion-Geschichte unverkennbar zu einem »provocatively eroticized commentary on his own scene of writing« (Enterline 2000, 126; zu Marston: Enterline 2000, 125–151; vgl. Finkelpearl 1965; Dinter 1979, 56–59). Eine neue Wendung verleiht der Franzose AndréFrançois Boureau-Deslandes der Erzählung in seinem Pigmalion ou la statue animée (1741; repr. in Geißler 1967, 117–130, mit dt. Übers. 131–146), die, wie jene von Marston, bald nach ihrer Publikation zensiert und öffentlich verbrannt wurde (Geißler 1967, 91–92; vgl. Dinter 1979, 56, 77). Auch hier steht

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der Liebesakt im Zentrum; er ist indes Teil einer umfassenden philosophischen Unterweisung der Statue durch Pygmalion. Zunächst vom Bildhauer unbemerkt, tritt diese allmählich ins Leben: Beginnt sie sich erst nur zaghaft zu bewegen, kommt sie allmählich zu Bewusstsein und Sprache und fragt verstört, wer sie sei: »Que suis-je, et qu’étois-je il n’y a qu’un instant?« (»Was bin ich und was war ich noch vor einem Augenblick?«, Geißler 1967, 124). Pygmalion tritt hinzu und setzt ihr in einem langen Gespräch auseinander, dass alles Leben – wie sie selbst – erst allmählich durch die Sinneswahrnehmung aus unbelebter Materie entstehe. Pygmalions akademischer Diskurs mündet aber alsbald in eine praktische Unterweisung: Er berührt und küsst die Statue, bis ihm die Lust die Sprache verschlägt, und Künstler und Werk miteinander schlafen. »Diese erstmals empfundene Wollust gefiel der Statue außerordentlich gut« (»Cette volupté éprouvée, pour la premiere fois, plut extrêmement à la Statue«, ebd., 126–127). Sie bittet um Wiederholung und erklärt schließlich, nun Selbstbewusstsein erlangt zu haben: »Was du Liebeslust nennst, überzeugt mich vollends von meinem Sein und bestätigt mir, daß es Wirklichkeit ist« (»Ce que vous appellez plaisir acheve de me convaincre de mon être, & de me persuader sa réalité«, ebd., 127). Während acht Tagen leben Künstler und Werk in seliger Zweisamkeit, bis Pygmalion beschließt, sie bei einem Diner in die Gesellschaft einzuführen. Sein Bemühen um die schöne Statue findet aber ein unerwartetes Ende: Als er ihr einen überschwänglichen Heiratsantrag macht, lehnt sie diesen brüsk ab und zeigt sich – im Lichte der sensualistischen Lehre des Bildhauers selbst – nur zum Versprechen bereit, »einander nicht zu verlassen, solange wir einander gefallen« (à ne nous point quitter tant que nous plairons l’un à l’autre, ebd., 130). Die komische Volte hin zur selbstbestimmten Statue entlarvt – wie zahlreiche spätere komische und satirische Bearbeitungen – die bürgerlich-heteronormative Tendenz der Geschichte und weckt jedenfalls Zweifel am ›glücklichen‹ Ende der ovidischen Geschichte in der Ehe. Die ironische Aushebelung der eigennützigen Lehren des Pygmalion wird indes dadurch relativiert (oder im Gegenteil potenziert), dass Boureau-Deslandes seine Schrift einer ›Madame de Comtesse de G...‹ widmet, die er seinerseits in den Prinzipien materialistischer Philosophie unterweisen will (ebd., 117–118). Bei aller Verspieltheit wird der Pygmalion-Stoff bei Boureau-Deslandes doch zu einem eigentlichen conte philosophique, welcher der »furiosen Proliferation des

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Pygmalion-Motivs« (Neumann 1997, 35) in der Aufklärung den Weg bereitet, in der die Belebung der Statue zu einem Paradigma von Subjektgenese und Akkulturation erhoben wird (vgl. Carr 1960; Sckommodau 1970; Neumann 1997). Besonders wirkmächtig ist Jean-Jacques Rousseaus ›scène lyrique‹ Pygmalion (um 1762, Text in Gagnebin/Raymond 1961, 1224– 1231). Während auch Rousseau die Beseelung der Statue dramatisiert und diese mit deren Eintritt in die menschliche Sprachgemeinschaft zusammenfallen lässt, gibt er der Darstellung von Pygmalions Künstlertum wieder größeren Raum und leitet damit die reichhaltige Auseinandersetzung mit dem Pygmalion-Stoff in den Ästhetiken des 18. und 19. Jahrhunderts ein, unter anderem in Herders Plastik. Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Traume von 1778 (vgl. etwa Warning 1997). Rousseau zeigt Pygmalion in seinem Atelier; er hat eine so vollendete Statue geschaffen, dass er nun überzeugt ist, nie mehr etwas Ebenbürtiges schaffen zu können. Der Künstler, dessen Monolog fast das gesamte Drama einnimmt, verfällt in eine tiefe Schaffenskrise: C’en est fait, c’en est fait; j’ai perdu mon génie....si jeune encore, je survis à mon talent (Gagnebin/ Raymond 1961, 1225, »Es ist geschehen, es ist geschehen!; Ich habe mein Genie verloren ... noch so jung! Meine eigenes Talent hab’ ich überlebt!«). In der Betrachtung der Statue erlebt Pygmalion das Drama der Selbstentäußerung des Künstlers, der die Statue zuletzt zum Leben erwecken will, indem er sein eigenes Leben aufopfert. An die Stelle des Belebungswunders durch die Gottheit treten Selbstvergessenheit und Selbstaufgabe des Künstlers: Ah! que Pygmalion meure pour vivre dans Galathée!... Que dis-je, ô Ciel! Si j’étois elle, je ne la verrois pas, je ne serois pas celui qui l’aime! (ebd., 1228, »Ah, möchte Pygmalion doch sterben, um in Galathée zu leben!... Doch was sage ich, o Himmel! Wenn ich sie wäre, so sähe ich sie nicht mehr, so wäre ich nicht mehr, der sie liebt«). Da steigt Galathée vom Sockel und spricht ein erstes Wort: moi (»ich«), blickt auf die Marmorblöcke im Atelier und hebt sich selbst von diesen ab: Ce n’est plus moi (ebd, 1230, »Dies ist nicht mehr ich«). Stattdessen erkennt sie sich in Pygmalion wieder, als er ihr gegenübertritt: Ah! encore moi (ebd., 1231, »Ah! Wieder ich«). Pygmalion hat das letzte Wort im Stück, bekräftigt damit aber nur seine Selbstaufgabe: Oui, cher & charmant objet; oui, digne chef-d’œuvre de mes mains, de mon cœur & des Dieux... c’est toi, c’est toi seule: je t’ai donné tout mon être; je ne vivrai plus que par toi (ebd., »Ja, teures, reizendes Objekt; ja, würdiges Meisterwerk, Werk mei-

ner Hände, meines Herzes und der Götter: du bist es, du bist es; ich habe dir mein ganzes Wesen gegeben; ich lebe nur noch in dir«). Rousseaus Szene lässt es zuletzt offen, ob die Begegnung von Künstler und Werk »emphatische Anerkennung durch den Anderen« oder »nur ein Spiel narzißtischer Projektionen« darstellt, wobei sich gerade dieser Zwiespalt für die Frage nach dem Status von Selbstbewusstsein und Subjektivität als triftig erweist (so Neumann 1997, hier 35). Die in den aufklärerischen Debatten verhandelten Fragen sind in der Pygmalion-Rezeption der jüngeren und jüngsten Zeit wieder aufgegriffen worden, die diesmal im Zeichen des Problems Künstlicher Intelligenz und Mensch-Maschinen-Interaktionen eine neue Konjunktur erlebt. So klingt der Pygmalion-Mythos etwa in Ira Levins mehrfach verfilmtem Roman The Stepford Wives (1972) an, in dem eine Gruppe von Männern ihre intelligenten und selbstbestimmten Ehefrauen durch gefügige Roboter ersetzen (vgl. etwa James 2011, 126–128), und wird etwa auch in den Debatten um die ethischen Implikationen von Sexrobotern immer wieder aufgerufen (bspw. Sharkey u. a. 2017, 2; vgl. Neumann 1997, 42–58). Was die Rezeption des Pygmalion-Mythos insgesamt auszeichnet, ist nicht zuletzt die mediale Vielfalt der Bearbeitungen des Stoffes – in Literatur, Bild, (Musik)Theater, Film, digitalen Medien, Robotik. In Auseinandersetzung mit der schon bei Ovid angelegten Kritik an der Repräsentationsleistung der Kunst behauptet sich die Geschichte Pygmalions als privilegierter Ort artistischer Selbst- und Medienreflexion. So erlaubt etwa das Motiv der Belebung der Statue, auf der Bühne – sei es in Schauspiel-, Musik, oder Tanztheater – die theatrale Grundkonfiguration des inszenierten und damit zum Zeichen gewordenen Körpers kritisch zu reflektieren (vgl. Brandstetter 1997). Auch in der Malerei erscheint Pygmalion im Zusammenhang kunstkritischer Debatten und künstlerischer Umbruchszeiten (allgemein zur Pygmalion-Rezeption in der bildenden Kunst: Davidson Reid/Rohmann 1993, 955–962 und insbes. Blühm 1988). So ist bspw. die vieldiskutierte Darstellung Jacopo Carucci da Pontormos resp. seines Schülers Bronzino (um 1529; s. Abb. 57.3), plausibel als Reflex auf den sogenannten Paragone – den Wettstreit der Künste – ausgelegt worden (vgl. Blühm 1988, bes. 34–44, 174–175; Neumann 1997, 19–23, Stoichita 2008, 128–130): In einer komplexen Komposition zeigt sie einerseits das Moment des Opfers, mit dem Pygmalion, hier andächtig am Altar kniend, um die Belebung der Statue bittet; die Flamme, die über dem Altar auflodert, verweist aber –

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Abb.  57.3  Jacopo Carucci da Pontormo/Agnolo di ­ Cosimo di Mariano, gen. Bronzino, ›Pygmalion‹ (um 1529), Florenz. Gallerie degli Uffizi, Inv. 1890, 9933. Quelle: Wikipedia

wie bei Ovid (met. 10, 279) – auf die Erfüllung des Gebets, die sich denn in der Statue, die dem Künstler am linken Bildrand symmetrisch gegenübersteht, bereits vollzieht. In der temporalen Potenzierung der Szene zeigt die Malerei ihre Überlegenheit vor der Bildhauerei; dabei erscheint der Künstler »als seiner selbst bewußter Schöpfer des vollkommenen Artefakts« (Neumann 1997, 21). Eine ganz andere Funktion übernimmt das Pygmalion-Motiv im Œuvre des Franzosen Jean-Léon Gérôme. Er schafft nicht nur eine Skulpturengruppe, die den Bildhauer Pygmalion zeigt, wie er die eben in seiner innigen Umarmung zum Leben erwachte Statue küsst (1892; Hearst San Simeon State Historical Monument, San Simeon, Inv. 529–9-6228), sondern

macht dasselbe Motiv auch zum Gegenstand einer ganzen Serie von Gemälden (u. a. Pygmalion, um 1892, s. Abb. 57.4; detaillierte Angaben zu den anderen Bildern der Serie bei Blühm 1988, 273–274). Das Bild zeigt den Kuss zwischen Künstler und belebter Statue nun in der Umgebung seines Ateliers, wobei die Erscheinung eines pfeilbewehrten Cupido am rechten Bildrand das göttliche Belebungswunder indiziert und damit die Macht der Malerei ausstellt, Präsenz zu evozieren. Die pathetische Inszenierung der eigenen Gestaltungspotenz des Künstlers – der ostentative Zusammenhang der Werke im Œuvre Gérômes wird dadurch gedoppelt, dass Pygmalion die Züge des jungen Gérôme trägt – erweist sich aber zuletzt als Abgesang: »Gérôme’s ›Pygmalion complex‹ is

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Abb.  57.4  Jean-Léon ­ Gérôme, ›Pygmalion und Galatea › (um 1892). ­ Metropolitan Museum of Art, New York, Inv. 27.200. Quelle: Wikipedia

at one and the same time at the core of his ambitions as an artist, but also the object of detached and ironic contemplation«, eine letzte Beschwörung auratischer Präsenz in der Kunst im anbrechenden Zeitalter der (photographischen) Reproduzierbarkeit (Hardie 2002, 206–226, hier 221; vgl. Blühm 1988, 148–150, Stoichita 2008, 161–174). Literatur

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Cédric Scheidegger Lämmle

58  Zwischen Ober- und Unterwelt: Ceres und Proserpina; Orpheus und Eurydice

58 Zwischen Ober- und Unterwelt: Ceres und Proserpina; Orpheus und Eurydice 58.1 Einleitung Das Motiv des Abstiegs in die Unterwelt (katábasis) gehört als kulturübergreifender Topos epischen Sprechens zum konventionellen Motivinventar (Herzog 2006), das sich heuristisch nach folgenden Typen gliedern lässt: die heroisch-epische Zukunftsschau, durch die ein epischer ›Ausnahmeheld‹ Einblick in Teleologie und Auflösung der Erzählung erhält (wie Homers Odysseus; Vergils Aeneas; vgl. Platthaus 2004, 91– 124); die epistemologisch-naturphilosophische Initiation, durch die ein nach Erkenntnis Strebender Einblicke in verborgene Wissensbestände erhält (wie Parmenides’ Pythagoras; Vergils Aristaeus); die katabasis als poetologische Reflexionsfigur, mittels derer ein Dichter die ›unverfügbaren Urgründe des eigenen Dichtens‹ problematisiert (wie Vergils Orpheus). Ein Sonderstatus kommt dabei dem Proserpina-Mythos als dem Paradigma literarischer katabaseis zu (Hinz 2008; Moser 2008). Wie die Parodie der katabasis des vergilischen Aeneas in met. 14, 101–153 (Krupp 2009, 147– 174) sind auch die katabaseis der Proserpina (Hinds 1987; Sampson 2012) und des Orpheus (Neumeister 1986; Döring 1996) gut erforscht. Letztere wurden aber, im Gegensatz zu den epischen katabaseis (Platthaus 2004, passim), rezeptionsgeschichtlich eher thematisch als epistemologisch perspektiviert (Anton 1967; Avanessian 2010; Emmrich 2015). Mit García Lorca, Olga Tokarczuk, Sigmund Freud sowie Vertretern aktueller Hermeneutik- und Philologietheorie sollen daher Rezeptionen beschrieben werden, die an epistemologischen Innovationen ovidischer katabaseis ansetzen (s. Kap. 86).

58.2 Ceres und Proserpina 1: Ovids Rezeption(en) Der ovidische Mythos von Ceres und Proserpina nimmt auf den (pseudo-)homerischen Demeter-Hymnus Bezug und ist bei Ovid sowohl in den hexametrischen Metamorphosen als auch in den elegischen Fasti verarbeitet (s. Kap. 8; Hinds 1987). Auch auf die vergilischen Georgica, besonders auf die ringkompositorische Rahmung der mit Ceres assoziierten vergilischen Poetik durch die Proserpina-Figur (georg. 1, 36–

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39; georg. 4, 487; Johnston 1977), nimmt Ovid mehrfach Bezug (Fantham 1992): Die narrative Einbettung des Proserpina-Mythos in einen Gesangswettstreit impliziert ein ›poetisches Kräftemessen‹ zwischen den Musae und den in den vergilischen Eklogen zentralen Pierides (ecl. 3, 85; ecl. 6, 13; ecl. 8, 63; ecl. 9, 33; ecl. 10, 72). Die poetische Überwindung Letzterer wird als Verlust von poetischer Originalität figuriert (met. 5, 299: imitantes omnia picae; »Elstern, die alles nachahmen«). Pieriden wie Musen praktizieren ein ›vergilisches‹ Dichten über die Erde, das Grenzüberschreitungen zwischen Ober- und Unterwelt mit einschließt: Dem Unterweltsaufstieg der Giganten im Pieridenlied (met. 5, 319–326) entspricht im Antwortgesang der Musen eine bereits erfolgte Ordnungsrestitution (met. 5, 346–353); dennoch bewirkt der unter den Ätna verbannte Typhoeus auch als Besiegter eine Instabilität der Grenze, die Plutos Aufstieg und damit den Abstieg der Proserpina motiviert (met. 5, 354–361). Die Durchlässigkeit der vermeintlich unüberwindbaren Grenzziehung zur Unterwelt steht also im Fokus der Erzählung. Durch die Emphase auf den Trieb- bzw. Begehrensdynamiken rückt eine weitere, horizontale, Bewegung der Transgression von Grenzen in den Fokus, deren Ästhetik sich aus der Verschränkung von Erotik und Gewalt speist (s. Kap. 42): Die Motivik des Blumenpflückens antizipiert in metonymischer Verschiebung die gewaltsame Defloration der Proserpina (met. 5, 398–401; Sampson 2012, 93); in met. 5, 420–429 schließlich lässt die gegen den Willen der gleichnamigen Quellnymphe erfolgte Penetration der Quelle Cyane Erstere mit einem inconsolabile uulnus (einer »nicht zu tröstenden Wunde«) traumatisiert zurück. Eine zentrale Rolle kommt dabei Venus bzw. Amor als den mythologischen Verkörperungen transgressiver Triebdynamiken zu (met. 5, 365–379): Amor stellt nicht nur die Ursache für die topographisch-vertikale Grenzüberschreitung zwischen Ober- und Unterwelt, sondern auch den ironisch präsentierten »wahren Namen« (nomina [...] vera) für das »Unrecht« (iniuria) sexuell-horizontaler Grenzüberschreitung dar (vgl. met. 5, 524–526; Krupp 2009; Sampson 2012). Im durch Venus/Amor verkörperten Triebprinzip werden also vertikale und horizontale Transgressionen ineinander geblendet. Außerdem lässt sich eine Exploration der Liminalität zwischen Ober- und Unterwelt beobachten: So wird bereits der Ort des Raubes als schattig-düsterer Unterweltseingang figuriert (met. 5, 385–391) und mit Cyane und Arethusa treten zwei Figuren in den Fokus

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_58

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VI Rezeption – D Einzelmythen und Mythengruppen

der Erzählung, deren hybrider Status jeweils zwischen Toponym und Wassernymphe verortet ist (met. 5, 409–414; met. 5, 425–429), deren Ort jeweils zwischen Ober- und Unterwelt lokalisiert ist (met. 5, 420–424; met. 5, 501–503), und die jeweils eine zentrale Funktion im Kommunikationsgeschehen zwischen der suchenden Ceres in der Oberwelt und der geraubten Proserpina in der Unterwelt haben (met. 5, 465–473; met. 5, 504–508). Die liminalen Figuren tragen nicht nur innerhalb der Erzählung zeigend bzw. sprechend zur Auflösung bei; Arethusa wird zudem als fiktionsimmanente Erzählerin eine Geschichte anschließen, die ebenfalls von einer Begehrensdynamik handelt, die von einer Verschränkung zwischen Erotik und Gewalt geprägt ist (met. 5, 572–641). Liminalität ist also der Ort und der Antrieb des ovidischen Erzählens in den Metamorphosen.

58.3 Ceres und Proserpina 2: Ovidrezeptionen Seit Claudians De raptu Proserpinae wird besonders die gewalterotische Ästhetisierung des Raubgeschehens in der Rezeptionsgeschichte aufgegriffen (Parkes 2015); der erotische sensus litteralis wird dabei seit der Spätantike je unterschiedlich allegorisiert, etwa christianisierend als Verdammnis und Erlösung der Seele, säkular als Allegorie auf die Macht der Liebe oder auch poetologisch, indem anhand der Granatapfelsymbolik die Irreversibilität der katabasis und damit ein Dualismus zwischen Ober- und Unterwelt betont wird (Anton 1967; Hinz 2008; Moser 2008). Diese Rezeptionen arbeiten sich jeweils »an der [...] Unvereinbarkeit von Diesseits und Jenseits« ab (Hinz 2008, 566), reinterpretieren also die bei Ovid als durchlässig bzw. liminal figurierte Grenze als eine Scheidelinie zwischen zwei distinkt voneinander getrennten Bereichen. Eine andere Stoßrichtung weist die Ovidrezeption durch die polnische Gegenwartsautorin Olga Tokarczuk in Ur und andere Zeiten auf, einem Roman, dessen Welt »at the intersection between cyclical (mythical) and linear times« lokalisiert ist (Wampuszyc 2014, 366). Die Ineinanderblendung von figural perspektivierter mythischer und kollektiv erlebter historischer Zeit setzt zwischen dem Dorf »Ur« und der Außenwelt eine Grenze, die im Laufe des Romans immer durchlässiger wird (Lütvogt 2004, 109). Durchlässigkeit charakterisiert auch die ontologischen Grenzen der Romanwelt, etwa zwischen kreatürlich‹natürlichem‹ und menschlich-›kulturellem‹ Seins-

bereich. Die Darstellungsform der Ineinanderblendung von figurativem und referentiellem Sprechen sowie der Unterordnung narrativer Teleologie unter zyklisch wiederkehrende subjektive Erfahrungsräume wird teils als »magischer Realismus« tituliert, obwohl Tokarczuk diese Kategorisierung unter Verweis auf die unmögliche Definition der Grenze zwischen »Realität« und »Magie« dezidiert ablehnt (Wampuszyc 2014, 367–369). Eine der Figuren ist die außerhalb der Gesellschaft lokalisierte »Ähre«, die in erotischem Symbioseverhältnis zur ›natürlichen‹ Umwelt steht. Nach der sexuellen Vereinigung mit einer – im Polnischen maskulinen – »Engelwurz«, die sich für eine Nacht in einen blonden Jüngling verwandelt, gebiert sie »Ruta«, welche später als einzige Figur die Grenze des mythischen Ortes »Ur« verlassen wird: Nach der Heirat mit dem Geschäftsmann »Ukleja« erlebt sie eine gewalterotisch gezeichnete ›Hölle auf Erden‹, die in ihrer realistischen Darstellung in scharfen Kontrast zum mythischen Erfahrungsraum von »Ur« tritt; nur einige Monate darf sie jeweils zu ihrer Mutter »Ähre« zurückkehren. Die Analogie zum Proserpina-Mythos (Lütvogt 2004, 127) schließt, indem die historische Welt zur ›Unterwelt‹ und die mythisch figurierte Welt zum sukzessive erodierenden ›Diesseits‹ wird, an die ovidische Betonung der Permeabilität und Liminalität von Grenzen an. Daher lässt sich Tokarczuks Schreiben insofern treffender als ›metamorphotische Poetik‹ denn als »magischer Realismus« (Wampuszyc 2014) bezeichnen, als dort wie in der ovidischen »Metamorphologie« eine ›liminale Epistemologie‹ mit einer ›metamorphotischen Erzählpoetik‹ verbunden und eine Welt entworfen wird, die letztlich eine ahistorische ist, obwohl wiederholt historische Gehalte in sie aufgenommen werden (s. Kap. 43).

58.4 Orpheus und Eurydice 1: Ovids Rezeption(en) Der Mythos von Orpheus und Eurydice ist durch die Figur der Proserpina eng mit dem Ceres-Mythos verknüpft (met. 10, 15–16; vgl. Verg. georg. 4, 487). Die Erotisierung des Proserpina-Mythos wird in met. 10, 26–29 wiederaufgegriffen; dabei wird (selbst)ironisch zum einen auf Vergil, zum anderen auf die eigene Proserpina-Episode Bezug genommen (vgl. met. 10, 26 mit Verg. ecl. 10, 69; met. 10, 28–29 mit met. 5, 341– 571). Der Orpheus-Mythos ist ebenfalls, auch bei Vergil, von ambivalenter Erotisierung geprägt; das buchstäblich ›grenzenlose‹ Verlangen nach Eurydice ist zu-

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gleich als Grundlage der Macht seiner Dichtung und seiner Ohnmacht gegenüber den eigenen Trieben figuriert (Gale 2003). Diese Topik wird durch Ovid mehrfach parodiert (Neumeister 1986): Erstens wird der vergilische amor-furor-Komplex entdramatisiert (vgl. georg. 4, 494–495 mit met. 10, 61) und die sexuelle Enthaltsamkeit des Orpheus als homosexuelle Neuorientierung reinterpretiert (vgl. georg. 4, 516–522 mit met. 10, 78–85; Makowski 1996). Sein Begehren ist an kein verlorenes Objekt gebunden (georg. 4, 526–527), sondern operiert als schieres Begehrens-Prinzip. Dessen konkrete Objekte sind dabei als beliebig bzw. austauschbar figuriert: Durch metonymische Verschiebungsleistungen können sie einander im Prozess einer ›translatio amoris‹ fortwährend ersetzen (vgl.: met. 10, 83–84: fuit auctor amorem / in teneros transferre mares – »er war Urheber für das Übertragen der Liebe auf zarte Knaben«). Das ironisierende Zitat des vergilischen respicere (des »Zurückblickens«, vgl. georg. 4, 491 mit met. 11, 66) macht überdies deutlich, dass eine Einholung des verlorenen Begehrensobjekts als möglich imaginiert werden kann. Die für erotisches Begehren konstitutive Abwesenheit eines konkreten Objekts wird also nicht mittels einer transzendental figurierten Unterwelt dargestellt, sondern als Effekt einer schieren Trieb-Bewegung, die ihre konkreten Objekte fortwährend durcheinander ersetzt. Diese Trieb-Bewegung treibt in den Gesängen des Orpheus (met. 10, 148–739) stets neue »gewandelte Formen« der Themen Päderastie und Inzest hervor (vgl. mutatas formas in met. 1, 1; s. Kap. 66; vgl. Emmrich 2015); die erotische Triebpoetik des Orpheus verdeutlicht damit auch die ›metamorphotische Triebpoetik‹ der Metamorphosen: Diese sagt ebenfalls aus einer schieren Trieb-Bewegung heraus (met. 1, 1: In noua fert animus...; »Hin zu Neuem treibt mein Sinn...«) die »gewandelten Formen« dieser Bewegung in stets »neuen Verkörperungen« aus (met. 1, 1–2: In nova fert animus mutatas dicere formas / corpora – »Mein Sinn treibt mich, von den Formen zu singen, die sich in neue Körper verwandelt haben!; vgl. Schwindt 2016a, bes. 21–22). Zweitens betrifft diese Umakzentuierung auch den Bezug zwischen dem Singen des Orpheus und dessen Gegenstand: Bei Vergil stellt Eurydice als abwesendes Zentrum den alleinigen Gegenstand der orpheischen Gesänge dar (georg. 4, 464–466; 507–510; 519–520) und erfüllt als Abwesende nach Orpheus’ Tod mit ihrem Namen die poetische Landschaft (georg. 4, 527: Eurydicen toto referebant flumine ripae – »›Eurydike!‹ ließen am gesamten Fluss die Ufer widerhallen«); bei

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Ovid ist Eurydice weder in den Gesängen des Orpheus noch in dessen Todesszene thematisch präsent (met. 11, 52–53.: flebile nescio quid queritur lyra, flebile lingua / murmurat exanimis, respondent flebile ripae – »Irgendetwas Beweinenswertes klagt die Lyra, Beweinenswertes murmelt die entseelte Zunge, Beweinenswertes antworten die Ufer«). Vergil figuriert das or­ pheische Singen also als ›Metapher ins Leere‹, als Beschwörung eines verlorenen Gegenstands, der in einen transzendentalen Raum entglitten ist; Ovid hingegen figuriert es als eine ›Metonymie ins Unbestimmte‹, als supplementierende Dynamik einer Triebpoetik, deren unbestimmtes flebile nescio quid (»ich weiß nicht, was für ein Beweinenswertes«) im Trauma notorischen Gegenstandsentzugs besteht. Drittens zeigt sich Ähnliches auch im Bezug zwischen dem Dichten des Sprechers und dessen in Orpheus emblematisiertem ›unverfügbarem Urgrund‹: Der Gesang des vergilischen Orpheus bleibt textuell abwesend; dem transzendentalen Entzug der Eurydice im Singen des Orpheus entspricht ein mystifizierender Entzug von Orpheus’ Gesang im vergilischen Dichten. Der Unterweltsgesang des ovidischen Orpheus dagegen wird in met. 10, 17–39 als rhetorische suasoria entmystifiziert (VerSteeg/Barclay 2003) und wörtlich wiedergegeben. Der in met. 10, 148–154 eingeleitete Oberweltgesang artikuliert sich als buchstäblich per-vertierende Umschreibung der Tradition eines kosmologischen Singens ab Iove principium (»Von Jupiter sei der Anfang genommen«; vgl. Arat, Phain. 1, 1; Verg. ecl. 3, 60) hin zur Grundlegung einer Genealogie von Inzest und Päderastie (Emmrich 2015). Hier wird also eine Poetik projektiert, die Tradition nicht durch Memorieren eines mystifizierten ›Ur-Grundes‹ stiftet, auf den nur durch defizitäres ›Weiter- und Nach-Erzählen‹ Bezug genommen werden kann; die ovidisch-orpheische Poetik operiert vielmehr als freier Gebrauch von »Ur-Spuren« der Tradition im intertextuellen Feld (vgl. Derrida 1996, 107–108), die den Ansatzpunkt für ein eigenes kreatives ›Um- und FortSchreiben‹ bieten.

58.5 Orpheus und Eurydice 2: Ovidrezeptionen Die ovidisch säkularisierte Denkfigur der katabasis prägt auch die epistemologischen und ästhetischen Reflexionen der (Post-)Moderne: Sigmund Freud etwa knüpft in seiner »Tiefenpsychologie« an die Verbindung von Begehrensdynamiken und Unterwelts-

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gang an und fasst seine traumhermeneutische Arbeit ins Bild eines »Abstiegs« ins Unbewusste (Platthaus 2004, 55–73). Auch wenn Aen. 7, 312 als Motto der Traumdeutung eher die zukunftsgerichtete epische katabasis assoziieren lässt (Traverso 2003, 78–111), weist Freuds Traumhermeneutik in ihrem Anspruch, die Substitutionsfiguren des Traumtexts auf das Trauma einer originären Verlusterfahrung zurückzuführen, eher die strukturellen Merkmale der regressiven katabasis des Orpheus auf – und zwar dezidiert des ovidischen, dessen ›Traum(a)text‹ sich gerade nicht thematisch artikuliert, sondern in seiner »produktiven und gelungenen Trauerarbeit« (Emmrich 2015, 192) die moderne Epistemologie und Poetik präfiguriert: Anstatt als Sprache der Beschwörung von Verlorenem, die am nicht realisierbaren Phantasma der Vergegenwärtigung verzweifelt, operiert die Sprache der ovidischen Dichtung als sich selbst fortsetzende Triebsprache, die die Abwesenheit ihres Gegenstands ad infinitum durch fortwährende Ersetzungen supplementiert (vgl. Derrida 1988 zur différance). Daneben existiert ein Rezeptionsstrang, der katabasis als »Urszene« (Schwindt 2016a) der Hermeneutik und jedes Deuten als Unterweltsschau figuriert; zwischen Ober- und Unterwelt tritt nach diesem Modell das Problem auf, die in der Unterwelt geschaute ›Tiefenerkenntnis‹ in der ›oberweltlichen‹ Sprache der Logik zu kommunizieren (Huss 2008). »Daß durch Zuwendung allein dasjenige getilgt oder verändert wird, dem man sich zuwendet«, bezeichnet Hogrebe 1997, 2–3, als »orphischen Bezug« und schließt damit an der ›nostalgischen‹ vergilischen Orpheus-Figuration an; wenn dagegen Hamacher 2010, 77, den singenden Orpheus als Philologen bezeichnet, ist eher die Verschiebungs-Dynamik des ovidischen Orpheus angesprochen: Ohne die Annahme transhistorischer Konstanten könne »Orpheus in Eurydike und diese in Hermes« verwandelt werden (ebd., 78). Als Sachwalterin der Dis-Kontinuität im Traditionsgeschehen wiederhole eine solche Philologie die Gesten des ovidischen Orpheus: Als Wiederholung kehre sie »zu einem anderen Anfang, soll heißen zu anderem als einem Anfang zurück« und »fängt, ohne Prinzip, an« (ebd., 95; vgl. met. 10,148 ff.: Ab Iove, Musa parens, [...] / carmina nostra move; »Von Jupiter an, o Muse, meine Mutter, bewege meine Gesänge« sowie met. 1,1 ff.: In nova fert animus... – »Hin zu Neuem treibt mein Sinn...«). Schwindt 2016b, 5 expliziert beide Verfahrensweisen katabatisch verstandenen philologischen Deutens als »zum einen die [›vergilische‹, C. H.] Möglichkeit, Tradition und Zusammenhang gerade dort zu generieren, wo der

Bruch offensichtlich ist«, sowie »zum anderen die [›ovidische‹, C. H.] Möglichkeit, das absolut Andere der Tradition zu gewinnen dadurch, daß die Gegenwart sich total aufs Spiel setzt«. Beide Varianten des Umgangs mit der Unverfügbarkeit eines (sprachlichen) Gegenstands prägen neben der Epistemologie auch die Ästhetik der Moderne und Postmoderne, die um das Trauma des ›Selbst- und Weltverlusts‹ kreisen und oft auf eine säkularisierte Denkfigur der katabasis Bezug nehmen. Federico García Lorca etwa hat sich in unterschiedlicher Weise dieser deszendentalen Initiationsbewegung bedient: Im symbolistischen Romance de la luna (»Mondsüchtige Romanze«) verliert sich das referentialisierbare Figuren- und Motivinventar (V. 1–4 [Übersetzung von Koppenfels 2002]: »Kam einmal Frau Mond zur Schmiede [...] und der Junge sieht sie an«) sukzessive in den Bereich eines symbolisch verdichtenden Zwischenraumes (31–32: »Und Frau Mond spaziert am Himmel, führt ein Kind an ihrer Hand.«) und entzieht sich letztlich rationaler Erkenntnis im Schlussbild des Verhüllens der Szenerie (35–36: »Und die Luft verhüllt sie, hüllt sie, und die Luft hüllt sie schon ein«; vgl. Höltje 2004; Haß 2015). Im surrealistischen Cielo vivo (»Lebendiger Himmel«) lässt sich hingegen gleich zu Beginn eine Absage an das Phantasma beobachten, das Gesuchte sei im Diesseits sprachlicher Aussagbarkeit aufzufinden (1–2 [Übersetzung von Koppenfels 1998]: »Ich werde nicht klagen können, wenn ich nicht fand, was ich suchte«). Dass die mythische Denkfigur der katabasis »in einer Epoche schwindender Erfahrungsmöglichkeiten zum Gegenteil ihrer selbst [...] werden [konnte], zu einem Zugangsweg säkularer Erfahrung« (von Koppenfels 1998, 194), liegt womöglich nicht nur in deren »Übertragungsenergie« begründet (ebd.), sondern auch in deren Re-Konfiguration durch Ovid: Auch das ›nach-katabatische‹ canere des Orpheus kann den Gegenstand nur in frei assoziierender Substitution ›umspielen‹ (s. Kap. 21); auch für Orpheus ist ›Wiedervereinigung‹ mit dem Gegenstand nur imaginativ, im stummen Raum der silentia regna (der »schweigenden Reiche«), möglich. Literatur

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Christian David Haß

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VI Rezeption – D Einzelmythen und Mythengruppen

59 Kältelehren: Ceyx und Alcyone Die Geschichte von Ceyx und Alcyone (met. 11, 410– 748) gehört zu den längsten und komplexesten der Metamorphosen, weshalb es nicht wundert, dass man in der Rezeptionsgeschichte häufiger Aufarbeitungen einzelner Momente als solchen der ganzen Episode begegnet. Eine wichtige Ausnahme bildet Geoffrey Chaucers The Book of the Duchess (ca. 1368), in dem aber die Verwandlung des Ehepaares in Eisvögel ausbleibt (Fantham 1979, 341). Die Beschreibung des Seesturms, in dem Ceyx seinen Tod findet, gilt als Muster für die spätere epische Literatur. So ist sie die wichtigste Quelle in zwei Sturmszenen in Ariostos Orlando furioso (1516; vgl. Casali 2014, 319–320). Die Figur des Morpheus, der Alcyone im Traum über den Tod ihres Mannes berichtet, wird in Christopher Marlowes Hero and Leander (1593/98) rezipiert und ist ein Vorbild für die Gestalt des Ariel in Shakespeares The Tempest (1610/11; vgl. Tarantino 1997). In der Kunstgeschichte sind Bernard Salomons Illustrationen (1557) prägend: Dieser hat mit der Einteilung der Geschichte in fünf Szenen späteren Zeichnern ein Vorbild gegeben (Braun 1952). In der Oper von Marin Marais Alcione (1706) spielt Peleus, ein Freund des Ceyx, eine wichtige Rolle, indem er auch bei Alcyone für die Liebe wirbt. Was die Übersetzungen der Metamorphosen betrifft, bedeuten etwa die Passagen, die Anwesenheit und Abwesenheit thematisieren (vgl. Hardie 2002), eine große Herausforderung; David Hopkins untersucht die semantischen Feinheiten und die poetische Kraft von John Drydens maßgebender Übertragung aus dem 17. Jahrhundert (Hopkins 1988).

59.1 T.  S. Eliot: Four Quartets (1943) Am Ende der Erzählung spricht Ovid davon, dass Alcyone im Winter sieben Tage lang brütet, dann ist das Meer ruhig, da ihr Vater Aeolus die Winde nicht loslässt (met. 11, 745–748). Daher kommt der englische Ausdruck halcyon days für eine glückliche Zeit, meistens in der Vergangenheit. Im dritten Stück von Eliots Sammlung Four Quartets (1943), The Dry Salvages (1941), wird dieser Begriff aufgenommen. In der Genese der Four Quartets spielten die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs eine große Rolle (vgl. Ellis 2017, 103). Im vierten Teil des ersten Stücks der Sammlung, Burnt Norton, wird der Eisvogel mit der Ruhe in der Welt assoziiert. In The Dry Salvages können wir auch

deshalb an die Anwesenheit der ovidischen Erzählung denken, da Meer, Wasser und Schifffahrt (als Metapher fürs Leben) zentrale Motive des Gedichts sind; der Titel des Poems deutet auf eine Felsengruppe auf der Höhe der Nordwestküste von Cape Ann. Der zweite Teil des Gedichts endet mit dem Bild eines zackigen Riffes, das an »alcyonischen« Tagen als »Denkmal« (monument) und als »Seezeichen« (seamark) dasteht, aber wenn plötzlich ein Sturm kommt, ist es, »what it always was.« Als wichtigstes Thema des Werks gilt die Zweiheit von Hoffnung und Verzweiflung (Hay 1982, 176), die in den Bildern von Seesturm und Windstille eine zeitliche Dimension gewinnt. Die halcyon days können nur als Ausschnitte einer Zeitsequenz betrachtet werden, die auch die Momente der Bedrohung in sich trägt. So wird diese Passage Teil der Eliotschen »Neuordnung« von Zeitbildern (vgl. Assmann 2017, 143–147).

59.2 Christoph Ransmayr: Die letzte Welt (1988) In Christoph Ransmayrs Die letzte Welt (1988) kommt der Geschichte eine prominente Rolle zu. In diesem Roman macht sich der Römer Cotta in Tomis auf die Suche nach dem verbannten Ovid, von dessen Tod sich in Rom ein Gerücht verbreitet, und nach seinen Metamorphosen. Im zweiten Kapitel des Werks entfaltet sich die Erzählung über die »eiserne Stadt« in einer verflochtenen narrativen Struktur, die mit der Reduktion des ovidischen plots einhergeht. Ransmayr erzählt die Geschichte von Ceyx und Alcyone und lässt die Figur des Morpheus aus, wobei das Motiv des Traums wie im ganzen Roman auch hier eine wichtige Rolle spielt (Harzer 2000, 184). Im Mittelpunkt des Kapitels steht der Auftritt des Filmvorführers Cyparis, eines Kleinwüchsigen, der jedes Jahr in die Stadt kommt. Als Strukturprinzip des Kapitels dient der Rhythmus der Erzählsequenzen, d. h. die Wechsel zwischen der Wiedergabe des Films und dem Bericht über das Publikum. Diese werden zum großen Teil aufeinanderfolgend aufgeführt, wobei die zwei Ebenen an einigen Stellen ineinander gerückt sind. Die Narration ist als eine mehrfache Metalepse gestaltet, in der die Grenzen zwischen Traum, Film und Text überschritten werden. Es gehört zum Spiel mit den fiktionalen Ebenen, dass alle Namen, sowohl die der Filmfiguren als auch die der Einwohner von Tomis, den Metamorphosen entnommen sind (vgl. Vollstedt 1998, 46; Ziolkowski 2005, 183).

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_59

59  Kältelehren: Ceyx und Alcyone

Das Verhältnis von Traum und Wirklichkeit ist im Roman anders gestaltet als im ovidischen Vorbild. Alcyones Traum ist proleptisch: Bevor Ceyx losfährt, sehen die Zuschauer den schlafenden Mann und seine Frau, die »allein mit den Bildern ihrer Angst« bleibt (31). Der ovidische Seesturm wird durch diese Bilder dargestellt und auf die Leinwand projiziert, bevor Alcyone aufwacht; der Text gibt keinen Hinweis darauf, an welchem Punkt die inneren Bilder in Traumbilder übergegangen sind. Als eine Art Supplement zur ovidischen Erzählung erscheinen bei Ransmayr plastische Bilder über die Unordnung im »Hofstaat«, dessen Herr im Begriff ist loszufahren. Obwohl Ceyx noch in seinem Palast ist, verhält sich das Gesinde so, als wäre er schon längst abwesend. Nachdem Ceyx aufgebrochen ist, folgen die Ereignisse den Traumbildern. Die Grenzen von Geträumtem und Erlebtem sind unscharf. Am dritten Tag etwa, lesen wir, »erhob sich der Sturm aus dem Traum« (33), wobei die Mehrdeutigkeit von »aus« die Komplexität des fiktionalen Spiels weiter erhöht. Alcyone, die ihren eigenen Träumen nicht glaubt, geht dreimal am Tag die Küste entlang. Als ein brutales Gegenbild des Besuchs des Morpheus in den Metamorphosen kommt bei Ransmayr eine spanische Galeere mit fünf Schiffbrüchigen im Hafen an. Alcyone meint, in dem einen Schiffbrüchigen Ceyx wiederzuerkennen. Nachdem sie ihn aber berührt und sein Stöhnen gehört hat, versteht sie, dass sie nicht das Antlitz ihres Mannes, sondern das des Todes sieht. Danach bleibt sie dem Meer nahe in der Hoffnung, mindestens Ceyx’ Leichnam wiederzusehen. Dies passiert in einem metaleptischen Moment, in dem zuerst die Zuschauer den Toten erblicken und erst danach auch die Protagonistin, »[a]ls ob Proserpinas Entsetzensschrei sie aufgeschreckt hätte« (38). Die Verwandlung erzählt Ransmayr auch in einer Engführung vom Medium des Films mit der Perspektive des Publikums; hier spielen Plötzlichkeit und Auslassung eine wichtige Rolle. Die Entstehung der Vögel vollzieht sich in der Opposition von Ekel vor der physischen Realität der Leiche mit der optischen Schönheit der neuen Lebewesen. Obwohl das Wetter sich in Tomis am Abend der Filmaufführung seltsam

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mild zeigt, wird es am Ende rasch kalt, wie es im Film auch Winter wurde: das passende Klima für die Genesis der Eisvögel. Literatur

Assmann, Aleida: Einführung in die Kulturwissenschaft. Berlin 42017. Braun, Edmund Wilhelm: Ceyx und Alcyone. In: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, Bd. III. (1952), 403– 405. Casali, Sergio: Ovidian Intertextuality in Ariosto’s Orlando Furioso. In: John F. Miller/Carole E. Newlands (Hrsg.): A Handbook to the Reception of Ovid. Chichester [u. a.] 2014, 306–323. Ellis, Steve: Four Quartets. In: Jason Harding (Hrsg.): The New Cambridge Companion to T. S. Eliot. Cambridge 2017. Fantham, Elaine: Ovid’s Ceyx and Alcyone. The Metamorphosis of a Myth. In: Phoenix 33 (1979), 330–345. Fröhlich, Monica: Literarische Strategien der Entsubjektivierung. Das Verschwinden des Subjekts als Provokation des Lesers in Christoph Ransmayrs Erzählwerk. Würzburg 2001. Gehlhoff, Esther Felicitas: Wirklichkeit hat ihren eigenen Ort. Lesarten und Aspekte zum Verständnis des Romans Die letzte Welt von Christoph Ransmayr. Paderborn 1999. Hardie, Philip: Ovid’s Poetics of Illusion. Cambridge 2002. Harzer, Friedmann: Erzählte Verwandlung. Eine Poetik epischer Metamorphosen (Ovid –Kafka – Ransmayr). Tübingen 2000. Hay, Eloise Knapp: Eliot’s Negative Way. Cambridge, Mass./ London 1982. Hopkins, David: Dryden and Ovid’s ›Wit out of Season‹. In: Charles Martindale (Hrsg.): Ovid Renewed. Ovidian Influences on Literature and Art from the Middle Ages to the Twentieth Century. Cambridge 1988, 167–190, 276– 279. Kiel, Martin: NEXUS. Postmoderne Mythenbilder. Vexierbilder zwischen Spiel und Erkentniss mit einem Kommentar zu Christoph Ransmayrs ›Die letzte Welt‹. Frankfurt a. M. 1996. Tarantino, Elisabetta: Morpheus, Leander, and Ariel. In: The Review of English Studies 48, (1997), 489–498. Vollstedt, Barbara: Ovids ›Metamorphoses‹, ›Tristia‹ und ›Epistulae ex Ponto‹ in Christoph Ransmayrs Roman ›Die letzte Welt‹. Paderborn 1998. Ziolkowski, Theodore: Ovid and the Moderns. Ithaca 2005.

Eszter Korompay / József Krupp

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VI Rezeption – D Einzelmythen und Mythengruppen

60 Schwere Geburten: Danaë und Semele 60.1 Motivbeschreibung und Analyse Schicksalhafte Geburten unter besonderen, erschwerten Bedingungen, die Götter oder Helden hervorbringen, lassen erkennen, wie sich Verheißungen und Götterwillen oftmals über Wahrscheinlichkeit und natürliche Bestimmung hinwegsetzen. Ovid stiftet etwa eine Beziehung, die die genealogisch ohnehin verwandten Kinder des Zeus, Perseus und Bacchus, ihrem Schicksal und den Bedingungen ihrer Geburt nach aneinanderbindet. Obwohl die Zweifachgeburt des Bacchus im dritten Buch der Metamorphosen (met. 3, 253–315) von der beiläufigen Erwähnung der wundersamen Schwangerschaft der Danaë im vierten (met. 4, 604–5, 249) im Text voneinander getrennt sind, knüpft Ovid ein Band zwischen beiden Vorfällen, indem er Acrisius, den König von Argos, als widerwilligen Zeugen und ungläubigen Ahnen einführt. Er ist ebenso der Großvater des Perseus, welcher das Kind Danaës und Jupiters ist, der sich als Goldregen Zugang zu ihrem vom Vater eingerichteten Kerker verschaffen konnte, wie auch ein – wenn auch entfernter – Onkel des Bacchus, der ebenfalls der Sohn Jupiters ist und dessen Mutter Semele durch Junos Intrige noch vor der Geburt durch den Blitz des Göttervaters starb. Acrisius’ ausdrücklicher Unglauben, der die mythische Erzählung, die Ovid aufgreift, verleugnet, bewahrheitet sich exemplarisch an ihm selbst, und so wird er in später Einsicht eines Besseren belehrt. Durch die intratextuelle Parallelisierung beglaubigen die Metamorphosen das zweifelhafte Geschehen, und das, obwohl der Dichter selbst anzeigt, wie schwer es ihm fällt, an die Zweifachgeburt des Bacchus zu glauben (met. 3, 311: si credere dignum est; »wenn das glaubwürdig ist«). Acrisius, der zur Familie von Bacchus und von Perseus gehört, zweifelt die Rechtmäßigkeit und Götterabstammung des jungen Weingotts und seines Enkels, des Bezwingers der Medusa, an. Die erschwerten Bedingungen der Geburt werden von der erschwerten Bedingung der Rezeption der Erzählungen und Genealogien konterkariert, und der Leser erkennt seine eigenen Zweifel am unglaublichen Geschehen im Starrsinn des ungläubigen Königs wieder. Acrisius wird schließlich vom Mythos selbst widerlegt, indem er – im Fortgang des Narrativs, das Ovid nur anschneidet, und entsprechend der Prophezeiung, die erst zur schweren Geburt geführt hat – von

Perseus’ Hand sterben wird. So überkommt die Wahrheit des Mythos gerade den, der sie infrage stellt, und bringt ihn zu später Reue – mox tamen Acrisium (tanta est praesentia veri)/tam violasse deum quam non agnosse nepotem paenitet [...] (met. 4, 612–614; »bald aber reut es Akrisius – so groß ist die Macht der Wahrheit – gleichermaßen, daß er den Gott beleidigt und den eigenen Enkel nicht angenommen hat«).

60.2 Rezeption des Semele-Mythos Die textüberspannende Bedeutung der Semele-Erzählung erfährt in ihrer christlich bereinigten Auslegung eine ausführliche Aufnahme bei Dante. Die Göttliche Komödie deutet das Geschehen der Metamorphosen in neuem Licht. In der Annäherung an die verstorbene Geliebte vermeidet diese, den fatalen Fehler Jupiters zu wiederholen, und vergleicht nicht sich selbst, sondern den sie bewundernden Dichter mit Semele in der Form einer Warnung (Alighieri 2011, Bd. 3, Canto XXI, 4–12, 460–461): »E quelle non ridea; ma ›S’io ridessi‹, mi cominiciò, ›tu ti faresti quale fu Semelè quando di cener fessi; chè la bellezza mia, che per le scale dell’etterno palazzo più s’accende, com’ hai veduto, quanto più si sale, se non si temperasse, tanto splende, che’l tuo mortal podere, al suo fulgore, sarebbe fronda che torno scoscende.‹« (»Sie jedoch lächelte nicht mehr. Sie sagte vielmehr: ›Wenn ich noch weiter lächelte, dann würde des dir ergehen wie Semele, als sie zu Asche wurde. Denn meine Schönheit, die auf den Stufen des ewigen Palastes – du hast es wahrgenommen – umso mehr erstrahlt, je höher wir gelangen, sie würde, wenn man sie nicht dämpfte, solchen Glanz annehmen, dass deine sterbliche Kraft vor ihrem Leuchten wer wie ein Ast, den der Blitz abschlägt.‹«)

Die Darstellung Dantes tendiert zur Überbietung der Szene bei Ovid, und die von Beatrice in direkter Rede gestiftete Analogie zwischen dem Dichter und der mythischen Semele dient vor allem zum Ausweis der Überlegenheit der hier wirkenden göttlichen Gewalt vor derjenigen der Metamorphosen. Was Semeles Unheil nach sich zieht, ist ihre von Juno angestiftete Neugier, und was ihr zum Verhängnis wird, ist die tragi-

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60  Schwere Geburten: Danaë und Semele

sche Eidestreue Jupiters sowie seine Unfähigkeit, seine Kräfte zu zügeln – Ovid hebt seinen erfolglosen Versuch hervor (met. 3, 302–305: qua tamen usque potest, vires sibi demere temptat / nec, quo centimanum deiecerat igne Typhoea, / nunc armatur eo: nimium feritatis in illo est; »doch so viel er vermag, sucht er seine Kräfte zu mindern und bewaffnet sich jetzt nicht mit dem Feuer, womit er einst den hundertarmigen Typhoeus traf: Zu viel Gewalt [d. h. Wildheit] liegt in ihm;« vgl. zu dieser Differenz Brownlee 1986, 148). Dantes Beatrice hingegen weiß um ihre unerträgliche Kraft, und sie kommt möglichen Bitten und Schwüren zuvor. Zudem vermag sie es, die Schönheit ihrer Erscheinung zu mäßigen (temperasse) und ein Lächeln zu verweigern, das denselben Effekt hätte wie der Blitz des Göttervaters. So wird auch die Liebesbeziehung in der Göttlichen Komödie von den anzüglichen Momenten befreit – an die Stelle der amplexus, um die Semele bittet, ist im christlichen Jenseits der bloße Blick getreten. In dieser Umdeutung wird die Rolle Semeles als Betrogener und Opfer ihres eigenen Wunsches von der Geburt des Weingottes isoliert. Diese gilt aber in den Metamorphosen als vorrangiger Grund für Junos Eifersucht – vor allem Semeles Nachkommenschaft ist der Auslöser für die Verstellung und die mörderische Intrige der Göttin (met. 3, 266–270: [...] at, puto, furto est / contenta, et thalami brevis est iniuria nostri: / concipit! id deerat! manifestaque crimina pleno/ fert utero et mater, quod vix mihi contigit, uno / de Love vult fieri; »dachte ich doch, sie würde sich mit einem Fehltritt begnügen, und nur von kurzer Dauer würde diese Schmach meines Ehebetts sein! Doch sie wird schwanger! Das fehlte noch! Mit dem schwellenden Leib zeigt sie deutlich die Schandtat, und Mutter – was kaum mir selbst widerfahren ist – will sie nur von Jupiter werden!«). Da die Darstellung Ovids für den weiteren Textverlauf in Buch 3 auf die Schilderung des neuen Gottes drängt, steht die Erzählung weniger für sich als für die Genealogie Bacchus’. Die auf die Konfrontation Semeles mit Jupiter und auf den verhängnisvollen Schwur verkürzte Form des Motivs setzt sich in den darstellenden Künsten fort. Schillers Opernlibretto Semele (1782; Schiller 1966) versetzt die tragische Wendung in die Form einer gesteigerten Intrige: für ihn ist die Pointe, dass sich die Neugierde Semeles erst an Junos trügerischem Zuspruch in der Gestalt Beroes entwickelt, zentral (vgl. auch Osterle 2005). Schiller betont vor allem dieses Moment als die Forderung an den Gott nach den unerträglichen »Attributen seiner Erkennbarkeit« (Blumenberg 2017, 262). Erst am Donner, den Semele von

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ihm erbitten soll, könne sie erkennen, ob es sich bei ihrem Geliebten überhaupt um den Göttervater handle oder ob sie nicht hierin schon einem Trug zum Opfer gefallen sei. Diese über Ovid hinausgehende Wendung vermehrt die List Junos, die durch die falschen Zweifel doppelt täuscht – bei Ovid war vorrangig von der Eifersucht die Rede, die Juno in Semele erweckt. Die Zuspitzung der Szene erfolgt von der – dramatisch dynamisierten – Wechselrede beim Schwur, die Schiller nutzt, um Jupiter erfolglos Semele unterbrechen zu lassen, bevor ihre Bitte ausgesprochen ist; in der Einsicht in sein und ihr Verhängnis verleiht Schillers Zeus/Jupiter der Paradoxie der Eidstreue deutlichen Ausdruck (Schiller 1966, 549–550): »Den Himmel gäb’ ich drum, hätt’ ich dich minder nur / Geliebt!«. Das Stück endet allerdings in dieser Einsicht der Ausweglosigkeit und damit noch vor der Zweitgeburt des Bacchus mit dem Auftritt des Merkur und Jupiters Revision der bisher im Liebesglück gespendeten Wohltaten an die Menschheit: »Glücklich soll niemand seyn! Sie stirbt!« (ebd., 574–575). In ähnlicher Weise wird in Händels Oratorium Semele (1744; Congreve 2013) der Stoff aufgegriffen, um den Tod der Protagonistin ans Ende des Stücks zu setzen – die späte oder zweifache Geburt von Bacchus scheint sich der Inszenierung zu verweigern und wird lediglich am Ende des Stückes vom Schlusschor, der Bacchus’ Lob singt, angedeutet. Apollo verkündet in Abwandlung zu Ovids Kniegeburt, dass aus der Asche Semeles ein Phönix entstehe, der zum Gott bestimmt sei. Bei Richard Wagner schließlich wird das Motiv gänzlich von der mythischen Erzählung entkleidet, auch wenn er die Konstellation von übermächtigem göttlichem Wesen und durch Intrigen zum fatalen Wunsch überredeten Frau im Lohengrin aufgegriffen zu haben scheint (vgl. Solomon 2014, 380). Ähnlich verfährt auch die bildende Kunst mit dem Motiv. In Rubens’ Bearbeitung im Tod der Semele (vor 1640) wird vor allem die Verbindung von Gewalt und Erotik eingefangen, die im Moment des erbetenen Blitzes liegt. Ob die Positionierung des Knies Jupiters in der Bildmitte eine Hindeutung auf die Zweitgeburt Bacchus’ sein könnte, bleibt unentschieden. Gustave Moreaus Bezugnahme auf Mythos und Motiv in Jupiter et Sémélé (1894–1895) versetzt die Szene in einen nochmals gesteigerten Kontrast von Gott und Mensch. Er inszeniert ihren Tod in einer orientalisierten Traumwelt, in der ein übergroßer Jupiter nachgerade unbeteiligt bleibt, während Semele – in gespiegelter Körperhaltung zum Bild Rubens’ – auf seinem Schoß verstirbt.

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VI Rezeption – D Einzelmythen und Mythengruppen

60.3 Rezeption des Danaë-Mythos Im Mythos des Perseus ist es weniger die Geburt als die Zeugung, die Ovid als wundersamen Vorgang beschreibt, und doch wird in den Metamorphosen eine Familienähnlichkeit der beiden Szenen und damit der Mythen von Danaë und Semele entwickelt. Jupiter gelingt es mit Hilfe von Aphrodite, die Vorsichtmaßnamen des Acrisius zu umgehen, wenn er als Goldregen unbemerkt in Danaës Verlies einzudringen weiß. Ovid nutzt dieses genealogische Motiv selbst nur andeutungsweise, wohl unter Rekurs auf die Darstellung bei Horaz (carm. 3, 16), und stützt sich in ähnlich verkürzter Weise auch andernorts auf das bekannte Mythologem (bspw. in der Ars amatoria 3, 415–416, und 631–634). Die Rezeption dieser Szene im christlichen Diskurs weist eine erstaunliche Ambivalenz auf, die dem Motiv in widersprechender Tendenz Bedeutung zukommen lässt. Der göttliche Ehebruch wird vor allem Anlass zu moralischem Anstoß – Augustinus greift sowohl in den Confessiones (1, 16– 17) als auch im Gottesstaat (2, 7) die von Terenz im Eunuchus eingeführte Wendung des verführenden bildlichen Charakters der Szene in der Verdammung heidnischer Überlieferung wieder auf. Nicht nur im Mythos selbst, sondern auch in dessen Fortführung in Rezeption und Überlieferung liegt Gefahrenpotential – Terenz’ Held beruft sich auf die malerische Darstellung Jupiters als Goldregen, um seinen eigenen sexuellen Übergriff auf eine Bürgertochter zu legitimieren (Terentius 1999). Darstellungen der Szene lassen sich bis auf 450 v. Chr. zurückdatieren, und bei Martial (14, 175) wird die Popularität des Motivs in der römischen Malerei belegt, auf die Augustinus explizit eingeht (Confessiones 1, 16, 26; vgl. Grafton 2010, 250). Dass Gold auf Prostitution anspielt, übernimmt Ovid aus Horaz (carm. 3, 16) und überführt die göttliche Intervention so ins Monetäre. In der Auslegungstradition des Ovide moralisé (Buch 4, 5490–5636) werden zwei Deutungsmodelle gleichberechtigt nebeneinandergestellt; Danaë wird zur Präfiguration der unbefleckten Empfängnis und zugleich zum Modell menschlicher – und insbesondere weiblicher – Sündhaftigkeit. Die Allegorese erfolgt in zwei Stufen, deren erste die Prostitution geißelt, während die zweite das Narrativ in größerem Zusammenhang zur Geburt Christi ins Verhältnis setzt. Die Analogie zwischen Perseus und Christus trägt selbstverständlich nicht sehr weit – der weltliche Held der griechischen und paganen Antike kann nur der anhand der erschwerten Geburtsumstände mit dem Got-

tessohn verglichen werden. Der Autor erkennt aber vor allem im Starrsinn des Acrisius eine willkommene Präfiguration; so wie er, als Feind von Mutter und Kind der schweren Geburt, den rechtmäßigen Sohn des Jupiter und damit auch die unausweichliche Prophezeiung anzweifelt, habe das Judentum Jesus als wahren Gottessohn verkannt. Neben der Zweiwertigkeit des Motivs, das Danaë zwischen Hure und Heiliger changieren lässt, vollzieht die Auslegung so noch einen weiteren Schritt, der der Abwertung des jüdischen Glaubens dient. Die mythische Prophezeiung des Schicksals des Perseus als Überwinder seines Großvaters, auf die Ovid ironisch anspielt, wird so für eine antijudaistische und christliche Agenda nutzbar gemacht. Besonders wirkmächtig greift Boccaccio diese Auslegungstradition wieder auf (Genealogia Deorum Gentilium 2, 32–33; Boccaccio 1951, 92–94). Jupiter habe ohne Wunderwerke, dafür mit Gold Danaës Gunst erworben und ihre Wache bestochen; gleichwohl verdammt Boccaccio in Einklang mit Theodontius, auf den er seine Einschätzung stützt, gleichwohl ihre Lasterhaftigkeit und ihre Gier. Parallel dazu bietet er aber auch die Allegorese Danaës als Mutter Gottes an, die als Jungfrau von ebendiesem geliebt wird. In der bildenden Kunst der Frühen Neuzeit wird diese ambivalente Lesart weniger moralisierend als erotisierend aufgegriffen – während Jan Mabuse seine Danaë (1527) in deutlicher Parallele zur Maria der Verkündigung darstellt, wird vor allem bei Tizian die Szene als intimer Akt verstanden. Tizian, der gleich in fünf Fassungen das Motiv einfängt, entkleidet den Goldregen seiner bildlich-göttlichen Dimension und übersetzt Ovids Anspielung mit buchstäblichen Münzen, die vom oberen Bildrand auf die nackte Danaë herunterregnen. Nach der ersten Fassung (Neapel, 1544–1546), in der er der Mythenheldin einen Amor an der rechten Bildseite zugesellt, wird dieser in der Folge von einer älteren Dienerin ersetzt, die mit Gefäßen oder Tüchern die herunterfallenden Münzen einfängt – eine Version des Ensembles, die weder bei Ovid noch bei anderen römischen Autoren belegt ist, aber sichtlich auf die Bestechlichkeit der Dienerschaft und die Anspielung auf Prostitution rekurriert. Literatur

Alighieri, Dante: La commedia. In Prosa übers. und komm. von Hartmut Köhler. 3 Bde. Stuttgart 2011. Augustinus, Aurelius: Civitate Dei / The city of God against the Pagans. 7 Bde. Cambridge 1957–1968. Augustinus, Aurelius: Confessiones lateinisch – deutsch. Übers. von Wilhelm Thimme Düsseldorf 2004.

60  Schwere Geburten: Danaë und Semele Boccaccio, Giovanni: Genealogie deorum gentilium libri, 2 Bde. Bari 1951. Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos. Frankfurt a. M. 2017. Brownlee, Kevin: Ovid’s Semele and Dante’s Metamorphosis: Paradiso XXI–XXIII. In: MLN 101/1 (1986), 147–156. Congreve, William: Semele: An Opera by William Congreve with the Alterations Adopted by Handel, as Performed at the New Theatre, Cambridge, 10–14 February 1925. Cambridge 2013. Grafton, Anthony (Hrsg.): The Classical Tradition. Cambridge 2010. Horatius, Q. Flaccus: Carmina. Hrsg. von Franz Burger. München 1927. Martialis, Marcus Valerius: Epigramme lateinisch – deutsch.

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(Hrsg.) von Paul Barié und Winfried Schindler. Berlin 2013. Osterle, Günter: Exaltationen der Natur. Friedrich Schillers Semele als Poetik tödlicher Ekstase. In: Georg Braungart (Hrsg.): Schillers Natur: Leben, Denken und literarisches Schaffen. Hamburg 2005, 209–220. Schiller, Friedrich: Semele. In: Schiller. Werke in 5 Bänden. Bd. 1. München 1966, 177–194. Solomon, Jon: The Influence of Ovid in Opera. In: John F. Miller/Carole E. Newlands (Hrsg.): A Handbook to the Reception of Ovid. Chinchester 2014, 371–385. Terentius, Publius: Eunuchus. Hrsg. von John Barsby. Cambridge 1999.

Simon Godart

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VI Rezeption – D Einzelmythen und Mythengruppen

61 Europa und die Folgen 61.1 Europäische Erzählungen »Wo ist Europa?«, so möchte wohl mancher Europäer in seiner Verzweiflung angesichts des drohenden Zusammenbruchs eines ehemals vielversprechenden Staatenbundes im 21. Jahrhundert ausrufen. Aber vielleicht (und hoffentlich) lässt sich ja auch das zeitaktuelle Kapitel von Europas Geschichte als Form der Identitätssuche lesen, die Julia Kristeva in einem ZeitInterview als Movens der europäischen Kultur profilierte (Thadden 2014). Die etymologische Herkunft Europas ist bis heute nicht eindeutig geklärt. Und bereits in der Antike hatte es Europa nicht ganz leicht: Es herrschte Uneinigkeit darüber, ob der Name des Kontinents Europa überhaupt mit dem Namen der phönizischen Prinzessin zusammenhängt. Gleichwohl gibt es doch »hinreichend sichtbare Berührungspunkte des Europa und der Europa: eines geographischen Begriffs, dem mutatis mutandis wechselnde räumliche Erfahrungen und Auffassungen [...] eingeschrieben sind, und einer mythischen Frauenfigur, deren Familiengeschichte einen Raum beschreibt, in dem sich Reisende zwischen den Polen Orient und Okzident, Norden und Süden hin- und herbewegen und auf mannigfache Weise äußere und innere Grenzen ziehen, überschreiten und verlagern« (Renger 2003, 15; s. Kap. 85). In einer Miniatur aus der Lyoneser Handschrift des Ovide moralisé aus dem zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts übersteigt Europa auf ihrer Reise gar die Grenzen des Weltlichen: Der Stier wird zum Bild für Christus, der die in Europa versinnbildlichte Seele – eine im Zeitgeschmack gekleidete junge Frau, deren leicht gewelltes Haar im Winde weht – zu einem nicht dargestellten Ziel bringt: In den Rezeptionen des 16. Jahrhunderts steht Europa als erotische Figur im Vordergrund von Verführungsgeschichten: So gestaltet Tizian seinen Raub der Europa (1559/62) als eine Geschichte erotischer Verzückung: Wir sehen Europa mit ekstatisch verdrehtem Blick, im Himmel schweben Amoretten. Ob Europas Körperhaltung als Ausdruck von Laszivität oder als Zeugnis einer gewaltsamen Entführung gelesen werden soll, bleibt indes unklar. Die ausgestreckte Hand der einen Amorette könnte jedenfalls auch als eine Geste der Verzweiflung angesichts der Entführung Europas interpretiert werden.

61.2 Ovids Europa: Traditionsbildung zwischen Ikonisierung und Gewalt Migration, Tradition, Verführung und Gewalt. All dies finden wir bereits in Ovids Erzählung von Europa (met. 2, 833–875, fast. 5, 603–620). Die phönizische Prinzessin reitet auf dem Rücken des schönen Stiers alias Jupiter nach Kreta (met. 2, 868–3, 2). Sie wird Mutter des Minos, des mythischen Begründers der minoischen Kultur (met. 8, 120). Auf der Suche nach ihr gründet ihr Bruder Kadmos das für die antike Kultur bedeutende Theben (met. 3, 1–137). Ihre Geschichte wird Teil des von Arachne gewebten Kunstwerks (met. 6, 103–107) und ihr Name Kontinent (met. 5, 648). Man kann die Geschichte jedoch auch anders erzählen: Ein junges Mädchen wird aus dem Kreise ihrer Gefährtinnen entführt und tritt nie mehr wirklich in Erscheinung. Es wird, so wird erzählt, erzwungenermaßen Mutter, ihr Name Kontinent, das Kunstwerk, das ihre Entführung zeigt, wird zerstört. Ovid erzählt beide Geschichten, gleichzeitig und in nuce, am Ende des zweiten Buches der Metamorphosen: Wie in einem filmischen (Happy) End sehen wir Europa, wie sie in nonchalanter Haltung von Jupiter in Stiergestalt durch die Wellen getragen wird, ihr Kleid flattert im Wind. Doch im wörtlichen Sinne flattert das Kleid nicht, es zittert (875: tremulae): Europa hat Angst (873: pavet); sie ist Beute (873: praedam), Entführte (873: ablata), deren Blick den zurückgelassenen Küstenstreifen fixiert (873–874: relictum/ respicit). Ovid hat die gewaltsame Trennung bis in die Syntax der Verse hinein gestaltet; und Europa gleichzeitig zur Ikone gemacht. Mit ihrer Verbildlichung ist Europas Text zu Ende: Es nimmt vor diesem Hintergrund nicht wunder, dass bei einem Autor, der die wirkmächtige Metapher Text = Körper in unheimlicher Weise ernst nimmt, das zweite Buch an dieser Stelle auch wirklich endet: Der Leser ›springt‹ in mimetischer Manier mit dem göttlichen Stier in das dritte Buch, in dem Minos gezeugt und Theben gegründet wird. Ovid inszeniert Tradition in ihrem Bruch, der paradoxerweise ihr eigentlicher Anfang ist. Melanie Möller hat die Zersplitterung der Sage um Europa als konstitutiv für die ovidische Erzähltechnik beschrieben (2016, 5). In eben dieser Zersplitterung antizipiert Ovid die europäische Tradition in ihrer Diskontinuität: Gerade ein Buch, in dem sich Verwandlung an Verwandlung reiht, wurde zum wirkmächtigsten Werk innerhalb der europäischen Tradition. In der Engführung von Gewalt und ästhetischer Ikonisierung legt der Mythos zudem ein beunruhigendes Fundament europäischen Traditionsverständnisses frei.

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_61

61  Europa und die Folgen

61.3 Von Asien nach Europa Die in japanischer und deutscher Sprache publizierende Schriftstellerin Yoko Tawada gestaltet Europa als geographische und biographische »Verlust-Figur«: In ihrem Essay »Eigentlich darf man es niemandem sagen, aber Europa gibt es nicht« (1996) formuliert sie die tiefgreifende Einsicht, »daß Europa bereits im Ursprung als eine Verlust-Figur erfunden wurde« (ebd., 49). Tawadas Lektüre der Metamorphosen ist auf Ovids Konzeption von Verwandlung fokussiert, wie folgender Ausschnitt aus den Tübinger Poetik-Vorlesungen illustrieren kann: »Die Verwandlungsgeschichten in den ›Metamorphosen‹ mögen für die Augen der Realisten märchenhaft, fiktiv, phantastisch im Sinne von unrealistisch wirken. Aber das Buch der ›Metamorphosen‹ macht nur darauf aufmerksam, dass die Definitionen fiktiv sind« (Tawada 2018, 50). Um eben derartige fiktive Definitionen bzw. deren Aufhebung kreist Tawadas Erzählung Wo Europa anfängt: Ein junges Mädchen reist zunächst per Schiff, dann mit der Transsibirischen Eisenbahn von Japan nach Europa, ihr Ziel ist Moskau. Doch die Grenzziehung erweist sich als problematisch: »Europa fängt nicht erst in Moskau an [...]. Ich blickte aus dem Fenster und sah ein mannshohes Schild, auf dem zwei Pfeile gezeichnet waren und darunter jeweils die Worte ›Europa‹ und ›Asien‹« (ebd., 82–83). Erst als die Protagonistin in den ersten europäischen Apfel beißt, kann sie sagen: »Ich bemerkte, daß ich mitten in Europa stand« (ebd., 87). Tawada ist daran gelegen, wie Monika Schmitz-Emans bemerkt, »die ungreifbare Europa, diese ›Verlust-Figur‹, zumindest transitorisch an Körperliches zu binden« (2009, 320). Und man kommt auch nicht umhin, das junge Mädchen selbst als neue Europa zu lesen, die ihre Geschichte aber noch vor sich hat.

61.4 Von der Alten in die Neue Welt In den 1613/14 entstandenen Soledades Góngoras, die auf ihre Weise einen weiteren Weg nach Westen, den Aufbruch in die Neue Welt reflektieren, bildet der Europa-Mythos den Anfang, der aber auch hier einen Bruch thematisiert: Das Sternbild des Stiers prangt am Himmel, als ein Jüngling, der aufgrund einer unglücklichen Liebe auf Reisen gegangen ist, Schiffbruch erleidet und, darin ein zweiter Arion, sein Leid den Meereswellen klagt. Die von Ovid in den Fasten gestaltete Verknüpfung von Mythos und Sternbild stellt wohl den Hintergrund der Zeitangabe dar. Das Stern-

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zeichen des Stiers bestimmt in seinem Glanz den poetischen Raum, und doch ist es auch hier Europa als Verlustfigur, als eine, die das Entscheidende verloren hat, die in der Logik des Gedichts das mythische Pendant zu dem zweifach gescheiterten Jüngling bildet. Der Jüngling wird überdies mit der Figur des Ganymed verglichen, der wie die phönizische Prinzessin aufgrund seiner Schönheit Jupiters Begehren erregte und geraubt wurde. Die Konstellation aus Europa, dem Jüngling und Ganymed bildet einen Kontrapunkt zu dem strahlenden Sternbild des Gewinners. Gerhard Poppenberg liest den Anfang der Soledades als concepto (Denkbild), das sich aus den drei Komplexen »des Nautischen, des Erotischen [und] des Poetischen« (2009, 186) zusammensetzt. »Der Gehalt dieser Konstellation der drei Hauptmotive«, so Poppenberg, »[erweist sich] vom Anfang des Raubs der Europa an als die Frage nach dem Schicksal, der Bestimmung Europas: zwischen der Herkunft aus Asien, dem Ursprung im Orient, und der Zukunft aus Amerika, dem Fortgang im Okzident« (ebd., 188). Am Anfang der zweiten Soledad, die das Gedicht zur atlantischen Region hin öffnet, wird nun die Mündung eines Flusses in das Meer als erotisch konnotierter Stierkampf gestaltet: In der Gestaltung dieser Öffnung auf die atlantische Region hin wird die antike Bildwelt nur noch fragmentarisch und in der Überblendung zitiert: Der Göttervater kehrt als hörnertragender Neptun in fluider Gestalt wieder. Die Orientierung auf die Neue Welt zeitigt eine Metaphorik, »deren Wahrheitskriterium nicht einfach die Intelligibilität des Rationalen ist, sondern das Scharfsinnig-Pointierte des Ingeniösen« (ebd., 190). Und wo bleibt Europa? Vielleicht kann in einer Dichtung, deren Denkform als hyperbolisch bezeichnet werden kann (ebd., 193), die Urszene des Übertritts nur als Leerstelle präsent sein: Die Suche nach dem sich immer neu überbietenden Ziel kann keinen stabilen Ausgangsgrund haben und muss doch unentwegt um ihn kreisen. Literatur

Möller, Melanie: Einführung. Ovid und Europa. In: Dies.: Ovid. 100 Seiten. Stuttgart 2016. Poppenberg, Gerhard: Europas Weg nach Westen. Zu Góngoras Aufnahme des Europamythos in den Soledades. In: Almut-Barbara Renger/Roland Alexander Ißler (Hrsg.): Europa – Stier und Sternenkranz. Von der Union mit Zeus zum Staatenverbund. Bonn 2009, 183–195. Renger, Almut-Barbara (Hrsg.): Mythos Europa. Texte von Ovid bis Heiner Müller. Leipzig 2003, Vorwort, 12–16. Schmitz-Emans, Monika: Fließende Grenzen und rätselhafte Verwandlungen. Yoko Tawadas Visionen von Europa. In: Almut-Barbara Renger/Roland Alexander

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VI Rezeption – D Einzelmythen und Mythengruppen

Ißler (Hrsg.): Europa – Stier und Sternenkranz. Von der Union mit Zeus zum Staatenverbund. Bonn 2009, 319– 337. Tawada, Yoko: Wo Europa anfängt. Erzählung. In: Dies: Wo Europa anfängt. Tübingen 21995, 66–87. Tawada, Yoko: »Eigentlich darf man es niemandem sagen, aber Europa gibt es nicht«. In: Dies.: Talisman: literarische Essays. Tübingen 1996, 45–51.

Tawada, Yoko: Verwandlungen. Tübinger Poetik-Vorlesungen. Tübingen 2018 (Neuausgabe). Thadden, Elisabeth von: Europa, deine Mütter. Die Philosophin Julia Kristeva über eine Kultur, die von der ganzen Welt bewundert wird. In: DIE ZEIT (9. Januar 2014).

Joséphine Jacquier

62  Hercules und sein Tod

62 Hercules und sein Tod 62.1 Hercules in der Antike Um Ovids Auswahl des Hercules-Motivs für seine Metamorphosen verstehen zu können, muss zunächst ein Blick auf die wichtigsten Stationen der Darstellung dieses Stoffes vor Ovid geworfen werden: Der Facettenreichtum, der dieser mythischen Figur seit jeher eingeschrieben ist und der ihr sowohl Auftritte im Epos als auch in der Lyrik und Tragödie, ja sogar in komödienhaften Texten erlaubt, ist dabei symptomatisch für ihre breite Rezeption. Frühe Epen, irgendwo zwischen Orient und Homer, zeigen Hercules als kräftigen Helden, der die verschiedensten Aufgaben bewältigt (›Dodekathlos‹) und damit auch zu Kulturschöpfung beiträgt; hierbei ist Hercules schon immer Grenzgänger, der an die horizontalen (›Säulen des Hercules‹) sowie vertikalen Ränder der Welt (›Katabasis‹) gelangt. Eine bekannte römische Ausformung des muskulösen Abenteurers auf der Durchreise ist beispielsweise in der Aeneis anzutreffen, wo Vergil gerade mit dem präfigurativen Gehalt des Helden als AeneasTypus einen wichtigen Akzent für die weitere Rezeption (bei Ovid) setzt. Die für Ovid entscheidende Komponente des Hercules als Grenzgänger und Schwellenfigur, nun mit nach oben gerichteter Vertikale, gibt es spätestens seit Pindar, in dessen erster Nemeischer Ode Hercules in einem Ausblick auf seine nachmenschliche Existenz im Jenseits in göttliche Sphären rückt. Als Vorspann hierzu inszeniert der Tragiker Sophokles in seinen Trachinierinnen den Tod des Helden, doch noch ohne die sich anschließende Apotheose. An ebendieser Stelle schreibt Ovid weiter und nimmt Hercules’ letzte, transzendente Grenzüberschreitung als Anlass zur Aufnahme in seine Metamorphosen.

62.2 Hercules bei Ovid Schon der 9. Heroides-Brief (Deianira an Hercules) zeigt Ovids Interesse an den ›letzten Dingen‹ des Helden und bereitet die spätere Bearbeitung des Stoffes in den Metamorphosen vor. Deianiras Schreiben endet simultan mit der Nachricht von Hercules’ Tod, den sie selbst, wenn auch unwissend, mit der Übersendung eines giftgetränkten Gewandes provoziert hat. Die Vergöttlichung des Helden bleibt also aus, ist nur Prolepse und erneut Vorspann zu einer nachfolgenden Darstellung (epist. 9, 17: quod te laturum est, caelum

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prius ipse tulisti – »der Himmel, den du zuvor einmal selbst trugst, wird dich tragen«). Mit einer ähnlichen Ankündigung nimmt Ovid dieses Thema in den Metamorphosen wieder auf (met. 9, 17: nondum erat ille deus – »noch war er kein Gott«). Nach einer retardierenden Schilderung der wichtigsten Momente von Hercules’ Beziehung zu Deianira (met. 9, 1–157) kulminiert die Geschichte in der Verbrennung des Helden bei lebendigem Leib, sobald dieser Deianiras Giftgewand anlegt – nun mit dem lange erwarteten Schwenk auf den Helden selbst (met. 9, 157–175); dass Hercules noch kein Gott war, spürt der zum Zusehen und Zuhören gezwungene Leser an der detaillierten, pathologischen Beschreibung des verbrennenden Körpers (s. Kap. 30) (met. 9, 209: videres: »man hätte sehen können« und 9, 170– 171: cruor [...] stridit – »das Blut zischt«). Die Anklage der Götter in einer Art Theodizee-Ruf des Hercules (met. 9, 175–204) und die wutentbrannte Tötung des Überbringers des Gewandes (met. 9, 204–229) nutzt Ovid, um auch andere Komponenten des Helden, vornehmlich eine Zusammenfassung des Dodekathlos und seine Neigung zum Wahnsinn, immerhin kursorisch anzubringen. Hierauf baut sich Hercules seinen eignen Scheiterhaufen und gibt die Anweisung zur endgültigen Verbrennung (met. 9, 229–241); es folgt Jupiters Eingriff, der unter der Trennung des göttlichen vom irdischen Teil des Helden dessen Apotheose ankündigt (met. 9, 241–258). So kann Hercules’ Passion endlich im Aufstieg zum Himmel münden und seine Metamorphose vollzogen werden (met. 9, 263–272): [...] nec cognoscenda remansit Herculis effigies, nec quicquam ab imagine ductum matris habet, tantumque Iovis vestigia servat; [...] quem pater omnipotens [...] intulit astris. (»und nicht wiedererkennbar blieb die Gestalt des Hercules; nichts mehr vom Abbild der Mutter hat sie, nur Jupiters Züge behält sie; der allmächtige Vater setzte ihn unter die Sterne.«)

Dabei ist von Bedeutung, dass die Apotheose eine ganze Reihe von weiteren Vergöttlichungen im 14. und 15. Buch der Metamorphosen ankündigt (Aeneas, Romulus, Caesar, Augustus). Gerade die Formulierung der »erhabenen Würde« des Hercules (met. 9, 270: augusta [...] gravitate) lässt eine Brücke zu Augustus’ Gottwerdung schlagen. Analog zu Vergils Vorgehen verleiht Ovid also seinem Hercules präfigurative Kraft;

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_62

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VI Rezeption – D Einzelmythen und Mythengruppen

die Präfiguration, und dieser Punkt wird im Folgenden für Schiller und Hölderlin wichtig, erstreckt sich dabei zusätzlich auf den Metamorphosen-Dichter und sein Werk selbst. Wie im Falle des Hercules (met. 9, 269: parte sui meliore) bleibt auch des Dichters »besserer Teil« für die Nachwelt bestehen (met. 15, 875: parte tamen meliore mei).

62.3 Hercules nach Ovid Zwar ist die Apotheose, wie eingangs beschrieben, dem Hercules-Mythos schon lange Zeit inhärent, doch setzt Ovid mit der deutlichen Verschiebung des Akzentes vom irdischen auf den göttlichen Helden entscheidende Wegweiser für die Rezeption. Schon ein halbes Jahrhundert später formt Seneca mit seinem Hercules Oetaeus eine ganze Tragödie, deren Dramatik durchaus schon in Ovids Text angelegt war (s. erneut met. 9, 209: videres). Ovids Fokus auf Hercules’ Passion und Apotheose ist weiterhin prädestiniert dazu, den Helden in der Spätantike, dem Mittelalter und der Frühen Neuzeit als eine Präfiguration Christi zu rezipieren. Aber auch philosophische Traditionen, die in Hercules ein Symbol für stoische Leidensfähigkeit und ideale Tugend sehen und dies hauptsächlich auf die berühmte Szene des Hercules am Scheideweg zurückführen, wo sich dieser für ein beschwerliches, aber tugendreiches Leben entscheidet, sollten stärker auf Ovids Text hin und – abstrakt betrachtet – auf die dortige ›Idealwerdung‹ des Hercules (durchaus im platonischen Sinne) gelesen werden (s. erneut: met. 9, 269: parte sui meliore). Beispiel für eine derartige Lektüre kann Schillers Bearbeitung des ovidischen Stoffes sein.

62.4 Friedrich Schiller: Das Reich der Schatten (später: Das Ideal und das Leben) Auf der Suche nach der Idealität im irdischen Leben konstatiert Schiller einen nötigen Übergang des Menschen von reiner Körperlichkeit zur abstrakten Gedankenwelt. Die Formulierung der Flucht »In der Schönheit Schattenreich« (V. 40) klingt dabei wie Platons Ideenwelt (vgl. auch u. a. V. 17–18; 105–106; 111–113; 131– 132). Dichotomisch oszilliert das Gedicht zwischen irdischer Vergänglichkeit und der Eskapade in das Reich der Phantasie und findet in den letzten beiden Strophen in Hercules das Symbol dieser Dopplung. Wie bei Ovid dient der kurze Aufruf des Dodekathlos

der Kennzeichnung des irdischen Hercules (vgl. V. 161–170), von dem im Laufe der Apotheose – ganz in ovidischer Manier (vgl. erneut: met. 9, 264: effigies, imago) – nur ein »Traumbild« zurückbleibt, während die platonische Seele gen Himmel strebt (V. 171–180): »Biß der Gott, des Irrdischen entkleidet, Flammend sich vom Menschen scheidet, Und des Aethers leichte Lüfte trinkt. Froh des neuen ungewohnten Schwebens Fließt er aufwärts, und des Erdenlebens Schweres Traumbild sinkt und sinkt und sinkt. [...]«

Einige Interpreten des 20. und 21. Jahrhunderts machen das Gedicht zu einer Reflexion Schillers über die eigene Dichtung (u. a. Habel 1971 und Barone 2006), die als moderne, »sentimentale« die antike, »naive« Dichtung übertreffen soll (vgl. Barone 2006, 126). Diese (wohl von Ovid initiierte) Engführung der Apotheose des Hercules und der Dichtung zeigt, dass die Rezeption keineswegs auf die reine Weiterverarbeitung von Motiven des Hercules-Stoffes beschränkt ist, sondern werkästhetische sowie metapoetische Aspekte miteinbezieht. Diese Engführung wird noch deutlicher, wenn bei Hölderlin der Dichter selbst hinzutritt.

62.5 Friedrich Hölderlin: An Herkules Das Ich des Gedichtes preist Hercules als sein lebenslanges Vorbild, dem es seine autonome, irdische Reife zu verdanken habe (vgl. 3–5). Durch ihn vermag der Sprecher, schon als Mensch die Bewegungsrichtung des Vergöttlichten, nämlich »himmelan« (V. 40; vgl. V. 12–16; 20; 35–36), – zumindest bildhaft und abstrakt – nachzumachen. Das Vokabular der ovidischen Verbrennungsszene durchwirkt das ganze Gedicht als metaphorischer Feuereifer (vgl. V. 7; 10; 15; 22–24) und versinnbildlicht, dass der Dichter, sieht man ihn im Ich des Textes verkörpert, bereits zu Lebzeiten – mit Ovid und Schiller gesprochen – steigt und steigt und steigt (V. 41–48): »Sohn Kronions! an die Seite Tret’ ich nun erröthend dir, Der Olymp ist deine Beute; Komm und theile sie mit mir! Sterblich bin ich zwar geboren, Dennoch hat Unsterblichkeit Meine Seele sich geschworen, Und sie hält, was sie gebeut.«

62  Hercules und sein Tod

Das Plädoyer für die eigene Unsterblichkeit sollte dabei – unabhängig von der vielbesprochenen Nähe Hölderlins zu Pindar oder einer generalisierenden Hercules-Rezeption – als präziser Anklang an Ovids Text gelesen werden; die Entmenschlichung des dichtenden Ichs im Einklang mit Hercules’ Apotheose macht das Gedicht zu einer Ausarbeitung des intratextuellen Bogens von Ovids 9. und 15. Metamorphosen-Buch. Literatur

Barone, Paul: Herakles in der Moderne: Zu Schillers Rezeption des antiken Mythos. In: A&A 52 (2006), 126–141. Galinsky, Karl: The Herakles Theme: The Adaptations of the Hero in Literature from Homer to the Twentieth Century. Oxford 1972. Grütter, Oliver: Heroen. Zu einem Vergil-Rekurs in Hölderlins Elegie ›Stutgard‹. In: ZfdPh 136/2 (2017), 161–185. Habel, Reinhardt: Schiller und die Tradition des Herakles-

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Mythos. In: Manfred Fuhrmann (Hrsg.): Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption. München 1971, 265–294. Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Textausga­ be. Hrsg. von D. E. Sattler. 2. Band. Lieder und Hymnen. Darmstadt 1979. Kray, Ralph/Oettermann, Stephan: Herakles – Herkules I. Metamorphosen des Heros in ihrer medialen Vielfalt; II. Medienhistorischer Aufriß. Repertorium zur intermedialen Stoff- und Motivgeschichte. Basel/Frankfurt a. M. 1994. Leis, Mario/Sourek, Patrick (Hrsg.): Mythos Herkules. Texte von Pindar bis Peter Weiss. Leipzig 2005. Schillers Werke. Nationalausgabe. 1. Band. Gedichte. Hrsg. von J. Petersen und F. Beissner. Weimar 1943. Shulman, Jeff: At the Crossroads of Myth: The Hermeneutics of Hercules from Ovid to Shakespeare. In: ELH 50/1 (1983), 83–105.

Matthias Grandl

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VI Rezeption

63 Ästhetik der Gewalt: Kentauren gegen Lapithen 63.1 Wesentliche Merkmale der Rezeption Bereits ein kursorischer Blick auf die Rezeptionsgeschichte der ovidischen Beschreibung der Schlacht zwischen Lapithen und Kentauren liefert zwei wichtige Befunde. 1. Ovids Episode (met. 12, 210–535) inspirierte weitaus mehr schöpferische Aufnahmen des Stoffs in den bildenden Künsten als in der Literatur. Wenn die Kentauromachie schon in der griechischen und römischen Antike häufiger in der Vasenmalerei und Bildhauerei als in der Literatur anzutreffen ist, dann hat sich dieses Ungleichgewicht wohl nicht zuletzt dank einer im Folgenden darzulegenden Besonderheit der ovidischen Bearbeitung in der Moderne noch verstärkt. 2. Hatte Ovids Erzählung auf der Ebene des Stoffs auch vergleichsweise geringen Einfluss auf die Literatur, wirkte die mit großer Anschaulichkeit entwickelte Gewaltmotivik der Episode tiefgreifend auf die poetische Tradition (s. Kap. 42). In seiner Untersuchung der Funktion grausiger und ekelhafter Motive benennt Manfred Fuhrmann Ovids Metamorphosen und insbesondere die Gräuelschilderungen der ovidischen Kentauromachie als den Ausgangspunkt einer Entwicklung, durch die sich die Beschreibungen abstoßender Vorgänge zunehmend von den Notwendigkeiten der Handlung gelöst und eine zuvor ungekannte Autonomie entfaltetet hätten (Fuhrmann 1968, 41–45). So zeichnet er eine literarhistorische Linie nach, die von Ovids Grausamkeitsmotiven über die Schreckensbilder der senecanischen Dramen und des lucanischen Bellum Civile bis hin zu Prudentius’ Märtyrerdichtung reicht. Vor allem durch die Vermittlung der neronischen und spätantiken Dichtung treten Ovids blutrünstige Beschreibungen in einen genetischen Zusammenhang mit den frenetischen Gewaltdarstellungen der modernen Kunst und Literatur.

63.2 Michelangelos Kentaurenschlacht (um 1492) Michelangelos Kentaurenschlacht, ein um 1492 entstandenes Hochrelief aus Marmor, ist als eines der bedeutendsten Jugendwerke des Renaissance-Künstlers nicht nur ein wertvolles Dokument der europäischen Kunstgeschichte, sondern auch das bekannteste Werk in der Rezeptionsgeschichte der ovidischen Episode. Im Florenz der Medici übte die mythische Gestalt des Kentauren große Faszination auf der Phantasie der Intellektuellen aus und spätestens Botticellis allegorische Komposition Minerva und der Kentaur (1482) machte das mythologische Mischwesen zu einem festen Bestandteil der politischen Symbolik der Herrscherfamilie. Das Thema der Schlacht zwischen Lapithen und Kentauren, eine Anregung keines Geringeren als des Philologen Poliziano, erlaubte es dem damals siebzehnjährigen Michelangelo, das umzusetzen, was sich im Laufe seines Lebens als sein eigentliches artistisches Interesse erweisen würde, nämlich die Darstellung des nackten menschlichen Körpers in den mannigfaltigsten Stellungen und Bewegungen. Tatsächlich bereitet das Relief die beiden großen vielfigurigen Kompositionen des Künstlers vor, die Schlacht von Cascina und das Jüngste Gericht, wo die wirbelnde Bewegung der Szene wie im Jugendwerk im energisch erhobenen Arm der zentralen Figur kulminiert. Als wichtigste Auseinandersetzung mit dem Stoff der Kentauromachie in der nachantiken Plastik bietet Michelangelos Skulptur auch Gelegenheit, die Gründe zu erörtern, weshalb Ovids Erzählung eine besonders intensive Rezeption in den bildenden Künsten fand. Den entscheidenden Hinweis zur ›figürlich-repräsentativen‹ Qualität des ovidischen Erzählstils in der Kentauromachie lieferte 1934 Hans Diller mit der Beobachtung, dass die Schlachtenbeschreibung aus einer Reihe von Einzelkämpfen besteht, die nicht als »Glieder der Gesamthandlung [interessieren], sondern als isolierte Szenen, sei es in ihrer figürlichen Plastik [...] oder sei es um der Pointen willen [...]« (Diller 1934, 33). Der Effekt dieser Erzählweise sei nicht ›handlungsgestaltend‹, sondern ›plastisch-isolierend‹. Ovid scheint die Besonderheit seiner anschaulichen Vortragsweise zu thematisieren, wenn er im Zentrum der Episode den Oberkörper des schönen Kentauren Cyllarus mit »den Bildwerken berühmter Künstler« vergleicht (V. 397–398; s. Kap. 36). Fuhrmann knüpft mit seinen motivgeschichtlichen Überlegungen an Dillers Einsichten an. Erst »jene das Ganze der Handlung hintansetzende Technik« ermögliche die autonome

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_63

63  Ästhetik der Gewalt: Kentauren gegen Lapithen

Dynamik der Schreckensmotive (1968, 66). Die beiden rezeptionsgeschichtlich wirksamen Momente der Episode, ihre besondere Affinität zur bildenden Kunst und die auffallende Verselbstständigung ihrer Gewaltmotive, haben folglich einen gemeinsamen Grund in der spezifischen Faktur der Erzählung. Wie unmittelbar sich die figürlich-isolierende Verfahrensweise Ovids in die räumlich darstellende Kunst übertragen lässt, zeigt etwa Piero di Cosimos zwischen 1500 und 1515 entstandenes Gemälde Schlacht zwischen Kentauren und Lapithen mit seinen unverbundenen Kampfszenen. Umso bemerkenswerter, dass Michelangelo in seiner Komposition die Wiedergabe der mythischen Handlung anstrebt, versucht er doch Charles de Tolnay zufolge drei Momente der ovidischen Narration zu integrieren: Der Raub der Hippodameia, der Kampf zwischen Eurythion und Perithous und der Beistand des Theseus seien als zeitliche und räumliche Einheit dargestellt, wodurch die Totalität der Schlachthandlung angedeutet werde (Tolnay 1947, 134). Durch die Verschmelzung verschiedener Handlungsmomente gelingt es dem Künstler, auch die Einheit des Materials zu erhalten. Alle einzelnen Figuren des Reliefs, von denen sich keine ganz vom Hintergrund löst, sondern eine jede an ihren Extremitäten mit dem Stein verbunden bleibt, sind in Übereinstimmung mit der Konvexität des Marmorblocks gestaltet. Der Effekt dieses besonderen Vorgehens ist, dass die Figuren organisch aus dem Material hervorzugehen scheinen (ebd., 79). Wenn auf diese Weise der Gegensatz zwischen dem nur grob behauenen Rohstoff und den scheinbar lebendigen Körpern inszeniert wird, dann reflektiert Michelangelo nicht nur den Illusionismus seiner Kunst, sondern greift eine Pointe Ovids auf: Unter den vergeblichen Schwerthieben des Kentauren Latreus gibt die unverwundbare Haut des Lapithen Caeneus ein Dröhnen von sich »wie ein gestoßener Marmorkörper« (ut corpore marmoris icti, V. 487). Tatsächlich erzielt der Gegensatz zwischen der zur Schau gestellten Unverwundbarkeit des Caeneus und den vorangegangen Detailschilderungen mannigfacher Verwundungen bei Ovid denselben Effekt wie der Kontrast zwischen hartem Stein und bewegtem Leib bei Michelangelo, nämlich die Betonung der Gewalt als ästhetisches Ausdrucksmittel. Denn während sich bei Ovid die Gewalt in der in allen Varianten vorgeführten Verletzbarkeit der menschlichen und halbmenschlichen Leiber zeigt, manifestiert sie sich bei Michelangelo in den heftigen Bewegungen und Kontorsionen seiner Figuren. Hier deutet sich die eigentliche Funktion des Gewaltthemas in beiden Kunstwer-

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ken an: Es erlaubt hier wie dort die Konzentration auf den Körper. Wie bei Ovid die Wiedergabe von Verwundungs- und Tötungsakten die Beschreibung physischer Details ermöglicht, so motiviert die Gewaltphantasie bei Michelangelo die Extravaganz der Körperstellungen. Es ist die durch den Ausdruck des Aggressiven beförderte obsessive Körperlichkeit, in der sich das künstlerische Bestreben des Bildhauers kongenial mit dem des Metamorphosen-Dichters trifft.

63.3 José-Maria de Heredia, Centaures et Lapithes (1888) Wie im Florenz der Medici ist auch das Imaginarium der Intellektuellen im Frankreich des 19. Jahrhunderts von einer stattlichen Kentaurenherde bevölkert. Seine bedeutendsten Auftritte in der Dichtung hat das mythologische Wesen in Maurice de Guerins Le Centaure und in Leconte de Lisles Khiron, durch das der Kentaur Eingang in die Bilderwelt der Parnassiens findet. In José-Maria de Heredias Centaures et Lapithes, einem 1888 erstmals erschienenen Sonett, zeigt sich die schon bei Ovid greifbare Modernität der Beschreibung im Gewand der Klassischen Moderne, dient doch auch hier das Gewaltthema der Generierung ästhetischer Effekte. Der kalte Detaillismus der ovidischen Verwundungs- und Tötungsschilderungen kehrt wieder als die zum Stilideal erhobene Affektverweigerung (impassibilité) des Parnassien, der die Schlachtenszene in ein impressionistisches Tableau verwandelt. Die mythische Handlung wird aufgelöst in eine Reihe optischer und akustischer Eindrücke, etwa den Farbkontrast des Hochzeitspurpurs der Braut vor der schwarzen Brust des Aggressors (V. 6) oder das Tönen der Hufe auf dem Sand (V. 7). Nicht zuletzt reminisziert das Bild der unter dem Fackelschein schimmernden »Heroenleiber« (chair héroïque), die sich mit dem »glühenden Fell« (poil ardent) der Kentauren mischen, die betonte Körperlichkeit der ovidischen Erzählung (V. 3–4). Durch diese Art der impressionistischen Auflösung reduziert der Dichter die Kampfhandlung auf einen einzigen Punkt, der den Umschlag des Gedichts markiert: die Intervention des Hercules (Alors celui pour qui le plus grand est un nain, / Se lève., »Da erhebt sich der, neben dem der Größte ein Zwerg ist«, V. 9–10). Die Vertikalität der herculeischen Statur drängt zur Totalisierung der Schlachtenszene (d’un bout de la salle immense à l’autre bout, »vom einen Ende der riesigen Halle zum anderen«, V. 12) und fasst die impressionistische Bewegung zum poetischen Bild zusammen. Die Rede vom

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VI Rezeption – D Einzelmythen und Mythengruppen

œil terrible, durch den der Held die »monströse Herde« beherrscht (Dompté, V. 13), unterstreicht den Wahrnehmungsaspekt und liest sich wie ein Kommentar auf die skizzierte Wirkungsgeschichte einer vom »grausamen Blick« herrührenden Einstellung. Literatur

Diller, Hans: Die dichterische Eigenart von Ovids Metamorphosen. In: Gymnasium 45 (1934), 25–37. Fuhrmann, Manfred: Die Funktion grausiger und ekelhafter

Motive in der lateinischen Dichtung. In: Hans Robert Jauß (Hrsg.): Die nicht mehr schönen Künste. München 1968, 23–66. Heredia, José-Maria de: Poésies complètes. Les trophées. Sonnets et poèmes divers. Genf 1979 (Nachdr. d. Ausg. Paris 1924). Tolnay, Charles de: The Youth of Michelangelo. Princeton 21947, 75–81 und 133–137.

Maximilian Haas

64  Medea und Iason

64 Medea und Iason 64.1 Rezeptionsstationen: Medea werden In Ovids Darstellung des Mythenkomplexes um die Argonautenfahrt tritt der in der epischen Tradition eigentliche Held der Geschichte, Iason, fast völlig hinter den ambivalenten und exzessiven Charakter der Medea zurück. Wenn die junge Königstochter ihr eigenes Leben aufgibt und sich von der Liebe zu Iason leiten lässt, um dann von ihm verlassen zu werden, trägt die Figur sympathieerweckende Züge; zugleich zeigt sie sich aber auch als kaltblütige Mörderin, die sich rücksichtslos über alle Grenzen hinwegsetzt. Ovid fokussiert diese Spannung, indem er Medea vor allem in Situationen des Umbruchs porträtiert, in denen sie sich zu ihren ruchlosen oder monströsen Taten entschließen muss, auch wenn ihr Schwanken verrät, dass diese Entscheidungen keine leichten sind. Die vorherrschende Darstellungsform hierfür ist – im Anschluss an Euripides’ Tragödie – der Monolog, dessen dramatisches Potential in Ovids verlorener Medea-Tragödie noch viel eindrücklicher zur Geltung gekommen sein muss als in Heroides 12 und in den Metamorphosen. Diese Form erlaubt es dem Rezipienten zu beobachten, wie Medea die Rache plant, die ihre Identität als Mörderin ihrer eigenen Kinder und ihrer Nebenbuhlerin festlegt: »Indem [Medea] selbst spricht, gewährt sie dem Leser exklusiv Einblick in ihr Inneres und ist ganz bei sich. Dadurch wird erkennbar, in welch hohem, aber auch problematischem Maße [Medea] ein Geschöpf ihrer Geschichte ist, hervorgebracht durch ein Geschehen, an dessen Anfang die Liebe zu Jason steht« (Corbineau-Hoffmann 2008, 419). Iason stellt in diesen Überlegungen zwar stets Medeas Widerpart und das Ziel ihrer Rache dar, bleibt aber bei der Bluttat physisch unversehrt und an dem Prozess, den Medea durchläuft, unbeteiligt. Es ist bezeichnend, dass diese drastische Identitätsentwicklung bei Ovid keinerlei moralische Auflösung erfährt. Obgleich der Erzähler der Metamorphosen einmal den Gedanken an Strafe formuliert, lässt er ihn gleich wieder fallen: »Wäre sie nicht auf ihren geflügelten Schlangen in die Lüfte entschwebt, wäre sie der Strafe nicht entgangen« (met. 7, 350–351). Der inhärente Spannungsreichtum der Figur tritt in der Rezeption unterschiedlich stark hervor. Im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit wird Medea häufig vereindeutigt: In moralisierenden Darstellungen, wie Boccaccios de claris mulieribus (1362), wird sie negativ bewertet; wo sie eine positive Zeichnung findet, wie in Christine de Pizans Das Buch von der Stadt der

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Frauen (1404/05), werden ihre dunklen Seiten schlicht ausgelassen. Im 17. und 18. Jahrhundert verlagert sich das Interesse auf die Handlungsmotivation. Corneilles Tragödie Médée (1635) etwa bemüht sich vor allem um eine Erklärung für das furchtbare Handeln einer Mutter, die ihre Kinder tötet, während Klingers Dramen Medea in Korinth (1786) und Medea auf dem Kaukasus (1790) besonders den Aspekt des Menschlichen in den Geschehnissen in den Vordergrund rücken. An Medeas zugleich heller und düsterer Doppelnatur entzündet sich in Grillparzers Trilogie Das Goldene Vlies (3.Teil: Medea) die Identitätsfrage, die die Krise zwischen Zivilisation und Natur hervorhebt (CorbineauHoffmann 2008, 423). Die Moderne faszinieren an Medea dagegen gerade ihre Ambivalenz und ihr Facettenreichtum, weil Medea als Frau, Fremde, Ausgestoßene, Barbarin usw. stets eine Projektionsfläche für alles Heterogene und gesellschaftlich Andere bildet. So kann die mythologische Figur, wie Inge Stephan (2006, 4–5) feststellt, ganz unterschiedlichen Zwecken dienen: der Identifikation im »Kampf der Geschlechter« (z. B. Ursula Haas, Freispruch für Medea, 1987, Dagmar Nick, Medea. Ein Monolog, 1988), der kritischen Auseinandersetzung mit politischen und sozialen Ordnungen (z. B. Elisabeth Langgässer, Märkische Argonautenfahrt, 1950; Dea Loher, Manhattan Medea, 1999) oder mit Debatten über Ethnizität und Rassismus (z. B. bei Max Zweig, Medea in Prag, 1949) und der Reflexion über Gewalt (Hans Henny Jahnn, Medea, 1924/26, Lars von Trier, Medea, 1988). In all diesen Ausrichtungen bleibt die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität, die Medea wie kaum eine andere mythologische Figur kennzeichnet, ein konstitutives Element.

64.2 Seneca, Medea Die Identitätskonstitution wird schon in einer der frühesten Rezeptionen der ovidischen Medea ausgestaltet, nämlich in Senecas Tragödie Medea (1. Jhd. n. Chr.). Rasend vor Zorn, weil sie Iasons Treulosigkeit nicht verwinden kann, sucht Medea nach einer angemessenen Vergeltungsform. Dabei fasst sie zu Beginn ihrer Überlegungen ihre eigene Situation in die prägnante Phrase Medea fiam – »Ich werde Medea« (Med. 171). Dass der Entschluss zum Kindermord ihre eigene Identität konstituiert, bringt Medea dann in ihrem Schlussmonolog zum Ausdruck: Medea nunc sum – »Medea bin ich jetzt« (Med. 910). Hier wird

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VI Rezeption – D Einzelmythen und Mythengruppen

nicht nur der Charakter der Medea aktualisiert, sondern auch explizit auf das selbstreflexive Potential der Figur hingewiesen.

64.3 Gillian Flynn, Gone Girl (2012) Dass die Rezeption der Medea-Geschichte auch bis in die Unterhaltungsliteratur reicht, zeigt sich in Gillian Flynns Psychothriller Gone Girl (2012), auch wenn in dieser Medea-Version der Name Medea nicht einmal fällt: Die New Yorkerin Amy gibt ihre Heimat und Familie sowie ihr gesamtes Vermögen auf, um mit ihrem Mann Nick in dessen Heimat Missouri ein neues Leben zu beginnen. Als Nick eine Affäre mit einer anderen Frau beginnt, beschließt Amy, Rache zu nehmen, indem sie ihren eigenen Mord inszeniert und ihn ihrem Mann anhängt (vgl. Brehas 2016). Zu diesem Zweck dient ihr vor allem ein gefälschtes Tagebuch – eine andere Art des Monologs –, in dem sie über Monate hinweg die Identität einer Amy erschafft, die sich zunehmend vor ihrem Mann ängstigt und einen schrecklichen Gewaltakt antizipiert. Planvoll und aus Rache erfindet Amy ihr Leben und ihre Identität, um die Polizei von Nicks Schuld zu überzeugen. Amys spannungsreiche und abgründige Doppelnatur zeigt sich darin, dass sie ihre Identität unter Berücksichtigung des jeweiligen Rezipienten, der Polizei, der Öffentlichkeit, der Nachbarschaft, formt. Die Identitätskonstitution stellt somit kein performatives Nebenprodukt bei der Umsetzung der Rache dar, sondern wird selbst zum Racheinstrument. Auch hier sind der Antagonist und das Ziel der Rache, Nick, zwar der Auslöser der Entwicklung, aber ohne jede Möglichkeit, darauf Einfluss zu nehmen; ihm bleibt nur, den Racheplan im Nachhinein aufzudecken. Obwohl Flynns Medea ohne Kindermord auskommt, wird dieser Aspekt nicht ausgelassen, sondern gesteigert und pervertiert: Am Ende des Romans ist Amy schwanger und setzt das ungeborene Kind kalkuliert als Druckmittel gegen Nick ein. Auch diese Medea bleibt straffrei, ihre Geschichte ohne moralische Auflösung.

64.4 Christa Wolf, Medea. Stimmen (1996) Wenn Medea jedes Mal neu zu Medea werden muss, steht jede Medea immer schon in der Pflicht gegenüber und in einem Spannungsverhältnis zu ihrer mythologischen Identität. Dabei hat der Rezipient gegenüber

der Figur einen Vorsprung, weil er weiß, was sie erst (mühevoll) entwickeln muss: wie sie zu Medea wird. Christa Wolfs Roman Medea. Stimmen (1996/2008) verkehrt diese Ausgangslage, indem er das vorher schon Gewusste als erfundenes Gerede entlarvt und so in Frage stellt. Nicht mehr nur in Medeas Monologen, sondern aus der wechselnden Perspektive von elf verschiedenen Charakteren werden die Ereignisse aufgerollt. Die unterschiedlichen Stimmen zeichnen die Situation in Korinth als ein Ränkespiel der Macht, in das sich Medea plötzlich verstrickt findet; unwillentlich wird sie dabei zur wachsenden Bedrohung für Kreons Herrschaft. Noch weiter als in anderen Medea-Versionen scheint Iason hier von Medeas Entwicklung entfernt zu sein: Als eine von zehn anderen Stimmen wird er Teil eines größeren Kollektivs, aus dem er nicht herausragen kann, während Medeas Handlungen zunehmend durch andere Figuren wie etwa die Königstochter motiviert werden. Der Kindermord wird nicht von Medea, sondern, wie sie am Schluss erfährt, nach ihrer Vertreibung von den Korinthern begangen, die sie als Kindsmörderin brandmarken und so diskreditieren wollen: »Wir Verblendeten. Wir haben von den Kindern als von Lebenden gesprochen. Haben sie aufwachsen sehen Jahr um Jahr. Unsere Rächer sollten sie sein. Und ich war noch nicht aus dem Weichbild ihrer Stadt, da waren sie schon tot. [...] So ist das. Darauf läuft es hinaus. Sie sorgen dafür, daß auch die Späteren mich Kindsmörderin nennen sollen« (Wolf 1996/2008, 223–224). Die bekannte Identität Medeas wird hier dadurch destabilisiert, dass der Kindermord als Vorwand und Gerücht entlarvt wird, das mit jeder Wiederholung immer mehr zur Wahrheit wird. So wird der Wissensvorsprung des Rezipienten zum Ballast und zwingt ihn dazu, nicht nur Medea bei ihrer Identitätsentwicklung zuzusehen, sondern auch seine eigene Vorstellung und Konstituierung von Medeas Identität zu hinterfragen. Wolf versucht auf diese Weise, hinter den etablierten Mythos zurückzugehen und die Figur Medea zu rehabilitieren. Dabei wird der traditionelle Weg, Medeas Identität zu schaffen, zugleich erneut beschritten und als von außen gemacht abgelehnt; letztlich lässt auch Medea. Stimmen nur eine weitere Stimme vernehmen, in der Medea sich selbst aktualisiert. Literatur

Brehas, Ivana: Gone Girl: A Greek tragedy (2016). In: https://vimeo.com/164033290 (16.12.2018) Corbineau-Hoffmann, Angelika: Medeia. In: In Maria

64  Medea und Iason Moog-Grünewald (Hrsg.): Mythenrezeption. Die antike Mythologie in Literatur, Musik und Kunst von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart/Weimar 2008, 418–428. Flynn, Gillian: Gone Girl. New York 2012.

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Stephan, Inge: Medea. Karriere einer multimedialen Figur. Köln 2006. Wolf, Christa: Medea. Stimmen [1996]. Frankfurt a. M. 2008.

Kathrin Winter

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VI Rezeption

65 Medusa 65.1 Medusa als Figur der Ambivalenz ›Medusa‹, landläufig Qualle: Die Etymologie des Wortes ›Qualle‹ fokussiert den Körper dieser Spezies in seiner gallertartigen, ›aufgequollen‹ wirkenden Konsistenz. Die zoologische Bezeichnung ›Medusa‹ ist reicher, in ihr berühren sich auf faszinierende Weise literarische und wissenschaftliche Beschreibung: Die Schlangenhaare der mythologischen Medusa werden zu Tentakeln, die versteinernde Macht des medusischen Blicks wird zum giftigen Sekret der Nesselzellen. Man muss sich nur Ernst Haeckels zur Jahrhundertwende in den Kunstformen der Natur publizierte Zeichnung einer Scheibenqualle anschauen, um zu verstehen, wie künstlerische und wissenschaftliche Formensprache eins werden können: Die filigranen Tentakel der von Haeckel nach seiner verstorbenen Frau Desmonema annasethe benannten ›Medusa‹ gleichen einer üppigen Haarpracht; türkisfarbene, kokette Röckchen bilden den Körper. So ist es denn auch gerade die Ambivalenz der mythologischen Medusa, die sie für immer neue Aktualisierungen in Literatur, Wissenschaft, Kunst und Alltagskultur prädestiniert. In den Zeugnissen, in denen dem Medusenhaupt eine apotropäische (unheilabweisende) Funktion zugesprochen wird, erscheint Medusa als schreckliche Gestalt, als »Gorgo« (von griech. gorgós, »schrecklich«): In Ovids Metamorphosen (vgl. met. 4, 772– 803), aber auch bereits in vorovidischen Gestaltungen des Mythos, trägt die Zeustochter Athene das Gorgonenhaupt auf ihrer Brust. Das chthonische (unterweltliche) Potential, das der Medusa aufgrund ihrer Abstammung eignet, wird zum ikonischen Zeichen der olympischen Göttin Athene. Im Mittelalter stellt sich die Trennung von Gut und Böse zuweilen klarer dar: Medusas verhängnisvolle Schönheit tritt in den Mittelpunkt der Aktualisierungen. So rufen am Höllentor von Dantes Inferno (neunter Gesang) die Erinyen beim Anblick Vergils und Dantes Medusa herbei. Der klassische Dichter bewahrt seinen christlichen Freund davor, Medusa anzuschauen, indem er ihm die Hände vor die Augen hält. Schließlich vertreibt ein Engel die Furien und öffnet den Höllenfahrern den Weg zu den Gräbern der Ketzer: Medusa, die uns Dante wie schon Ovid nur indirekt zeigt, ist die Verkörperung der irdischen Lüste und in ihrer Ambivalenz allegorische Figur für häretisches Denken. Das in Ovids Erzählung verstörende Detail, Poseidon habe Medusa im Tempel der Minerva

geschändet, und zur Strafe habe Minerva ihre Haarpracht in Schlangen verwandelt, scheint in der Profilierung der Medusa als femme fatale keine Rolle zu spielen. Sigmund Freud erklärt in Das Medusenhaupt (1922/1972) die Ambivalenz der Medusa mit psychoanalytischem Rüstzeug: Das schlangenumrahmte, kastrierte Medusenhaupt entspräche dem behaarten weiblichen Genital, bei dessen Anblick der Knabe von Kastrationsängsten befallen werde. Die ›Versteinerung‹ des männlichen Genitals wäre dann als Form der Selbstvergewisserung zu verstehen. Die der Medusa eigene Ambivalenz wurde jedoch nicht nur eingehegt, sondern zuweilen auch zum künstlerischen Prinzip erhoben: Caravaggio zeigt uns seine 1598 auf einen konvexen Holzschild gemalte Medusa im Moment ihrer Enthauptung: Der weit aufgerissene Mund und die Augenbrauenpartie zeigen zornigen Schrecken über das Geschehene. Nie, so scheint uns das Gemälde glauben machen zu wollen, war Medusa lebendiger als im Moment des Todes. Das Schlangengetier steht in Kontrast zu dem menschlichen, in seinem Affekt schönen Gesicht. Gleichzeitig illuminiert Caravaggio die Schuppen der Schlangen an manchen Stellen in der Farbe des Teints der Medusa. Die Blutströme kontrastieren in ihrer schrägen Linienform mit der sich ringelnden Schlangenbrut der Haare. Grausamer Snapshot und die Ikonizität des Medusenhauptes kommen zusammen in der runden Form des Bildes, mit der der Betrachter den Schild der Athene assoziieren soll. Caravaggios Medusa schaut uns jedoch nicht an, wir können die Monströsität Medusas gefahrlos genießen.

65.2 Ovids Medusa oder monströse Ordnung in den Metamorphosen Die lustvolle Darstellung von monströser Vitalität eignet jedoch nicht nur Caravaggios Medusa: Ovid macht im vierten Buch seiner Metamorphosen (V. 740–752) die den Tod überschreitende, darin monströse Macht des Medusenhauptes zum Agens der wundersamen Entstehung der Korallen. Perseus legt nach dem erfolgreichen Kampf gegen ein Seeungeheuer das Gorgonenhaupt auf eine aus Meerespflanzen geschichtete Streu: Und siehe da, das weiche Mark der Meerespflanzen erhärtet – die Koralle entsteht. Die Meeresnymphen wiederholen dann in spielerischer Manier die wundersame Kreation und werfen die neuartigen Samen über die Wellen. Die Samen nun sind nicht nur konkret als die Samen der neu ent-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_65

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standenen Koralle zu verstehen: Mit ihnen aktualisiert sich Medusa immer wieder neu: Der Effekt des versteinernden Blicks wird zum immer wieder aktualisierten Attribut der Korallen. In eben diesem freudig-spielerischen Aussäen der Samen zeigt sich ein den Metamorphosen eigenes Gestaltungsprinzip im Bild: Die eine Geschichte entwickelt sich aus der anderen, aus der sich wiederum eine andere entwickelt und so fort ... Mit der Figur der Nymphen spricht die Erzählung über sich selbst: Die ungebrochene Schöpferlaune der Nymphen durchkreuzt jeden narrativen Plan und lässt die Erzählung nie zu ihrem Ende kommen. Doch wie die monströse Lebendigkeit von Caravaggios Medusa in der Form des Schildes eingehegt, als Emblem funktionalisiert wird, so scheint auch die dissémination des Monströsen im ovidischen Text als Gefahr betrachtet zu werden: Die Erzählung drängt in der aitiologischen Rundung der Passage zur Verfestigung. Die Koralle wird als Teil einer vermeintlich natürlichen, in Wirklichkeit aber monströsen Ordnung vorgestellt. Was für die Mikrostruktur dieser in der Forschung wenig beachteten Passage der Metamorphosen gilt, gilt auch für die Makrostruktur des Werkes: Der historische Zeitstrahl der Metamorphosen, der von der Urzeit bis zum augusteischen Zeitalter führt, wird konterkariert durch die schier endlose Anzahl an Geschichten und Geschichtchen, die Ovid in unbändiger Schöpferlaune miteinander verknüpft. In Caravaggios Bild sind der runde Schild (der Athene) und die monströse Lebendigkeit der Medusa Ausdruck einer Kunst, die gerade aus der Gegensätzlichkeit ihr kreatives Potential schöpft. Und der Schild ist nicht zwangsläufig Schild, sondern auch Spiegel, in dem der Künstler sich selbst sieht, wir uns selbst sehen, oder ein Auge, das uns ansieht.

65.3 Medusa als Sinnbild der écriture féminine Im schöpferischen Umgang mit Polaritäten, im Zulassen eines proliferierenden Zeichensystems liegt die (post-)moderne Disposition von Ovids Metamorphosen begründet. Auf der Höhe der ovidischen Medusa und der Metamorphosen im Ganzen sind die Rezep-

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tionen, die sich der formalen Gestaltung der Metamorphosen bewusst sind. Hélène Cixous’ feministische Lektüre des Medusa-Mythos (Le Rire de la Méduse, 1975) kann dies wohl für sich beanspruchen: Ihre performative, bewegliche, medusische écriture versteht sie als Antidot gegen jede Form von perseischem Phallogozentrismus. Medusa ist in ihrer Haarpracht für Cixous der Inbegriff von Beweglichkeit: »[...] Medusa, deren Haarschopf überreichlich, überlebendig und angeregt ist, [ist] mehr als nur eine Einzige [...]. Sie hat wohl die Eigenschaft, unter anderem, von vorne weg in einer Bewegung – ich will nicht sagen in einem Zustand – sondern in einer Bewegung von Wandel zu sein, in Wandelbarkeit, ›changeance‹, Metamorphose« (Schäfer/Simma 2017, 182). Und eben diese Beweglichkeit ist für Cixous der Inbegriff der écriture féminine: »Ihre Schrift [d. h. die weibliche Schrift] kann also immer nur weiterführen, ohne je Konturen einzuschreiben oder unterscheidbar zu machen, und sie wagt schwindelerregende Durchquerungen des Anderen, flüchtig-vergängliche leidenschaftliche Aufenthalte in ihm, ihr, ihnen, jenen, die sie, kaum sind sie entstanden, bewohnt bis sie ihr Unbewußtes aus nächster Nähe wahrnehmen [...], und dann geht sie, [...] geht und geht über in Unendlichkeit« (Cixous 2017, 55). Literatur

Breidbach, Olaf/Eibl-Eibesfeldt, Irenäus (Hrsg.): Kunstformen der Natur – Kunstformen aus dem Meer. München/ London/New York 2012. Cixous, Hélène: Das Lachen der Medusa. In: Esther Hutfless/Gertrude Postl/Elisabeth Schäfer (Hrsg.): Hélène Cixous. Das Lachen der Medusa zusammen mit aktuellen Beiträgen. Wien 22017, 39–61. Freud, Sigmund: Das Medusenhaupt. In: Gesammelte Werke. Schriften aus dem Nachlass. Hrsg. von Anna Freud, Edward Bibring, Wilhelm Hoffer, Ernst Kris, Otto Isakower. Frankfurt a. M. 51972, 17. Bd., 45–48. Garber, Marjorie/Vickers, Nancy J. (Hrsg.): The MedusaReader. New York/London 2003. Leeming, David: Medusa. Die schreckliche Schöne. Berlin 2016 (engl. 2013). Schäfer, Elisabeth/Simma, Claudia: Medusas ›Changeance‹. Ein Interview mit Hélène Cixous. In: Esther Hutfless/Gertrude Postl/Elisabeth Schäfer (Hrsg.): Hélène Cixous. Das Lachen der Medusa zusammen mit aktuellen Beiträgen. Wien 22017, 181–191.

Joséphine Jacquier

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VI Rezeption – D Einzelmythen und Mythengruppen

66 Inzest-Mythen: Myrrha 66.1 Wesentliche Merkmale der Rezeption Die Erzählung von Myrrhas Leidenschaft für ihren Vater Cinyras in Ovids Metamorphosen (10, 298–519) ist, neben der von Lot und seinen Töchtern sowie der des Ödipus und seiner Mutter, eine der berühmtesten Inzest-Erzählungen des Westens. Myrrhas Inzest zeichnet dabei aus, dass er weder durch pragmatische Notwendigkeitserwägungen erzwungen noch durch Unwissenheit erst retrospektiv als solcher erkennbar wird: Er ist dezidiert als ein Akt des Begehrens dargestellt, zu dessen Befriedigung bewusst und mit List ein erkanntes Tabu gebrochen wird. Anders als Apollodorus (3, 14, 4) oder Hyginus (fab. 58), bei denen Myrrhas Leidenschaft selbst die Strafe einer verärgerten Liebesgöttin ist, lässt Ovid die Ursache von Myrrhas Begehren offen: Cupido bestreitet jedwede Beteiligung und behauptet vielmehr, eine Furie stecke dahinter (311–14). Die damit verbundene Frage nach Myrrhas Schuld, Schuldfähigkeit und Bestrafung sowie das voyeuristische Interesse an dem tabubelegten Akt selbst erweisen sich – neben dem Status der Erzählung als klassischer etymologischer Aitiologie für ein kulturell bedeutsames Luxusgut – als zentrale Kristallisationspunkte für die literarische Rezeption des Myr­ rha-Mythos. In der bildenden Kunst wird zwischen 1500 und 1700 besonders oft die aus der inzestuösen Verbindung resultierende »Geburt des Adonis« thematisiert, wie eine Vielzahl von Werken mit diesem Titel aus dieser Periode von Tizian und del Piombo bis Boucher belegen. Da diese Geburt stattfindet, nachdem Myrrhas Verwandlung in einen Baum bereits vollzogen ist, bietet der visuell-dramatische Moment einer ›BaumGeburt‹ eine anziehende künstlerische Herausforderung. Häufig wird dabei die Baum-Metamorphose Myrrhas mit der Baum-Geburt des Adonis kombiniert wird (etwa bei Veronese, Franceschini, Garzi, Poussin und Picart). Der so erzeugte Überlagerungseffekt von Myrrha als (gebärender) Frau und Myrrhenbaum (die beide in wechselseitiger Durchdringung gleichzeitig visuell präsent sind), greift hierbei in intermedial vergleichbarer Weise die Darstellungstechnik in Ovids Text auf: Dort wird der Myrrhenbaum durch Vergleich mit einer in Wehen liegenden Frau gleich wieder re-anthropomorphisiert (10, 508– 509), so dass auch hier (gebärende) Frau und Myrrhenbaum simultan verbal präsent gehalten werden. In Literatur wie Kunst ist der Myrrha-Stoff ferner

oft anspielungsweise im Hintergrund präsent, wo die Leidenschaft der Venus für Adonis in Szene gesetzt wird. So kommentiert die Göttin in Shakespeares Venus and Adonis (1593) die scheue Zurückhaltung des Jünglings ihr gegenüber mit einem Verweis auf das weniger skrupulöse Verhalten seiner Mutter: »Art thou a woman’s son, and canst not feel / What ’tis to love? How want of love tormenteth? / O, had thy mother borne so hard a mind, / She had not brought forth thee, but died unkind« (211–214) – mit der höchst ambivalenten Konsequenz, dass Adonis zu einer Verhaltensweise animiert wird, der nicht nur Leidenschaft ohne Rücksicht auf Bedenken, sondern ganz spezifisch Inzest eingeschrieben ist. Die »mütterliche« Ermahnung der vom Begehren für den jungen Adonis getriebenen Venus verleiht deren erotischer Beziehung so, unter umgekehrten Vorzeichen, Züge der inzestuösen Begehrenskonstellation der Myrrha-Episode (Newman 1984), die ja auch in Ovids sequenzieller Anordnung ihren Schatten auf die direkt nachfolgende Erzählung von Venus und Adonis (10, 503 ff.) wirft.

66.2 Myrrha in der moralisierenden Tradition des Mittelalters Die Ovid-Kommentartradition des Mittelalters (12.– 14. Jhd.) stellt auf der historischen Verstehensebene vornehmlich moralische Überlegungen zu Myrrhas Unvermögen an, der Versuchung zur Sünde zu widerstehen und ihre Keuschheit zu bewahren, und sie entfaltet eine Vielzahl allegorischer Lesarten, die selbst oft moralisierender Natur sind (Coulson 2008). Im anonymen Ovide moralisé (14. Jhd.) wird der MyrrhaMythos zunächst nacherzählt und, wie bereits bei Fulgentius (Mit. 3, 8), naturalistisch als Erklärung für Räucherharzbildung (als Folge der ›Befruchtung‹ des Myrrhenbaums durch ›Vater Sonne‹) interpretiert. Aufbauend auf einem wörtlich-historischen Verständnis von Myrrhas sündhaftem Vergehen wird das Eingeständnis ihrer ausweglosen Situation im hilfesuchenden Gebet und ihre darauffolgende »Erlösung« durch göttliches Einlenken (10, 481–489) mit Maria Magdalena verknüpft, so dass sich auch an der Myrrha-Geschichte in allegorischer Manier ablesen lässt, wie Gott dem bußfertigen Sünder selbst aus der Sünde (Inzest) noch Gutes (Adonis) zeugen kann. Tropologisch wird Myrrha ferner als Verkörperung der Sünderseele gesehen, die in verfehlter (allzu fleischlicher) Weise Kommunion mit Gott (ihrem Vater) sucht, de-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_66

66  Inzest-Mythen: Myrrha

ren Bußfertigkeit zuletzt aber doch Frucht trägt (Adonis). Typologisch wird sie mit der Gottesmutter Maria identifiziert, die, ebenfalls erfüllt vom »Vater« und vor drohender Gefahr in der Heimat fliehend, in der Fremde den »Sohn« gebiert. Der Ovide moralisé relativiert so einerseits das Skandalon des konkreten Inzest­ akts, kommt aber gleichzeitig in Momenten erzählerischen Ausmalens beständig darauf zurück. Anders gestaltet sich der Auftritt Myrrhas im achten Kreis der Hölle in Dantes Inferno (30, 22–45). Das bei Ovid so extensiv entfaltete Ringen Myrrhas mit ihrem verbotenen Begehren wird in nur zwei Versen abgehandelt (Mirrha scellerata, chi divenne / al padre, fuor del diritto amore, amica. »Verbrecherische Myrrha, die, / jenseits rechtmäßiger Liebe, dem Vater Geliebte ward.« 30, 38–39; ein direkter Verweis auf Ovids Overtüre: hic amor est odio malus scelus. »Diese Liebe ist ein größeres Verbrechen als Haß.« 10, 315). Ihre Höllenstrafe wird hier vielmehr an der vorsätzlichen Vortäuschung einer gefälschten Identität (falsificando sè in altrui forma; 30, 41) zur Erfüllung weltlicher Begierden festgemacht. Darin gleicht sie Gianni Schicchi, der sich nach dem Tod von Buoso Donati in Absprache mit dessen Sohn als sein Vater ausgibt (falsificar in sè Buoso Donati; 30, 44), um so ein gefälschtes und beiden zuträgliches Testament aufzusetzen, und mit dem zusammen Myrrha – gemäß  Dantes Vorliebe, antike Figuren mit verstorbenen Zeitgenosse zu paaren – hier auftritt. Die markante Schwerpunktverlagerung begleiten subtilere Resonanzen: Ovids von Verlangen in den Wahnsinn getriebene Myrrha (animus relinquit euntem, »ihre Sinne verlassen sie als sie sich nähert«; 10, 459) findet ein Echo in Dantes Bild ihrer tollwütigen Raserei als ewiger Höllenstrafe (i due rabbiosi; 30, 46); und in der abgewandelten Metamorphose – in Wildschweingestalt (30, 26–27) statt Myrrhenbaum – fällt Myrrhas Rechtfertigungsversuch durch parallelisierenden Verweis auf Inzest im Tierreich bei Ovid (10, 324–31) hier auf sie selbst zurück.

66.3 Myrrha in der englischen Literatur der Frühen Neuzeit Im 16. Jahrhundert erweitert sich das Interesse von moralisierend-allegorischen zu erotisch-pikanten Erkundungen der Myrrha-Episode (Carter 2011). Besonders populär ist sie im elisabethanischen und jakobinischen England, wo Arthur Goldings Metamorphosen-Übersetzung (1567) eine katalysierende Wirkung entfaltet und Myrrha oft als Folie für Reflexionen über

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fehlgehende Keuschheitsideale dient. Edmund Spensers Faerie Queene (1590) rekurriert auf Myrrhas Geschichte mit Blick auf Britomart – allegorische Repräsentation von Keuschheit, Englands Militärmacht und der »virgin queen« Elizabeth I. Auch die Übertragung »Cinyras and Myrrha« (in Fables, Ancient and Modern, 1700) des James-Loyalisten John Dryden lässt sich als satirisch-politisierter Kommentar lesen, bei dem Myrrhas widernatürlicher und durch Betrug erlangter Einzug ins Bett des Vaters den Bruch der natürlichen Sukzessionslinie und die Usurpation des Throns James II. durch seine Tochter Mary II. im Zuge der Glorious Revolution spiegelt (Lee 2004). William Barksteds Mirrha, the Mother of Adonis, or Lust’s Prodigies (1607), und Henry Austins The Scourge of Venus, or The Wanton Lady, with the Rare Birth of Adonis (1613), sind dagegen vornehmlich am Ausleuchten der skandalträchtigen Erotik interessiert. Barksteds Myrrha, eine Verfechterin absoluter Keuschheit, weist sogar Cupido selbst zurück. Er muss sich mit einem »chaste kiss« (187) zufrieden geben, der dann aber – ganz entgegen seiner Unschuldsbeteuerung bei Ovid – explizit zur Ursache Myrrhas inzestuöser Leidenschaft wird: »this kiss did inspire / her brest with an infernall and unname’d desire« (191–192). Austins Gedicht intensiviert das bei Ovid angelegte Spiel der Verdopplung von Inzestakt und Inzestphantasie: Vom Vater nach dem Alter der angebotenen Gespielin gefragt, antwortet Ovids Amme par ... est Myrrhae (10, 441) und führt sie ihm mit dem doppeldeutigen accipe ... ista tua est (10, 463–464) zu, bevor sich die beiden beim Sex ›zufällig‹ mit filia und pater anreden (10, 467–468). Austins Amme benennt sie noch deutlicher als »my mistress« und sagt »she resembles Myrrha much« (566), worauf Cinyras nicht nur verkündet »I call thee daughter and not love« (654), sondern mit der Aufforderung »Come kiss thy father, gentle daughter then, / And learne to sport thee in a wanton bed« (642–644) einen voll entfalteten Bettgeflüsterdialog anstößt, in dem beide ihr tatsächliches Inzestszenario simultan in der Fiktion eines erotischen Rollenspiels (mit ihnen selbst in den Hauptrollen) imaginieren. Solches Nachverfolgen der Ambiguität von Sprache und (Nicht-)Wissen setzt sich bis in die Gegenwart fort, etwa in Ted Hughes »Myrrha« (1997; vgl. »the nurse said, ›same as Myrrha‹, / ›bring her tonight‹, / said the King«, wobei »her« zugleich auf »the girl« und »Myrrha« verweisen kann) oder in Frederick Seidels aktualisierender Adaptation »Myrrha« (1994) mit seinen Reflexionen zur Rolle und Perspek-

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VI Rezeption – D Einzelmythen und Mythengruppen

tive des Vaters unter den Vorzeichen der Anklage sexuellen Missbrauchs. Literatur

Branna Perlman, Julia: Venus, Myrrha, Cupid and/as Adonis: Metamorphoses 10 and the Artistry of Incest. In: Alison Keith/Steven Rupp (Hrsg.): Metamorphosis. The Changing Face of Ovid in Medieval and Early Modern Europe. Toronto 2007, 223–238. Carter, Sarah: Ovidian Myth and Sexual Deviance in Early Modern English Literature. Basingstoke 2011, 147–152. Coulson, Frank T.: Failed Chastity and Ovid. Myrrha in the Latin Commentary Tradition from Antiquity to the

Renaissance. In: Nancy van Deusen (Hrsg.): Chastity. A Study in Perception, Ideals, Opposition. Leiden 2008, 7–36. Lee, Anthony W.: Dryden’s Cinyras and Myrrha. In: The Explicator 62/3 (2004). Lerner, Laurence: Ovid and the Elizabethans. In: Charles Martindale (Hrsg.): Ovid Renewed. Ovidian Influences on Literature and Art from the Middle Ages to the Twentieth Century. Cambridge 1988, 121–135. Newman, Karen: Myrrha’s Revenge. Ovid and Shakespeare’s Reluctant Adonis. In: Illinois Classical Studies 9 (1984), 251–265.

Sebastian Matzner

67  Selbstliebe zwischen Subjekt und Objekt: Narziss

67 Selbstliebe zwischen Subjekt und Objekt: Narziss Die Geschichte von Narcissus (met. 3, 339–510) gehört zu den wirkungsmächtigsten Passagen der Metamorphosen. Dadurch, dass Ovid in der Episode neben Narziss als weibliche Protagonistin Echo auftreten lässt, schafft er ein Narrativ, das in fast jedem Bereich der Kunst und jeder Epoche der Geistesgeschichte intensiv rezipiert wurde (vgl. Orlowsky und Orlowsky 1992; Renger 2002). Dem Narziss haftet bei Ovid das Medium des Bildes, der Echo das Medium der Stimme an, und ihre Geschichte lässt sich als Thematisierung des Verhältnisses beider Medien auffassen. Die Episode gilt als eine Schlüsselgeschichte über die Sinneswahrnehmungen, über Illusion und Kunst (vgl. Rosati 1983; Hardie 2002, 143–172; Krupp 2009, 85–120; Darab 2018), aber auch über Liebe und Identität: Narziss scheitert daran, zugleich Subjekt und Objekt seiner eigenen Liebe zu sein (Möller 2016, 60). Als Namengeber des Narzissmus ist der mythische Held präsent in der Psychoanalyse und in psychologischen Diskursen und wurde sogar zum fest etablierten Bestandteil von Alltagsgesprächen über menschliches Verhalten und zu einer Ikone in der Popkultur. Die intertextuellen Bezüge der ovidischen Erzählung sind zahlreich, und man hat die antike Rezeption des Stoffs von Seneca bis zur Allegorisierung in der neuplatonischen Philosophie erforscht (Winter 2019; Marek 2008, 458–459). Schon hier kann man die moralisierende Tendenz beobachten, die sich im christlichen Mittelalter verstärkt, und für die später etwa Rousseaus Komödie Narcisse ou l’Amant de lui-même (1752/53) über Eitelkeit, Täuschung und Selbsttäuschung als paradigmatisches Beispiel gilt. Die andere starke Tendenz in der Rezeptionsgeschichte des Narziss-Stoffes ist die Auffassung des Jünglings als Verkörperung der Vollkommenheit im ästhetischen Sinne. Hier ragt Caravaggios Gemälde Narciso (um 1600) heraus, das mit dem über dem Wasserspiegel sich beugenden, idealisierten Narziss die typischste Version der Narziss-Ikonographie verkörpert. Poussins Narziss und Echo (um 1630) wiederum, das den sterbenden Narziss als Skulptur darstellt, entfernt sich von den traditionellen Darstellungen und weist eine intensive Auseinandersetzung mit dem ovidischen Text auf (Bätschmann 1979, 41); auf seinem späteren Bild Geburt des Bacchus (1657) zeigt Poussin den Jüngling wieder beim Sterben. Einen Höhepunkt der Rezeption bedeutet Dalís Die Metamorphose des Narziss (1937),

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das sowohl an Caravaggio als auch ans Motiv der Skulptur angelehnt ist und schon die Wirkung der Psychoanalyse in sich trägt. Während in der ikonographischen Tradition die Spiegelung ein prägendes Element ist, arbeitet man in der musikalischen Aufarbeitungdes Mythos mit Echoeffekten; hier sei Glucks Écho et Narcisse (1779) erwähnt. Mit der Psychoanalyse kam eine neue Epoche in die Rezeption. Freuds Zur Einführung des Narzißmus (1914) widmet sich der frühkindlichen Entwicklung. Jacques Lacans Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion (1936/49) misst Erkennen und Verkennen von Identität eine große Rolle in der Entwicklung des Ichs bei; diese Theorie hat eine eminente Bedeutung für den Poststrukturalismus. Sowohl das Motiv des Spiegels als auch die Frage nach dem Wesen der Wiederholung in Echos »Sprache« bedeuten eine Anregung für die Dekonstruktion (Gasché 1986). Der Mythos bleibt für die moderne Literaturwissenschaft auch wegen der weiblichen Stimme interessant (Menke 2003).

67.1 Rainer Maria Rilke: Narziß (Dies also: dies geht von mir aus) Rilke hat 1913 in Paris zwei Gedichte mit dem Titel Narziß verfasst; der erste, kürzere Text (Narziß verging) erschien zuerst 1918, Auszüge aus dem zweiten weitere drei Jahre später, im Aufsatz von Lou AndreasSalomé: Narzißmus als Doppelrichtung (Wolting 2001, 41). Die Figur des Narziss gehört zu jenen Bildern, die in Rilkes Werk die narzisstische Selbstbezogenheit repräsentieren, wie die Rose, der Engel, der Schwan oder die Fontäne (Kunz 1970, 10–19; Zsellér 2014); diese sind wesentlich für sein Verständnis von Kunst und Künstlertum. Im Gegensatz zum ersten Text spricht das lyrische Ich hier in der ersten Person und reflektiert auf die Gefahr seiner Ichbezogenheit noch vor seinem Tod. Das Gedicht fängt mit stark betonten deiktischen Gesten an. Das »Dies also«, dessen erstes Glied in den beiden ersten Strophen dreimal verwendet wird, artikuliert den Moment des Erkennens und evoziert den Aufruf iste ego sum! aus den Metamorphosen (met. 3, 463). Das Erkennen gilt dem von Narziss Ausgehenden, das nicht mehr das Seine sein wird und das nicht weiter qualifiziert wird; dieses wird mit Leichtigkeit und Körperlosigkeit (Luft) assoziiert und in seiner Visualität positiv beschrieben (Glanz), was damit zusammenhängt, dass es keine Feindschaft erfährt. Das Ich kann die Prozesse der Selbstentfaltung gleichwohl nicht kontrollieren: »Dies hebt sich unauf-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_67

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VI Rezeption – D Einzelmythen und Mythengruppen

hörlich von mir fort« (Vers 5). Der Sprechende blickt zurück auf seine Versuche, aus dem solipsistischen Zustand herauszukommen, und stellt fest, dass ihm die Begegnung mit dem Anderen in der Liebe nicht gelungen ist. Was sich in seinem Inneren als Objekt gebildet hat, liegt im Wasserspiegel, der teilnahmslos ist; das Ich stellt sich dar, wie es unter einem Kranz von Rosen das zerstreute Bild dieses Wassers anstaunt. Die Sphäre des Wassers beschreibt es als gezeichnet von Leben- und Gefühlslosigkeit, als einen Ort, wo es nicht geliebt wird. Die Angst vor dem Ich-Verlust (vgl. Wolting 2001, 45) erklärt das Ich auch mit sich selbst: »[I]ch könnte denken, daß ich tödlich sei« (Vers 28).

67.2 Friederike Mayröcker: [D]as zu Sehende, das zu Hörende In Friederike Mayröckers Hörspiel [D]as zu Sehende, das zu Hörende (1997) sind neben dem »Trauervogel« Echo und der Künstlerfigur Narkissus (sic) noch der Freund von diesem, Henry, und ein Erzähler zu hören. Das Stück, das sehr stark die Vergänglichkeit reflektiert, spielt sich in einem Altersheim ab. In der Gattung ›Hörspiel‹ sieht die Autorin selbst eine genuin literarische Form, die etwa die Gleichzeitigkeit von verschiedenen Gesprächen ermöglicht (vgl. Pauler 2002, 163). Wie aber schon der Titel des Werks zeigt, nimmt Mayröcker nicht nur die eine Seite der ovidischen Erzählung ernst: Neben Sprache, Klangmaterial und Musik spielt hier auch wieder Visualität eine große Rolle. Dementsprechend wird das Setting durch Ekphrasen von zwei zeitgenössischen Gemälden ausführlich geschildert. So erfährt der Rezipient, dass die Spiegelung nicht durch eine reine Quelle ermöglicht wird wie bei Ovid, sondern durch von Algenfarbe schillerndes, stehendes Wasser, das aber nur in Narkissus’ Vorstellung existiert und in dem er sich absichtlich zu spiegeln versucht; sobald ihm das gelingt, schreit er. Echo kreist über dem Schädel von Narkissus und wiederholt nicht nur seine Worte und Schreie, sondern auch seine Gedanken. Sie besitzt freilich eine eigene Sprache, und »sie echot vor sich hin, echot ihre eigenen Phantasien« (18–19), obwohl es ihr beinahe wehtut zu reden. Dass die Protagonistin zu sprechen vermag, bedeutet nicht, dass die beiden Figuren miteinander kommunizieren könnten (vgl. Pauler 2002, 178). Die radikale Poetik des Stücks schließt nämlich jegliche feste Struktur aus: Kein stringenter Dialog kann in dieser imaginären Welt entstehen, geschweige denn ein rekonstruierbares Narrativ. Die Zersplitte-

rung des Gedankenstromes und die Dissemination des Bewusstseins gehen mit assoziativ aneinandergereihten Sequenzen einher. Charakteristisch dafür ist Narkissus’ Erinnerung an eine Nacht in einem Hotelzimmer, wo er einen Mezzosopran hörte, aber die Worte nicht verstand, »weil das ihr innewohnende Echo alles verdeckte« (31). Da Echo Mezzosopran ist (s. die Angabe zu den Personen, 5), könnte man glauben, dass es damals um ihre Stimme ging. Sie berichtet aber in der Jetztzeit des Hörspiels davon, dass sie in jener Nacht unsicher war, ob sie eine Einbildung hatte, ob sie die Phantasiebilder des Narkissus nachvollzog oder, ob die beiden das gleiche akustische Erlebnis hatten. Identitäten und Sinneswahrnehmungen sind in Mayröckers Werk hoffnungslos brüchig und unkontrollierbar. Weibliche und männliche Figur können im Altersasyl nicht harmonisch koexistieren: Narkissus erzählt an einer Stelle, wie er und Henry mit brutalen Schreien Echo vertrieben hätten, die jedoch immer noch da sei. Bilder von Krankheiten und Leid prägen diese surreale Evokation des ovidischen Stoffs.

67.3 János Marno: Narziss richtet sich János Marnos Gedichtband Narziss richtet sich (Nárcisz készül, 2007) gehört zu den am stärksten kanonisierten Werken der ungarischen Lyrik der 2000er Jahre. Marno lässt Nárcisz, der in seinem Werk zuerst hier erscheint, auch in seinen späteren Bänden immer wieder auftreten: Die Chance des Nichts (a semmi esélye, 2010), Kairos (2012), Kältewelle (Hideghullám, 2015), Rollenzerteilung (Szereposzlás, 2018). Nárcisz ist eine Figur, die spazierend ihre Beobachtungen macht, sowohl räumlich als auch mental in Bewegung ist und sprachliche Prozesse in Bewegung setzt. Sie ist präsent, auch wenn er ihren Platz anderen Protagonisten überlässt, wie Anna in Die Chance des Nichts. (Vgl. Kerber 2019.) Der Titel des Bandes Nárcisz készül ist mehrdeutig, indem készül gleichzeitig ›im Werden sein‹ und ›im Griff sein‹ bedeutet. Das Sprachspiel bei Marno bedeutet, dass er das Potential von Bewegungen und Verschiebungen des Sinnes, das sich in der Sprache verbirgt, sich entfalten lässt. Das kann man gut im Gedicht Narziss beugt sich (Nárcisz hajlik) beobachten, das nach einem Motto von Attila József, welches die Dimensionen der Bedeutung des Textes weiter erhöht, folgendermaßen anfängt: »über das Gedicht, das sein Obdach sein könnte.« Der Titel bildet also mit den ersten Versen einen Satz, ist aber durch Leerzeile und Motto von diesen getrennt. Marno

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spricht von einem textuellen Spiegel, und das Verb »beugen« erhält eine zweite Bedeutung, weil hajlik (›beugt sich‹) und hajléka (›sein Obdach‹) sich als Beugungen voneinander erweisen (im Attila JózsefZitat erscheint das Verb in zwei weiteren Bedeutungen). Die Spiegelung ist also von dem Gespiegelten abgebogen, und dass Nárcisz im Text ein Zuhause haben könnte, wird auch nur als Möglichkeit genannt. Der Held des Gedichts entpuppt sich als ein »sich beugender« auch insofern, als er mythische Figur, lyrisches Ich und Alter Ego des Dichters gleichzeitig ist (die Nárcisz-Gedichte operieren oft mit biographischen Parallelen). Zu der vielschichtigen Konfiguration tritt in diesem Werk noch das Bild der Blume Narziss hinzu. Motive des ovidischen Stoffs finden sich bei Marno meistens nicht in einer direkten Weise. Im angesprochenen »Obdach« sieht man etwa die Mutter des Nárcisz, die über einem Wandbrunnen weint: In diesem Bild wird die Anspielung auf die Wassernymphe Liriope, Mutter des Böotischen Jünglings bei Ovid, mit dem Motiv des Weinens des Protagonisten verbunden (vgl. Konkoly 2017). Literatur

Bätschmann, Oskar: Poussins Narziss und Echo im Louvre: Die Konstruktion von Thematik und Darstellung aus den Quellen. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 42 (1979), 31–47. Darab, Ágnes: Image – Text – Corpus in the Stories of Narcissus and Pygmalion in Ovid’s ›Metamorphoses‹. In: Acta Classica 54 (2018), 107–121. Gasché, Rodolphe: The Tain of the Mirror. Derrida and the Philosophy of Reflection. Cambridge, Mass./London 1986. Hardie, Philip: Ovid’s Poetics of Illusion. Cambridge 2002. Kerber, Balázs: »Falánk hüllő gyanánt, az álom«. A Nárciszjelenség továbbélése Marno János Szereposzlás című kötetében. In: Tiszatáj 73/3 (2019), 70–76. Konkoly, Dániel: A fodrozódó víztükör poétikája. A mitoló-

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giai hagyomány működése Marno János Nárcisz-verseiben. In: Ókor 16/3 (2017), 66–74. Krupp, József: Distanz und Bedeutung. Ovids ›Metamorphosen‹ und die Frage der Ironie. Heidelberg 2009. Kunz, Marcel: Narziss. Untersuchungen zum Werk Rainer Maria Rilkes. Bonn 1970. Marek, Heidi: Narkissos. In: Maria Moog-Grünewald (Hrsg.): Mythenrezeption. Die antike Mythologie in Literatur, Musik und Kunst von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart/Weimar 2008, 458–468. Menke, Bettine: Rhetorik der Echo. Echo-Trope, Figur des Nachlebens. In: Doerte Bischoff und Martina WagnerEgelhaaf (Hrsg.): Weibliche Rede – Rhetorik der Weiblichkeit. Studien zum Verhältnis von Rhetorik und Geschlechterdifferenz. Freiburg 2003, 135–159. Möller, Melanie: Ovid. 100 Seiten. Stuttgart 2016. Orlowsky, Ursula und Orlowsky, Rebekka: Narziß und Narzißmus im Spiegel von Literatur, bildender Kunst und Psychoanalyse. Vom Mythos zur leeren Selbstinszenierung. München 1992. Pauler, Monika: ›Nervensprache‹. Friederike Mayröckers Hörspiel ›das zu Sehende, das zu Hörende‹. In: Renate Kühn (Hrsg.): Friederike Mayröcker oder ›das Innere des Sehens‹. Studien zu Lyrik, Hörspiel und Prosa. Bielefeld 2002, 163–190. Renger, Almut-Barbara (Hrsg.): Mythos Narziß. Texte von Ovid bis Jacques Lacan. Leipzig 1999. Renger, Almut-Barbara (Hrsg.): Narcissus. Ein Mythos von der Antike bis zum Cyberspace. Stuttgart/Weimar 2002. Rosati, Gianpiero: Narciso e Pigmalione. Illusione e spettacolo nelle ›Metamorfosi‹ di Ovidio. Firenze 1983. Winter, Kathrin: Disturbingly (Dis)Similar Narcissus and Claudius in Seneca, Apocolocyntosis 13. In: Mnemosyne 72 (2019), 300–313. Wolting, Stephan: Verlorener Narziß. Komplementäre Motive von ›Verlorenem Sohn‹ und ›Narziß‹ in Gedichten Rainer Maria Rilkes unter dem Einfluss Sigmund Freuds und Lou Andreas-Salomés. In: Orbis Linguarum 18 (2001), 41–53. Zsellér, Anna: Der Gleichmut der Fontäne. Die Poetik des Verzichts beim späten Rilke. In: Blätter der Rilke-Gesellschaft 32 (2014), 134–142.

József Krupp

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68 Heidnische Hybris: Niobe und die lykischen Bauern 68.1 Die Hybris des Entdeckers und die Hybris des Hybriden Hybris ist eine Form der Selbstüberhebung. Die Majestät einer Gottheit oder die Hoheit einer göttlich festgesetzten Grenze ohne oder wider besseres Wissen zu verletzen, beschwört unweigerlich eine schwere Strafe oder Rache herauf. Moralisch betrachtet ist Hybris tadelnswert, folglich eignen sich Geschichten von hybriden Charakteren gut als moralisierende Exempel. Mit Blick auf die künstlerische Darstellung ist Hybris jedoch auch ein Faszinosum, weil sie immer Gefahr oder Abenteuer bedeutet und den Wagemut voraussetzt, sich gegen eine höhere, unüberwindliche Macht aufzulehnen. Wenn ein Grenzüberschreiter, metaphorisch gesprochen, ein unbekanntes Land betritt, dessen Erschließung einen nützlichen Gewinn verspricht – auch dann, wenn dieser Gewinn um den Preis einer schweren Strafe erkauft ist –, erscheint die dahinterstehende Hybris durchaus tolerierbar. Prometheus oder Daedalus und Icarus wie auch ihre jüngeren Brüder Faust und Frankenstein können hierfür als prominente Beispiele gelten, die gerade in der Moderne dazu dienen, das ambivalente Verhältnis von möglich und erlaubt, von wissenschaftlichem Erkenntnisdrang und ethisch-moralischen Konsequenzen auszuloten. Vor diesem Hintergrund ist leicht ersichtlich, wieso Hybris ein genuines Phänomen der Kunst ist: Gerade in dieser lässt sich Hybris in (scheinbar) sicherer Distanz darstellen, ausleben und verhandeln (vgl. Hörisch 2002). Weniger prominent, weniger altruistisch und weniger moralisch ambivalent erscheint eine andere Spielart der Hybris: die Hybris desjenigen, der sich selbst zu hoch ansetzt, ohne ein anderes Ziel als ebendiese Selbsterhöhung zu verfolgen. Dieser Art der Hybris ist keine abenteuerliche Geschichte abzugewinnen, und Charaktere, deren alles beherrschende Hybris für sich selbst steht, scheinen sich im ersten Moment lediglich als moralisches Negativbeispiel zu eignen. Dennoch besitzt die Hybris des Hybriden ein eigenes Faszinationspotential, das sich gerade in der Kunst entfalten kann, wie Ovids egoman-hybride Figuren zeigen: Das Kreisen um sich selbst ist ganz wesentlich eine Eigenschaft der Kunst und kann unter dem Deckmantel der moralischen Instruktion besonders ungezwungen ausgelebt werden.

68.2 Niobe: Ted Hughes, Tales from Ovid (1997) Ovid prägt den Mythos von Niobe in den Metamorphosen in entscheidender Weise, indem er den hybriden Charakter der Niobe in den Mittelpunkt der Darstellung rückt (met. 6, 146–312). Der thebanischen Königin, Tantalustochter und Gattin des Königs Amphion, die in glanzvoller Pracht bei Letos Opferfest auftritt, genügt es nicht, die Göttin nur einmal herauszufordern, indem sie deren Nachkommen, Apollo und Diana, gegenüber ihrer großen Schar von 14 Kindern abwertet. Nachdem die göttlichen Zwillinge Niobes Hochmut mit der Ermordung der sieben Söhne gestraft haben, setzt Niobe zu einem zweiten Schlag an und stellt in einer grandios selbstüberschätzenden Rede Letos zweien die ihr verbliebenen sieben Kinder erneut entgegen – um dann sogleich auch diese sieben durch die Pfeile Apolls und Dianas zu verlieren. Zu Stein erstarrt weint Niobe ewig um ihre verlorenen Kinder. Im Mittelalter und der Frühen Neuzeit wurde die Geschichte vor allem allegorisch ausgedeutet und moralisierend verwendet: Niobe als personifizierte superbia, ihre sieben Söhne als die sieben Todsünden, die Töchter als der Wille, diese Sünden zu begehen (Wiemann 1986, 12–21). So findet sich Niobe z. B. im Ovide moralisé nicht anders als in Dantes Divina Comedia als ein Beispiel der Bestrafung von Stolz und Hochmut. Da die eher handlungsarme Geschichte in den Metamorphosen dem Katalog der fallenden Kinder viel Raum lässt, zeigt sich in der bildenden Kunst eine reichere Niobe-Rezeption als in der Literatur. Dabei zeigt sich ein besonderes Interesse daran, möglichst alle 14 Kinder darzustellen und in Gruppen zu arrangieren (ebd., 138). In der Moderne nimmt die Beschäftigung mit der Figur stark ab, auch wenn die »selbstbewusste Auflehnung gegen die Götter« (Oster 2008, 473) hier durchaus ihren Platz hat und kritische Auseinandersetzungen provoziert – die Frage nach dem, was man darf und was nicht, welche Grenzen überschreitbar sind oder nie hätten überschritten werden dürfen, wirkt in Zeiten sich stetig überbietender wissenschaftlicher Innovationen aktueller denn je. Trotzdem werden solche Auseinandersetzungen eher anhand z. B. des Prometheus-Mythos geführt (ebd., 473); durch die traditionelle Festlegung auf moralisierende Qualitäten hat die Niobe-Geschichte für diesen Zweck keinen Anklang gefunden. In Ovids Behandlung der Niobe wird vor allem der stark selbstbezogene Aspekt greifbar, da hier die Hybris

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_68

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um der Hybris willen ihr eigenes Faszinationspotential entwickelt. Diesen Aspekt rezipiert Ted Hughes in seiner lyrischen Neuerzählung der Metamorphosen, Tales from Ovid (1997). Niobe steht als glorios-hybride Gestalt im Zentrum des Geschehens; ihre Kinder treten in zwei katalogartigen Blöcken – die Söhne namentlich, die Töchter immerhin noch vereinzelt hintereinander – nur ein einziges Mal auf: um getötet zu werden. Hughes’ Text beginnt mit dem Verweis auf Arachne und leitet aus deren Herausforderung an die Götter Niobes Unbelehrbarkeit ab: »Arachne’s fate / Taught Niobe nothing.« Niobe kann mit moralischen Negativbeispielen nichts anfangen; viel zu hoch stellt die Hybris sie über das, was für andere gilt. Vor diesem Hintergrund entfaltet sich Niobes Hauptmerkmal: »[...] She was proud Of the magical powers of her husband – Amphion the King. And she was proud Of the purity of the noble blood They both shared. And proud Of their kingdom’s envied might and splendour. But above all these, her greatest pride Was her family – her fourteen children. And it is true, Niobe, of all mothers would have been the most blest If only she had not boasted That she, of all mothers, was the most blest.«

Unerbittlich kehrt der Stolz wieder, die Enjambements heben Niobes wesentliche Eigenschaft, proud, von den unterschiedlichen Objekten des Stolzes ab und legen dabei jedes Mal eine neue Emphase auf den nächsten Grund für Niobes Großartigkeit, bis schließlich die höchsten Attribute der Königin, die ihren Stolz begründen, vom Stolz auf ihre Kinder noch überboten werden. Tatsächlich gibt der Sprecher Niobes Stolz auch noch Recht (»and it is true«), um dann den Wesenszug der Hybris in einen paradoxen Abschluss zu fassen: Niobe wäre glücklich gewesen, wenn sie nur nicht (»if only«) mit ihrem Glück geprahlt hätte – dabei verweigert ihr Stolz es ihr, glücklich zu sein, ohne zu prahlen. Das Enjambement wird hier als eine Marke des Gedichtes, als Ausdrucksform von Niobes Hybris vorgeführt: ein Überhang, der die Aussage eines Verses kurz suspendiert, aber zugleich verspricht, dass noch mehr, ein neuer Vers, ein weiterer Grund, stolz zu sein, folgen wird.

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Dass Niobe diesem Modus verpflichtet ist, zeigt sich nicht nur in der Tatsache, dass sie nach der Tötung ihrer Söhne eine zweite, hemmungslos hybride Rede hält, sondern auch in der Form dieser Rede. So gesteht Niobe Leto den Triumph zu, sie ins Unglück gestürzt zu haben: »In each of these seven corpses I died In agony and lie dead. Gloat. And exult. And yet Your victory is petty.«

In Niobes kurzem »and yet« liegt die Marke der Hybris; wie zuvor markiert der Zeilensprung die Grenzüberschreitung. Wäre sie nur (»if only«) an der Grenze stehengeblieben, wären ihre Töchter gerettet gewesen. Aber Niobes Hybris kennt keinen Halt. Der dezidiert ovidische Zug, den Hughes in dieser Darstellung einfängt, ist die Art, wie sich Niobes Lust an der eigenen Großartigkeit frappierend in der Lust spiegelt, mit der ihr Hochmut künstlerisch ausgestellt wird: Fast scheint es, als ob die doppelte Herausforderung an Leto, die zu nichts anderem als einer doppelten Bestrafung führen kann, nur dem Vorwand diene, Niobes maßlos-hybrides Gerede auch doppelt zu erzählen.

68.3 Die lykischen Bauern: Seamus Heaney, Death of a Naturalist (1966) Eine anders geartete Hybris-Geschichte bietet die Erzählung von den lykischen Bauern, die Leto den Zugang zum Wasser verwehren (met. 6, 313–381). Die Verletzung der göttlichen Majestät bleibt bei Ovid unmotiviert: Die Bauern schneiden gerade Schilf, als die Göttin mit ihren beiden kleinen Kindern am Teich ihren Durst stillen will. Ohne ersichtlichen Grund halten die Bauern sie fern und zeigen ihre vermeintliche Überlegenheit, indem sie Leto beschimpfen, triumphierend in das Wasser hineinspringen und dabei Schlamm aufwühlen. Letos Fluch, sie möchten ewig in ihrem Wasser leben, initiiert die Metamorphose der Bauern zu hopsenden und quakenden Fröschen. Die Episode hat nur wenig erkennbare Rezeption gefunden, wie Ulrich Schmitzer zeigt: Neben einigen Darstellungen in Kupfer- und Holzstichen gibt es eine überschaubare literarische Auseinandersetzung mit der Szene, z. B. in Handkes Roman »Der Chinese des Schmerzes« (1983) und bei dem österreichischen Lyriker H. C. Artmann (Schmitzer 1993, 379–386). Eine

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weniger augenfällige Rezeption findet sich in Seamus Heaneys Gedicht »Death of a Naturalist« (1966). Heaneys Gedicht folgt dem Aufbau der ovidischen Episode. In beiden Texten wird der Darstellungsfokus zu Beginn auf die herabbrennende Sonne und einen gleichwohl fruchtbaren Tümpel gelegt, zwei Elemente, die die Ausgangslage für das sich anschließende hybride Vergehen bilden. Während Leto zum Wasser tritt und die Bauern sie fernhalten, zeigt Heaneys Gedicht den Sprecher als einen jungen Naturforscher, der sich dem fruchtbar-fauligen Schwelen des Tümpels mit naturkundlichem Interesse nähert: Fasziniert sammelt er Froschlaich, der in Gläsern auf den Fensterbänken der Schule aufgereiht als Anschauungsobjekt dient, bis die Kaulquappen schlüpfen. Mit einer naiven und doch systematischen Herangehensweise wird die Natur beobachtet, benannt und klassifiziert (»the daddy frog was called the bullfrog [...] how the mammy frog / Laid hundreds of little eggs and this was / Frogspawn.«). Dass es sich hier um einen Akt der Hybris handelt, zeigt sich erst im zweiten Teil des Gedichts. Wie die Bauern ihre Verachtung der Göttin büßen müssen, muss auch der Naturforscher in einer plötzlichen Wandlung der Szene erkennen, dass sein Eingreifen in die Natur nicht ungestraft bleibt, denn die Frösche zeigen plötzlich emotionale Reaktionen und eine große Gewaltbereitschaft: »Then one hot day [...] the angry frogs / invaded the flax-dam«. In beiden Texten folgt eine Passage, die die Frösche (und damit den Moment der Verwandlung) beschreibt und die auffällige lautmalerische Qualitäten besitzt. Die onomatopoetische Gestaltung der Frösche bei Ovid gehört sicherlich zu den bekanntesten Versen der Metamorphosen überhaupt: »litibus exercent linguas pulsoque pudore / quamvis sint sub aqua, sub aqua maledicere temptant« – »sie üben bei Streiterei die Zungen und suchen schamlos, so tief auch im Wasser sie sind, unter Wasser zu schmähen« (met. 6, 375–376). Auch in Heaneys Darstellung fallen die intensiven klanglichen Effekte auf: »[...] gross-bellied frogs were cocked On sods; their loose necks pulsed like sails. Some hopped: The slap and plop were obscene threats [...].«

Während diese poetische Technik bei Ovid jedoch dazu beiträgt, dass sich der Fluch der Göttin im Verlauf

der Darstellung in einen verspielteren Tonfall auflöst, zeigt sich bei Heaney die gegenteilige Entwicklung: Der anfänglich verspielte Ton, der den naiven Zugang des Kindes zur scheinbar harmlosen Natur untermalt, wandelt sich zum düsteren Ausdruck eines bedrohlichen Vergeltungswillens, auf den der junge Protagonist nur mit irrationaler Angst reagieren kann: »I sickened, turned, and ran. The great slime kings Were gathered there for vengeance, and I knew That if I dipped my hand the spawn would clutch it.«

Zwar treten die Frösche – anders als bei Ovid – nicht als Gestrafte, sondern als Rächer auf; doch genauso, wie die Bestrafung der Bauern den wesentlichen Kern ihres hybriden Vergehens enthält (das Springen und Schmähen), wird auch hier ein klarer Bezug zwischen Vergehen und Vergeltung etabliert: Der Froschlaich ist bereit, nach der Hand zu greifen, die ihn zuvor gesammelt hat. Mit dem Moment der Erkenntnis (»and I knew«) hat sich erfüllt, was der Titel schon antizipiert: Der Protagonist hört auf, ein Naturforscher zu sein. Die Hybris des Entdeckers erweist sich hier als nicht tolerierbar. Die Entwicklung des lyrischen Ich führt überraschenderweise zurück in den Mythos. Die ovidische Note, die Heaney in dieser Wendung erfasst, besteht darin, dass die Re-Mythisierung zwar um den Preis der Rückkehr von Hybris und Bestrafung erkauft ist, aber daraus zugleich ein reiches Potential für die Dichtung entstehen lässt. Literatur

Heaney, Seamus: Death of a Naturalist [1966]. London 1991. Hörisch, Jochen: Wir gottgleichen Hirnhunde. Gedanken über die Hybris (2002). https://www.freitag.de/autoren/ der-freitag/wir-gottgleichen-hirnhunde (3.12.2018). Hughes, Ted: Tales from Ovid. London 1997. Oster, Angela: Niobe. In: Maria Moog-Grünewald (Hrsg.): Mythenrezeption. Die antike Mythologie in Literatur, Musik und Kunst von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart/Weimar 2008, 469–473. Schmitzer, Ulrich: Die lästigen Frösche. Von Aristophanes und Ovid zu Peter Handke und H. C. Artmann. In: Anregungen 39 (1993), 372–386. Wiemann, Elsbeth: Der Mythos von Niobe und ihren Kindern. Worms 1986.

Kathrin Winter

69  Orpheus – zwischen Bacchus und Apollon

69 Orpheus – zwischen Bacchus und Apollon 69.1 Vergil und Ovid Die Geschichte von Orpheus, so wie Ovid sie überliefert, handelt von der grenzenüberschreitenden Liebe zu der verstorbenen Eurydice, von der Kraft der Musik, die den Tod überwindet, von dem dennoch misslingenden Versuch, die Geliebte aus dem Jenseits zurückzuholen, der Trauer um ihren zweimaligen und schließlich endgültigen Verlust sowie vom Zerreißungstod des Orpheus durch dionysische Mänaden. Dass dem Dichter-Sänger Orpheus seine Geliebte Eurydice zur Seite gestellt wird, ist für uns erst seit den Bearbeitungen Vergils (georg. 4, 453–527) und Ovids (met. 10, 1–154; 11, 1–84) deutlich greifbar, bekannt war die Geschichte aber bereits in der griechischen Antike (Eurip. Alk. 357–362 und Plat. symp. 179d–e; vgl. Klodt 2004, 56–57). Neben und getrennt von seiner Rolle als Liebender begegnet Orpheus in der antiken griechischen Tradition seit dem ausgehenden 6. Jahrhundert v. Chr. auch als Kultstifter und Begründer von Mysterien, dem die Autorschaft sogenannter orphischer Hymnen und Theogonien zugeschrieben wird (Frede 2004; Bremmer 1991) – ein Merkmal, das in Ovids Bezeichnung des Orpheus als vates, als Dichterprophet, weiterlebt. Das magische Medium von Orpheus’ Liebe sowie von seiner Trauer ist die Stimme, die sein Leierspiel begleitet und dem Mythos eine auch poetologische Dimension verleiht. Orpheus’ Gesang bannt seine Zuhörer – die Bewohner der Unterwelt sowie Tiere und Pflanzen – und greift so in den Lauf der Welt ein. Schließlich überdauert diese Stimme sogar den Sänger selbst, dessen abgeschlagenes Haupt nach seinem Tod nicht aufhört zu singen. Gesang und Poesie sind in diesem Mythos eng verbunden mit Klage und Dunkelheit, mit Trennung und Tod, aber auch mit der Liebe. So wie der Gesang des Orpheus es ermöglicht, die gestorbene Geliebte aus der Unterwelt zu befreien, so führt die sorgende Liebe – der verbotene Blick (met. 10, 56–57) – dazu, dass er sie wieder an den Tod verliert. Damit ist die Geschichte von Orpheus und Eurydice auf einer Schwelle angesiedelt, in einem Zwischenreich, dessen Figuren – blass, körperlos und durch Trauer oder Tod isoliert – nicht von dieser Welt sind. Um bei der Besprechung der Rezeptionszeugnisse unterscheiden zu können, wann spätere Autoren dezidiert auf Ovid zurückgreifen, seien einige Charakte-

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ristika des ovidischen Orpheus im Abgleich mit dem Vorgängertext Vergils hervorgehoben (zum Vergleich s. u.a. Anderson 1982; Segal 1989, 73–94). Beide Autoren entwickeln die Handlung im Wesentlichen entlang der gleichen Stationen. Anders als Vergil entscheidet sich Ovid jedoch dafür, Orpheus’ Rede vor den Unterweltsgöttern in extenso wiederzugeben (met. 10, 17–39), und er akzentuiert dabei vor allem deren rhetorische Argumente, das Moment der persuasio. Vergil hingegen lässt seinen Orpheus unmittelbar nach dem Schlangenbiss und noch in der Oberwelt – allerdings in indirekter Rede – den Schmerz des Liebenden und seine Sehnsucht vortragen (georg. 4, 464–466; vgl. die vierfach wiederholte Apostrophe te als Zeichen der starken Emotionalisierung). Ovids Orpheus appelliert an die Liebeserfahrung seiner Adressaten, Pluto und Proserpina, und schmeichelt deren Machtbewusstsein, indem er bekennt, dass alles Sterbliche ihrer Herrschaft unterstehe (met. 10, 32– 37). Eurydice fordere er nicht als »Geschenk« (munus), sondern nur zum vorübergehenden »Gebrauch« (usum 10, 37) zurück –  dieses quantifizierend-juridische Argument, das zugleich auf die Endlichkeit und Kurzlebigkeit der Eurydice vorausweist, hat mancher Forscher Ovid als Zeichen mangelnder Emotionalität, ja ›Frigidität‹ ausgelegt (Norden 1966, 512– 513; Anderson 1982, 40–41; Klodt 2004, 82 spricht etwa von einer ›Banalisierung‹). Eine zweite Abweichung von der Vorlage ist virulent: Während Vergil die herzzerreißenden Abschiedsworte der Eurydice nach dem fatalen Blick des Orpheus wörtlich wiedergibt (georg. 4, 494–498), kommentiert Ovid, möglicherweise gezielt gegen Vergil, Eurydices Schweigen wie folgt: »doch mit keinem Wort klagte sie über ihren Gatten – denn worüber hätte sie klagen sollen als darüber, daß sie geliebt wurde?« (met. 10, 60–61; Übers.: von Albrecht). Das Verstummen spielt ebenfalls eine Rolle in der Schlusspassage der Erzählung: Bei Vergil klagt das abgetrennte und auf dem thrakischen Fluss Hebrus dahingleitende Haupt des Orpheus immerhin noch den Namen »Eurydice« (georg. 4, 525–527; dreimal wiederholt). Ovid dagegen scheint sich für eine Verdunkelung des poetischen Ausdrucks zu entscheiden, die das Liebesobjekt vollständig auslöscht. In seiner Version murmelt die entseelte Zunge des Orpheus nach der Zerreißung nur noch unverständliche Klagelaute: medio dum labitur amne, / flebile nescio quid queritur lyra, flebile lingua / murmurat exanimis, respondere flebile ripae (met. 11, 51–53: »während sie mitten im Fluß dahingleitet, läßt die Leier Klagetöne erklingen;

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_69

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VI Rezeption – D Einzelmythen und Mythengruppen

Klagelaute murmelt die entseelte Zunge, und klagend antworten die Ufer«; zur Stelle vgl. Schlesier 2010, 57: »Der orphische Gesang löst sich in der [...] Natur vollständig auf.«). Dass das Haupt jedoch auf der Insel Lesbos anlandet, ist ein deutliches Indiz für die poetische Auszeichnung dieser nahezu stummen, jedenfalls asemantischen Töne. Insgesamt gibt Ovid (dessen Orpheusgeschichte auch länger ist als die seines Vorgängers) dem Tod des Orpheus deutlich mehr Raum als Vergil: Nach einer Reihe von Liedern, die Orpheus im zehnten Buch in der Folge des Verlusts der Eurydice, aber als ›leichteres‹ Gegenstück zu der Klage um sie (met. 10, 152), vorträgt, erfolgt zu Beginn von Buch 11 seine Zerreißung durch ciconische Frauen, die mit Tierfellen, einem dionysischen Accessoire, bekleidet sind. Die ältere Tradition kennt diese Episode als Folge einer Kultkonkurrenz: Orpheus soll seine Dienste dem Gott Dionysos entzogen und sich Apollon bzw. Helios zugewandt haben (so in Aischylos’ Bassariden, Fragmente 82–89 Mette; überliefert in Eratosthenes, Katasterismoi 24; deutsche Übersetzung Storch 1997, 210; für einen Überblick der Varianten vom Tod des Orpheus: Kommentar Bömer in: Ovidius 1980, 237–238; Klodt 2004, 45). Die Zerreißung des Orpheus durch die Mänaden wäre demnach die Strafe des Gottes Dionysos aus verletzter Eitelkeit. Weder Vergil noch Ovid bemühen jedoch die Götter für die Erklärung des Endes: Beide zeigen es als die Konsequenz der unglücklichen Liebe zu Eurydice, die Orpheus jegliche Verbindung mit Frauen meiden lässt. Während Vergil von den »über solchem Totendienst verschmähten Mütter[n] der Ciconen« spricht (spretae Ciconum quo munere matres, georg. 4, 520; Übers. Schönberger), wird die Rache der ovidischen Mänaden noch zusätzlich dadurch befeuert, dass Orpheus nicht nur die Frauenliebe flieht, sondern darüber hinaus zum Begründer der Knabenliebe in Thrakien wird (met. 10, 83–85: fuit auctor amorem / in teneros transferre mares citraque iuventam / aetatis breve ver et primos carpere flores. – »Er lehrte auch die Thracervölker, die Liebe auf zarte Knaben zu übertragen, vor der Reifezeit den kurzen Frühling zu genießen und die ersten Blüten zu pflücken.«). Mit dem Hinweis auf die Knabenliebe greift Ovid ein Motiv aus der hellenistischen griechischen Dichtung wieder auf (Phanokles, Fragment 1, 9–10, Powell 1926, 106–107), das Vergil ausgespart hatte (Bömer in: Ovidius 1980, 238; Segal 1989, 477–478, 487–488; Bremmer 1991; Schlesier 2010, 47–49). Dass Orpheus am Ende den dionysischen Frauen unterliegt, dass sein Gesang ihre Waffen nicht mit der gewohnt magischen

Kraft abwehren kann, das ist jedoch nicht allein als ein Ergebnis weiblicher Eifersucht und Raserei zu verstehen, sondern auch als das Resultat eines musischen Agons, in dem sich die apollinische Lyra des Orpheus zunächst dem wilden Heulen und Geschrei der dionysisch rasenden Frauen geschlagen geben muss (met. 11, 15–18; vgl. Schlesier 2010, 55–56 und Roch 2004, 143), eine Niederlage, die durch die Beständigkeit des Gesangs auch über den Tod hinaus eine erneute Wendung erfährt. Und wenn Dionysos am Ende unter seinem Kultnamen Lyaeus, der Lösende, die Frauen bestraft, indem er sie in Bäume verwandelt (met. 11, 67– 84), dann geht Orpheus weniger als ein Gegner des Dionysos aus der Geschichte hervor denn als sein Schützling, was in seiner Rolle als Lehrer dionysischer Mysterien (orgia, met. 11, 93) Bestätigung findet. Poetologisch und musiktheoretisch steht der ovidische Orpheus damit an der Schnittstelle zwischen apollinischer (met. 11, 8) und dionysischer Kunst (met. 11, 92–93).

69.2 Interpretatio christiana: Boethius und Calderón Die Rezeption einer mythischen Figur weist nicht immer deutliche Rückbezüge zu einem bestimmten Autor auf, sondern knüpft häufig an das Zusammenspiel verschiedener Überlieferungen an, die im Laufe der Tradition zu einem ›Mythos‹ verschmolzen werden. Hinzu kommen Umschreibungen und Kontrafakturen einer Figur, die die Koordinaten des antiken Narrativs mit neuen Vorzeichen versehen. Keine der hier behandelten Transformationen gilt daher ausschließlich dem Orpheus Ovids. Im Folgenden werden die wichtigsten Motivcluster dieser Rezeptionsgeschichte skizziert. In den allegorischen Lektüren der Spätantike, des Mittelalters und bis hinein in die Frühe Neuzeit (grundsätzlich Friedman 1970; Huss 2008, 525–527; Buck 1961) begegnet immer wieder der moralisch aufgeladene Dualismus von Orpheus und Eurydice als den Vertretern zweier miteinander unvereinbarer Bereiche. Eurydice verkörpert dann das dem Weltlichen verhaftete Prinzip der fleischlichen Verführung bzw. Verführbarkeit, Orpheus steht für die potentielle Überwindung des Irdischen durch das Geistige, jedoch markiert sein Blick zurück während des Aufstiegs das Scheitern der unerleuchteten Seele (Segal 1989, 167). Diese Lesart lässt sich – wenngleich mit gewissen Verschiebungen zugunsten der geliebten Eurydice – in Boethius’ Trost

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der Philosophie (524 n. Chr.; 3, 12; vgl. Friedman 1970, 92–95) finden, der »den lichten Quell« mit den »schweren Fesseln der Erde« kontrastiert (V. 2–4; Boethius 1990, 158–162). Boethius referiert im eng an Ovid angelehnten narrativen Teil seines Gedichts ausführlich die positive Wirkung der »Schmeichelweisen« (V. 20– 21: blanda ... carmina; Boethius 1990, 160–161) des Orpheus. Den fatalen Blick zurück erklärt er (offenbar nicht nur verurteilend) mit der Schrankenlosigkeit der Liebe: »Was gilt Liebenden ein Gesetz? / Liebe ist sich höchstes Gesetz« (3, 12, 47–48: Quis legem det amantibus? Maior lex amor est sibi; Boethius 1990, 160–161). In der sich anschließenden moralischen Auslegung der Allegorie jedoch, die sich an die Leser richtet, die ihren Geist zum »höchsten Tag« hinaufführen möchten, wird deutlich gemacht, dass alles »Köstliche« (V. 57: praecipuum; Boethius 1990, 162–163) – hier wird Eurydice als Liebesobjekt also positiv gewertet – durch den Blick in den Tartarus seinen Wert verliert und vergeht. Und so wird auch, anders als in der klassischen Version der Geschichte, nicht der Tod der Eurydice, die durch den verbotenen Blick des Orpheus zum zweiten Mal stirbt, hervorgehoben, sondern der –  gewissermaßen spirituelle – Tod des Orpheus selbst im Augenblick seines verwerflichen Richtungswechsels: Vidit, perdidit, occidit (V. 51; Boethius 1990, 162–163: »Suchte, verlor sie, verging dabei«). In christlicher Perspektive erscheint der Blick zurück bisweilen als Analogie des Sündenfalls. Auf Eurydices ersten Tod durch die Schlange wird diese Deutung in Calderóns geistlichem Spiel El divino Orfeo (zuerst 1634; hier nach der zweiten Fassung von 1663) übertragen, ein Text, der, u. a. in der Folge des Ovide moralisé (Anfang 14. Jhd.), die interpretatio christiana des Mythos besonders konsequent durchführt, indem er Orpheus zum Weltenschöpfer macht, der die menschliche Natur (Eurydice) durch seine verlockende Stimme beseelt (V. 191–208: Calderón 1958, 631; 1999, 225–226; vgl. Storch 1997, 95–96 [= Calderón 1958]) und am Ende erlöst. Der Fürst der Finsternis (der Vergilsche Aristaeus: V. 769, Calderón 1958, 647; 1999, 262; vgl. Storch 1997, 112) und Orpheus streiten um Eurydice, und als Ersterer sie durch einen Schlangenbiss, der ihre menschliche Schuld erweisen soll, zu Fall bringt, beschließt Orpheus, mit einem »Instrument der Minne« (so die freie Übersetzung Eichendorffs von V. 1058: Calderón 1958, 657; vgl. 1999, 280 und Storch 1997, 123) die Übermacht der Liebe über die Sünde zu erweisen. Aus »Jesu Saitenspiel« wird jedoch unversehens das »Joch« des Kreuzes (V. 1102 und 1104: 1958, 658; 1999, 284–285; Storch 1997, 124), und

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die Bestandteile des Instruments werden zu Elementen des dornigen Pfades, auf dem Orpheus-Jesus sein Blut für die Menschheit vergießt (V. 1123–1130: 1958, 659; 1999, 286; Storch 1997, 125: »Jeder Wirbel dieser Saiten / Ist ein schneidend scharfer Nagel, / Jede Saite eine Geißel, / und ein Schlag ein jeder Klang mir. / Und so wüst und dornenvoll / Ist der Pfad, den du verlassen, / Daß er rings von meines Blutes / Taue perlt, wo ich gegangen«). Während bei Ovid die Marter durch die Mänaden erst eintritt, nachdem Eurydice bereits für immer verloren ist, und so nicht als Martyrium aufgefasst werden kann, leidet Orpheus in der moralisch-christlichen Deutung für Eurydices Rettung. Orpheus’ Befreiung der Eurydice aus den Fängen der Unterwelt durch seine Erz und Diamanten schmelzende Musik (V. 1173–1176; 1958, 661; 1999, 288–289; Storch 1997, 127) wird von den Vertretern der Finsternis in Calderóns Stück als »Gegengift« einer »andere[n] Schlange« (V. 1286; 1958, 664; 1999, 297; vgl. Storch 1997, 131) bezeichnet. Bei aller Positivität des Endes bleibt jedoch das Opfer des Orpheus bestehen, der, während Eurydice »des Lebens Schiff«, und damit das Schiff der Kirche, besteigt, »in des Todes Nachen« verbleibt (V. 1317–1318; 1958, 666; 1999, 300; vgl. Storch 1997, 132), so dass sich in der Rettung der Menschheit Tod und Leben – verdeutlicht im Bild von Brot und Wein (V. 1358; 1958, 667; 1999, 304; vgl. Storch 1997, 133) – sakramental verbinden. Als – zumindest metaphorisches – Opfer figuriert die Liebe des Orpheus ebenfalls im von Alessandro Striggio d. J. verfassten Libretto zu Claudio Monteverdis Oper Orfeo von 1607, in der Orpheus im 5. Akt, nachdem er Eurydice verloren hat, singt, »Ch’or a te sacro la mia cetra e ’l canto, / Come a te già sopra l’altar del core / Lo spirto acceso in sacrifizio offersi« (»denn dir weihe ich meine Leier und meinen Gesang, / wie ich dir schon auf dem Altar meines Herzens / meinen entflammten Geist als Opfer darbrachte«; Csampai/ Holland 1988, 78–79). Ob der Zerreißungstod des Orpheus (der sowohl bei Calderón als auch in der Uraufführung von Monteverdis Oper ausbleibt) für das Publikum des Ovid – möglicherweise in Anlehnung an die Geschichten von Pentheus und Dionysos – als religiöses Opferritual wahrgenommen wurde, muss offen bleiben. Ein deutlicher Vorläufer der Opfer-Idee dürfte jedenfalls, vor Monteverdi und Calderón, der Humanist und Dichter Angelo Poliziano gewesen sein, der die Geschichte in der 1480 uraufgeführten La fabula d’Orfeo (UA 1480; gedruckt 1494) ganz unallegorisch und frei von didaktisch-metaphysischen Absichten dramatisierte.

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VI Rezeption – D Einzelmythen und Mythengruppen

69.3 Textfäden und Lebensfäden: Poliziano, La fabula di Orfeo Beginnt das Stück in vergilischer Manier im bukolischen Ambiente und mit der Figur des Aristaeus, dessen Verfolgung Eurydice, hier eine Baumnymphe, in den Tod treibt, so folgt Poliziano ab dem 3. Akt zunehmend der Vorlage Ovids (vgl. etwa im 4. Akt: »Ihr leiht sie mir, anstatt sie mir zu schenken« [Storch 1997, 49 = Poliziano 1956, übers. von Rudolf Hagelstange]; »non vel dimando in don, questa è prestanza« [Tissoni Benvenuti 1986, 202, V. 72]; vgl. Ovid met. 10, 37). Nur indirekt zitiert Poliziano Ovid, wenn er im 3. Akt mit Mnesyllus’ Worten »So leicht nicht spult sich der Faden / zurück der fühllosen Parze« (Storch 1997, 47; »Non se volge sí leve / de l’empie Parche el fuso« [Tissoni Benvenuti 1986, 199; V. 36–37]) an die Bitte des ovidischen Orpheus gemahnt, die Götter der Unterwelt mögen den »übereilten Tod [der Eurydice] rückgängig« machen (properata retexite fata, Ov. met. 10, 31), wörtlich aufgefasst: ihre Geschichte oder ihr Fatum ein zweites Mal ›weben‹, was nicht zuletzt an Orpheus als den Dichtersänger denken lässt, der durch seinen Gesang Eurydice zu einem neuen Leben erweckt. Eurydices Schicksal wird in dieser Wendung zu einem Text bzw. Gewebe, oder gar zu einem Gesang, dessen (Lebens-)Faden jedoch durch den liebend-ungeduldigen Blick des Orpheus erneut zerreißt, ein Akt, der sich in der abschließenden Dekomposition seines Körpers durch die Mänaden spiegelt. Liebe und Tod haben ihr tertium comparationis in diesen Akten des Zerreißens. Auch in der Rechtfertigung der Knabenliebe folgt Poliziano Ovid auf dem Fuße: Für den Orpheus beider Autoren handelt es sich hier um eine Entscheidung zugunsten zarter Knabenkörper (Ov. met. 10, 84: teneros ... mares) und eines kurzen Genusses unverblühter Schönheit gegen die dauerhafte Verbindung mit einer Frau (Ov. met. 10, 85: citraque iuventam / aetatis breve ver et primos capere flores – »vor der Reifezeit den kurzen Frühling zu genießen und die ersten Blüten zu pflücken«; vgl. Poliziano, 5. Akt: »Nur den Frühling will ich fortan sehen, / seine schönsten Blüten will ich wählen, / eh der Jahre Glanz und Anmut gehen.« [Storch 1997, 51–52]; »Coglierò da qua ’nanti e’ fior novelli, / la primavera dil tempo migliore; / quando son gli anni ligiadretti e belli, / ...« [Tissoni Benvenuti 1986, 206, V. 9–11]). Radikal zuende gedacht spiegelt sich Orpheus’ Trauer – bei Ovid und bei Poliziano – somit in der intensivierten,

aber begrenzten homoerotischen Liebeserfahrung, die die Liebe gewissermaßen im Moment höchster Erfüllung stillstellt und jedes Voranschreiten der Zeit hin zu Reife und Verfall unterbindet – eine Konstellation, die nicht nur auf den Verlust der Eurydice zurück-, sondern auch auf die Zerreißung des Orpheus vorausweist (so auch die zynische Deutung von Heiner Müller im kurzen Prosatext Orpheus gepflügt [1958]: »Nachdem er seine Frau verloren hatte [...], erfand er die Knabenliebe, die das Kindbett spart und dem Tod näher ist als die Liebe zu den Weibern«; Storch 1997, 228). Die vielfach geäußerte Meinung, es handele sich bei Polizianos Orpheus nicht um eine tragische Figur, sondern um den in die Idylle versetzten und verklärten Dichter (Buck 1961, 24; Segal 1989, 168), kann dem grausamen Ende des Dramas kaum standhalten: Während Ovid die brutale Zerreißung durch die Mänaden nur impliziert in der vorherigen Erwähnung des Zerfleischens der Rinder (met. 11, 37–38) und im Resultat der verstreuten Glieder des Orpheus (11, 50), setzt Poliziano neue Maßstäbe, indem seine Schilderung nicht nur graphisch genau die Schindung (vgl. Storch 1997, 52: »Er verdient, daß wir ihn gerben.«– »alle man nostre lascerà la pelle« [Tissoni Benvenuti 1986, 207, V. 32]) des Sängerkörpers ausstellt, sondern dieses Opfer an Bacchus zugleich zum blutigen Opfer an die Natur werden lässt: »Heu, ohé! Oh Bachus, laß dir danken! / Durch den Wald ist er geschleift. Wir machten, / daß die Wurzeln satt am Blut sich tranken. / Glied um Glied erlag er unserem Schlachten; / gräßlich riß der Forst an seinen Flanken, / dem wir blutige Erquickung brachten. / Tadle die gerechte Hochzeitsfeier, / Bachus, – dir geopfert sei der Freier!« (Storch 1997, 52; Tissoni Benvenuti 1986, 207, V. 37–44: »Eheu ohé! O Bacco, io ti rin­ gratio. / Per tutto el bosco lo habiamo stratiato, / tal che ogni sterpo del suo sangue è satio. / Habianlo a membro a membro lacerato / per la foresta cum crudele istratio / sí che el terren del suo sangue è bagnato. / Hor vada e biasmi la theda leggitima! / Heu ohé! Bacco, accepta questa vittima.«). Der abschließende canto carnascialesco der Mänaden (Leopold 1988, 88) entspricht dem festlichen Anlass der Aufführung, doch präsentiert er die bacchantische Ausgelassenheit nach der Tötung des Sängers, dem hier auffälligerweise kein Nachleben vergönnt ist, durchaus auch als einen Totentanz (»Müde bin ich schon zu Tode«, Storch 1997, 53; »Io mi moro già di sonno«, Tissoni Benvenuti 1986, 208, V. 63).

69  Orpheus – zwischen Bacchus und Apollon

69.4 Humanismus und lieto fine Zahlreiche Bearbeitungen der Figur lösen die Macht des Gesangs vom tragischen Ende des Orpheus ab. Das Motiv ›Orpheus und die Tiere‹ (oder auch: vor den Unterweltsgöttern) ist etwa neben der Abschiedsszene zwischen Orpheus und Eurydice eines der beliebtesten Orpheus-Motive in fast allen Epochen der bildenden Kunst. Auch in dieser Rolle lässt Orpheus sich mit Christus als dem Zähmer alles Wilden verbinden (Huss 2008, 525), doch wird er spätestens seit dem Renaissance-Humanismus vor allem als Vertreter von Weisheit, Philosophie und – hier ganz in der Folge Ovids – eloquentia, Beredsamkeit, gesehen. Zu diesem Rezeptionsstrang gehören Autoren wie Dante Alighieri (Gastmahl, zwischen 1303 und 1308), Giovanni Boccaccio (Genealogie deorum gentilium, 1350– 1375), Marsilio Ficino (Über die Liebe, 1469), Pico della Mirandola (Über die Würde des Menschen, konzipiert 1486, publiziert 1496) und noch Francis Bacon (Über die Weisheit der Alten, 1609), die Orpheus in einer Engführung von Theologie und Dichtung als weisen Religionsstifter und Verfasser von Geheimlehren sowie als begnadeten Sänger und Redner präsentieren (die relevanten Auszüge jeweils in Storch 1997). In Boccaccios (Genealogie V, 12) allegorischer Auslegung verbergen sich hinter den Bäumen, die Orpheus’ Stimme folgen, »Menschen von starrer Gesinnung, die einzig durch die Macht der Rede von ihrer Widerborstigkeit abgebracht werden können« (obstinate opinionis homines, qui, nisi per eloquentie vires queunt a sua pertinacia removeri); die Flüsse seien »zügellose Menschen ohne Halt« (lascivos homines) und die wilden Tiere »Menschen von heftigem Blut« (homines sanguinum), die der Besänftigung (mansuetudinem et humanitatem) durch die Musik des Orpheus harren (Boccaccio 1951, 245, 9–16; dt. Übers. von Horst Möller in Storch 1997, 150). Um ganz dezidierte Umschreibungen des Mythos handelt es sich in den drei wichtigsten und frühsten Orpheus-Opern, die die Figur des mythischen Sängers geradezu für die ›Erfindung‹ der neuen Gattung, für in Musik gesetzte Dialoge, zu nutzen scheinen (Leopold 1988, 92–93, 97). Es handelt sich um die stark durch Polizianos bukolische Auffassung des Orpheus beeinflusste Euridice Jacopo Peris (UA 1600; Libretto: Ottavio Rinuccini), um Claudio Monteverdis Orfeo (UA 1607; Libretto: Alessandro Striggio) und, 160 Jahre später, um Christoph Willibald Glucks Orfeo ed Euridice (UA 1762; Libretto: Ranieri de’ Calzabigi). In allen drei Musikdramen sollte der Sieg der Mu-

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sik (und der Liebe) über den Tod keinesfalls mit dem Tod des Sängers enden, und so variieren alle drei Librettisten bzw. Komponisten den Schluss der antiken Erzählung. Bei Peri/Rinuccini gibt Pluto Eurydice ohne Auflage frei und der Wiedervereinigung der Liebenden steht nichts im Wege. Monteverdi behält die Szene des Blicks bei, ändert den Text von Striggio jedoch für die Partitur zwei Jahre später, indem er im Finale Apollo erscheinen lässt, der Orpheus in einer »Apotheose der Musik« (Leopold 1988, 102) ins Elysium führt, wo er Eurydice in der Schönheit des Sternenhimmels wiederfindet. Auch Gluck und Calzabigi entscheiden sich – nachdem die gesamte Oper vom Grundton einer lyrisch-weichen Klage um den Verlust und die Trennung getragen wird – für einen lieto fine: Nach einem dramatischen Ringen um den Blick, den Euridice, die das Gesetz nicht kennt, von Orfeo als Liebesbeweis fordert und den er ihr im Liebeswahnsinn (»deliro«; »delirio«: Csampai/Holland 1988, 218) schließlich gewährt, bewahrt der Gott Amor Orfeo im letzten Augenblick vor dem Selbstmord, mit dem er der zum zweiten Mal verlorenen Geliebten nachsterben will. Er gibt den Gang in die Unterwelt als Prüfung aus, die Orfeo nun zum Ruhm des Liebesgottes bestanden habe (»Zu meinem Ruhm hast du genug gelitten, Orpheus«; »Assai per gloria mia / soffristi, Orfeo«), weshalb Amor ihm Euridice wieder zuführt (Csampai/Holland 1988, 221–223). Auch Ovids Orpheus-Geschichte kennt einen lieto fine: Hier ist es nicht Amor, sondern Apollo, der das abgeschlagene Haupt des Sängers am Ende vor dem Angriff einer Schlange bewahrt. Der Eingriff des Gottes erscheint auch bei Ovid, wenngleich merkwürdig unverbunden, als Voraussetzung einer Wiedervereinigung der Liebenden, die sich zwar in der Unterwelt, doch dort immerhin in den »Gefilden der Seligen« vollzieht (met. 11, 62: arva piorum). Angesichts der sonst bekannten Immaterialität der Schatten mag es einer ironischen Note nicht entbehren, wenn Orpheus Eurydice voll Sehnsucht in die Arme schließt (met. 11, 63: invenit Eurydicen cupidisque amplectitur ulnis; vgl. Bömer 1980, 254, ad 11,64). Ironie und happy ending verbinden sich auch im Schlussbild des ›freien‹ und gemeinsamen, räumlich ausgreifenden Schreitens bei Ovid (met. 11, 64: hic modo coniunctis spatiantur passibus ambo; »hier wandeln beide bald mit vereinten Schritten nebeneinander«): Bald geht sie voraus, bald er, und der Blick zurück ist nun »sicher« (11, 66: tuto respicit Orpheus). Eine letzte zu erwähnende Oper mag zu den modernen Orpheus-Bildern überleiten: Jacques Offenbachs

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VI Rezeption – D Einzelmythen und Mythengruppen

gesellschaftskritische Opéra buffe Orphée aux enfers (UA 1858; Libretto: Ludovic Halévy und Hector Crémieux), in der Eurydice auf die Rückkehr zu Orpheus verzichtet und es vorzieht, mit den Göttern der Unterwelt als Bacchantin Cancan zu tanzen, scheint eine der frühsten satirischen Auseinandersetzungen mit dem großen Liebespaar der Antike darzustellen. Nach dieser Entzauberung der unverbrüchlichen Liebe haben moderne Autoren immer wieder auch die Geschichte vom Erkalten der Liebe zwischen Orpheus und Eurydice erzählt, von der unüberwindbaren Grenze zwischen Tod und Leben und von der Einsamkeit der Liebenden – alles Figuren der Distanz und der Differenz, die bereits im Schweigen des Aufstiegs bei Ovid, in der opak-nebligen Dunkelheit des Tartarus (met. 10, 53– 54: per muta silentia ... obscurus, caligine densus opaca), den Gleichnissen der Versteinerung als Bildern für den Schock des Verlustes (met. 10, 64–71) sowie im Versagen von Orpheus’ Zauberkraft in der Todesszene (met. 11, 39–40) angelegt sind.

69.5 Melancholie und Alltag: Orpheus im 20. Jahrhundert Im 19. Jahrhundert hatte im Zuge okkultistischer und theosophischer Strömungen der visionäre Poet und Religionsstifter Orpheus Konjunktur (etwa in der neunbändigen Abhandlung Orphée von P. S. Balanche), eine Rezeption, die weniger explizit an Ovid anknüpfen kann und daher hier unberücksichtigt bleiben muss (vgl. Huss 2008, 533). Drei Rezeptionsmuster scheinen hingegen die Orpheus-Texte des 20. Jahrhunderts zu prägen. Zum einen solche Texte, die emphatisch auf das Liminale des Mythos verweisen, auf das Zwischen, das die beiden Liebenden mehr trennt als verbindet (insbesondere Rainer Maria Rilke, Orpheus. Eurydike. Hermes [s. u.]); zum anderen fallen Adaptionen auf, die Orpheus entzaubern und auf die schwindende Kraft der Musik in der ›häßlichen‹ Gegenwart zu verweisen scheinen (u. a. Yvan Goll, Der neue Orpheus, 1918 [s. u.]; Jean Anouilh, Eurydice, 1942; Tennessee Williams, Orpheus Descending, UA 1957 oder Günter Kunerts aus sechs Ge­ dichten bestehender Orpheus-Zyklus von 1970 –  zu Anouilh und Williams: Huss 2008, 534); eine dritte Variante akzentuiert vor allem die poetologische Dimension des Todes als Voraussetzung dichterischer Schaffenskraft (Jean Cocteau im Drama Orphée von 1926 wie im gleichnamigen Film von 1949 [s. u.], Gottfried Benn, Orpheus’ Tod, 1946 [s. u.]; Ingeborg

Bachmann, Dunkles zu sagen, 1952 [s. u.]; zu Cocteaus Drama: Huss 2008, 534). Ob Rilkes Gedicht Orpheus. Eurydike. Hermes von 1904 im engeren Sinne eine Ovid-Rezeption darstellt, muss offen bleiben, denn es ist unklar, ob er die Metamorphosen des Ovid bereits zu diesem Zeitpunkt kannte (pro: Tschiedel 1987, 286–287; Ziolkowski 2004, 57–58 ; contra: Spörl 1999, 57). Als sicher kann angenommen werden, dass Rilke sich an dem berühmten antiken Relief aus klassischer Zeit, das die drei titelgebenden Figuren zeigt, orientiert hat (Tschiedl 1987, 289–290). Rilke konzentriert seine elf-strophige Bearbeitung ganz auf die Phase des kurzen Aufstiegs, den Blick und den Verlust und arbeitet spannungsvoll heraus, wie unterschiedlich der Lebende und die Tote diesen Moment in seiner Zeitlichkeit wahrnehmen: die Ungeduld des Orpheus (»Ohne zu kauen fraß sein Schritt den Weg / in großen Bissen«, Storch 1997 54) wird mit der Gelassenheit der Eurydice konfrontiert, die für die Bestrebungen des Geliebten nicht mehr empfänglich ist und der zweimal refrainartig die Abwesenheit von Ungeduld attestiert wird (»den Schritt beschränkt von langen Leichenbändern, / unsicher, sanft und ohne Ungeduld«, ebd., 55 und 56). Eurydice hat jeglichen Drang zum Leben verloren. Der Einstieg mit dem Bild vom »wunderlichen Bergwerk [der Seelen]«, durch das die beiden Figuren wie Adern gehen (ebd., 54), könnte durchaus eine Ovid-Assoziation darstellen, bedenkt man die Totenstille, die Ovid immer wieder in der Unterwelt ausmacht (met. 10, 30, 53), aber auch den Stillstand, den Orpheus mit seiner Musik auslöst (10, 40–45), sowie die Versteinerungen, die sein Entsetzen angesichts des Verlusts der Eurydice bebildern (10, 64–71). Wenn Rilke später, in der neunten Strophe, über Eurydice, die nicht mehr zu beleben ist, schreibt, »Sie war schon Wurzel« (ebd., 56), dann erinnert das sowohl an die Strafe der ciconischen Frauen durch Bacchus als auch an die metamorphotische Überschreitung der Grenze zwischen Natur- und Menschenwesen durch die Musik des Orpheus, die die Bäume (und Tiere) zu seinen Zuhörern macht. Allerdings nimmt Rilke eine geradezu »dramatische Berichtigung der Orpheus-Geschichte« vor (Janz 2004, 196), denn diesem Orpheus steht gerade keine Musik zu Gebote, um Eurydice zurückzugewinnen oder zu verwandeln: In der dritten Strophe wird berichtet, dass »seine Hände [...] [nicht mehr]  von der leichten Leier [wußten], / die in die Linke eingewachsen war«, eine erneute Konstatierung von Immobilität und Stillstand. Gleichwohl erkennt Rilke die mimetische Dimension von Orpheus’ Klage-

69  Orpheus – zwischen Bacchus und Apollon

musik an, wenn es in der sechsten Strophe heißt: »Die So-geliebte, daß aus einer Leier / mehr Klage kam als je aus Klagefrauen; / daß eine Welt aus Klage ward, in der / alles noch einmal da war: Wald und Tal / und Weg und Ortschaft, Feld und Fluß und Tier; / ...« (Storch 1997, 55). Die tragische Pointe des Gedichts besteht jedoch in Eurydices Vergessen: Als Tote kann sie auf Hermes’ Hinweis »Er hat sich umgewendet« nur mit der unbeteiligten Frage »Wer?« reagieren (ebd., 56), und das Gedicht legt nicht nahe, dass das Einhalten des Blick-Verbotes diese Entfremdung hätte aufheben können. Das Unvermögen der orphischen Sangeskunst im Gedicht von 1904 ist der Poetik von Rilkes Sonetten an Orpheus (1922) diametral entgegengesetzt, die etwa dem Dichter, der »mit Toten vom Mohn / aß« (I, 9), eine besondere sprachliche Kraft zugestehen, und die Fortdauer des Gesangs nach der Zerreißung feiern (I, 26). Ein Beispiel für die Transponierung des antiken Orpheus in eine moderne Alltagswelt stellt Yvan Golls Gedicht Der neue Orpheus von 1918 dar, das seinen Protagonisten »von den griechischen Hügeln / In die Ackerstraße des Alltags« hinabsteigen lässt (Storch 1997, 215). Trotz aller Banalisierung verzichtet das Gedicht nicht auf eine allegorische Dimension, die an Calderón erinnert: Der Musiker Orpheus wird zwar zu einem Jedermann, der in allerlei Varietés seine Unterhaltungsmusik zum Besten gibt, zugleich aber ist ihm auferlegt, die Menschen, die »[g]efangen in tiefer Unterwelt« sind, zu befreien (ebd., 215), ganz besonders »Eurydike, die unerlöste Menschheit« (ebd., 217). Doch weil die Menge ihn nicht hört und zur Unterwelt drängt, erschießt Orpheus sich »allein im Wartesaal« (ebd.) – eine Parabel auf eine Zeit, in der die Kunst nichts mehr vermag. Gottfried Benns Gedicht Orpheus’ Tod von 1946 verbindet die Banalisierung des Liebenden mit einer durchaus modernistischen Poetologie der Zerreißung. Sechs etwa gleichlange Strophen erzählen die Geschichte von Orpheus, der von seiner Liebsten zurückgelassen wurde, drei Jahre »im Nordsturm« (Storch 1997, 219) um sie trauert, und schließlich von Flußnymphen verführt und bedroht wird, seine Musik vergisst und, nachdem sein Gesang die Steine nicht mehr abwehren kann, dem »Wurf der Hündinnen« »wehrlos« ausgesetzt ist (ebd., 220). Das Gedicht endet, die Zerreißung im Druckbild wie im Satzbau imitierend, mit kürzer werdenden Versgruppen und unvollständigen Sätzen: »nun schon die Wimper naß, / der Gaumen blutet –, // und nun die Leier / hinab den Fluß – // die Ufer tönen –.« (ebd., 221) – eine Reduzierung auf

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Naturtöne, die durch das verletzte Sprechorgan unterstrichen wird (Segal 1989, 190) und die auch bei Ovid auffällig war. Das Ich dieses Gedichts schwört den Mänaden ab, um Eurydices Einzigartigkeit zu bewahren (»Nein, du sollst nicht verrinnen, / du sollst nicht übergehn in / Jole, Dryope, Prokne, [...]«). Dennoch reizt es die potentielle Verführung noch in der Verneinung weitmöglichst aus, so als sei das Werben und Drohen der fremden Frauen das sexuelle Vorspiel zu dem folgenden tödlichen Zerreißungsakt. Das Gedicht lässt sich nicht auf eine Tendenz oder Stimmung reduzieren, es gibt jedoch den Mänaden auffallend viel Raum und bezieht seine Spannung aus dem uneindeutigen Gegensatz zwischen der reinen, fernen Eurydice und den fremdartigen, widersprüchlichen und aggressiv-lustvollen Nymphen. Ingeborg Bachmann verwendet in ihrem 1952 verfassten Gedicht Dunkles zu sagen den Sänger Orpheus als Chiffre für eine Musik, die Leben und Tod verbindet: »Wie Orpheus spiel ich / auf den Saiten des Lebens den Tod«, so beginnt das Gedicht (Storch 1997, 261), um das Motiv in seinem Fortgang noch zweimal zu variieren, nämlich in der Wendung von der »Saite des Schweigens«, die die dritte Strophe eröffnet, und schließlich in der Verkehrung am Ende – »Aber wie Orpheus weiß ich auf der Seite des Todes das Leben, [...]« (ebd. ; vgl. dazu Weigel 1999, 138) –, die impliziert, dass die »Saite« des orphischen Musikinstrumentes zugleich das Medium ist, das Diesseits und Jenseits, also die Todesseite, verbindet und den Tod in Leben, aber eben auch das Leben in Tod verwandeln kann. Das Gedicht enthält zahlreiche Bildelemente, die Liebe, Tod und Musik zusammenführen (etwa die Zeile »griff ich dein tönendes Herz« oder »Beide klagen wir nun«) und es arbeitet mit einer »Entstellung von Liebesmetaphern in Todesbilder« (Weigel 1999, 140). Wie der Schluss deutlich macht (»und mir blaut / dein für immer geschlossenes Aug«), zielt es nicht auf die Überwindung des Todes durch die Musik, sondern bekundet ein Wissen um die Einheit von Liebe und Tod, für die das Saitenspiel des Orpheus einsteht. Bachmanns Gedicht schlägt einen vollkommen anderen Ton an als die Erzählung des Ovid. Dennoch lassen sich einzelne Elemente aus den Metamorphosen benennen, die in dem Gedicht nachklingen: neben den Hinweisen auf das Musikinstrument etwa die Motivik des offenen Haars (met. 11, 49 – vgl. Bachmann: »Verwandelt ward deine Locke / ins Schattenhaar der Nacht«) oder des von Wasser bzw. Schnee benetzten Antlitzes (met. 11, 57 – vgl. Bachmann: »der Finsternis schwarze Flocken / beschneiten dein Antlitz«).

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VI Rezeption – D Einzelmythen und Mythengruppen

Die Depotenzierung des Mythos durch die Alltagswelt verbindet sich mit der melancholischen Todessehnsucht des Orpheus in Cocteaus (neben Marcel Camus’ Orfeo Negro) viel beachtetem Film Orphée von 1949 (zu beiden Filmen: Koebner 2003). Im Zentrum steht die Liebe der Todesbotin Madame la Mort zum Dichter Orphée, dessen Frau Euridice sie aus Eifersucht sterben lässt. Orphée erhält die Botschaften eines verstorbenen Nachwuchstalents durch ein Autoradio und dringt durch einen Spiegel ins Jenseits ein –  ein Indiz für den schmalen Grat zwischen Selbsterkenntnis, Selbstliebe und Täuschung, auf dem die Liebe und das poetische Schaffen des Orpheus sich bewegen. Die Mänaden-Aggression wird transformiert in die Attacke missgünstiger Bohemiens, und das Blickverbot führt zum verzweifelten Versuch der beiden Ehepartner, in ihrem Haus einander so auszuweichen, dass ihre Blicke sich nicht begegnen. Die bürgerliche Ehe, aus der Orphée auszubrechen begehrt, wird so grotesk verzerrt, ein Motiv, das an Offenbachs Mythenparodie Orphée aux enfers anschließt (Koebner 2003, 247). Die unheimlichen Winde, die durch die phantasmatische Ruinenstadt der Unterwelt wehen, und die suggestiven Bilder der weitgehend leeren Straßen dürften nicht zuletzt durch die opaken Nebel des Ovidschen Jenseits inspiriert sein (met. 10, 13–16; 53–54). Doch bei aller Todesnähe begnügt der Film sich mit einem happy end: Orpheus wacht neben seiner Frau im Bett auf und die Erlebnisse im Jenseits sowie sein Dichterehrgeiz wirken als Teil eines unbewussten Doppellebens wie vergessen. Literatur

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Susanne Gödde

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VI Rezeption

70 Aus der Hirtenwelt: Pan, Syrinx und Midas In den Metamorphosen finden sich immer wieder längere und kürzere pastorale Einsprengsel (Barchiesi 2006). In der literarischen Rezeptionsgeschichte sind besonders diejenigen Partien auf reges Interesse gestoßen, in denen von den musischen Tätigkeiten pastoraler Figuren erzählt wird (Gesang, Flötenspiel, Bewertung dieser Aktivitäten usw.). Im vorliegenden Abschnitt sollen daher Schlaglichter auf die Episode von Pan und Syrinx (met. 1, 689–712) sowie auf die Midas-Erzählungen (met. 11, 85–193) gerichtet werden.

70.1 Pan und Syrinx Ursprünglich eine arkadische Hirten- und Naturgottheit, wurde Pan zu einer der wandlungsfähigsten Gestalten der europäischen Mythen-, Religions- und Literaturgeschichte (vgl. Robert 2008). In den Metamorphosen ist er noch eine pastorale Figur: Er tritt prominent im ersten Buch in der Erzählung von Pan und Syrinx auf, mit der Merkur Argus einschläfert und bildet darüber hinaus als Kontrahent Apollos im Sängerwettstreit in Buch 11 das Bindeglied zum Midas-Stoff (s. u.). Wegweisend für die Umdeutung Pans zu einem kosmologischen ›Allgott‹ war an der Schwelle von Antike und Mittelalter ein Servius-Scholion (Verg. ecl. 2, 31), in dem sein griechischer Name mit omne übersetzt wird und seine Attribute wie Hörner, Bocksfüße und die siebenrohrige Syrinx mit astronomischen Elementen in Verbindung gebracht werden. Je nach theologischer oder philosophischer Denkrichtung wurde Pan seit dem ausgehenden Mittelalter bald mit Jesus Christus, bald mit Satan gleichgesetzt. In der weiteren Rezeptionsgeschichte, die sich um Namen wie Plutarch, Dante, Schiller, Heine und Nietzsche rankt, bleibt diese Spannung zwischen einer pastoralen und einer kosmologischen Auslegung der Pan-Figur präsent. Ganz im pastoralen Rahmen verweilt die Verarbeitung des Mythos von Pan und Syrinx im zweiten Buch des Hirtenromans Daphnis und Chloe des Longos (2. Jhd. n. Chr.), vgl. Longus 2, 32–39. Man hat auf Ähnlichkeiten im Detail von Longus 2, 34 zu Verg. ecl. 2, 28–39 hingewiesen, wo ebenfalls von Pan als Erfinder der Syrinx-Flöte berichtet wird (z. B. Hunter 1983, 81–82). Konzeptionell und poetologisch bietet Ovids Erzählung wesentliche Vergleichspunkte: So

wird in beiden Texten das Aition der Flöte als eine eingelegte Erzählung – ausgelöst durch das Spiel auf dem Instrument – präsentiert; bei Longos wird der Mythos danach noch in einem Mimos von den Liebenden in Szene gesetzt (Longus 2, 37). Die offensichtlich intendierten Spiegelungen zur Rahmenhandlung, hier zur Erzählung von Jupiter und Io, dort zur Geschichte des jugendlichen Hirtenpaares, sind raffiniert und können in beiden Fällen nicht in einfache Gleichsetzungen überführt werden. Die destruktive Kraft von Pans Begehren lässt Chloe in Furcht vor Daphnis geraten (Longus 1, 39, 2–3), während sie bei Ovid in der gewaltsamen Tötung des Argus durch Merkur ihre Entsprechung findet (met. 1, 717–719). Beiden Texten eignet schließlich ein Interesse an der Macht der Musik, welche kultur- und (in der Weitergabe der Syrinx) traditionsstiftende, aber eben auch subversive, weil betörende, verführerische und zerstörerische Elemente besitzt. Immer wieder mit Pan verwechselt werden in der Tradition Satyrn bzw. Faune. In Goethes Farce Satyros oder Der Vergötterte Waldteufel (1773) trägt die Titelfigur sowohl Züge des lüsternen Pan als auch des Teufels: Seinen Gegenspieler, einen christlichen Einsiedler-Mönch, versteht er mit Gotteslästerungen zu reizen. An mindestens zwei Stellen wird dabei auf den Syrinx-Mythos angespielt, wenn der Satyr sagt, dass vor ihm die Nymphen fliehen (V. 116, 152–153, vgl. Ov. met. 1, 701: fugisse). Die vielleicht berühmteste neuzeitliche Verarbeitung des Pan und Syrinx-Mythos hat Stéphane Mallarmé in seinem Gedicht L ’après-midi d’un faune (1876) geschaffen. Seine Quellen und Einflüsse sind vielfältig und beschränken sich selbstredend nicht auf Ovids Metamorphosen. Das lyrische Ich, ein Faun, befindet sich in einem Schwebezustand zwischen Schlafen und Wachen; es ist daher nur schwer zu entscheiden, welche Partien des Textes als Tagtraum und welche als lyrischer Monolog aufzufassen sind. Dieses Motiv eines Schlaf-Wach-Zustands findet sich auch bei Ovid, hier allerdings verkörpert durch den einschlummernden Argus. Mallarmés Faun blickt zurück auf seine Erfindung der Flöte und seine teilweise erotischen und gewalttätigen Begegnungen mit Nymphen, darunter Syrinx (V. 52–53). Die Aussagen schwanken zwischen Erschöpfung, Stolz und erneut aufkeimendem Verlangen. Dominiert werden die 110 Alexandriner von einer oszillierenden Ambiguität, die sich in der Thematisierung von Zweifel, Lüge, Illusionen sowie Traum- und Schattengestalten niederschlägt. Dieses Verwirrspiel erstreckt sich sogar auf die Geschlechterverhältnisse und -konzeptionen,

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_70

70  Aus der Hirtenwelt: Pan, Syrinx und Midas

wenn etwa die Nymphen bereits zu Beginn des Gedichts durch Wortspiele und andere Assoziationen mit einem männlichen Geschlechtsteil in Verbindung gebracht werden (vgl. z. B. Vers 2: »vol-tige«: voltige = ›es [sc. das leichte Inkarnat der Nymphen] schwirrt umher‹, la tige = ›der Stengel, Schaft‹) oder wenn der Faun in seiner Passivität dargestellt wird (vgl. Kasper, im Druck). Auch mediengeschichtlich ist Mallarmés Gedicht von hoher Relevanz, verzweigte es sich doch zu einem frühen (und überaus hochkarätigen) Medienverbund: Die Erstausgabe wurde mit Holzschnitten von Édouard Manet illustriert, der zehn Jahre danach das Thema erneut aufgriff; Claude Debussy komponierte angeregt von diesem Text sein Prélude à l’après-midi d’un faune (1894), das wiederum die Grundlage von Vaslav Nijinskis gleichnamigem Ballett (1914) geworden ist. Auch hier stehen Genderrelationen und ihre kreativen Umdeutung im Fokus: Wohl in Anlehnung an die siebenrohrige Syrinx tritt eine Gruppe von sieben Nymphen auf. Trotz seines überbordenden Begehrens bekommt der Faun in seinen Annäherungsversuchen nicht mehr als einen Schleier zu fassen, den er schließlich anstelle eines weiblichen Gegenübers mit seinen Liebkosungen überzieht.

70.2 Midas Die an Ovid anknüpfende Rezeption des Midas-Mythos ist üppig und reicht von Albrecht von Halberstadts Ovide moralisé und der Meistersänger-Tradition über Dante, Boccaccio, die Musikdramatik des 18. Jahrhunderts (z. B. Christoph Martin Wieland) und Mary Shelleys Midas-Drama bis hin zu Mór Jókai, Gudrun Pausewang und Friedrich Dürrenmatt (vgl. Hunger 1974, 255–256; Thiel 2008). In Ergänzung zu den dort aufgelisteten und besprochenen Beispielen seien an dieser Stelle zwei sehr unterschiedliche Stationen dieser Rezeptionsgeschichte vorgestellt, die beide merklich vom römischen Dichter beeinflusst sind. Im ersten sog. Einsiedler Gedicht, das deutlich in der Tradition von Vergils Eklogen steht, kommt es zu einem Wettgesang zweier Hirten. Als Schiedsrichter in diesem Wettgesang tritt eine Figur auf, die nicht näher charakterisiert wird, aber den Namen Midas trägt. Man hat in dem Gedicht, in dem ein Herrscherlob angekündigt ist (möglicherweise auf Nero, aber die Datierungsvorschläge reichen bis ins 4. Jahrhundert n. Chr., vgl. Stover 2015), schon ironische und parodisierende Elemente feststellen wollen (Korzeniewski 1966). Dies wurde u. a. mit der Gegenwart des

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Schiedsrichters namens Midas begründet, und in der Tat weist der Text einige wörtliche Anklänge an die ovidische Erzählung auf (ebd., 349–351). Auffällig sind z. B. die prominenten Erwähnungen von ›Ohren‹ im ersten und vorletzten Satz des überlieferten Textes (carm. Eins. 1–2 und 45) sowie von Apollo (V. 23, 32 und 37). Das abrupte Ende der Ekloge ohne Schiedsspruch, das für gewöhnlich auf ihre fragmentarische Überlieferung zurückgeführt wird (Stöckinger 2017), passt zu einem, wenn nicht dem zentralen Aspekt des Midas-Mythos, nämlich Midas’ mangelnder ästhetischer Urteilskraft. Während diese frühe Transformation mit dem Midas auritus-Aspekt der ovidischen Erzählung zusammenhängt, knüpft die britisch-schottische Poet Laureate Carol Ann Duffy (*1955) mit ihrem Gedicht Mrs Midas (1999) an das Midas aureus-Element des Mythos an. Sie erzählt die Geschichte des Midas, dem alles, was er berührt, zu Gold wird, aus der Perspektive seiner Frau. Das Erzählen eines bekannten Mythos aus einer (ursprünglich unterdrückten) weiblichen Perspektive erinnert für sich allein genommen schon stark an Ovid – wenn auch an die Heroides und nicht an die Metamorphosen. Dass Duffy durch zahlreiche Elemente wie ein Telefon, Zigaretten, ein Wasserklosett oder einen Wohnwagen, in den der des Schlafzimmers verwiesene Ehemann verbannt wird, den Mythos aktualisiert und in ihre eigene Zeit hineinholt, ist eine weitere Technik, die von Ovid inspiriert scheint. Beide hier vorgestellten Rezeptionsstufen legen einen Schwerpunkt auf die komischen Elemente des Midas-Mythos, während im 19. Jahrhundert in Theorie (Friedrich Creuzer, Erwin Rohde) und Ästhetizismus (Charles Baudelaire) seine tragischen Aspekte herausgearbeitet wurden. Literatur

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Martin Stöckinger

71  Perseus und Andromeda

71 Perseus und Andromeda 71.1 Kontext und Auswahl Ovids Überarbeitung des Mythos von Perseus und Andromeda (met. 4, 668–752) bildet bereits eine späte Fassung dieser Sage, wie die Fülle ikonographischer und literarischer Zeugnisse vermuten lässt, welche eine Verbreitung des Mythos vor Ovids Metamorphosen attestieren. Es handelt sich um die alte Fabel des Helden, der ein Monster bezwingt und eine Frau aus großer Gefahr rettet. Die Figur des Perseus lebt im Mittelalter in der Gestalt des Heiligen Georg (Jacobus de Voragine in der Legenda aurea) weiter, sowie in allen fahrenden Rittern auf Abenteuersuche (Cervantes’ Don Quijote). In neuerer Zeit unterstreichen die Verfilmungen des Mythos (Clash of Titans, 1980, und das Remake Clash of the Titans, 2010), dass Perseus als Vorfahr zahlreicher Superhelden der Kinoleinwand gelten kann. Doch nicht nur sein Mut hat Perseus zu einem weithin populären Charakter gemacht: Dieser Held hebt sich durch seine magischen Hilfsmittel von den anderen der klassischen Mythologie ab: die Flügelsandalen und der abgeschlagene Kopf der Medusa. Die Rolle des Gorgonenhauptes im Kampf gegen das Meerungeheuer, das Andromedas Leben bedroht, ist ganz entscheidend, um die ovidische Originalität bei der Überarbeitung dieses vielfach überlieferten Mythos aufzuzeigen. In den Metamorphosen tötet Perseus das Monster mit Hilfe seiner Körperkraft und nicht durch seine Versteinerung mittels des Gorgonenhauptes (wie, z. B., in Luc. Dial. Mar. 14, 3; Achilleus Tatios, Leukippe und Kleitophon, 3, 7; Non. Dion. XXV 81 und XLVII, 509–513). In der modernen bildenden Kunst stieß Ovids Darstellung eines traditionellen Kampfes auf ein breites Echo (s. z. B. Tizian, Perseus und Andromeda, 1556); ganz anders verhält es sich beim literarischen Fortleben des Mythos, wo die Versteinerung des Monsters als seine beliebteste Todesart erscheint (s. z. B. Pontano, Urania, 4, 235–287, 1476). Offenbar liegt das Erbe des Perseus der Metamorphosen also eher in der bildenden Kunst als in der Poesie. Ein riesiges Meerungeheuer mit einem kleinen Schwert zu töten, obwohl eine unfehlbare Waffe zur Hand ist, verleiht dem Helden in der Tat keine archaisch-epische Würde, sondern macht die gesamte Erzählung lächerlich und unglaubwürdig. Zudem wird die Heldentat letztlich bloß der Erfüllung von Perseus’ erotischem Wunsch untergeordnet: Ovid, der magister amoris, kann sich auch hier nicht selbst verleugnen.

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Der Text entspricht also einer ironischen Betrachtung des traditionellen epischen Heldentums (Mack 1988, 121–126): Darin liegt die ›Modernität‹, die es dem Dichter erlaubt hat, die ursprüngliche Materie des Mythos neu zu interpretieren. Ludovico Ariosto (1474–1533) und Jules Laforgue (1860–1887) – der eine im Ferrara der Hochrenaissance, der andere im Paris der Krise des Positivismus – gehören zu den wenigen, die den Sinn der ovidischen Parodie begriffen und produktiv umgesetzt haben. Auf ihre Überarbeitung der Geschichte von Perseus und Andromeda wird sich dieser Beitrag konzentrieren.

71.2 Klassiker im Vergleich: Ovid und Ariost Im zehnten Buch von Ariostos Orlando furioso, dem Meisterwerk der italienischen Renaissance-Ritterepik, wird erzählt, dass Ruggiero auf dem Sattel seines Flügelpferdes, des Hippogryphen, zur Insel Ebuda fliegt, wo die schöne Angelica als Opfer für ein Seemonster an einen Felsen gekettet ist. Die daran anschließende Episode ist nahezu identisch mit Ovids Erzählung über Perseus und Andromeda: Ruggiero tauscht die nackte Frau gegen eine Statue aus und ändert seine Meinung erst, als er sieht, dass Tränen aus ihren Augen rinnen (vgl. met. 4, 672–675); von den Augen der Jungfrau wird er wie ›versteinert‹. Die geliebte Frau wird hier zur gefährlichen Medusa, deren metaphorisch ›versteinender Blick‹ den fliegenden Helden anhalten lässt. Ruggiero wendet sich an Angelica und beteuert, sie habe nur Liebesketten verdient (vgl. met. 4, 678–681); während die Frau antworten möchte, taucht das Ungeheuer aus dem Meer auf (vgl. met. 4, 681–690). Ruggiero nimmt einen Kampf mit dem Monster auf, doch alle Versuche, es zu verletzen, sind vergeblich. Glücklicherweise trägt er aber einen magischen Schild bei sich: Ruggiero blendet das Ungeheuer und kann Angelica doch noch befreien. Die Berührungspunkte mit der ovidischen Episode sind offensichtlich (Javitch 1978), sowohl auf der makroals auch auf der mikrotextuellen Ebene (z. B. werden ein und dieselben Gleichnisse übernommen). Der moderne Dichter tut nichts, um die Nachahmung des Ovid zu verbergen, im Gegenteil: Der Verweis auf das klassische Modell hat eine besondere Strahlkraft, so dass der abweichende Schluss umso stärker hervortritt. Die Rettung der schönen Fremden und die damit verbundene Hoffnung, ihr Herz zu erobern, werden Ruggiero wichtiger als seine Heldenpflicht, das Monster zu bezwingen.

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_71

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VI Rezeption – D Einzelmythen und Mythengruppen

In der definitiven Fassung des Orlando furioso (1532) werden neue Episoden hinzugefügt, darunter der Tod des Seemonsters durch die Hand des Roland (11, 33–45). Der Held kommt in Ebuda kurz nach Ruggiero auf die Spuren Angelicas, in die er verliebt ist. Roland rettet Olympia – das neue Opfer, das für das Ungeheuer ausgesetzt wurde – mit Hilfe seiner Körperkraft und vor allem durch seine List: Er dringt mit einem Boot in den Rachen des schrecklichen Monstertiers ein, befestigt seine Reißzähne an einem Anker und rudert heraus. Das Ungeheuer wird leblos ans Ufer gezogen, das Meer färbt sich von seinem Blut (vgl. met. 4, 728–729). Die Replik der ovidischen Episode stellt zwei verschiedene Möglichkeiten, eine heroische Heldentat zu vollbringen, einander gegenüber (Maselli 2001, Ruggiero 2008): Auf der einen Seite stehen die Magie und die Verantwortungslosigkeit Ruggieros, auf der anderen Rolands Klugheit und Tapferkeit. In beiden Fällen zeigt sich jedoch, dass die bloße Körperkraft – als Ausdruck eines ›traditionellen‹ Heldentums verstanden – im Kampf mit einem derart übermächtigen Gegner zum Scheitern verurteilt ist. Wer über magische Mittel verfügt, verwendet sie; wer nicht, muss seine Intelligenz schärfen, um dennoch den Sieg davonzutragen. Der Dichter legt so die ironische Ambiguität seines Vorbilds offen: Erstens, Perseus hätte das Monster niemals mit dem Schwert besiegen können; zweitens, da er das Gorgonenhaupt bei sich hatte, wäre ein Verhalten wie jenes von Ruggiero ›logischer‹ gewesen.

71.3 Ovids Modernität: Vom Symbolismus bis zum neuen Jahrtausend Mitten im Strom des französischen Symbolismus präsentiert Jules Laforgue in den Moralités légendaires (1887) eine ironische und illusionslose Version des Mythos von Perseus und Andromeda (Haknoosh 1989). Die Erzählung »Perseus und Andromeda oder der Glücklichste unter den dreien« konzentriert sich auf die Figur Andromedas, deren Schicksal an das der Ariadne erinnert: Das Mädchen befindet sich auf einer verlassenen Insel und das Seeungeheuer bildet ihre einzige Gesellschaft. Perseus hingegen, der eines Abends pompös vom Himmel auf die Insel niedergleitet, wird als ein Schnösel dargestellt, ein Narziss, der eher in sich selbst als in Andromeda verliebt scheint. Der Held ist mit allen magischen Mitteln ausgestattet, die ihm die literarische Tradition im Lauf der Jahrhunderte zugeschrieben hat: nicht nur dem Gorgonenhaupt und

den beflügelten Sandalen, sondern auch dem fliegenden Pferd Pegasus, dem unsichtbar machenden Helm Plutos und dem göttlichen Schild Minervas. Die grotesk überladene Montur (Saxer 2008, 268) zielt darauf, den magischen Status des Helden überdimensioniert erscheinen zu lassen: Aus einer so offenkundigen Unbesiegbarkeit bezieht der Held sein lächerliches Selbstvertrauen. Tatsächlich versucht er nicht einmal, sich mit dem Monster im Nahkampf zu messen, sondern greift unverzüglich zu Medusas Kopf. Was er aber nicht voraussehen konnte, ist, dass der noch lebende Kopf der Medusa sich tatsächlich weigert, das Ungeheuer, einen alten Freund seiner Trägerin, zu versteinern: Die Gorgo schließt die Augen und Perseus ist gezwungen, den Gegner unter Schweiß und Blutvergießen zu töten. Vergeblich, da Andromeda ihm ohnehin nicht folgen will: Der Sieger ist beleidigt, geht davon und lässt sie allein. Andromeda-Ariadne trauert in ihrer Einsamkeit um die Leiche ihres einzigen Freundes, in den verliebt zu sein sie zu spät erkannt hat. Wie in allen schönen Fabeln erweckt schließlich ein Kuss der Prinzessin das Monster zu neuem Leben, und es verwandelt sich in einen holden Knaben. Das Ungeheuer erweist sich am Ende als der Glücklichste unter den dreien – »le plus heureux de trois«. Alle Elemente des Mythos werden systematisch umgekehrt. Das Gorgonenhaupt bildet nicht mehr einen äußersten Notbehelf ab, um sich einer Gefahr zu entziehen; vielmehr wird der Nahkampf zu einer Notlösung, nachdem sich die Magie als vergeblich erwiesen hat. Die von Ovid begonnene und von Ariosto fortgesetzte ironische Entleerung des Mythos scheint somit vollendet. Doch im späten 20. Jahrhundert ist der verspottete Perseus bereit, wie ein Phönix aus seiner Asche aufzustehen: In den Lezioni americane (1985) wählt Italo Calvino den Perseus der Metamorphosen als positives ›Modell der Leichtigkeit‹, das die jüngeren Generationen ins dritte Jahrtausend begleiten und aufs Neue inspirieren soll. Literatur

Haknoosh, Michele: Parody and Decadence. Laforgue’s ›Moralités légendaires‹. Columbus 1989. Javitch, Daniel: Rescuing Ovid from the Allegorizers. In: Comparative Literature 30, 1978, 97–107. Mack, Sara: Ovid. New Heaven/London, 1988. Maselli, Giorgio: Il salvataggio di Andromeda come schema narrativo. Manilio, Pontano, Ariosto. In: Annali della Facoltà di Lingue e Letterature straniere 15, 2001, 153– 162. Ruggiero, Raffaele: ›Ne bis in idem‹. Ariosto legge Ovidio ›due volte‹. In: Italianistica: Rivista di letteratura italiana 37, 2008, 43–62.

71  Perseus und Andromeda Saxer, Marion: Aus der Geschichte gefiltert. Zur Gestalt der Andromeda in Salvatore Sciarrinos Oper ›Perseo e Andromeda‹. In: Martina Oster/Waltraud Ernst/Marion

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Gerards (Hrsg.): Performativität und Performance. Hamburg 2008, 266–274.

Laura Aresi

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VI Rezeption

72 Phaëthon Phaëthon, dem ›Strahlenden‹, ist die längste Episode der Metamorphosen gewidmet (met. 1, 747–2, 400). Er ist bei Ovid der Sohn des Sonnengottes Sol-Helios. Dieser hat mit Clymene, Tochter der Meergöttin Tethys und Gattin des Königs Merops, nicht nur Phaëthon, sondern auch die Heliaden gezeugt, Schwestern also des gescheiterten Himmelsfliegers. Dass die Tränen der Heliaden sich zu Bernstein und ihre Körper in Pappeln verwandeln, bietet den Anlass für die Aufnahme der Phaëthon-Novelle in das ovidische Epos; doch auch die Brandkatastrophe selbst, die das Gesicht der Erde verwandelt, ist als Metamorphose zu verstehen. Phaëthon selbst stürzt »wie ein Stern«, einem Kometen gleich, vom Himmel zur Erde und schlägt im westlichsten Fluss, dem Eridanus ein, brennenden Leibs; und hier wird er von Nymphen beerdigt (Engelhardt 1979). Epaphus, Sohn des Jupiter und der Io, bezweifelt die göttliche Abkunft Phaëthons. Tief gekränkt, erbittet Phaëthon von Sol das Zeugnis seiner göttlichen Abstammung. Versichernde Worte genügen nicht. Der ehrgeizige, in seinem narzisstischen Selbstbild erschütterte Phaëthon verlangt vom Vater, der durch ein Versprechen die Einlösung eines Wunsches schuldig ist, den Sonnenwagen, den er, wie Sol selbst, über den Himmel lenken will. Damit gehört Phaëthon zu jenen Jünglingen, die mittels »antigraven« Geräts den Himmel erobern, Prototypen des Piloten, vom Rausch der Höhe getrieben und öfters gestürzt: Icarus, Bellerophon, Perseus und andere mehr (Behringer/OttKoptschalijski 1991). Am Himmel gerät Phaëthon angesichts der erhabenen Räume und angsterregenden Tierkreis-Bilder ins Schwindeln, verliert den Kurs und die Macht über die wild durchgehenden Rosse des Sonnenwagens. Die Sonne selbst gerät ins Straucheln, wodurch beinahe ein Weltenbrand ausgelöst wird, hätte nicht, auf Klage der brennenden Erde (alma Tellus, met. 2, 272) hin, Jupiter den Jüngling vom Himmel geschossen. Die Auseinandersetzung mit dieser kosmischen Beinahe-Katastrophe hält seit zwei Jahrtausenden an (Nelting/Ehrlich 2008; Hölkeskamp/Rebenich 2009).

72.1 Himmelsreisen der Seele Eine Parallele zur ovidischen Schilderung des frühmorgendlichen Aufbruchs des Sonnenwagens ist das gewaltige Bild eingangs des Lehrgedichts von Parmenides: Der Dichterphilosoph fährt mit einem Ge-

spann, für das der Helios-Wagen den Prototyp bildet. Er wird gezogen von »vielverständigen Stuten« und begleitet von heliadischen Jungfrauen, bis ans »Tor der Bahnen von Tag und Nacht«, das von Dike geöffnet wird. Der Sonnenaufgang wird zur Epiphanie der Wahrheit des unwandelbaren Seins (Diels/Kranz 28 B 1). Die Urszene der Philosophie ist eine schamanistische Seelenreise im Schema des morgendlichen Aufgangs des göttlichen Lichts, eine rituelle Initiation. Nimmt man Parmenides als Vorbild des ovidischen Phaëthon, dann erzählt Ovid von einer malignen Initiation in einen Lichtkult. In moderner psychiatrischer Deutung schlägt die »ozeanische Selbstentgrenzung« um in eine »angstvolle Ich-Auflösung«, wodurch die lichtvolle Visionswelt der non-ordinary reality umkippt in eine von Angst diktierte Wahnwelt mit tödlichen Dissoziationen. Die Himmelfahrt wird zum Höllenritt. Was Phaëthon widerfährt, ist aus sogenannten bad trips bekannt (nach Dittrich 1985).

72.2 »Hochmut kommt vor dem Fall« (Sprüche 16, 18) Innerhalb der Metamorphosen jedoch ist Phaëthon eine Parallele zu Icarus und eine Gegenfigur zu Prometheus und zu Daedalus (Böhme 1995). In ihm erscheint ein anderes Naturverhältnis, das seinen Umriss im Vergleich mit jenen erhält. Das Verhältnis von Sol zu Phaëthon wird von Ovid gespiegelt in dem von Daedalus zu Icarus (met. 8, 150–259); beide VaterSohn-Verhältnisse werden psychologisiert. Daedalus ähnelt Prometheus darin, schuldiger Erfinder, Technit und Gefangener eines Willkür-Herrschers zu sein. Den Vätern Helios und Daedalus, das Vernünftige ratend, misslingt die Rettung ihrer Söhne, die beide »im Begehren, sich zum Himmel zu erheben, den Weg höher hinauf wählen« (caelique cupidine tactus altius egit iter, met. 8, 224–5). So werden die Väter unschuldig schuldig an den Söhnen, während Prometheus unschuldig schuldig an den Göttern wird. Deucalion gewinnt seine mythische Qualität durch demütiges Vertrauen in die Allmutter Erde. Phaëthon und Icarus dagegen werden zu vermessenen Heroen: Ihr Begehren nach grenzüberschreitender Erhebung übersteigt ihre Kraft und lässt sie abstürzen. Prometheus hatte im Umgang mit Feuer das menschliche Maß eingeführt. Daedalus mahnt Icarus, zwischen verbrennender Glut und ertränkendem Wasser die »Mitte der Bahn« zu halten (met. 8, 203–204). So auch hält Sol dem Phaë­ thon die Gefahren des Weltraumflugs vor Augen und

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_72

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schärft ihm den mittleren Kurs ein (met. 2, 126–140). Ohne Erfolg. Die Söhne sterben vor den Vätern. Sie sterben, weil in ihnen, den sich selbst übersteigenden Menschen, etwas Übermenschliches lodert: das Feuer, das nach Feuer sich sehnt: das ist die »Himmelsbegier« (cupido caeli) des Icarus, während Phaëthon vom »ewig innern Flammenruf/Des Herzens, der zum Allerhöchsten treibt«, zu seinem Himmelsflug gestachelt wird (wie es Goethe 1821–1823 in seiner, durchaus gegen Ovid gerichteten, Rekonstruktion des Phaë­ thon-Fragments von Euripides formuliert: MA XIII/1, 301–316, hier: 304; Hansen 2012, 200–216).

72.3 Cupido caeli Prometheus indessen ist der Gott, der den Weg vom Himmel zur Erde, absteigend, nimmt und darin die zwischen Rebellion und Besonnenheit, Schmerz und Größe gespannte Amplitude des Menschlichen bestimmt. Umgekehrt Phaëthon und, im kleineren Maßstab, Icarus: aufsteigend zum Licht, sind sie »Verblendete« – schwarz vor die Augen tritt durch so viel Licht ihm das Dunkel« (met. 2, 181). Sie sind Strauchelnde der Höhe, Opfer und Täter der übermenschlichen Seite des Feuers, sprich: des inneren Brandes, der am Ende sie tödlich trifft. Als die Erde vom Taumelflug der Sonne entzündet schon in Flammen steht und die Ekpyrosis (der Weltenbrand) droht, wird Phaëthon durch einen Blitz vom Himmel abgeschossen, »mit wütenden Flammen die Flamme« erstickend (met. 2, 313). Phaë­ thon trägt seinen Namen, der ursprünglich der des Helios war (Sol wird als Phoebus angesprochen), wie ein zu großes Gewand. Sein Name enthält nichts mehr von der mythischen Kalmierung des Sonnenfeuers, sondern offenbart dessen destruktive Dimension. In keinem Mythos gibt es eine das Absolute so begehrende Figur wie Phaëthon. Er übereilt alle Differenzen im Verlangen, Gott zu sein. Ruhe und Besonnenheit sind nicht seine Sache, sondern Tempo: in keinem Mythos spielt Geschwindigkeit eine solche Rolle wie hier. Phaëthon ist Getriebener der Begierde – so wie die Mutter des mit ihm konkurrierenden Epaphus, die leidende Io, gestachelt von der Bremse der Hera, in rastlosem Taumel den Erdkreis umrennt: Io ist der Inbegriff des getriebenen Fleisches, so wie Phaëthon Inbegriff der getriebenen Phantasie ist. Nicht zufällig hat Ovid Ios Erdkreis-Fluchten unmittelbar vor die rasende Himmelfahrt Phaëthons platziert. Als dieser nämlich die Himmelshöhe erreicht, wird er in dieselbe taumelnd-kopflose Bewegungsdrift

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gerissen, die der haltlosen Unruhe Ios eignet. Und eben wie diese in Aischylos’ Tragödie zur Gegenfigur des an den Felsen geschmiedeten Prometheus wird, bietet Phaëthon den Kontrapart zu Prometheus und Dædalus und ihrer selbstbeherrschten Besonnenheit. Vergeblich die vielen Worte, mit denen Sol dem Phaëthon das Gefährliche, Überfordernde, Schrecklich-Erhabene seines Verlangens vor Augen und Ohren zu bringen sucht. Nichts kann Phaëthon im Feuer seines Verlangens hören, im Blendenden seines Wunsches nichts sehen: das Erhabene ja ist es, wonach der Sinn ihm steht. Darum gönnt Ovid ihm den Titel magnanimus Phaethon (met. 2, 111). Denn zur Anthropologie Ovids gehört, dass die Flamme des Begehrens im Menschen selbst das Große und Ungeheure ist, ja, dass in uns eine transgressive Sehnsucht brennt, in den Flammen unterzugehen. ... flagratque cupidine currus (»und er lodert in Begier nach dem Wagen«, met. 2, 104; vgl. dagegen die moralisierende Deutung bei Nonnos, Dionysiaka 38, 90–434).

72.4 Das Erhabene und das Übermenschliche Mit Genauigkeit schildert Ovid die psychischen und physischen Effekte des Erhabenen: Sie sind Wirkungen des immensen Raumes in Höhe und Tiefe, der rasenden Geschwindigkeit, der übermächtigen Energie, dessen also, was Kant das Mathematisch-Erhabene und das Dynamisch-Erhabene nennt (Kant 1793/­ 1963, 333–355, KdU B 80–113). Dabei drohen die ästhetische Größenschätzung und die physische Widerstandskraft zusammenzubrechen. Die psychophysischen Folgen davon werden von Ovid klar erfasst: der Drehschwindel, die Angst des Höhen- oder Tiefenblicks, Fallangst, Beben des Herzens, Zittern der Knie, Augenschwärze, Verwirrung der Richtungen, Verlust des Standortgefühls, der räumlichen Koordination, Wahrnehmungsanomie, überschwemmende Angstvisionen, Panik und schließlich Sturz (met. 2, 63–87, 178–207, 227–234, 319–324). Bedeutsam ist, dass Ovid Phaëthon und Sol von diesen Effekten ergriffen schildert, doch Gott und Mensch an genau jener Grenze trennt, wo der eine dem Natur-Erhabenen standzuhalten vermag, dem anderen über es Herr zu werden nicht gelingt. Mit dieser Scheidung innerhalb der Sphäre des Erhabenen restituiert Ovid die Trennung von Göttern und Menschen, mithin die Ordnung der Welt, noch bevor diese, nach der Feuerkatastrophe, real wiederhergestellt wird. Damit wird

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VI Rezeption – D Einzelmythen und Mythengruppen

die Phaëthon-Erzählung auf den Prometheus-Mythos rückbezogen. Wenn am Ende von Phaëthons Sonnenfahrt die brennende Gaia, welche sich die prometheischen Techniken des Naturumgangs gern gefallen ließ, in Klagen ausbricht (met. 2, 280–300), so heißt dies, dass in der phaëtonischen Himmelsbegier eine Dynamik installiert wird, welche die Erde gefährdet, wenn nicht zerstört. Es ist eine der Selbsttäuschungen unserer Zivilisation, dass sie sich als prometheisch versteht; in Wahrheit überschreitet sie, phaëtonisch, das prometheische Erbe im Verlangen, des Unsterblichen habhaft zu werden und beschleunigt darin ihren Untergang. Das ist ihr Großartiges und Erschreckendes – und diese Doppelheit ist an Phaëthon immer verstanden worden, von Ovid bis zu Goethe (seinem Phaëthon und seinem Faust). An diese ebenso kosmische und anthropologische Dimension reicht Wilhelm Waiblinger nicht heran, wenn er unter dem Namen Phaëthon die Mythisierung des von ihm verehrten Hölderlin betreibt (Waiblinger 1823/1920; Hansen 2012, 185–199). Literatur

Behringer, Wolfgang/Ott-Koptschalijski, Constance: Der Traum vom Fliegen. Zwischen Mythos und Technik. Frankfurt a. M. 1991. Böhme, Hartmut: Phaethon, Prometheus und die Grenzen

des Fliegens. In: Wolf R. Dombrowsky, Ursula Pasero (Hrsg.): Wissenschaft – Literatur – Katastrophe. Festschrift für Lars Clausen. Opladen (1995), 35–53. Dittrich, Adolf: Ätiologie-unabhängige Strukturen veränderter Wachbewußtseinszustände. Stuttgart 1985. Engelhardt, Wolf von: Phaethons Sturz – ein Naturereignis? In: Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Mathemat.-naturwiss. Klasse, Jg. 1979, Berlin/Heidelberg/New York 1979, 161–199. Goethe, Johann Wolfgang: Phaethon, Tragödie des Euripides, Versuch einer Wiederherstellung aus Bruchstücken. In: Sämtliche Werke, Münchner Ausgabe (MA), Bd. XIII/1: 1820-1826, 301–319. Hansen, Christiane: Transformationen des PhaethonMythos in der deutschen Literatur. Berlin/Boston 2012. Hölkeskamp, Karl-Joachim/Rebenich, Stefan (Hrsg.): Phaethon. Ein Mythos in Antike und Moderne. Wiesbaden 2009. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. [2. Aufl. 1793 = KdU B]. In: Werke. Hrsg. Von Wilhelm Weischedel. Darmstadt 1793/1963, Bd. V, 237–620. Nelting, David/Ehrlich, Isabel von: Phaëthon. In: MoogGrünewald, Maria (Hrsg.): Mythenrezeption. Die antike Mythologie in Literatur, Musik und Kunst von den Anfängen bis zur Gegenwart (= Der Neue Pauly. Supplemente. Bd. 5). Stuttgart/Weimar 2008, 571–577. Waiblinger, Wilhelm: Phaeton. Ein Briefroman. Dresden 1823/1920.

Hartmut Böhme

73  Das Wissen der Alten: Philemon und Baucis

73 Das Wissen der Alten: Philemon und Baucis 73.1 Einführung: Was bleibt vom Mythos? »›Mein Philemon und Baucis‹, sagte Goethe, ›hat mit jenem berühmten Paare des Altertums und der sich daran knüpfenden Sage nichts zu tun. Ich gab meinem Paare bloß jenen Namen, um die Charaktere dadurch zu heben. Es sind ähnliche Personen und ähnliche Verhältnisse, und da wirken denn die ähnlichen Namen durchaus günstig.‹« In seinem Gespräch mit Eckermann vom 6.6.1831 äußert sich Goethe in dieser bemerkenswerten Weise. Gaier (1999, 1022) kommentiert, dass diese Aussage in sich widersprüchlich sei, denn wenn »die Personen und Verhältnisse ähnlich sind, kann nicht behauptet werden, daß sie mit den Mythenfiguren nichts zu tun haben«. Was Goethe hier für den Rückgriff auf Philemon und Baucis im fünften Akt seines Faust II reklamiert, ist tatsächlich eine ungewöhnliche Definition von Rezeption. Die namentlichen und motivischen Anleihen bei Ovid lassen sich leicht ausmachen: die Gastlichkeit des alten Ehepaars trotz der eigenen Armut, ihre Frömmigkeit, die ärmliche Hütte, in der sie leben, sowie die in deren Nähe stehenden »dunklen Linden« (Faust II, 5, 1), die an die Verwandlung von Philemon und Baucis bei Ovid erinnern. In einem zentralen Punkt hat die Version bei Goethe aber tatsächlich nichts mehr mit den Metamorphosen zu tun: Philemon und Baucis erfahren keine Verwandlung. Sie kommen gewaltsam durch den Brand ihrer Hütte, der von den Schergen des Faust ausgelöst wird, zu Tode, werden also zusammen ausgelöscht. Goethe verweist noch auf einen weiteren wichtigen Punkt. Der einzige Grund für die Benennung seiner Protagonisten als Philemon und Baucis liege darin, die Charaktere »zu heben«. Mit jeder Nennung des »berühmten Paares«, so muss man Goethes Äußerung verstehen, wird der Horizont der ovidischen Metamorphosen aufgerufen. Davon nimmt eine Rezeptionslinie ihren Ausgang, die mit dem ursprünglichen Personal aber nicht mehr gemeinsam hat als eine diffuse Bedeutsamkeit: Philemon und Baucis sind nach ihrem Auftritt in den Metamorphosen zu leeren Formen geworden, die nur noch äußerlich an Ovid gemahnen und stets anders aktualisiert werden können. In Ovids Metamorphosen treten Philemon und Baucis im achten Buch auf (V. 611–724). Ihre Geschichte ist dort in einen Erzählkomplex um den

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athenischen Helden Theseus eingebettet. Obgleich die Erzählung von Philemon und Baucis keine direkten Verbindungslinien zum Sagenkreis um Theseus aufweist, bildet sie das inhaltliche und strukturelle Zentrum dieser Passage: Lelex, ein Gefährte des Theseus, berichtet von dem alten Ehepaar, um die Allmacht der Götter zu beweisen. Philemon und Baucis nehmen die sich als hilfesuchende Wanderer gebenden Götter Jupiter und Merkur gastfreundlich bei sich auf und werden von ihnen dafür belohnt: Sie bleiben von einer Sintflut verschont, die die mangelnde Frömmigkeit der Menschen bestrafen soll, ihre einfache Hütte wird in einen prächtigen Tempel verwandelt und die beiden dienen dort auf ihren Wunsch als Priester bis an ihr Lebensende. Gemeinsam sterben sie und verwandeln sich dabei in zwei Bäume, eine Linde und eine Eiche.

73.2 Ursprung und Rezeption im Ausgang von Ovid Über den Ursprung des Mythos von Philemon und Baucis gibt es keine gesicherten Zeugnisse. Motivische Parallelen, wie die Gastfreundlichkeit gegenüber Fremden, finden sich schon in Homers Odyssee (vgl. Beller 1967, 13–18). Darüber hinaus sind Themen wie Sintflut oder die Probe der Frömmigkeit der Menschen durch die Götter Bestandteile eines Arsenals von grundlegenden, die menschliche Existenz und das Verhältnis von Menschen und Göttern betreffenden Topoi. In den Metamorphosen, der »einzigen greifbaren antiken Gestaltung des Stoffes« (ebd., 18), rücken besonders die Szenen des Gastmahls der Götter bei Philemon und Baucis und die Verwandlungen ins Zentrum, da sich gerade dort, in der genauen Beschreibung der Vorbereitung der Speisen und des metamorphotischen Übergangs von Hütte zu Tempel und von Mensch zu Baum, die Beschreibungskunst und Originalität Ovids Raum verschaffen kann. Die anschließenden Rezeptionslinien spiegeln diese Schwerpunkte in ganz unterschiedlicher Weise wider: Teils ist es eine eher motivisch begründete und interessierte Rezeption, teils werden eben jene Eigentümlichkeiten der Beschreibung und sprachlichen Gestaltung zum Ausgangspunkt einer Neubearbeitung gemacht. In Ovids Fasti finden sich diese beiden Rezeptionsströmungen wieder – die Rezeptionsgeschichte von Philemon und Baucis beginnt also bei Ovid selbst (vgl.

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_73

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ebd., 37). Hier sind es Motive und sprachliche Strukturen, die den Bezug zu den Metamorphosen herstellen. In der Schilderung der Bewirtung der Ceres durch Celeus, seine Frau Metanira und seine Tochter wird ein Aspekt besonders hervorgehoben: Obwohl sie zu dritt sind, bilden sie eine (häusliche) Einheit, eine Ganzheit (fast. 4, 543–544): tota domus laeta est, hoc est materque paterque / nataque: tres illi tota fuere domus (»Froh ist das ganze Haus, also Mutter und Vater und Tochter, / Denn das gesamte Haus waren allein diese drei«). Gerade für Philemon und Baucis ist dieses Denken, Handeln und Sprechen als Einheit charakteristisch und tritt an vielen Stellen in der Passage der Metamorphosen hervor, besonders pointiert aber im folgenden Vers (met. 8, 636): tota domus duo sunt, idem parentque iubentque (»Sind doch die Beiden selber das ganze Haus, befehlen zugleich und gehorchen«). Diese eindrückliche Formulierung hat Ovid in seinen Fasti aufgegriffen und ruft durch die sprachliche Ähnlichkeit Bilder von Frömmigkeit und Gastfreundschaft auf, wie sie die Episode in den Metamorphosen vorzeichnet.

73.3 Jonathan Swift, Baucis and Philemon (1708) Vom Mittelalter bis in die Renaissance wurde der Mythos von Philemon und Baucis allein über die ovidischen Metamorphosen rezipiert. Als Beispiel für das angemessene Verhalten gegenüber den Göttern und für ein Leben in Nächstenliebe wurde die Erzählung dabei in einen christlich-moralischen Kontext überführt und allegorisch ausgedeutet, wie z. B. im Ovide moralisé. Während in der Folge klassizistische Nachdichtungen, u. a. von Jean de La Fontaine oder John Dryden, eine möglichst originalgetreue Übertragung der ovidischen Vorlage zum Ziel hatten, lässt sich im aufkommenden Zeitalter der Aufklärung ein zunehmend säkularisierter und konfrontativer Umgang mit dem Stoff beobachten. Ein Beispiel für diese neue, auch spielerische Form der Rezeption liegt in Jonathan Swifts satirischer Dichtung Baucis and Philemon (1708/1958) vor. Bereits der Titel zeigt, dass sich Swift einerseits eng an Ovid orientiert (»Imitated, from the Eighth Book of Ovid«; 110), sich andererseits aber satirisch von ihm distanziert. Denn Swift nennt einen konkreten Anlass für sein Gedicht: »On the Everlamented Loss of the two Yew-Trees in the Parish of

Chilthorne, Somerset«. Durch die räumliche Transposition in das zeitgenössische England und den Hinweis auf den Verlust der beiden Bäume wird bereits deutlich, dass Swifts Auseinandersetzung mit der ovidischen Vorlage eine auf Verfremdung hin angelegte ist. Swift behält die Erzählstruktur Ovids bei: Zwei Einsiedler (»Saints by Trade«; V. 7) stellen die Gottesfürchtigkeit und Gastfreundschaft der Bewohner eines kleinen Dorfes auf die Probe, sie erhalten aber nur bei Philemon und Baucis gastliche Aufnahme. Swift legt den Fokus seiner Bearbeitung auf die unterschiedlichen Verwandlungen, in denen sehr deutlich der satirische und kleruskritische Duktus seiner Version hervortritt. Nicht zwei Metamorphosen, wie bei Ovid, sondern drei Verwandlungen finden sich bei Swift: Das cottage von Philemon und Baucis wird zu einer Kirche, das Ehepaar selbst verwandelt sich erst in ein saturiertes Pfarrehepaar und dann in zwei Eiben – häufig in Großbritannien auf Friedhöfen anzutreffende Bäume. Die Bearbeitung gipfelt in der Verkehrung der bei Ovid vorgefundenen Rahmenhandlung: Wo Lelex den Mythos erzählt, um ein Beispiel für die Allmacht der Götter zu geben, führt bei Swift ein redseliger Pfarrer Besucher an die Stelle, wo, nun für Baumaterial abgeholzt, früher einmal die beiden Bäume standen (V. 172–174; Hervorhebung dort): »Here Baucis, there Philemon grew. Till once, a Parson of our Town, To mend his Barn, cut Baucis down.«

Während Swift bei der Beschreibung der Metamorphose von Philemon und Baucis nach wenigen Versen mit der Begründung »DESCRIPTION would but tire my muse« (V. 163; Hervorhebung dort) abbricht, nimmt die Beschreibung der Verwandlung der Hütte – bei Ovid gerade einmal vier Verse – knapp ein Viertel des gesamten Gedichts ein. Swift kehrt die Verhältnisse der Detailschilderungen um und blendet die detaillierten Essensvorbereitungen in den Metamorphosen mit seiner Tempel-Metamorphose ineinander. Auf diese Weise testet Swift die Passagen, die bei Ovid zwischen Ernst, Ironie und Kitsch changieren, auf ihre Dehnbarkeit hin aus. Was bei Ovid also an doppelbödigem Potential bereits angelegt ist, wird von Swift aufgegriffen und weitergedacht: Denn was geschieht mit den so zahlreichen Gegenständen in der Hütte von Philemon und Baucis eigentlich bei der Verwandlung des Gebäudes in einen Tempel? Swifts Antwort: Sie verwandeln sich ebenfalls (V. 57–65; Hervorhebung dort):

73  Das Wissen der Alten: Philemon und Baucis »THE Kettle to the Top was hoist, And there stood fast’ned to a Joist: But with the Upside down, [...] Doom’d ever in Suspense to dwell, ’Tis no kettle, but a bell.«

Das Idyllische und Erhabene in seiner Doppelbödigkeit konsequent mitzudenken, darin weist Ovid auf die Moderne voraus – eine Doppelbödigkeit, die auch Swift für seine Zwecke zu nutzen wusste.

73.4 Italo Calvino, Die unsichtbaren Städte (1972) Italo Calvino stellt in Die unsichtbaren Städte (2007) (Le città invisibili, 1972) eine Verbindung zum Mythos von Philemon und Baucis her. In Form einer »ré-écriture« (Knaller 1988, 9) der Reisebeschreibungen des Marco Polo (Il Milione, 1298/99) schafft Calvino eine Rahmenhandlung, innerhalb derer Marco Polo dem Tatarenkaiser Kublai Khan von seinen Reisen durch dessen riesiges Reich berichtet. In diese Rahmenhandlung sind in komplexer Ordnung (Knaller 1988, 14–19) 55 kurze Prosatexte eingefügt, die sich zumeist aus distanziert-teilnehmender Perspektive der Beschreibung einer Stadt widmen. Unter dem Titel »Die Städte und die Augen« wird die Stadt Baucis beschrieben. Es zeigt sich dabei, dass Calvino ein genauer Leser Ovids ist, der jedoch die bekannteren Linien der Rezeption des Mythos meidet und stattdessen Aspekte in den Fokus rückt, die auf subtile Weise an den Kern dieser Erzählung der Metamorphosen rühren: Bei Ovid benötigt ein wackliger Tisch beim Gastmahl eine Stütze für sein drittes Bein, ebenso sind Philemon und Baucis beim Gehen auf ihre Stöcke angewiesen (met. 8, 693) (vgl. Gowers 2005, 346). Alles bleibt auf diese Weise im Gleichgewicht. Das Motiv der Stütze spielt auch für Baucis bei Calvino eine zentrale Rolle, denn die Stadt befindet sich nicht am Boden, sondern ist auf »dünne Stelzen« gebaut, »die sich in großen Abständen von einander aus dem Boden erheben und über den Wolken verlieren« (85). Mit dieser Beschreibung blendet Calvino in seinen Text noch ein weiteres zentrales Element des ovidischen Mythos ein: die Sintflut. Die »langen Flamingobeine« (85) von Baucis, die implizit eine Nähe zum Element Wasser herstellen, wappnen die Stadt nämlich gegen jegliche Gefahr durch eine Überschwemmung. Durch die Stützen wird aber noch eine weitere, über die reine Motivebene hinausgehende Verbindung zu

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Ovids Philemon und Baucis hergestellt: Die Stadt ist für Besucher zugleich an- und abwesend und ihre Bewohner »haben schon alles Notwendige oben und ziehen es vor, nicht herunterzukommen« (85). Ein vergleichbares, in sich zurückgezogenes und selbstgenügsames Leben, die Abwesenheit vom Rest der Welt, die jedoch nicht mit einer Abschottung nach außen zu verwechseln ist – man kann auf Leitern zur Stadt Baucis hinaufsteigen ‒, beschreibt auch Ovid. Er zeichnet den Haushalt von Philemon und Baucis als autarken Kosmos, in dem alle Handlungen und schließlich auch der Tod vollkommen aufeinander abgestimmt sind (met. 8, 716–717): valeque / o coniunx! dixere simul (»So leb den / wohl, mein Gemahl!« so riefen zugleich sie). Dieser Gedanke eines in sich geschlossenen Ganzen und die ›Einheit‹ von Philemon und Baucis, die Ovid auf so unterschiedliche Weise darstellt, hat Calvino in seiner Version konsequent weitergedacht, indem er einen Teil des Paares – Philemon – gar nicht erwähnt. Das innovative Potential, das in Ovids Metamorphosen angelegt ist, besteht zweifellos darin, dass durch die geschilderten Verwandlungen auch über das Wesen von Verwandlungen reflektiert wird. Eben diesen Aspekt nimmt auch Calvino am Ende seiner Stadtbeschreibung auf: Eine Hypothese über die Bewohner von Baucis lautet, dass sie »die Erde lieben, so wie sie vor ihnen war«, und dass sie von ihrem distanzierten Beobachtungsposten von oben »fasziniert die eigene Abwesenheit [...] betrachten« (85). Eben dies ist es, was – nicht nur – die Metamorphose von Philemon und Baucis ausmacht: die Gleichzeitigkeit der eigenen Anund Abwesenheit, deren Beobachtung durch die Veränderung der eigenen Gestalt möglich wird.

73.5 Ausblick und Weiterentwicklungen Auch im 20. und 21. Jahrhundert bleiben Philemon und Baucis präsent. Ernst Jünger macht in einer Lektüre der Passagen bei Ovid und bei Goethe das Paar zum Ausgangspunkt für seine Reflexionen über den gemeinsamen Tod (Jünger 2015). In der Gegenüberstellung der Bearbeitungen arbeitet er das Oppositionsverhältnis heraus, das dem Tod »in der mythischen und in der technischen Welt«, so der Untertitel des Essays, eignet. Zuletzt hat Elfriede Jelinek mit ihrer assoziativen und mehrstimmigen Collage Philemon und Baucis (2018) dezidiert den ovidischen Mythos mit der Thematik um Flucht und Flüchtlinge verknüpft. Dass hier erneut das Thema der Gastfreundschaft und pietas die

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VI Rezeption – D Einzelmythen und Mythengruppen

Rezeptionsachse bildet, zeigt eine weitere, auch politische Facette des Mythos auf. Literatur

Beller, Manfred: Philemon und Baucis in der europäischen Literatur. Stoffgeschichte und Analyse. Heidelberg 1967. Calvino, Italo: Die unsichtbaren Städte. München 2007 (ital. 1972). Gaier, Ulrich: Johann Wolfgang Goethe. Faust-Dichtungen. Kommentar I. 3 Bde. Stuttgart 2009. Gowers, Emily: Talking Trees: Philemon and Baucis Revisited. In: Arethusa 38/3 (2005), 331–365.

Griffin, Alan H. F.: Philemon and Baucis in Ovid’s ›Metamorphoses‹. In: Greece and Rome 38 (1991), 62–74. Jelinek, Elfriede: Die Schutzbefohlenen. Wut. Unseres. Reinbek bei Hamburg 2018. Jünger, Ernst: Zahlen und Götter. In: Sämtliche Werke. 22 Bde. Stuttgart 2015. 15. Abt. Bd. 7. Knaller, Susanne: Theorie und Dichtung im Werk Italo Calvinos. Untersuchungen zu ›Le città invisibili‹ und ›Se una notte d’inverno un viaggiatore‹. München 1988. Swift, Jonathan: The Poems of Jonathan Swift. Hrsg. von Harold Williams. 3 Bde. Oxford 21958. Bd. 1.

Eva Marie Noller

74  Regionale Götter: Picus, Vertumnus und Pomona

74 Regionale Götter: Picus, Vertumnus und Pomona 74.1 Kontext und Auswahl In den letzten beiden Büchern von Ovids Metamorphosen tauchen Gottheiten von untergeordneter Bedeutung auf, die nicht aus Griechenland, sondern aus Italien stammen. Diese Figuren werden zu neuen Protagonisten von Liebesgeschichten, die der Dichter für sie spinnt: Picus, der König von Laurentum, den Circe in einen Specht verwandelt, weil er die Annäherungsversuche der Göttin aus Liebe zur Nymphe Canens abgewiesen hatte (met. 14, 312–434); Vertumnus, der Gott der Verkleidung und unerwarteten Veränderung, und Pomona, die römische Göttin der Früchte, die Vertumnus überzeugen will, seine Liebe zu erwidern (met. 14, 623–771). Das Fortwirken dieser Mythen steht in direktem Zusammenhang mit dem Nachleben der ovidischen Metamorphosen und fand seinen Höhepunkt in der Renaissance. Die Picus-Episode hat eine sehr begrenzte Resonanz gefunden. Unter den wenigen Gemälden, auf denen die Verwandlung des Königs in einen Specht dargestellt ist, sei das aus dem 16. Jahrhundert von Benvenuto Tisi, Circe verwandelt Picus in einen Specht, genannt. Die Liebe zwischen Picus und Canens findet in der Literatur nur selten Erwähnung, während in der bildenden Kunst keine Darstellungen der Canens bekannt bzw. überliefert sind. Die Sage von Pomona und Vertumnus hingegen war enorm erfolgreich, allerdings mit einer beträchtlichen Diskrepanz zwischen bildender Kunst und Literatur. In Ersterer wurde das Paar zum paradigmatischen Symbol für Glück und Fruchtbarkeit. Zu den berühmtesten Beispielen gehört Pontormos Vertumno e Pomona in der Villa Medici in Poggio a Caiano: Das Fresko feiert die Geburt Cosimos, des künftigen Großherzogs von Florenz, im Jahr 1519. In den literarischen Texten hingegen sind die beiden Götter als ›Dekorationen‹ mythologischer Gelehrsamkeit zitiert, wie in der kurzen Erwähnung von Milton in Paradise Lost 9, 393–395, wo Pomona merkwürdigerweise vor Vertumnus die Flucht ergreift, oder in dem schönen Bild, das Goethe in dem Gedicht »Die Liebhaber« skizziert: »So lag einst Vertumn und Pomone, / als er auf dem grünenden Throne / das sprödeste Mädgen bekehrt, / zuerst sie die Liebe gelehrt« (69–72). Im Rahmen dieser zusammenfassenden Übersicht lohnt es sich, einige Beispiele zu beleuchten, die über

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die Darstellung des Paares als Emblem glücklicher und fruchtbarer Liebe hinausgehen und seine Nähe zu aktuell diskutierten Themen hervorheben. Ovids Erzählung ist nämlich in erster Linie ein Mythos, der von verborgenen und enthüllten Identitäten spricht, wie Antoon van Dyck (1599–1641), ein flämischer Porträtmaler, und Jean-Baptiste Lemoyne (1704–1778), ein im Paris des von Ludwig XV und der Madame de Pompadour tätiger Rokoko-Bildhauer, bestens veranschaulichen.

74.2 Der moderne Vertumnus: Zwischen Metamorphose und Theater Als Vertumnus Pomonas Garten in der Gestalt einer alten Frau betritt, trägt er die typischen Kennzeichen, die in der antiken Komödie die Maske der Greisin charakterisierten: eine bunte Mitra am Kopf, einen Gehstock und weißes Haar. Am Ende der Episode, als sich alle Versuche, Pomona zu überzeugen, als vergeblich erwiesen haben, »wurde Vertumnus wieder zum Jüngling und legte die Tracht einer alten Frau ab« (met. 14, 766–767). Dies lässt vermuten, dass eine Metamorphose stattgefunden hat, die Vertumnus mittels Verkleidung verfeinert hat. Die Freude des Gottes an der Maskierung und seine überzeugende Übernahme der Rolle der Greisin sind wichtige Indizien für seine Nähe zur Sphäre des Theaters (Bettini 2015, Aresi 2017, 126–136). Paradox ist allerdings, dass der Gott der Tarnung erst triumphieren kann, als er der Szene die Maske abzieht: Pomona verliebt sich nämlich erst dann in Vertumnus, als er ihr sein wahres Aussehen offenbart. Die Liebe will keine Verkleidung (Aresi 2017, 195–211). Das Gemälde Vertumnus und Pomona (1625) von Antoon van Dyck, Rubens’ Schüler und Bewunderer von Tizian, bildet eine perfekte Verschmelzung von flämischer Genauigkeit einerseits und italienischer Sinnlichkeit andererseits. Der linke Arm Pomonas, deren Pose an die der Danae des Tizian (Millar 1955, 314) erinnert, ruht sanft auf den Schultern Vertumnus’, der eines ihrer Beine fasst. Die Gegenseitigkeit des Blicks und der Kontakt zwischen den Körpern suggerieren das Erwachen der Liebe: Pomonas unruhiger Blick passt perfekt zum Moment ihres ersten Nachgebens (Barnes/Boccardo/Di Fabio u. a. 1997, 316), während der Blick Vertumnus’ die Hoffnung auf den Sieg erkennen lässt. Es gibt jedoch etwas an dieser Szene, das nicht ganz stimmig ist: Vertumnus’ Körper ist der eines kraftvol-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_74

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len jungen Mannes, und männlich sind auch seine Gesichtszüge, aber am Kopf trägt er die Mitra der Greisin, sein Haar ist weiß, die Haut faltig. So hat man den Eindruck, der Maler stelle einen hybriden Vertumnus dar, in dem gleichzeitig die alte Frau und der junge Gott verkörpert sind. Noch faszinierender wäre die Annahme, dass das Gemälde eine Zwischenstufe der Gegenmetamorphose Vertumnus’ auf die Leinwand bannt: Vertumnus kommt allmählich zu seiner Form zurück und Pomona beginnt, die Veränderung zu spüren und sich in ihn zu verlieben. In den Metamorphosen wird der Leser an detaillierte Beschreibungen gewöhnt, in denen alle Stadien der Verwandlung eines Körpers bis zu seinem endgültigen Zustand veranschaulicht werden. Nicht so in der Episode von Pomona und Vertumnus, wo der Gott seiner Geliebten erscheint, »so, wie wenn die Sonne die Wolken, die sie verdecken, besiegt hat und, von keiner getrübt, wieder strahlt in leuchtendem Glanze« (met. 14, 768–769): Eine Epiphanie, die Pomona trifft wie ein ebenso plötzlich einschlagender Blitz. Der moderne Künstler bearbeitet ›Ovid mit Ovid‹, d. h., er setzt ein typisch ovidisches Stilmittel ein, um seinen Originaltext neu zu interpretieren. Er verdeutlicht so, wie sehr es dem antiken Modell entsprochen hätte, im allmählichen Voranschreiten der Liebe in Pomonas Blick der ebenso allmählichen Transformation von Vertumnus’ Körper zu folgen. Somit erweist sich auch, dass das Gemälde sich auf den Akt der Metamorphose und nicht auf denjenigen der Verkleidung konzentriert. Als alte Frau ist Vertumnus in van Dycks Augen authentisch: Für einen Porträtmaler, der jeden Ausdruck untersucht, kann das Gesicht niemals eine Maske sein. Für einen entgegengesetzten Weg entschied sich Jean-Baptiste Lemoyne in seiner Skulptur Vertumne et Pomone (1760), eine Hommage an Madame de Pompadour, die bei den von ihr in Versailles organisierten Theateraufführungen mit Begeisterung die Rolle der Pomona spielte (Pevitt 2002, 85). In der Marmorfigur ist der Moment unmittelbar vor dem Entbrennen von Pomonas Liebe festgehalten. Wie in van Dycks Gemälde streckt Vertumnus auch hier seine Hand aus, um das Bein seiner Geliebten zu umfassen, aber Lemoynes Pomona hält ihn mit ihrem Arm auf Distanz und vermeidet den direkten Blickkontakt. Vertumnus ist augenblicklich gefangen, sobald er seine Identität offenbart hat: Das Entfernen der Maske von seinem Gesicht zeigt an, dass der Gott sich nicht verwandelt, sondern lediglich verkleidet hatte. Der Künstler interessiert sich nicht für die Gegenmetamorphose des Gottes, sondern für den theatralischen Gestus, mit

dem Vertumnus ›das Ende des Spektakels‹ ankündigt. Nur leider ist das Rollenspiel in Versailles nie vorüber: Vertumnus nimmt seine Maske ab, aber Pomona-Madame de Pompadour nicht. Die Liebe ist zur ›ars amatoria‹ geworden, und beim Erlernen dieser Kunst muss die Favoritin des Königs zu Ovids besten Schülerinnen gehört haben.

74.3 Vertumnus im 20. Jahrhundert: Der Übersetzer und der Verbannte Joseph Brodsky (1940–1996) war einer der letzten großen zeitgenössischen Dichter, der das ovidische Drama des Exils selbst erleben musste: Nach seiner Ausbürgerung aus der Sowjetunion 1972 unternahm Brodsky Reisen nach Europa und in die USA. In Italien wurde er dank der Übersetzungen seines Freundes Giovanni Buttafava bekannt. 1990 starb Buttafava, und Brodsky widmete ihm ein langes Gedicht mit dem Titel »Vertumnus«. In Prop. 4, 2 erzählt die Statue des Vertumnus, dass sie ein fremder Gott sei, der aus Etrurien nach Rom umgezogen sei, und dass dessen Name von dem Wort vertere (»drehen«, »wenden«) komme. Mit vertere brachten die Römer auch das Verb »übersetzen« zum Ausdruck: Vertumnus ist damit eine passende Bezeichnung für Buttafava. In Brodskys Gedicht verknüpft sich der Text des Ovid mit demjenigen des Properz: Es wird berichtet, wie die Statue des Vertumnus, die vor jener Pomonas in den Sommergärten von St. Petersburg steht, lebendig wird und sich an den Dichter wendet: »Sei nicht erstaunt: Meine Spezialität sind Metamorphosen. Wen immer ich anschaue, sofort wird er – ich. Für dich ist das von Vorteil. Immerhin bist du im Ausland« (Dutli 2006). Übersetzung ist also nicht das Mittel, mit dem Vertumnus sich in die Autoren verwandelt, deren Texte er übersetzt, sondern eher das Gegenteil: Die übersetzten Autoren finden sich in Vertumnus verwandelt (Pavan 2006, 281; Pucci 2017, 314–315). Eine solche Umkehrung bestätigt die Kraft der Sprache, da man einen Text nicht übersetzen kann, ohne ihn neu zu erfinden, ohne ihn zu verwandeln: Die Metamorphose der Sprache ist eine Metamorphose der Substanz, weshalb die Übersetzung ein kreativer Akt sein muss. In den Metamorphosen stellt sich Ovid die schwierige Aufgabe, Mythen auf Latein neu zu erzählen, die ursprünglich auf Griechisch verfasst wurden: Die erste Metamorphose seines Meisterwerks hat die Sprache zum Thema. Vertumnus erzählt Pomona auf Latein die griechische Geschichte von Iphis und Anaxarete,

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d.h, er macht seinerseits eine Übersetzung, die das eigentliche Wesen des ganzen Gedichts ausmacht. Später wird der verbannte Ovid versuchen, in der Sprache der Geten zu dichten (trist. 3, 14, 48). Für Brodsky verläuft der Weg, der ihn aus seiner Heimat vertreibt, in entgegengesetzter Richtung: vom Osten her und zum Herzen der westlichen Welt, wo er versucht, seine verlorene Identität in den Überresten einer glorreichen Vergangenheit wiederzufinden. Vertumnus erweist sich als ein perfektes Sinnbild zweier Dichter, die aufgrund ihrer übereinstimmenden »Neigung zur Metamorphose« (Herlth 2004, 210) sowie durch ein äußerst ähnliches Schicksal vereint sind. Literatur

Aresi, Laura: Nel giardino di Pomona. Le »Metamorfosi« di Ovidio e l’invenzione di una mitologia in terra d’Italia. Heidelberg 2017. Barnes, Susan J./Boccardo, Piero/Di Fabio, Clario/Taglia-

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ferro, Laura: Van Dyck. Grande pittura e collezionismo a Genova. Milano 1997. Bettini, Maurizio: Il dio elegante. Vertumno e la religione romana. Torino 2015. Dutli, Ralph: Der Gott der Wende und die Kälte der Zukunft (2006). In: https://www.ralph-dutli.de/vertumnus.htm (8.10.2020). Herlth, Jens: Ein Sänger gebrochener Linien. Iosif Brodskijs dichterische Selbstschöpfung. Köln 2004. Millar, Oliver: Van Dyck at Genoa. In: Burlington Magazine, 97, 1955, 312–315. Pavan, Stefania: Lezioni di poesia. Iosif Brodskij e la cultura classica: il mito, la cultura, la filosofia. Firenze 2006. Pevitt Algrant, Christine: Madame de Pompadour: Mistress of France. New York 2002. Pucci, Giuseppe: Vertumno. L ’ultimo avvistamento. In: Adriana Romaldo (Hrsg.): A Maurizio Bettini. Pagine stravaganti per un filologo stravagante. Milano 2017.

Laura Aresi

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75 Erotik des Schreckens: Procne und Philomela 75.1 Eine Poetik der Perversion Erotik ist, nach Georges Bataille, nicht ohne ›Gewaltsamkeit‹ zu haben. Die ›Erotik der Körper‹ sei eine dem Mord vergleichbare »Vergewaltigung der Körper in ihrem Sein« (Bataille 1994/1957, 19), welche »die Auflösung schon gebildeter Formen [...] des sozialen, regelmäßigen Lebens« (ebd., 21) mit sich bringe. Opfer einer solchen Erotik des Schreckens werden nach und nach alle Beteiligten der transzendenten, Trost entbehrenden, geradezu ›gottlosen‹ (Gildenhard/Zissos 2007, 7–8, 13) Erzählung um die beiden athenischen Königstöchter Philomela und Procne (met. 6, 412–674): Philomela wird von Tereus, ihrem Schwager und pervertierten elegischen Liebhaber (vgl. Blanco Mayor 2017, 205–223), in einer abgelegenen Waldhütte vergewaltigt und mittels Abschneiden der Zunge um ihre Stimme gebracht. Ihre familiären Verbindungen zu Vater und Schwester sind durch Tereus’ lüsternen Blick, der schon in der väterlichen Umarmung Philomelas seine eigene Lust imaginierte (6, 475–482), und die inzestuöse Tat selbst existenziell bedroht. Doch auch Tereus’ Familie wird durch die Tat zerstört: Philomela kann sich mit einem Webstück heimlich Procne mitteilen, die ihre Schwester befreit und sich aus übersteigerter Schwesternliebe zu jeder Rache bereit zeigt. Die beiden Schwestern ermorden und zerstückeln Procnes und Tereus’ Sohn Itys, den sie seinem Vater zum Mahl vorsetzen. Auf ihrer anschließenden Flucht vor Tereus wird zwar Procne in eine Nachtigall und Philomela in eine Schwalbe verwandelt; die spätere Tradition identifiziert dann jedoch zumeist die Nachtigall mit Philomela. Die Schilderung erlaubt einen Blick auf die nach Ingo Gildenhard und Andrew Zissos (2007, 4) zentralen und in der weiteren Rezeption wirkmächtigen Punkte dieser ovidischen Erzählung: »(1) a figuring of hell on earth; (2) a poetics of perversion; (3) an aesthetics of vengeance; and (4) an entropy of culture«. In komplementierender Abweichung hiervon sieht Lena Behmenburg die wesentlichen Bestandteile in dem »Gewebe Philomelas«, den »Formen weiblicher Artikulation«, der »Perversion der familiären Ordnung« und dem Gegensatz zwischen »Öffentlichkeit und Geheimnis« (Behmenburg 2009, 188–258).

75.2 Entschärfung und Faszination der Rache Während die neronische Literatur bei dieser ›Hölle auf Erden‹ Anleihen nahm für ihre eigenen Rachedramen (Senecas Thyestes) oder Frauenfiguren (Cornelia in Lucans Pharsalia), scheint dem Mittelalter an einer Entschärfung der grausamen Geschichte gelegen zu haben. In der Chrétien de Troyes’ zugeschriebenen Philomena (1165–1170; die Namensvariante ist im Mittelalter gebräuchlich), die Eingang in den Ovide moralisé (14. Jhd.) gefunden hat, werden Vergewaltigung und Rache in nur wenigen Versen abgehandelt, Chaucer (The Legende of Good Women [1386]) lässt die Geschichte gar bereits nach Philomelas Befreiung enden. Andere Aspekte werden dafür ausgebaut: Bei Chrétien findet sich eine auffällige amplificatio (Erweiterung) der Beschreibungen vom ›Gewebe Philomelas‹ und ihrem Lob; Philomela ist unfassbar schön und umfassend gebildet, was ihr späteres Leiden noch schockierender macht (Behmenburg 2009, 99–102). Der Hochschätzung Philomelas als unschuldigen Opfers korrespondiert eine Kritik an ihrer Schwester. Zwar wird Procne schon früh für die Befreiung ihrer Schwester gelobt, für Itys’ Ermordung jedoch getadelt (ein wohl spätantikes Beispiel bei Paolucci 2016, 30– 31). Bei Dante hat sie ihren Auftritt folgerichtig im Purgatorio (14. Jhd.) als Beispielfigur für die Todsünde der ira. Ihre Rache hätte sie, so später George Gascoigne (The Complaynte of Phylomene 1576), lieber Gott überlassen sollen (Dingley 1986, 74). In der Frühen Neuzeit erobert die ovidische ›Ästhetik der Rache‹ die Theaterbühnen. Seitdem haben dramatische Adaptionen der Erzählung um die beiden Schwestern, von Shakespeares Titus Andronicus (ca. 1592) bis zu Timberlake Wertenbakers The Love of the Nightingale (UA 1988) zu einem »not insignificant amount of carnage on the Western Stage« beigetragen (Gildenhard/Zissos 2007, 3). In der reichen spanischen Tradition (Martín Rodriguez 2008) folgt die Tragicomedia llamada Filomena (1564) Juan de Timonedas noch weitgehend der ovidischen Erzählung, während Guillén de Castro (1618) und Francisco de Rojas Zorrilla (1636) ihre Philomela-Dramen um diverse Nebenhandlungen und Verwicklungen ergänzen, die schließlich sogar zu einem guten Ende führen.

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_75

75  Erotik des Schreckens: Procne und Philomela

75.3 Shakespeare, Titus Andronicus (ca. 1592) Shakespeares frühe Tragödie rekurriert auf die ovidische Erzählung im Modus der Überbietung (Barkan 1986, 243–244): In einem späten römischen Reich wird Titus’ Tochter Lavinia zum Opfer von Intrigen und hat durch einen »craftier Tereus« (2, 4, 41) Schlimmeres zu erleiden als Philomela (»worse than Philomel«, 5, 2, 194). Die beiden Söhne der Gotenkönigin Tamora kennen ihren Ovid und schneiden Lavinia nach einer doppelten Vergewaltigung nicht nur die Zunge, sondern auch die Hände ab. Gleichwohl findet sie, die sonst wohl besser hätte weben können als Philomela (2, 4, 43), schließlich ein Mittel, sich auszudrücken, nämlich ein Exemplar der Metamorphosen. Sie wendet die Seiten um, bis die Umstehenden von Philomelas Vergewaltigung lesen können, und schreibt anschließend die Namen ihrer Peiniger mit einem Stock, den sie in ihrem Mund hält, in den Sand. Titus gelingt es im Folgenden, die Söhne Tamoras gefangen zu nehmen und beide, darin »worse than Procne« (5, 2, 195), zu einem Mahl zu verarbeiten, das die Gotenkönigin zu sich nehmen wird. Noch vor der Enthüllung der Tat macht Titus die ›Entehrung‹ seiner Tochter öffentlich und ersticht Lavinia, um deren Ehre damit wieder herzustellen. Nach dieser letzten Perversion der familiären Verhältnisse folgt Rachemord auf Rachemord, bis die meisten Hauptfiguren den Tod gefunden haben. Die exzessiven Gewaltakte des Stücks zeichnen das Bild einer verrohten, schon selbst barbarisch gewordenen Kultur in Auflösung. Im Gegensatz zu dem privaten Rahmen der ovidischen Erzählung reißen die kühl geplanten, ins Öffentliche gezerrten Taten der Protagonisten den Staat beinahe mit in einen drohenden Untergang. Das mag auch an den Zuschauern nicht spurlos vorbeigehen: Die groteske Komik mancher Szenen erweise sich, so Jessica Lugo (2007), als ein beunruhigendes Angebot an das Publikum, sich im Verlachen der Opfer mit den Tätern gemein zu machen – erst der Mord an den beiden Vergewaltigern gestehe dem Publikum eine Gelegenheit zum Aufatmen zu. Bei dem Blick auf diese Leserlenkung wird der Unterschied zu der Version in den Metamorphosen klar: Eine Gelegenheit zum Aufatmen sucht man dort vergeblich.

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75.4 T.  S. Eliot, The Waste Land (1922) Die ovidische Philomela, auf die Eliot in den Notes zu seinem Langgedicht hinweist, begegnet in The Waste Land in einer spezifisch modernen Version. Die Nachtigall kündet hier, wie bei Eliots Zeitgenossen Pound und Woolf, von der ›Verwüstung und Grausamkeit der modernen Welt‹ (Tomiche 2010, 124), aber zugleich auch von deren ›Verhältnis zu Vergangenheit und Tradition‹ (ebd., 118). In The Waste Land figuriert Philomela zum ersten Mal im zweiten Teil des Gedichts, A Game of Chess (97–103): »Above the antique mantel was displayed As though a window gave upon the sylvan scene The change of Philomel, by the barbarous king So rudely forced; yet there the nightingale Filled all the desert with inviolable voice And still she cried, and still the world pursues, ›Jug Jug‹ to dirty ears.«

Über einem alten Kaminsims findet sich ein Bild, das es vermag, dem Betrachter das schreckliche Geschehen unmittelbar vor Augen zu führen, ähnlich wie Philomelas Gewebe Procne das Leiden der Schwester bei Ovid offenbart hat: Im Wald verborgen (»sylvan scene« – silvis obscura vetustis, met 6, 521; Tomiche 2009, 217) fand Philomelas Vergewaltigung und Verstümmelung statt. In der folgenden Beschreibung überwindet die Nachtigall jedoch die Grenzen des Bildes und des in ihm Dargestellten. Statt in einem Wald gefangen zu sein, erfüllt Philomela nun eine Wüste (»desert«) mit einer Stimme, über die Tereus keine Macht hat (»inviolable«). In einer zweiten textlichen Bewegung, ausgedrückt durch einen Tempuswechsel, bewegt sich Eliots Philomela in die Jetztzeit des wüsten Landes (»cried« zu »pursues«; Tomiche 2009, 217); die mythische Vergangenheit verschmilzt mit der modernen Welt. Die zweite Erwähnung des Nachtigallengesangs (203–206) deutet Anne Tomiche mit Blick auf die umgebenden Zitate als Erlösung des wüsten Landes. Selbiges werde nun von Philomelas Stimme erfüllt und damit weniger ›öd und leer‹ (Tomiche 2009, 222). Dagegen mag man einwenden, dass die Leere eben keinem Nachtigallengesang weicht, der von Frühling oder Freude kündete – im Gegenteil: Diese Nachtigall nutzt ihre Stimme, um ihre Vergewaltigung öffentlich zu machen (»So rudely forc’d« [205]) und ihren Peiniger, auf den sie in traumatischer Weise zurückbezo-

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VI Rezeption – D Einzelmythen und Mythengruppen

gen scheint, anzuklagen: »Tereu« (206). Ovids Grausamkeit wird hier auf Dauer gestellt.

75.5 Philomela als Modell? Ein Ausblick In der zum Teil autobiographischen Erzählung Why are we reading a Handbook on Rape? (Kahn 2004) berichtet Madeleine Kahn von einer Lektüre der Metamorphosen und insbesondere der ovidischen Erzählung um die vergewaltigte und verstümmelte Philomela an einem Frauen-College. Die anfängliche offene Ablehnung ihrer Schützlinge gegen die ›patriarchalische‹ Literatur weicht dabei einem dezidierteren Verständnis davon, wie sich der Text einer einfachen Deutung entzieht. Am Ende der Lektüre steht die Erkenntnis, dass der ovidische Erzähler auch der Psychologie des Opfers gerecht wird. Möglicherweise ausgehend von der Hochachtung für Ovids psychologischen Modellfall des stumm gemachten Opfers, das seine Geschichte zu erzählen und damit wieder Macht zu erringen versucht, erscheint das Muster ›Philomela‹ manchen sogar als geeignetes ›Interpretationsinstrument‹ (Tomiche 2006, 306), um Erzählungen aus feministischer oder postkolonialistischer Sicht zu analysieren – selbst wenn selbige Erzählungen keine expliziten Bezüge zu Ovids Erzählung aufweisen (Beispiele bei Tomiche 2006; Behmenburg 2009, 2–5). In einer weiteren Reduktion wird Philomela sinnbildlich für das Erheben der unterdrückten weiblichen Stimme gegen herrschende Strukturen (vgl. plakativ Barker 2018 mit Blick auf die #MeTooBewegung). Doch auch jenseits dieser Verwendung als Topos, in der Literatur, bleibt Philomela – wenn auch bisweilen ohne Procne – präsent. Auf Tereus trifft sie in der wüsten Letzten Welt (1988) Christoph Ransmayrs, rächt sich an ihm mit ›eiskaltem‹ Herzen bei Ted Hughes (Tales from Ovid, 1997) oder lässt ihn, wie die stumme Lisario (2014), eine implizite Philomela, in Antonella Cilentos gleichnamigem Roman, sterbend zurück. In Jeannine Hall Gaileys Gedicht »Case Studies in Revenge: Philomel Gives Advice« (Hall Gailey 2006, 60–61) schließlich reagiert Philomela mit Unverständnis auf das Unvermögen dreier Frauen, sich über das (mögliche) Unglück ihrer Peiniger zu freuen: »When I had my fill / of revenge, I began / making music. It tasted sweeter« (Hall Gailey 2006, 60). Der Moment der (süßen) Rache bringt hier eine geradezu sinnliche Befreiung zur Musik mit sich. Hall Gailey

erweist sich damit als aufmerksame Ovid-Leserin: Zwar berichten die Metamorphosen nicht davon, dass die Schwestern nach ihrer Verwandlung ihre Stimmen erklingen lassen, zuvor jedoch, im Augenblick ihrer Rache, wünscht sich auch die ovidische Philomela nichts sehnlicher, als ihre Freude in Worte fassen zu können (6, 659–660). Literatur

Barkan, Leonard: The Gods Made Flesh. Metamorphosis & the Pursuit of Paganism. New Haven/London 1986. Barker, Justin L.: Teaching Note. The #MeToo Movement and Ovid’s Philomela. In: Radical Teacher 110 (2018), 65–67. Bataille, Georges: Die Erotik. München 1994 (frz. 1957). Behmenburg, Lena: Philomela. Metamorphosen eines Mythos in der deutschen und französischen Literatur des Mittelalters. Berlin/New York 2009. Blanco Mayor, José Manuel: Power Play in Latin Love Elegy and its Multiple Forms of Continuity in Ovid’s ›Metamorphoses‹. Berlin/Boston 2017. Dingley, R. J.: The Misfortunes of Philomel. In: Parergon 4 (1986), 73–86. Feldherr, Andrew: Intus habes quem poscis. Theatricality and the Borders of the Self in Ovid’s Tereus Narrative. In: Alexander Arweiler/Melanie Möller (Hrsg.): Vom SelbstVerständnis in Antike und Neuzeit. Notions of the Self in Antiquity and Beyond. Berlin/New York 2008, 33–47. Gildenhard, Ingo/Zissos, Andrew: Barbarian variations. Tereus, Procne and Philomela in Ovid (Met. 6.412–674) and Beyond. In: Dictynna 4 (2007), 1–21. Hall Gailey, Jeannine: Becoming the Villainess. Bowling Green 2006. Kahn, Madeleine: »Why Are We Reading a Handbook on Rape?« Young Women Transform a Classic. In: Pedagogy 4/3 (2004), 438–459. Lugo, Jessica: Blood, Barbarism, and Belly Laughs. Shakespeare’s Titus and Ovid’s Philomela. In: English Studies 58/4 (2007), 401–417. Martín Rodríguez, Antonio María: El mito de Filomela en la literatura española. León 2008. Paolucci, Paola: Pentadius Ovidian Poet. Music, Myth and Love. Hildesheim 2016. Tomiche, Anne: Philomèle dans le discours de la critique littéraire contemporaine. In: Véronique Gely/Jean-Louis Haquette/Anne Tomiche (Hrsg.): Philomèle. Figures du rossignol dans la tradition littéraire et artistique. Clermont-Ferrand 2006, 305–324. Tomiche, Anne: Philomela in American Modernist Poetry (T. S. Eliot, Ezra Pound and John Crowe Ransom). In: Sabine Coelsch-Foisner/Wolfgang Görtschacher (Hrsg.): Ovid’s Metamorphoses in English Poetry. Heidelberg 2009, 213–229. Tomiche, Anne: Metamorphoses du lyrisme. Philomèle, le rossignol et la modernité occidentale. Paris 2010.

Jonas Göhler

76  Ovids Prometheus: Aspekte der Rezeption

76 Ovids Prometheus: Aspekte der Rezeption Man kann von einer Rezeptionsgeschichte des ovidischen Prometheus kaum sprechen. Vielmehr ist Ovid selbst schon ein Element einer Rezeptionskette, deren Anfang wir nicht kennen und die bis heute nicht abgerissen ist. So geht es bei mythischen Narrativen zu, die nie einen ›Ursprung‹, ein ›Original‹ oder eine ›kanonische Fassung‹ aufweisen. Mythen zeigen ihre Vitalität gerade in ihrer rhizomartigen Verflechtung und Hybridität, ihrer mal wuchernden, mal schrumpfenden Textur. Dabei treiben die Metamorphosen die Literarisierung des Mythos und damit auch seine Kontingenz voran. Die Metamorphosen erzählen von dem, was sie selbst sind: Verwandlungen. Gegenüber der Überlieferung vor Ovid ist Prometheus in den Metamorphosen eine namenlose Figur, die um viele Facetten radikal gekürzt wird – im Gegensatz zu den Figuren, die eine mächtige Amplifikation erfahren, wie etwa Actaeon, Narziss, Arachne, Phaëthon. Die grundlegende Trennung von menschlicher und göttlicher Sphäre durch den Opferbetrug: sie kommt nicht vor (eine maligne Variante findet sich in der Lycaon-Episode, met. 1, 163–252). Ebenso fehlt der für Kulturtechniken und Nahrungsaufbereitung bedeutsame Feuerraub (Lévi-Strauss 1964; Goudsblom 1994). Prometheus ist auch nicht jener Kulturheros, der den Menschen Intelligenz und Fertigkeiten vermittelt, wie bei Aischylos (Der gefesselte Prometheus; vgl. Lefèvre 2003) oder bei Platon (Protagoras) (Kerényi 1959; Vernant 1987; Pankow/Peters 1999; Dougherty 2006). Der Epimetheus-Pandora-Komplex wird nicht einmal erwähnt. Es fehlt die Bestrafung am Kaukasus-Gebirge und die Befreiung durch Herkules. Und doch ist er eine beherrschende Figur, insbesondere in den Schöpfungs- und Sintflut-Mythen. Indirekt angesprochen werden die »Künste des Vaters«, die dem Sohn des Prometheus, Deucalion, fehlen (met. 1, 363–364; Möller 2018). Oder er wird als Sohn des Iapetos bezeichnet (met. 1, 82): Sein Vater Iapetos ist ein Titan, Sohn von Gaia und Uranos, Sohn also von Erde und Himmel. Indirekt anwesend ist Prometheus ferner als Enkel der oft genannten Terra/Tellus/ Gaia, die schon in der 30. der Homerischen Hymnen als »Allmutter« angerufen wird und bei Ovid magna parens, die »Große Mutter« heißt (met. 1, 383, 393).

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76.1 Menschenschöpfung bei Ovid und im Christentum Ovid beschränkt Prometheus auf seine Rolle bei der Anthropogenie und der zweiten Menschenschöpfung durch Deucalion und Pyrrha. Prometheus ist also der Menschenbildner – durchaus eine häretische Variante des göttlichen Demiurgen (Steiner 1991). Doch scheint er die Menschenfigur nicht zu beseelen (was auch Pygmalion nicht von sich aus vermag). Auch Deucalion bedarf der wundertätigen Mitwirkung der Gaia, damit aus Steinen das Fleisch der neuen Menschen wird. So kommt der ovidische Prometheus nur für jenen Strang der Rezeption in Frage, bei dem er als Formkünstler, als Bildhauer oder allgemeiner als Künstlergenie gedeutet wird. Es ist charakteristisch, dass Ovid für die Anthropogenie zwei Varianten anbietet. Entweder sei der Mensch aus göttlichem Samen entstanden. Oder die Erde wurde im hieros gamos mit dem Himmel besamt und Prometheus hat aus der befruchteten Erde den Menschen nach dem Bilde der Götter geformt (finxit in effigiem deorum, met. 1, 77–83). Ähnlich wie die biblische Genesis folgt der erste Typ dem Muster sexueller Generativität, der zweite dem Schema skulpturaler Gestaltung. Erfunden hat dies Ovid nicht, wenn man an Platon denkt (Prot. 320b–323a). Pausanias (10, 4, 4), Juvenal (14, 35), Apollodor (1, 45) und Hygin (fab. 142) hingegen beziehen sich auf Ovid Im Christentum wird hier sehr früh eine scharfe Grenze gezogen, so etwa bei Laktanz, für den allein Gott der wahre und einzige Prometheus ist: denn Gott erzeugt die Welt als eine creatio ex nihilo, sodann auch den lebendigen Menschen ex limo terrae (aus dem Urschlamm). Prometheus indes bildet, dem Skulptor ähnlich, aus Ton oder Lehm (de luto) nur die naturähnliche Form des Menschen (div.inst. 11; 25; Steiner 1991, 28 ff; Storch und Damerau 1995, 90–92) – in einer verisimilitudo, welche die Bilder (simulacra) lebenswahr (verisimiliter) erscheinen lassen, als würden sie »atmen«. Für das orthodoxe Christentum sind die Gebilde des Prometheus nur Kunstgebilde (fabrefacta signa), keine Schöpfungen. Das gilt bis zu Marsilio Ficino. Solche lebensnahen Gebilde zu verehren, ist Aberglaube und Idolatrie. So sehen es schon Tertullian und Augustin. Diese Grenzziehungen degradiere Prometheus, der bloß ein Trickster, ein schlauer Schurke (Francis Bacon), bestenfalls ein täuschungsmächtiger Künstler ist. Er vermag nicht wahrhaft zu schaffen, doch er versteht es, mit der Evidenz (ἐνάργεια) des Scheins, dem Als-Ob – wie ihn Kant später nennt – zu spielen.

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_76

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VI Rezeption – D Einzelmythen und Mythengruppen

Doch die Kunstliteratur seit der Renaissance nimmt die christliche Abwertung des Menschenbildners als bloßem Materialkünstler gerade zum Ausgang einer beispiellosen Re-Mythisierung des Prometheus und der Auratisierung der Künste, die gleichsam auf Augenhöhe mit dem göttlichen Schöpfungswerk treten – und mit einer mächtigen Natur. Dass die Kunst Gott und Natur nachahmen solle, ist die schwache Fassung davon, dass es nicht nur auf die Imitation der äußeren Formen, sondern auf deren Animation und Vitalisierung ankam. Gottes Werk nachzunahmen heißt nun, das Kreative selbst in eigene Verfügung zu bekommen und nicht die natura naturata, die erstarrten Fertigprodukte der Natur, sondern deren prozesshaften Werdens, also die natura naturans nachzunahmen.

76.2 Kunst und Technik Das gilt fortan als prometheisches Erbe. In dieser ehemals hybriden, nunmehr mit dignitas geadelten Autonomie liegt auch die Würde des Menschen, der sich mit Stolz auf Prometheus zurückführt. Schon in Pico della Mirandolas Oratio de hominis dignitate (1486) wird der Rang des Menschen darin gesehen, dass er nicht nur geschaffen, also ein Adam, sondern auch der Schöpfer seiner selbst, also ein Prometheus ist, als ingeniöser Mensch ein secundus deus. Daran konnte Goethe anschließen, wenn er in seiner Hymne Prometheus (1773) die Linie des Göttlichen im Menschen, nämlich sein Genie mit der Selbstschöpfung zusammenführte und Gott seinen leeren Himmeln überließ. Die maligne Variante dieser kreativen Potenz finden wir spätestens in Mary Shelleys Roman Frankenstein or The Modern Prometheus (Shelley 2000). Bis zu Goethe, Mary Shelley und darüber hinaus reicht die prometheische Tradition, wonach die Menschenbildnerei – Vorbild für jede Kunst – ein rebellischer Akt gegen die Götter ist. Seit der Frühen Neuzeit kann man nur noch von einer prometheischen Kultur sprechen. Doch auf Dauer wird Prometheus als lehrender Gott überflüssig. Carolus Bovillus (Charles de Bouelles) spricht 1509 noch davon, dass Prometheus im Himmel »nichts Heiligeres, Kostbareres und Lebendigeres gefunden« habe, »als das Feuer« (Bovillus 1927, 320): also die Beherrschung von Energie. Francis Bacon nennt, ganz aristotelisch, die Seele die »Form aller Formen«, die menschliche Hand das »Werkzeug aller Werkzeuge« und das Feuer den »Helfer aller Helfer und die Kraft aller Kräfte« (Bacon

1990, 64). Dies ist bereits ein innerweltlicher und anthropologischer Ansatz. Wenn Albert Camus schließlich fordert, das Feuer neu zu erfinden, so meint dies, den Menschen neu zu entwerfen: L ’ homme révolté ist der Mensch, der sich in die eigene Regie nimmt und selbst verantwortet (Camus 2003, 144–147). Das ist die prometheische Spur. Das Projekt der prometheischen Technik und Kunst hat sein Zentrum im Philanthropos, der dem entzweiten Geschlecht der Menschen zur Verheimatung der Erde verhelfen möchte. Unversöhnt mit den Göttern, betreibt er die Versöhnung mit einer Erde, die nur durch kluge Kultivierung bewohnbar bleibt. Prometheus ist die mythische Figur der Verklammerung zwischen der Erde, der Rechtsordnung und der technischen Zivilisation. Dem kommt Schelling nahe, wenn er 1842 schreibt: »Prometheus ist der Gedanke, in dem das Menschengeschlecht, nachdem es die ganze Götterwelt aus seinem Innern hervorgebracht, auf sich selbst zurückkehrend, seiner selbst und des eigenen Schicksals bewußt wurde (das Unselige des Götterglaubens gefühlt hat)« (Schelling 1976, 482). In der Perfektion der Technik heute allerdings zeichnet sich ein neuerlicher Wandel der PrometheusFigur ab. Stand er in der Moderne als Portalfigur für die technisch bemeisterte Zivilisation, so findet sich bei Günter Anders der Gedanke, dass es eben die technischen Artefakte sind, deren Eleganz und zunehmende Intelligenz den biologischen Menschen überholen. Er wird durch die Technik beschämt: Dies ist die »prometheische Scham« (Anders 1956/1980). Vielleicht rührt daher der drive der heutigen Kultur, sich als Mensch selbst zu einem Artefakt umzubauen, das damit auf der Höhe der technischen Entwicklung zu bleiben eine Chance hat. Die Technik wird zum Format des Menschen. Auch dafür steht Prometheus, der Menschenbildner.

76.3 Dekonstruktion des Mythos Doch diese Linie wird in Franz Kafkas PrometheusText vom 17. Januar 1918 gelöscht (Kafka 1918/2002, 69–70). Wenn Kafka schreibt, dass die »Sage«, wie er den Mythos nennt, »versucht«, das »Unerklärliche zu erklären«, dann deklariert er die Vergeblichkeit von Erklärungen. Wahrheit ist gerade das Unmögliche. Dass Mythen im »Unerklärlichen« enden, von dem sie ausgegangen sind, um es zu beseitigen – das liegt gerade an ihrer Herkunft aus einem »Wahrheitsgrund.« Wahr sind sie dadurch, dass ihre Erklärun-

76  Ovids Prometheus: Aspekte der Rezeption

gen das Unerklärliche unerklärlich belassen. Darin endet der Kafka’sche Text. Es gibt keinen Grund, der den Mythos erklären würde. Es gibt nur Varianten von Überlieferungen (Peters 2016) – wie die vier Fassungen der Prometheus-Sage bei Kafka. Sie stehen dafür, dass der Mythos einen Fächer von Varianten entfaltet, die sich um die Abwesenheit von ›Ursprung‹, ›Grund‹ oder ›Sinn‹ legen (das erinnert an talmudische Verfahren). Das Nicht-Erklärende in jeder Erklärung erzeugt neue Erklärungen und wahrt just dadurch das Inkommensurable. Am Ende steht das »unerklärliche Felsengebirge,« der Kaukasus, an den Prometheus geschmiedet war. In den Varianten strebt Kafka keine semantische Einheit des Mythos an. Auch hält Kafka sich nicht an den Überlieferungsbestand, sondern er schreibt diesen weiter und erfindet ihn neu. Vor allem wird eine eigene Zeitlichkeit eingeführt, die à la longue den Mythos selbst auflöst. Tempus edax rerum, wie es bei Ovid heißt (met. 15, 234–236). Das betrifft insbesondere den Handlungskern, den Konflikt mit den Göttern. Nicht nur die Akteure, sondern der Mythos selbst unterliegt einem fading out. »Blieb das unerklärliche Felsgebirge«: factum brutum. Nichts scheint toter unter der Sonne. Prometheus, in Abwehr der endlosen Schmerzen, wird eins mit dem Felsen, an den er geschmiedet ist. Zu Stein werden, das heißt, empfindungslos zu werden und aus der Zeit zu fallen, in der sich unsere Tragödien (und Komödien) abspielen. In der Petrifizierung tritt auch eine Anästhesie ein, ein Tod, der zugleich die Metamorphose in ein Fossil ist. Kafka erzählt ein Finale des Vergessens, eine Amnesie aller Akteure. Erinnerungslosigkeit löst Ursprung und Grund dessen auf, was dem Mythos ›zugrunde liegt‹. Steinerne Müdigkeit beendet die Spannungen und Motive, welche die Akteure und Handlungen lebendig halten. Sie finalisiert auch den »Wahrheitsgrund« der Sage, die zum »grundlos Gewordenen« wird. Im Grundlosen ist alles reglose Skulptur. Das ist das Ende des Prometheus: alles ist Entropie, das reglos Anorganische ist alles. Der Mythos ist radikal dekonstruiert. Der ›sagenhafte‹ Grund der Konflikte von Göttern, Titanen, Menschen und Tieren schließt sich nie zu einem finiten Sinn, im Gegenteil: Alles wird vergessen, alles ermüdet. Das Sagenhafte ist nichts-sagend geworden. Fin de partie. Ende der Geschichte. Indem alles und auch das Mythische vergessen und müde wird, ist das Ende der prometheischen Menschenbildnerei gekommen, das Ende der Kinder des Prometheus, der Menschen, die verschwinden werden »wie ein Gesicht

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im Sand« (Foucault 1966/2003, 425) – eine leere Traurigkeit als letzter Hauch des Mythos. Literatur

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pologische Aspekte der bildenden Kunst vom 14. bis zum 17. Jahrhundert. München 1991. Storch, Wolfgang/Damerau, Burghard (Hrsg.): Mythos Prometheus. Texte von Hesiod bis René Char. Leipzig 1995. Theisohn, Philipp: Prometheus. In: Maria Moog-Grünewald (Hrsg.): Mythenrezeption. Die antike Mythologie in Literatur, Musik und Kunst von den Anfängen bis zur Gegen-

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Hartmut Böhme

77  Liebe mit und ohne Aussicht: Pyramus und Thisbe

77 Liebe mit und ohne Aussicht: Pyramus und Thisbe 77.1 Überblick über die Rezeptionsgeschichte Bis heute genießt die ursprünglich aus den Metamorphosen stammende Geschichte über Pyramus und Thisbe eine ungebrochene Popularität unter den Liebesgeschichten, die Eingang in unser kulturelles Gedächtnis gefunden haben, was nicht zuletzt Shakespeares’ weltberühmter Adaptation Romeo und Julia zu verdanken ist. Insbesondere zwei Motive der ovidischen Erzählung kehren in zahlreichen Ausgestaltungen über die Jahrhunderte wieder und machen gewissermaßen den »obligatorischen Teil der Erzählung« (Lieb 2004, 87) aus: zum einen Pyramus’ Entdeckung des blutigen Schleiers und sein fataler, zum Suizid führender Fehlschluss, Thisbe sei von Raubtieren getötet worden; zum anderen Thisbes Rückkehr und letzte Begegnung mit dem sterbenden Pyramus, auf die ihr Freitod folgt. Dagegen wurden andere Motive wie der Riss in der den Nachbarshäusern gemeinsamen Wand, durch den das Liebespaar heimlich miteinander kommuniziert, oder die sich am Ende vollziehende Metamorphose der ursprünglich weißen zu (vom Blut der Liebenden) schwarz gefärbten Maulbeeren deutlich seltener wiederaufgenommen. Allerdings hat die »Pyramus und Thisbe«-Erzählung Ovids teils erhebliche Umdeutungen erfahren, wie noch zu zeigen sein wird. Zunächst aber ein kurzer Überblick über die Rezeptionsgeschichte des ovidischen Textes: Die Blütezeit seiner Rezeption beginnt erst im 12. Jahrhundert, als der Stoff in so bekannten Werken wie Gottfried von Straßburgs Tristan und Hartmann von Aues Erec verarbeitet wird. Im Mittelalter dient der Stoff dabei nicht nur der Demonstration der ungeheuren Macht der Liebe, sondern auch heilsgeschichtlichen Anliegen, wenn im Sinne einer christlichen Allegorese etwa Pyramus mit Christus und die Löwin mit dem Teufel gleichgesetzt wird. Nicht wenige der zu dieser Zeit entstehenden Fassungen enthalten moralisierende Urteile, die in Übereinstimmung mit dem christlich-mittelalterlichen Wertekanon stehen, unter dessen Vorzeichen Bestandteile der Erzählung wie sexuelles Begehren, Freitod und Missachtung des väterlichen Verbots naturgemäß anders einzuordnen sind, als es die römisch geprägte Perspektive Ovids nahelegt. In der Neuzeit entwickeln sich zwei Rezeptionstypen des Stoffes, die unterschiedlicher nicht sein

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könnten: Während in vielen Bearbeitungen nun die Tragik des Stoffes (ohne eine gleichzeitige Allegorisierung oder Moralisierung) in den Mittelpunkt gerückt wird, entstehen zeitgleich parodistische Fassungen, deren berühmteste die Handwerkerkomödie in Shakespeares’ Ein Sommernachtstraum sein dürfte. Nachdem Ovids »Pyramus und Thisbe«-Stoff im Mittelalter vor allem in Form von Versdichtungen verarbeitet wurde, entstanden ab der Neuzeit vermehrt Dramen sowie eine Reihe von Opern. Aber auch in der volkstümlichen Tradition hat der Stoff seine Spuren hinterlassen, so etwa in Ludwig Uhlands Volksballade Der Abendgang, in der eine der vielen Modifikationen darin besteht, dass statt einer Löwin ein Zwerg sein Unwesen treibt, der die heimlich mit einem Ritter im Wald verabredete Tochter eines Herzogs entführt. Für die folgenden Analysen wurden Rezeptionstexte aus Spätantike, Mittelalter und Neuzeit ausgewählt, die in der Darstellung oder nachträglichen Deutung der Suizid-Szenen von der ovidischen Vorlage abweichen und dabei demonstrieren, wie sich der Blick auf die zentralen Themen ›Liebe‹ und ›Suizid‹ seit Ovid immer wieder verändert hat.

77.2 Augustinus: De ordine 1, 24 Zu den wenigen vormittelalterlichen Rezeptionen gehört Augustinus’ philosophischer Frühdialog De ordine, den der Kirchenvater 386 n. Chr., kurz nach seiner Bekehrung zum Christentum, verfasste. Darin tritt neben weiteren Gesprächspartnern auch Licentius auf, der ein Gedicht über Pyramus und Thisbe schreiben möchte, ein Vorhaben, das Augustinus zunächst mit Skepsis betrachtet. Als Licentius seine literarischen Ambitionen daraufhin zugunsten der Philosophie aufgeben möchte, wird er von Augustinus jedoch auf einmal dazu ermutigt, mit dem Dichten fortzufahren, allerdings nur unter der Bedingung, dass Licentius den ovidischen Stoff in Übereinstimmung mit der eigenen philosophischen Agenda behandle. Es folgt eine Anweisung, wie eine solche Umgestaltung auszusehen habe: »Mach dich an die Verfluchung jener schändlichen Lüsternheit und vergifteten Liebesglut, durch die es erst zu jenem Unglück kommt. Erhebe dich dann voller Begeisterung zum Lob reiner und wahrer Liebe, mithilfe derer sich die [...] Seelen durch die Philosophie mit dem Geist verbinden und so nicht nur dem Tod entgehen, sondern auch in den Genuss eines zutiefst glücklichen Leben kommen« (Aug. ord. 1, 24). So wird aus der ursprünglichen Selbstverflu-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_77

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chung des Pyramus aufgrund seines Zuspätkommens (Ov. met. 4, 110–114), mit dem er Thisbes Tod verschuldet zu haben glaubt, bei Augustinus eine Generalabrechnung mit der erotischen Liebe, die er zur Ursache des zweifachen Suizids erklärt (vgl. Schmittvon Mühlenfels 1972, 27). Bedenkt man, dass Augustinus schon früh von der Lehre des Manichäismus beeinflusst war, die ein dualistisches Weltprinzip zugrunde legt, und sich seit seiner Konversion zudem selbst in Askese übte, wird nachvollziehbar, wie es zu einer so stark vom ovidischen Text abweichenden Ausgestaltung gekommen ist.

77.3 Hartmann von Aue: Erec Eine gleichfalls moralisierende Verarbeitung des Stoffes findet sich in Hartmann von Aues im 12. Jahrhundert entstandenen Artusroman Erec, wo eine Abbildung der unglücklich Liebenden auf dem Sattelkissen der weiblichen Protagonistin folgendermaßen beschrieben wird: »Damit es gefällig anzusehen war, / war darauf dargestellt, / wie Thisbe und Pyramus, / von ihrer Liebe besiegt, / ihres Verstandes beraubt, / ein trauriges Ende fanden [...]« (Erec. 7707–7712). Die Liebe wird, wie die Formulierung »von ihrer Liebe besiegt« verdeutlicht, als gefährliche, tendenziell negative Wirkmacht betrachtet und wie schon bei Augustinus zur Hauptursache des zweifachen Suizids erklärt. Aufmerksamkeit verdient außerdem die hier begegnende Darstellung von Pyramus und Thisbe als zweier »ihres Verstandes [B]eraubt[er]«, die suggeriert, dass die Suizide letzten Endes auf Kurzschlusshandlungen der beiden amantes amentes zurückzuführen seien. Auch in Ovids Erzählung stehen die beiden Tode zwar zweifellos in einer kausalen Beziehung zur Liebe zwischen Pyramus und Thisbe, ebenso wie zu einer ganzen Reihe weiterer Ereignisse (u. a. Verbot der Väter, Erscheinen der Löwin, Verlieren des Schleiers, Zuspätkommen des Pyramus). Eigentlicher Auslöser des unglücklichen Ausganges ist bei Ovid laut Schmitzer allerdings nicht die Liebe, sondern das Handeln des Pyramus, das anders als das der »callida« (Ov.met. 4, 93) Thisbe »übereilt und ungenügend reflektiert wirkt« (Schmitzer 1992, 529; 539). Während Thisbe ihre Entscheidung, sich das Leben zu nehmen, angesichts des toten Geliebten überlegt und bewusst trifft, ist Pyramus’ Selbsttötung letztlich als Übersprunghandlung und Resultat falsch gezogener Schlussfolgerungen, eines schlechten Gewissens (Ov. met. 4, 110)

sowie falsch verstandenen Heldentums zu werten (Schmitzer 1992, 530). Im Erec ist von diesen charakterlichen Unterschieden zwischen Pyramus und Thisbe nichts mehr zu erkennen, da auch Thisbe hier als kopflos Liebende erscheint. Damit fungiert sie als negative Gegenfigur zur weiblichen Protagonistin Enite (Kern 2003, 547): Wie Thisbe hätte sie sich nämlich an einer anderen Stelle des Versromans beinahe selbst ins Schwert gestürzt, als sie den vermeintlich toten Erec erblickte, wenn sie nicht durch göttliches Eingreifen daran gehindert worden wäre. In ihrem Aufsitzen auf dem mit dem negativen Exemplum bebilderten Sattel wird ihre Überwindung solcher »minne ane maze [Herv. von Tax]« eindrücklich in Szene gesetzt (Tax 1963, 35–36).

77.4 Hasse/Coltellini: Piramo e Tisbe. Intermezzo tragico Eine deutlich positivere Perspektive auf Liebe und Tod findet sich dagegen im 1786 entstandenen intermezzo tragico Piramo e Tisbe von Johann Adolf Hasse, einem der bedeutendsten Vertreter der opera seria, das insofern eine Sonderrolle innerhalb seines Gesamtwerks einnimmt, als darin Einflüsse einer neuen, der Einfachheit und Natürlichkeit verpflichteten Strömung zu beobachten sind. Neben musikalischen Neuerungen – etwa dem häufigen Einsatz einer einfachen dreiteiligen Liedform anstelle der für die opera seria typischen Da-Capo-Arien (Schilling 1994, 12; zur genaueren Analyse musikalischer Gestaltungsmittel vgl. Schmitt-von Mühlenfels 1972, 117–120) – weist das Intermezzo aber auch in seiner Handlung, die auf dem Libretto Marco Coltellinis basiert, eine gemessen am Geschehen ungewöhnliche Unaufgeregtheit auf, die mit der auf Pathos ausgerichteten Oper des ancien régime nicht mehr viel gemein hat. So verwundert es nicht, dass Piramo in dieser Fassung weniger als unreflektierter ›Draufgänger‹ denn als empfindsamer und nachdenklicher Jüngling inszeniert wird. Deutlich wird dies etwa, als Piramo Tisbes blutverschmiertes Tuch findet und der Blutspur zunächst folgen will, um an der Seite der toten Geliebten zu sterben: »Aber was würde ich sehen? Grausam verteilt zwischen den Gräsern und im Staub schmutzige Überbleibsel, von hundert wilden Tieren zugerichtet, rohe und zerfetzte Glieder, nackte Knochen. [...] Der grausige Anblick würde meiner Hand ihren Mut rauben« (Hasse 1994, 90). Ganz anders dagegen der ovidische Pyramus, der sich eine ähnliche, freilich auf sich selbst

77  Liebe mit und ohne Aussicht: Pyramus und Thisbe

bezogene Horrorvision geradezu genüsslich ausmalt: »Zerreißt, ihr Löwen, meinen Leib, [...] zerfleischt mit wilden Bissen meine frevlerischen Eingeweide!« Reichlich Raum für Reflexionen bietet auch das in die Länge gezogene Sterben Piramos, das anders als bei Ovid nicht unmittelbar nach Tisbes Auftreten, sondern erst im letzten Seufzer beider Liebender (»l’ultimo mio sospir«, ebd., 98) seinen Abschluss findet. Dabei nimmt Piramo eine zunehmend gleichmütige, ja beinahe freudige Haltung gegenüber dem bevorstehenden Tod ein (»Es ist kein Tod, sich mit seiner Liebsten zu vereinen; nein, das sind nicht die Schrecken des Todes«, ebd., 92) und zwar selbst dann, als er seinen Irrtum erkennen muss. Auch wenn von einem glücklichen Ausgang keine Rede sein kann, geht von dem gleichzeitig eintretenden, gemeinsamen Tod beider Liebender, denen sogar ausreichend Zeit für letzte Liebesschwüre bleibt, eine weitaus friedlichere Wirkung aus als von der ursprünglichen Fassung, in der Thisbe einen einsamen Tod stirbt.

77.5 Ausblick Nach einer langen Zeit intensiver Rezeption lässt das Interesse an der »Pyramus und Thisbe«-Erzählung ab dem 20. Jahrhundert merklich nach. Kees Stips Zes variaties op een misverstand (Sechs Variationen eines Missverständnisses), in denen Ovids Erzählung im Stil sechs niederländischer Dichter wiedergegeben und die ganze Gattungsbandbreite – von der Travestie bis zum Barockdrama – ausgeschöpft wird, bieten ein seltenes Beispiel für eine einfallsreiche moderne Verarbeitung, die in den Niederlanden großen Anklang gefunden hat. Bemerkenswert ist, dass Ovids Erzählung trotz nachlassender Bekanntheit auch in die moderne Unterhaltungskultur Eingang gefunden hat, wie eine Folge der Fernsehserie Die Simpsons zeigt: Darin wird die Erzählung von Lisa Simpsons Großvater derart verstümmelt wiedergegeben, dass der eigentliche Plot kaum mehr zu erkennen ist. Dieser erzählt zunächst noch vorlagengetreu von den beiden Liebenden, die durch einen Riss in der Hauswand kommunizieren, und ihren verfeindeten Väter. Allerdings führt das Treffen im Wald in dieser Erzählung zu einem Happy End: Der parallel ablaufende Film im Film zeigt im weiteren Verlauf, wie Pyramus und Thisbe sich unver-

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sehrt unter dem Baum begegnen und fest umschlungen in einen Teil des Stammes verwandeln, während Lisas Großvater kommentiert: »Und die Macht dieser verbotenen Leidenschaft schenkte ihnen ewige Liebe« (»Unter dem Maulbeerbaum«, 2013, 13:59–14:05). Dass der obligatorische Teil der Erzählung hier ausgelassen und stattdessen eine von Ovid abweichende Metamorphose gezeigt wird, die allerdings auf Ovids una requiescit in urna (»zusammen ruhen sie in einer Urne«, Ov.met. 4, 166) anspielt, spricht für einen äußerst erfindungsreichen Umgang mit einem Stoff, der in jüngerer Zeit wohl auch aufgrund seiner vormals breiten Rezeption an Attraktivität verloren hat. Literatur

Aue, Hartmann von: Erec. Text und Kommentar. Hrsg. von Manfred Günter Scholz. Übers. von Susanne Held. Frankfurt a. M. 22014. Augustinus, Aurelius: Contra Academicos, De beata via, De ordine. Hrsg. von Therese Fuhrer und Simone Adam. Berlin/Boston 2017. Hasse, Johann Adolf: ›Piramo e Tisbe. Intermezzo tragico‹ in zwei Teilen. Übers. von Michael Schneider. Beiheft. Königsdorf 1994 (Capriccio). Kern, Manfred: Pyramus und Thisbe. In: Ders./Alfred Ebenbauer (Hrsg.): Lexikon der antiken Gestalten in den deutschen Texten des Mittelalters. Berlin/New York 2003, 545– 548. Lieb, Ludger: Pyramus und Thisbe. In: Rolf Wilhelm Brednich u. a. (Hrsg.): Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Bd. 11. Berlin/New York 2004, 88–92. Ovidii Nasonis, P., Metamorphoses, ed. W. S. Anderson. Berlin 72001. Britta, Schilling: Piramo e Tisbe. In: Johann Adolf Hasse: Piramo e Tisbe. Intermezzo tragico in zwei Teilen. Beiheft. Königsdorf 1994. Schmitt-von Mühlenfels, Franz: Pyramus und Thisbe. Rezeptionstypen eines Ovidischen Stoffes in Literatur, Kunst und Musik. Heidelberg 1972. Schmitzer, Ulrich: Meeresstille und Wasserrohrbruch. Über Herkunft, Funktion und Nachwirkung der Gleichnisse in Ovids Erzählung von Pyramus und Thisbe. In: Gymnasium 99 (1992), 519–545. Stip, Kees: Zes variaties op een misverstand. Dat is de droevige geschiedenis van Pyramus en Thisbe – behandeld in de trant van einige Nederlandse dichters. Amsterdam 1984. Tax, Petrus W.: Studien zum Symbolischen in Hartmanns Erec. Enites Pferd. In: ZfDPh 82 (1963), 29–44. ›Unter dem Maulbeerbaum.‹ Staffel 23. Folge 13. Drehbuch: Rob LaZebnik. Regie: Chuck Sheetz. The Simpsons 23, 13. Deutsche Ausstrahlung 2013.

Theresia Lehner

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VI Rezeption – D Einzelmythen und Mythengruppen

78 Genealogien: Von Romulus zu Augustus (und weiter) Genealogisches Denken war in der ausgehenden Republik und im frühen Prinzipat weit verbreitet (hierzu und zum Folgenden vgl. Bäumerich 1964). Es diente vor allem als wissenschaftlich untermauertes Vehikel der Legitimation, Repräsentation und Machtausübung führender römischer gentes und ihrer einzelnen Mitglieder. Aus der genannten Zeit sind mindestens vier Verfasser genealogischer Untersuchungen namentlich bekannt: L. Iulius Caesar (Konsul des Jahres 64 v. Chr. und Autor einer laudatio funebris auf seine Tante Iulia sowie von libri augurales und pontificales), M. Terentius Varro (v. a. mit seiner Schrift De familiis Troianis), T. Pomponius Atticus (wie sich aus der Nepos-Vita und seiner Korrespondenz mit Cicero rekonstruieren lässt, offensichtlich Verfasser von Abhandlungen über verschiedene angesehene Familien, z. B. die Fabier) sowie Hygin (der sich wohl überwiegend auf Varro stützte). Parallel zu diesen antiquarischen Anstrengungen – und wohl teilweise auch als ein Reflex auf sie – haben sich römische Schriftsteller sämtlicher Gattungen in ihren Werken mit den Genealogien bedeutender gentes auseinandergesetzt. Dabei entfallen in der augusteischen und frühkaiserzeitlichen Literatur die meisten Erwähnungen naturgemäß auf die gens Iulia, der sowohl (C. Iulius) Caesar als auch Octavian/Augustus und seine Nachfolger als principes bis einschließlich Nero angehören, so besonders bei Ovid, wo Genealogien in den Metamorphosen sowie in den Fasti und der Exildichtung eine große Rolle spielen. Die Rezeption von Ovid beginnt also auch hier, wie so oft, bei Ovid selbst.

78.1 Ovid bei Ovid Ovid führt – wie schon Vergil und andere vor ihm – die Herkunft der Julier auf Romulus und schließlich auf Aeneas und Venus zurück. Diese Genealogie wird bei ihm jedoch immer nur ausschnittsweise oder verkürzt dargelegt. Die deutlichsten durchgängigen Abschnitte sind dabei der Liste von Albanerkönigen zwischen Julus/Ascanius und Proca in met. 14, 609–622 gewidmet sowie dem bereits bei Jupiter und Elektra einsetzenden Katalog in fast. 4, 23–60. In beiden Fällen ist eine Kontinuität zu Augustus insinuiert: In den Metamorphosen bildet die Liste einen Teil des letzten, römischen, Abschnitts des perpetuum carmen, das we-

nig später in der Apotheose des Caesar und den Taten seines Adoptivsohns Augustus kulminieren soll (15, 848–860); in den Fasti stellt sie den Beginn der Aitia zum Monat April dar, der unter dem Zeichen der Venus, der Ahnherrin der Julier, steht (vgl. die expliziten Hinweise in fast. 4, 19–22 und bei der Julus-Etymologie in fast. 4, 39). Zahlreiche Querverweise und Korrespondenzen zwischen den Metamorphosen und Fasti machen es generell unmöglich zu entscheiden, welches der beiden Werke dem jeweils anderen vorausgegangen ist; man nimmt an, dass Ovid zur gleichen Zeit an beiden gearbeitet hat. Interessanterweise unterscheiden sich nun die zwei genannten Herrscherlisten in ein paar wesentlichen Details: In den Fasti werden fünfundzwanzig Generationen gelistet, in den Metamorphosen im Katalog selbst nur elf (in met. 14, 773 folgt noch Numitor, ab 805 schließlich Romulus); darüber hinaus werden in den Metamorphosen drei der in den Fasti genannten Generationen übersprungen. Bömer 1986, 195 zur Stelle legt den Schluss nahe, dass die Liste in den Metamorphosen als eine Abbreviatur textgenetisch auf derjenigen der Fasti aufbaut. Diese These muss man nicht teilen, entscheidend scheint vielmehr die Tatsache, dass Ovid in seinem Œuvre zwei unterschiedliche Listen miteinander konfrontiert, was noch dadurch verstärkt wird, dass er die Liste der Fasti in den Mund eines internen Erzählers, nämlich des Romulus, legt (fast. 4, 23–24). Die neuere Forschung sieht hierin und insbesondere im Adverb scilicet (fast. 4, 32) Signale für Ironie (Barchiesi 1997, 166–174; Fantham 1998, 97–98 zur Stelle). Ovid betont auf diese Weise, dass es sich bei Genealogien nicht um natürliche Gegebenheiten, sondern um komplexe Konstruktionsleistungen handelt, die bestimmte Personen interessengeleitet vollziehen. Augustus, der zur Entstehungszeit der Fasti und Metamorphosen u. a. durch Adoptionen seine Nachfolgepolitik organisierte, hatte dabei ähnliche Konstruktionsleistungen zu vollbringen.

78.2 Troja- und Augustus-Bezüge in Mittelalter und Früher Neuzeit Im Mittelalter lebt die Inszenierung genealogischer Kontinuität fort. Karl der Große lässt sich bei seiner Kaiserkrönung piissimus augustus bzw. piissimus Augustus nennen (Liber Pontificalis, Leo III., Kapitel 23). Man geht mittlerweile davon aus, dass es sich bei augustus nicht um ein Adjektiv als Ehrentitel (›der ehrwürdige‹), sondern vielmehr substantivisch um eine

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_78

78  Genealogien: Von Romulus zu Augustus (und weiter)

Referenz an den römischen princeps handelt (Strothmann 2014), die sich aus folgendem Zusammenhang erschließt: In einem Abstammungsmythos, der in der Chronik Fredegars (7. Jhd.) und den Gesta regum Francorum (8. Jhd.) überliefert ist, werden die Franken ähnlich wie die Julier als Nachfahren der Trojaner präsentiert, genauer: als die Nachfahren der Trojaflüchtlinge Antenor und Priamus, des Enkels des Königs Priamus von Troja. Diese hätten eine andere Route als Aeneas und seine Gefährten gewählt und sich schließlich in Germanien niedergelassen. Karl steht als Nachfahre der Trojaner insofern in einer Reihe mit Augustus, hat gewissermaßen »das Erbe der Caesaren angetreten« (Strothman 2014, 278). Auch in Texten aus anderen europäischen Regionen werden im Mittelalter genealogische Verbindungen zwischen dem mythischen Troja und den Herrscherhäusern geknüpft, die als Auftraggeber oder Mäzene fungieren, z. B. in Dudos von St. Quentin Gesta Normannorum (11. Jhd.), Geoffreys von Monmouth Historia Regum Britanniae (12. Jhd.) oder Snorri Sturlusons Prosa-Edda (12./13. Jhd.) (vgl. Goldwyn 2018). Noch in Spätmittelalter und Früher Neuzeit sind diese Tendenzen zu beobachten – bis hinein in lokale Diskurse. Beispielsweise wird in der Reimchronik des Küchlin (entstanden zwischen 1437 und 1442) der Ursprung der Stadt Augsburg auf den Trojaflüchtling Priamus zurückgeführt (hierzu und zum Folgenden Müller 2010). Dieser sei laut Küchlin Urvater und Namensgeber der Germanen, da er von Aeneas in Briefen germanus (»leiblicher Verwandter«) genannt worden sei. Kurze Zeit, nachdem er sich mit seinen Gefolgsleuten an Rhein und Mosel niedergelassen habe, sei dort der Siedlungsraum zu knapp geworden, so dass ein Teil seiner Germanen nach Süden abgewandert sei und mit den Schwaben am Zusammenfluss von Lech und Wertach die neue Stadt Zisa Zisaris gegründet habe, die schließlich unter Augustus »von den Römern erobert und zu dessen Ehren in Augusta umbenannt worden« sei (ebd., 246). Der Augsburger Fall ist deshalb interessant, weil sich hier gut beobachten lässt, dass derartige genealogische Erzählungen Produkt komplexer kultureller und politischer Aushandlungsprozesse sind: Während Küchlin noch dem oben dargelegten mittelalterlichen Paradigma zur Legitimation seiner Kommune anhängt, unterzieht keine zwei Jahrzehnte später der Benediktinermönch Sigismund Meisterlin in seiner im Auftrag des Patriziers Sigismund Gossembrot verfassten Cronographia Augustensium (1456) die Troja-These einer ausführlichen Kritik, die in die Theorie mündet, Augsburg sei eine au-

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tochthone Gründung. Meisterlins Autochthonie-Modell weist auf Geschichtskonzeptionen voraus, die nördlich der Alpen erst im 16. Jahrhundert als vorteilhaft erachtet werden, und besitzt Parallelen in der Historiographie norditalienischer Städte des 14./15. Jahrhunderts, z. B. in Leonardo Brunis Historiarum Florentini populi libri XII.

78.3 Romulus- und Augustus-Bezüge im italienischen Faschismus In der Neuzeit finden sich im italienischen Faschismus breite Bezugnahmen auf die Herrschergestalten des mythischen und antiken Rom (allgemein hierzu Cagnetta/Ciano 2006). Zwei Beispiele mögen an dieser Stelle genügen: Bei der Mostra Augustea della Romanità, einer Ausstellung anlässlich des 2000. Geburtstags des Augustus (1937/38), wurde eine Rekonstruktion der Pflugschar gezeigt, mit der Romulus die Stadtgrenze Roms gezogen haben soll; bei seinem pompösen Besuch in Rom im Mai 1938 hat sie Adolf Hitler mit seinem Gastgeber Benito Mussolini öffentlichkeitswirksam in Augenschein genommen (Dobler 2010). Auf dem ehemaligen Istituto Nazionle Fascista Previdenza, einem der im rationalistischen Stil errichteten Gebäude der Piazza Augusto Imperatore, wurde im Jahr 1940 eine gut sichtbare sechszeilige lateinische Inschrift angebracht, die anzeigt, dass die Neuanlage des Platzes und in dessen Mitte die Ausgrabung des Augustus-Mausoleums unter Mussolini vorgenommen wurden. Die erste Zeile liest sich wie folgt: HVNC LOCVM VBI AVGVSTI MANES VOLITANT PER AVRAS (»Diesen Ort, an dem die Seele des Augustus durch die Lüfte schwebt ...«). Durch derlei Referenzen wird eine Nähe zwischen dem mythischen, antiken und faschistischen Rom sowie zwischen dem Duce und den genannten Figuren, insbesondere Augustus, erzeugt. Kontinuität und Tradition werden hier – und im italienischen Faschismus generell – jedoch eher durch das Mittel der Typologie hergestellt, die Inszenierung durchgehender Genealogien im engeren Sinne wird nicht mehr vollzogen. Jedoch zeigt ein Blick auf die weitere Geschichte der genannten Inschrift abermals, dass genealogische Bezugnahmen auf die Vergangenheit oftmals – und wie schon zur augusteischen Zeit – ein von verschiedenen Akteuren umkämpftes Terrain sind (zum Folgenden Arthurs 2015). Nach der Absetzung Mussolinis am 25. Juli 1943 wurden vom Subjekt der Inschrift, MVSSOLINI, die letzten vier Buchstaben getilgt (der

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VI Rezeption – D Einzelmythen und Mythengruppen

genaue Zeitpunkt und der Urheber der Manipulation sind bis heute ungewiss). Wo Ovid die von der Obrigkeit inszenierte Genealogie mittels Ironie und Ambivalenz hinterfragt, wählt der Urheber dieses Ikonoklasmus den beißenden Spott als Mittel der Kritik: Musso ist im venezianischen Dialekt ein Schimpfwort, so dass nicht länger der Duce, sondern ein »Esel« jene Piazza, auf der der Geist des Augustus noch präsent sein soll, angelegt hat. Man hat diese Verballhornung in den folgenden Jahrzehnten gewissermaßen als zeitgeschichtliches Dokument stehen lassen, ehe man in den 1990er-Jahren den ursprünglichen Wortlaut der Inschrift wiederherstellte. Literatur

Arthurs, Joshua: ›Voleva essere Cesare, morì Vespasiano‹: The Afterlives of Mussolini’s Rome. In: Civiltà Romana. Rivista pluridisciplinare di studi su Roma antica e le sue interpretazioni 1 (2015), 283–302. Barchiesi, Alessandro: The Poet and the Prince. Berkeley/ Los Angeles/London 1997. Bäumerich, Hans Josef: Über die Bedeutung der Genealogie in der römischen Literatur. Diss., Köln 1964. Bömer, Franz: P. Ovidius Naso, Metamorphosen. Kommentar von F. B. Buch XIV–XV. Heidelberg 1986. Cagnetta, Mariella/Schiano, Claudio: Faschismus, II. Politik

und Gesellschaft. In: Manfred Landfester (Hrsg.): Der Neue Pauly (Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte). Online zuerst 2006. In: http://dx.doi.org/10.1163/1574– 9347_dnp_e1311720 (23.5.2019). Dobler, Ralph-Miklas: Hitler in Rom 1938 (2010). In: https://www.mpg.de/376970/forschungsSchwerpunkt (25.5.2019). Fantham, Elaine: Ovid: Fasti, Book IV. Cambridge 1998. Goldwyn, Adam J.: Trojan Pasts, Medieval Presents: Epic Continuation in eleventh to Thirteenth Century Genealogical History. In: Robert Simms (Hrsg.): Brill’s Companion to Prequels, Sequels, and Retellings of Classical Epic. Leiden/Boston 2018, 154–174. Müller, Gernot Michael: »Quod non sit honor Augustensibus si dicantur a Teucris ducere originem«. Humanistische Aspekte in der ›Cronographia Augustensium‹ des Sigismund Meisterlin. In: Ders. (Hrsg.): Humanismus und Renaissance in Augsburg. Kulturgeschichte einer Stadt zwischen Spätmittelalter und Dreißigjährigem Krieg, Berlin/New York 2010, 237–273. Strothmann, Jürgen: Das Augustusnomen Karls des Großen und das Karolingische Imperium. In: Namenkundliche Informationen 103/104 (2014), 267–287. Strothmann, Jürgen: Augustus and the Karolingians. In: Penelope J. Goodman (Hrsg.): Afterlives of Augustus, AD 14–2014. Cambridge 2018, 138–151.

Martin Stöckinger

79  Theseus und Ariadne

79 Theseus und Ariadne 79.1 Rezeption: Strand und Labyrinth In Ovids Behandlung des Mythos von Theseus und Ariadne tritt nicht der epische Held mit seinen ruhmvollen Taten ins Rampenlicht. Stattdessen besteht, gemäß dem ovidischen Interesse an den randständigen Partien einer Geschichte, der eindrücklichste Teil der Theseusdarstellung in den Metamorphosen aus einer Beschreibung des Labyrinths. Noch eindrücklicher und häufiger hat Ovid die Szene der verlassenen Ariadne am Strand gestaltet. Beide Motive sind strukturell ähnlich, zeigen sie doch Schwellensituationen, in denen eine ausweglose und existenziell bedrohliche Lage fernab jeder Zivilisation zur Bewährungsprobe wird. In der Rezeption findet sich eine intensive Auseinandersetzung mit beiden Motivkomplexen. Das Labyrinth wie auch die Ariadne-Figur werden in der Spätantike und im Mittelalter vor allem allegorisch gelesen: Der menschenfressende Minotaurus steht dabei für den Teufel, Ariadne, deren Faden einen sicheren Weg durch Dunkelheit und Irrwege bietet, für die göttliche Natur, »die den Sieg Christi über die Hölle versinnbildlicht« (Köhn 2003, 54). In der Neuzeit erfährt der Ariadne-Mythos in den verschiedensten Gattungen und Medien eine breite Rezeption. Vor allem dramatische und musikalische Bearbeitungen von Ariadnes Schicksal finden sich in großer Zahl und Vielgestaltigkeit. Neben den Ernst und die moralisierenden Tendenzen, mit denen der Mythos bearbeitet wurde (z. B. in Brandes’ »Duodrama« Ariadne auf Naxos, 1775), tritt dabei eine nicht minder große trivialisierende und parodistische Tradition (z. B. Satzenhovens Die travestierte Ariadne auf Naxos, 1803). In einer der bekanntesten Bearbeitungen des Stoffs, Strauss’ Oper Ariadne auf Naxos (1912/16), vereinigen sich beide Darstellungsmodi, indem komische Figuren der Rahmenhandlung in das tragische ›Stück im Stück‹ Ariadne auf Naxos eintreten. Die Moderne richtet ihr Augenmerk erneut vor allem auf Faden und Labyrinth, die nicht nur der Literatur, sondern auch der Philosophie und Literaturtheorie, z. B. bei Nietzsche, Deleuze und Foucault, die Möglichkeit bieten, sich am selbstreflexiven Potential des mythologischen Inventars abzuarbeiten (vgl. Schlesier 2008, 148). Doch findet sich auch die verlassene Ariadne an prominenten Stellen, insbesondere in lyrischen Formen, die die abgründige Welt einer nach innen gerichteten und auf sich selbst zurückgeworfenen Figur in besonderer Weise auszuloten vermögen.

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79.2 Geoffrey Chaucer, The Legend of Good Women (ca. 1386) Schon in der Literatur der Frühen Neuzeit ist Ovids Rezeption keineswegs immer durch einen moralischen Zugriff gekennzeichnet. Ein markantes Beispiel hierfür bietet die Ariadne-Episode aus Chaucers The Legend of Good Women (ca. 1386). Form und Inhalt stehen in diesem Werk in einem erkennbaren Spannungsverhältnis: Während der Titel die Erwartung einer hagiographischen Erzählung von exemplarisch-tugendhaften Charakteren weckt (vgl. Delaney 1994, 60–62), beinhaltet der Katalog der »Good Women« mythologische Frauen von moralisch zweifelhaftem Ruf wie etwa Medea, Kleopatra und Hypsipyle. Zudem vermittelt der Prolog den Eindruck, The Legend sei eine Verteidigungsrede für Frauen; jedoch unterlaufen die Erzählungen dieses Ziel konsequent (ebd., 65–66). Solche widersprüchlichen Momente rücken Chaucers poetische Technik in die Nähe der ovidischen, indem beständige Ambivalenz und Ambiguität jede endgültige Sinnzuschreibung verweigern. Beiden Dichtern gemeinsam ist zudem der virtuose Umgang mit literarischen Vorbildern, in dem ein kreativ-subversives Spiel mit einer fast zur Langeweile erstarrten Tradition getrieben wird: »The Chaucerian Narrator [sic] is [...] an established poet concerned, not simply with how to use authoritative traditions, but additionally with his own place within those traditions« (ebd., 13). »The Legend of Ariadne« stützt sich explizit auf Heroides 10, bedient sich gleich zu Anfang aber der typischen Erzähltechnik aus den Metamorphosen, indem ein großer Teil der Erzählung der Vorgeschichte von Minos, dem Minotaurus und dem vom Erzähler als Liebesverräter gescholtenen Theseus gewidmet ist. Auch als sich die Erzählung endlich Ariadne zuwendet, verschiebt sich der Fokus der Geschichte merklich von ihr fort, da der bekannte Mythos abgeändert ist: Die rettende Idee, wie der Minotaurus zu überwinden sei, stammt hier nicht von Ariadne, sondern von ihrer Schwester Phaedra, deren Schönheit Theseus später zum Anlass nimmt, Ariadne auf der Rückfahrt am einsamen Strand zurückzulassen. So wird Ariadne in ihrer eigenen Geschichte überflüssig (vgl. Percival 1998, 178). Die Verhandlung des Verhältnisses zur literarischen Tradition zeigt sich besonders prägnant am Ende der Geschichte, an dem der Erzähler unter Zuhilfenahme von Heroides 10 doch noch die ikonische Szene von Ariadne am Strand aufruft, nur um Ariadnes Klage kurzerhand mit einem Verweis auf den Heroidenbrief zu beenden:

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_79

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VI Rezeption – D Einzelmythen und Mythengruppen

»What shulde I more telle hire compleynyng? It is so long, it were an hevy thyng. In hire Epistel Naso telleth al« (2218–2220).

Diese Art, das eigene Erzählen ironisch in Frage zu stellen, hat einen durchdringend ovidischen Klang. Vor diesem Hintergrund hätte der Erzähler auf die vorangegangenen 50 Verse der Ariadnedarstellung verzichten können, zumal seine Geschichte auch ohne die Figur der Ariadne funktionieren würde. Doch am Schluss verweist das mitleidvolle Erbarmen der Götter, aus dem heraus sie Ariadne verstirnen (»the goddes han hire holpen for pite«, 2222), auf die Motivation des Erzählers zurück, Ariadnes Klage wiederzugeben (»Allas! For thee myn herte hath now pite!«, 2184). Der weithin sichtbare Glanz der Sterne wird damit zugleich zu einem Anzeiger des (eigenen) literarischen Ruhmes. Auch hier folgen das selbstbewusste Verhältnis zur Tradition und die fordernde und zugleich ironisierende Verhandlung des eigenen Platzes einer unverkennbar ovidischen Spur.

79.3 Sylvia Plath, To Ariadne (deserted by Theseus, 1949) Die Schwellensituation der Ariadne – ausgesetzt auf einer unbewohnten Insel, ohne Hoffnung auf Rückkehr, nachdem sie ihre Heimat verraten hat, aber auch ohne erkennbare Aussicht auf Rettung, da Theseus sie ohne ein Wort verlassen hat – wird von Sylvia Plath in einem ihrer Jugendwerke thematisiert. Dass es in diesem Gedicht aus dem Jahr 1949 überhaupt um Ariadne geht, ist nur aus der Überschrift kenntlich: To Ariadne (deserted by Theseus). Die Situation ist auf einen dichten, emotional aufgeladenen Moment fokussiert, in dem die verlassene Ariadne, die sich ihrer Lage bewusst ist, voll unbändiger Wut dem stürmischen Meer gegenübersteht: »Oh, fury, equalled only by the shrieking wind – The lashing of the waves against the shore, You rage in vain« (1–3).

Nur der tosende Wind und das peitschende Meer scheinen Ariadnes Wut gewachsen zu sein. Doch das Schreien, das ihrem inneren Zustand offenbar allein angemessen ist (»equalled only«) und ihr auch als ein-

ziges Ausdrucksmittel zur Verfügung steht, wird sogleich als vergeblich entlarvt: »in vain«. Emphatisch wird diese Vergeblichkeit zu Beginn der folgenden beiden Strophen wiederholt: »Your cries are lost, your curses are unheard by him« (5) ... »Oh, scream in vain for vengeance now« (9). Erstaunlich ist, dass nicht verbalisiert wird, was Ariadne eigentlich sagt. In der Klage am Strand hat Ovid Ariadnes extreme Situation, die durchaus bis zu einem mänadischen Rasen reichen kann, in ihrer ganzen Schwere erfasst und der Protagonistin als wörtliche Rede in den Mund gelegt, so als könne nur Ariadne den Moment der Schwelle in seiner ganzen Wucht vermitteln. Bei Plath ist das anders: Die emotionale Vehemenz der Situation tritt in ein Wechselspiel zwischen Außen und Innen, bei dem die ganze Gewalt der äußeren Natur auf Ariadnes Innenwelt zurückzufallen scheint. Überraschend kommt der furor in den letzten beiden Strophen zur Ruhe: Der Himmel klart langsam auf und in der Natur entsteht eine äußere Transparenz (»the small waves break like green glass«, 17), während sich der innere Tumult legt. An diesem letzten Wendepunkt fehlt erneut jede Selbsterklärung: Ariadne ist nur in der Anrede einer letzten Frage greifbar, die die Situation der Schwelle plötzlich als Möglichkeit begreift: »Why do you stand and listen only to | The sobbing of the wind along the sand?« (19–20) Was zu Beginn der einzig denkbare Ausdruck war (»equalled only by the shrieking wind«), wird hier zur Potentialität, einen anderen Weg zu beschreiten (»why do you listen only«). Vollkommen anders als in Ovids Darstellung, aber mit derselben Intensität gestaltet, erhält Ariadnes Schwellenmoment hier seinen eigentümlichen Ausdruck. Literatur

Benson, Larry: The Riverside Chaucer. Boston 31987. Delany, Sheila: The Naked Text. Chaucer’s Legend of Good Women. Berkeley/Los Angeles/London 1994. Köhn, Silke: Ariadne. In: Lutz Walther (Hrsg.): Antike Mythen und ihre Rezeption. Ein Lexikon. Stuttgart 2003, 52–58. Percival, Florence: Chaucer’s Legendary Good Women. Cambridge 1998. Schlesier, Renate: Ariadne. In: Maria Moog-Grünewald (Hrsg.): Mythenrezeption. Die antike Mythologie in Literatur, Musik und Kunst von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart 2008, 140–150.

Kathrin Winter

80  Trans-Gender-Mythen: Tiresias; Salmacis und Hermaphroditus; Caenis/Caeneus

80 Trans-Gender-Mythen: Tiresias; Salmacis und Hermaphroditus; Caenis/Caeneus 80.1 Einleitung Den Geschlechtswechseln in den Metamorphosen gehen, vor allem bei den hier gewählten Episoden (weitere bei Lateiner 2009), sexuelle Transgressionen voraus. Ob sich Ovid durch das vielfache Unterlaufen gängiger Erwartungen an Geschlecht und gender insgesamt als Kritiker einer dichotomen Einteilung der Geschlechter zeigt (Zajko 2009, 175–176) oder selbige letzten Endes bestätigt (vgl. Lateiner 2009, 152), mag dahinstehen. Sicher ist jedoch, dass die Rezeption ein besonderes Gefallen am Verschwimmen der Geschlechtergrenzen gefunden hat.

80.2 Tiresias (met. 3, 316–338) Da Tiresias durch die Störung zweier ineinander verschlungener Schlangen zweimal sein Geschlecht gewechselt hat, beruft ihn Jupiter in einem Streit mit Juno zum Schiedsrichter. Tiresias bestätigt Jupiters Meinung, dass Frauen größere Lust als Männer empfänden, woraufhin ihn Juno blendet. Zum Ausgleich verleiht ihm Jupiter die Sehergabe. Für diese als gotteslästerlich empfundene Gabe wird Tiresias in Dantes Inferno bestraft (Ugolini 1995, 234), während ihn der Ovide moralisé (14. Jhd.) als christlichen Propheten deutet, der wie Adam und Eva dem unheilvollen Einfluss von Schlangen erlegen sei (Griffin 2015, 144). In der Moderne erregt dagegen der Geschlechtswechsel größere Aufmerksamkeit: In Guillaume Apollinaires drama surréaliste Les Mamelles de Tirésias (1917) verweigert sich die Hauptfigur Thérèse durch die Verwandlung in den Mann Tirésias den an sie gestellten sexuellen und reproduktiven Erwartungen der Gesellschaft (vgl. Ugolini 1995, 243–244). Gegenüber solchen pessimistischen Deutungen feiert z. B. Austin Clarkes Gedicht Tiresias (1971) sexuelle Lust (Madden 2008, 218–223). Die sexuellen Eskapaden eines bisexuellen Tiresias wiederum bilden in Serge Le Tendres Bildroman Tirésias (2001) den Ausgangspunkt für eine bildgewaltige Behandlung des Mythos.

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80.3 Salmacis und Hermaphroditus (met. 4, 271–388) Hermaphroditus, Sohn von Hermes und Aphrodite, entdeckt auf seiner Wanderschaft einen See. Kaum hat er sich genähert, will ihn die Quellnymphe Salmacis, der die Jagdkünste ihrer Schwestern fremd sind, und die sich lieber dem Müßiggang hingibt, verführen, wird jedoch zurückgewiesen. Zwar zieht sie sich zunächst zurück, als er aber in das Wasser steigt, sieht sie ihre Chance gekommen und umklammert den Badenden. Auf den Wunsch der Nymphe hin verschmelzen die Götter die beiden zu einem Wesen. Der nun nicht mehr männliche Hermaphroditus erbittet, dass das Gewässer fortan jeden Mann, der darin bade, in ein ebensolches Mischwesen verwandeln möge. Im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit wird die Figur vor allem in zwei einander entgegengesetzten Weisen rezipiert: Sie gilt einerseits als Verkörperung eines allzu müßigen, promisken und lasterhaften Lebens – man denke hier an manche androgynen Figuren des Elisabethanischen Theaters oder Antonio Becadellis Sammlung obszöner Gedichte mit dem Titel Hermaphroditus (1425). Andererseits erscheint der Hermaphrodit in Verbindung mit (neu)platonischen Ideen als Verkörperung einer idealen Einheit, sei es beider Geschlechter in der Ehe oder verschiedener Elemente in der Alchemie (vgl. Carter 2011, 115–135). Die Malerei findet Gefallen an Salmacis’ voyeuristischem Blick, wie ihn Bartholomaeus Spranger (1581) einfängt, und die Musik verleiht dem ungleichen Paar eine Stimme: »We shall be one,« ruft die Nymphe in dem Song ›The Fountain of Salmacis‹ des Genesis-Albums Nursery Crime (1971). Die rezente Literatur verbindet Hermaphroditus mit Fragen der geschlechtlichen Identität, so in Jeffrey Eugenides’ Roman Middlesex (2002).

80.4 Caenis/Caeneus (met. 12, 168–209; 459–535) Cainis, so erzählt Nestor, verweigert sich der Ehe. Nachdem Neptun sie vergewaltigt hat, wünscht sie sich, keine verletzliche Frau mehr zu sein. Neptun verwandelt sie daraufhin in den unverwundbaren Caeneus. Dieser Caeneus kämpft gegen die Kentauren, bis ihn Letztere unter Bäumen begraben. Der zugleich auffliegende Vogel sei wohl der durch eine weitere Metamorphose errettete Caeneus. In der allegorischen Deutung der komplexen ovidischen Erzählung fungiert Neptun als Heiliger Geist, der wankelmütige

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_80

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VI Rezeption – D Einzelmythen und Mythengruppen

Menschen überkomme und sie zu stabilen Persönlichkeiten mache, so in Berchorius’ Ovidius moralizatus (1340; Brumble 1998, 62). Ebenso versteht der Ovide moralisé Caeneus’ zweite Metamorphose als Himmelfahrt. In letzter Zeit scheint sich der Mythos eines gesteigerten Interesses zu erfreuen. In Alex Shakars City in Love. The New York Metamorphoses (1996) steht er Pate für die als Kind missbrauchte, von einer Gang gemobbte Protagonistin Roxanne, die sich den Superhelden Roxor erträumt (Hinds 2005, 70–79). Bridgette Dutta Portmans Theaterstück Caeneus and Poseidon (2012) erzählt die Geschichte einer Caenis, der ihr Körper fremd ist, und die Poseidon mit einer List dazu bringt, sie in einen Mann zu verwandeln. Die Hauptrolle sei mit einer »transgender or non-binary« Person zu besetzen. Die zuvor wenig rezipierte Figur gibt damit Fragen von Identität und Geschlecht ein Gesicht.

80.5 T.  S. Eliot, The Waste Land (1922) Eliots Moderne-Gedicht The Waste Land reiht Zitate, Anspielungen und kleinere Szenen aneinander. Tiresias fungiere dabei als verbindende Figur: »Tiresias [...] is yet the most important personage in the poem, uniting all the rest. [...] all the women are one woman, and the two sexes meet in Tiresias. What Tiresias sees, in fact, is the substance of the poem« (Notes, zu V. 218). Sowohl die Bedeutung der Notes, als auch die Frage, ob man überhaupt von einer ›Vereinigung‹ der einzelnen Elemente sprechen könne, werden diskutiert. Nimmt man Eliots Notes jedoch ernst, erscheint Tiresias in The Waste Land in mindestens zwei Gestalten. Zum einen erfasst er als der bekannte Seher ›die Substanz des Gedichts‹ wie sein mythischer Vorgänger die Zukunft. Im Gegensatz zu der ›Ehre‹ (met. 3, 338) aber, die die Sehergabe bei Ovid bedeutete, verdammt sie Eliots Tiresias dazu, die Bedingungen des menschlichen Lebens in der Moderne als bloßer Voyeur (Nusser 2014, 263) zu sehen und zu bezeugen. Zum anderen verschmelzen in Tiresias die Männer- und Frauenfiguren des öden Landes. Auf seine hermaphroditische Doppelgeschlechtlichkeit weist er im dritten Teil des Gedichts, The Fire Sermon, hin: »I Tiresias, though blind, throbbing between two lives, / Old man with wrinkled female breasts, [...] / And I Tiresias have foresuffered all« (V. 218–219; V. 243). Äußerlich und innerlich erinnert Tiresias hier an die anderen Figuren des Gedichts. Mit ihnen teilt er körperliche Verfallserscheinungen (»wrinkled«), das Leiden an dysfunktionalen menschlichen Beziehungen (»fo-

resuffered all«) und eine Entfremdung gegenüber dem eigenen Leben (»throbbing between two lives«). Der Hermaphrodit Tiresias wird damit zum Jedermann des wüsten Landes.

80.6 Sjón, Argóarflísin (The Whispering Muse, 2005) Der Roman des isländischen Schriftstellers Sjón (Sigurjón Birgir Sigurðsson) spielt in einer Welt, in der die Gestalten des antiken Mythos lebendig sind. Sjón greift bei seiner Personenauswahl u. a. auf die Argonautica des Apollonios Rhodios und Ovids Metamorphosen zurück (Sjón 2012). Der wenig sympathische Erzähler des Romans, Valdimar Haraldsson, begegnet auf einer Schiffsreise dem bald titanenhaften (ebd., 43), bald weiblich wirkenden (ebd., 44) Seeman Caeneus. Selbiger erzählt, inspiriert von dem titelgebenden Splitter der Argo, von seinen Fahrten unter Kapitän Jason. Während der Osterfeiertage berichtet er zum Entsetzen seiner an Zoten gewöhnten Zuhörer von seiner Zeit als Cainis. Der Roman nimmt dabei deutliche Anleihen bei Ovid: Auch hier erklingen die letzten Worte von Cainis’ Wunsch an Poseidon schon in männlich-tiefer Stimme (»a deep masculine timbre« ebd., 123; graviore ... sono, met. 12, 203–204). Was der ovidische Nestor nur gerüchtehalber erfahren hat, entspricht somit dem Bericht des Opfers. Ähnliches gilt für Caeneus’ zweite Metamorphose: Von den Kentauren unter Baumstämmen begraben, sei er gezwungen gewesen, seine Gestalt zu verändern (Sjón, 124). Der Dichter Naso, so der Zweite Maat weiter, habe später beschrieben, dass sodann ein Vogel davongeflogen sei (Sjón, 124; met. 12, 524–532). Mit dem abschließenden »It was I, Caeneus« (ebd., 124) bestätigt Sjóns Erzähler Caeneus kurzerhand die Identität des Vogels, die Ovids Erzähler Nestor nur vermuten konnte (credita res [...] est, met. 12, 532). Am Ende des Romans begegnet Valdimar seiner Umwelt und dem anderen Geschlecht mit größerer Offenheit. Die Konfrontation mit der ovidischen Kippfigur Caeneus/Caenis hat das festgefügte Denken des Erzählers verändert. Literatur

Brumble, H. David: Classical Myths and Legends in the Middle Ages and Renaissance. A Dictionary of Allegorical Meanings. London 1998. Carter, Sarah: Ovidian Myth and Sexual Deviance in Early Modern English Literature. New York 2011. Griffin, Miranda: Transforming Tales. Rewriting Metamorphosis in Medieval French Literature. Oxford 2015.

80  Trans-Gender-Mythen: Tiresias; Salmacis und Hermaphroditus; Caenis/Caeneus Hinds, Stephen: Defamiliarizing Latin Literature, from Petrarch to Pulp Fiction. In: Transactions of the American Philological Association 135/1 (2005), 49–81. Lateiner, Donald: Transsexuals and Transvestites in Ovid’s ›Metamorphoses‹. In: Thorsten Fögen/Mireille M. Lee: Bodies and Boundaries in Graeco-Roman Antiquity. Berlin/New York 2009, 125–154. Madden, Ed: Tiresian Poetics. Modernism, Sexuality, Voice, 1888–2001. Madison/Teaneck 2008. Nusser, Tanja: »What Tiresias sees, in fact, is the substance

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of the poem.« Die Figur des blinden Sehers von Ovids ›Metamorphosen‹ bis zu Dürrenmatts ›Das Sterben der Pythia‹. In: Monatshefte, 106/2 (2014), 249–269. Sjón: The Whispering Muse. London 2012. [isl. 2005]. Ugolini, Gherardo: Untersuchungen zur Figur des Sehers Teiresias. Tübingen 1995. Zajko, Vanda: ›Listening With‹ Ovid: Intersexuality, Queer Theory, and the Myth of Hermaphroditus and Salmacis. In: Helios 36/2 (2009), 175–202.

Jonas Göhler

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VI Rezeption – D Einzelmythen und Mythengruppen

81 Pythagoras und die Seelenwanderung 81.1 Einführung: Pythagoras ist (nicht) Pythagoras Pythagoras ist schwer zu greifen. Die Schriften des vorsokratischen Philosophen sind nicht überliefert, weshalb sich eine schier unüberblickbare doxographische Tradition herausbilden konnte, die jeweils unterschiedliche Aspekte der zentralen pythagoreischen Theoreme beleuchtet, wie z. B. die Seelenwanderung (Metempsychose) oder spezielle Lebensvorschriften (Vegetarismus). Auch der Pythagoras im 15. Buch der Metamorphosen ist eine schwer fassbare Figur. Dies ist nicht nur auf den Umfang der Passage zurückzuführen (über 400 Verse philosophischer Rede), sondern auch darauf, dass die Darstellung des Philosophen eine Vielzahl von Fragen wie die nach dem philosophischen Gehalt und nach der Funktion des Passus für die Metamorphosen als Werk und die Metamorphose als Konzept aufwirft. Pythagoras entfaltet in seiner Rede, die von der Aufforderung zum Verzicht auf Fleisch gerahmt ist, seine Lehre von der Unsterblichkeit der Seele. In einer Welt, in der nichts zugrunde geht, sondern alles stetem Wandel unterworfen ist, bildet die Seele die einzige Konstante: Nachdem ihre temporäre körperliche Hülle aufgehört hat zu bestehen, wandert sie in eine andere Behausung weiter, deren Gestalt von der vorherigen gänzlich verschieden sein kann. In dieser Kontinuität im Wandel liegt der zentrale Konnex zum Konzept der Metamorphose. Leicht lässt sich die Pythagoras-Rede daher programmatisch als mise en abyme der Metamorphosen verstehen. Wie Philip Hardie gezeigt hat, reicht die Einordnung der Passage aber von diesen metapoetischen bis hin zu satirisch-parodistischen Lesarten (Hardie 1995). Die beiden im Folgenden vorgestellten Rezeptionsstationen ›reflektieren‹ diese Vieldeutigkeit der ovidischen Bearbeitung. Sie zeigen, wie auf ganz unterschiedliche Weise die Rede des Pythagoras zu einer produktiven Auseinandersetzung geführt hat, aus der nicht zuletzt klarer fassbar wird, welche Grundformationen der Moderne bei Ovid liegen.

81.2 Diskurs über den Vegetarismus: John Dryden Dass eine Übersetzung des lateinischen Textes der Metamorphosen nicht nur eine Übertragungsleistung, sondern auch eine spezifische Rezeptionsform ist, können John Drydens Fables Ancient and Modern (1700) illustrieren. In dieser Zusammenstellung von Übersetzungen antiker und mittelalterlicher Dichtungen findet sich auch eine Übersetzung der von Dryden hochgeschätzten Rede des ovidischen Pythagoras. Dryden orientiert sich eng am lateinischen Original, seine Version gewinnt aber dadurch an Eigenständigkeit und Umfang, dass er bestimmte Aspekte der Rede besonders akzentuiert: Bei ihm wird der von Pythagoras proklamierte Vegetarismus zum Zentrum der Übertragung. Wie der ovidische Pythagoras die Opferung eines Tieres aus eben dessen Perspektive beschreibt (met. 15, 130–135), hebt auch Dryden in seiner Übertragung die Sinneswahrnehmungen des Opfers hervor, steigert die Grausamkeit der Szene aber noch, indem er auch die sich anschließende Eingeweideschau aus der Sicht des Tieres darstellt (vgl. Corse 2010, 17): »Then broken up alive his Entrails sees, Torn out for Priests t’inspect the God’s Decrees.« (V. 200–201)

Damit zeigt sich Dryden einerseits als Übersetzer des Ovid, andererseits als dessen Nachfolger, der mit der ovidischen Gewaltdarstellung und vor allen Dingen der bei Ovid angelegten Ästhetisierung von Gewalt in produktiver Auseinandersetzung steht (s. Kap. 42). Dryden eignet sich die im Text angelegten Darstellungsmodi, z. B. die Beobachterperspektive, in einer Weise an, die sich in einen weiteren Horizont einfügt. Es lässt sich nämlich nachverfolgen, dass die einseitige Verstärkung des pythagoreischen Vegetarismus-Gebots im Zeitdiskurs der Frühaufklärung anzusiedeln ist, in dem ethische Fragen des Umgangs der Lebewesen miteinander auf ganz unterschiedliche Weise reflektiert werden (vgl. Corse 2010). Dryden stellt daher neben zeitgenössische Reiseberichte über den Vegetarismus in Asien seinen ovidischen Pythagoras als antike Reflektions- und moderne Reflexionsfigur.

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_81

81  Pythagoras und die Seelenwanderung

81.3 Poetische Metempsychose: Christoph Ransmayr Als eine solche Reflektions- und Reflexionsfigur tritt Pythagoras auch in Ransmayrs Roman Die letzte Welt (1988/2017) auf. Er fungiert dort als Spurenleger und Spurenleser bei der Suche nach dem ans Schwarze Meer verbannten Ovid (»Naso«) und nach seinem Werk, den Metamorphosen. Das »Ovidische Repertoire« (256–286) am Ende des Romans, in dem Ransmayr die zentralen Figuren seiner Erzählung der mythologisch-historischen Überlieferung zur Seite stellt, beschreibt Pythagoras als »griechischen Auswanderer« und alten, »verrückten Knecht Nasos« (283). Seine Darstellung ist mit biographischen Details und Schlüsselbegriffen des Pythagoreismus (Seelenwanderung, Verzicht auf Fleisch) angereichert; Ransmayrs Pythagoras ist in seiner Komplexität aber noch potenziert, da er mit Ovid auf einer erzählerischen Ebene zusammengeführt wird. Auf diese Weise kann Ransmayr die Erzähl- und Erzählerkonstellationen zugleich beibehalten und verkehren. Als Cotta, der sich auf die Suche nach Naso, dem unsichtbaren Zentrum des Romans, begibt, in Trachila am Schwarzen Meer auf das erste Zeichen von Pythagoras stößt, nämlich einen beschriebenen Stoffstreifen, ist dort zu lesen: »Keinem bleibt seine Gestalt« (14) – ein direktes Zitat aus der Rede des Pythagoras bei Ovid: Nec species sua cuique manet (met. 15, 252). Die Lehre vom immerwährenden Wandel der Welt, die bei Ovid ihren Fixpunkt in der Unsterblichkeit der Seele hat, wird von Ransmayr aber umgestaltet, indem er dem Wandel eben diesen Aspekt der Kontinuität nimmt und so Gewissheiten destabilisiert: Sein Pythagoras schreibt nämlich das Werk Ovids (auf). Das Wiedererkennen, das ebenfalls ein zentraler Bestandteil der pythagoreischen Metempsychose ist, spielt dabei eine zentrale, auch poetologische, Rolle: »Pythagoras fand in den Antworten und Erzählungen Nasos nach und nach alle seine eigenen Gedanken und Empfindungen wieder [...]. [Er] begann um jedes Wort Nasos ein Denkmal zu errichten« (224–225; Hervorhebungen dort). Wenn Ovid am Ende seiner Metamorphosen ausspricht, »Ich habe nun ein Werk vollbracht« (met. 15, 871), erscheint dies mit Ransmayr gelesen in einem neuen Licht. Durch Pythagoras wird das Problem der Zuweisung von Autorschaft offengelegt, und er selbst wird zur »Begründungs- und Beglaubigungsfigur eines Autorschaftskonzepts, das den Autor als historisch fixierbares, individuell konturiertes Subjekt verschwinden lässt und doch im selben Zug Autor-

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schaft in unablässig fließender Beseelung in immer neue Gestalten einkörpert« (Kaminski 2002, 170). Besonders eindrücklich wird dies in der Letzten Welt durch die Sammlung der 15 Steinsäulen illustriert, die Pythagoras Cotta auf dessen Frage nach dem Verbleib von Nasos Buch hin zugänglich macht (vgl. Schmitzer 2006, 33–34). Die einzelnen Bruchstücke setzt der Suchende zur fast wörtlichen Wiedergabe des Endes der Metamorphosen zusammen. Der neuralgische Punkt, der dabei immer wieder durchschimmert, ist das »ICH« (45; Hervorhebung dort). Denn obgleich Nasos Worte wiedergegeben werden, ist es Pythagoras, der sie in Stein gemeißelt hat – und damit die Frage nach dem Urheber verunklart: »Pythagoras warf sein Schabwerkzeug zufrieden fort, trat einen Schritt zurück und betrachtete seine Arbeit: ICH HABE EIN WERK VOLLENDET« (46). Ransmayr schließt damit an die Frage nach der Funktion der Pythagoras-Rede in den Metamorphosen an, weist seinem Pythagoras eine zentrale Rolle für das Bestehen des ovidischen Werks zu und thematisiert auf diese Weise die für die Antike wie auch für die Moderne zentralen Fragen nach Urheber- und Autorschaft und nach dem Verhältnis von Stimme und Schrift. Ransmayr spielt auch selbst das in den Werken Ovids stets angelegte Spiel vom Verschwinden und Auftauchen eines Schreibers bzw. Sprechers, kurz: eines Ich, in seinen möglichen Konsequenzen durch und legt auf diese Weise die Potentiale eines postmodernen Erzählens frei. Denn die Letzte Welt führt vor, dass und wie Erzählen auch ohne ein greifbares Autorsubjekt möglich ist. Literatur

Corse, Taylor: Dryden’s ›Vegetarian‹ Philosopher: Pythagoras. In: Eighteenth-Century Life 34/1 (2010), 1–28. Dryden, John: Poems 1697–1700. In: The Works of John Dryden. Hrsg. von Edward Niles Hooker, Hugh T. Swedenberg, Alan Thomas Roper u. a. 20 Bde. Berkeley 2000, Bd. 7. Hardie, Philip: The Speech of Pythagoras in Ovid ›Metamorphoses‹ 15: Empedoclean ›Epos‹. In: Classical Quarterly 45/1 (1995), 204–214. Kaminski, Nikola: Ovid und seine Brüder. Christoph Ransmayrs ›Letzte Welt‹ im Spannungsfeld vom ›Tod des Autors‹ und pythagoreischer Seelenwanderung. In: arcadia 37 (2002), 155–172. Ransmayr, Christoph: Die letzte Welt. Roman. Mit einem Ovidischen Repertoire. Frankfurt 192017. Schmitzer, Ulrich: ›Reserare oracula mentis‹ – Abermals zur Funktion der Pythagorasrede in Ovids ›Metamorphosen‹. In: Studi italiani di filologia classica 99 (2006), 32–56.

Eva Marie Noller

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VI Rezeption – D Einzelmythen und Mythengruppen

82 Von Griechenland nach Rom: Die Trojaner auf dem (Heim-)Weg Nach der Zerstörung Trojas durch das Heer der Achaier flieht eine Gruppe von Trojanern unter der Führung des Aeneas aus ihrer Heimatstadt. Ihre Fahrt führt sie von der kleinasiatischen Ägäis-Küste über einige Zwischenstationen quer durch das Mittelmeer bis schließlich nach Latium, wo sie eine neue Stadt namens Lavinium gründen, die zur Vorläuferin Alba Longas (ca. 20 km südöstlich des heutigen Rom) und schließlich Roms werden sollte. Die für Ovid maßgebliche Version dieses Mythos ist in Vergils Aeneis zu finden. Dort müssen Aeneas und seine Gefährten auf ihrer Fahrt – ähnlich wie die Argonauten oder Odysseus – verschiedene Abenteuer durchleben. In Thrakien sowie auf Kreta und Sizilien versuchen sie erfolglos Städte zu gründen und dauerhaft zu siedeln. Da Dardanus, ein Ahnherr der Trojaner, angeblich italischen Ursprungs ist, wird die Fahrt des Aeneas bei Vergil als ein Heimweg präsentiert. Der Plot des Aeneas-Mythos besitzt folglich zwei maßgebliche Muster, für die es in der Geschichte der Gattung Epos zahlreiche Vorläufer gibt, nämlich Geschichten von (Stadt-)Gründungen (ktiseis) und von Heimwegen (nostoi). Ovid lehnt sich in einem ›kleine Aeneis‹ genannten Abschnitt seiner Metamorphosen (13, 623–14, 608) an diese Überlieferung an, webt durch Auslassungen, Hinzufügungen, Kürzungen und Ausschmückungen daraus aber seine eigene, nachgerade idiosynkratische Version des Heimwegs der Trojaner. Beispielsweise wird der Aufenthalt bei Dido, der bei Vergil weite Teile des ersten Buchs und das gesamte vierte Buch umfasst, bei ihm in wenigen Versen abgehandelt (14, 78–81). Die Mythen von der Heimfahrt nehmen einen großen Teil von Ovids ›kleiner Aeneis‹ ein, proportional einen weitaus größeren als in Vergils Aeneis. Da die Aeneis schnell zu einem kanonischen Text wurde, haben sich in der Folge die meisten Darstellungen von der Heimreise des Aeneas dennoch vornehmlich auf Vergil gestützt. Ovids Version darf jedoch als Auslöser für kreative, in mancherlei Hinsicht kontraintuitive und parodisierende Behandlungen des Stoffes gelten, von denen hier zwei vorgestellt seien.

82.1 Die Sibylle und Apollo in der Kunst des 17. Jahrhunderts Eine von Ovids markantesten Ergänzungen der Abenteuer des Aeneas betrifft die letzte Station, nämlich den Gang in die Unterwelt. Während bei Vergil der Abstieg und der Aufenthalt in der Unterwelt im Fokus stehen, behandelt Ovid auch ausführlich den anschließenden Aufstieg des Aeneas mit der greisen Sibylle (met. 14, 120–157, vgl. Krupp 2009, 162–166). Hier kommt es zu einem Gespräch, in dem die Seherin in einer Rückblende ihr Schicksal erzählt, insbesondere, warum sie immer weiter altert. Als junge Frau habe sie sich von Apollo einen Wunsch erbeten: »Ich schöpfte eine Handvoll Staub, streckte sie ihm hin und bat, ich Törin, mir möchten so viele Geburtstage zuteil werden, wie Staubkörner im Staube seien. Ich vergaß dabei zu erbitten, es möchten Jugendjahre sein« (14, 136–139). Da sie Apollos Zuneigung nicht erwiderte, habe der Gott die unpräzise Formulierung ihres Wunsches genutzt, um sie mit hohem und gebrechlichem Alter zu strafen. Genau diese Szene, in der die noch junge Sibylle ihren Wunsch äußert, haben Künstler des 17. Jahrhunderts eingefangen: Es existieren gleich mehrere Malereien und Stiche von Claude Lorrain (1600–1682), Gian Domenico Cerrini (1609–1681) und Salvator Rosa (1615–1673), auf denen die beiden jugendlichen Gestalten zu sehen sind und die zumeist stehende Sibylle dem sitzenden Gott eine oder beide Hände mit den Staubkörnern entgegenstreckt. In Rosas Landschaft mit Apoll und der Cumäischen Sibylle (1655/60) sieht man die beiden Figuren mittig am unteren Bildrand, klein im Vordergrund inmitten einer Lichtschneise. Im Stile der heroischen Landschaftsmalerei sind sie umgeben von einigen noch kleineren laubbekränzten Staffagefiguren sowie einer schroffen idealisierten Landschaftskulisse, die eine starke Raumtiefe aufweist: Teilweise umgeknickte Bäumen ragen in den Bildvordergrund hinein, düstere Felsen befinden sich auf beiden Seiten. Hoch auf dem Felsen, der die linke Bildhälfte dominiert, liegt eine Burg. Hinter den Figuren erstreckt sich tief in den Bildhintergrund hinein ein Gewässer, in dem sich das Licht des dramatisch bewölkten Himmels spiegelt. Es wird auf diese Weise eine erhabene Stimmung erzeugt. Das Treffen von der Sibylle mit Apollo ist einerseits in helles Licht getaucht, wird aber andererseits vom gewaltigen Rest des Bildes nahezu überlagert. Bei Ovid liegt eine ähnliche Gewichtung vor: Die Episode wird in der Rückschau der Sibylle äußerst luzide erzählt, ist jedoch innerhalb der gesamten Handlung der ›kleinen Aeneis‹ – und erst

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_82

82  Von Griechenland nach Rom: Die Trojaner auf dem (Heim-)Weg

recht der Metamorphosen – kaum mehr als eine Randnotiz. Dennoch wird die Interaktion der beiden Figuren auf dem Bild äußerst lebhaft dargestellt, und auch diese Detailversessenheit teilt Rosa mit Ovid: Die Sibylle tritt als Priesterin mit verhülltem Haupt von links im Kontrapost auf den sitzenden Apollo zu. Dieser sitzt auf einem Baumstumpf, den linken Arm angewinkelt auf seine Leier gelehnt, und schaut zur Sibylle auf. Doch nicht die Blicke, sondern die Gesten der Figuren stehen im Fokus. Aus den ausgestreckten Händen der Sibylle rinnen noch die Sandkörner; Apollos rechter Arm ist erhoben, der drohend ausgestreckte Zeigefinger deutet schon auf die Strafe voraus, die die Sibylle erleiden wird. Gute 150 Jahre nach Salvator Rosa hat mit William Turner einer der bedeutendsten Landschaftsmaler des 19. Jahrhunderts dieses Sujet in seinem Gemälde Die Bucht von Baiae mit Apollo und Sibylle (1823) wieder aufgegriffen.

82.2 Die Episoden von Scylla und Achaemenides in Blumauers AeneisTravestie (1782) Aloys Blumauers Virgils Aeneis, travestirt wurde ab 1782 veröffentlicht und war in Österreich eines der beliebtesten Bücher seiner Zeit. Blumauer dichtet darin in persiflierender Weise die Aeneis nach und formuliert u. a. eine scharfe Kritik an der katholischen Kirche: So ist Aeneas bei Blumauer nicht nur ein Urvater Roms, sondern auch des als korrupt dargestellten Vatikan. Die kirchenkritische Note liegt dabei ganz auf Linie mit der Reformpolitik des aufgeklärten Habsburgerkaisers Joseph II., der den Einfluss des Klerus und des Adels zurückzudrängen suchte (Hardie 2014, 187). Zentrales Erzählmittel ist der Anachronismus: Aeneas vergleicht seine Flucht mit der des »Herrn Moses«, der auch das ihm gelobte Land nicht betreten durfte (3, 50), und verspricht eine Votivgabe in Mariazell (3, 47), sollte die Reise glücken. Bei seiner Ankunft in Karthago liest er in einem Kaffeehaus in der Zeitung von seiner Niederlage in Troja und den sich daran anschließenden Abenteuern (1, 52), während sich später die verlassene Dido mit der Lektüre von Goethes Leiden des jungen Werthers tröstet (4, 76–77). Unter den Episoden des dritten Buchs stechen bei Blumauer zwei hervor, die bereits von Ovid kreativ verarbeitet wurden, nämlich die von Scylla und die von Polyphem und Achaemenides. Bei Vergil werden Scylla und Charybdis nur in der warnenden Prophezeiung des Helenus (Aen. 3, 420–432) und dann ganz

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kurz, gewissermaßen im ›Vorbeifahren‹, erwähnt (3, 684). Ovid gibt dem Mythos weitaus mehr Raum: Bei ihm wird zuerst die Vorbeifahrt geschildert und eine Kurzfassung des Aitions gegeben (met. 13, 730–737), ehe dann Scyllas Verfolgung durch Glaucus und seine Zurückweisung (13, 898–968) sowie schließlich (14, 1–74) die Verwandlung ihres Unterleibs und ihrer Beine zu Meerungeheuern durch Circe, zu der Glaucus Zuflucht genommen hatte, ausführlich erzählt werden. Es sind diese von Ovid breit geschilderten Episoden, die Blumauer im Hinterkopf gehabt haben muss, wenn er über Scylla schreibt: »Und alle die Historien     Von ihr, sind keine Fabel: Sie ist ein Mädchen, wunderschön,     Vom Kopf bis zu dem Nabel: Doch was von dort hinab, bedeckt, Tief unterm Wasserrocke steckt,     Ist greulich anzusehen.« (3, 53)

Bereits Ovid gebraucht zu Beginn seines Scylla-Komplexes einen ganz ähnlichen bekräftigenden Einschub: si non omnia vates / ficta reliquerunt (»wenn nicht alles erlogen ist, was die Dichter uns überliefern«, met. 13, 733–734). Bei Blumauer wird Scylla dann zu einem exemplum für ein frivoles Mädchen, das seine gerechte Strafe erlangt: »Man sagt, sie hab’ sich nie genug     Getanzt in ihrem Leben, Und, weil sie kurze Röcke trug,     Viel Skandalum gegeben; Drum ward ihr alles, was man sah, Fuß, Waden, Knie & cætera     So jämmerlich verwandelt.« »Sie wurzelt’ in den Boden ein,     Und muss nun immer sehen, Wie alle Schiffe, groß und klein,     Um sie herum sich drehen. So büßt sie nun, was sie gethan: Die Wienermädchen sollten dran     Sich hübsch ein Beyspiel nehmen.« (3, 54–55)

Ovid ist eine solche moralische Verurteilung Scyllas fremd (bei ihm wird sie verwandelt, weil Circe, die nun ihrerseits erfolglos um Glaucus wirbt, eifersüchtig ist), aber das grundsätzliche Interesse an den erotischen Aspekten des Mythos teilt er mit Blumauer (anders als Vergil). Blumauers Formulierung »Fuß, Waden, Knie

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VI Rezeption – D Einzelmythen und Mythengruppen

& cætera« erinnert indes an die Epiphanie der Corinna in am. 1, 5, wo bei der detaillierten Beschreibung des nackten weiblichen Körpers ebenfalls die Scham geflissentlich ausgespart wird und es bei der Schilderung der erotischen Handlungen in einem ebensolchen Aposiopese-Gestus heißt: cetera quis nescit? (»wer kennt das Weitere nicht?«, am. 1, 5, 25). In der Polyphem-und-Achaemenides-Episode kom­ men dagegen Blumauers kirchenkritische Tendenzen deutlich zum Vorschein. Polyphem wird dargestellt als Großinquisitor, die Kyklopen als seine Schergen, Achaemenides als Jude, der auf der Flucht vor ihnen ist. Über den Ätna, die Heimat der Kyklopen, heißt es: Und seines Magens Quintessenz     Bestand aus Amuletten, Er spie: Kapuzen, Rosenkränz’     Und Folterbänk’ und Ketten: Mit unter warf er auch, o Graus! Gebratne Menschenglieder aus,     Und ganze Scheiterhaufen. (3, 58)

Die Flexibilität der Achaemenides-Figur und das unter dem Siegel der Humanität nun friedliche Aufeinandertreffen alter Feinde – von Vergil ersonnen, von Ovid in steter und sichtbarer Auseinandersetzung mit Vergil raffiniert umgestaltet (Krupp 2009, 166– 174) – erfährt so bei Blumauer eine weitere Fortschreibung und Umdeutung. Literatur

Blumauer, Aloys: Virgils Aeneis, travestirt. Hrsg. von Wynfried Kriegleder. Wien 2005. Hardie, Philip: The Last Trojan Hero: A Cultural History of Virgil’s ›Aeneid‹. London/NewYork 2014. Krupp, József: Distanz und Bedeutung. Ovids ›Metamorphosen‹ und die Frage der Ironie. Heidelberg 2009. Rosa, Salvator: Landschaft mit Apoll und der Cumäischen Sibylle, um 1655/1660, 174 × 260 cm, Öl auf Leinwand, Wallace Collection, London. In: Nils Büttner: Geschichte der Landschaftsmalerei, München 2006, 135, Abb. 60. Turner, Joseph Mallord William: The Bay of Baiae, with Apollo and the Sibyl, ausgestellt 1823, 145 × 237,5 cm, Öl auf Leinwand, Tate Collection, London. In: https://www. tate.org.uk/art/artworks/turner-the-bay-of-baiae-withapollo-and-the-sibyl-n00505 (28.4.2019).

Martin Stöckinger

83  Aitiologische Dichtung: Venus und Adonis

83 Aitiologische Dichtung: Venus und Adonis Die aitiologische Dichtung nimmt in Ovids Werk eine zentrale Stellung ein; als literarischer Modus der Welterklärung, als »Ursprungserzählung«, macht sie sowohl die Metamorphosen als auch die Fasti im Kern aus (s. Kap. 38). Unter den zahllosen Beispielen zumal aus den Verwandlungssagen entfaltete auch die recht knapp erzählte Liebe der Venus zu Adonis, eine Erklärung für die Entstehung sowohl des attischen Festes der Adonia als auch der Anemonenblume aus dem Blut des Jünglings, ein facettenreiches Nachleben. Ovid war, ebenso wie und nicht weniger als Vergil, für die Dichter der Renaissance ein grundlegendes Vorbild, wenn es um literarische Wissensvermittlung ging. Im 16. und 17. Jahrhundert wurden beide aitiologischen Dichtungen Ovids Schultexte in England (Kilgour 2014, 219). Besonders an der Erklärung der Natur – an einem »tell-cause« oder »reason rend«, wie es der zeitgenössische Literaturkritiker George Puttenham nannte – versuchten sich Autoren wie Edmund Spenser in der Faerie Queene (1590–1596) und Philip Sidney in The 7 Wonders of England (ca. 1580; s. Wolfe 2018, 559). William Shakespeare, als dessen Lieblingsdichter Ovid gilt (s. Keilen 2014), orientierte seinen ersten publizierten Text Venus and Adonis an der Erzählung aus den Metamorphosen. Auch im dritten Buch der Faerie Queene nimmt Adonis eine zentrale Stellung ein, und auf diese beiden Rezeptionsstationen konzentriert sich der folgende Artikel. Bei Ovid ist die Episode (met. 10, 503–59; 708–739) Teil des Orpheus-Liedes, das in 10, 143–739 fünf Geschichten unnatürlicher und unglücklicher Liebe erzählt. Die meisten der ausweglosen Situationen auch schon des neunten Buches, dort etwa zwischen den Geschwistern Caunus und Byblis, werden durch die weibliche Libido verursacht und können nur durch Tod und Metamorphose aufgelöst werden (Emeljanow 1969, 67; Newman 1984, 254). Orpheus singt auch von Myrrha, die ihren Vater Cinyras liebt und durch eine List mit ihm schläft. Die Tat wird entdeckt, worauf das schwangere Mädchen in einen Myrrhenbaum verwandelt wird, aus dem nach neun Monaten der außerordentlich schöne Adonis geboren wird (503–512). Venus, versehentlich von Amors Pfeil gestreift, verliebt sich in ihn, was der Erzähler als Rache für die Leiden der Mutter des Jünglings deutet (524). In ihrer Liebe verlässt Venus den Himmel und begleitet Adonis, der Diana gleich, bei seiner Jagd. Sie warnt

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ihn vor Raubtieren, was zu einer eingelegten, von ihr selbst erzählten Aitiologie (552: quae causa, »welcher Grund«) der Löwen bzw. ihres eigenen Hasses auf diese Tiere führt: zur Geschichte vom Wettlauf zwischen Atalante und Hippomenes. Der Sieger missachtete seine Helferin Venus, was ihren Zorn auf ihn lenkte; das Paar vollzog daraufhin seinerseits einen misslichen Liebesakt im Heiligtum der Kybele und wurde zur Strafe in Löwen verwandelt (560–707). Adonis aber missachtet Venus’ Warnung, jagt weiterhin ohne Furcht und wird von einem wilden Eber getötet (710– 716). Die trauernde Göttin begründet in ihrer folgenden Rede sowohl das Fest der Adonien als auch die Existenz der Anemone (met. 725–728): ›luctus monimenta manebunt semper, Adoni, mei, repetitaque mortis imago annua plangoris peraget simulamina nostri; at cruor in florem mutabitur.‹ (»Es wird, o Adonis, stets meiner Trauer / Denkmal bleiben und wird, wiederholt alljährlich, im Bilde / Deines Todes Gedächtnis auch meine Klagen erneuern, / Aber dein Blut, es wird zur Blume mir werden.«)

Die Göttin besprengt daraufhin das Blut mit Nektar, was die Verwandlung bewirkt; die Blume jedoch, schnell gewachsen, ist auch ebenso vergänglich (738– 739): namque male haerentem et nimia levitate caducum / excutiunt idem, qui praestant nomina, venti (»Locker haftend und allzu leicht zum Fallen geneigt, wird / Bald von dem Wind, der den Namen ihr gibt [d. h. Anemone von gr. anemos], verweht ihre Blüte«). In Ovids Erzählung wird Adonis’ Verschmähen der verliebten Venus wie der Liebe überhaupt, in späteren Bearbeitungen so prominent, mit keinem Wort erwähnt. Vielmehr ist das Paar vereint in der bukolisch anmutenden Szene, die Venus’ eingelegte Erzählung einleitet (558–560: »Und sie legt sich und ruht auf dem Gras und dem Jüngling; in dessen / Schoße den Nacken gebettet, zurück sich lehnend erzählt sie / So und flicht gar oft den Worten ein ihre Küsse.«). Seine Leidenschaft für die Jagd und die angedeutete Nähe zu Diana stellen Adonis zwar in die Nähe der Hippolytos-Figur, dem ebenfalls eine ältere Frau nachstellt, die er abweist, worauf sein Tod folgt – vgl. Ovids 4. Heroides-Brief der Phaedra an Hippolytos, etwa Vers 85–92; im Vordergrund der Adonis-Episode steht jedoch die Vergänglichkeit der jugendlichen Schönheit, die im Ritual beklagt wird und in der Blume ihr Symbol findet (s. Hulse 1978, 95). Die Verbindung der Anemone mit Adonis ist

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_83

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VI Rezeption – D Einzelmythen und Mythengruppen

vermutlich hellenistisch, erstmals bei Nikander (Fragment 65 Schneider) belegt. Laut Joseph Reed (1995, 327; s. auch Reed 2013 zur Stelle) gibt es keinen Bezug zwischen Blume und ursprünglichem Adonien-Ritual, in dem Tonfiguren des Adonis und kleine Töpfe mit rasch keimenden Samen, sogenannte ›Gärten des Adonis‹, verwendet wurden; in römischer Zeit wurde es, vermutlich anders als im klassischen Athen, als landwirtschaftliches Fruchtbarkeitsfest gesehen. Die meistdiskutierten modernen Deutungen des Rituals stammen im Übrigen von James Frazer (1914), auch Übersetzer und Kommentator der Fasti, und Marcel Detienne (1972). Dieser widerlegte Frazers Deutung des Adonis als wichtiger Vegetationsgottheit im attischen Jahreszyklus; seine eigene strukturalistische Erklärung, die Adonien als Fest der Un-fruchtbarkeit und des fruchtlosen Geschlechtsverkehrs zeichnend, wurde jedoch zuletzt ebenso angezweifelt (Reed 1995, 321– 326). Ovids Darstellung als allein erhaltene ausführliche antike Erzählung mag, gerade in der Bedeutung Myrrhas für Detienne, bei diesen Interpretationen eine wichtige Rolle gespielt haben.

83.1 William Shakespeare, Venus und Adonis (1593) In Shakespeares Bearbeitung stehen Adonis’ abweisende Haltung und Venus’ vergebliches Werben im Gegensatz zur Vorlage im Vordergrund. Das 1194 Verse lange Epyllion, im jambischen Pentameter und Schema der sesta rima geschrieben, war dessen erste Gedichtpublikation und erschien 1593. Das auffallendste Merkmal in der Mythenadaption, der markante Widerstand Adonis’ gegen die Liebe, ist gleich zu Anfang formuliert (4): Hunting he loved, but love he laugh’d to scorn (s. etwa Newman 1984, 251–252). Dass Ovid das wichtigste Vorbild ist, lässt sich zunächst am vorangestellten Zitat eines programmatischen Distichons aus den Amores erkennen (1, 15, 35– 36): vilia miretur vulgus; mihi flavus Apollo / pocula Castalia plena ministret aqua, »der Pöbel möge das Seichte bewundern; mir bekränze der blonde Apoll Becher voll mit kastalischem Wasser.« Daneben ist der Einfluss am informell-lockeren Sprachgebrauch, der durchgängig stark präsenten Erotik und der Freude am Spiel mit antithetischen Wendungen zu sehen (Roberts 1988, 69). Auch Shakespeares Wendung der ovidischen Tradition im Fokus auf die unerfüllte weibliche Liebe kann vermutlich aus dem oben skizzierten Kontext der Metamorphosen-Bücher 9 und 10 erklärt

werden, die zum größten Teil von exzessiver weiblicher Liebe und ihren Folgen handeln (Newman 1984, 265). In der Kunst war diese Interpretation des Mythos kurz zuvor auf Tizians beiden Gemälden namens Venus und Adonis (1560er Jahre) dargestellt worden. Venus’ das gesamte Gedicht durchziehende Kommentare auf diesen Widerstand des Adonis bedienen sich häufig einer agrikulturellen Sprache von Fruchtbarkeit und Verschwendung und verweisen damit auf eine entsprechende Deutung des Gottes bzw. der kultischen Hintergründe (163–168): »Torches are made to light, jewels to wear, Dainties to taste, fresh beauty for the use, Herbs for their smell, and sappy plants to bear: Things growing to themselves are growth’s abuse: Seeds spring from seeds and beauty breedeth beauty; Thou wast begot; to get it is thy duty.«

Bei Shakespeare stehen am Ende des Textes ebenfalls zwei Aitiologien. Die erste gibt es vor Venus and Adonis nicht; sie markiert den Tod des Jünglings als Ursprung aller unglücklichen Liebe, die Venus über die Menschen verhängt (1135–1140; s. Carter 2015, 11): »Since thou art dead, lo, here I prophesy: Sorrow on love hereafter shall attend: It shall be waited on with jealousy, Find sweet beginning, but unsavoury end, Ne’er settled equally, but high or low, That all love’s pleasure shall not match his woe.«

Ihre Prophezeiung, in der die Liebe sodann als Grund aller schlechten Eigenschaften der Menschen, für Angst und Krieg genannt wird, endet in Vers 1164 und mündet in die Verwandlung des Leichnams in eine duftende Blume. Dieses zweite Aition ist Ovids causa noch eng verwandt, auch wenn die Blume hier als »Sohn« des Adonis dargestellt wird, die Venus pflückt und wie ein Kind an ihrer Brust wiegt (1177–1180; 1186–1188): »›Poor flow’r,‹ quoth she, ›This was thy father’s guise – Sweet issue of a more sweet-smelling sire – For every little grief to wet his eyes; To grow unto himself was his desire, [...] My throbbing heart shall rock thee day and night: There shall not be one minute in an hour Wherein I will not kiss my sweet love’s flow’r.‹«

Die These der Existenz einer dritten Aitiologie hat kürzlich Patrick Cheney in einer poetologischen Les-

83  Aitiologische Dichtung: Venus und Adonis

art des Epyllions vorgeschlagen (Cheney 2007, 83– 107). In der Figur der Blume, die Venus nach dem Tod des Adonis pflückt, sieht er die Konstitution einer neuartigen Ästhetik und »hybrid literary career« durch den Autor (107): »Shakespeare imprints an etiological poem about the origins of Venus and Adonis itself.« Er begründet so auch die starke Ablehnung des jungen Mannes, der eine Figur der vergilischen Gattungsleiter vom Bukolischen zum Epischen darstelle, einer Venus gegenüber, die vollkommen das ovidische Modell von Liebesdichtung und zudem des Theatralischen verkörpere. Im Schlussbild des Textes seien beide vereint, wodurch Shakespeare seine Ambition auf ein zweifaches Dichtertum – nicht nur als Dramenautor, sondern auch als Verfasser von Gedichtpublikationen – ausge­ drückt habe. Das Langgedicht ist durch den englischen Autor und Kritiker Ted Hughes – der die lateinische Version des Mythos in After Ovid. New Metamorphoses (Hofmann/Lasdun 1994), einer Sammlung von Nachdichtungen zahlreicher Episoden der Metamorphosen, auch frei übersetzte – gar zu einer Art Interpretationsschlüssel für Shakespeares gesamtes, also auch dramatisches Werk erhoben worden. In der 1992 erschienenen Monographie Shakespeare and the Goddess of Complete Being arbeitet er eine Grundkonstellation von »Great Goddess«, der weiblichen Sexualität als Symbol der Schöpfung, und »Goddess-destroying god«, dem geopferten jungen Mann, heraus, die den Plots aller Stücke zugrunde liege (5): »Venus and Adonis provides a key to the inner mythic unity of Shakespeare’s dramas.«

83.2 Edmund Spenser, The Faerie Queene (1590) Spensers Elisabethanisches Nationalepos um die Artus-Legende, mit sechs Büchern ein Fragment geblieben, ist »the most profound English meditation on the Metamorphoses as a whole« genannt worden (Lyne 2001, 140; zit. nach Hardie 2014, 291). Der Text enthält selbst zahlreiche Verwandlungen und erotische Episoden mit Umarbeitungen der ovidischen Sagen. Im 6. Canto des 3. Buches, das die Tugend der Keuschheit in den Vordergrund stellt, wird der Garten des Adonis beschrieben: ein Paradiesgarten, den Venus nach ihrem Geliebten benannt hat und der voller junger Männer ist, die in Ovids Text zu Blumen verwandelt wurden (3, 6, 45): And all about grew euery sort of flowre, / To which sad louers were transformd of yore; /

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Fresh Hyacinthus, [...] / Foolish Narcisse, that likes the watry shore. Im Zentrum des Gartens verbirgt sich Adonis, Venus’ Besuchen unter Blumen und Gewürzen harrend (3, 6, 46): »There wont faire Venus often to enioy Her deare Adonis ioyous company, And reape sweet pleasure of the wanton boy; There yet, some say, in secret he does ly, Lapped in flowres and pretious spycery, By her hid from the world, and from the skill Of Stygian Gods, which doe her loue enuy; But she her selfe, when euer that she will, Possesseth him, and of his sweetnesse takes her fill.«

Adonis erscheint als weder tot noch lebendig, sondern verkörpert das Prinzip der Metamorphose selbst (3, 6, 47): »All be he subiect to mortalitie, Yet is eterne in mutabilitie, And by succession made perpetuall, Transformed oft, and chaunged diuerslie: For him the Father of all formes they call; Therefore needs mote he liue, that liuing giues to all.«

Diese Transposition des Prinzips der ovidischen Metamorphosen – der Wandelbarkeit aller Dinge, der Neuschöpfung aus Vergehendem – auf eine einzelne schöpferische Kraft wird in der Forschung häufig als »Spenser’s image for the source of his own poetry« gelesen, als »aition of the Faerie Queene itself« (Kilgour 2014, 226). Wiederum wird also im Rückgriff auf den aitiologischen Erzählmodus Ovids ein Ursprung der eigenen Dichtung im Zusammentreffen von Venus und Adonis imaginiert. Stehen die beiden Kräfte von weiblicher Fruchtbarkeit sowie männlicher Jugend und Transformationskraft bei Shakespeare noch im Konflikt, sind sie bei Spenser in einem philosophischen Konzept von Liebe als generativer Kraft, nicht zuletzt in Bezug auf die Formen der Dichtung, vereint: »Spenser takes the world of twelfth-century nature poetry, associated with love, fecundity, and diversity, and makes explicit its connections with Plato’s theory of forms and cosmology« (Barkan 1986, 240; s. auch Hardie 2014, 294–295 und Carter 2015, 3). Literatur

Barkan, Leonard: The Gods Made Flesh. Metamorphosis and the Pursuit of Paganism. New Haven 1986. Carter, Sarah: ›With kissing him I should have killed him

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VI Rezeption – D Einzelmythen und Mythengruppen

first‹. Death in Ovid and Shakespeare’s Venus and Adonis. In: Early Modern Literary Studies 24 (2015), 1–13. Cheney, Patrick: Shakespeare, National Poet-Playwright. Cambridge 2007. Coupe, Claire: Ovid’s Ceres and the Courtship of Adonis in Shakespeare’s Venus and Adonis. In: Parergon 34/1 (2017), 95–107. Detienne, Marcel: Les Jardins d’ Adonis. La mythologie des parfums et des aromates en Grèce. Paris 1972. Emeljanow, Viktor: Ovidian Mannerism: An Analysis of the Venus and Adonis Episode in Met. X 503–738. In: Mnemosyne 22/1 (1969), 67–76. Frazer, James: Adonis Attis Osiris. Studies in the History of Oriental Religion. London 31914. Hardie, Philip: Spenser and Ovid. In: John F. Miller/Carole E. Newlands (Hrsg.): A Handbook to the Reception of Ovid. Chichester 2014, 291–305. Hofmann, Michael/Lasdun, James: After Ovid. New Metamorphoses. London 1994. Hughes, Ted: Shakespeare and the Goddess of Complete Being. London 1992. Hulse, S. Clark: Shakespeare’s Myth of Venus and Adonis. In: Proceedings of the Modern Language Association 93 (1978), 1–15. Keilen, Sean: Shakespeare and Ovid. In: John F. Miller/

Carole E. Newlands (Hrsg.): A Handbook to the Reception of Ovid. Chichester 2014, 232–245. Kilgour, Maggie: Milton and the Metamorphosis of Ovid. Oxford 2012. Kilgour, Maggie: The Poetics of Time: The Fasti in the Renaissance. In: John F. Miller/Carole E. Newlands (Hrsg.): A Handbook to the Reception of Ovid. Chichester 2014, 217–231. Lyne, Richard: Ovid’s Changing Worlds. English ›Metamorphoses‹ 1567–1632. Oxford 2001. Newman, Karen: Myrrha’s Revenge. Ovid and Shakespeare’s Reluctant Adonis. In: Illinois Classical Studies 9/2 (1984), 251–265. Reed, Joseph D.: The Sexuality of Adonis. In: Classical Antiquity 14/2 (1995), 317–347. Reed, Joseph D.: Ovidio. Metamorfosi. Bd. 5 (Libri X–XII). Übers. von Gioachino Chiarini. Bologna 2013. Roberts, Jeanne Addison: Anxiety and Influence. Milton, Ovid, and Shakespeare. In: South Atlantic Review 53/2 (1988), 59–75. Wolfe, Jessica: Science and Technology. In: Catherine Bates (Hrsg.): A companion to Renaissance poetry. Blackwell companions to literature and culture. Hoboken 2018, 557–569.

Christian Badura

84 Schöpfungsmythen

84 Schöpfungsmythen Ovids Epos durchläuft die Weltzeit vom Uranfang über die mythische Zeit bis zur homerischen Welt (Troja) und von da, durch translatio imperii (Übertragung von Herrschaft), zur Gründung Roms bis zu Augustus. Ovid beginnt nicht mit einem Schöpfungsgott und nicht mit der Ordnung der Elemente, weder mit dem platonischen Demiurgen noch dem stoischen fabricator mundi noch mit der vorsokratischen Naturphilosophie. Sondern Ovid beginnt wie Hesiod, der in der Theogonie (um 700 v. Chr.) mit dem Chaos, diesen Begriff kreierend, die Welt beginnen lässt (Lämmli 1962; Böhme/Böhme 2004, 26–74). Bei Hesiod laufen vorderorientalische Schöpfungsmythen zusammen und es beginnt die Kosmos-Philosophie, noch eingeschlossen in die mythologische Genealogie der Götter. Aus dem Chaos entsteht die Erde (Gaia), und in dieser der finster lagernde Tartaros. Der weltenbildende Eros ist jene universale Macht, die im Ursprung gedacht werden muss, wenn der Kosmos eine einzige Kette von Generierungen ist. Eros ist das Prinzip der natura naturans, der schöpferischen Kraft der Natur. Gaia ist Mitte und Mutter des Werdens, die Magna Mater (Neumann 1985, Downing 1987, 131– 156). Diese Konstruktion kommt Ovid schon nahe. Auch bei Ovid ist Gaia der Urgrund, woraus alles wird. Zum Werden aber bedarf es des Eros. Er schließt Gaia zum hieros gamos (zur heiligen Hochzeit) mit demjenigen zusammen, der aus ihr selbst hervorgegangen ist: der Himmel, Uranos. In vielen Kulturen müssen Erde und Himmel getrennt werden, damit Raum werde für die Dinge der Natur. Im interkulturellen sogenannten HET-Mythos (Himmel-ErdeTrennungsmythos) heißt Schöpfung: Himmel und Erde treten – nach der hochzeitlichen Nacht – im Lichtraum des Tages auseinander (Staudacher 1968). So heißt es im Melanippe-Fragment des Euripides: »Ursprünglich war der Himmel mit der Erde eins;/ doch als sie voneinander sich geschieden hatten,/ da zeugten sie und brachten an die Sonne alles,/ die Bäume, Vögel, Tiere, die das Meer ernährt/ – dazu die Menschen« (Euripides: Fragm. 468). Ovid identifiziert das Chaos Hesiods mit dem stoischen Konzept der qualitätslosen Materie (rudis indigestaque moles, met. 1, 7). Als prima materia (in aristotelischer Tradition) wird dieses Konzept eine große Tradition begründen. Das Chaos ist eine Welt sine imagine (Ovid, fast. 1, 111; met. 1, 87). Von einer bildlosen Welt kann man nicht sprechen. Gerade dass die prästrukturelle Natur ein einziges, also kein Gesicht

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zeigt (unus vultus, met. 1, 6), zwingt Ovids kosmologische Rede in das Paradox, dass sie sprechen muss von etwas, das gerade das nicht zeigt, was Sprache voraussetzt: Distinktion und Differenz (Möller 2018). Ovid springt nicht über das Chaos hinweg wie Hesiod; er verharrt viele Verse bei diesem prästrukturellen Zustand des Chaos. Die sprachlichen Mittel Ovids, um auf Vorsprachliches zu referieren, sind die absolute Vorzeitigkeit (ante mare et terras), zahlreiche Negationen und Ausdrücke des Amorphen (rudis indigestaque, discordia, instabilis, innabilis). Diese Stilformen des Chaos ähneln der Kosmogonie des Lukrez, bei dem der präelementare Zustand eine konfuse Masse von Atomen ist (Lucr. 5, 432–445). Bei Ovid ist alles Anfängliche ohne Form (nulli sua forma manebat). Diese Unform ist prima potentia der Schöpfung. Es ist die Gegenwart der Atome (semina rerum), der Elemente und der Qualitäten, der Zeit und des Raums, der Prinzipien und der Dinge – doch in Widerstreit (obstabatque aliis aliud) und Kampf (pugnabant). Chaos ist eine Diskrasis (versus Eukrasis: schlechter vs guter Mischungszustand), wie sie die Vorsokratiker lehrten, eine qualitätslose Materie, so die Stoa, ein meigma, wie es Diodorus Siculus erklärt (Diod. 1, 7; vgl. Spoerri 1959). Ovid steht mit diesem Entwurf des absoluten Anfangs auch Anaxagoras nah, der das Apeiron als das ›ungeschieden gleichmäßig zusammen Sein‹ alles Möglichen bezeichnet, das Enthaltensein von spérmata pánton chremáton (Diels/Kranz 59 B 4, Lämmli 1962, 44 ff). Dem ovidischen Chaos ähnelt aber auch das biblische Tohuwabohu (hebr. Öde und Leere). Eine creatio ex nihilo kennt die antike Tradition so wenig wie die biblische. Am Anfang war nicht nichts, sondern – so auch bei Ovid – die Unordnung. Sie ist der Gegensatz zum Kosmos (der systema ist). Der kosmologische Redetypus der absoluten Vorzeitigkeit und endlosen Verneinungen möglichen Daseins ist interkulturell verbreitet. Er findet sich in nordgermanischen (Völospá, Edda), in vedischen (Rig-Vda) wie in vorderorientalischen (Enuma elis) Schöpfungsmythen; er prägt die biblischen, ägyptischen, altrussischen und indischen Welterschaffungs-Mythen. Keineswegs ist klar, ob Ovid etwas davon kannte. In jedem Fall ist der Beginn der Metamorphosen geprägt von Urformeln an den Grenzen der Welt, die zugleich Grenzen von Sprache sind. Schöpfung dagegen ist bei Ovid das Verfriedlichen des Chaos: Herstellung von Ordnung, die Streit und Gewalt vermeidet. Dies ist das Werk des namenlosen Gottes und der »besseren Natur«. Das schöpferische

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_84

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VI Rezeption – D Einzelmythen und Mythengruppen

opus distinctionis lässt die Elemente und ihr Regime hervortreten. Dies wird analog zum Prozess der Versittlichung und Verfriedlichung gesetzt. Chaos verhält sich zur Naturordnung wie Bürgerkrieg zur Pax Augusta. Die erste Metamorphose, die Ovid erzählt, ist also auch politisch zu lesen. Das trennende und verbindende Handeln des Gottes ist ein Tun dessen, was von Natur aus geschieht. In dieser Gleichsetzung liegt der Grund für die Namenlosigkeit des Gottes der Philosophen, worin Ovid der Stoa folgt (vgl. Diogenes Laertius 7, 135–137, 147– 148). Hierin liegt eine Abgrenzung Ovids von der epikureischen Lehre, wonach das All eine Zufallskonfiguration sei. Die Götter Epikurs sind dieux fainéants: Nihil habet negotii (Er hat keinerlei Aufgabe), sagt der Epikureer Velleius bei Cicero (De natura deorum 1, 102). Oder es heißt: Docuit enim nos idem, qui cetera, natura effectum esse mundum, nihil opus fuisse fabrica (ebd., 1, 53). Doch Ovid lässt in met. 1, 21 unentschieden, ob der Schöpfungsvorgang auf die stoische sollertia naturae (Kunstfertigkeit der Natur) oder das teleologische Handeln eines Gottes zurückgeht. Die Elemente bilden die Weltgestalt: die himmlische Sphäre des Äthers über dem dunstigen Luftreich, das die schwere Erde überwölbt, während das Wasser diese umschließt (Rigotti/Schiere 1996; Mahayni 2003). Wiewohl letztlich durch Aristoteles geprägt, scheint Ovid hier die elementaristische Kosmogonie der Stoa rezipiert zu haben (Cic. nat.deor. 2, 91, 98–103; vgl. Diog. Laert. 7, 136–139, 142). Dieser Raumgestalt folgt nun als zweite Schöpfungsphase die topographische Ordnung der bekannten Welt. Entsprechend der Anordnung des Weltbaus (Diog. Laert. 7, 155) in fünf Himmelssphären wird die Erdkugel in fünf Klimazonen eingeteilt (met. 1, 32 ff.; Diog. Laert. 7, 156). Die Erde erhält ›Gesicht‹ durch die Verteilung der Elemente Erde und Wasser. Landmassen und Meer bestimmen sich wechselseitig und charakterisieren die im Weltraum schwebende Tellus (met. 1, 12– 13). Nach pythagoreischer Auffassung soll die Erde, als Mittelpunkt des Alls, die vollkommene Drehsymmetrie aufweisen. Dieses Konzept übernimmt Platon im Timaios und Ovid hier in den Metamorphosen. Die fünf Klimagürtel, von denen die mittlere (äquatoriale) und die beiden äußeren (polaren) unbewohnbar sind, organisieren sich auf der Skala von heiß/kalt. Die Klimagürtel-Theorie ist antikes Gemeingut. Das zwischen die Erde und das himmlische Feuer (Äther, met. 1, 67–68) geschichtete Luftreich wird von Gott als Wetterregime eingerichtet (Windzonen, Nebel, Wolken, Regen, Blitze). Das Luftreich ist die Austauschzone

zwischen warm und kalt, feucht und trocken, hoch und tief, schwer und leicht. Die Rhythmisierung von Tag und Nacht und der Jahreszeiten ist entscheidend für die Metamorphosen von Klima und Wetter und deshalb auch für pflanzliches, tierisches und humanes Leben, einschließlich der Gemütsaffekte und Sinnesarten (met. 1, 52–66). Indem die Elemente sich so ausdifferenzieren, können auch die bisher im Chaos verhüllten Gestirne und Götter manifest werden (met. 1, 69 ff.), während sich Wasser, Erde und Luft zu Sphären der drei Tierreiche bilden (vgl. Cic. nat. deor. 2, 83–103, 115 ff.). Der Mensch erscheint, wie in der Bibel, zuletzt. Er ist Krönung des Naturprozesses. Von nun an herrscht bei Ovid die stoische Anthropozentrik vor. Mit einem Komparativ hebt die Menschwerdung an: Sanctius his animal mentisque capacius altae/ deerat et quod dominari in cetera possit./ natus homo est (met. 1, 76–78). Hierbei greift Ovid auf alte Mythen zurück. Deren Varianten sind ihm gleichgültig, wenn sie denn nur den Menschen als Ausnahme im Reich der Natur profilieren. Als dominant erweist sich bei Ovid indes die prometheische Linie (s. Kap. 76): der Mensch entstammt der Gaia (er ist terrigenus) und der skulpturalen Kunst des Prometheus (met. 1, 76–89). Die Stoa vertrat die Auffassung, dass der Mensch die mittlere Proportionale zwischen Gott und Tier sei. Dem entspricht auch die dualistische Anthropologie. Ovid löst deren Aporien, indem er die geistigen Züge des Menschen körperlich hervortreten lässt im aufrechten Gang und im erhobenen Blick. Der Homo erectus mit freiem Blick und freier Hand, sprachfähig und technisch-erfinderisch- (prometheisch), bestimmt für Jahrhunderte die anthropologische Diskussion (Plat. Tim. 90a; Xen. mem. 1, 4, 11; Cic. nat. deor. 2, 133, 140; Lact. ira 14, 1–3; vgl. Bayertz 2014; Niemitz 2004). Das kosmische Privileg des Menschen hat bei Ovid zwei Seiten: die übrigen Wesen zu beherrschen sowie den Himmel zu schauen. Das dominium terrae findet eine Grenze darin, dass der Mensch, prädestiniert durch seine Physis, zum contemplator coeli bestellt ist. Das ist stoisch gedacht: die Welt ist für den Menschen gemacht, der Mensch aber für die Götter: »Denn die Menschen, die der Erde entstammen (sunt enim ex terra homines), sind nicht nur als deren Bewohner und Bebauer (incolae atque habitatores) anzusehen, sondern gleichsam als Betrachter der überirdischen und himmlischen Erscheinungen... (spectatores superarum rerum atque caelestium)« (Cic. nat. deor. 2, 140). Die Menschen haben deswegen nicht einfach Herrscher, sondern Pfleger der Erde zu sein (cultores terrae constituti, nat. deor. 2, 99). Die nutzenteleologische Ein-

84 Schöpfungsmythen

richtung der Welt schließt ein, dass der Mensch mit seinen Händen (manibus), mithilfe von Arbeit und Technik, »eine zweite Natur hervorbringt« (quasi alteram naturam efficere, nat. deor. 2, 152, 99): als schönes Werk. Diese zweite Natur soll in stoischer Auffassung der teleologischen Vernunft entsprechen, in welcher die Erste Natur eingerichtet ist. Für diese benutzt Cicero die Formel: haec omnis descriptio siderum atque hic tantus caeli ornatus ...; nat. deor. 2, 115). Diese Konzeption ist den Versen vorauszusetzen, mit denen Ovid die Menschwerdung abschließt: sic, modo quae fuerat rudis et sine imagine, tellus / induit ignotas hominum conversa figuras (met. 2, 87–88). Das poetische Bild, wodurch der Mensch zum Schmuck der Erde wird, widerstreitet der anthropozentrischen Teleologie. Nach der ersten Metamorphose (von prima potentia zu den Elementen) wird das Werden des Menschen als Metamorphose der Erde verstanden. Ähnlich geht es bei der Rekreation der Schöpfung nach der strafenden Auslöschung der Menschheit durch die Sintflut zu: Die einzigen Überlebenden, Deukalion und Pyrrha, Kinder des Prometheus und des Epimetheus, wissen, dass sie aufgrund ihres Alters keine Kinder mehr zeugen können. Sie entbehren auch der Künste (artes) des Prometheus, der gekneteten Erde Seele einzugießen. In einer leeren Welt von tiefstem Schweigem (met. 1, 349) beschließen sie, das Orakel der delphischen Göttin Themis an der corycischen Grotte zu befragen. Themis, die Tochter der Gaia, und nicht der Olympier Apoll ist Herrin des uralten Orakelortes. Und tatsächlich ergeht ein Spruch, der Deikalion und Pyrrha zu Agenten eines Gaia-Kultes werden lässt, ohne dass sie dies ahnen: Steine, die Knochen der Großen Mutter (parens magna), sollen Deukalion und Pyrrha mit abgewendetem Gesicht, weil das Ansehen des Göttlichen ebenso unziemlich wie tödlich (Aktaion, Semele) wäre, hinter sich werfen (met. 1, 821– 394). Dieser seltsame Zeugungs-Ritus entstammt der mythischen Gleichsetzung der Erde mit dem Leib der Gaia, der Urmutter. Das wird durch eine rituelle Formel ausgesprochen: magna parens terra est (met. 1, 393, vgl. met. 15, 342 ff.). Unübersehbar entzieht Ovid hier dem olympischen Herren die Regie über die zweite Menschenschöpfung. Sie zeigt mutterkultische Züge – archaischer als bei der ersten Zeugung (met. 1, 76 ff.). Dass dies die Pointe Ovids ist, wird im Vergleich zu den mythographischen Sammlungen deutlich (Apollodor: Bibliotheca 1, 46 ff.; Hygin: Fabulae 153). Ferner wird bei Ovid der stoische Gedanke, dass Kultur eine alteram naturam schaffe, als weitere Metamorphose verstanden, modern gesprochen: diejenige

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von Natur in Geschichte. Aus der genealogischen Linie von Gaia über Prometheus zu Deukalion geht die Kultur hervor, in der es keine Menschenopfer und Frevel geben darf (wie es dem Mythos des arkadischen Königs Lycaon, zugrunde liegt, der vor seiner grausigen Entartung ein Kulturbringer und Stadtgründer war, met. 1, 209–239). Deutlich wird diese Auffassung Ovids auch in der Rede des Pythagoras (met. 15, 75–473). Zentrum sind der Vegetarismus und das Verbot von Tieropfern. Dagegen hatten bereits Empedokles (Diels/Kranz 31 B 128, 137) oder Theophrast in Über die Frömmigkeit (Fr. 7, 12) gesprochen (vgl. Martins 2018). Innerhalb einer Philosophie mythischer Kreisläufe ist dieses Problem zentral. Die empedokleische Metempsychose (die Theophrast nicht teilt) ist mit der Ovidschen Metamorphosen-Lehre zu verbinden. Dann versteht sich, dass in jedem Tier ein Verwandter unserer selbst verborgen ist. Das Essen von Tieren ist eine Form der Anthropophagie und des Verwandtenmordes, undankbar gegenüber den Diensten der Tiere und den Schätzen der Mutter Erde (met. 15, 90–92). Auch die Götter verabscheuen Tieropfer, sind diese doch, wie das Fleischessen, ein Zeichen des gewalttätigen und schuldbeladenen Eisernen Zeitalters (met. 15, 75–142, 455–478). Diese Maximen gehen aus den naturphilosophischen Prinzipien der Metamorphosen-Lehre hervor. Der ovidische Pythagoras erweist die Universalität der Metamorphose (met. 15, 163–185, 237– 255) ­– ab orgine mundi (met. 1, 3; vgl. Heraklit: Diels/ Kranz 22 B 49a; 22 B 91; vgl. Dorschel 2009). Wissenschaft war seit Platon der Versuch, das Wirkliche und Wahre der Welt als deren Bleibendes zu fassen. Wenn dies gilt, wird im Gegenzug die Poesie zum Erfassen des Flüchtigen. Ovid behauptet indirekt, dass die Poesie gegenüber der Wissenschaft den älteren und tieferen Seinsgrund gestaltet. Nicht das im Einen beharrende Selbe, sondern die überall pulsierende Energie der Verwandlung sei das Wesen der Welt. So behaupten die Metamorphosen mit ihren Verfahren der metonymischen Verkettung und verwandelnden Metaphorik sich gegen die Philosophie. Indem Ovid die Schöpfung nicht mit dem Werden der Welt beendet, sondern im Gegenteil sie durch alle Zeiten bis heute fortwirken sieht, entfaltet er ihre kosmische wie episodische Dimension – nicht als Diskurs, sondern als eine Textur lose verknüpfter Erzählungen. Das Weiterwirken des Mythos verdankt sich der perennitas metamorphoseon – der Ubiquität und der Ewigkeit der Verwandlungen als kosmogonischem Prinzip.

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VI Rezeption – D Einzelmythen und Mythengruppen

Literatur

Bayertz, Kurt: Der aufrechte Gang. Eine Geschichte des anthropologischen Denkens. München 2014. Böhme, Gernot/Böhme, Hartmut: Feuer, Wasser, Erde, Luft. Eine Kulturgeschichte der Elemente. München 32004. Dorschel, Andreas: Verwandlung. Mythologische Ansichten, technologische Absichten. Göttingen 2009. Downing, Christine: The Goddess. Mythological Images of the Feminine. New York 1987. Lämmli, Franz: Vom Chaos zum Kosmos. Zur Geschichte einer Idee. Basel 1962. Mahayni, Ziad: Feuer, Wasser, Erde, Luft. Eine Phänomenologie am Beispiel der vier Elemente. Rostock 2003. Martins, Pedro Ribeiro: Der Vegetarismus in der Antike im Streitgespräch. Porphyrios’ Auseinandersetzung mit der Schrift ›Gegen den Vegetarismus‹. Berlin/Boston 2018. Möller, Melanie: ›videri forma potest hominis‹ (Ovid, Met. 1,404sq.). Man’s Formation in the Shadow of Prometheus.

In: Maia. Rivista di letterature classiche 70/3 (2018), 530– 543. Neumann, Erich: Die Große Mutter. Eine Phänomenologie der weiblichen Gestaltungen des Unbewußten. Olten und Freiburg i. Br. 1985. Niemitz, Carsten: Das Geheimnis des aufrechten Ganges. Unsere Evolution verlief anders. München 2004. Rigotti, Francesca/Schiere, Pierangelo (Hrsg.): Aria, terra, acqua, fuoco. I quattro elementi e le loro metafore; Bologna/Berlin 1996. Spoerri, Walter: Späthellenistische Berichte über Welt, Kultur und Götter. Untersuchungen zu Diodor von Sizilien. Basel 1959. Staudacher, Willibald: Die Trennung von Himmel und Erde. Ein vorgriechischer Schöpfungsmythos bei Hesiod und den Orphikern. Darmstadt 21968.

Hartmut Böhme

E Ovid – Europa – Moderne 85 Ovid und Europa »Die europäische Phantasie ist ein weitgehend auf Ovid zentriertes Beziehungsgeflecht« (Blumenberg 2006, 383).

Diese ideenhistorische Verortung Ovids (die als Zitat auch in einige der hier versammelten Beiträge Eingang gefunden hat) dürfte in ihrer Zuspitzung befremdlich wirken: nicht nur wegen der Konzentration auf Ovid, sondern auch in ihrer Europafokussierung. Vor dem Hintergrund der europakritischen Stimmen, die die kulturpolitischen Diskussionen dominieren, mag es überhaupt kühn erscheinen, ein Handbuch mit dem Lemma »Ovid und Europa« zu beschließen. Denn was wäre unter »Europa« zu verstehen? Als geographischer oder politischer, erst recht als kultureller Verbund steht Europa ja nicht zuletzt deshalb in der Kritik, weil es wie ein archaisches Relikt aus westlich geprägten bildungsbürgerlichen Debatten anmutet, und das durchaus nicht erst im Zeitalter des Postkolonialismus. Tatsächlich sind kritische Stimmen gegen ein wie immer geartetes ›Projekt Europa‹ von Anfang allen ›eurozentrischen‹ Nachdenkens an deutlich zu vernehmen gewesen, und sie sind auch niemals wirklich verstummt. Besonders laut wurden sie dort, wo Einheitsvisionen beschworen worden sind, wiewohl Europa sich doch gerade durch seine Pluralität auszuzeichnen scheint; recht eigentlich erweist sich Europa von jeher als ein schwer fasslicher Schemen, der, im positiven Sinne, als Manifest von Vielfalt der Sprachen und Religionen, mithin von Multikulturalität begriffen worden ist. Diese Vielfalt hat dazu beigetragen, dass die Suche nach der eigenen Identität zu einem Markenkern des vergangenen wie des gegenwärtigen Europa (im frühen 21. Jhd.) geworden ist – daran dürfte sich auch in absehbarer Zukunft nicht viel ändern. Auch wenn die Europäische Union in der Form, wie sie derzeit noch besteht, zusammenbrechen sollte, wird Europa von der Suche nach sich selbst nicht ablassen können – und solange werden ihm sowohl seine Anhänger als auch seine Kritikerinnen auf der Spur bleiben. Insofern ist Julia

Kristeva zuzustimmen, wenn sie diese (womöglich per se zum Scheitern verurteilte) Identitätssuche als treibende Kraft der europäischen Kultur identifiziert (Thadden 2014). Die facettenreichen (kultur)politischen Debatten in und um Europa können zwar kein leitendes Thema eines Handbuchartikels über Ovid sein. Gleichwohl scheinen nicht nur die Rolle Ovids in der europäischen Geistesgeschichte, sondern auch sein eigener ›Umgang‹ mit Europa – dem Kontinent wie, vor allem, dem Mythos – symptomatisch für das Zwielicht, in das er getaucht ist. Denn schon in Ovids Texten wird Europa sozusagen zweifach zerlegt: In Ars amatoria und Metamorphosen wird, während die gleichnamige mythische Königstochter verschwindet, der Kontinent eher beiläufig ›aufgespürt‹, um seine Konturen sogleich wieder aus dem Blick geraten zu lassen. Die mythische Gründerfigur, deren originäres Potential schon im Moment der Genese brüchig wirkt, wird wieder entrückt, kaum dass sie die Bühne betreten hat – und verweist dadurch auf die Widersprüchlichkeit jeder allzu strukturierten, gar unitarischen Europaphantasie, sei diese nun politisch, geographisch, kulturell oder noch ganz anders motiviert. Schließlich ist es nicht zuletzt Ovids Europa, in welchem bzw. in welcher sich »Phantasie und formale Disziplin der europäischen Literaturen in einzigartiger Weise« mischen (Blumenberg 2006, 239); damit legt er einen Grundstein dafür, dass und wie Europa zum eminenten Produkt künstlerischer Kreativität werden konnte. Im Folgenden soll daher nicht nur der Mythos von Ovids Europa rekonstruiert, sondern auch nach der konkreten und übertragenen, nach der eigentlichen und metaphorischen Bedeutung Ovids für die vielfältige Ästhetik des »ätherischen Gebildes« Europa gefragt werden (Möller 2016, 5). Dabei wird in drei Schritten vorgegangen: Zunächst wird nach dem Kontinent und den Indizien für ihn gesucht, soweit sie sich bei Ovid, in seinem Umfeld und in ausgewählten Phasen direkter oder indirekter Rezeption finden. Es soll vor allem darum gehen, die kulturellen Marker der

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_85

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VI  Rezeption  –  E  Ovid – Europa – Moderne

Diskussionen und ihre Vermischung mit dem antiken Mythos in ihren Folgen für aktuelle Europakonzepte sichtbar zu machen, welche in der Ovid-Rezeption, so die Annahme, in besonderer Weise gespiegelt werden. Ein zweiter Abschnitt verfolgt den fragwürdigen Zusammenhang von Kontinent und Königstochter, der mehr noch als auf Ovids Texte auf andere Quellen zurückgeht, und dessen Folgen bis heute gravierend sind: Als ein aktuelleres Beispiel mag Tim Flannerys Buch Europa. Die ersten 100 Millionen Jahre dienen (Berlin 2019), das nicht nur die zeitliche Perspektive sehr weit zurückreichen lässt (»100 Millionen Jahre«) und geschichtsphilosophisch auflädt (»die ersten«), sondern auf seinem Cover auch die stierreitende Königstochter ein weiteres Mal verewigt. Auf diese beiden Partien, die das Thema Europa eher inhaltlich-motivisch betrachten, folgt ein dritter Passus, der die wichtigsten greifbaren Stationen der Rezeption von Ovids Wirken (nicht nur) in bezug auf Europa als Thema in und außerhalb Europas zusammenfassend betrachtet, um Hans Blumenbergs eingangs zitierte Einschätzung einem abschließenden Befund zuzuführen. Der Fokus kann auch dabei lediglich auf einzelnen Stationen liegen, wie sie die im Handbuch versammelten einschlägigen Artikel bieten.

85.1 Welche(s) Europa? Schon die Etymologie »Europas« ist nicht geklärt. Die Rückführung auf »eurys/euros« (»weit/Weite«) war bereits in der Antike beliebt. Ältere Studien weisen auf ein Kompositum aus »eur-« und »ops« (»Gesicht« oder »Stimme«), welches entweder auf eine weite Sicht oder eine weithin schallende Stimme anspielen könnte (vgl. Musäus 2009). Daneben wurden Ursprünge im akkadischen »erebu« (»untergehen«) oder im phönizischen »erob« (»Abend«) vermutet: Hier wäre jeweils konkret an den Sonnenuntergang gedacht und der Westen als »Abendland« fokussiert. Zur Klärung des Verhältnisses von Kontinent und Königstochter trägt die unsichere Etymologie wenig bei. Einige antike Rekonstruktionen haben immer wieder scharf zwischen beiden unterschieden, wie auch Ovid bezeugt. Sehr deutliche Worte fand jedoch bereits der Grieche Herodot in seinen Historien (4, 45, 1 + 4, Übers. J. Feix): »Von Europa aber weiß offenbar niemand etwas Genaues, weder über den Osten noch über den Norden ... Von seiner Länge wissen wir: Es übertrifft die beiden anderen Erdteile ... Von Europa aber weiß kein Mensch,

ob es vom Meer umflossen oder wonach es benannt ist, auch nicht, wer ihm den Namen Europa gegeben hat, wenn wir nicht annehmen wollen, dass von der Tyrierin Europa das Land den Namen bekommen hat. Vorher war es natürlich namenlos wie die Anderen. Aber diese Europa stammte offenbar aus Asien und ist nie in das Land gekommen, das man heute in Griechenland Europa nennt. Sie ist nur von Phoinikien nach Kreta und von dort nach Lykien gelangt.«

Diese »Tyrierin Europa« hätte also über einen eingeschränkten Radius verfügt. Doch gibt es auch andere Stimmen, welche die wechselseitige Überlagerung von Frau und Kontinent forcieren. So sind beide gleichsam in statu nascendi eine fruchtbare Beziehung eingegangen, auch dort, wo ihnen ein Nicht-Verhältnis beschieden wird – als Projektionsfläche für mythische, kulturelle, literarisch-künstlerische, politische und religiöse Phantasien. Die erzählerisch verbürgten Berührungspunkte lassen sich in eine phantastische Topographie übertragen; mag Europa selbst auch in der Sicht Herodots ihren Fuß nicht auf ›eigentlich‹ europäisches Gebiet gesetzt haben (er zählt auch ihren Zielort Kreta nicht dazu), so hat doch ihr Bruder Kadmos auf der Suche nach der von Götterhand entführten Schwester weite Teile des alten Europa durchmessen. Mit der Geographie sollte man indes nicht zu pedantisch sein, handelt es sich doch um mythische Figuren, »deren Familiengeschichte einen Raum beschreibt, in dem sich Reisende zwischen den Polen Orient und Okzident, Norden und Süden hin-undherbewegen und auf mannigfache Weise äußere und innere Grenzen ziehen, überschreiten und verlagern« (Renger 2003, 15). Europas Konturen ruhen von jeher auf einem gesellschaftlichen Konsens (oder eben Dissens) auf. Schon die frühesten nachweisbaren Einheitsvorstellungen wurden von Vielfaltsvisionen und Diversitätsträumen begleitet. Nicht zuletzt deshalb bildete Europa von Beginn an ein diskursives Konstrukt, konkret etwa als Streitobjekt zwischen Griechen und Persern. Späterhin treten Einheitsbestrebungen besonders deutlich aus religiöser Attitüde zutage, was sich etwa in dem Wunsch nach einer unitas Christiana äußert, die sich auch schon für präkarolingische Zeit nachweisen lässt. Zerrissenheit oder drohende Spaltungen des wie auch immer gefassten Gebildes bleiben aber auch hier ein Charakteristikum. Ein eindrückliches Beispiel aus späterer Zeit gibt Novalis ab mit der in »Die Christenheit oder Europa« (Novalis 1826) skizzierten utopischen Vision einer europäischen Gemeinschaft. In ähnlicher Weise, aber

85  Ovid und Europa

anderer Absicht polemisiert Friedrich Nietzsche gegen den allenthalben zu beobachtenden »Nationalitäts-Wahnsinn«, dem er die ihrerseits problematische Vorstellung des idealen Europäers gegenüberstellt (Nietzsche 1980, Bd. 6, 358–360). Der historische Unifizierungsprozess seit 1945, der sich als ein »supranationales Einigungs- und Integrationsprojekt« begreifen lässt (Renger/Ißler 2009, 10), hat die Debatten zuletzt wieder verschärft. Politische Einheitstendenzen werden mitunter von philosophischer oder auch literaturwissenschaftlicher Seite ausdrücklich flankiert: Martin Heidegger etwa hebt in seinem Beitrag »Europa und die deutsche Philosophie« auf die »Rettung Europas« ab (Heidegger 1993, 31). Ernst Robert Curtius’ Standardwerk Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter stellt auch einen Versuch dar, Zweifel an den einheitlichen geistigen Grundlagen Europas mit einem literarischen Netz auszuräumen. Anders Jacques Derrida, der, in Anknüpfung an die Europa ›ursprünglich‹ eingeschriebene Ambivalenz, (Ver-)Sammlung und Öffnung gleichermaßen unter die Aufgaben Europas zählt (Derrida 1991). Jürgen Habermas hat die Problematik in einer seiner zahlreichen Schriften zum Thema einmal so zusammengefasst: »Von [erg.: Hans Magnus] Enzensbergers Lobgesang auf die europäische Vielfalt – Ach Europa! – bleibt heute nur noch der seufzende Ton« (Habermas 2008, 7). Einen weiteren treffenden Befund verdanken wir Peter Sloterdijk, insofern er gerade in der »bewussten Mittelmäßigkeit« des vielfältigen Europa dessen Stärke erkennt (vgl. Gumbrecht 2019). Noch schwieriger als auf dem philosophisch basierten politisch-geographischen, historischen oder juristischen steht es auf dem kulturellen Feld. Denn hier kommt kein geringerer als der sogenannte europäische Geist ins Spiel: Fasst man Europa als Entität mit vagen Grenzen, aber festem Kern, so wird man behaupten dürfen, dass von ihm (oder ihr) reiche intellektuelle wie ästhetische Impulse ausgehen. Als Stützpfeiler ›der‹ europäischen Idee wurde neben der griechischen Philosophie und der christlichen Religion lange schon das römische Recht ausgemacht. Über eine gewisse Konzentration von Denkern, Dichtern und Kulturschaffenden, die zumal seit dem Renaissance-Humanismus in den Stand kanonischer Autoren erhoben wurden, kann man kaum hinwegsehen. Unter die Gründerfiguren europäischer Kultur und, in deren Mitte, demokratischer Politik werden Perikles und Solon, Platon und Aristoteles gezählt. Doch war es wiederum Friedrich Nietzsche, der für die Schieflagen in einem einheitlich konzipierten Europa

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Platon und vor allem Sokrates mit ihrer sich rasch verbreitenden Auffassung von Wahrheit verantwortlich gemacht hat (Nietzsche 1980, Bd. 5, 112–113). In einer jüngeren Debatte warf der Literaturwissenschaftler Karl Heinz Bohrer dem Historiker Timothy Garton Ash nicht nur vor, zu den rettungslos welt(und dadurch auch europa-)fremden Identitätsfanatikern zu gehören, obwohl Europa doch wesentlich auf Differenz beruhe (Berliner Zeitung vom 11.6.2014); damit knüpft er an die Europa von Beginn an eingeschriebene Paradoxie der Vielfalt in der Einheit – oder umgekehrt – an, die sich noch im aktuellen Wahlspruch der Europäischen Union, in varietate concordia, dokumentiert. Bohrer zählt Ash, mit BernardHenri Lévy (2014), auch zu denjenigen, die dem Missverständnis erlägen, hinter den »Wörtern«, die Europa ausmachten, verbärgen sich »Ideen«, obwohl es sich in Wahrheit um ein »Gedicht« handele: »Europa ist ein Gedicht«. Was aber sollten diese Ideen sein, und welches sind Form und Tenor des Gedichts, kurz: Was sind das für Wörter, aus denen Europa besteht? Auf welche Weisen wurde die Vergangenheit bisher reorganisiert, um ›die europäische Welt‹ zu erzeugen und ihren Platz im globalen System zu bestimmen? Hier dürfen nicht nur die »Denker«, sondern erst recht die »Dichter« zu Rate gezogen werden, auch deshalb, weil die europäischen Wurzeln einiger prominenter Figuren aus der kanonischen antiken Literatur immer wieder bezweifelt worden sind. Man nehme schon Homer, den der Dichter Raul Schrott als kilikischen Kastraten überführen wollte, nicht zuletzt, um eurozentrischen Phantasien zu Leibe zu rücken (Schrott 2008). Doch so harsch korrigierend muss man gar nicht in die – zugegeben spärliche und schwierige – Überlieferung eingreifen, um zu entdecken, wie komplex die Legierung aus west-östlichen Einflüssen an Europas Wurzeln immer schon gewesen ist; man denke nur an den mythischen Gründerhelden Roms, den Venus-Sohn Aeneas, der sich aus dem kleinasiatischen Troja in den Westen absetzte, was der »Vater des Abendlandes« (so der berühmte Buchtitel Theodor Haeckers), Vergil, in seinem Nationalepos, der Aeneis, dahingehend umzudeuten wusste, dass am ersten Grunde ein ›uritalischer‹ Ursprung festzumachen sei. Die Griechen der Antike mögen insgesamt weniger Probleme damit gehabt haben, externen kulturellen, vor allem ›östlichen‹ Einflüssen unterworfen zu sein: Identitäts-Konflikte wurden dadurch nicht zwangsläufig ausgelöst. Doch auch die bei allem nationalen Bewusstsein hinreichend weltoffenen Römer begriffen sich und ihr Imperium Romanum im besten Sinne als einen kulturellen

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VI  Rezeption  –  E  Ovid – Europa – Moderne

melting pot. Hier findet auch das Bewusstsein um die eigene Epigonalität seinen Platz: Es ist die römische Literatur, die lange Zeit gleichsam als Inbegriff des Epigonalen, Nachgemachten, Zweitklassigen galt. Die Lektüre lateinischer Texte ist folglich besonders geeignet dafür, den vielschichtigen »genetischen code« (Möller 2016, 2) der europäischen Kultur zu begreifen, wenn es einen solchen denn gibt. Und hier ist der ideale Einsatzort Ovids – irrt Hans Blumenberg doch keineswegs mit seiner eingangs zitierten, wenn auch zugespitzten Einschätzung. Aus dem üppigen Material der verschiedenen externen und internen, einander überlagernden Kulturwelten hat Ovid »ein ästhetisches Zeichensystem geschaffen«, das ihn als »Schlüsselfigur« des alten (antiken) und neuen (nachantiken und modernen) Europa qualifiziert (Möller 2016, 3). Den Anverwandlungen der tradierten Mythen, wie er sie in seinen Werken, vor allem den Metamorphosen und den Fasti, entfaltet, kommt dabei eine tragende Rolle zu. Ovid ist es gelungen, mit seinen Versionen Traditionen zu stiften. So hat er in seiner eigenen, subtilen Weise am differenzierten »Gedicht« Europa mitgeschrieben. Und die Königstochter befindet sich mitten drin – oder nicht?

85.2 Der Mythos: Kontinent und Königstochter Obwohl, wie eben gesehen, bereits früheste Zeugnisse von einer schlichten Identifikation der entführten Königstochter mit dem gleichnamigen Erdteil absehen, haben viele Autoren den gemeinsamen Mythos fortgeschrieben. Daher ist die so unglückliche wie fruchtbare Verquickung beinahe so alt wie der Mythos der Europa selbst. Auch Herodot, Horaz und Ovid bringen die Assoziation ins Spiel, und sei es ex negativo. Das kommt nicht zuletzt in den bereits zitierten Beschreibungen der Fluchtrouten der entführten Europa zum Ausdruck, vor allem, soweit sie mit dem Umfang des Kontinents korrelieren. Stets erweist sich Europa als Bezugsgröße oder Vermessungsrahmen: Lässt Horaz (c. 3, 27) Europa noch über die Hälfte der Welt verfügen, ist es bei Ovid nur noch ein Drittel (Fasti 5, 618: parsque tuum terrae tertia nomen habet – »Der dritte Teil der Welt trägt deinen Namen«); der Verlust wird sich bei anderen Autoren fortsetzen; ganz aus den Erzählungen verschwinden wird der Kontinent mit dem variablen Umfang jedoch nie. Seit die in der Zeit zwischen Antike und Mittelalter vernachlässigte Entführungsgeschichte wieder belieb-

ter wurde, hat z. B. der populäre Ovide moralisé auf die alte Verbindung von Frau und Festland zurückgegriffen; dort heißt es, ähnlich wie in Ovids Original in den Fasti, dass Jupiter den dritten Teil der Welt mit dem Namen seiner Liebsten »Europa« benannt und ihn ihr überdies vermacht habe (»Jupiter dou non de s’amie / Sornoma la tierce partie / dou monde, et Europe l’apele / si fist de li don la bele«). Ähnlich hält es Giovanni Boccaccio in der kleinen Abhandlung De Europa Cretensium regina, die in de claris mulieribus aufgenommen ist: [erg.: affirmantes] ab eius nomine Europam partem orbis tertiam in perpetuum nuncupatam. [...] quam profecto ego insignem virtutibus mulierem, non solum concesso orbi nomine arbitror, sed a spectabili ex ere statua a Pictagora, illustri philosopho, Tarenti Europe dicata nomini. »[... indem sie versichern], dass nach ihr das Europa benannte Drittel der Welt für alle Ewigkeit seinen Namen bekommen habe [...]. Dass sie wirklich eine Frau von besonderen Gaben war, möchte ich nicht nur daraus schließen, dass man ihren Namen einem Erdteil gegeben hat, sondern auch aus der Tatsache, dass der berühmte Philosoph Pythagoras in Tarent eine prächtige Statue auf ihren Namen geweiht hat.«

Hier wird die Außergewöhnlichkeit Europas hervorgehoben und als Legitimation für den übergroßen Ruhm auch in topographischer Hinsicht herangezogen, wobei die philosophische Fundierung der zusätzlichen Autorisierung dient. Auch wird die ewige Dauer des Kontinents in augenfälliger Weise betont. Die Personalunion lebt fort in den vielfältigen bildlichen Darstellungen der Allegorie Europas, welche oftmals christlich überformt sind. Neben einer friedlichen Europa gibt es allerdings eine kämpferische (Europa promachos), und auch in dieser Ambivalenz überlagern Einheits- und Vielfaltskonzepte, ›friedliche‹ und gewaltsame Annexionsprozesse einander. In jeder dieser Versionen ist die (einigermaßen klischeebeladene) Weiblichkeit des Kontinents von tragender Bedeutung, und diese wird wiederum häufig auf die Präfiguration durch die Königstochter bezogen. Auch hier scheinen zwei Facetten auf, ein triumphierender und ein lamentierender Gestus. Nicht zuletzt geht von Europa, mit Friedrich Nietzsche zu sprechen, aber auch eine große Verführungskraft aus (Nietzsche 1980, 177–178): »Furcht und Mitleiden: mit diesen Gefühlen stand bis-

85  Ovid und Europa her der Mann vor dem Weibe, immer mit einem Fusse schon in der Tragödie, welche zerreisst, indem sie entzückt –. Wie? Und damit soll es nun zu Ende sein? Und die Entzauberung des Weibes ist im Werke? Die Verlangweiligung des Weibes kommt langsam herauf? Oh Europa! Europa! Man kennt das Thier mit Hörnern, welches für dich immer am anziehendsten war, von dem dir immer wieder Gefahr droht! Deine alte Fabel könnte noch einmal zur Geschichte werden, – noch einmal könnte eine ungeheure Dummheit über dich Herr werden und dich davon tragen! Und unter ihr kein Gott versteckt, nein! Nur eine ›Idee‹, eine ›moderne Idee‹!«

Die erotische Ausstrahlung soll ja schon im alten Mythos der Auslöser für den sogenannten ›Lustraub‹ durch Jupiter gewesen sein, der sich an der Küste von Sidon oder Tyros im heutigen Libanon ereignete, und den neben Ovids Texten die Erzählungen des Herodot (s. o.) und des Moschos verbürgen. Von einer »Europa«, die Tochter des Phoenix und Geliebte Jupiters sei, weiß schon Homers Ilias zu erzählen; bemerkenswerterweise ist sie hier Teil einer vergleichenden Auflistung, mit der Jupiter seine Gattin Hera von der Größe seiner Liebe zu ihr überzeugen will: »Denn so sehr hat keine der Göttinnen oder Weiber / Je mein Herz im Busen mit mächtiger Glut mir bewältigt: weder [...] noch auch Phönix’ Tochter, des ferngepriesenen Königs, / Welche mir Minos gebar und den göttlichen Held Rhadamanthys« (Ilias 14, 312–328). In der Erzählung des Moschos, die aus der Mitte des zweiten Jahrhunderts v. Chr. stammt, ist der Bezug zum Kontinent besonders ausgeprägt und ebenfalls mit agonistischen Elementen ausgeschmückt, in denen Vertrautes und Fremdes gegeneinander ausgespielt werden, etwa in den Versen 1–36, wo der durch Venus inspirierte Traum der Europa geschildert wird. Dort heißt es: »Und ihr (sc.: Europeia) däucht’, als stritten um sie zwei Länder der Erde, / Asia und was entgegen ihr steht, wie Frauen erscheinend. / Fremd war die eine von Art, die andere aber war heimisch / Anzuschaun, vorstrebend, die eigene Tochter zu halten« (Übersetzung nach Renger 2003, 26). In der berühmten Version aus Ovids Metamorphosen (met. 2, 833–875; vgl. fast. 5, 603–620) ruht der Blick von Protagonistin und Lesern auf der schönen äußeren Gestalt des Stieres, den Jupiter verkörpert, um die ahnungslose Königstochter zu überlisten. Die Perfektion des vertierten Gottes kommt in Beschreibungen wie »handgemacht« (manu facta) oder »hellstrahlend« (perlucida) für seine Hörner zum Ausdruck. Kunst und Wirklichkeit sind nicht zu unter-

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scheiden, schon gar nicht für das Opfer, Europa. Diese erliegt denn auch rasch dem Wunderstier, und als sie ihn berührt, wie um sich von seiner Wirklichkeit zu überzeugen, ihn streichelt und schmückt, ist es auch schon um sie geschehen: Unversehens findet sie sich auf seinem Rücken wieder und wird im Eiltempo davongetragen. Erst am Reiseziel, Kreta, zeigt sich der Göttervater in seiner wahren Gestalt, um seine Lust am begehrten Objekt zu befriedigen. Von einer Reaktion der Europa ist keine Rede – jedenfalls nicht aus ihrem Munde, sie scheint für immer verstummt. Erst im sechsten Buch wird ihr Schicksal, als Teil eines Kunstwerks, ausgestellt, und zwar auf dem vollendeten Teppich der Arachne, die in ihrem kühnen Wettkampf um den Weberinnenthron mit der rasenden Minerva kein Tabu kennt, wenn sie die Götter vorführt, wie sie in vornehmlich erotische Händel verstrickt sind. Hier findet sich auch Europas Schicksal kommentiert, denn man sieht sie, explizit verängstigt, auf dem Rücken des Stieres entschwinden. Arachnes Darstellung jedenfalls bestätigt, dass der Stier täuschend echt wirkte und Europa gar nicht anders konnte, als ihn für einen solchen zu halten. Einmal mehr hat die Kunst den Sieg über die Natur errungen. Das ist aber nur eine mögliche Deutungsfacette; die Geschichte Europas lässt sich auch ganz anders akzentuieren, jenseits göttlicher Lust und künstlerischer Perfektion, wie Joséphine Jacquier in ihrem Beitrag zeigt (s. Kap. 61): Eine junge Frau wird aus ihrem sozialen Umfeld gerissen und verschleppt. Im achten Buch der Metamorphosen lesen wir, dass Europa dem Jupiter infolge der diskreten Vergewaltigung König Minos von Kreta geboren hat, den der Mythos als Ahnherrn der minoischen Kultur vorstellt (met. 8, 120), und dessen Gattin Pasiphae ihn wiederum mit einem Stier hintergeht. Neben Minos gehen aus der unfreiwilligen Verbindung mit ›Vater‹ Zeus/Jupiter noch zwei weitere Söhne hervor. Zwei der drei Söhne, Minos und Rhadamanthys, sollen sich ausgerechnet aufgrund ihrer Gerechtigkeit so großes Ansehen erworben haben, dass sie zu Unterweltrichtern erhoben wurden (zusammen mit ihrem Halbbruder Aiakos, wohingegen der leibliche Bruder Sarpedon in der Hades-Judikative keine Rolle spielte). Über all dem verliert Prinzessin Europa selbst ihre Identität, sie wird komplett entwurzelt. Auf der Suche nach Europa gründet ihr Bruder Cadmus zwar das für die antike Kultur bedeutende Theben (met. 3, 1–137); mit Blick auf das eigentliche Ziel, die Schwester zu finden, bleibt die Suche zu Beginn von Buch 3 jedoch erfolglos, Europa ist unauffindbar. Ihr Name wird auch hier zum

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VI  Rezeption  –  E  Ovid – Europa – Moderne

Kontinent (met. 5, 648), und so kann man sagen, dass sie in gewisser Weise in den Schoß von Mutter Erde zurückkehrt; doch bleibt diese Deutung schieflagig, da sie ihrer eigentlichen mythischen Bestimmung, die Arachne auf dem Teppich künstlerisch umgesetzt hatte, entzogen wird. Sie ist ›ihrem‹ Mythos enthoben worden, um zum, ästhetisch eher beiläufigen, Mythologem eines anderen zu werden. Europa ist zum unauffälligen Teil des thebanischen Mythenzyklus geronnen; Ovid hat die Gewalt, die über Europas Schicksal liegt, auch sprachlich-syntaktisch entfaltet und ihr einen Schemen verliehen, der so konturlos ist wie der Kontinent – und insofern ist es eben doch sinnfällig, dass beide einander überlagern. Auf diese Weise hat vor allem Ovid dazu beigetragen, dass die Prinzessin und ›ihr‹ aufdringlicher Stier, scheint es, nicht leicht aus der Welt zu schaffen sind. Als zugleich kulturelles, zugleich symbolisches Kapital dafür mag die griechisch geprägte Zwei-Euro-Münze herhalten, auf der sie, eine unzertrennliche Einheit, durch ›ihre‹ Lande jagen, um dessen Grenzen im monetären Transfer mit beharrlicher Konsequenz zu überschreiten.

85.3 Ovids Europa(s) in der Rezeption Kontinuität und Wandel, Einheit und Vielfalt, Bruch und Überschreibung – der Prozess der Metamorphose verkörpert in Ovids Œuvre, vor allem in dem gleichnamigen Hauptwerk, eine Art Meta-Prinzip, das seinerseits eine – durchaus nicht ungebrochene – Tradition gestiftet hat, welche primär, aber nicht ausschließlich in Europa wirksam geworden ist. Innerhalb dieser Tradition behauptet auch der janusköpfige Mythos der Europa einen seiner wirkmächtigsten Standorte, von hier aus hat er sich dem Kontinent mit der Königstochter auf dem Rücken eingeschrieben. In der Engführung von Gewalt und ästhetischer Ikonisierung legt dieser Mythos zusammen mit einigen anderen zudem ein – im besten, nämlich kreativen Sinne des Wortes – beunruhigendes Fundament europäischer Imagination frei. Da die Rezeption der einzelnen Werke Ovids in den verschiedenen Phasen der Literatur- und Kunstgeschichte in den entsprechenden Lemmata des Handbuchs abgehandelt wurde, sollen hier nur einige besonders auffällige, in ex- oder impliziter Weise auf das metamorphotische Gebilde Europa beziehbare Aspekte aufgegriffen werden. Der exakte Umfang des Einflusses von Metamorphosen, aber auch von Fasti und Ars amatoria auf Lite-

ratur und Kunst, auf Kultur und Wissenschaft in ihren verschiedenen Spezialisierungen lässt sich kaum ermessen; wiewohl der Einfluss im Laufe der Zeiten schwankte, ist er kaum je wirklich zum Erliegen gekommen. Sogar in der Medizingeschichte hat nicht nur Vergil, sondern auch Ovid einen spürbaren Einfluss hinterlassen (in ironischer Brechung z. B. erscheint Ovid als »ce grand médecin« in Molières »Le médecin volant« [Molière 1912]). Die Metamorphosen werden als ein modernes Labor der condicion humaine rezipiert, in welchem die Menschenwelt in all ihren vorstellbaren und unvorstellbaren Facetten experimentell ausgelotet und in ihren Grenzen abgeschritten wird. Erinnert sei in diesem pointierten Rückblick zunächst an den gewaltigen Einfluss der Metamorphosen Ovids auf die bildenden Künste. Neben der Bibel sind sie es, die Verwandlungssagen, die Stoffe und Formen, Kontexte und Hintergründe liefern, ohne diese doch in einer Weise zu erschöpfen, die späteren Darstellungen keine Variationsmöglichkeit mehr übrig ließe. Ovid beherrscht die Profanikonographie der Frühen Neuzeit geradezu, was ihr Vorkommen auf den unterschiedlichsten Kunst- und Gebrauchsgegenständen dokumentiert (vgl. Kap. 53). Auch durch diese breite Rezeption werden Ovids Texte zum Auslöser einer vielschichtigen Auseinandersetzung mit dem aus der Antike überkommenen Wissen. Im Zentrum stehen einmal mehr die Mythen, die dabei weitgehend rationalisiert und allegorisch interpretiert werden, um ihnen naturphilosophische oder moralische Botschaften abzuringen. Diese Tendenz hat langfristig zu einer Verharmlosung der ›Gefährdung‹ durch ihre heidnische Verführungskraft beigetragen. Auf der anderen Seite korrespondiert der Allegorisierung ein rasanter Anstieg historisierender Darstellungen von teilweise auch entlegenen Mythen. Ein christlich-moralisierendes wird konterkariert durch ein laszives Europa, das seine Kunst in erotischer Hinsicht mit großer Freizügigkeit gewähren lässt. An zentralen Stellen findet sich der überkreuzte Mythos von Europa zwischen Stier und Kontinent. Insofern liegt auch die Spinnenfrau, Ovids Arachne, richtig, wenn sie die und das Europa zum integralen Bestandteil ihres frivolen Kunstwerks macht. Immerhin wurden Bilder erotischer Mythen auch für politisch-repräsentative Zwecke eingesetzt, eine Eigenart der Kunst des frühneuzeitlichen Europa, die sich Michael Thimann zufolge außerhalb des Kontinents nicht in vergleichbarer Weise dokumentieren lässt (vgl. auch Thimann 2002). Von herausragender Bedeutung für den kunsthistorischen europäischen Ovid waren ohne Zweifel Aby

85  Ovid und Europa

Warburgs Forschungen zum Nachleben der Antike in den unterschiedlichsten Bereichen der abendländischen Kultur bis in die Renaissance, wobei Warburg die Objekte der Kunst stets als Teil menschlicher Kultur- und Sozialgeschichte deutete. Die Mythen, vor allem die Verfolgungs- und Vergewaltigungserzählungen, wie Ovid sie in seinen Metamorphosen verewigt hat, fasst er als Archetypen auf (vgl. Kap. 53). Solche Archetypen rezipiert, breiter und konsequenter noch, die Literatur, und Ovid selbst inszeniert sich, in literaturgeschichtlicher Wendung, als ein Arche- oder Prototyp. Seine – aus zeitgenössischer römischer Perspektive – gesamteuropäische Wirkung hat er selbst verbürgt, z. B. in den in der Exilzeit entstandenen Tristien (3, 7, 51–52): Dumque suis victrix septem de montibus orbem prospiciet domitum Martia Roma legar. (»Solange das Rom des Mars siegreich von den sieben Hügeln auf den bezähmten Erdkreis herabblickt, werde ich gelesen.«)

Noch universalistischer der Anspruch in den früheren Remedia (363–364): Dummodo sic placeam, dum toto canter in orbe, qui volet, impugnent unus et alter opus. (»Solange nur ich so gefalle, solange ich auf der ganzen Welt gesungen werde, mag der eine oder andere, der Lust dazu hat, mein Werk bekämpfen.«)

Spätere Autoren bezeugen, dass der globale Anspruch Wirklichkeit geworden ist, so etwa Johannes von Salisbury in seinem Policraticus (1090, 206), der allerdings, vergleichbar Petrarca in seiner vita solitaria (2, 7, 2), eine kritische Absicht hegt: ille qui non urbem sed orbem lascivis implevit amoribus (»jener berühmte Dichter, der nicht nur die Stadt [Rom], sondern den Erdkreis mit seinen frivolen Liebesgedichten angefüllt hat«). In zweckgebundenen Umdeutungen wie dem Ovide moralisé findet solche Kritik ihren Widerschein. Auch dahingehend ist die Rezeption Ovids prägend für Europa, dass er die Gemüter von jeher gespalten und für hitzige Debatten gesorgt hat. Während man sich etwa im elisabethanischen England besonders für die androgynen Gestalten der Metamorphosen begeistern konnte, sorgte im 19. Jahrhundert vieles als ›widernatürlich‹ Stigmatisierte für Unmut. Zu Ovids schärfsten Kritikern deutscher Zunge zähl-

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ten Wieland, Herder und Schiller, wiewohl sich zumal Letzterer, hierin Hölderlin vergleichbar, doch gelegentlich auch von Ovids Texten inspirieren ließ; schließlich spaltete Ovid sogar Familien, wenn man August Wilhelm Schlegels Geringschätzung Friedrichs Bewunderung gegenüberstellt, wie er sie immerhin in seiner Geschichte der europäischen Literatur von 1803/04 artikuliert. Ähnliche Widersprüche lassen sich in verschiedenen ›National‹-Litera­turen und -Philologien feststellen. Eminent war Ovids Einfluss auch auf einen anderen bedeutenden ›Europäer‹, nämlich Johann Wolfgang von Goethe (vgl. dazu Kap. 52). In Dichtung und Wahrheit vermerkt er im Schmunzelton (Teil 2, Buch 10: Goethe 1912, 319–320): »[Herder] hatte mir den Spaß an so manchem, was ich früher geliebt, verdorben und mich besonders wegen der Freude, die ich an Ovids Metamorphosen gehabt, auf’s strengste getadelt. Ich mochte meinen Liebling in Schutz nehmen wie ich wollte, [...] das alles sollte nicht gelten, es sollte sich keine eigentliche unmittelbare Wahrheit in diesen Gedichten finden; hier sei weder Griechenland noch Italien, weder eine Urwelt noch eine gebildete, alles vielmehr sei Nachahmung des schon Dagewesenen und eine manirierte Darstellung, wie sich sie nur von einem Übercultivirten erwarten lasse [...].«

Für Goethe wie für diverse andere Schriftsteller steht Ovid Pate für Symbiosen und Grenzgänge, für die Kippfiguralität von Natur, Kultur und Geschichte und, nicht zuletzt, von Mythos und Aufklärung, worin sich auch das überkommene Mythos-Logos-Phänomen spiegelt, dem doch niemals eine echte Polarität zugrundegelegen hat. So unterschiedliche Autoren wie Chaucer, Marlowe, Dryden oder Swift knüpfen an diese Facetten der Metamorphosen an; man denke jedoch auch an den in seinen späteren Jahren aus den USA nach Europa umgesiedelten T. S. Eliot, in dessen Wasteland sich substantielle ovidische Echos finden (s. Kap. 59 und 80), oder an Ted Hughes mit seinen Tales from Ovid. Hinzu kommen weitere anglophone Gegenwartslyriker wie Seamus Heaney oder Carol Ann Duffy, deren auf die Metamorphosen fokussierte Fortdichtungen in der Anthologie After Ovid. New Metamorphoses (London 1994) versammelt sind; darin enthalten ist auch ein von Simon Armitage verfasstes Gedicht über Jupiter und Europa, das zwar die Bitterkeit der Flucht-Wellen betont (»The waves have not the taste / of wine«), aber doch auch keinen Zweifel am

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VI  Rezeption  –  E  Ovid – Europa – Moderne

ewigen Fortleben gerade dieses Mythos lässt (»or where he covered her / beneath a type of tree, / that tree was evergreen«: 83). Ovids inventorisches Potential wird schließlich auch von streitbaren Zeitgenossen wie Ezra Pound gerühmt, der sein Werk in den Rang einer religiösen Schrift katapultiert (»Say that I consider the Writings of Confucius, and Ovid’s Metamorphoses the only safe guides in religion«: Paige 1951, 250, und ähnlich Pound [1968], 272: »Ovid, I keep repeating from one decade to another, is one of the most interesting of all enigmas – if you grant that he was an enigma at all«). Des Römers Urbanität bezeugt Pound wie nebenbei (Pound 1910, 6): »Ovid – urban, sceptical, a Roman of the city – writes, not in a florid prose, but in a verse which has the clarity of French scientific prose.« Ähnliche Beobachtungen sind in den Litera­ turen anderer europäischer Nationen verstetigt: Andromache fesselte Baudelaire, Perseus Jules Laforgue, Orpheus Garcia Lorca, Philemon mit Baucis Italo Calvino und Ernst Jünger, Ariadne mit und ohne Theseus Sylvia Plath, Hélène Cixous die am Haupte der Medusa vollzogene écriture féminine (vgl. Kap. 65, 69, 71, 73 und 79 ). Kaum zu unterschätzen auch der Einfluss auf die polnische Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk (vgl. Kap. 58) oder, politisch gewendet, auf die SolidarnośćBewegung (vgl. Kap. 40). Auch Island hat Naso erobert, wie die Caeneus-Variationen in Sjóns Roman verraten (vgl. Kap. 80). Hinzu kommen die tiefenpsychologischen Spuren, die die bacchantischen Mythen um Orpheus oder Pentheus (vgl. Kap. 69) sowie, vor allem, der des Narziss in der Psychoanalyse und der von ihr gleichsam infizierten Dichtung (Rilke, Mayröcker, Jelinek) oder der Künstlermythos um Pygmalion hinterlassen haben. Aber bleibt nicht eigentlich Vergil der »Vater des Abendlandes« und daher ›der‹ europäische Dichter, mit oder nach oder neben Homer, versteht sich? Zumal das Verhältnis der beiden römischen Autoren zueinander ist durchaus von Belang für ›Europafragen‹, jedenfalls für die Spannungen, die in ihnen liegen. In gewisser Hinsicht nämlich scheint in ihrem Vergleich eine Art Agon um die Frage zu gründen, welcher Dichter das polyphone Europa eher zum Ausdruck bringt. Nicht nur Rudolf Alexander Schröder hat sich für Naso entschieden: »Das Gegenbild des Vergil ist in dieser Hinsicht Ovid, das größte, reichste und zugleich facilste Talent der römischen Literatur, das die Formeln für alles sagbare und Unsagbare nur von den ewig grünenden Bäumen seiner Begabung herabzuschütteln brauchte, nur hin-

zufassen brauchte, um die runde, reife, duftende Frucht des ›apte dictum‹ in Händen zu halten [...]« (Schröder 1952 ff., 173–174).

Ovid steht im Zentrum einer so fruchtbaren wie (selbst)kritischen, ihre eigenen Grenzen beständig aufs Neue auslotenden Literaturrezeption. In den Metamorphosen vor allem wird Ovid zum Motor einer nicht-geschichtlichen, anthropologisch-ästhetischen Weltauffassung. Auch das macht ihn für eine Europafokussierung besonders interessant, insofern diese ihre überzeitlichen, grenzgängerischen, selbstkritischen Elemente mitreflektiert. Darauf wird bei der Exildichtung noch einmal zurückzukommen sein. Wie ist es nun um die ›europäische‹ Ausstrahlung von Ovids anderen Werken bestellt? Auch das Genre der Heroidenbriefe hat seine Nachahmer gefunden. Die im Text entfaltete persuasive Rhetorik war dabei von größerem Interesse als die erotischen Stoffe: Christliche Autoren haben sich das überlieferte Textmaterial oftmals mit mythenkritischen Ambitionen anverwandelt und ent-erotisiert, was sich z. B. in den abstrakten Allegorisierungen Jakob Baldes beobachten lässt. Jost Eickmeyer beobachtet in seinem Beitrag ein allgemein sinkendes Interesse an den Heldinnen zumal im Deutschland des 18. Jahrhunderts, für das auch Wieland mit seinem unterkomplexen Ovid-Bild verantwortlich zeichne. Eine beachtliche Renaissance erlebt der Text des Ovid in moderner und postmoderner Literatur: Das von Annette Pehnt in Auseinandersetzung mit den Heroides entwickelte Existential der Trennung wird zur unhintergehbaren Bedingung des Schreibens und erzwingt gleichsam einen Dialog – mit wem auch immer. Auch dies ist eine von Ovid geprägte ausdrucksstarke Form weiblichen Protests gegen die männliche Dominanz in der Literaturgeschichte (vgl. Möller 2020b). Zum Ahnherrn europäischer Erotik ist Ovid nicht nur durch die Heroides oder die Metamorphosen, sondern vor allem durch sein genuin erotisches Werk geworden, zu welchem neben den Amores und den Medicamina faciei femineae, die in der Rezeption eine geringere Rolle spielen, die Ars amatoria gehört. Für Durs Grünbein – und nicht nur für ihn – ist die Ars amatoria einer der bedeutendsten Texte, mindestens aber »das einflußreichste Lehrgedicht der Antike« (Grünbein 2019, 206). Dass der poetische Ratgeber schon den Nerv seiner Zeitgenossen traf, ist verbürgt, nicht nur durch das aufgeregte Interesse der Leserschaft, sondern auch durch die Empörung des Augustus, der hier, nicht zu Unrecht, die Gefahr sah, sein

85  Ovid und Europa

Imperium Romanum, das Zentrum der alten europäischen Welt also, könne sich mit Haut und Haaren der Liebe verschreiben anstatt Politik zu machen. An Michel Foucault geschulte Augen mögen hier die Mechanismen einer »Ökonomie des Begehrens« am Werk sehen, die nicht nur der eigentliche Motor der Weltwirtschaft ist, sondern auch eine veritable Konkurrenz zur Weltpolitik darstellt (Grünbein 2019, 207–208). Freie Liebe (faktisch nur eingeschränkt frei) anstatt politischen Engagements – diese Provokation bleibt in der Rezeption der Literatur Ovids in der europäischen Geistesgeschichte auch subkutan spürbar. Gerade deswegen wurde die Rezeption der Ars im Laufe der Jahre immer wieder unterdrückt, sie vollzog sich in Schüben und liegt sozusagen am Grunde des, in der Deutung Foucaults, seit Augustinus zugespitzten Ringkampfes zwischen concupiscentia oculorum und scientia sexualis: Ovids Werk verkörpert beides und entzieht der Dichotomie eigentlich schon ante litteram die Grundlage. In die zumal deutschen Schulbücher hat Ovids erotisches Werk indes erst mit der sogenannten sexuellen Revolution in den 1970er Jahren Einzug gefunden, konnte jedoch den im Einzelnen viel drastischeren Metamorphosen gleichwohl nie den Rang ablaufen: Auch dies mag als bezeichnend angesehen werden für eine europäisch-christliche Tradition der Unterdrückung der Lust zugunsten von Gewalt. Die didaktische Karriere der Werke Ovids von Klassikern im Mittelalter über Randfiguren in der Frühen Neuzeit und ihr Wiedererstarken im Neuhumanismus hat Stefan Kipf in seinem Beitrag ausführlich nachgezeichnet (vgl. Kap. 46). Auffällig für die ›Europafrage‹ scheint dabei, dass die Metamorphosen in Preußens Bildungsplänen als Propädeutikum für die heroischere Aeneis des Vergil vorgesehen waren, wobei sich aber doch einige kanonische Mythen herausgelöst haben (Daedalus und Icarus, Pyramus und Thisbe, die lycischen Bauern etc.). Dass die Nationalsozialisten weder mit den bereits kanonisierten Stoffen noch überhaupt mit einem der Werke Ovids etwas anzufangen wussten, spricht wiederum für sich und den petrifizierten Geist des Europa jener Zeit. Neben der recht konkreten, praktischen Rezeption bleibt Ovid auch in kreativer, produktionsästhetischer Hinsicht ständiger Stein des Anstoßes. Er regt zur Nachahmung an, verlockt aber mehr noch zur aemulatio, dem Prinzip, das auch ihn selbst nachhaltig geprägt hat. Eine für eine bestimmte Façon europäischer Literatur vielleicht besonders aussagekräftige Entwicklung vollzieht sich mit Blick auf Ovids Exilliteratur, seine während der Verbannung entstandenen Elegiensam­

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mlungen der Tristien und Epistulae ex Ponto. Immer wieder gab und gibt es Bezugnahmen, die die kreative Spannung zwischen der globalen Aura der Metropole Rom und dem provinziellen Schwarzmeerort am Rande der Welt, die Ovid selbst mit so kräftigen Farben ausmalt, aufgreifen und mit ihnen weiterdichten, so etwa schon zu beobachten bei Angelo Poliziano in seiner Elegia de exilio et morte Ovidii von 1493/94 (1727, 233; in Vers 2 heißt es bündig: Romanum vatem barbara terra tegit, »den römischen Dichter bedeckt die fremde Erde«). Seinen (auch metaphorischen) Status als »outcast« bezeugt sogar Shakespeare in »The Taming of the Shrew« (Munro 1958, 81). Gerne vergleichen Autoren ihr eigenes Schicksal mit dem Ovids, wobei man sich in der aufgeklärten deutschen Literatur z. B. moralisch von ihm abzusetzen weiß, wie Gottsched demonstriert: »Ich bin dein Ebenbild, mein Freund, Ovidius! / Weil ich so wohl, wie du, mein Land verlassen muß. / Wiewohl wir sind uns nicht in allem zu vergleichen: / Weil du die Flucht verdient, ich ohne Schuld muß weichen« (Gottsched 1751, Vorrede). Hatte man den in Ovids Exilelegien – gattungsmäßig durchaus angemessenerweise – vorherrschenden Lamento lange Zeit überwiegend als ›unheroisch‹ stigmatisiert, so gewinnen die Texte im 19. und vor allem 20. Jahrhundert an Popularität. Das ist auch dem gewandelten, ent-heroisierten Menschenbild geschuldet, aber natürlich ebenso durch die historisch-politischen Erfahrungen und Auseinandersetzungen mit dem Thema Exil bedingt, wie sie durchaus nicht nur, aber vielleicht vor allem Gegenstand verschiedener europäischer Nationalliteraturen geworden sind, jedenfalls soweit es die Bezugnahmen auf Ovid angeht: Ist es doch vornehmlich Ovid, der mit seinen zwischen Autobiographie und Traumatologie oszillierenden Texten zum Prototyp des im und am Exil Leidenden geworden ist. Beeindruckend die Zahl der konstruktiven wie kritischen Referenten, darunter Jozsef Brodsky (der sich auch für den wetterwendischen Gott Vertumnus aus den Metamorphosen erwärmte) und Edward Said, aber auch Paul Celan mit seinem »Pontischen Einstmals« oder Marcel Beyer mit dem Gedicht »Taistra« (Beyer 2014; vgl. dazu Kap. 51). In David Maloufs und Christoph Ransmayrs Romanen wird der Exilierte nicht nur zum »Archegeten des modernen Flüchtlings« (Doren Wohlleben in Kap. 51), sondern gleichsam auch zu einer Art geheimem Begründer der Postmoderne. Das hat seinen Grund nicht zuletzt in dem komplexen Spiel des exilierten ego mit seinen literarischen personae, die die Grenze zu einem wie immer gearteten Außerliterarischen beständig zu streifen

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VI  Rezeption  –  E  Ovid – Europa – Moderne

scheinen. Es ist die mit Blick auf den Rom-Verlust drohende Sprach- und »Weltlosigkeit«, ja, die »Entwirklichung« der Umgebung (Bronfen 1993, 170), die den im Exil verfassten Selbstentwurf Ovids anschlussfähig macht für spätere, besonders moderne Exilautoren, soweit es sich dabei um einen Versuch handelt, »in narrativer Form das zerbrochene Leben wieder zu einem Ganzen zusammenzusetzen« (ebd., 172). Bei diesem Exil geht es nicht oder doch nicht primär um »historische Realitäten, auch nicht um Fiktion als Selbstzweck, sondern um die Taxierung einer metaphorischen Daseinsbedingung« (Möller 2020a, 60–61). Auffallend häufig ist Europa selbst dabei Medium der Darstellung: bei Ovid zumal indirekt, indem er sich an die Grenzen des römischen Reiches seiner Zeit verbannt sieht – immer auf Tuchfühlung mit dem jenseitigen Raum, dem Außerhalb der damaligen kulturellen Welt, die eine Präfiguration späterer europäischer Konstellationen darstellt. In den moderneren Adaptionen wird daraus Europa in und an seinen Grenzen, werden die Länder, die Europa konstituieren, z. B. in ihrer Nähe zu Asien und Afrika, mitreflektiert. Die fragilen ›Ränder‹ Europas werden von nah und fern taxiert, aus nächster Distanz etwa in Alexander Puschkins Gedicht »An Ovid« von 1821: »Ovid, ich lebe hier in der Nähe der stillen Ufer, / zu denen du einst die verbannten väterlichen Götter / gebracht, und wo du deine Asche hinterlassen hast. / Dein trostloses Weinen hat diese Gegend berühmt gemacht, / und der zärtliche Klang deiner Leier ist noch nicht verstummt. / Noch viel spricht man in dieser Gegend von dir. [...] / Als rauher Slaw habe ich keine Träne vergossen, / aber ich verstehe sie. Als freiwillig Verbannter, / unzufrieden mit der Gesellschaft, mit mir selbst und mit dem Leben, / habe ich nachdenklich jetzt besucht / das Land, wo du einst ein trauriges Leben ertragen hast« (zit. nach Stroh 1969, 104).

Diese Verse sind, so individuell berührend sie wirken, doch auch symptomatisch für die an ein lose gefasstes Europa gekoppelte Ovid-Rezeption: Der Nachhall ist ungebrochen, er hat sich sozusagen in diesen entlegenen Landstrich, der aber doch immer mit Blick auf den Mittelpunkt der Welt fixiert wird, hineingefräst und wird erfahrbar auch aus einem größeren, räumlichen wie innerlich-mentalen Abstand, einer auch in ihrer Feindseligkeit noch »freundliche[n] Distanz« (Gumbrecht 2019), so dass der Funke am Ende doch überspringt. Den konkreten Europamythos führen dabei nicht alle, aber durchaus einige Rezeptionsbei-

spiele im Hintergrund – und darunter befinden sich wiederum durchaus nicht nur biographisch getönte Fälle Exilierter oder Geflüchteter. Vom Rücken des Stieres aus weitet sich der Blick, wie unter anderem im Beitrag von J. Jacquier gesehen, allmählich auch in Richtung außereuropäischer Welten (vgl. Kap. 61). In den 1613/14 entstandenen Soledades des Barocklyrikers und Dramatikers Góngora steht der Europa-Mythos am Anfang einer Reise in den Westen, eines Aufbruchs in die neue Welt, der jedoch von einem Schiffbruch überlagert wird. Das Sternbild der Europa vermag seine hodegetische Funktion jedenfalls nicht zu erfüllen, es geleitet den aufgebrochenen Jüngling nicht sicher ans Ziel. Auch hier ist Europa zugleich als Sehnsuchtsort und Projektionsfläche, zugleich als Figur des Scheiterns und des Verlusts konzipiert. In der Deutung G. Poppenbergs (2009, 186): »Der Gehalt dieser Konstellation der drei Hauptmotive [erg.: erweist sich] vom Anfang des Raubs der Europa an als die Frage nach dem Schicksal, der Bestimmung Europas: zwischen der Herkunft aus Asien, dem Ursprung im Orient, und der Zukunft aus Amerika, dem Fortgang im Okzident.« Hier bereits tritt die Metapher der Leerstelle ins Bild, kann die irrlichternde Europa sich doch nur noch als gleichsam unsichtbarer Schemen im Hintergrund präsent halten. J. Jacquier führt in diesem globalen Zusammenhang ihres Europa-Artikels auch den Essay »Eigentlich darf man es niemandem sagen, aber Europa gibt es nicht« (1996) der in japanischer und deutscher Sprache publizierenden Schriftstellerin Yoko Tawada an, in welchem Europa sowohl als geographische als auch als biographische »Verlust-Figur« angelegt ist: Tawada zufolge ist Europa sogar »bereits im Ursprung als eine Verlust-Figur erfunden [worden]« (Tawada 1996, 49). Auch in ihrer Erzählung Wo Europa anfängt ist Tawada, mit Monika Schmitz-Emans, daran gelegen, »die ungreifbare Europa, diese ›Verlust-Figur‹, zumindest transitorisch an Körperliches zu binden« (Schmitz-Emans 2009). Ovids Europa (Frau und Kontinent) erscheint als verschwommenes Konstrukt, als etwas Ungreifbares, das durch die (entfernte) (An)Sprache Gestalt gewinnen oder doch irgendwie fasslich gemacht werden soll in der gegenseitigen Überlagerung von Eigenem und Fremdem. Diese Perspektive gilt womöglich für jede Referenz auf Europa, auch für ganz vage Bezugnahmen, die letztlich der Bestimmung und Stärkung der eigenen ›nicht-europäischen‹ Identität dienen können. Auch dazu haben Ovids Werke ihren Teil beigetragen. Als eine Parabel auf die komplizierte, an markanten Punkten zum Scheitern verurteilte Ge-

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mengelage persönlicher und politischer Beziehungen im Rahmen der Europäischen Union mag dabei, mit K. Marciniak (s. Kap. 40), Christophe Honorés Film Métamorphoses (2014) angesehen werden. Doch bleiben wir zum Schluss noch bei der außereuropäischen Ovid-Rezeption. Immer wieder sind es sich dezidiert als extern präsentierende Referenzen, die Europas Kampf um die eigene Identität und damit auch gegen die Selbst-Auflösung, gegen das Vergessen motivieren. Wurde nicht bereits der Europa-Bruder Cadmus auch als Erfinder der Schrift gefeiert, welche er als Mittel im Kampf gegen das Vergessen seiner verschwundenen Schwester eingesetzt hatte? So hätte er mit der mythisch verbürgten Angst auch dieser Schwester ernst gemacht und die Schrift vor allem deshalb erfunden, damit er von den Qualen der verlorenen Verwandten erzählen kann, auf dass diese gerade nicht vergessen werde. Europa ist also auch ein Manifest gegen das Vergessen in der Literatur. Dabei geht es, wie gesehen, längst nicht mehr nur um Europa selbst, sondern auch, und stärker noch, um andere Mythen aus Ovids Erzähllabor. Für diesen Kampf gegen das Vergessen, der zugleich als Kampf für die eigene Stimme geführt wird, mag beispielhaft die lateinamerikanische Ovid-Rezeption einstehen: Bei diversen Autorinnen erweist sich die Rezeption Ovids als je autonomer ästhetischer Entwurf mit vielfältigen historisch-regional-generischen und vor allem politischen Verflechtungen. Der Wandel wird dabei gerade in seinen sprachlich-sinnlichen Konfigurationen zu einem Leitmotiv, ob in christlich-typologischer Verfremdung oder in engagierter Poesie. Von herausragender Bedeutung ist das Motiv der Weberin Arachne, die als »Symbolfigur des Widerstandes« (Zepp 2020, 165) konfiguriert ist (eindrucksvoll in Manuel Puigs Roman der Kuss der Spinnenfrau, in welchem politische und generische Freiheit einander überlagern). Nur beiläufig sei daran erinnert, dass Arachne auch Europa ein Denkmal gesetzt hat, weniger als Widerstandskämpferin denn als einem Opfer, das seine hermeneutischen Fehlleistungen post festum erkennt. Spektakulär die Ovid-Rezeption im Werk der brasilianischen Autorin Clarice Lispector. Ovids gewaltreicher ästhetischer Kosmos wird hier zur »Repräsentation weiblicher Erfahrung« (und ihrer Grenzen; Zepp 2020, 167) herangezogen, wobei ein besonderer Fokus auf der literarischen Reflexion der Kategorie ›Frau‹ liegt (mit Helene Cixous’ Thesen zur »Performativität [...] von Geschlecht« gelesen: ebd., 168). Die Texte Ovids halten auch Imaginationsräume bereit für die Überlebenden von Diktatur

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und Gewalt, so für die Opfer der Militärjunta; in dem nach Ovids Vorbild gestalteten Labyrinth findet sich sogar »Platz für die Verschwundenen«. Die Opfer der Gewalt, meistens gefolterte Frauen, erproben mithilfe Ovids die Möglichkeiten, mit dem geschriebenen Wort, das als Widerstandsmittel operationalisiert wird, die Kontrolle über ihren Körper wiederzuerlangen. Doch zeigt Ovid eben auch, in einigen Mythen wie dem der Europa, in den Heroides oder in der Exildichtung, die »Grenzen sprachlichen Mitteilungsvermögens« auf (alle Zitate aus aus Zepp 2020, 176–178). Fassen wir zusammen, was Ovid für Europa bedeutet – und Europa für Ovid: Ovid gehört nicht nur zu den einflussreichsten europäischen Autoren, sondern kann auch als ein Begründer der literarischen Moderne gelten. Im Spannungsfeld zwischen Tradition und Innovation verknüpft er Altes so kunstvoll mit Neuem, dass das Ergebnis als spezifische Prägung seiner Ästhetik erscheint – und die weitere Rezeption maßgeblich bestimmt. Ovid ist gleichsam die Verkörperung des ästhetischen Prinzips, eine Instanz, deren Schreibtätigkeit aller Inspiration vorausgeht (Roman 2014). Bedeutende Autoren wie Homer oder Kallimachos, Catull oder Vergil gehören dabei ebenso zu seinen Spielbällen wie die hohe Politik, nicht zuletzt der Princeps Augustus. Die Metamorphose ist der Dreh- und Angelpunkt der radikalen Formkunst Ovids: In ihrer unauflöslichen Spannung zwischen Dynamik und Statik hält sie sein Werk zusammen, bestimmt sie den Verlauf der Rezeptionsgeschichte. Schließlich kann sie als code für die ästhetische Wandelbarkeit Ovids selbst gelesen werden, der mit allen Gattungen und Formen, mit beinahe dem gesamten verfügbaren Bestand der Literatur, der Kunst und der Wissenschaft experimentiert, um die europäische Kultur, wie aus einer überzeitlich wirksamen Schaltzentrale, dauerhaft zu prägen. Diese seine Langzeitwirkung hat er nicht nur selbst bedacht, sondern auch gesichert. Einige der für diesen autoreferentiellen Gestus einschlägigen Texte sind in diesem und anderen Artikeln des Bandes besprochen. Am Ende sollen aber nochmal die großen Worte des Meisters vom Ende seines Meisterstückes, der Metamorphosen, stehen und, selbst ein Siegel, auch diesen Text zu »Ovid und Europa«, besiegeln (met. 15, 871–879): iamque opus exegi, quod nec Iovis ira nec ignes nec poterit ferrum nec edax abolere vetustas. cum volet, illa dies, quae nil nisi corporis huius ius habet, incerti spatium mihi finiat aevi: parte tamen meliore mei super alta perennis

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VI  Rezeption  –  E  Ovid – Europa – Moderne

astra ferar, nomenque erit indelebile nostrum. quaque patet domitis Romana potentia terris, ore legar populi, perque omnia saecula fama, siquid habent veri vatum praesagia, vivam. (»Nun habe ich ein Werk vollendet, das weder der Zorn Jupiters noch Feuer noch ein Schwert noch das gefräßige Alter wird vernichten können. Wann er will, mag jener Tag, der über nichts als über diesen Körper hier Macht hat, mir die unsichere Lebensfrist beenden: Mit dem besseren Teil von mir werde ich hoch über die Sterne befördert, auf ewig, und mein Name wird unzerstörbar sein, und soweit sich die römische Macht auf der unterworfenen Welt ausbreitet, werde ich vom Volksmund gelesen, und ruhmreich werde ich, sofern an den Vorhersagen der Dichter etwas Wahres dran ist, für immer und alle Zeiten leben.«)

Die »römische« Macht besteht nicht mehr – anders als die Werke Ovids. Sie sind längst an die zentrale Stelle der politischen Potenz gerückt, sie bestimmen die europäische Kultur. Das moderne ›Europa‹ als kulturelles Ensemble wäre so in der Tat nicht nur, sondern auch, wir erinnern uns an Hans Blumenbergs eingangs zitierten Befund und die Kontroverse zwischen Ash und Bohrer, ›Ovids‹ Europa. Ein Europa der Unterschiede. Der Worte. Ein Gedicht. Literatur

Beyer, Marcel: Graphit. Gedichte. Berlin 2014. Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos. Frankfurt a. M. 2006. Bronfen, Elisabeth: Exil in der Literatur. Zwischen Metapher und Realität. In: Arcadia 28/2 (1993), 167–183. Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern/München 1993. Derrida, Jacques: L ’autre cap. Paris 1991. Eickmeyer, Jost: »Domini iure venire iube!« Das Modell der Ovidischen ›Heroides‹ in der deutschen Literatur. In: Melanie Möller (Hrsg.): Gegen/Gewalt/Schreiben. DeKonstruktion von Geschlechts- und Rollenbildern in der Ovidrezeption. Berlin/Boston 2020, 53–82. Englmann, Barbara: Poetik des Exils. Tübingen 2001. Flannery, Tim: Europa. Die ersten 100 Millionen Jahre. Berlin 2019. Goethe, Johann Wolfgang von: Werke. Hrsg. i. A. d. Großherzogin Sophie von Sachsen. 133 Bde. Weimar 1887– 1912, I. Abt. Bd. 27). Gottsched, Johann Christoph: »Vorrede« zur ersten Auflage der Gedichte, abgedr. in der zweiten Auflage, Leipzig 1751. Grünbein, Durs: Ein Klassiker für alle Fälle. In: Ders., Aus der Traum (Kartei). Berlin 2019, 203–209. Gumbrecht, Hans Ulrich: Europa verwaltet bloss noch seinen vergangenen Ruhm. Nie fragt es sich, wo es heute

steht. Gastkommentar. In: Neue Zürcher Zeitung, 25.5.2019. Habermas, Jürgen: Ach, Europa. Frankfurt a. M. 2008. Heidegger, Martin: Europa und die deutsche Philosophie. In: Hans-Helmuth Gander (Hrsg.): Europa und die Philosophie. Frankfurt a. M. 1993, 31–41. Koch, Christoph: Zu den Anfängen der Ovidrezeption in Dalmatien. Die lateinischen Beschäftigungen des Petar Hektorović. In: Roberto Paciocco, Luigi Pellegrini, Antonio Appignani (Hrsg.): Aspetti della cultura dei laici in area adriatica. Saggi sul tardo medioevo e sulla prima età moderna. Neapel 1998, 259–367. Hofmann, Michael/Lasdun, James (Hrsg.): After Ovid. New Metamorphoses. London 1994. Lévy, Bernhard-Henri: Hôtel Europe. Suivi de Réflexions sur un nouvel âge sombre. Paris 2014. Molière: Œuvres de Molière. Hrsg. von Eugène Despois. Bd. 1. Paris 1912. Möller, Melanie: Ovid. 100 Seiten. Stuttgart 2016. Möller, Melanie (Hrsg.): Excessive Writing. Ovids Exildichtung. Heidelberg 2020a. Möller, Melanie (Hrsg.): Gegen-Gewalt-Schreiben. De-Konstruktionen von Geschlechts- und Rollenbildern in der Ovid-Rezeption. Berlin/Boston 2020b. Munro, John (Hrsg.): The London Shakespeare. Bd. 1. London 1958. Musäus, Immanuel: Der Name Europas. in: Almut-Barbara Renger/Roland Alexander Ißler (Hrsg.): Europa – Stier und Sternenkranz. Von der Union mit Zeus zum Staatenverband. Bonn 2009, 341–351. Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hrsg. von Giorgio Colli/Mazzimo Montinari. Bde. 5–6. München 1980. Novalis: Die Christenheit oder Europa. Ein Fragment. In: Schriften. Hrsg. von Ludwig Tieck/Friedrich Schlegel. Bd. 1. Berlin 1826, 187–208. Pehnt, Annette. Briefe an Charley, München 2015. Poliziano, Angelo. Appendix Ovidiana. In: P. Ovidii Nasonis opera, ed. P. Burmann, Amsterdam 1727. Poppenberg, Gerhard. Europas Weg nach Westen. Zu Góngoras Aufnahme des Europamythos in den Soledades. In: Almut-Barbara Renger/Roland Alexander Ißler (Hrsg.): Europa – Stier und Sternenkranz. Von der Union mit Zeus zum Staatenverbund. Bonn 2009, 183–195. Pound, Ezra: The Spirit of Romance. London 1910. Pound, Ezra: The Letters 1907–1941. Hrsg. von D. D. Paige. London 1951. Pound, Ezra: Guide to Kulchur, New York 1968. Renger, Almut Barbara (Hrsg.): Mythos Europa. Texte von Ovid bis Heiner Müller. Leipzig 2003. Renger, Almut Barbara/Ißler, Roland Alexander (Hrsg.): Europa – Stier und Sternenkranz. Von der Union mit Zeus zum Staatenverband. Bonn 2009. Roman, Luke: Poetic Autonomy in Ancient Rome. Oxford 2014. Saresberiensis, Ioannis: Policratici libri VIII. Hrsg. von C. C. I. Webb. London 1909 (Nachdr. Frankfurt 1965). Schmitz-Emans, Monika: Fließende Grenzen und rätselhafte Verwandlungen. Yoko Tawadas Visionen von

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phin Julia Kristeva über eine Kultur, die von der ganzen Welt bewundert wird. In: DIE ZEIT, 9. Januar 2014. Thimann, Michael. Lügenhafte Bilder. Ovids favole und das Historienbild in der italienischen Renaissance. Göttingen 2002. Widmann, Arno. Timothy Garton Ash und Karl Heinz Bohrer: Europa ist ein Gedicht. In: Berliner Zeitung, 11.6.2014. Zepp, Susanne: Lateinamerikanische Metamorphosen. Über die Ovid-Rezeption bei Sor Juana Inés de la Cruz, Claudia Lars, Clarice Lispector und Alicia Kozameh. In: Melanie Möller (Hrsg.): Gegen-Gewalt-Schreiben. De-Konstruktion von Geschlechts- und Rollenbildern in der Ovidrezeption. Berlin/New York 2020, 159–180.

Melanie Möller

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VI  Rezeption  –  E  Ovid – Europa – Moderne

86 Ovid als Autor der Moderne Endlich ein Thema, über das wir mehr und Zuverlässigeres wissen als ›uns von den Alten überliefert‹ ist! Denn Ovid wirkt, und er wirkt nicht so sehr als Genosse seines Zeitalters, der ›augusteischen Zeit‹ (s. Kap. 1), sondern als einer, den wir in zwei Jahrtausenden nicht losgeworden, oder eher: zu dem wir immer wieder zurückgekehrt sind, weil wir ahnten, dass er die besseren Antworten wusste auf dies und das, was uns und unsere Vorfahren beschäftigte und zu beschäftigen nicht aufgehört hat. Und vielleicht sind wir auch deshalb immer so gern zu ihm zurückgekehrt, weil er überhaupt die besseren Fragen hatte und darauf vertrauen konnte, dass, wenn die Frage nur klug genug gestellt wäre, die Götter die Antwort nicht auf ewig schuldig blieben.

86.1 Die unbedingten Fragen Doch wie kann es sein, dass einer, der nicht von dieser Zeit ist, die besseren Fragen stellt? Gegenfrage: Sind nicht diejenigen Fragen die produktivsten, auf die sich nicht gleich im Hier und Jetzt die richtige Antwort findet, in denen sich vielmehr aller Ernst, alle Verzweiflung und alle Sehnsucht nach Überschreitung des Horizonts bündeln, der unsrer Gattung, dem homo quaeritans, nun mal gesetzt ist? Nennen wir sie die unbedingten Fragen. Oder wie nennt man die Fragen nach der condicio und den Grenzen der vita humana? Wer nach den Bedingungen und Grenzen des menschlichen Lebens fragt, sucht etwas auf den Grund zu kommen, für das sich mit den Mitteln der Vernunft und des Verstandes nicht leicht Gründe finden lassen. Es ist dies auch die Ursache dafür, dass uns alle Versuche, das Werk des Ovid philosophisch zu arrondieren, unbefriedigt zurücklassen müssen. Die Destillation eines Ovidius Philosophus führte unweigerlich dazu, dass der selbstdenkerische Impuls der Werke in sich zerfiele und nur die banale Außenhaut eines sich zu ›richtigen‹ Sätzen verstehenden auktorialen Willens freigäbe. Was nützt es zu wissen, dass der Autor hier Empedokles, dort Pythagoras bespricht (es ist ja auch offensichtlich), wenn die mit lustvoll genossenen Längen zitierten Denker in der konkreten Applikation nur ihre Unbrauchbarkeit für das experimentelle Tänzchen erweisen (s. jedoch Kap. 35)? Die unbedingten Fragen des Ovid sind mithin keine philosophischen Fragen, nicht jedenfalls in dem Sinne, dass sie sich ohne Weiteres einordnen ließen in die damals verfügbaren Traditionen der Weisheitsleh-

re. Es sollte uns zu denken geben, dass immer dort, wo der Rekurs auf philosophisches Wissen offensichtlich ist, mit einer Sicherheit gesprochen wird, die sich selbst entlarvt. Die Ausbreitung des philosophischen Wissens wird als ridiküler Moment erlebt, der sich weit vom Denken der Texte entfernt. Zugespitzt formuliert: Man kann fast sicher sein, dass der Autor, wo er ›seine‹ Philosophen zitiert, sein ›philosophisches‹ Kernanliegen gerade nicht berührt. Mit anderen Worten: Die zitierten philosophischen Positionen sind in aller Regel kaum ernster zu nehmen als die Stellen, wo berühmte dichterische Zeitgenossen und ihre Werke angeführt werden. Welches aber ist das Milieu, in dem sich die unbedingten Fragen formieren? Man könnte meinen, sie seien den ›großen‹ Werken, etwa den Metamorphosen, vorbehalten. In der Tat sind die Verwandlungssagen ein guter Nährboden für originelle Fragen. Doch finden sich schon in den ersten Werken Anläufe zur gründlichen Reformulierung der Aufgabe(n), die ambitionierte Dichtung sich für gewöhnlich stellt. Gleich in den Amores wird ein neuer Ton gesetzt. Im Modus größter Beiläufigkeit werden Fragen berührt, die an die Wurzel dessen gehen, was der Autor da tut. Zu der Zeit, als Vergils letztes Werk an das Licht der Öffentlichkeit tritt, eröffnet Ovids Erstling mit demselben Wort: arma: Arma gravi numero violentaque bella parabam     edere, materia conveniente modis. par erat inferior versus; risisse Cupido     dicitur atque unum surripuisse pedem (am. 1, 1, 1–4). (»Waffen im schweren Maß und gewaltvolle Krieg zu künden / rüstete ich mich. Der Stoff sollte passen zu den Maßen. / Gleich[lang] war der untere [d. h. zweite] Vers; da lachte Cupido, / sagt man, und entwendete heimlich den einen Fuß«.)

Doch während Vergil uns zeigt, was er wirklich zu bieten hat, deutet Ovid nur auf das, was er nicht gibt. Er wollte Waffen und gewaltige Kriege geben, allein, es kam ihm etwas dazwischen. Dass einem eine(r) oder etwas dazwischenkommt, hat – spätestens seit Kallimachos’ Aitien – Tradition. Nie zuvor aber hat man von einem solchen Unfall gelesen, wo der Gott dem Menschen den Versfuß stiehlt. Hier tritt einer auf und verweist auf sein Werk als defizitäres: keine Waffen und auch kein durchgehender gravis numerus und auch keine violenta bella. Die ganze erste Zeile ist für die Katz, oder eben für Cupido, den räuberischen

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_86

86  Ovid als Autor der Moderne

Gott, der als erstes ein Begehren – zunichtemacht: parabam / edere.

86.2 Gewalt und Gewerk oder Die Kunst des Scheiterns Ovid beginnt mit einem Scheitern, wo Vergil sein ›Thema‹ konstruktiv zu entwickeln scheint. Wie aber handelt der Autor von seinem Scheitern? Er handelt von ihm formal. Was ihm von dem nicht zustande gekommenen Werk zu sagen wichtig ist, ist dreierlei: Es war gravis im Numerus, der Stoff passte zu den Rhythmen, es folgten einander Verse von gleicher Länge (par erat inferior versus). Nicht um der nicht zum Zuge gekommenen Inhalte willen bedauert der Autor, der sich jetzt als Nichtautor inszeniert, den Vorfall, sondern, wie es scheint, weil alles so schön gepasst hatte – so sehr, dass gravis schon zum Beiwort nicht der Waffen und Kriege, sondern des zu ihrer Darstellung üblichen Versmaßes geworden war. In die so trefflich arrangierte Szene hinein bricht nun die Intervention des Cupido. Seltsam nur, dass der Dichter sie nicht auf Treu und Glauben, sondern nur vermittelt schildern kann: risisse Cupido / dicitur atque unum surripuisse pedem. Der von Beginn an verhinderte ›Autor‹ kann schon nicht mehr die Gewähr für das von ihm Berichtete übernehmen. So bleibt es nicht beim Bericht eines Scheiterns. Durch die aitiologische Szene geht ein Riss, der aufs Lebhafteste mit der Sicherheit der Versund Stofffügung kontrastiert, wie sie den Autor vor seiner Enteignung auszeichnete. Gewöhnlich fragt man an dieser Stelle, ob das alles besonders ernst zu nehmen sei. Aber mit einer solchen Frage ist für das Verständnis des Textes nichts zu gewinnen. Könnte man sie auch mit wissenschaftlichen Gründen beantworten, so wäre daraus doch nichts anderes zu ziehen als ein Eindruck, eine Stimmung. Ganz unabhängig von dieser wohl nicht zu entscheidenden Frage stellen sich andere Fragen, die mit dem schlichten Wortwerk (um nicht zu sagen: der Grammatik) und der Episteme der ersten Gedichtzeilen zu tun haben. Warum spricht das elegische ›Ich‹ zuerst von seinem Nicht-Thema? Warum zuerst von einem Scheitern? Warum zuerst – im Buch des Begehrens – von einem gescheiterten Begehren? Und warum liegt der Fokus der Rede auf der Harmonie von Inhalt und Form, und warum wird diese nicht nur – ganz praktisch – am Gegenstand, an den arma und ihrem numerus, expliziert, sondern gleich auch theoretisch gefasst: materia conveniente modis? Woher

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kommt die Aufmerksamkeit auf die Konvenienz? Ist sie ein Gebot, ist sie Konvention? Mit einem Mal scheint es, der Einsatz der elegischen Rede sei ein Kommentar auch zur Tradition. Aber wie verhält sich der elegische Sprecher zur Tradition? Kritisch oder affirmativ? Wieder so eine Frage, deren vorschnelle Beantwortung mehr und andere Fragen verdeckt als zeigt. Nur soviel sei bemerkt: Ein Ausbruch aus den Regeln des Systems wird nicht einmal erwogen. In der langen Klagerede des düpierten Epikers wird auch nicht ein Gedanke daran verschwendet, man könne ja auch in Distichen (wie es Jahrhunderte zuvor schon Kallinos und Tyrtaios getan hatten) vom Kriege handeln. Der Redner übernimmt mit augenfälliger Geschmeidigkeit die Regeln, die dem System ganz offensichtlich von außen gesetzt sind. Er hinterfragt nicht die Bindung des Stoffes an den bestimmten Vers. Vielmehr bestätigt er sie, indem er vorgibt, keinen Stoff für das ihm verordnete Versmaß zu haben. Den Gott aber zieht er in einen Disput über die Rechtmäßigkeit des Eingriffs hinein: ›quis tibi, saeve puer, dedit hoc in carmina iuris?‹ (V. 5). Also auch die Erörterung der Rechtslage kommt vor dem eigentlichen Thema des Werkes. Wie könnte der entmachtete Autor auch darüber sprechen: nec mihi materia est numeris levioribus apta (V. 19)? Der elegische Sprecher steht blank vor dem Gott, der ihn um sein Thema betrog, genauer um den Versfuß, den es gebraucht hätte, dies Thema zu intonieren. Die numeri sind jetzt leviores, aber sie sind – immerhin – schon da! Was fehlt, ist ein Stoff. Ihn gibt der Gott. Der gleiche Gott, der den Versfuß stahl. Und wieder ist es ein Akt der Gewalt, der die Dinge der Dichtung ordnet: questus eram, pharetra cum protinus ille soluta     legit in exitium spicula facta meum lunavitque genu sinuosum fortiter arcum     ›quod‹ que ›canas, vates, accipe‹ dixit ›opus‹ (am. 1, 1, 21–24). (»Ich hatte meine Klage beendet, als er plötzlich aus dem geöffneten Köcher / die zu meinem Untergange gemachten Pfeilspitzen las und den kurvigen Bogen wacker mit dem Knie zum Monde wölbte und sprach: ›Empfange, Dichter, das Werk, das Du besingen sollst‹«.)

Den Pfeil »las« aus seinem Köcher (legit) und spannte (lunavit) der Gott zum Verderben des Dichters und setzte so – im feindlichen Übergriff – das Singen des Dichters frei: ›quod ... canas, vates, accipe ... opus‹. Jetzt

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VI  Rezeption  –  E  Ovid – Europa – Moderne

hat der Dichter sein Thema – als Wunde: certas habuit puer ille sagittas. / uror (V. 25–26). Wo bis jetzt Leere war, herrscht (nun) Amor. Woran man’s erkennt? Am Steigen und Fallen des elegischen Takts. Der Dichter wird es wie von außen sehen: Es hebe und senke sich ihm (mihi, V. 27) der elegische Vers! So verabschiedet er – zusammen mit ihren Maßen – die »eisernen Kriege« (ferrea ... bella, V. 28). Und erst im letzten Vers kommt die elegische Welt scheinbar wieder ins Lot, wenn wie zum Ausweis des geglückten Manövers »die Muse«, die blonden Schläfen mit Myrten vom Strande geschmückt, im Elffüßlertakt gefeiert werden soll (V. 29–30).

86.3 Paradoxien der Autorschaft Wer nüchtern nicht bloß die Effekte betrachtet, sondern fragt, was hier wie gemacht ist, wird finden: Alles an diesem Gedicht ist staunenerregend. Nichts ist, wie es der gemeine Verstand sich denkt. Der Anfang ist zwar ein Anfang – und was für einer! –, wird dann aber wieder zurückgenommen, ja demontiert. Der Gott der Gattung kommt – doch er kommt als Dieb. Der also Beraubte klagt und erfüllt so – wie paradox! – das urelegische Soll. Der Gott erhört die Klage und löst in einem Akt nicht des Erbarmens, sondern der wiederholten Gewalt das Problem, dass in der Brust des Sängers nur Leere war. Jetzt »hat« er seinen Stoff: doch zunächst nur den Zwingherrn Amor in der Brust. Sein Thema weiß er noch nicht (das zweite Gedicht beginnt mit einem »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten«: esse quid hoc dicam ...), aber das Versmaß versteht er schon zu handhaben. Am Ende ist er gerüstet für einen neuen Anfang. Schon kann er die Muse im elegischen Distichon (an)rufen. Nichts, so darf man den elegischen Sprecher verstehen, ist unwahrscheinlicher, als dass es zu diesem Gedicht und vielleicht überhaupt zu diesem Dichten und zu dieser Sammlung (der Amores) gekommen ist. Eine doppelte Überwältigung (Diebstahl; ein Pfeilschuss, der die Brust durchbohrt) machte, dass dieser Dichter dichtete. Oder, zugespitzt gesagt, dieser Autor musste vollkommen entblößt und entmachtet werden, um endlich ans Licht treten zu können. Am Grunde der Dichtung liegt, scheint es, die Unterwerfung unter das Prinzip, das sie nach der gewöhnlichen Anschauung ermöglicht. Die Problematik des Schreibens, in der radikalen Zuspitzung durch die joviale Erzählung wird sie erst deutlich. Wir wissen jetzt, dass es keinen anderen Grund der Dichtung gibt als den, dass hier einer etwas auf sich nimmt, das er nicht sogleich als Eigenes

erkannt hat. Im Gegenteil, sein Eigenes verliert er durch den Trug des Gottes, um – in einem merkwürdigen Akt der Vergeltung – etwas zu empfangen, das sein Eigenes (noch) nicht ist und vielleicht auch nie sein wird.

86.4 Automatendichtung Zum dritten Mal sind wir versucht, ganz schlicht zu fragen, ob man’s nicht einfach ironisch fassen darf. Ja, aber darüber darf die Aufmerksamkeit auf die besondere Erkenntnisweise dieses Sprechens nicht verloren gehen. Das Gedicht tut ja, was es tut, wirklich. Es gibt den Ernstfall eines Sprechens, das sich auf einen Augenblick dessen versichert, dass es grund- und ansatzlos ist. Das sollte man nicht kleinreden, wenn man den Text epistemisch würdigen will. Ob, was der Dichter über dem Abgrund errichtet, nun ernst oder heiter, frivol oder ironisch sei, sind nicht erste, sondern zweite und dritte Fragen. Geschmacksfragen vielleicht sogar. Die Struktur des Gedankens aber muss unser Interesse erregen, wenn wir auch nur daran denken wollen, ob unser Autor ein Fall für die Moderne sein könnte. Der Gedanke aber – ob ernst oder heiter, frivol oder ironisch – geht so: Da zeigt einer den Grund seines Schreibens als beliebigen. Technik verdrängt und besetzt Themen. Unerhört ist die völlige Unbefangenheit, mit der der Autor sich als Spielball einer Maschinenwelt zu erkennen gibt. Die Frage, warum mit Ovid die augusteische Dichtung zu Ende geht, wird oft mit Blick auf sein Spätwerk beantwortet. Dabei genügt ein Blick auf den Anfang dieser Endzeitdichtung, als Automatenpoesie. Sie spuckt vorne aus, was – weiß der Teufel, wer – hinten, oben oder unten eingegeben hat.

86.5 Im Labor der Moderne Ovids Werk ist nicht erst auf dem Höhenkamm der Metamorphosen, denen nichts Menschliches, nichts Über-, nichts Unterweltliches fremd ist, experimentell. Es ist experimentell von Anfang an. Schon im allerersten Gedicht treten wir ein in das phantastische ›Labor der Moderne‹, das von den Anleitungen zur Liebe und zur Entwöhnung von dieser über die Exkursionen in die Imaginationen der weiblichen Seele, die mythische Tiefenstruktur des römischen Festkalenders und die Metamorphosen bis hin zur Erfindung der abstrakten Dichtung im elegischen Spätwerk führt.

86  Ovid als Autor der Moderne

Aber, kein Zweifel, in den Metamorphosen kristallisiert sich das Denken des Experiments (und der Moderne) zu einem Programm von unerhörter Dichte und Intensität. Es ist und bleibt erstaunlich, dass die Einrichtung dieses ›Labors der Moderne‹ einem Autor verdankt wird, dem nicht nur unsere heutige ›Moderne‹ vollkommen fernlag (der auch gar nicht über den Begriff der oder einer ›Moderne‹ verfügte), sondern der überdies in seinen letzten wohl nicht ganz zehn Lebensjahren eigentlich auch schon nicht mehr auf der Höhe dessen sein konnte, was sich in jenen Tagen im Zentrum der westlichen Zivilisation, in Europas Mitte, in Rom ereignen mochte. Hätte es in den letzten Regierungsjahren des Augustus und zum Beginn des Prinzipats seines Nachfolgers Tiberius noch erkennbare Moderneschübe gegeben, Ovid hätte sie schwerlich rezipieren können. Noch zu Lebzeiten also unfreiwillig und, wie er selbst zu beteuern nicht müde wurde, unverschuldetermaßen in die Schieflage eines Menschen geraten, der abgeschnitten von seinen mediterranen Wurzeln am Rande des Reiches darbte, hatte er in Rom doch etwas hinterlassen, das sich ex post als das Kryptogramm einer merkwürdigen Geschichte entpuppte, einer Geschichte, deren Relevanz sich nicht an den Parametern messen lässt, die sonst für Geschichten und Erzählungen dieser Art in Anschlag gebracht werden, also etwa Poetizität vs. Historizität, Dichtung vs. Wahrheit od. Fiktion vs. Wirklichkeit. Es hat vielmehr den Anschein, jede der mehr als zweihundertfünfzig (mehr oder weniger ausge­ führten) Erzählungen stehe in Zeit und Raum gleich­ unmittelbar zum Ursprung dieses Erzählens, dieser Stimme und – wichtiger noch – gleichunmittelbar zum Telos, wenn die Erfahrung der Literatur umschlägt in die Erfahrung der Wahrheit oder Unwahrheit eines bestimmten Eindrucks, einer bestimmten Deutung, einer bestimmten Lesart.

86.6 Existentialpoetik Will man das Erstaunen, in das uns die erzählerische Welt des Ovid versetzen kann, auf der Ebene einer nüchternen Beschreibung darstellen, bietet sich ein Modell bzw. Begriff an, den man nicht schon deshalb unter Verdacht stellen sollte, weil er an den Heidegger der 1920er Jahre denken lässt: die Existentialpoetik. Freilich werden uns weder die in »Sein und Zeit« (1927) konsequent zur Existentialontologie umgebildete Phänomenologie Heideggers noch die von Michel Foucault im Umgang mit sokratisch-plato-

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nischen und hellenistisch-römischen Modellen der »Selbstsorge« oder cura sui entwickelte Ästhetik der Lebensformen in den Stand setzen, die Mechanik und Dramaturgie der Moderne in Ovids Werk zu durchschauen. Von diesen großen ideengeschichtlichen Operationen unterscheidet sich die hier vorgeschlagene Ovid-Lektüre in so manchen Punkten. Die Existentialpoetik der ovidischen Metamorphosen entfaltet ihre Wahrheitsmomente nicht in der geschichtlichen Progression, sondern in den eher zufälligen und jedenfalls unwahrscheinlichen Konvergenzen, wenn die Erzählung der Vergangenheit mit einem Mal zum kongenialen Ausdruck einer Erfahrung der Gegenwart wird. Anders gesagt: wenn wir erkennen, dass eine Sache, die nur uns zu betreffen scheint, im literarischen Text erkannt ist, oder, noch genauer gesagt: wenn wir erkennen, dass wir es sind, die der Text erkennt. Das Verwandlungswerk des Ovid ist mehr als ein Schatzhaus, das man von Zeit zu Zeit aufsucht, um sich aus ihm, aus seinem schier unerschöpflichen Vorrat an Geschichten und Ideen zu Geschichten zu bedienen. Es ist mehr als ein Handbuch der menschlichen Einbildungskraft. Seine Bedeutung liegt nicht darin, dass wir in ihm alles finden, sondern dass es uns findet, noch ohne dass wir etwas Bestimmtes an oder in ihm gesucht hätten. Wir lesen und fühlen uns ertappt, aufgespürt, getroffen, überwältigt von dem Blick, der hier auf die Sache des Menschen fällt. Dem ›ecce homo‹ mancher Erzählungen kann nur entgehen, wem die Abstumpfung in professionellen Lektüren zur zweiten Haut geworden ist.

86.7 Häute lesen »Haut« ist ein trefflicher Schlüssel, der uns den Zugang zu einem Verständnis des ovidischen ›Labors der Moderne‹ gewähren mag. Man kann die Metamorphosen als das Protokoll eines Selbstversuchs lesen, der den Menschen und die condicio, in die er gestellt ist, an seine/ihre Grenze(n) führt. Zwischen der alten, gewöhnlichen und der neuen Form liegt die Haut, die Oberfläche des Steins, der Rinde, des Fells. Seit Ovid wissen wir, wie es sich anfühlt, eingepfercht zu sein in die Haut des Tiers; seit Ovid wissen wir, wie es sich anfühlt, wenn ein bangendes Herz noch unter der Rinde schlägt: hanc quoque Phoebus amat, positaque in stipite dextra sentit adhuc trepidare novo sub cortice pectus,

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VI  Rezeption  –  E  Ovid – Europa – Moderne

complexusque suis ramos, ut membra, lacertis oscula dat ligno; refugit tamen oscula lignum (met. 1, 553–556, Übers. s. u.).

Das ist die phantastische Konfiguration einer neuen Form der Berührung, einer neuen Chemie, ja, einer neuen Politik, die das Utopische der Vereinigung des Unverträglichen, des Baums mit dem begehrenden Gott, in der manifesten Sprache der Taktilität zu unterlaufen sucht. Was für ein Beben unter der Haut der Pflanze, die – als Lorbeer – zum Zeichen des Gottes und ›seines‹ Kaisers, Augustus, wird!

86.8 Politik, substantiell Man fragt nach dem ›Politischen‹ der Metamorphosen? Hier ist es! Es ist die bebende Reluktanz (refugit tamen) des im politischen Symbol verschwundenen Geschöpflichen. Die Politik des Ovid (er nimmt seine Aitiologien ernst) führt den begrifflich-symbolischen Machtapparat auf seine stofflich-geschöpflichen Quellen zurück. Man hätte es wissen können: Der Anfang der Metamorphosen, das berühmte In nova fert animus mutatas dicere formas / corpora (met. 1, 1–2; »Zu sagen treibt ein Verlangen, wie in neue Körper Gestalten verwandelt ...«) bringt die eigentliche Überraschung ja erst zum Schluss, in der Vervollständigung des Satzes im Enjambement: in nova ... / corpora. Die Metamorphosen handeln eben nicht nur und vielleicht gar nicht so sehr von der Mutation des Körperlich-Stofflichen in die Form(en), sondern – umgekehrt – von deren Verwandlung in (neue) Körper. Man mache sich für einen Augenblick klar, was es bedeutet, wenn nicht gesagt wird: ›Hier werden Körper in neue Gestalten‹, sondern ›Gestalten in neue Körper verwandelt‹. Es ist wenig wahrscheinlich, dass sich der Dichter gleich am Anfang des Werks eine enallage substantivi erlaubt hat und, indem er eigentlich sagen wollte: in novas formas ... corpora, in einer Art grammatischer Primärmetamorphose die Objekte vertauscht und also die uns überlieferte Konstruktion hergestellt hat. Eher sollte man sich vergegenwärtigen, dass die Sensation der ersten großen Verwandlungsgeschichte der Metamorphosen, also der Erzählung von Daphne und Apoll, nicht darin liege, dass hier die Nymphe in einen Baum, eine Pflanze, einen Strauch, einen uns wohlbekannten Strauch, den Lorbeerstrauch, verwandelt werde, sondern darin, dass dieser Strauch einer Empfindung fähig sei, die wir ihm wohl nicht zugetraut hatten.

86.9 Eine Reise in das Andere der Erfahrung Es ist ein Unterschied, ob wir die Daphne-Episode nur aitiologisch lesen, also als das mythologische (mythogene?) Programm, das dazu führte, dass etwas uns Wohlbekanntes, also der Lorbeer und mit und in und durch ihn das august(e)ische Exklusivkennzeichen, entstand, oder ob wir diese Geschichte als einen Beitrag zur Erkundung der Grenzen der menschlichen Einfühlungskraft betrachten. Mit anderen Worten: ob wir die Geschichte mit dem archivarischen Blick desjenigen ansehen, der mit einer gewissen Befriedigung, vielleicht Genugtuung die Vervollständigung der natürlichen, instrumentellen und symbolischen Welt, so, wie wir sie kennen, zur Kenntnis nimmt, oder mit der Empfindung eines Menschen, der soeben zum Zeugen einer sich grenzüberschreitend entfaltenden neuen Körperlichkeit wird. Der Unterschied der beiden Lektüren könnte größer nicht sein: Es geht am Ende um die Frage, ob wir – wie Kinder, die sich am immer selben Effekt einer Erzählung, einer Versuchsanordnung, eines Spiels erfreuen – die Metamorphosen wie zur Bestätigung der phänomenalen Vollständigkeit unseres Planeten lesen oder ob wir sie als einen Erkundungsgang in das Andere, in das Noch-nicht unserer Erfahrung ansehen. Betrachten wir sie als ein Archiv dessen, was uns in der Welt begegnet, oder als ein Laboratorium der körperlichen und seelischen Empfindungen des Menschen? Suchen wir in ihm die Geschichte, die Gegenwart oder die Zukunft unserer Erfahrung?

86.10 Die Melancholie am Grunde der Herrschaft Der atemberaubende Überschuss an Sinn, den die Verwandlung der Daphne in den Lorbeer produziert, ist noch längst nicht ausgeschöpft. Schon bei der konventionellen Lesart, wonach die sich dem begehrenden Gott verweigernde Nymphe in das Zeichen des Augustus verwandelt wird, könnte man stutzig werden ob der Frivolität, mit der eine Begehrensgeschichte in eine Machtgeschichte verwandelt wird. Dies zu bemerken, genügt eine bloße Inhaltsangabe: Aus A wird B, B ist Symbol für C. Also lebt A auch in C. Schon diese Operation hat viele Interpreten überfordert. Die erste große Metamorphose der Metamorphosen erzählt von dem dunklen Begehren des lichtvollen Gottes Apoll am Grunde des augusteischen Machtapparats. Das ist politischer und politisch häretischer als alles, was die Auf-

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merksamkeit auf die thematisch-motivischen Oberfläche(n) der politischen Rede zuweilen in dicken Büchern zusammenträgt: Die Herrlichkeit des Augustus ruht auf der Geschichte eines unglücklichen Begehrens auf. Und nun schauen wir auf die andere Geschichte, es ist die Geschichte nach der eigentlichen Metamorphose, wenn der ›plot‹ (im engeren Sinne) abgeschlossen ist und wir das Begehren nach der Peripetie und Katastrophe sehen. Wenn nüchtern und nach den Maßstäben einer archivarischen, nur verwaltenden Welt nichts mehr zu sagen ist. Die Verwandlung hat stattgefunden. Aus der Halbgöttin ist die Pflanze geworden, der Gott ist an (s)eine Grenze gestoßen.

86.11 Der Widerstand ist wirklich Jetzt schlägt die Stunde des Dichters. Jetzt, wo dem Außenstehenden wenig oder nichts mehr zu sehen, zu fühlen und zu sagen bliebe, findet er die Worte, die den Unterschied von der archivarisch-mythographischen Erzählung begründen. Ungedeckt durch den Raum der Erfahrung oder der mythologischen Überlieferung kommt es zur Überschreitung der Grenze(n) der geschöpflichen Gattungen. Aus dem poeta wird der vates oder deus poeta: »Phœbus liebt sie [d. h. Daphne] noch jetzt; er legt an den Stamm seine Rechte,/fühlt das Herz der Geliebten noch schlagen unter der Rinde;/und es umschlingt sein Arm wie Glieder die Zweige, mit Küssen/deckt er das Holz; und es weicht noch jetzt zurück vor den Lippen« (met. 1, 553–556).

Das Leben und Fühlen hört mit dem Tode (oder – wie wir richtiger sagen sollten – mit dem Ende einer bestimmten Gestalt oder Seinsform) nicht auf. Unter der noch jungen Rinde zagt und pocht und klopft ein menschliches Herz. Gewiss, es ist der Gott, der zunächst und vor allem fühlt: hanc quoque Phoebus amat (V. 553); sentit (V. 554). Aber das im Baum verschwundene Leben hat das letzte ›Wort‹. Während Apoll seine Arme um Zweige »wie Glieder« (ut membra) schlingt, ist die ausweichende Bewegung des Holzes wirkliche Bewegung! Refugit tamen oscula lignum. Der Widerstand ist wirklich. Das Entscheidende ist nicht die im Metamorphosen-Corpus dutzendfach wiederholte Verwandlung des menschlichen oder halbgöttlichen Lebens ins Unbelebte oder ins nicht-länger-menschlich-halbgöttliche Leben, sondern seine Überführung in einen Zustand, der nicht nur die elementaren Funk-

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tionen des vegetativen Lebens, sondern auch die Anund Abstoßungseffekte, mit anderen Worten die Artikulation eines Willens, eines Begehrens kennt. Dem neu generierten Symbol der Macht inhäriert das Widerständige des in ihm disziplinierten Lebens. Und das ist erst der Anfang der Metamorphosen als eines Werkes, das in seinen ersten Versen durchaus eine gewisse Vollständigkeit in der Entwicklung (deducere) des ›geschichtlichen‹ Fadens versprach: ... di, coeptis ... aspirate meis primaque ab origine mundi ad mea perpetuum deducite tempora carmen (met. 1, 2–4) (»... Ihr Götter, gebt, .../Gunst dem Beginnen und leitet mein stetig fließendes Lied vom/ersten Ursprung der Welt bis herab zu unseren Tagen«)

Die erste größere mythologische Episode, die Daphne-Apoll-Erzählung, macht es klarer, was man sich unter der ›Neuen Körperlichkeit‹ dieses ambitionierten Programms vorstellen könnte: etwa eine besondere Form der Widerständigkeit, eben der Reluktanz, die verhindert, dass je eine begrabene Stimme, ein begrabener Einspruch, ein begrabenes Sträuben, ein begrabenes Nein ungehört bleibt.

86.12 Das apriori des Sinnlichen: Das Gesicht des Menschen Die neue und – das lat. Wort novus erlaubt diese Auslegung – ungewöhnliche Körperlichkeit ist freilich schon in der Weltschöpfungslehre zu Anfang des ersten Buches grundgelegt. Schon die dort entfaltete Körperlichkeit war eine Körperlichkeit sub specie ihrer Fähigkeit, Empfindung(en) auszudrücken und darzu­ stellen: Ante mare et terras et quod tegit omnia caelum unus erat toto naturae vultus in orbe, quem dixere Chaos; rudis indigestaque moles nec quidquam nisi pondus iners congestaque eodem non bene iunctarum discordia semina rerum. (met. 1, 5–9) (»Vor dem Meere, dem Land und dem alles deckenden Himmel/zeigte Natur in der ganzen Welt ein einziges Antlitz./Chaos ward es benannt: eine rohe, gestaltlose Masse,/nichts als träges Gewicht und, uneins unter-

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einander,/Keime der Dinge, zusammengehäuft in wirrem Gemenge«)

Die Form der Körperlichkeit schon des ungestalteten Chaos ist die Sinnlichkeit, ist der sinnliche Ausdruck eines vultus, über dessen Bestimmung man gewiss streiten kann, dem man aber eines doch nie und an keiner Stelle wird absprechen können, dass er ein zeichenhafter, ein charakteristischer, bedeutender Ausdruck ist. Irreführend wären an dieser Stelle gutgemeinte Hinweise wie der, dass vultus hier als »(ungestaltete) Form« gebraucht sei oder dass es sich um eine besonders hübsche Form eines lapsus linguae handele. Es sei nun einmal passiert, es gebe nun einmal keine Sprache für das Ungestaltete, keine, die über dem Ausdruck dessen, was nicht oder noch nicht sei, nicht zugleich auch das Nicht- oder Noch-nicht-Seiende anzeigen müsse. Das sind, wie zutreffend auch immer, Verlegenheitslösungen. Es hätte viele (Ausdrucks-)Möglichkeiten gegeben, das Gesicht des Menschen nicht gleich über dem Anfang dieser großformatigen Darstellung aufscheinen zu lassen. Wir werden es nun nicht mehr los; es leuchtet wie ein fahler Mond über den Körperund Seelenlandschaften der Metamorphosen: ›Schaut her, unter solchem Zeichen seid Ihr geschaffen; unter solchem Zeichen tretet Ihr ein in die Flucht der Erscheinungen und verlasst sie nicht wieder‹.

86.13 Kunst in unvordenklicher Zeit Übrigens gibt es in diesem unvordenklichen Anfang auch schon Einheit (unus ... vultus) und Ganzheit (toto ... in orbe), es gibt Geburt und Schöpfung (natura); und es gibt vor allem semina. Diese Keime der künftigen Ordnung sind discordia, sie leben in Zwietracht. Die Materialität als Auslöserin und Trägerin diverser Affekte ist ein altes, gut bekanntes vorsokratisches Erbe. Auch gibt es überall in diesem kurzen Passus schon die Rolle desjenigen, der Ordnung stiften wird. Es gibt den Begriff der Ordnung in indigesta und sogar der Kunst in iners, und es gibt die rhetorisch-kunstrichterliche Attitude desjenigen, der die Dinge, die »(noch) nicht gut verbunden« sind, zurecht- und geraderücken wird. Und es gibt, späterhin (und mit klarem Verweis auf die nun fortlaufend alludierten Dichter und Denker der Frühzeit), Benennungen, Bezeichnungen, Namen für all dies. Will sagen: Die Metamorphosen zeichnen selbst die Welt vor der uns bekannten Welt als einen Ort der unbedingten Affektabilität. Einen Ort im Zustand der Erwartung eines Kommen-

den, der kommenden Zeit der Teilung und Einteilung in Meer, Erde und den alles bedeckenden Himmel, der kommenden Ordnung, doppelt gekennzeichnet durch eruditio (rudis) und digestio, der kommenden Versöhnung der uneinigen Herzen der Dinge, der kommenden Kunst (vgl. Böhme/Böhme 2004). Es gehört zu den feinsinnigsten Anordnungen des Metamorphosen-Werkes, dass der zentrale Gedanke des Schlusses, die überragende Bedeutung und Wirkung einer sich in ihrer räumlichen und stofflichen Ausdehnung gleichwohl »im Munde« der Lesenden materialisierenden Kunst (quaque patet domitis Romana potentia terris / ore legar populi, perque omnia saecula fama / (si quid habent veri vatum praesagia) vivam, met. 15, 877–879), in der frühen Skizze des chaotischen Weltzustandes schon mitgedacht ist. Nein, eigentlich reicht die Sensualisierung des Schöpfungsvorganges noch weiter: Das epische Ich selbst geht in den Mund des Volkes ein und lebt nur in ihm. Nach diesen frühen Klarstellungen kann die Erzählung schalten und walten, wie sie will. Sie ist der Souverän, Dinge aufzurufen oder nicht aufzurufen, Dinge, Figuren, Rollen zu benennen oder nicht zu benennen, erscheinen zu lassen oder nicht erscheinen zu lassen, ihnen Gestalt zu geben oder sie zu verweigern. Wenn ihr scheint, dass etwas noch nicht zureichend, noch nicht gut (genug) erzählt ist, fängt sie wieder von vorn an, erzählt es noch einmal. Die Dopplungen und Wiederholungen sind nichts weniger als Indizien für ein Misslingen. Im Gegenteil zeigen sie die schöpferische Hand in der Überfülle ihrer möglichen Betätigung.

86.14 Genie und Handwerk Man ist versucht, an einen berühmten Dokumentarfilm von Henri-Georges Clouzot »Le mystère Picasso« (1956) zu denken, in dem wir den Maler auf der Höhe seiner Kunst beobachten können, wie er in Sekundenschnelle Skizzen entwirft und vernichtet, entwirft, korrigiert und vernichtet, entwirft, korrigiert, übermalt und vernichtet. Es ist ein Feuerwerk der Augenblickseinfälle und -gesten. Nie hatte man von so nah und scheinbar unmittelbar einen schöpferischen Menschen, ein Genie, dabei beobachtet, wie er offenbar nichts anderes tat als dies: ein schöpferischer Mensch, ein Genie, zu sein. Und das Tollste war, dass dieser schöpferische Mensch, dieses Genie, nicht zu bemerken schien oder, besser, so tat, als bemerke er nicht, dass man ihn beobachtete, während er allem Anschein

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nach nur den Eingebungen seiner Kunst oblag. Manche Philologen scheinen zu glauben, Ovid habe es nur deshalb nicht bei einer Menschenschöpfung(serzählung) belassen, sondern nach der prometheischen Menschenschöpfung (met. 1, 76–88) auch die Erschaffung des Menschen aus dem Blut der vernichteten Giganten (met. 1, 151–162) und den Steinen der Pyrrha (und des Deukalion; met. 1, 384–415) berichtet, weil er in einer Art Vollständigkeitsneurose, feinnervig nur für die Zwänge seiner eigenen kleinen Welt, alle ihm überlieferten, ihm bekannten und ihm vermutlich in Form eines mythologischen Handbüchleins vorliegenden Varianten der Weltschöpfungserzählung habe zur (erschöpfenden) Darstellung bringen wollen. Als ob, wer spürt und vielleicht sogar weiß, dass seinen Möglichkeiten bei der Darstellung von Welt keine anderen Grenzen als die seiner eigenen Einbildungskraft gesetzt sind, nicht einen Teufel tun würde, Grenzen dort zu ziehen, wo ihm die freieste Einbildung in reichstem Maße zufließt.

86.15 Eine »Neue Mythologie« avant la lettre Nicht darum geht es, Denkformen des späten 18. oder gar des 20. Jahrhunderts auf das Kunstschaffen der augusteischen Zeit zu übertragen. Nur sollte man dem genialischen Treiben jener Tage keine Denkverbote setzen und es vielmehr für möglich halten, dass die ungeheure ›Modernität‹ dieses Sprechens und Konzipierens nicht einfach »passiert« ist, sondern ganz und gar dem Bewusstsein und den Möglichkeiten der Epoche entspricht. Die mythologische Rede ist diesen Erkundungsgängen kongenial. In ihr lässt sich das Unfertige, noch nicht Erprobte, nie Gesehene, auch wohl Unerwartete und jedenfalls durch und durch Überraschende zur Sprache bringen. Vermutlich hat indessen gerade die Anwesenheit des Mythos zur Verkennung dieser Tatsache geführt. Auch hier blickt das komparatistisch geschulte Auge weiter. Schließlich war es die von Jakob Böhme, Baruch de Spinoza und vor allem Giambattista Vico vorbereitete, von Johann Gottfried Herder und Friedrich Heinrich Jacobi vermittelte und von den jungen Hegel, Hölderlin und Schelling im sogenannten Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus (1797) ins Werk gesetzte »Neue Mythologie«, die zum Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts die klassisch-romantische Literatur revolutionierte. Und so manche stilprägenden Avantgarden des frühen und mittleren 20. Jahrhunderts er-

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fanden sich gerade durch die Wiederentdeckung des Indigenen, des ›Primitiven‹, des Mythos.

86.16 Kritik in der Krise. Die »Metamorphosen« als Lebendversuch So ist auch in Ovids Metamorphosen der Mythos das vehiculum einer existentialpoetologisch entworfenen Moderne. Vehiculum ist kein schönes und wohl auch kein ganz zutreffendes Wort. Ovid schafft keine Allegorien (wenngleich das nicht ausgeschlossen ist), sondern liest, profiliert und perspektiviert die überlieferten Geschichten so, dass er den wachen Leser in eine Deutungskrise stürzt. Die Deutungskrise verhindert gerade die Auffassung der mythologischen Erzählung als Allegorese, indem das Angebot der beschwichtigenden Identifikation mit Allerwelts- und Jedermannsbezügen als unterkomplexe Lesart verworfen wird. Die Metamorphosen sind kein Handbuch moral- oder auch existenzphilosophischer Parabeln, sondern ein Lebendversuch, der nur gelingt, wenn auch der Leser bereit ist, sich in jenen Abgrund hineinziehen zu lassen, in dem so viele Figuren des ovidischen Welttheaters verschwinden. Wenn wir, z. B., in der Actaeon-Szene mit einem Mal gewahr werden, wie sich der Jäger in einem schwindelerregenden Zirkel seines halbtierisch-halbmenschlichen Daseins versichert (met. 3, 198–205) und wie er, noch während ihn die eigenen Hunde zerfleischen, den unüberbrückbaren Zwiespalt der Situation zwischen erfolgreicher Jagd und der implizierten Vernichtung durchlebt (met. 3, 242–248), wissen, nein, spüren wir, dass sich die fast unvorstellbare Schärfe der hier dramatisierten Paradoxie nicht lebensphilosophisch auflösen lässt. Diese Situationen reichen tiefer und lassen sich nicht mit den Betulichkeiten einer für alles und jedes die rechte begriffliche Einpassung aufsuchenden Narratologie bereinigen.

86.17 Arbeit an der Matrix des Mythos Aber was ist es, das die einfache Auflösung des Schrecklich-Verhängnisvollen in erbaulichen Sätzen verhindert? Es sind die Manipulationen an der Matrix des Mythos, es ist der Eingriff in die DNA der Erzählung, die Verschiebung des parametrischen Rahmens, die die Sedimentierung der Geschichte unmöglich machen. In diesem antiken ›Labor der Moderne‹ werden die Grenzen des Geschöpflichen und der Gattungen, von Zeit

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und Raum, von Leben und Tod gegen- und ineinander verschoben. Die Spielfläche dieser existentiellen Operationen ist in manchen konsequent zu Ende erzählten Mythen die Haut. Sie ist die Außenfläche, auf der das Drama des Menschen und seiner Götter sichtbar wird. Die Rinde des Baums (Daphne), die glatte Oberfläche des Steins (Niobe, Pygmalion), das Fell des Tiers.

86.18 Paroxysmen der Moderne: Die maximale Evidenz Es ist kein Wunder, dass die schlimmste aller Bestrafungen, die Schindung oder Häutung, dem Marsyas vorbehalten ist, dem kunstbegabten Satyrn, der es wagte, den Schirmherrn der Musen, Apoll, herauszufordern (met. 6, 382–400). Sein Innen wird nach außen gekehrt, es ist jetzt sein Außen. Das grausame Spiel mit der Aufhebung der unterscheidenden Grenze(n) verhindert die leichte Bestimmung und Zuordnung des im Mythos ausgesprochenen Ereignisses. Wenn Marsyas klagt: ›quid me mihi detrahis?‹ (V. 385), wird klar, dass mit der Häutung zugleich eine existentialhermeneutische Operation vollzogen wird. Einen Menschen »von sich selbst abzuziehen«, bedeutet nicht nur, dass nicht mehr ausgesagt werden kann, wo des Menschen Ort sei: in der Haut (quid me ... detrahis?) oder in dem, was (darunter) bleibt (quid ... mihi detrahis?), also in den entblößten Muskeln (detecti ... nervi, V. 389), in den pochenden Adern (trepidae ... / ... micant venae, V. 389–390), im zuckenden Gekröse (salientia viscera, V. 390), in den durchsichtigen Fasern (perlucentes ... fibra[e], V. 391). Und wenn die den sterbenden Aktaion umringenden Gefährten (met. 3, 242–250) bedauern, dass der Führer der Hunde nicht anwesend ist, ihr Werk zu genießen, und dieser, in der täuschenden imago zugrundegehend, doch auch beklagt, dass er nun das Spektakel seiner eigenen Vernichtung versäume, ist ein Punkt in der Evidenzierung des Tragischen erreicht, der auch in der Moderne nicht mehr übertroffen wird.

86.19 Zeigen, was noch niemand gezeigt hat Die demiurgische Poetik des Ovid findet viele Wege, die Spur des Menschen bis in jene Zonen hinein zu verfolgen, für die erst das 19. und 20. Jahrhundert wieder empfänglich geworden sind. Sie zeigt das Leben dort, wo es entweder noch gar nicht begonnen oder

schon aufgehört hat. Die Zunge, die der gewalttätige Thrakerkönig Tereus der geschändeten Philomela entreißt, »(lallt), auf die schwarze Erde gefallen, ... ihr noch zitternd / zu und schnellt, wie der Schwanz der verstümmelten Schlange zu springen / pflegt, sich empor und sucht im Sterben die Spur seiner Herrin« (ipsa iacet terraeque tremens immurmurat atrae, / utque salire solet mutilatae cauda colubrae, / palpitat et moriens dominae vestigia quaerit; met. 6, 558–560). Palpitat: die Zunge, das Herz der Erzählung. Umgekehrt erscheint schon im Schöpfungsplan des ersten Buches hinter der Figuration des Chaos der vultus, das Antlitz des Menschen (met. 1, 6). Die Manipulation der naturgeschichtlichen Agenda: Hier ist sie Programm. Alles Herrliche und Hässliche, das Körpern widerfahren kann, sei es in der Erweckung des unbelebten Steins zu den pochenden Adern der Jungfrau (Pygmalion, met. 10, 254–258 und 280–294), sei es im kannibalischen Akt des selbst sich verspeisenden und über dem Selbstfraß zu immer neuem Wachstum gelangenden Erysichthon (met. 8, 738–878): Hier ist es gedacht. Die ovidischen Metamorphosen, ein gewaltiger Maschinen- und Menschenpark.

86.20 Die phantastische Biographie des Menschen Die Wirkungsgeschichte des Werks ist schon deshalb noch nicht an ihr Ende gelangt, weil es – soll man sagen: glücklicherweise? – noch viele Metamorphosen gibt, die ihrer ›Bestätigung‹ in der Zukunft harren: Wie kann man zugleich Jäger und Beute, Verfolger und Verfolgter, Subjekt und Objekt einer Begierde sein (Actaeon, Narziss, Erysichthon)? Wie zugleich in einer Welt der Ordnung (die funktionierende, ja, die erfolgreiche Jagd) und der Zerstörung (die Zerreißung des Jägers) leben? Was sich in der Erzählung des Ovid wie eine Kette von Alpträumen liest, mag sich in der Geschichte als der mythopoetische Kern einer Unheilsgeschichte erweisen. Meine These ist: Die Einbildungskraft des Ovid hat schon oft die Chiffren (oder die mythologische Signatur) für die unwahrscheinlichsten, abgründigsten, köstlichsten, aber auch perversesten Entwicklungen und Zustände der menschlichen Spezies und des von ihr bewohnten Raumes (res publica) geliefert. Mit anderen Worten: Die Metamorphosen sind die phantastische Antizipation der Biographie des Menschen. Man muss sie nicht umschreiben und auch nicht fortsetzen; sie reprogrammiert sich, ohne dass sie noch der ordnenden Hand

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eines Schöpfers bedürfte, unaufhörlich selbst und generiert so, Generation um Generation, das imaginäre Widerbild einer Gegenwart, die sich selbst rätselhaft ist. Die Idee der Geschichte selbst wird rätselhaft, weil die Metamorphosen, dieses unheimliche ›Labor der Moderne‹, ihr in einer noch zu beschreibenden Weise voraus sind.

86.21 Die Philologie und die Metamorphosen der Zukunft Dies anzuerkennen, braucht es keine Alchemie. Und es soll auch keine Rede davon sein, dass der alte Text in divinatorisch-mantischer Weise Problemlagen der Zukunft vorausgesehen habe. Eine solche Annahme wäre bei allem methodischen Raffinement ein kruder Positivismus. Nein, der im Ovid mit Händen zu greifende kongeniale Ausdruck einer Erfahrung der Gegenwart ist nur auf den ersten Blick etwas ganz Unmögliches. Selbstverständlich kommt in dem alten Text nicht ›unsere‹ Erfahrung zum Ausdruck, aber doch eine Erfahrung, wie wir sie – gut aristotelisch gesprochen – machen könnten. Wenn wir eine Erfahrung nicht machen, heißt das gleichwohl nicht, dass es diese Erfahrung nicht (für andere) gibt. Es mag sein, dass uns die Erfahrung erspart bleibt; es mag sein, dass wir nicht die richtigen sind, die Erfahrung zu machen oder etwas als solche Erfahrung zu realisieren, weil uns die Abgründigkeit des Raums dieser Erfahrung verborgen bleibt. Dafür aber gibt es die Dichter. Sie helfen uns, wo wir zu

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schwach oder zu beschränkt sind, selbst eine Erfahrung zu machen, auf und führen uns an den Rand des Abgrunds und manchmal mitten hinein. Die Philologie tut etwas ganz Ähnliches. Sie erschließt in den alten Texten einen Raum der Erfahrung, der die komplexesten Problemlagen unserer Gegenwart mit einem Mal erhellen kann. Es ist also nicht die Zukunftsforschung und auch nicht die Philosophie oder gar Theologie, es ist – neben und mit der Kunst und der Dichtung – die Philologie, die, unbekümmert um Letztgewissheiten und Heilsbotschaften, in der Welt der Vorzeit die Fragen von heute und vielleicht sogar auch von morgen und übermorgen offenlegt und so – als Archäologie des menschlichen Betreffs – die Modernität der carmina perpetua des Ovid auch für künftige Generationen sicherstellt. Literatur

Böhme, Gernot/Böhme, Hartmut: Feuer – Wasser – Erde – Luft. Eine Kulturgeschichte der Elemente. München 32004. Hegel, G. W. F. et alii: Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus [1797]. Hrsg. von Franz Rosenzweig. Heidelberg 1917. Ovidius Naso, P.: Amores. Medicamina faciei femineae. Ars Amatoria. Remedia amoris. Ed. E. J. Kenney [1961]. Oxford 21995. Ovidius Naso, P.: Metamorphoses. Recognovit brevique adnotatione critica instruxit R. J. Tarrant. Oxford 2004. Ovidius Naso, P.: Metamorphosen. In deutsche Hexameter übertragen und mit dem Text hrsg. von Erich Rösch [1952]. München 91980.

Jürgen Paul Schwindt

Anhang

Werkverzeichnis Ovid mit Textausgaben und Übersetzungen Amores (am.) P. Ovidi Nasonis Amores. Medicamina Faciei Femineae. Ars Amatoria. Remedia Amoris, ed. E. J. Kenney. Oxford 1994 (Scriptorum Classicorum Bibliotheca Oxoniensis). Ars amatoria/Liebeskunst. Remedia amoris/Heilmittel gegen die Liebe (lat./dt.). Hrsg. und übers. von N. Holzberg. Berlin 52011. Über die Liebe. Amores – Ars amatoria (lat./dt.). Übers. und hrsg. von M. v. Albrecht, Stuttgart 1997. Heroides (epist.) P. Ovidius Naso, Epistulae Heroidum, ed. H. Dörrie. Berlin u. a. 2012 (Nachdr. d. Ausg. Berlin/New York 1971). Heroides/Liebesbriefe (lat./dt.). Hrsg. und übers. von B. W. Häuptli, Berlin 22011. Ars amatoria/Liebeskunst (ars) P. Ovidi Nasonis Amores. Medicamina Faciei Femineae. Ars Amatoria. Remedia Amoris, ed. E. J. Kenney. Oxford 1994 (Scriptorum Classicorum Bibliotheca Oxoniensis). Ars amatoria/ Liebeskunst. Remedia amoris/Heilmittel gegen die Liebe (lat./dt.). Hrsg. und übers. von N. Holzberg, Berlin 52011. Über die Liebe. Amores – Ars amatoria (lat./dt.). Übers. und hrsg. von M. v. Albrecht. Stuttgart 1997. Remedia amoris (rem.) P. Ovidi Nasonis Amores. Medicamina Faciei Femineae. Ars Amatoria. Remedia Amoris, ed. E. J. Kenney. Oxford 1994 (Scriptorum Classicorum Bibliotheca Oxoniensis). Ars amatoria/Liebeskunst. Remedia amoris/Heilmittel gegen die Liebe (lat./dt.). Hrsg. und übers. von N. Holzberg. Berlin 52011. Medicamina faciei femineae (medic.) P. Ovidi Nasonis Amores. Medicamina Faciei Femineae. Ars Amatoria. Remedia Amoris, ed. E. J. Kenney. Oxford 1994 (Scriptorum Classicorum Bibliotheca Oxoniensis). Metamorphosen (met.) P. Ovidii Nasonis Metamorphoses, ed. W. S. Anderson. Berlin 72001 (Bibliotheca Scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana). Metamorphosen. Lateinisch – deutsch. In deutsche Hexa-

meter übertragen von E. Rösch, hrsg. von N. Holzberg. Zürich/Düsseldorf 141996 (Sammlung Tusculum). Fasti (fast.) P. Ovidi Nasonis Fastorum libri VI, rec. E. H. Alton, D. E. W. Wormell, E. Courtney. Leipzig 31988 (Bibliotheca Scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana). Fasti/Festkalender Roms. Auf der Grundlage der Ausgabe von W. Gerlach neu übers. von N. Holzberg. Berlin 42012. Ibis (Ib.) P. Ovidi Nasonis Tristium libri quinque. Ibis. Ex Ponto libri quattuor, Halieutica. Fragmenta, rec. S. G. Owen. Oxford 1915 (Scriptorum Classicorum Bibliotheca Oxoniensis; mehrf. nachgedr.). Ibis, Fragmente, Ovidiana (lat./dt.). Hrsg., übers. und erläutert von B. W. Häuptli. Zürich/Düsseldorf 1996 (Sammlung Tusculum). [Halieutica] P. Ovidi Nasonis Tristium libri quinque. Ibis. Ex Ponto libri quattuor, Halieutica. Fragmenta, rec. S. G. Owen. Oxford 1915 (Scriptorum Classicorum Bibliotheca Oxoniensis; mehrf. nachgedr.). Ibis, Fragmente, Ovidiana (lat./dt.). Hrsg., übers. und erläutert von B. W. Häuptli. Zürich/Düsseldorf 1996 (Sammlung Tusculum). Tristia (trist.) P. Ovidi Nasonis Tristium libri quinque. Ibis. Ex Ponto libri quattuor, Halieutica. Fragmenta, rec. S. G. Owen. Oxford 1915 (Scriptorum Classicorum Bibliotheca Oxoniensis; mehrf. nachgedr.). Briefe aus der Verbannung (lat./dt.). Übers. von W. Willige, erläutert von N. Holzberg. Mannheim 52011 (Sammlung Tusculum). Epistulae ex Ponto (Pont.) P. Ovidi Nasonis Tristium libri quinque. Ibis. Ex Ponto libri quattuor, Halieutica. Fragmenta, rec. S. G. Owen. Oxford 1915 (Scriptorum Classicorum Bibliotheca Oxoniensis; mehrf. nachgedr.). Briefe aus der Verbannung (lat./dt.). Übers. von W. Willige, erläutert von N. Holzberg. Mannheim 52011 (Sammlung Tusculum).

Autorinnen und Autoren Laura Aresi, Dr., Università degli Studi Firenze, Di-

partimento di Lettere e Filosofia (8 Gattungen im Kreuzfeuer; 33 Metamorphose: Kontinuität und Wandel; 71 Perseus und Andromeda; 74 Regionale Götter: Picus, Vertumnus und Pomona) Christian Badura, Dr. des., Freie Universität Berlin, Institut für Griechische und Lateinische Philologie (15 Fasti; 28 Götter; 38 Aitiologie und Antiquarismus; 39 Zeitkonzepte und der römische Kalender; 83 Aitiologische Dichtung: Venus und Adonis) Hartmut Böhme, Prof. Dr., Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Kulturwissenschaft (52 Wirkungsaspekte der Metamorphosen; 72 Phaëthon; 76 Ovids Prometheus: Aspekte der Rezeption; 84 Schöpfungsmythen) Isabella Tardin Cardoso, Prof. Dr., Universidade Estadual de Campinas, Instituto de Estudos da Linguagem (13 Remedia amoris; 21 Dichtung als Spiel) Chiara Cavazzani, M. A., Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Seminar für Klassische Philologie (29 Tiere und Pflanzen; 30 Körperkonzepte) Jost Eickmeyer, Dr., Universität Hamburg, Institut für Kirchen- und Dogmengeschichte (14 Metamorphosen; 50 Heroides) Vera Engels, M. A., Freie Universität Berlin, Institut für Griechische und Lateinische Philologie (10 Heroides; 19 Medea, Halieutica und andere verlorene oder unechte Werke; 27 Mensch und Welt) Bardo Maria Gauly, Prof. Dr., Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt, Klassische Philologie (4 Ovid und Augustus, 5 Heimat und Exil: Sulmo, Rom, Tomis) Simon Godart, Dr. des., Freie Universität Berlin, EXC 2020: Temporal Communities (56 Apoll und Daphne; Jupiter, Juno und Callisto; Hippomenes und Atalante – Gewalt und Entzug; 60 Danaë und Semele – schwere Geburten) Susanne Gödde, Prof. Dr., Freie Universität Berlin, Institut für Religionswissenschaft (69 Orpheus – zwischen Bacchus und Apollon) Jonas Göhler, M. A., Ruprecht-Karls-Universität Hei-

delberg, Seminar für Klassische Philologie (75 Erotik des Schreckens: Procne und Philomela; 80 Tiresias; Salmacis und Hermaphroditus; Caenis/Caeneus – Trans-Gender-Mythen) Matthias Grandl, Dr. des., Freie Universität Berlin, SFB 980 »Episteme in Bewegung« (3 Dichter in Rom; 23 Stil und Erzähltechniken; 62 Hercules und sein Tod) Maximilian Haas, M. A., Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Seminar für Klassische Philologie (36 ars und natura; 42 Gewalt und Verbrechen; 63 Ästhetik der Gewalt: Kentauren gegen Lapithen) Christian David Haß, Dr. des., Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Seminar für Klassische Philologie (41 Stadt und Land; 43 Wissen und Didaxe; 58 Ceres und Proserpina; Orpheus und Eurydice – zwischen Ober- und Unterwelt) Joséphine Jacquier, Dr., Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Seminar für Klassische Philologie (61 Europa und die Folgen; 65 Medusa) Stefan Kipf, Prof. Dr., Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Klassische Philologie/Didaktik der Alten Sprachen (46 Ovid im Schulunterricht) Alexander Kirichenko, PD Dr., Humboldt-Universität Berlin, Institut für Klassische Philologie (7 Ovids Amores und die römische Liebesdichtung; 24 Komposition) Eszter Korompay, M. A., Eötvös-Loránd-Universität (ELTE), Doctoral School of Linguistics (59 Kältelehren: Ceyx und Alcyone) József Krupp, Dr., Eötvös-Loránd-Universität (ELTE), Latin Tanszék (9 Amores; 59 Kältelehren: Ceyx und Alcyone; 67 Narziss – Selbstliebe zwischen Subjekt und Objekt) Theresia Lehner, M. A., Freie Universität Berlin (77 Liebe mit und ohne Aussicht: Pyramus und Thisbe) Laura Loporcaro, M. A., University of Oxford, Faculty of Classics (54 Die Metamorphosen in der Musik) Katarzyna Marciniak, Prof. Dr., Uniwersytet War­ szawski, Wydział »Artes Liberales« (34 Mythos/ Mythologie; 40 Geschichte und Gesellschaft)

Autorinnen und Autoren Sebastian Matzner, Dr., King’s College London, De-

partments of Classics and Comparative Literature (26 Vorstellungswelten: Illusion, Bildersprache, Gleichnisse; 66 Inzest-Mythen: Myrrha) Nina Simone Mindt, PD Dr., Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Klassische Philologie (47 Ovid in Wissenschaft, Enzyklopädien, Ratgeberliteratur) Melanie Möller, Prof. Dr., Freie Universität Berlin, Institut für Griechische und Lateinische Philologie (2 Die Autobiographie Ovids; 85 Ovid und Europa) Eva Marie Noller, Dr., Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Seminar für Klassische Philologie (44 Ordnung und Dekonstruktion; 73 Das Wissen der Alten: Philemon und Baucis; 81 Pythagoras und die Seelenwanderung) Bernd Roling, Prof. Dr., Freie Universität Berlin, Institut für Griechische und Lateinische Philologie (18 Epistulae ex Ponto) Bendix Sautmann, M. A., Freie Universität Berlin (11 Medicamina; 12 Ars Amatoria) Cédric Scheidegger Lämmle, Dr., Universität Basel, Departement Altertumswissenschaften; University of Cambridge, Faculty of Classics (20 Literarische Rollen; 57 Arachne, Pygmalion, Daedalus, Marsyas, Orpheus – der Künstler und sein Werk) Philip Schmitz, PD Dr., Universität Leipzig, Institut für Klassische Philologie und Komparatistik (25 Metrum (Hexameter, Distichon); 45 Überlieferung, Textausgaben, Übersetzungen, Kommentare) Johanna Schubert, B. A., Freie Universität Berlin, Institut für Griechische und Lateinische Philologie (16 Ibis; 27 Mensch und Welt) Jürgen Paul Schwindt, Prof. Dr., Ruprecht-Karls-Uni-

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versität Heidelberg, Seminar für Klassische Philologie (1 Ovid im Kontext der augusteischen Zeit; 55 Jäger und Gejagter: Actaeon oder Die ›totale Rezeption‹; 86 Ovid als Autor der Moderne) Darja Šterbenc Erker, Prof. Dr., Gastprofessorin für Latein und römische Literatur, Universität Ljubljana, Institut für Klassische Philologie. (31 Männlich, Weiblich; 37 Astronomie und Verstirnungssagen) Martin Stöckinger, Dr., Universität zu Köln, Institut für Altertumskunde (70 Pan, Syrinx und Midas – aus der Hirtenwelt; 78 Genealogien: von Romulus zu Augustus [und weiter]; 82 Von Griechenland nach Rom: die Trojaner auf dem [Heim-]Weg) Michael Thimann, Prof. Dr., Georg-August-Universität Göttingen, Kunstgeschichtliches Seminar (53 Die Metamorphosen in der bildenden Kunst) Asmus Trautsch, Dr., Berlin (32 Liebe, Leidenschaft, Erotik; 48 Die erotische Dichtung in der Literatur; 49 Die erotische Dichtung in Kunst und Musik) Gyburg Uhlmann, Prof. Dr., Freie Universität Berlin, Institut für Griechische und Lateinische Philologie (6 Nachfolge griechischer Dichtung; 22 Rhetorik) Antje Wessels, Prof. Dr., Universiteit Leiden, Latijnse Taal en Cultuur (17 Tristien) Kathrin Winter, Dr., Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Seminar für Klassische Philologie (64 Medea und Iason; 68 Heidnische Hybris: Niobe; die lykischen Bauern; 79 Theseus und Ariadne) Doren Wohlleben, Prof. Dr., Philipps-Universität Marburg, Institut für Neuere deutsche Literatur (51 Exildichtung) Fabian Zuppke, M. Ed., Freie Universität Berlin, Institut für Griechische und Lateinische Philologie (35 Philosophie und Psychologie)

Personen- und Werkregister A Achilleus Tatios  427 Ademollo, Luigi  348 Aelius Stilo  4 Aemilius Macer  15, 18, 20, 98, 250 Agamben, Giorgio  356 Agazzari, Agostino  351 – Eumelio  351 Agostini, Giulia  357 Agostini, Niccolò degli  346 Agrippa (Marcus Vipsanius A.)  4, 30 Aischylos  416, 431, 443 – Der gefesselte Prometheus  443 Alberti, Leon Battista  319 Albrecht von Halberstadt  363 Alenus, Andreas  328–329 Alighieri, Dante  352, 360, 388, 440, 455 Alkaios  11 Amann, Jürg  331 Anakreon  208 Anders, Günther  444 Anderson, Barry  353 Andreas Capellanus  302–303 – De amore  302–303 Andreas-Salomé, Lou  409 [Anonym.] – Anti-Ovidianus  305 – Carmina Burana  304, 309–311 – Carmina Riuipullensia  304 – Deidamia Achilli  327 – De nuntio sagaci (Ovidius puellarum)  304 – Der Abendgang  447 – De vetula  133, 305 – Einsiedler Gedicht (carmen Einsiedlensis)  425 – Liebeskonzil von Remiremont  304 – Narrationes Ovidianarum fabularum  297 – Ovide moralisé  297, 340, 345, 359, 374, 390, 392, 406, 412, 417, 425, 434, 440, 455–456, 474, 477 – Pamphilus de amore  304 Anouilh, Jean  420 Antonia (Ehefrau des Drusus)  132 Apicius (Marcus Gavius A.)  70 Apollinaire, Guillaume

– Les Mamelles de Tirésias  455 Apollodor  406, 443 Apollonius von Rhodos  14, 42–43, 86, 98, 456 – Argonautika (Argonautica)  86, 456 Apuleius  301, 337 – Metamorphosen  70, 224, 337, 356 Arat  43, 108, 245–247, 276 – Phainomena  43, 132, 245–247 Arellius Fuscus  29 Ariosto, Ludovico  330, 427 – Orlando furioso  360, 386, 427–428 Aristoteles  233, 290, 444, 467–468, 473 – Peri ta zōa historiai (Tierkunde)  130 Armitage, Simon  477 Arnulf von Orléans  302 – Allegoriae super Ovidii Metamorphosin  290, 297 Artmann, H.C. (Hans Carl)  413 Ash, Timothy Garton  482 Atti, Isotta degli  328 Atticus (Titus Pomponius Atticus)  289, 450 Atwood, Margaret – Penelopiad  331 Auber, Daniel-François-Esprit  353 Augustinus (Aurelius A.)  329, 443, 447–448 – Confessiones  390 – De civitate dei (Gottesstaat)  191, 390 – De ordine  447 Augustus (Gaius Octavius), s.a. Octavian  3–4, 9–10, 13, 23–26, 30, 43, 82, 84, 88, 98, 103–104, 106–109, 111– 112, 114, 116–117, 119–120, 124, 129, 131–132, 140, 205, 207, 219– 220, 245–248, 258–259, 305, 307, 312, 320, 345, 395, 450–451, 481, 487 – Res gestae (R. Gest. div. Aug.)  4, 23 Aurelius Victor – Epitome de Caesaribus  16 Ausonius (Decimus A. Magnus)  127 Austin, Henry  407 Avicenna  304 Azzoguidi, Baldasare  306

B Babbitt, Milton  353 Bachmann, Ingeborg  420–421 Bachtin, Michail M.  100 Bacon, Francis  419, 444 – De Sapientia Veterum  363 Balanchine, George  353 Balde, Jacob  262, 306, 329, 478 – Urania Victrix  329 Balderich von Bourguei  302 Barberini, Maffeo  347 Barbier, Jules  353 Barchiesi, Alessandro  4 Barkan, Leonard  441 Barksted, William  407 Barthes, Roland  9, 369 Basinio da Parma – Liber Isottaeus  328 Bassus (Jambiker)  15 Bataille, Georges  440 Battus I, König von Kyrene  114 Battus (Vater von Kallimachos)  113– 114 Baudelaire, Charles  279, 425, 478 Baudri v. Bourgueil  327 Baur, Johann Wilhelm  345 Bebel, Heinrich  306 Becadelli, Antonio – Hermaphroditus  455 Beethoven, Ludwig van  231 Behmenburg, Lena  440 Behn, Aphra  307 Bembo, Pietro  351, 356 Benn, Gottfried  421 Berchorius, Petrus  345 Berçuire, Pierre (Bersuire) – Ovidius moralizatus  290, 293, 297, 305, 345, 360, 456 Berenike I.  245 Berenike II.  245 Bernat Metge  304 Bernini, Gian Lorenzo  319, 338, 347, 359 Beyer, Marcel  333 – Taistra  333–334, 479 Bidermann, Jakob  328–329 – Heroidum Epistulae  328 – Heroum Epistulae  328

Personen- und Werkregister Birtwistle, Harrison  353 – The Mask of Orpheus  353 Bloemaert, Adrian  338 Blow, John – Venus and Adonis  351 Blumauer, Aloys – Virgils Aeneis, travestirt  461 Blumenbach, Johann Friedrich  341 Blumenberg, Hans  243, 302, 471–472, 474, 482 Boccaccio, Giovanni  305, 307, 328, 425 – Decamerone  306 – De claris mulieribus  328, 401, 474 – Fiametta  306 – Filocolo  305 – Genealogia Deorum Gentilium  390, 419 Bocheński, Jacek  263 – Der Täter heißt Ovid  263 – Göttlicher Julius  263 Bocheński, Tadeusz  263 Böcklin, Arnold  348 Boethius (Anicius Manlius Severinus B.)  70, 416 Böhme, Hartmut  243 Böhme, Jakob  491 Bohrer, Karl Heinz  271–272, 357, 473, 482 Boios – Ornithogonia  97, 193, 250 Boissard, Jean Jacques  345 Bömer, Franz  298 Bonsignori, Giovanni de’  345–346 Borghese, Scipione  347 Borowczyk, Walerian – The Art of Love  320 Botticelli, Sandro  343–344, 398 Boucher, François  319, 323, 348, 406 Boureau-Deslandes, André François – Pigmalion ou la statue animée  375 Boyd, Mark Alexander  328 Brandes, Johann Christian – Ariadne auf Naxos  453 Brecht, Bertolt  263, 308 Brentano, Bettine  331 Britten, Benjamin  353 Broch, Hermann  308, 335 Brodsky, Joseph  308, 438 – Vertumnus  58, 220, 438, 479 Bronzino, Agnolo  376 Brückner, Christine  331 Bruni, Antonio – Epistole eroiche  330 Bruni, Leonardo – Historiarum Florentini populi libri XI  451 Bruno, Giordano  358 – De gli eroici furori  355 Brutus  125

Buchner, August  351 Burmannus, Petrus (Pieter Burman)  123, 290 Buti, Francesco  351 Butler, Judith  203 Buttafava, Giovanni  438 Byron, George Gordon (Lord) – Don Juan  308 C Cabiliau, Baudouin (Cabillavius) – Epistolarum Heroum et Heroidum libri quatuor  329 Caesar, Lucius Aelius  70 Caesar (Gaius Iulius C.)  3–4, 25–26, 28, 98, 104, 109, 132, 245–248, 258, 261–263, 294, 312, 395, 450 Calderini, Domizio  290 Calderón de la Barca, Pedro  416–417 Caligula (Gaius Caesar Germanicus)  132 Calvino, Italo  320, 428, 435, 478 – Die unsichtbaren Städte (Le città invisibili)  435 – Lezioni americane  428 Calvus (Gaius Licinius Macer C.)  22, 208 Calzabigi, Ranieri de’  351 Camus, Albert – L’homme révolté  444 Camus, Marcel  422 Caravaggio, Micheangelo Merisi da  404, 409 Carolus Bovillus  444 Carré, Michel  353 Cato der Ältere (Marcus Porcius C.)  276 – De re rustica  266 Catull (Gaius Valerius Catullus)  5–6, 11, 19, 22, 27–28, 76, 154, 193, 208, 210, 213, 215–216, 245, 267, 308, 322, 481 Cavalli, Pietro Francesco  351 – Le Nozze di Teti e di Peleo  351 Ceaușescu, Nicolae  264 Celan, Paul  333–334 – Atemwende  334 Celsus  126 Celtis, Conrad – Amores  306 Cerrini, Gian Domenico  460 Cervantes, Miguel de  306, 427 – Don Quijote  306, 427 Charpentier, Marc-Antoine  351 Chassaigne, Francis  353 Chaucer, Geoffrey  304, 386, 453 – Canterbury Tales  304 – House of Fame  304 – Legend of Good Women  453 – The Book of the Duchess  386

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– The Legend of Good Women  328, 440, 453 Chrétien de Troyes  302 – Philomena  440 Chruschtschow, Nikita  263 Chrysipp  76 Churchyard, Thomas  307 Cicero (Marcus Tullius C.)  4, 32, 76, 154, 208, 234, 245, 252, 289, 468–469 – de inventione  153 – De legibus (leg.)  32 – De natura deorum (nat. deor.)  245, 468–469 Cilento, Antonella  442 – Lisario  442 Cixous, Hélène  370, 405, 478, 481 – Illa  370 – Le Rire de la Méduse  405 Clarke, Austin – Tiresias  455 Claudian (Claudius Claudianus)  301 – De raptu Proserpinae  369, 382 Claudius (Tiberius C. Drusus)  132 Clouzot, Henri-Georges – Le mystère Picasso  490 Cocteau, Jean – Orphée  353, 420, 422 Coignet, Horace  353 Coltellini, Marco  448 Congreve, William  351 – The Way of the World  306 Corinna  15, 65 Corneille, Pierre  330 – Médée  401 Corneille, Thomas  330 Cornelius Severus  125 Corot, Jean-Baptiste Camille  102 Correggio, Antonio da  343 Cosimo, Piero di  230, 399 Cotta (Marcus Aurelius C. Maximus)  20–21, 125–127, 262, 264 Crémieux, Hector  420 Creuzer, Georg Friedrich  425 Cruise, Tom  324 Cukor, Georg  374 Cupis, Torquato De  351 D Dalí, Salvador  409 Dallapiccola, Luigi  353 Dal Pozzo, Francesco  306 Dante Alighieri  231, 303, 328, 367, 404, 407, 419, 424–425 – Divina Commedia (Göttliche Komödie)  231, 303, 360, 388–389, 412 – Vita nuova  303 Da Ponte, Lorenzo  321 de’ Calzabigi, Ranieri  419 de Castro, Guillén  440 Deleuze, Gilles  453

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Anhang

Delphis, Aegidius  306 del Piombo, Sebastiano  406 De’ Medici, Cosimo  437 de Menas, Juan  306 de Rojas Zorrilla, Francisco  440 Derrida, Jacques  172, 283, 473 Dessau, Paul  353 – Orpheus und der Bürgermeister  353 d’Este, Alfonso  321 Detienne, Marcel  464 de Timoneda, Juan  440 de Troyes, Chrétien  440 Diamant, Dora  331 di Guglielmo Malpigli, Annibale  306 Diodorus Siculus  467 Disney, Walt  231–232 Dittersdorf, Carl Ditters von  353 Dominici, Giovanni  307 Domitian (Titus Flavius Domitianus  111 Donizetti, Gaetano  353 Donne, John  307 Dörrie, Heinrich  79 Dostoevskij, Fjodor M.  100 Doublet, Jean  306 Dracontius  301 Drayton, Michael  307 – England’s Heroicall Epistles  329 Drusus (Nero Claudius D., Sohn des Augustus)  131 Dryden, John  172, 386, 407, 434, 458, 477 – Fables Ancient and Modern  458 Du Bellay, Joachim  306 Dudley, Guildford  329 Dudo von St. Quentin – Gesta Normannorum  451 Duffy, Carol Ann  425, 477 – Mrs Midas  425 du Mont, Sky  324 Dürer, Albrecht  344 Dürrenmatt, Friedrich  425 Dyck, Antoon van  437–438 Dylan, Bob – Love And Theft  321 – Modern Times  321 – Thunder on the Mountain  321 E Earl of Rochester  307 Eberle, Josef  308 Eco, Umberto  229 Einhard  329 Eliot, T.S.  308, 386, 441, 456, 477 – Four Quartets  386 – Notes  441, 456 – The Waste Land  441, 456 Empedokles  233, 484 Ennius  14, 208 Enzensberger, Hans Magnus  473

Epikur  76 Erasmus von Rotterdam  293 Eratosthenes  245–246, 416 Erfahrung (usus)  84, 86, 93, 208 Eschenbach, Wolfram von  304 Espence, Claude Togniel, Sieur d‹  328 Eugenides, Jeffrey  455 Euripides  40, 152, 401, 415, 431, 467 – Bakchen  41–42 F Fabricius, Georg  306 Falconet, Etienne-Maurice  338 Fellini, Federico  320 Fellmann, Ferdinand  356 Ferrari, Ettore  28, 319 Feuchtwanger, Lion  308 Fielding, Henry  307 Fields, Dorothy  324 Fischer, Ernst  308 Flannery, Tim – Europa. Die ersten 100 Millionen Jahre  472 Florus  293 Flynn, Gillian – Gone Girl  402 Foscolo, Ugo  330 Foucault, Michel  453, 479, 487 Fragonard, Jean-Honoré  348 Franceschini, Marcantonio  406 Fränkel, Hermann  298 Frazer, James  464 Fredegar  451 Freud, Sigmund  381, 383 – Das Medusenhaupt  404 – Zur Einführung des Narzißmus  409 Fromm, Erich – The Art of Loving  314 Fulgentius  297, 406 – Mythologiarum libri  297 G Galen  304 Gallus (Cornelius G.)  6, 15, 22, 36, 86, 154, 208–209, 213–214, 312, 314 García Lorca, Federico  381, 384 Garton Ash, Timothy  473 Garzi, Luigi  406 Gascoigne, George – The Complaynt of Phylomene  440 Gay, John  351 Gellius (Aulus G.) – Noctes Atticae  297 Genesis (Band)  455 Genette, Gérard  54, 223 Geoffrey von Monmouth – Historia Regum Britanniae  451 Germanicus  4, 106, 111, 126–127, 219, 245, 247 Gérôme, Jean-Léon  377

Gesner, Johann Matthias  293 Gildenhard, Ingo  440 Giuvo, Nicola  351 Glass, Philip  353 Gluck, Christoph Willibald  330, 351, 409, 419 – Orfeo ed Euridice  351–352, 419 Goethe, Johann Wolfgang  30, 68, 172, 313, 331, 338–339, 341, 431–433, 437, 461, 477 – Dichtung und Wahrheit  176, 312, 477 – Die Metamorphose der Pflanzen  340 – Faust II  433 – Heidenröslein  308 – Metamorphose der Tiere  340 – Prometheus  371, 444 – Römische Elegien  313 – Satyros oder Der Vergötterte Waldteufel  424 Golding, Arthur  407 Goll, Yvan  421 Goltzius, Hendrick  345 Góngora y Argote, Luis  480 – Las Soledades  393 Gontard, Suzette  331 Gottfried von Straßburg – Tristan  303, 447 Gottsched, Johann Christoph  308, 479 Gower, John  304 – Confessio amantis  304 – Vox clamantis  304 Graecinus (Gaius Pomponius G.)  125– 126 Graves, Robert  263, 314 Gregor, Joseph  353 Gregor von Nazianz – Gegen die Putzsucht der Frauen  83 Grétry, André – Le Jugement de Midas  353 Grey, Jane  329 Grillparzer, Franz  330, 401 Grünbein, Durs  478 – Aus der Traum (Kartei). Aufsätze und Notate  314 Guerin, Maurice de – Le Centaure  399 Guillaume de Blois – Alda  304 Guillaume de Lorris/Jean de Meun – Roman de la Rose  303–304 H Haas, Ursula – Freispruch für Medea  401 Habermas, Jürgen  473 Hadrian (Publius Aelius Hadrianus)  70

Personen- und Werkregister Haeckel, Ernst  340 – Kunstformen der Natur  340, 404 Halberstadt, Albrecht von  425 Halévy, Ludovic  353, 420 Hall Gailey, Jeannine – Case Studies in Revenge. Philomel Gives Advice  442 Hallworth, Grace – A Web of Stories  370 Händel, Georg Friedrich – Acis and Galatea  351 – Semele  351, 389 Handke, Peter – Der Chinese des Schmerzes  413 Hardie, Philip  281–282 Harrewijn, Jacobus  331 Hartmann von Aue  448 – Erec  447–448 Hasse, Johann Adolf – Piramo e Tisbe  448 Haupt, Moritz  132, 290 Haverkamp, Anselm  243 Haydn, Johann Joseph – L’anima del filosofo ossia Orfeo ed Euridice  351 Heaney, Seamus  477 – Death of a Naturalist  413–414 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  491 Heidegger, Martin  487 Heiliger Georg  427 Heine, Heinrich  424 Heinrich II., Kg. v. England  329 Heinrich von Veldeke – Eneasroman  303 Heinsius, Nicolaus  123, 132, 290, 298 Heinze, Rudolf  149, 152 Hèle, Thomas d’  353 Herder, Johann Gottfried  172, 308, 330, 477, 491 – Plastik. Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Traume  376 Heredias, José-Maria de – Centaures et Lapithes  399 Herodot  8, 474–475 – Historien  472 Hesiod  8, 14, 35–36, 86, 189, 208, 234, 245, 247, 258, 276–277, 467 – Theogonie  42, 98, 189, 467 Hesse, Eoban (Helius Eobanus Hessus)  328 – Heroidum Christianarum Epistolae (Heroides Sacrae)  328 Hesse, Hermann  308 Heyns, Thomas – Marsyas oder Der Preis sei nichts Drittes  353 Heywood, Thomas – Oenone and Paris  307 Hieronymus

– Epistulae (Briefe)  70 Higgens, Christine – Latin Love Lessons. Put a Little Ovid in Your Life  314 Hilarius von Orléans  311 Hildebert von Lavardin  302 Hirtius (Aulus H.)  23 Hitler, Adolf  451 Hoffman, Esmé von – Ovid and the Art of Love  320 Hoffmann von Hoffmannswaldau, Christian  329 – Helden-Briefe  329 Hofmannsthal, Hugo von  330, 353 Hölderlin, Friedrich  331, 396, 432, 477, 491 – An Herkules  396 Hollander, John  353 Holzberg, Niklas  129 Homer  8, 14, 35–38, 40, 44, 54, 77, 86, 98, 151, 153, 188–189, 208, 215, 229, 234, 245, 345, 348, 381, 395, 473, 478, 481 – Hymnus an Demeter  100 – Ilias  36–39, 86, 189, 215, 366, 475 – Odyssee  40, 44, 54–55, 151, 282– 283, 318, 433 Honoré, Christophe  264 – Métamorphoses  481 Horaz (Quintus Horatius Flaccus)  5, 7–8, 10–11, 15, 18, 20, 22, 54, 98, 208, 261, 289, 294, 302, 308, 320, 474 – Ars poetica  9, 210, 233 – Carmina  10, 14, 98, 116, 247, 390 Horia, Vintila – Dieu est né en exil (dt. Gott ist im Exil geboren)  333 Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W. – Dialektik der Aufklärung  334 Hosius, Carl  298 Hughes, Ted  308, 407, 465 – Tales from Ovid  412–413, 442, 477 Husserl, Edmund Gustav Albrecht  199 Hyginus (Gaius Iulius H.)  245 – Fabulae (fab.)  406, 443, 450, 469 I Ioannis von Patmos  304 Isidor von Sevilla  297 – Etymologiae (Origines)  297 Iulia (Tochter des Augustus)  91, 320 J Jacobi, Friedrich Heinrich  491 Jacobus de Voragine  427 Jahnn, Hans Henny – Medea  401 Jean Paul  279 Jelinek, Elfriede  435, 478

503

– Philemon und Baucis  435 Johannes Secundus  306 John of Salisbury  73 Jonson, Ben  307 Joseph II. (röm.-deutscher Kaiser 1780–1790)  461 Jung, Carl Gustav  233 – Wandlungen und Symbole der Libido  264 Jünger, Ernst  435, 478 Justinus  293 Juvenal (Decimus Iunius Iuvenalis)  289, 301, 443 K Kaczmarski, Jacek  263–264 – Das Alter von Ovid  264 – Mauern  263 Kafka, Franz  308, 331 – Die Verwandlung  224, 264 – Prometheus  444 Kahn, Madeleine – Why are we reading a Handbook on Rape?  442 Kallimachos  14, 35–36, 42–43, 97–98, 108, 113–114, 189, 193, 206, 208, 245–246, 250–251, 271, 276, 481 – Aitia (Aitien, Aetia)  42–43, 97, 140, 163, 484 Kallinos  485 Kant, Immanuel  308 – Kritik der Urteilskraft  340 Karl der Große  450 Kenney, E.J.  233 Kidman, Nicole  324 Kierkegaard, Søren – Tagebuch des Verführers  308 Klee, Paul  361 Klemens Janicki (Ianicius)  262 Klinger, Friedrich – Medea auf dem Kaukasus  401 – Medea in Korinth  401 Klossowski, Pierre – Le Bain de Diane  357 Knox, Ronald A. – Ulixes Penelopae (written inside the Trojan horse)  330 Konrad von Hirsau  302 Konrad von Würzburg – Trojanerkrieg  303 Kristeva, Julia  392, 471 Kubrick, Stanley – Eyes Wide Shut  324 Küchlin – Reimchronik vom Herkomen der Stadt Augsburg  451 Kues, Nikolaus von  358 Kunert, Günter  420 Kyd, Thomas  307

504

Anhang

L Lacan, Jacques – Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion  409 Lachmann, Karl  79, 290 La Fontaine, Jean de  434 Laforgue, Jules  427, 478 – Moralités légendaires  428 Laktanz (Lucius Caelius Firmianus Lactantius)  132, 443 – Divinae institutiones  443 Landi, Stefano – La morte d’Orfeo  351 Langgässer, Elisabeth – Märkische Argonautenfahrt  401 Lanyer, Amelia  307 Leconte de Lisles, Charles Marie René – Khiron  399 Lemnius, Simon  306 Lemoyne, Jean-Baptiste  437–438 Lenz, Friedrich  131 Lerner, Adam Jay  374 Le Tendre, Serge – Tirésias  455 Levin, Ira – The Stepford Wives  376 Lewis, C.S.  231 Linné, Carl von  195 – Flora lapponica  196 – Nuptiae plantarum  196 Lispector, Clarice  481 Livia Drusilla (Ehefrau des Augustus)  126, 131–132, 248 Livius (Titus L.)  250, 257 Llach, Lluís  263 Loher, Dea – Manhattan Medea  401 Longos – Daphnis und Chloe  424 Lope de Vega  304 Lord Byron  308 Lorrain, Claude  460 Louis XV.  323 Lucan (Marcus Annaeus Lucanus)  289, 301, 398 – Pharsalia (Bellum civile)  440 Ludwig XV.  437 Lugo, Jessica  441 Lukian von Samosata  427 Lukrez (Titus Lucretius Carus)  5–6, 11, 42, 191, 193, 208, 219, 230, 233– 235, 276, 278–279, 338, 340, 344, 467 – De rerum natura  11, 86, 164, 190, 229, 233, 243 Lully, Jean-Baptiste  351 – Cadmus et Hermione  351 Lyly, John – Euphues. The Anatomy of Wit  307 – Sapho and Phao  307

M Mabuse, Jan  390 Macer (Aemilius M.)  126, 208 Madame de Pompadour  437–438 Maecenas (Gaius Cilnius M.)  20 Maier, Michael  363 Maillol, Aristide  319 Maistre Elie  302 Malatesta, Sigismondo  328 Malipiero, Gian Francesco  353 Mallarmé, Stéphane – L’après-midi d’un faune  424 Malouf, David  333, 479 – An Imaginary Life (dt. Das Wolfskind)  177, 333–334, 370 Mandelstam, Ossip  264, 308, 333–334 – Tristia  333–334 Marais, Marin – Alcione  386 Marbod von Rennes  302 Marcus Antonius  23 Marie de France – Lais  303 Marlowe, Charles  477 Marlowe, Christopher  306–307, 329, 386 – Doctor Faustus  307 – Hero and Leander  306–307, 329, 386 Marno, János – Narziss richtet sich  410 Marston, John – The Metamorphosis of Pigmalions Image  374 Martial (Marcus Valerius Martialis)  115, 301, 308–309 – Epigramme  70, 90 Masefield, John  308 Massé, Victor  353 – Galathée  353 Maximianus  70, 301 Maximilian II., röm.-dt. Kaiser  328 Maximos Planudes  72 Mayröcker, Friederike – [D]as zu Sehende, das zu Hörende  410 McCay, Winsor  231 – The Centaur  231 McHugh, Jimmy  324 Meinhoff, Ulrike  331 Meisterlin, Sigismund – Cronographia Augustensium  451 Melanchthon, Philipp  298 Merleau-Ponty, Maurice  199 Merula, Bartolomeo  306 Messalinus (Marcus Valerius Messalla M.)  20, 124, 129 Messalla (Marcus Valerius Messalla Corvinus)  14, 20 Metastasio, Pietro  330 Mexía, Pedro  306

Milloss, Aurel von  353 Milton, John  307 – Paradise Lost  437 Mimnermos  208 Mincu, Marin  32 Mirandola, Pico della  419 Molière (Jean-Baptiste Pocquelin) – Le médecin volant  476 Mommsen, Theodor  263 Montaigne, Michel de  306 – De trois bonnes femmes  155 Monteverdi, Claudio  320, 330, 417, 419 – L’Arianna  351 – L‘Orfeo  351–352 Moreau, Gustave – Jupiter et Sémélé  389 Morungen, Heinrich von  304 Mozart, Wolfgang Amadeus  320 – Apollo et Hyacinthus seu Hyacinthi metamorphosis  320, 351 – Così fan tutte  321 – Don Giovanni  321 – Le nozze di Figaro  321 Mussolini, Benito  451 Myron  241 N Naevius (Gnaeus N.)  228 Namatianus (Rutilius N.) – De reditu (suo)  127 Naso, Eckart von – Liebe war sein Schicksal. Roman um Ovid  333 Nick, Dagmar – Medea. Ein Monolog  401 Nietzsche, Friedrich  335, 424, 453, 473–474 Nikander von Kolophon  81, 193, 250– 251, 276, 464 – Alexipharmaka  94 – Heteroiumena  97, 193 – Theriaka  94 Nikolaes Heinsius d.Ä.  73 Nonnos von Panopolis  427, 431 Novalis  472 O Octavian (Gaius Iulius Caesar Octavianus Augustus)  23, 25–26, 261–264, 311 Octavius Quartio  318 Oehme, Ralph  353 Offenbach, Jacques – Orphée aux enfers  353, 419, 422 Opitz, Martin  308 Oppian – Halieutica  130 Orientius – Commonitorium  301

Personen- und Werkregister P Pannartz, Arnold  306 Pansa (Gaius Vibius P.)  23 Parmenides  381, 430 Parmigianino  346 Parthenios  208 Paulinus von Nola  127 Pausanias  443 Pausewang, Gudrun  425 Pedo Albinovanus  125 Pehnt, Annette – Briefe an Charley  331 Peri, Jacopo  320 – Euridice  351 – La Dafne favola drammatica  320 Peri, Jacopo  – Euridice  419 Perikles  473 Perilla  216, 220 Persiani, Orazio  351 Petrarca, Francesco  133, 305–306, 308, 311–312, 328, 360, 375 – Canzoniere  305, 311, 360 – De Remediis Utriusque Fortune  305 – De vita solitaria  307, 311 – Trionfo d’amore  305 Petron (Titus Petronius Arbiter) – Satyricon  70 Phanokles  416 Philips, Katherine  307 Philitas  36, 208 Philodem  8 Picart, Bernard  406 Picasso, Pablo  319, 348, 490 Piccolomini, Aeneas Silvius – In Cynthiam  306 Pico della Mirandola – Oratio de hominis dignitate  444 Pindar  395 Pizan, Christine de – Das Buch von der Stadt der Frauen  401 – Epistre au dieu d’amours  305 Planoudes, Maximos  304 Plath, Sylvia  478 – To Ariadne (deserted by Theseus)  454 – Virgin in a Tree  361 Platon  208, 210, 234, 258, 396, 415, 443, 465, 469, 473, 487 – Apologie des Sokrates  14 – Protagoras  443 – Timaios  234, 468 Plinius der Ältere  25, 83, 123, 130–131 – Naturalis historia  130, 193, 246, 289, 297 Plinius der Jüngere  70 Plutarch  424 Poliziano, Angelo  290, 344, 398, 418 – Elegia de exilio et morte Ovidi  479

– Favola di Orfeo (Fabula di Orpheo)  320, 352, 417–418 Pollack, Sidney  324 Pollaiuolo, Antonio del  359 Polo, Marco – Il Milione  435 Pompeius (Gnaeus P. Magnus)  28 Pontano, Giovanni  427 Ponticus (Epiker)  15 Pontormo, Jacopo Carucci da  376, 437 Pope, Alexander  307 – Eloise to Abelard  329 Porcius Latro (Marcus P.L.)  29 Portman, Bridgette Dutta – Caeneus and Poseidon  456 Portmann, Adolf  341 Pound, Ezra  308, 357, 441 – Actaeon  357 – Canto IV  357 – The Coming of War  357 Poussin, Nicolas  319, 347, 406, 409 Priscian  73 Properz (Sextus Propertius)  5–7, 14– 15, 18, 20, 22, 29, 36, 43, 55, 65, 68, 70, 76, 82, 86, 89, 101, 108, 118, 133, 151, 159, 170, 174, 176, 207–209, 213–214, 216, 219, 250–251, 255, 268, 306, 313–314, 438 Prudentius  398 – Hamartigenia  301 Ps.-Probus  132 Ptolemaios III. Euergetes  245 Ptolemaios II. Philadelphos  245 Puig, Manuel – Der Kuss der Spinnenfrau  481 Pulbrook, Martin  131 Puschkin, Alexander  264, 308 – An Ovid  480 Puttenham, George  463 Pythagoras  5, 193, 206, 226, 278, 458, 469, 474, 484 Q Quinault, Philippe  351 Quintilian (Marcus Fabius Quintilianus)  40, 70, 91, 129, 131, 293 – Institutio oratoria  36, 40, 70, 91, 94, 130, 172–173, 211, 213, 245, 297 R Rabanus Maurus  297 Racine, Jean  330 Rameau, Jean-Philippe  338 Ramler, Karl Wilhelm  351 Ransmayr, Christoph  308, 336, 386– 387, 479 – Die letzte Welt  177, 264, 298, 333, 335, 341, 370, 386, 442, 459 Regius, Raphael (Regio, Rafaele)  290, 293, 346

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Rembrandt van Rijn  347, 362 Rhazes  304 Richmond, John  130–132 Riemer, Friedrich Wilhelm  30 Rilke, Rainer Maria  308, 420–421, 478 – Die Sonette an Orpheus  264 – Narziß  409 Rinuccini, Ottavio  320, 351, 419 Riordan, Rick  231 Roberts, Michèle – Hypsipyle to Jason  331 Rogers, Christabelle  307 Rohde, Erwin  425 Rojas, Fernando – La Celestina  304 Romano, Giulio  346 Ronsard, Pierre de – Amours  306 Rosa, Salvator  460 Rosati, Gianpiero  132, 239–240 Rossellini, Roberto – L’età di Cosimo de’ Medici  320 Rossi, Luigi – Orfeo  351 Rossmann, Dirk  232 Rousseau, Jean-Jacques  338 – Narcisse ou l’Amant de lui-même  409 – Scène lyrique Pygmalion  353, 376 Rowling, Joanne K.  231 – Harry Potter und der Stein der Weisen  231 Rubens, Peter Paul  319, 322–323, 343, 347, 361, 371, 389, 437 Rufinus  126 Ruiz, Juan – Libro de buen amor  304 S Sabino, Angelo Quirino  327 Sabinus  79 Sabinus, Georg  293, 298 Sadeler, Egidius II.  102 Salisbury, Johannes von – Policraticus  477 Salomon, Bernard  386 Sandrart, Joachim von  346 Sappho  11, 37, 72–73, 75, 79, 133, 208 Satzenhoven, Friedrich – Die travestierte Ariadne auf Naxos  453 Savonarola, Girolamo  307 Schanz, Martin  298 Schelling, Friedrich Wilhelm  341, 444, 491 Schiller, Friedrich  170, 340–341, 396, 424, 477 – Das Reich der Schatten (Das Ideal und das Leben)  396 – Semele (Opernlibretto)  389

506

Anhang

Schlegel, August Wilhelm  477 Schlegel, Friedrich – Geschichte der europäischen Literatur  477 Schmitzer, Ulrich  448 Schnitzler, Arthur  324 Schröder, Rudolf Alexander  478 Schütz, Heinrich – Orpheus und Eurydike  351 Schwindt, Jürgen Paul  274 Seidel, Frederick  407 Seitz, Robert  353 Seneca der Ältere  29, 40, 76, 90, 129, 150, 213, 301 – Controversiae (contr.)  90, 150 – Suasorien  129 Seneca der Jüngere  91, 115, 129, 297, 301, 396, 398 – Hercules Oetaeus  396 – Medea  129, 401 – Phaedra  131 – Phoenissae  115 – Thyestes  131, 440 Servius  154, 424 Sextus Pompeius  126 Shakar, Alex – City in Love. The New York Metamorphoses  456 Shakespeare, William  305–306, 464 – A Midsummer Night’s Dream  361, 447 – Romeo und Julia  447 – The Taming of the Shrew  306, 479 – The Tempest  386 – Titus Andronicus  440–441 – Venus and Adonis  306, 406, 463– 465 Shaw, George Bernard – Pygmalion  374 Shelley, Mary  425 – Frankenstein  444 Sidney, Philip  463 Sidonius Apollinaris, Gaius Sollius Modestus  16, 70 Sigismund Gossembrot  451 Siron  8 Sjón  478 – Argóarflísin (The Whispering Muse)  456 Sloterdijk, Peter  473 Sokrates  210, 312, 487 Solanas, Valerie  331 Solis, Virgil  345 Solon  473 Sophokles – Trachinierinnen  395 Sosigenes  248 Spenser, Edmund  307, 463, 465 – Amoretti  307 – The Faerie Queene  307, 407, 465

Spinoza, Baruch de  491 Spranger, Bartholomäus  455 Stalin, Josef  263 Statilius Kriton  81 Statius (Publius Papinius S.)  70, 90, 110, 301 – Silvae  90, 110, 127, 301 Sterne, Laurence  339 Stip, Kees – Zes variaties op een misverstand  449 Strauss, Richard – Ariadne auf Naxos  330, 453 – Die Liebe der Danae  353 Stravinsky, Igor  353 – Orphée  353 Striggio, Alessandro, d.J.  351, 417, 419 Sturluson, Snorri – Prosa-Edda  451 Sueton – Augustus  4–5, 30 – De grammaticius  245 – De poetis  297 Suillius Rufus  127 Sulzer, Johann Georg  308 Suppé, Franz von  353 Sweynheym, Konrad  306 Swift, Jonathan  477 – Baucis and Philemon  434 T Tasso, Torquato  330 Tawada, Yoko – Eigentlich darf man es niemandem sagen, aber Europa gibt es nicht  393, 480 – Opium für Ovid  331 – Wo Europa anfängt  393, 480 Telemann, Georg Philipp  351 Tempesta, Antonio  345 Terenz (Publius Terentius Afer)  289, 293 – Eunuchus  390 Tertullian  443 Theognis  14 Theokrit  14, 42 – Idyllen  41, 54 Tiberius (T. Claudius Nero Augustus)  31, 106, 129, 248, 487 Tibull (Albius Tibullus)  5–6, 11, 14– 15, 20, 22, 29, 36, 64, 70, 82, 86, 89, 133, 151, 159, 170, 207–209, 213– 214, 217, 255, 268, 313–314 Tirletti, Francesco  351 Tisi, Benvenuto  437 Tizian  102, 322, 347, 361, 371, 390, 392, 406 Tokarczuk, Olga  381, 478 – Ur und andere Zeiten  382 Tomiche, Anne  441

Traube, Ludwig  289 Trier, Lars von – Medea  401 Tröster, Joachim  306 Tucca  15 Turner, Joseph Mallord William  461 Tutitcanus  126 Tyrtaios  485 U Ulrich von Hutten – Heroiden  328 V Valckenaer, Lodewijk Caspar  132 Valéry, Paul  308 van den Vondel, Joost  328 van der Borcht, Pieter  345 van Mander, Carel  346 Varius Rufus (Lucius V.R.)  15 – Thyestes  129 Varro (Marcus Terentius V.)  4, 208, 250, 252 – De familiis Troianis  450 – De re rustica  266 Vasari, Giorgio  343 Vecellio, Tiziano  319, 427, 437 Velázquez, Diego  347, 371 Velleius (Gaius V.)  468 Venantius Fortunatus  301 – De virginitate  327 Vergil (Publius Vergilius Maro)  5, 7–8, 11, 14, 18–20, 28, 30, 40, 54, 65, 70, 77, 89, 98, 101, 118, 131, 138, 149, 154, 156, 170, 175, 208, 220, 228– 229, 231, 261, 264, 266, 278–279, 289, 294, 303, 308, 312, 345, 381, 404, 415, 418, 424, 478, 481, 485 – Aeneis  8, 15, 22, 27, 40–41, 43, 51, 63–65, 72–73, 77, 87, 98, 108, 116, 121, 154, 175, 190, 204, 209, 246, 250, 294, 301, 330, 395, 460–461, 473, 479 – Eklogen  64, 381, 425 – Georgica  8, 64, 81–82, 86, 94, 154, 175, 266–269, 276, 278, 351, 368, 381 Veronese  406 Vibius Sequester – De fluminibus fontibus lacubus nemoribus paludibus montibus gentibus  297 Vico, Giambattista  491 Vincart, Jean Antoine  329 Vincent von Beauvais  297 Virgilio, Giovanni del  371, 374 Viterbo, Ägidius von  356 Vittorio Emanuele III.  28 Voltaire  323 Vulpius, Christiane  314

Personen- und Werkregister W Wagner, Richard  389 Waiblinger, Wilhelm  432 Waldenfels, Bernhard  199 Walther von der Vogelweide  304 Warburg, Aby  343–344, 477 Wertenbaker, Timberlake – The Love of the Nightingale  440 Wharton, Anne  307 Whitney, Isabella  307 Wickram, Jörg  345 Widl, Pater Rufinus  351 Wieland, Christoph Martin – Anti-Ovid, oder die Kunst zu lieben  308, 330

Wilamowitz-Moellendorf, Ulrich von  81 Wilder, Thornton  263 Willetts, Kheli R.  231 William von St. Thierry – De natura et dignitate amoris  305 Winckelmann, Johann Joachim  308, 348 Wolf, Christa – Medea. Stimmen  402 Wolff, Caspar Friedrich  341 Woolf, Virginia  308, 441 Wroth, Mary  307

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Y Yourcenar, Marguerite  263 – Feux  330 Z Zaimoglu, Feridun – Geschichte der Frau  331 Zainer, Günther  306 Zigler und Kliphausen, Johann Anselm von  329 Zinovieff, Peter  353 Ziolkowki, Theodore  263 Zissos, Andrew  440 Zweig, Max – Medea in Prag  401

Sachregister einschl. mythischer Figuren A Ablehnung (recusatio)  42–43, 65, 92, 101, 108, 145, 175, 208 Absenz  281–284 Absyrtus  31 Achilles  85–87, 89–90, 95, 98, 186, 262, 319 Acis  220, 351 Acrisius  388, 390 Actaeon  12, 41, 101, 103, 141, 181, 194, 200, 225, 228, 235– 236, 242, 273–274, 281, 338–339, 345–347, 355–358, 360, 362, 365, 443, 491–492 Actium  22, 30, 246, 261 Adonis  220, 225, 228, 235, 306, 347, 351, 373, 406–407, 463–465 adulterium  88 Aeneas  29–30, 40, 51, 67, 72, 74, 77, 79, 98–99, 104, 160, 182, 228, 352, 381, 395, 450–451, 460–461, 473 aetas Ovidiana  54, 172, 264, 289, 297–298, 302, 304, 311 Afrika  26, 231, 480 Agrikultur  94, 191, 266, 268 Ägypten  26, 289, 301, 331 Aiakos  475 Aietes  159 Aitia  108, 189, 219, 245–246, 250, 252, 450 Aitiologie, aitiologisch  42–43, 107, 117, 138, 158, 162–163, 182, 205, 224, 228–229, 246, 250, 258, 276–277, 279, 463, 488 Alba Longa  460 Alchemie  455, 493 Alcyone  220, 386–387 Allegorese, Allegorisierung  172, 233, 327–328, 345, 360, 363, 374, 390, 409, 447, 476, 478, 491 Alter Ego  119–120, 411 amicitia (Freundschaft)  15, 18–21, 27, 31, 124, 126–127, 142, 160, 216, 330 Amphion  412–413 amplificatio  440 Anagramm  211, 241 anarchisch  9 Anchises  121 ancilla  85 Andromache  36–37, 309, 478 Andromeda  196, 220, 294, 347, 427–428 anima, animus  8, 97, 199, 223, 233, 269, 366, 383–384, 407, 488 Anna Perenna  189 annus Ovidianus  264 Anonymität  112–114

Anthropogenie, Menschenbildner(ei)  443–445 anthropomorph  181–182, 194, 196, 198, 233, 278 Anthropophagie  469 Anthropozentrik  341, 468 Antiquarismus, antiquarisch  107, 110, 189, 250–253, 276, 450 Apoll(on)  30, 57–58, 69, 85, 90, 92–93, 95, 99, 101–103, 110, 170, 188, 204, 219–220, 225, 250, 256, 272, 305, 312, 319– 320, 344–345, 347, 351–353, 359–362, 367, 389, 412, 415– 416, 419, 424–425, 460, 464, 469, 488–489, 492 Apollo Palatinus  30 Aposiopese  375, 462 Apotheose  23, 25–26, 141, 181–182, 185, 294, 395–397, 419, 450 Arachne  6, 99, 102–104, 165, 174, 181–182, 204–206, 223, 233, 335, 339–340, 365, 367–371, 374, 392, 413, 443, 475– 476, 481 ara maxima  51 Archetyp, Hyparchetyp  72, 127, 237, 298, 344, 477 Arethusa  76, 99–100, 338, 381 Argonauten  125, 164, 460 Argus  156, 273, 365, 424 Ariadne  7, 73, 75, 87, 89, 177, 219, 245, 312, 318, 321–322, 330, 351, 428, 453–454, 478 Arion  107, 393 Aristaeus  352–353, 381, 417–418 ars oratoria  87 Arzt  94, 276, 297 Asianismus  154 Asien/Asia  256, 393, 458, 472, 475, 480 Ästhetische Autonomie  160 Astrologie  298 Astronomie, astronomisch  56, 107, 245, 248–249, 257, 298 Atalante  220, 359, 362–363, 463 Athene  369–371, 404–405 Ätna/Aetna  55, 381, 462 Atomismus, Atomisierung  5, 234, 338 Atrium Libertatis  30 Attizismus  154 Aufklärung, Frühaufklärung, Gegenaufklärung  228, 307, 334, 337, 376, 434, 458, 477 Augusteische Zeit  3–4, 7, 9–10, 13–15, 19, 21–27, 29–31, 42–43, 48–49, 52, 54, 70, 72, 82, 84, 88, 98, 103–104, 106– 109, 111–112, 114, 116–120, 124, 126, 129, 131–132, 139– 141, 146, 150, 163–165, 182–183, 185–187, 205, 207, 212– 213, 217, 219–220, 245–248, 258–259, 261–264, 266, 269– 270, 303, 305, 307, 312, 320, 338, 345, 395, 405, 450–451, 467–468, 478, 481, 484, 487–488, 491

Sachregister einschl. mythischer Figuren Authentizität  4, 90, 100, 118, 140, 210, 277 Autobiographie  13, 16, 26, 63, 69, 93, 106, 112, 118–119, 133, 150, 182, 262, 266, 275–276, 328, 479 Autochthonie  451 Autofiktion  137 Automedon  86–87 Autor (auctor), Autorschaft  3, 5, 12–15, 55–56, 64, 66, 69, 76–77, 79–80, 82, 84, 86–88, 112, 118–121, 129–133, 137– 138, 140–142, 165, 188, 212, 223, 247, 307, 333, 341, 356, 370, 392, 459, 465, 484, 486 B Bacchus, Bacchus-Kult  40–41, 75, 87–89, 103, 129, 139, 188, 206, 219, 245, 318, 321–322, 353, 366, 388–389, 409, 415, 418, 420 Ballett  351, 425 Barock  306–307, 319, 327, 329–331, 351–352, 449, 480 Baucis  220, 294, 433–435, 478 Baum  103, 194–195, 205, 224–225, 334, 359, 361, 406, 433, 449, 488–489 Beatrice  388 Begehren  101, 174, 176, 194, 204–205, 210–213, 215–216, 219, 301, 319, 324, 347, 357, 359, 361, 373, 383, 406–407, 424, 447, 479, 485, 488–489 Bellerophon  430 Beroe  389 Bibel  229, 297, 305, 318, 328–329, 337, 343, 346, 374, 468, 476 Bibliothek  30, 54, 245, 301 Biographie, Biographismus  13, 16, 21, 118, 263, 297, 492 Biologie  195, 337, 339–340 Bona Dea  251 Brief  21, 24, 38, 72–73, 78, 114, 119, 153, 282–283, 303 Briefroman  64, 330–331 Britannien  26, 267, 302 Brutus  107 Buchmalerei, Buchillustration  345, 348 Bukolik, bukolisch  53, 101, 118, 156, 240, 273, 419 Bundesgenossenkrieg  28, 51 Bürgerkrieg  23–24, 28, 41, 214–215, 261, 468 Byblis  101, 205, 220, 365, 463 C Cadmus/Kadmos  41, 98–99, 220, 225, 236, 273–274, 294, 351, 355, 392, 472, 475, 481 Caeneus  103, 399, 455–456, 478 Callisto  42, 203–205, 219–220, 225, 245, 347, 359, 361–362 Calypso  39, 76, 87, 151 Camerata  320 captatio benevolentiae  159 carmen deductum  43, 154 carmen et error  91, 275 carmen perpetuum  42, 182, 318, 345 Carna  191 Cassandra  177 Castor  245, 322 Caunus  220, 463 Cephalus  87–88, 220 Ceres, Cerealia  49, 100, 107, 139, 190, 338, 381–382, 434 Ceyx  220, 386–387

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Chaos  85, 127, 163, 169, 175, 183–184, 186, 234, 243, 278, 281, 284, 294, 345, 467–468, 489–490, 492 Charon  11, 352 Charybdis  125, 461 Chione  220 Chiron  229, 231, 319 Cinyras  220, 235, 406–407, 463 Circus Maximus  30, 212 Codex  84, 123, 131, 289 coincidentia oppositorum  358 concepto (Denkbild)  393 concordia (Harmonie, Eintracht)  110, 184, 190, 215, 248, 253, 473 condicio humana, condicion humaine  355, 358, 476 Constanţa  13, 28, 30, 32, 319 convivium  85 Corfinium  28–29 Corinna  15, 46, 49–51, 55, 65–70, 137–138, 158–159, 176– 177, 193, 208–210, 214, 216, 220, 255, 304, 307, 309–311, 313, 375, 462 corona civica  30 Coronis  220 cultus  25, 30, 81–82, 85–86, 89–90, 217, 239–240, 242, 259, 261, 268–269, 323–324 Cupido/Amor/Eros  11, 39–40, 46–49, 52–53, 55–56, 65, 69, 84–85, 88, 90, 92–93, 95, 116–117, 124, 138–140, 144–146, 150, 152, 162, 164, 170, 175, 188, 190, 198, 208–209, 211, 214–216, 218–220, 262, 271, 277, 303–305, 309, 311–314, 318–319, 322, 328, 339, 352, 359–360, 377, 381, 390, 392, 406–407, 419, 431, 463, 467, 484–486 Cyane  338, 381 Cynthia  48–50, 55, 65–66, 209, 313 Cyparissus  174 D Daedalus  7, 141, 318, 365, 367, 412, 430, 479 Danaë/Danae  347, 353, 388, 390, 437 Daphne  57–58, 69, 99, 102, 165, 174, 181, 188, 204, 219– 220, 223, 225, 235, 241, 305, 338, 344–345, 347, 359–361, 365, 488–489, 492 Deianira  73–74, 160, 395 Deïdamia  85, 87 Deklamation  76, 149–150 Dekonstruktion  109, 216, 279, 281, 283–284, 409, 444 Delia  49–50 Demetrius  361 Demiurg  366, 443, 467 Denkbilder/Denkfigur(en)  10, 108, 266–267, 269, 278, 356, 383–384 Deszendenzmodell  258 Deucalion und Pyrrha  98, 185–186, 443 Diana  41, 101–102, 188, 200, 203, 228, 236, 242, 250, 273– 274, 345, 347, 353, 355–357, 361, 369, 412, 463 Didaktik  228, 279, 296 Dido  72–74, 77, 159, 175, 228, 330–331, 351, 460–461 différance  172, 384 Dike  430 dissémination  405 dissimulatio artis  240

510

Anhang

Distanz  6, 16, 19, 21, 40, 43, 85–86, 106, 155, 159, 268, 274, 277, 303, 336, 412, 480 Dodekathlos  395–396 domina  39, 66, 68–69, 208, 211, 214, 220, 267–268 domus  21, 203, 248, 434 Drama, Dramatik  38, 40, 233, 306–307, 320, 425 E Echo  149, 200, 220, 237, 319–320, 322, 335, 407, 409–410, 427, 477 écriture féminine  405, 478 Ehe, Ehegesetze  24, 27, 36, 39, 51, 67, 74, 86, 88, 91, 118, 121, 124, 131–132, 139, 141, 153, 204, 219–220, 245, 261, 303, 309, 314, 324–325, 362, 374–376, 390, 422, 455 Ekphrasis  103, 204, 347, 366, 368–369, 410 Elegie, Liebeselegie, elegisch  6, 11, 15–16, 18–19, 24, 29, 36, 38–39, 42–43, 48, 51, 53, 55–58, 63–70, 76–77, 81, 86–87, 90, 92, 94–95, 106, 108, 116–117, 119, 137–141, 144–146, 149, 154, 157, 159–160, 162, 164, 174–175, 190, 198, 206, 208–211, 213–216, 218–219, 268, 276–277, 281–283, 294, 301, 305–308, 312, 320 Elegisches Distichon  170–171, 276 elektronische Musik  353 Elisabethanische Zeit/Elisabethanisches Theater  455 Elysium  46, 352, 419 Emanzipation  279, 324, 367 Emblematik  346 Empfindsamkeit  308 Enjambement  97, 171, 413, 488 Epaphus  430–431 Epigonalität  474 Epigramm  37, 63–64, 66, 115, 138–139, 162, 289, 308–309, 347 Epikureismus, epikureisch  93–94, 233, 310, 338, 468 Epilog  26, 85, 87, 92, 94, 140, 144, 156, 165, 182, 262 Epiphanie  67, 90, 95, 146, 159, 223, 255, 430, 438, 462 Epitaph  15, 86–87 Epyllion  123, 306, 329, 374, 464–465 Erfahrung (usus)  84, 86, 93, 208, 276 Erkenne dich selbst! (Gnothi seauton)  85, 146 Erotik  87, 92, 101, 140, 208–209, 218–219, 266, 308, 313, 329–330, 347–348, 374, 381–382, 389, 407, 440, 464, 478 Erotodidaxis  86–87, 216, 277, 279, 296, 308–309, 311 Erysichthon  235, 492 Ethik  216, 235, 327, 337 Ethopoiie  140 Europa  103, 145, 204, 219–220, 233, 256, 263–264, 293, 302, 304–305, 307, 311, 314, 328, 330, 343–344, 347, 368, 370– 371, 392–393, 438, 471–482, 487 Europäische Union  264, 471, 473, 481 Eurydike/Eurydice  100, 220, 294, 345, 351, 353, 367, 381– 384, 415–421 Evidenz  102, 443, 492 exclusus amator  13, 57–58, 69, 117, 141, 175, 214 exclusus poeta  13, 69 exemplum/exempla  37, 87, 113, 132, 145, 186, 210, 228, 235, 312, 448, 461 Exil  13–16, 19–21, 23, 28–29, 31–32, 43–44, 72, 74, 79, 91, 106, 112–114, 116, 119–121, 123–125, 127, 129–132, 141, 150, 160, 165, 177, 182, 208, 216, 218, 220, 262–263, 265,

268–269, 275, 282, 301, 303, 305, 307–308, 310–311, 314, 321, 325, 327, 333, 336, 438, 479 Experiment  47, 53 F fabula  44, 139, 158, 228, 345 Faden  7, 103, 176, 248, 370, 418, 453 Falerii  51 Fälschung  132–133 Fasti Praenestini  163 Fatum  165, 338, 418 Feminismus, feministisch  82, 103, 204, 311, 330, 370, 405, 442, 478 figura  48, 173, 352, 404, 406 Fiktionalität  26, 50, 146, 165, 172, 175, 177, 210, 233 Film  231, 264, 318–320, 324–325, 353, 374, 376, 386–387, 422, 449, 481 Flora  126, 189, 196, 253, 339, 344 Floralia  107 Florenz  231, 307, 343, 351, 377, 398–399, 437 Florilegien  297 Fluch  74–75, 102, 112–114, 334, 413–414 Fortuna  337–338, 355 Forum Romanum, Augustusforum, Caesarforum  30 Fragment(e)  42, 81–82, 97, 123, 130, 246, 290, 304, 363, 465, 467 Freud, freudianisch  212, 381, 383, 404 Frühe Neuzeit  110, 293, 327–328, 343, 363, 390, 396, 401, 416, 440, 444, 450–451, 453, 455, 476, 479 G Gaia  432, 443, 467–469 Galante Lyrik  308 Galatea  54–56, 58, 76, 220, 304, 351 Galathée  338, 353, 376 Gallien  26 Ganymed  101, 204, 220, 248, 393 Gastmahl  68–69, 86, 218, 419, 433, 435 Geburt  63, 75, 113–114, 251, 343, 368, 372, 388–390, 406, 409, 437, 490 Gender, Geschlechterrollen  39, 77, 88–89, 103, 203, 216, 298 Genealogie  266, 383, 388–389, 450–452, 467 Genie, Genieästhtetik  242, 376, 444, 490 gens Iulia/Julier  25, 261, 450–451 Gerichtsrede  92 Gesten/Gestik  7, 10, 25, 46, 68, 85, 98, 201, 217, 223, 312, 324–325, 362, 365, 375, 384, 392, 409, 461 Geten  31, 123–126, 439 Gewalt, Vergewaltigung  39, 47, 67, 74, 85, 89, 100, 103–104, 107, 164, 175, 181, 183, 195, 199, 201, 203–205, 215, 219– 220, 229–230, 271–273, 275, 303, 309, 322, 338–339, 359– 362, 370, 381–382, 388–389, 392, 398–399, 401, 440–441, 454, 458, 467, 475–476, 479, 481, 485–486 Giganten  101, 127, 129, 185, 205, 381, 491 Gigantomachie  53, 65–66, 101, 129, 138 Gladiatorenkämpfe  84 Goldenes Zeitalter (aurea aetas)  48–49, 185, 258–259, 261, 337 Goldregen  388, 390

Sachregister einschl. mythischer Figuren Gorgo  404, 428 Gründung(sakt), Stadtgründung  4, 8, 31, 51, 102, 104, 162, 257–258, 460, 467 Gründungssage, Gründungsmythos  31–32, 98, 182, 215, 252 H Hagiographie  328–329, 331 Haptik  69 Heimat  14, 16, 28–30, 32, 40, 43, 74, 106, 116, 123–124, 225, 264, 267–269, 402, 407, 439, 454, 462 Heimweg (nostos)  460 Heirat, Hochzeit  24, 74, 88, 220, 230, 301, 352, 374–375, 382, 443, 467 Helena  25, 73–75, 78, 207, 312, 327, 331, 361 Heliaden  223, 225–226, 242, 430 Hellenismus  14, 98, 154, 193, 208 Hellespont  75, 212, 256 Hemiepes  169 Hephthemimeres  169 Herkules/Herakles  37, 51, 74, 98, 127, 139, 160, 164, 219, 245, 251, 253, 262, 312, 395–397, 399, 443 Hermaphroditus  103, 220, 236, 455 Hermeneutik  381, 384 Hermes  40, 156, 205, 384, 420–421, 455 Hero  72–73, 75, 212, 282, 306–307, 329, 351, 386 heroisch/unheroisch  48, 65, 88, 162, 164, 214, 330, 381, 460, 479 Hexameter  53, 56, 65, 73, 81, 87, 97, 108, 116, 130, 144, 154, 156, 164, 167–170, 219, 271, 294 Hiat  168 hieros gamos  443, 467 Hippodameia  229–230, 399 Hippolytos  173, 463 Hippomenes  220, 359, 362–363, 463 Hirten, Hirtenflöte  191, 251, 352, 365, 424–425 Homoerotik  216, 220, 418 horror vacui  10 Humanismus, Neuhumanismus  31, 265, 290, 293, 295, 297, 306, 314, 320, 327–328, 330, 344–347, 358, 417, 419, 473, 479 Hyacinthus/Hyazinth  101, 173, 175, 220, 235, 272, 320, 351, 465 Hybris  102, 181–182, 185, 235, 340, 371, 412–414 Hylonome  229–232 Hymnus  25, 30, 81, 85, 89–90, 100, 164, 219, 247, 381 Hypsipyle  73–75, 312, 331, 453 I Iason/Jason  73–76, 79, 98, 125, 129, 152, 159, 220, 312, 331, 401–402, 456 Icarus  7, 85, 87, 90, 318, 367, 412, 430–431, 479 Ich-Verlust  236–237, 410 Ideengeschichte  5, 11 identifizierendes Lesen  357 Identität, Nicht-Identität  13, 32, 56, 108, 110, 112–114, 172, 176, 203, 214, 224–225, 236–237, 242–243, 263, 338, 357, 373, 401–402, 407, 409, 438–439, 455–456, 471, 475, 480– 481 Ideologie  10, 21, 54, 82

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Idylle  48–49, 54, 351, 418, 435 Ikone, Ikonisierung, Ikonizität  392, 404, 409, 476 Ikonoklasmus  452 Illusionismus  241–242, 274, 374, 399 Imagination  39, 102, 118, 120, 124, 126, 150, 152, 187, 210, 241, 266, 271–272, 279, 305, 318, 346, 348, 357, 476, 486 Imitation, Imitationsdiskurs  240, 327, 373, 444 impassibilité  399 Impotenz  50, 67, 70, 124, 214, 218 incipit  199, 256 Individuation  374 ingenium  81, 108, 116–117, 120, 125, 209, 216, 365 Inschrift  5, 16, 85, 138, 266, 451 Intensität  4, 234, 237, 274–275, 357, 454, 487 Intermedialität  366 interner Erzähler  450 interpretatio christiana  417 Intersektionalität  89 Invektive  112–113, 115–116, 142 inventio  84, 87, 340, 346 Inzest  99, 176–177, 218, 235, 383, 406–407 Io  42, 75, 99, 103, 156, 204–205, 220, 225, 235, 273, 338, 365, 418, 424, 430–431 Iphigenie  160 Iuppiter/Jupiter  30–31, 42, 66, 98–99, 101, 103–104, 124, 145, 156, 184–185, 188, 203–205, 219–220, 230, 233, 246–248, 264, 312, 338, 352–353, 359, 361, 383–384, 388– 390, 392–393, 395, 424, 430, 433, 450, 455, 474–475, 477, 482 Iuventas  110, 253 Iuventius  47 J Jambus  139 Janus  109–110, 140, 157, 163, 189, 191, 251, 253, 256–258 Jesuiten  262, 329 Juno/Hera  42, 51, 81, 101, 110, 139, 156, 188–189, 203–204, 237, 250–251, 253, 338, 359, 361, 388–389, 431, 455, 475 K Kalender  25, 43, 55, 57, 106–108, 110, 117, 140, 157, 163, 182, 248, 251, 253, 255, 262 Kallimacheische Dichtung  42, 64, 97–98, 129, 206, 233, 271 Kalypso  125, 151 Kanon  138, 295, 345 Kapitol  10, 30, 183 Katabasis  352, 395 Katalog  18, 25, 30, 51, 64, 66, 87, 113–114, 125, 130, 183, 242, 256, 412, 450, 453 Keuschheit  174, 207, 301–302, 312, 345, 359, 361, 406–407, 465 Kinder- und Jugendkultur  230–231 Kippfigur(alität)  358, 456, 477 Kitsch  434 Klagelied  56–57, 368 Klassizismus  298, 329, 339 Kleopatra/Cleopatra  48, 453 Kolchis/Colchis  31, 75 Komet  25, 165, 246–247, 430

512

Anhang

Komik  4, 217–218, 441 Kommentar, Kommentierung  42, 78, 82, 86, 107, 110, 131, 140, 156, 160, 278, 289–290, 293, 297–298, 301–302, 305– 306, 311, 327, 347, 360, 371, 400, 407, 464, 485 Komödie  37, 53, 57–58, 65, 87, 95, 208, 218, 231, 293, 304, 307, 360, 374, 388–389, 409, 437, 445 Königszeit  107 Konkurrenzkampf  47 Kontinuität  21, 43, 93, 219, 223, 226, 278, 338, 384, 450– 451, 458–459, 476 Körper, Körperlichkeit  49, 67, 195, 199, 201, 361, 396, 399, 488–490 Korrespondenz  123, 127, 137–138, 142, 176, 215, 347, 368, 450 Kosmetik  85, 89, 212, 323 Kosmogonie (Schöpfung)  98, 101, 109, 164, 184–185, 234– 235, 243, 278, 284, 366, 467–468, 489 Kosmos  186–187, 219, 234, 337, 339–341, 365–366, 369, 467 Kreta  367, 392, 460, 472, 475 Kritik, Literaturkritik  10, 13, 70, 77, 82, 88, 91, 107, 126, 130, 137, 149, 213–214, 216, 293, 297–298, 307–308, 330, 333, 367, 376, 440, 451–452, 461, 471, 477, 491 Kulturcode  228–232 Kulturschöpfung  395 Kulturtechnik  258, 324, 443 Künstlerfiguren  90, 368, 410 Künstliche Intelligenz  376 Kunst und Wirklichkeit  475 Kybele  164, 463 Kyllaros  229–231 L labor  94, 369–371, 459, 469 Labor (das)  56, 202, 476, 486, 492–493 Labyrinth  367, 453, 481 Landschaft  102, 116, 194, 196, 341 Landschaftsmalerei  460 Laodamia  73, 75, 215, 312 Lateinunterricht  293, 295 Laura  305, 311, 360 Leander  72, 75, 212, 282, 306–307, 329, 351, 386 Leben und Dichtung  149, 271–272, 275 Leerstelle  118, 120, 158, 282, 311, 374, 393, 480 Lehrgedicht  15, 36, 43, 53, 82–83, 86–87, 108, 124, 132, 139, 157, 193, 218, 233, 245, 278, 430, 478 Leib, Leiblichkeit  118, 194–195, 199–201, 223, 239, 243, 275, 367, 389, 395, 399, 430, 449, 469 Leier  170, 219, 320, 352, 368, 415, 417, 420–421, 461, 480 Leto/Latona  250, 256, 413–414 Libido  264, 284, 463 Liebesdichtung, s.a. Elegie  30, 40, 43, 46, 50, 55, 63, 65, 67, 73, 82, 92, 106, 117–119, 139, 149, 157, 162–163, 177, 198, 201, 208–213, 216, 218–220, 233, 268, 271, 301–303, 305– 308, 310–311, 314, 318, 320–321, 348, 351, 465 lima  239 Liminalität  381–382 Liriope  411 List  76, 101, 191, 389, 406, 428, 456, 463 Livor (Neid)  16, 57, 92, 181, 241, 367

Lobrede/encomium/Enkomion  131 locus amoenus, locus terribilis  145, 273–274, 334–335 Lorbeer  103, 110, 174, 181, 188, 205, 305, 359–360, 488 Lotophagen  125 Lucretia  107, 219, 309 Lupercalia  107 luxuria  82, 89 Lycaon  98, 103, 140, 174, 186, 194, 443, 469 Lykische Bauern  99 M Madrigalistik  351 Magie  81, 382, 428 magister  84–86, 94, 139, 276, 296, 427 Maia  189 male gaze  83, 89 Mänade(n), Raserei  41, 129, 203, 276, 312, 344, 352, 368, 407, 415–418, 421–422 Manichäismus  448 Manier  9, 67, 86, 138, 156, 172–173, 175, 392, 396, 404, 406, 418 Männlichkeit  41, 47, 67, 174, 198, 203, 206, 214 Mantua  28, 267, 320, 346, 351 Manuskript  63, 84, 92, 97, 123, 130–132 Mars  4, 36, 67, 87–88, 104, 108, 132, 140, 164, 188–190, 215, 220, 248, 251–253, 311–312, 318, 325, 477 Mars Ultor  25, 30, 107, 190 Marsyas  99, 272–273, 338, 340, 353, 365, 367, 492 Märtyrerdichtung  398 Materialität, materiell  10, 38, 49, 92, 138, 160, 176, 184, 186, 198, 210–211, 216, 234, 259, 272, 490 Matronalia  107, 251 Medea  31, 40, 53, 66, 73–76, 79, 81, 98, 117, 125, 129, 131– 132, 139, 152, 159, 216, 220, 233, 297, 312, 327, 351, 401– 402, 453 Medizingeschichte  476 Medusa, Medusenhaupt  82, 365, 388, 404–405, 427–428, 478 Melancholie  420, 488 melting pot  474 meretrix  87–89, 303 Merkur  57–58, 114, 189, 220, 365, 389, 424, 433 Metalepse  14, 97, 386 Metaphrase  81, 83, 86–87 Metaphysik/metaphysische Rede  9–10 Metapoesie/Metapoetik  88 Metonymie  174, 383 Midas  294, 353, 367, 424–425 Migration  19, 392 militia amoris  67, 86, 108, 183, 214–215, 309, 325 Mimos  424 Minerva  57, 100, 102–104, 165, 181–182, 188–190, 204, 367–371, 398, 404, 428, 475 Minimalismus  5–6 Minnesang  214, 303–304, 320 Minos  88, 99, 322, 367, 392, 453, 475 Minotaurus  75, 99, 453 Minyaden  206, 366 mise en abyme  114, 155, 368, 458 Misogynie  305, 368

Sachregister einschl. mythischer Figuren Mittelalter  9, 63, 73, 97, 110, 133, 213, 289–290, 293, 297, 302, 304–307, 309, 312, 318–320, 327, 345, 360, 396, 401, 404, 406, 409, 412, 416, 424, 427, 434, 440, 447, 450–451, 453, 455, 473–474, 479 mock heroic  330 Moderne  9, 202, 212–213, 266, 272, 279, 298, 307, 333, 339, 348, 353, 355–356, 383–384, 398–399, 401, 412, 435, 444, 453, 455–456, 458–459, 481, 484, 486–487, 491–493 Monolog  129, 149, 152, 158–159, 181, 282, 330–331, 376, 401–402, 424 Monströsität  404 Moral, mos maiorum  14, 185, 213, 261, 266, 268, 298, 363 Mord  124, 234, 273, 402, 440–441 Morphologie  167, 195–196, 199–201, 279, 337, 339–341 Multikulturalität  471 Mündlichkeit, mündliche Dichtung  159, 165 municipium  29 Musen, Musenanruf  15–16, 53, 55–57, 97, 101, 109, 112, 116–118, 125–126, 129–130, 144, 146, 157, 163, 170, 188– 189, 208, 218, 366, 381, 492 Myrrha  93, 101, 176–177, 205, 220, 225, 235, 373–374, 406– 407, 463–464 Mythenkritik  327–328 Mythhistorie, mythhistorisch  113, 182–183 Mythographie, mythographisch  233, 297, 346, 469, 489 Mythopoetik  229 N Nachruf/epicedion/Epikedeion  129 Narratologie, narratologisch  154–155, 157, 206, 262, 298, 491 Narziss/Narcissus, Narzissmus  43, 82, 102, 146, 176, 220, 237, 338, 365, 374, 409–410, 422, 428, 443, 478, 492 Nationalepos  465, 473 Nationalsozialismus  264 Naturphilosophie, Naturkunde  193, 208, 233–234, 298, 337–341, 343, 345, 414, 444, 467 Naumachie  84 Neapel  351, 390 Nemesis  237, 337 Neoteriker  22, 208 Neptun  102, 185, 204, 230, 393, 455 Nestor  39, 100, 229–230, 455–456 Neuplatonismus  356 Niobe  99, 114, 173, 181–182, 223–226, 235, 251, 294, 338, 412–413, 492 Numa Pompilius  109, 257–258 numen  51, 110, 191 Numider, Numidien  26 Nymphe(n)  57, 99–101, 181, 188, 191, 194, 204–205, 219– 220, 237, 273, 319, 338, 344, 359–361, 365, 405, 421, 424, 430, 437, 455, 488 O Obszönität  239, 309 Odysseus  15, 39–40, 44, 54, 74, 76, 79, 87, 98, 125, 141, 151– 152, 186, 224, 282–283, 381, 460 Omphale  219 Onomastik, Onomatopoesie  4

513

Oper, Operette  320, 330, 338, 351–353, 386, 417, 419, 447– 448, 453 Oratorium  351, 389 Ordnung  8–9, 24, 27, 35, 37, 41–44, 90, 98, 103, 107, 109– 110, 152, 156, 160, 163–164, 174, 183, 186, 188, 194, 197, 205, 214–216, 228, 234, 240, 247, 252, 279, 281–284, 336– 337, 339, 368, 401, 404–405, 431, 435, 440, 467–468, 490, 492 Orestes  31, 127 Orient  261, 392–393, 395, 472, 480 Orpheus  43, 100–102, 164–165, 220, 264, 294, 320, 344, 351–353, 365, 367–368, 372, 381–384, 415–422, 463, 478 orphisch  353, 360, 415–416, 421 otium  14, 214, 269 Ovidius Polonus  262 P Paeligner  28–29, 138 Palatin  30, 205 Pales  191 Pan  99, 156, 220, 318, 348, 359, 361, 365, 367, 424 Panegyrik  22, 123, 248 Paraclausithyron  198 Paradoxographie  250 Parilia  107 Paris  25, 74–75, 78–79, 253, 263, 307, 312, 327, 348, 351, 409, 427, 437 Parnassiens  399 Parodie  66, 95, 151, 331, 381, 427 Paronomasie  211 Parthenope  267 Pasiphae  87, 99, 318, 322, 475 pater patriae  107–108, 248 Patronat, patronus  21, 47, 51, 156 Peirithoos  229–230 Peleus  322, 386 Penelope  73–74, 141, 151–153, 220, 282–283, 327 Peneus  204, 220 Pentameter  65, 73, 81, 114, 154, 167, 169–170, 209, 464 Penthesilea  87, 90 Pentheus  40–41, 200, 203, 273, 417, 478 Perseus  83, 98–99, 196, 220, 294, 339, 347, 365, 388, 390, 404, 427–428, 430, 478 Persona, Maske  13, 51, 76, 94, 101, 114, 137, 146, 264, 296, 313–314, 437–438 Phaedra  73–76, 131, 216, 312, 327, 453, 463 Phaëthon  430–432, 443 Phallogozentrismus  405 Phänomenologie  199, 276–277, 279, 487 Phantastisch, Phantasie  3, 7, 9, 35, 49, 51, 67, 139, 176–177, 193, 210, 213, 230, 246, 302, 335, 346–347, 393, 396, 398, 410, 431, 471–473, 486, 488, 492 Philemon  220, 294, 433–435, 478 Philologie  6, 54, 155, 296, 298, 358, 365, 381, 384, 493 Philomela  99, 101, 107, 165, 175, 339, 365, 370, 440–442, 492 Philosophie (philosophia)  5, 8, 11, 94, 233, 235, 252, 268, 284, 328, 338, 375, 409, 417, 419, 430, 447, 453, 467, 469, 473, 484, 493 Phoebus  93, 170, 204, 219, 248, 256–257, 359, 431, 487, 489

514

Anhang

Pholos  229 Physik  224, 233 Pieriden  56, 366, 368, 381 plot  489 Pluto  185, 352, 381, 415, 419, 428 poeta doctus  73, 90, 209, 233, 253 Poetologie  36, 42–43, 97–98, 104, 135, 272, 334, 421 Pollux  245, 322 Polyphonie  56, 100, 211–212, 234 Pomona  58, 220, 437–438 Pompeji  76, 79, 90, 301, 318 Pontus  26, 264 Pornographie  307 Poseidon  404, 456 Postkolonialismus  471 Postmoderne  54, 172, 177, 283, 298, 333–334, 459, 479 praecepta/Vorschriften, praeceptor amoris  68–69, 84, 86– 87, 90–94, 131, 146, 163, 174, 204, 277, 296–297, 309, 313, 320, 323–324 princeps, Prinzipat  4, 10, 23, 43, 49, 82, 88, 103, 107–108, 183, 186, 210, 215, 250, 253, 261, 450–451, 487 Proca  192, 450 Procne  99, 101–102, 107, 220, 440–442 Procris  87–88, 158, 220 prodigium  25 Profanikonographie  343, 476 Proliferation  137, 375, 405 Prolog  85, 97, 141, 162, 164, 320, 352, 453 Prometheus  29, 184, 186, 234, 243, 371, 412, 430–432, 443– 445, 468–469 Proömium/exordium  13, 23–25, 42–43, 81, 84, 87, 90, 92– 93, 97–98, 101, 140, 146, 156, 199, 219, 247, 366 Propemptikon  86–87 Proserpina  53, 56, 100, 146, 190, 338, 344, 352, 369, 381– 382, 387, 415 Prosopopoiie  140 Protesilaus  312 Prototyp  430, 477, 479 Psychagogie  234 Psyche  199, 237 Psychoanalyse, Tiefenpsychologie  234, 383, 409, 478 Psychomachie  360 Publikum  5, 19–20, 79, 82–83, 86–88, 90, 93, 125, 141, 145, 154, 159, 210, 217, 220–221, 231, 259, 263–264, 296, 367, 386–387, 417, 441 puella/Mädchen  25, 30, 49–51, 57–58, 65–69, 82, 84, 86, 88, 92, 101, 117, 144–145, 151, 176, 183, 204, 208–209, 211, 213–214, 216, 220, 225, 241, 255, 259, 264, 269, 283, 304– 305, 309–310, 313, 320, 322, 392–393, 428, 461, 463 Pygmalion  101–102, 146, 176, 211, 220, 235, 239–243, 337– 338, 340, 353, 365, 368, 372–377, 443, 478, 492 Pylades  27, 31, 127 Pyramus  175, 220, 306, 318, 447–449, 479 Pythagoras  7, 104, 156, 193, 197, 206, 226, 234–235, 259, 278, 339, 341, 381, 458–459, 469, 474, 484 Q Quantenpoetik  5–6 Querelle des femmes  328 Quinquatrus (Fest)  190

R Rache  41, 112, 200, 218, 230, 237, 274, 401–402, 412, 416, 440, 442, 463 Ratgeberliteratur  153, 296, 299 Raub der Sabinerinnen  110, 215, 318 Realismus, magischer Realismus  193–194, 382 Recht (ius)  481 relegatio/Verbannung  13, 23–24, 26, 29, 70, 72, 91, 95, 103, 106, 112, 116, 118, 123–124, 177, 228, 262, 289, 333–334, 336 Religion  43, 157, 186, 189, 233, 253, 258, 471, 473 Renaissance  95, 132–133, 230, 289–290, 297, 302, 305–307, 311, 319–320, 328–329, 398, 419, 427, 434, 437, 444, 463, 473, 477–478 Repräsentation  176, 224, 239, 242, 343, 346, 374, 407, 450, 481 Reproduzierbarkeit  378 Retardation  155 Rezeptionsgeschichte, rezeptionsgeschichtlich  127, 155, 172, 218, 296, 318, 348, 368–369, 371, 374, 381–382, 386, 398–399, 409, 416, 424–425, 433, 443, 447, 481 Rhadamanthys  475 Rhea Silvia/Ilia  219, 252 Rhetorik, Rhetorizität, rhetorisch  13, 15–16, 29, 36, 39–40, 44, 65, 67, 76–77, 85–87, 92, 102–103, 126, 131–132, 137– 138, 149–154, 158–160, 163–165, 172, 199, 210–212, 214, 219, 224, 233, 240, 242–243, 256, 266–268, 276–277, 279, 293, 297, 301, 306, 328, 366, 383, 415, 478, 490 Ringkomposition  87, 113, 187, 234 Ritterstand, Ritterzensus  15, 23, 26, 28 Robigo  191 Roma Aeterna  9 Romance de la luna  384 Romantik  228, 308, 338 Romulus  47, 84, 104, 108–109, 157, 182–183, 219, 240, 247– 248, 252, 257–259, 262, 395, 450–451 rusticitas  81, 85, 89, 239, 261, 266, 268–269 S Säkularfeier  22 Salmacis  194, 205–206, 220, 455 Sarmaten  31, 262–263 Sarpedon  475 Saturn  103, 204, 258 Satyr  272–273, 318, 322, 338, 367, 424, 492 Scholien/scholia  8, 297 Schöpfungsmythen  109, 184–185, 187, 234, 467 Schreibszene  139–140, 176, 365 Schrift  10, 65, 164–165, 211, 282, 481 Schuld  26, 75, 124, 183, 274–275, 355, 360, 375, 402, 406, 417, 479 Schullektüre  35, 293, 298, 302–303, 307, 345 Schwarzer Humanismus  358 Schwarzes Meer  13, 20, 23, 26, 28, 30–31, 43, 73, 106, 116– 117, 123–124, 126, 137, 150, 165, 182, 220, 264, 334–335, 459 Scylla/Skylla  99, 125, 200–201, 236, 461 Seefahrt  90, 116, 335 Seele  199, 226, 233–234, 246–247, 329, 352–353, 382, 392, 396, 416, 430, 458, 490

Sachregister einschl. mythischer Figuren Seelenwanderung/Metempsychose  7, 193, 235, 278, 339, 430, 458–459, 469 Seeschlacht von Salamis  25 Selbstapotheose  127 Selbstdarstellung/Selbstinszenierung  46, 139–140, 333 Selbstsorge/cura sui  487 Semele  101, 103, 351, 388–390, 469 semiviri, semimares  205 servitium amoris  6, 39, 56, 66, 86, 92, 151, 214, 218, 312, 321 sesta rima  464 Sex(ualität)  85, 89, 176, 198, 201, 203, 212, 218, 298, 306, 309, 374, 407, 465 Sibylle  352, 460 simulacrum  357 Singspiel  351 Sinnllichkeit, sinnlich  7–10, 39, 126, 231, 324, 340, 356, 363, 437, 442, 481, 490 Sirenen  125 Skythen, Skythien  26, 29, 31, 126, 267 Sol-Helios  430 Solidarność  262–263, 478 Sonett  264, 305–307, 375, 399 Spätantike  70, 95, 289, 297, 301, 327, 382, 396, 416, 447, 453 Sphragis/Siegel/Copyright  14, 28, 63, 84–87, 93, 98, 103– 104, 113, 138, 186, 462, 481 Spiegelungen, Spiegelungstechnik(en)  24, 82, 121, 360, 409–411, 424 Spinne, spinnen  103, 174, 176, 181, 223, 233, 368–371 sprezzatura  9, 241 Staat/res publica  28, 49, 51, 186, 259, 264, 337, 441, 492 Stadtkultur  268 Statue/n  5, 28, 32, 102, 176, 235, 239, 241–243, 246, 293, 319, 353, 356, 368, 373–377, 427, 438, 474 Stier  7, 99, 103, 119, 145, 204, 233, 275, 318, 370, 392–393, 475–476, 480 Stimme  5, 40, 42–43, 46, 68, 100, 119, 121, 144, 155–159, 164, 195, 197, 199–200, 207, 225, 236–237, 263, 274, 351, 361, 363, 402, 409–410, 415, 417, 419, 440–442, 455–456, 459, 472, 481, 487, 489 Stoa  467–468 Strafe/Bestrafung  24, 58, 64, 101, 103, 107, 165, 182, 185– 186, 200, 204, 224, 261, 273–274, 305, 337, 340, 355, 359– 362, 367–369, 371–372, 401, 404, 406, 412–414, 416, 420, 443, 461, 463, 492 Strukturalismus  155 Sturm und Drang  172 Suasoria/Suasorie  327 Suizid  159, 218, 360, 447–448 Sulmo/Sulmona  14, 23, 28–30, 32, 106, 118, 215, 264, 267, 297, 309 Syllepse  173 Symbolismus  428 Synkretismus  190–191 Syrinx  99, 156, 220, 273, 348, 359, 361, 365, 424 T Tabu  406, 475 Tapisserie  165 Tartarus  88, 417, 420

515

Täuschung  57, 94–95, 145–146, 205, 212–213, 216, 325, 362, 367, 372, 409, 422 Teleologie  278, 338, 381–382, 469 Tereus  99, 101, 107, 165, 220, 256, 440–442, 492 Terminus  85, 89, 109–110, 123, 144, 230 Textgeschichte, Textkonstitution  296, 298 Thanatographie, thanatographisch  6–7 Theater  30, 76, 79, 116, 121, 183, 216–217, 320, 330, 351, 376, 437 Theben  40, 98, 294, 392, 475 Theodizee  395 theologia tripertita  185 Theorie der Kunst  356 Therapie  93–94, 124–126, 233 Theseus  7, 74–75, 78, 98, 125, 164, 219, 235, 245, 312, 321– 322, 399, 433, 453–454, 478 Thetis  242, 322 Thisbe  220, 306, 318, 447–449, 479 Thrakien, Thraker  31, 416, 460 Tiber(inus)  189, 253 Timaios  234 Tiresias  103, 203, 235–237, 455–456 Titus Tatius  253 Tomis  13, 16, 19, 23, 28, 30, 32, 72, 91, 112, 116–118, 120, 130, 137, 141, 160, 182–183, 220, 226–227, 262, 264, 304, 314, 334, 336, 370, 386–387 Topographie  252, 472 Tradition  7, 13–16, 18, 22, 25, 28, 30, 35–36, 38, 42–43, 46, 49, 51, 53–54, 56, 65–67, 74, 77, 81, 84, 86–87, 89, 92, 97– 98, 103, 113, 127, 144–145, 154, 172, 189, 208–209, 211, 213, 218, 224, 231, 233, 252–253, 276, 278, 284, 290, 303, 308, 329–331, 337, 340, 343, 368, 374, 383–384, 392, 396, 398, 401, 406, 409, 415–416, 424–425, 428, 440–441, 444, 447, 451, 453–454, 458, 464, 467, 474, 476, 479, 481, 484– 485 Tragödie, tragisch  19, 39–41, 51, 53, 66, 70, 73, 76–77, 79, 81, 98, 129, 131, 139, 145, 152, 159, 208, 214, 220, 228– 230, 233, 237, 242, 264, 273–275, 297, 306, 320, 330, 337, 353, 355, 361, 367, 373, 389, 395–396, 401, 418–419, 421, 425, 431, 441, 445, 453, 475 Transformation  36, 120, 164, 188, 194, 199–201, 224, 232, 236, 264, 337, 339, 344, 360–361, 416, 425, 438 Trans-Gender-Mythen  203, 455 Transgression/(Grenz-)Überschreitung  49, 109, 188, 196– 197, 269, 279, 381, 395, 413, 420, 455, 484, 489 Transzendenz, transzendental  6, 9, 126, 255, 283, 367, 383 Trauer, Trauergedicht  21, 36–37, 68, 117, 121, 125–126, 181, 183, 195, 214, 237, 242, 245, 311, 322, 338, 353, 360, 365, 415, 418 Traum, Traumdeutung  133, 384 Trauma, traumatologisches Schreiben  333, 383–384, 479 Travestie  449, 461 Treue  21, 53, 55, 66–67, 73, 103, 126, 141, 145, 151, 153, 159, 210, 328 Trieb  205, 233, 277, 302, 341, 381, 383–384 Triumph, Triumphzug  25–26, 47–49, 67, 84, 126, 129, 205, 215, 311–312, 319, 359–360, 374, 413 Troja  36–40, 74–75, 78, 151–152, 183, 256, 450–451, 460– 461, 467, 473 Trostschrift/Trostgedicht  131

516

Anhang

Troubadour, Troubadour-Lyrik  214, 303, 320, 351 Typhoeus  381, 389 Typologie  200, 318, 329, 451 U Überlieferungsgeschichte  72, 80, 123, 130–131 Übersetzung  38, 72, 132, 289–290, 299, 303–304, 306–307, 321, 329, 331, 333, 345–346, 363, 386, 407, 438–439, 458 Umkehrung  68, 175, 243, 277, 284, 339, 360, 438 unitas Christiana  472 Unsterblichkeit  6, 14, 66, 126–127, 138, 187, 224–225, 245, 247, 367, 397, 458–459 Unterwelt, Unterweltsgötter  11, 40, 165, 185, 188, 351–352, 367, 381–384, 415, 417–422, 460 Unterwerfung  10, 27, 36, 234, 279, 358, 486 Uranos  443, 467 urbanitas/Urbanität  183, 239, 266, 269, 272, 478 utilitas  125, 240 Utopie  47, 49 V variatio  64, 77, 231 vates, poeta vates  94, 113–114, 146, 188, 218, 235, 247, 252– 253, 415, 489 Vegetarismus  259, 339, 458, 469 Venus/Aphrodite  25, 49, 56, 67, 75, 86–88, 100, 102, 106, 108, 121, 138–139, 164, 176, 188–190, 196, 205, 208, 214, 216, 218–220, 232, 235, 239–241, 246, 304, 306, 309–313, 318–319, 323, 325, 343, 347, 351, 362–363, 368, 372, 374– 375, 381, 390, 406–407, 450, 455, 463–465, 473, 475 Verbildlichung  392 Verfremdung  24, 434, 481 Verführung  25, 89, 94, 145, 150–151, 255, 304, 392, 416, 421

Verstirnung/katasterismos  98, 104, 107, 183, 230, 245–248, 250, 257 Vertumnus  58, 220, 437–438, 479 Vesta  125, 174, 246, 251, 313 Vestatempel  30 Via Sacra  30 Vielstimmigkeit (Polyphonie)  56, 100, 211–212, 234 Visualität  101, 103–104, 172, 409–410 Volkssprache  328, 330 Vorsokratiker  337, 458, 467, 490 Voyeurismus  204 Vulcanus/Vulkan  88, 366 W Wahnsinn  129, 234, 395, 407, 473 Wandel  109, 156, 174, 203, 223–224, 233–236, 255, 257, 278, 405, 444, 458–459, 476, 481 Weltalter  98, 284, 294 Weltenbrand/Ekpyrosis  430–431 Weltzeit  467 Wettgesang, Sängerwettstreit  424–425 Wissenschaft, Wissenschaftsgeschichte, wissenschaftsgeschichtlich  296, 299, 337, 340, 469, 476, 481 Wissensvermittlung  108, 157, 296, 463 womanufacture  176, 210 Z Zäsur  130, 164, 169, 209 Zeitgeschichte  210, 302 Zensur  228, 231, 263, 307 Zeugenschaft  12 Zyklopen  54, 125